Decorum: Konzepte von Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik von den Sophisten bis zur Renaissance 9783110260557, 9783110260540

Appropriateness is the key to persuasion: a speech can only be convincing when it takes into account the opinions of the

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German Pages 188 [192] Year 2011

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Table of contents :
Einleitung
Ziel und Methode der Arbeit
Überblick über die bisherige Forschung zur Frage nach der rhetorischen Konzeption der Angemessenheit
I. Reden, weil wir handeln müssen: Die sophistische Auffassung des kairós
Politisierung des lógos – Herrschaft durch lógos
Angemessenheit als kairotische Synergie
Der kairós – die Herkunft des Begriffs und sein Bedeutungsspektrum
Der kairós als Maß ohne Maß
Vom Reden zum Handeln
Krísis und Kritik – es gibt kein Jenseits des lógos
Der Agon als Temporalisierung der Auseinandersetzung
Die Rolle der téchnê
Wo das Maß zu finden ist
Der kairós als Zentralbegriff der sophistischen Konzeption vom Reden und Handeln
II. Warum es keine téchnê der Persuasion geben kann: Von der Sprengkraft des Spezifischen in der „Rhetorik“ des Aristoteles
Angemessenheit – kein Thema für Aristoteles?
Eine téchnê der wahrheitsgemäßen Persuasion?
Der entechnos methodos: Ziele und Mittel des ersten Kapitels
Die Konzeption einer idealen Gerichtsrhetorik
Taugt das pragma der Rhetorik als Ankerpunkt für die téchnê?
Zwischenbilanz: Eine téchnê der Praxis?
Entscheidende Weichenstellungen: die Definitionen der Rhetorik in 1.2
Plausibilität – eine relative Größe
Lebensweltliche Gelingensbedingungen der Argumentation
Ethos und pathos als Elemente der Angemessenheit
Rednerische Mittel zur Absicherung ‚ethischer‘ Angemessenheit
Habitualisierung und Abwägung: êthos und prépon in der Ethik
Mehr als stilistische Angemessenheit – das prépon
Das rechte Maß: zum Beispiel Metaphern
Der angemessene Vortrag
Die größte Kunst ist die, die niemand als solche bemerkt
Der Anspruch der Angemessenheit
III. Redekunst und Lebenskunst bei Cicero: Vom decorum orationis zum decorum vitae
Decorum statt ars
Ciceros Ideal des Redners – seine Fähigkeiten, der Situation gerecht zu werden
Der Redner und sein Publikum: opinio und consensus
Die emphatische Verortung des Redners in der Gemeinschaft
Ciceros Operationalisierung des rhetorischen decorum
Moralische Rhetorik und rhetorische Moral
Das decorum vitae
Die politische Rolle des Redners
Exkurs: Das exemplarische Scheitern der doctrina: Das elfte Buch von Quintilians „Institutionis Oratoriae“
Quintilians sieben Strategien
Resumé
IV. Existenzielle Persuasion: Das Geheimnis der grazia in Castigliones „Libro del Cortegiano“
Die Wiederkehr des methodischen Dilemmas
Zwischen Dienen und Spielen: Zur Rhetorizität des Dialogs
Charakteristika einer Rhetorik des Hofmanns: consuetudo, verisimile, delectare und decorum
Die Omnipräsenz des decorum im „Cortegiano“
Die „grazia“ – ein Produkt des decorum
Der Hofmann als Meinungsbildner
Die Hofleute als Publikum.
Voraussetzungen zum Erwerb und Ausüben von grazia
Vom Erwerb der grazia
V. Annäherungen an das decorum: Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussbetrachtung
Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
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Decorum: Konzepte von Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik von den Sophisten bis zur Renaissance
 9783110260557, 9783110260540

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RHETORIK-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Joachim Dyck, Walter Jens und Gert Ueding

Band 19

Jan Dietrich Müller

Decorum Konzepte von Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik von den Sophisten bis zur Renaissance

De Gruyter

ISBN 978-3-11-026054-0 e-ISBN 978-3-11-026055-7 ISSN 0939-6462 %LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen NationalELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHUKWWSGQEGQEGHDEUXIEDU ‹:DOWHUGH*UX\WHU*PE+ &R.*%HUOLQ%RVWRQ *HVDPWKHUVWHOOXQJ+XEHUW &R*PE+ &R.**|WWLQJHQ ∞*HGUXFNWDXIVlXUHIUHLHP3DSLHU Printed in Germany ZZZGHJUX\WHUFRP

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ziel und Methode der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Überblick über die bisherige Forschung zur Frage nach der rhetorischen Konzeption der Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 I.

Reden, weil wir handeln müssen: Die sophistische Auffassung des kairós . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Politisierung des lógos – Herrschaft durch lógos. . . . . . . . . . . . . Angemessenheit als kairotische Synergie . . . . . . . . . . . . . . . . Der kairós – die Herkunft des Begriffs und sein Bedeutungsspektrum . Der kairós als Maß ohne Maß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Reden zum Handeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krísis und Kritik – es gibt kein Jenseits des lógos . . . . . . . . . . . . Der Agon als Temporalisierung der Auseinandersetzung . . . . . . . . Die Rolle der téchnê . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . :RGDV0D‰]X¿QGHQLVW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der kairós als Zentralbegriff der sophistischen Konzeption vom Reden und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Warum es keine téchnê der Persuasion geben kann: Von der 6SUHQJNUDIWGHV6SH]L¿VFKHQLQGHUÄ5KHWRULN³GHV$ULVWRWHOHV . . . . . 49 Angemessenheit – kein Thema für Aristoteles? . . . . . . . . . . . . . Eine téchnê der wahrheitsgemäßen Persuasion? . . . . . . . . . . . . . Der entechnos methodos: Ziele und Mittel des ersten Kapitels . . . . . Die Konzeption einer idealen Gerichtsrhetorik. . . . . . . . . . . . . . Taugt das pragma der Rhetorik als Ankerpunkt für die téchnê? . . . . . Zwischenbilanz: Eine téchnê der Praxis?. . . . . . . . . . . . . . . . . (QWVFKHLGHQGH:HLFKHQVWHOOXQJHQGLH'H¿QLWLRQGHU5KHWRULNLQ . Plausibilität – eine relative Größe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensweltliche Gelingensbedingungen der Argumentation. . . . . . . Ethos und pathos als Elemente der Angemessenheit . . . . . . . . . . . Rednerische Mittel zur Absicherung ‚ethischer‘ Angemessenheit . . . . Habitualisierung und Abwägung: êthos und prépon in der Ethik . . . .

51 54 57 60 63 66 67 70 71 72 75 78 V

Mehr als stilistische Angemessenheit – das prépon . . . Das rechte Maß: zum Beispiel Metaphern . . . . . . . . Der angemessene Vortrag . . . . . . . . . . . . . . . . . Die größte Kunst ist die, die niemand als solche bemerkt Der Anspruch der Angemessenheit . . . . . . . . . . . .

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III. Redekunst und Lebenskunst bei Cicero: Vom decorum orationis zum decorum vitae. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Decorum statt ars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Ciceros Ideal des Redners – seine Fähigkeiten, der Situation gerecht zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Der Redner und sein Publikum: opinio und consensus. . . . . . . . . . 96 Die emphatische Verortung des Redners in der Gemeinschaft . . . . . . 99 Ciceros Operationalisierung des rhetorischen decorum . . . . . . . . 101 Moralische Rhetorik und rhetorische Moral . . . . . . . . . . . . . . 106 Das decorum vitae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Die politische Rolle des Redners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Exkurs: Das exemplarische Scheitern der doctrina: 'DVHOIWH%XFKYRQ4XLQWLOLDQVÄ,QVWLWXWLRQLV2UDWRULDH³ . . . . . . . 117 Quintilians sieben Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Resumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 IV. Existenzielle Persuasion: Das Geheimnis der grazia in Castigliones Ä/LEURGHO&RUWHJLDQR³ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Wiederkehr des methodischen Dilemmas . . . . . . . . . . . . . Zwischen Dienen und Spielen: Zur Rhetorizität des Dialogs . . . . . Charakteristika einer Rhetorik des Hofmanns: consuetudo, verisimile, delectare und decorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Omnipräsenz des decorumLPÄ&RUWHJLDQR³ . . . . . . . . . . . . 'LHÄJUD]LD³±HLQ3URGXNWGHVdecorum . . . . . . . . . . . . . . . . Der Hofmann als Meinungsbildner . . . . . . . . . . . . . . . . . . 'LH+RÀHXWHDOV3XEOLNXP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen zum Erwerb und Ausüben von grazia . . . . . . . . Vom Erwerb der grazia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VI

127 129 134 137 139 142 147 148 151

V. Annäherungen an das decorum: Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

VII

Einleitung

Ziel und Methode der Arbeit Wie erschließt die rhetorische Theorie das Phänomen der Angemessenheit? Welche Konzepte von Angemessenheit entwickeln einige der für die rhetorische Tradition zentralen Autoren und wie gehen sie mit dem Umstand um, dass sich Angemessenheit stets nur situativ auffassen lässt, während Theorie notwendigerweise abstrahiert? Kurzum: Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit richtet sich darauf, das Verhältnis der rhetorischen Theorie zur Angemessenheit der Rede zu ergründen. Das Kriterium der Angemessenheit von Rede und Redner an die jeweilige Situation, an die Zuhörerschaft und die konkreten Redeumstände, wird in der rhetorischen Tradition unter verschiedenen Rubra behandelt – als kairós bei den Sophisten, als prépon bei Aristoteles, als decorum oder aptum bei Cicero und 4XLQWLOLDQDOVK|¿VFKHconvenienza bei Castiglione. Stets aber bezeichnen diese Begriffe eine für die angestrebte Überzeugungsleistung, die Persuasion, zentrale Leistung des Redners. Das stellt uns zum Beispiel Quintilian eindringlich vor Augen: Mangelt es der Rede an decorum, so wendet sich die Kraft der Argumente gegen sich selbst,1 Rede und Redner büßen jegliches Überzeugungsvermögen ein. Damit dürfte klar sein, dass die Spannung von Konkretion und Abstraktion, von Situationsorientierung und Theoriefähigkeit, für die Rhetorik von besonderer Bedeutung ist. Steht doch für diese nichts Geringeres auf dem Spiel als der Redeerfolg – die Persuasion. Für die Disziplin der Rhetorik geht es um weitaus mehr als um das Problem der Subsumption des Partikularen unter allgemeine Gesichtspunkte, dem sich jegliche auf Praxis gerichtete Theorie (wie beispielsweise die Jurisdiktion2) zu stellen hat. Die Frage nach dem Verhältnis von rhetorischer Theorie und decorum beinhaltet folglich zugleich die Frage nach dem Beitrag, den die rhetorische Lehre zum Persuasionserfolg leisten kann. Zugespitzt formuliert: Mit der Betrachtung und Analyse der Angemessenheit und der Suche nach deren theoretischer Basis erforschen wir die Charakteristika erfolgreichen Redens. Darin liegt die Tragweite der hier verhandelten Fragestellung. Zwei Kautelen sind an dieser Stelle angebracht: Die erste richtet sich auf das Verhältnis von Rhetorik und Persuasion. Es wäre eine unzulässige Verengung, wollte man die Intention und den Erkenntnisnutzen der Rhetorik allein auf den Persuasionserfolg verkürzen. So hat Aristoteles, dessen Rhetorik als philosophi1

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Quint., XI, I, 2: nam cum sit ornatus orationis varius et multiplex conveniatque alius alii, nisi fuerit accomodatus rebus atque personis, non modo non inlustrabit eam, sed etiam destruet et vim rerum in contrarium vertet. Aristoteles nimmt Bezug auf diese Schwierigkeit der Rechtsprechung – Rhet. 1.1.7, 1354b 1–4.

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sche Grundlegung des Verständnisses der Redekunst als Alltagsrationalität wiederentdeckt ist,33HUVXDVLRQVHUIROJQLFKW]XP'H¿QLWLRQVPHUNPDOGHU5KHWRULN erhoben; stattdessen, so Aristoteles, befasse sich die Rhetorik damit, die jeweils naheliegenden und geeigneten Ressourcen der Argumentation zu erkennen. Auf diese Weise distanziert Aristoteles sich vom sophistischen Geschäft mit dem lógosXQGEDXWHLQH$UWÄNRJQLWLYHQ6FKXW]DEVWDQG³DXIGHUHVLKPHUP|JOLFKW GLH ÄLQWHOOHNWXHOOH ,QVXI¿]LHQ]³4 der Zuhörerschaft hervorzuheben und damit die oftmals heiklen Bedingungen praktischer Persuasion in Betracht zu ziehen. Andererseits aber kommt das Selbstverständnis der Rhetorik ohne den Hinblick auf die gewünschte Wirkung, den Redeerfolg, nicht aus. Letztlich, so werden wir sehen, bildet auch bei Aristoteles der Persuasionserfolg den durchgängigen Bezugspunkt seiner Überlegungen. Die zweite Kautele, die hier anzubringen ist, greift die Frage auf, wie weit der Anspruch der rhetorischen Doktrin auf Persuasion überhaupt reicht. War sich doch die Rhetorik zu allen Zeiten darüber im Klaren, dass durch Theorie allein kein umfassendes rhetorisches Können erworben werden kann. Exemplarisch für das spannungsreiche Verhältnis von Praxis der Persuasion auf der einen und rhetorischer Theoriebildung auf der anderen Seite steht eine bemerkenswerte Passage aus Ciceros De oratore. Darin wird festgestellt, dass esse caput artis decere, quod tamen unum id esse, quod tradi arte non possit.5 Nun lässt sich der pointierte Widerspruch ein wenig entschärfen, wenn man zwei Nuancen des Begriffs ars auseinanderhält und Ciceros Satz entsprechend paraphrasiert: Die Ausprägung höchster rhetorischer Kunstfertigkeit, die sich in der Angemessenheit der Rede manifestiert, ist nichts, was sich durch rhetorische Lehre oder Theorie vermitteln ließe. Und in der Tat hat die Rhetorik den kanonischen Dreiklang aus natura, ars und exercitatio entwickelt. Dem Talent des Redners und der praktischen Einübung theoretischer Kenntnisse, insbesondere durch das Nachahmen großer Redner, die imitatio und aemulatio, kommen in der römischen Rhetoriktraditon ebenso große Bedeutung zu wie den theoretischen Kenntnissen. Doch diese Hinweise auf die erforderliche Naturausstattung des Redners und auf die didaktische Praxis verlagern das Problem nur auf das Schüler-Lehrer-Verhältnis oder aber die Auffassungsgabe des angehenden Rhetors, ohne es dadurch besser zu verstehen. Die Alternative für die doctrina der Rhetorik kann folglich nur lauten: Entweder Rückzug von dem Anspruch, das Phänomen der Angemessenheit verstehen und seine Rolle innerhalb der Theorie der Rhetorik entfalten zu können – Rückzug damit auch vom Verständnis des caput artis, was gleichbedeutend wäre mit der Etablierung eines Arkanums der Persuasion. Oder DEHUGLHUKHWRULVFKH7KHRULH¿QGHWHEHQGRFK0LWWHOXQG:HJHVHKUZRKO]XU Angemessenheit sich zu äußern und ihr Wesen zu erhellen.

3 4 5

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S.u., S. 68ff. Cf. Christof Rapp, Aristoteles. Rhetorik, Bd. 1, 341. Cic. De or., I 132.

Die These der Arbeit ist, dass ihr dies gelingt. Es erscheint zudem zutiefst kontraintuitiv anzunehmen, Denker vom Format eines Aristoteles oder Cicero hätten die Frage nach der Angemessenheit als einer zentralen Problemstellung der Rhetorik übergangen. Und wir werden sehen, dass sie in der Tat vielerlei Anhaltspunkte für die Realisierung des decorum geben – nur eben oftmals an unerwarteter Stelle oder stark verklausuliert. Das decorum lässt sich folglich lässt sich folglich als blinder Fleck rhetorischer Theoriebildung bezeichnen – als ein zwar für die Praxis erfolgreichen Redens entscheidender Faktor, aber eben auch als einer, der sich angesichts der irreduziblen Mannigfaltigkeit möglicher Redesituationen dem direkten Zugriff der Theorie geradezu systematisch entziehen muss. Angesichts dieser Ausgangslage muss die vorliegende Arbeit eine Übung detektivischen Lesens und Auslegens sein. Gilt es doch, sich nicht abschrecken zu lassen von der geringen Menge Text, die uns von den Sophisten und über sie überliefert ist, sich nicht zufrieden zu geben mit Aristoteles’ anfänglichem Bestehen auf die rein sachlichen Beweisgründe, sich nicht mit Ciceros eingangs zitiertem Verweis auf die Machtlosigkeit der ars abspeisen zu lassen. Bei der 6XFKHQDFK,QGL]LHQGLHXQVKHOIHQN|QQWHQHLQHPEHJULIÀLFKVRVFKZHUIDVVbaren Phänomen wie dem der Angemessenheit auf die Spur zu kommen, ist also rigorose Textnähe gefordert, will man den Texten – und deren Autoren – Einsichten in ihre Auffassung von Angemessenheit entlocken. Dazu gehört im speziellen Fall des Aristoteles im Übrigen auch, die Perspektivverschiebungen, die sich im Verlauf seiner Argumentation in der Rhetorik einstellen, nicht mit dem Hinweis auf eine ungeklärte Textentstehungsgeschichte einzuebnen. Die Auswahl der untersuchten Primärtexte folgt drei Kriterien: Zum einen werden solche Texte und Autoren verhandelt, die explizite Begriffe von Angemessenheit behandelt haben – dies ist beispielsweise beim sophistischen Konzept des kairós der Fall oder bei Ciceros decorum. Zweitens werden mit Aristoteles und Cicero die beiden zentralen Figuren der Rhetoriktradition befragt – und zwar sowohl mit Blick auf ihre genuin rhetoriktheoretischen wie auf ihre moralphilosophischen Ansätze, spielt doch, wie wir sehen werden, die Angemessenheit auch dort eine zentrale Rolle. – Auf die Befassung mit Cicero folgt ein kurzer Exkurs zu Quintilian. Dessen Herangehensweise an die Frage nach der Angemessenheit unterscheidet sich ganz gravierend von der des von ihm so bewunderten Cicero: Sie ist lehrbuchmäßig. Was das für seinen Umgang mit dem decorum bedeutet, auch dafür, inwieweit er dessen Natur zu erhellen vermag, wird klar zutage treten. Drittens schließlich wendet sich die Untersuchung mit Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano einem Werk der Renaissanceliteratur zu, das zwar nicht unmittelbar zum etablierten Korpus der Rhetorik zählt, jedoch ganz ohne

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Zweifel in einer deutlichen Traditionslinie zur Antike steht6 und das außerordentlich wichtige Einsichten liefert für die hier verhandelte Fragestellung. %HLHLQHP6XMHWGDVVRRIIHQNXQGLJDXIEHJULIÀLFKH)lUEXQJHQKLQ]XDQDO\sieren ist wie das hier behandelte, war es notwendig, ad fontes zu gehen, mithin die Originaltexte herbeizuziehen und sich nicht auf Übersetzungen allein zu verlassen. Doch sind den in Griechisch, Latein oder Italienisch zitierten Passagen deutsche Übersetzungen oder Paraphrasen beigegeben.

Überblick über die bisherige Forschung zur Frage nach der rhetorischen Konzeption der Angemessenheit Eine Feststellung zu Beginn: Monographien über den Begriff der AngemessenKHLWLQGHU5KHWRULNLQVEHVRQGHUHLKUHEHJULIÀLFKHQ$XVSUlJXQJHQXQGNRQ]HStionelle Bedeutung für die rhetorische téchnê, können hier deshalb nicht vorgestellt werden, weil sie bis dato nicht geschrieben wurden; und das, auch wenn HLQH5HLKHYRQ:HUNHQXQWHUVFKLHGOLFKVWHU3URYHQLHQ]%HJULIIHZLHÄ'HFRUXP³ RGHUÄ$QJHPHVVHQKHLW³LP7LWHOIKUHQ%HLQDKHOlVVWVLFKYRQHLQHU$UWÄWDQJHQWLDOHU )RUVFKXQJ³ VSUHFKHQ ± GHQQ LPPHU ZLHGHU KDEHQ VLFK$XWRUHQ DXV Philologie, Philosophie, Rhetorik, Literaturwissenschaft oder Kunstgeschichte dem decorum genähert, um dann doch von einer detaillierten, dem Phänomen der Angemessenheit nachspürenden Untersuchung abzulassen. Stets, so scheint es, war das Erkenntnisinteresse derart, dass kein Autor diesen ebenso zentralen wie schwer fasslichen Terminus ausgehend von den Klassikern der Rhetorik der griechisch-römischen Antike zum alleinigen Analysegegenstand erhoben hat. Zwei Schriften kommen diesem Ziel am nächsten – die eine davon, der JOHLFKVDPJUXQGOHJHQGH%HLWUDJLVWGHULP-DKUHYRUJHOHJWH$XIVDW]ÄTo prépon (LQ %HLWUDJ ]XU *HVFKLFKWH GHV JULHFKLVFKHQ *HLVWHV³ GHV *|WWLQJHU Altphilologen Max Pohlenz. In ihm lässt sich die nach wie vor zentrale Zusammenstellung all jener Autoren und Werke von Homer bis Horaz und Panaitios erblicken, die sich in der Antike zur Frage der Angemessenheit in Rhetorik, Philosophie, Poetik und Ethik geäußert haben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass dieser Aufsatz immer und immer wieder von späteren Autoren als Referenzdarstellung herangezogen wird. – Das andere, hier besonders hervorzuhebende Werk ist eine Dissertation aus dem Jahre 1987 – Helen DeWitts Arbeit The Concept of Propriety in Ancient Literary Criticism. Beiden gemein ist die enorme Breite der Auswahl von Schriften, die sie untersuchen. DeWitt – wie vor ihr bereits Pohlenz – nimmt sich Werken der Rhetorik ebenso an wie etwa den antiken Komödiendichtern und Poeten. Noch stärker weitet sich der Fokus bei DeWitt dadurch, dass sie der Frage nach der sprachlichen Richtigkeit 6

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Die Traditionslinie vollzieht K.-H. Göttert nach, cf. Kommunikations-ideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, 20–25.

– der orthoepeia – ebenso breiten Raum einräumt wie etwa jener Debatte über Sprachreinheit und -stil, die mit den Begriffen ‚Asianismus‘ und ‚Attizismus‘ umrissen wird. Diese thematische Weite allerdings fordert ihren Tribut – nämlich dann, wenn es um die Tiefenschärfe der Analyse all der angesprochenen Auffassungen von Angemessenheit geht. Nicht nur, dass es ihr – wie der Titel es erwarten lässt – vor allem um Maßstäbe der literarischen Stilkritik geht (und nicht, wie in dieser Untersuchung, um eine Entfaltung verschiedener Konzepte von Angemessenheit mit Blick auf ihre Rolle als Ressource von Persuasion); es fällt zudem DeWitts Hang zur Spekulation über die Motive von Autoren ins $XJH±)RUPXOLHUXQJHQZLHÄ$ULVWRWOHPD\ZHOOKDYHWKRXJKWWKLV³7ÄSUHVXPDEO\³XQGGHUJOHLFKHQVLQG,QGL]GDIUGDVVVLHHVEHL+\SRWKHVHQEHOlVVW'DEHL hat sie den konzeptionellen Zwiespalt, der mit der Auffassung von decorum in GHUUKHWRULVFKHQ/HKUHGHU$QWLNHHLQKHUJLQJ]LHOJHQDXIRUPXOLHUWÄ:ULWHUVRQ rhetoric frequently pointed out that the most important part of eloquence, using the rules with propriety, could not be reduced to rule, then tried to provide some JXLGHOLQHV³8 Weiter verfolgt aber hat sie diese Fährte in ihren Untersuchungen nicht. Pohlenz’ ebenso knapper wie reichhaltiger Bestandsaufnahme hingegen liegt die scharf geschnittene kulturhistorische These zugrunde, die hellenische Zivilisation hätte in singulärer Weise die Essenz von Angemessenheit zu erfassen YHUPRFKW Ä'LH JDQ]H 7KHRULH ZXU]HOW LQ GHU 7LHIH GHV JULHFKLVFKHQ *HLVWHV in seinem Gefallen an Wohlgeformtheit und Proportionalität der sinnlichen ErVFKHLQXQJ DEHU DXFK DQ GHU +DUPRQLH YRQ (UVFKHLQXQJ XQG :HVHQ³9 Zwar habe insbesondere Panaitios und dessen Rezeption durch Cicero die Wirkungsgeschichte der hellenischen prépon-Auffassung fortgesetzt, doch letztlich habe GDVVSH]L¿VFKJULHFKLVFKH6HQVRULXPIU$QJHPHVVHQKHLWEHLGHQ5|PHUQNHLQ *HJHQVWFNJHKDEWÄ>)@UGLH,GHQWLWlWYRQ*XWHPXQG6FK|QHPZHUGHQZLU volle Empfänglichkeit nicht bei einem Volke erwarten, das kalón mit honestum ZLHGHUJDE³±VRGLH3RLQWHGHU9HUIDOOVJHVFKLFKWHGLH3RKOHQ]¶$XIVDW]VHLQH Richtung gibt. 3RKOHQ]¶DQIlQJOLFKHV'LNWXPYRQHLQHUÄJDQ]HQ7KHRULH³MHGRFKGDV]HLJHQ seine detaillierten Anmerkungen zu den einzelnen Autoren, vermag das historische Textkorpus nicht einzulösen. Für die platonische Gedankenwelt konnte das préponÄNHLQWLHIHUHV,QWHUHVVHKDEHQ³10 anders bei Aristoteles, doch in desVHQHWKLVFKHQ6FKULIWHQVRNRQVWDWLHUW3RKOHQ]KDEHGHU%HJULIIÄZHGHUVWUHQJH WHUPLQRORJLVFKH QRFK VDFKOLFK ZHVHQVEHJUQGHQGH %HGHXWXQJ³ ± XQG LQ GHU Rhetorik bekomme das prépon OHGLJOLFK ÄPLW EHZXVVWHU 9HUHQJXQJ DEHU GDIU VFKDUIHU 3Ul]LVLHUXQJ GHV %HJULIIV HLQHQ ZHVHQWOLFKHQ 3ODW] ]XJHZLHVHQ³ nämlich innerhalb Aristoteles’ Befassung mit der lexis.11 Dass – und welche – De Witt, 198. De Witt, 2. 9  0D[3RKOHQ]ÄTo prépon³ 10 Op. cit., 104. 11 Op. cit., 105. 7 8

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Rückschlüsse aus Aristoteles’ Aussagen im dritten Buch der Rhetorik sich für seine Konzeption der Redekunst insgesamt ergeben, entfaltet Pohlenz gleichwohl nicht. Die Konzentration auf den von Pohlenz vorausgesetzten ästhetischen Zugriff des griechischen Denkens auf das préponGUlQJWGDEHLHLQHQVSH]L¿VFKEHL$ULVtoteles sich konturierenden Zugang zur Angemessenheit innerhalb des PolisZusammenhangs in den Hintergrund – nämlich den über den sittlich geprägten Charakter des Redners, über sein êthos'LHÄ.RQVWDQ]GHV&KDUDNWHUVGHU3HUsonen, die verlangt, dass jedes Wort und jede Handlung ihrem Wesen angemesVHQVHLQPVVH³VHLGHU7UDJ|GLHQGLFKWXQJZRKOYHUWUDXW±DEHUHLQ*HVHW]GDV ÄLQ GHU 5KHWRULN QDWXUJHPl‰ JHULQJH %HGHXWXQJ KDW³12 Hier bezieht Pohlenz eine Position, gegen die sich aus der Rhetorik des Aristoteles heraus argumentieren lässt, wie wir sehen werden. – Pohlenz’ grundlegender Aufsatz räumt der Rezeption eines für uns verschollenen Werkes des Panaitios durch Cicero – sie spiegelt sich in dessen Schrift 'HRI¿FLLV wider – bereits großen Raum ein. Ein Jahr später, 1934, erscheint dann ein Buch, in dem Pohlenz diese Rezeptionsgeschichte detailliert aufarbeitet. Es trägt den Titel Antikes Führertum. Ciceros De RI¿FLLV und das Lebensideal des Panaitios. Die darin enthaltenen philologischen Rekonstruktionen der Lehre des Panaitios werfen für die Fragestellung, die uns interessiert, jedoch keine Erträge ab; Pohlenz nutzt sie vielmehr, um den Blick DXIGDVSROLWLVFKH/HEHQVLGHDO]XOHQNHQGDVLKQLQWHUHVVLHUWÄ(VLVWGHU+RFKgesinnte, der führt, um zu dienen, und darum der vollendete Mensch, ein selbstJHIRUPWHV.XQVWZHUN³13 Und während Ciceros Adaption des Ideals Panaitios’ am Ende der römischen Republik schon nicht mehr zeitgemäß war – darin, so 3RKOHQ]ÄOLHJWGLH7UDJLNYRQGHRI¿FLLV³±EOHLEHGRFKGLHhEHUOLHIHUXQJVOHLVtung Ciceros bedeutsam.14 Im gleichen Jahr wie Pohlenz’ Antikes Führertum erscheint die Heidelberger Dissertation von Lotte Labowsky mit dem Titel Der Begriff des Prépon in der Ethik des Panaitios. Auch sie stellt die Rekonstruktion der prépon-Lehre des Panaitions anhand detaillierter Analysen von Ciceros 'HRI¿FLLV und Horaz’ Ars poetica in den Mittelpunkt. Selbst mit Blick auf die philosophiegeschichtliche Einordnung des Panaitios herrscht ein erstaunlicher Einklang zwischen den beiGHQ$UEHLWHQ6REH]HLFKQHW3RKOHQ]GLH3KLORVRSKLHGHV3DQDLWLRVDOVGLHÄ+HOOHQLVLHUXQJ GHU 6WRD³ 3DQDLWLRV KDEH QLFKW QXU ÄGLH OHEHQVIUHPGH ,VROLHUXQJ des Logos innerhalb der Menschennatur aufgegeben, er hat auch sonst aus der stoischen Lehre alles ausgemerzt, was den Hellenen abstieß, den Doktrinarismus und Formalismus, die Ertötung des Trieblebens und die Entwertung der 6LQQOLFKNHLW³15 Labowsky ihrerseits entwickelt einen ganz ähnlichen Gedanken, ZHQQ VLH UHVPLHUW GDVV GDQN 3DQDLWLRV ÄHLQH QHXH 6SKlUH LQ GLH 6\VWHPDWLN GHU6WRDHLQEH]RJHQZLUGGLHMHQLJHGHUHPSLULVFKHQ:LUNOLFKNHLW³VRGDVVHU 12 13 14 15

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Op. cit., 117. Antikes Führertum, 141. Op. cit., 146. Op. cit., 142.

GHQQRUPDWLYHQÄ%HJULIIHLQHUDEVWUDNWHQ0HQVFKHQQDWXUPLWGHPHPSLULVFKHQ HLQHU LQGLYLGXHOOHQ XQG NRQNUHWHQ³ ]XVDPPHQ]XEULQJH16 Bei dieser ideengeschichtlichen Fusion nun spiele der Begriff des decorum die entscheidende Rolle – schließlich gelinge es mit seiner Hilfe, die Einheit der Lebensführung des Menschen zu vermitteln mit der Wohlgefälligkeit und Billigung bei den Mitmenschen.17 An der philologisch wie interpretativ umsichtigen Arbeit Labowskys erstaunt ihr Aufbau: Auf den ansatzlosen Einstieg in die Cicero-Analyse, der sich die Untersuchung der ars poetica anschließt, folgt erst nach mehr als einhundert Seiten ein begriffshistorischer Rückblick auf das prépon. Labowsky kennt also das eminent rhetorische Erbe dieses Begriffs – jedoch liegt bei ihrer Untersuchung der Schwerpunkt eindeutig auf seinen moralischen Implikationen, steuert VLHGRFKDXIGLHÄDUVYLYHQGL³GHV3DQDLWLRV]X(LQHV\VWHPDWLVFKH%HIDVVXQJ mit prépon und decorum aus rhetorischer Perspektive bietet Labowsky daher nicht. Gleichwohl arbeitet sie ein bestimmendes Merkmal der antiken Angemessenheitstheoreme zutreffend heraus – nämlich jene inhärente Spannung zwischen objektiver Norm und subjektiver Wirkung, gesetzmäßiger Zuordnung und dem Moment der Relativität, das in der Rhetorik – verglichen etwa mit der 3RHWLN±QXQÄJOHLFKVDPGDVGRPLQLHUHQGHJHZRUGHQ³VHL18 Von dem französischen, Henri Bergson nahestehenden Philosophen und Intellektuellen Vladimir Jankélévitch stammt die 1957 erschienene Publikation Le Je-ne-sais-quoi et le Prèsque-rien. Jankélévitchs Studie bezieht ihren Impetus aus einem, wie er es ausdrückt, schlechten Gewissen gegenüber all den Phänomenen, die der Rationalismus an die Seite drängt und unerwähnt lässt: ÄTXHOTXH FKRVH TXL SURWHVWH HW ÃUHPXUPXUHµ HQ QRXV FRQWUH OH VXFFqV GHV HQWUHSULVHV UpGXFWLRQQLVWHV³19 Er nimmt eine ganze rhetorisch-philosophische und politisch-literarische Überlieferung in den Blick, die sich mit dem Wie und seinen Strategien befasst. Macchiavelli und vor allem Baltasar Gracián spielen in Jankélévitchs Betrachtungen eine wichtige Rolle; sie sind für ihn HaupWH[SRQHQWHQ HLQHU ÄLQWHUYHUVLRQ GLDPpWUDOH GX SODWRQLVPH VHQVLEOH GpMj GDQV O¶pWKLTXH FLFpURQLHQQH GX 'HFRUXP³20 Gleichwohl nimmt Jankélévitch sich diese Autoren nicht im Detail und analytisch vor, sondern lässt Belege hier und da in einen epochenübergreifenden, mit ebenso zahl- wie geistreichen Aperçus DQJHUHLFKHUWHQ*HGDQNHQVWURPHLQÀLH‰HQGHUGDVÄ-HQHVDLVTXRL³HPSKDWLVFK in sein Recht setzen will. In der ersten Hälfte seines Werkes befasst sich Jankélévitch mit Le charme du temps und, zugespitzter noch, mit Le charme de l’instant. Damit nimmt er die Temporalität menschlichen Redens und Handelns in den Blick – die wir als ein Element des rhetorischen aptum ebenso wiedererkennen wie als Umschrei16 17 18 19 20

Lotte Labowsky, Der Begriff des Prépon in der Ethik des Panaitios, 117. Op. cit., 112. Op. cit., 106; cf. auch DeWitt, 14. Vladimir Jankélévitch, Le Je-ne-sais-quoi et le Prèsque-rien, 1. Op. cit., 3.

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bung des von den Sophisten so prominent in den Vordergrund gerückten kairós. ± 'HU GHVNULSWLYDI¿UPDWLYH 6FKUHLEJHVWXV -DQNpOpYLWFKV QXQ VWHKW GHU 6XFKH nach Einsichten über die Natur der Angemessenheit insofern im Wege, als er HV RIW EHL GHU )HVWVWHOOXQJ GHU 6FKZLHULJNHLW EHZHQGHQ OlVVW ÄDXFXQ PDQXHO GHUKpWRULTXHPrPHSDUPLOHVSOXVPLQXWLHX[QHUHPSODFHLFLOHWDFWLQ¿QLOD GpOLFDWHVVHH[TXLVHHWSUpVTXHLPSRQGpUDEOH³21 Beinahe, so könnte man meinen, schätzt Jankélévitch diese Delikatesse als zu köstlich und kostbar ein, als dass HUVLHHLQHUEHJULIÀLFKHQ=HUJOLHGHUXQJXQWHU]LHKHQZROOWH'LHVHUHVVD\LVWLVFKH Duktus nun führt dazu, dass der Ertrag seiner Studie für die hier verhandelte Fragestellung letztlich doch gering bleibt. Während für Jankélévitch der Bezug zur rhetorischen Traditionslinie aus Antike, Renaissance bis hin in den Barock offen zutage liegt als eine Quelle feiner Differenzierungen der Umstände, die sich dem rationalistischen Zugriff des Begriffs entziehen, so bedarf es in einer rund zehn Jahre später erschienenen Monographie, die sich ganz der Problematik der Angemessenheit unter GHPYHUZDQGWHQ%HJULIIGHVÄ6FKLFNOLFKHQ³DQQLPPWJUR‰HU$QVWUHQJXQJHQ um die rhetorische Tradition überhaupt erst wieder kenntlich zu machen und als Bezugsgröße in den Blick zu nehmen: Die Rede ist von Alste Horn-Onckens NXQVWJHQDXHUDUFKLWHNWXUKLVWRULVFKHU6WXGLHÄhEHUGDV6FKLFNOLFKH³YRQ Sie analysiert vorrangig den Grundlagentext europäischer Architekturtheorie, nämlich Vitruvs De Architectura, auf dessen decor-Auffassung hin. Im Verlauf des Durchgangs durch die Jahrhunderte der Vitruv-Interpretation, den Alste Horn-Oncken anschließt, ist es bezeichnenderweise erst ein Interpret der Spätrenaissance, Daniele Barbaro, der den entscheidenden Hinweis gibt: quia ubi est decorum ibi etiam decor. Die Renaissance also führt jenen Zentralbegriff des Vitruv zurück auf seine antik-rhetorischen Wurzeln – auf das decorum und das prépon'DPLWKDWDXFK$OVWH+RUQ2QFNHQLKUH7KHVHJHIXQGHQÄ9LWUXYV decor, das ist evident, kann gar nichts anderes sein als dieses prépon³22 Über den analytischen Umweg der Vitruv-Deutung späterer Säkula also stellt HornOncken die Verbindung zur rhetorisch-literarischen Tradition der griechisch-römischen Antike (insbesondere ist natürlich an Cicero zu denken) wieder her, aus der Vitruv geschöpft hatte. Horn-Oncken referiert ausführlich, wobei sie sich im Wesentlichen an dem Aufsatz von Pohlenz orientiert, die Wurzeln von prépon und decorum in der griechischen und römischen Rhetorik. Und obwohl es wiederum Barbaro als genuiner Vitruv-Interpret war, der sogar eine ausdrückliche Problem-Analogie innerhalb der artes postuliert hatte,23 lässt Horn-Oncken es bei einer Darstellung der Begriffshistorie bewenden; zur Kernproblematik jedoch, nämlich der Frage, wie es denn möglich ist, Angemes21 22

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Op. cit., 129. Op. cit., 99; der Erkenntnisgewinn bleibt hier allerdings gering, schließlich hatte schon Pohlenz in To préponGLHHQWVSUHFKHQGHQ9LWUXY3DVVDJHQGDUJHOHJWXQGGD]XIRUPXOLHUWÄ'DVV9LWUXY das griechische prépon wiedergibt, ist an sich selbstverständlich und wird durch die Ausführung EHVWlWLJW³±FI Op. cit., 111.

senheit zuallererst mit den Mitteln der Theorie dingfest zu machen und dann im Schaffen des Architekten oder Künstlers zu realisieren, dringt sie nicht vor. Die Situierung des Problems als einem, das in der antiken Rhetorik offenbar eine reichhaltigere Behandlung erfahren hatte als in der Architekturlehre Vitruvs, reicht Horn-Oncken aus. Warum er sich nicht umfassender zum decor geäußert hat, warum dieser ein zentraler Begriff seiner Architekturtheorie war, der jedoch ohne ausdifferenzierte Anleitung zu seiner Realisierung in praxi blieb – diese 6FKUlJODJH PRQLHUW +RUQ2QFNHQ Ä(V LVW HLQ 3URJUDPP GDV YRQ YRUQKHUHLQ nicht ganz konsequent angelegt erscheint – umfassend, was die Weite des Geltungsbereichs betrifft, aber ohne zentralen Platz im System und dabei unvollVWlQGLJDQJHVLFKWVGHUPLW:LOONUDXVJHZlKOWHQ6DFKSUREOHPH³24 Statt sich auf das bereits in der Antike bekannte Theorieproblem einzulassen, PDFKW+RUQ2QFNHQlX‰HUH0RWLYHIUGDV$XVIKUXQJVGH¿]LWGDVVLH9LWUXY attestiert, verantwortlich; und zwar durch den Hinweis auf das offenkundige Interesse des Römers, durch eine Parallelisierung architektonischer Problemstellungen mit denen anderer artes die Nobilitierung des eigenen Tuns in Abgrenzung vom schlichten (Kunst-) Handwerk anzustreben.25 Darum vor allem sei es ihm zu tun gewesen, und hierin liege auch der Grund, warum Vitruv überhaupt auf das decor-Problem zu sprechen gekommen sei – ohne es jedoch in angemesVHQHU:HLVH]XEHKDQGHOQ6REOHLEHHVÄHLQXQJHOHQNHV,QVWUXPHQWGDVGLH3UDxis des Faches nicht eigentlich erfordert. Zwar wird die Konzeption des ‚AngePHVVHQHQµDQVLFK>«@DOOJHPHLQHQ7HQGHQ]HQGHU=HLWDXFKDXIGHP*HELHWGHU %DXNXQVWHQWJHJHQJHNRPPHQVHLQ>«@$EHUVHLQ3URJUDPPGHVdecor passt, DOV3URJUDPPLQGHU*HVWDOWGLHHULKPYHUOHLKWQLFKWDXIGLH%DXNXQVW³26 Somit kommt Horn-Oncken zwar das Verdienst zu, die rhetorischen Wurzeln des Angemessenheitsproblems in Erinnerung zu rufen. Der Tiefenstruktur der Frage nach der Angemessenheit kommt sie damit letztlich nicht auf die Spur.27 Die beiden jüngsten hier anzusprechenden Werke28 stammen aus dem BeUHLFK GHU 3KLORVRSKLH ± DXFK ZHQQ LKUH$I¿OLDWLRQHQ XQWHUVFKLHGOLFKHU NDXP Op. cit., 101.  &IRSFLWÄ'DVSUpSRQ>«@PVVWHVRVROOWHPDQPHLQHQ]X9LWUXYV=HLWDOVQDKH]XXQHUOlVVOLFKHV5HTXLVLWGHVEHJULIÀLFKHQ$SSDUDWVJHJROWHQKDEHQGHVVHQPDQEHLGHUWKHRUHWLVFKHQ Darstellung – und Legitimation – einer arsDOV%LOGXQJVIDFKEHGXUIWH³ 26 Op. cit., 137. 27 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle hingewiesen auf eine weitere Monographie aus dem Gebiet der Kunstgeschichte, nämlich Ursula Mildner-Fleschs Decorum. Herkunft, Wesen und Wirkung des Sujetstils am Beispiel Nicolas Poussins von 1983. Wie der Titel schon andeutet, übernimmt die Darstellung des decorum rhetorischer Provenienz hier wiederum nur die Rolle eines historischen Hintergrundgemäldes; Mildner-Flesch stützt sich weitestgehend auf die Ausführungen Labowskys zur Ars poetica des Horaz und leistet keinen eigenen Beitrag zur Ausleuchtung des Angemessenheitsbegriffs. 28 Karl-Heinz Götters Kommunikationsideale aus dem Jahr 1988 sei hier nur kurz erwähnt – er kommt zwar im Rahmen seiner Befassung mit Libro del Cortegiano auch auf die Tradition des decorum zu sprechen, doch setzt seine Untersuchung erst in der Renaissance ein; eine wirklich tiefgreifende Analyse der Angemessenheit in der rhetorischen Tradition macht er sich nicht zur Aufgabe. 24 25

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sein könnten: Diskursethik auf der einen Seite – bei Klaus Günther –, eine aristotelische Dominante auf der anderen Seite – bei Peter Ptassek. .ODXV *QWKHUV )UDJH QDFK GHP ÄSinn für Angemessenheit³ HUVFKLHQHQ 1988) gewinnt ihr philosophisches Interesse dadurch, dass sie einerseits vom %RGHQGHU0RGHUQHVSULFKGHUÄSRVWNRQYHQWLRQHOOHQ³0RUDOYRUVWHOOXQJHQDXV argumentiert, andererseits jedoch nicht blind ist für die Vermittlungsproblematik universalistischer Normen mit partikularen Situationen. In der Auseinandersetzung mit Aristoteles, die allerdings nur einen Bruchteil seiner Überlegungen ausmacht, formuliert Günther diese Frontstellung gegenüber dem aristoteliVFKHQ9HUVWlQGQLVYRPJXWHQ/HEHQÄ:HLOGDVRQWRORJLVFKHHQVHWERQXPFRQvertuntur nach langer Zeit empiristischer und ontologischer Kritik nicht mehr so einfach zu haben ist, bemühen sich alle Rekonstruktionsversuche darum, den *HOWXQJVDQVSUXFKGHVPHQVFKOLFKVLWWOLFKHQ.RQWH[WHVDOV'H¿QLHQVGHV]RRQ politikón lógon échon aufrechtzuerhalten, ohne den Preis einer mit unveränGHUOLFKHQ 6HLQVEHVWLPPXQJHQ RSHULHUHQGHQ 2QWRORJLH ]X ]DKOHQ³29 Günthers eigener Problemlösungsvorschlag läuft darauf hinaus, die Bewältigung komplexer Situationen, die erforderlich ist, um Angemessenheit sicherzustellen, nicht mehr vom einzelnen Individuum zu erwarten, sondern an Institutionen zu delegieren.30 Damit, das liegt auf der Hand, ist das rhetorische decorum als lebensweltliche Ressource argumentativer und moralischer Angemessenheit für Günther nicht (mehr) von Interesse. So vermag es weder zu verwundern, dass er über Aristoteles hinaus keine Schriften antiker Autoren analysiert, noch, dass die reichhaltige rhetorische Auseinandersetzung über Angemessenheit erst gar nicht in den Blick gerät. Ganz anders Peter Ptasseks im Jahre 1993 veröffentlichte Dissertation Rhetorische Rationalität. Ptassek greift eine ganze Reihe von Themen und Thesen aus Hans Blumenbergs ein Jahrzehnt zuvor zum ersten Mal in deutscher SpraFKHHUVFKLHQHQHP$XIVDW]Ä$QWKURSRORJLVFKH$QQlKHUXQJDQGLH$NWXDOLWlWGHU 5KHWRULN³DXI=XQHQQHQZlUHGD]XPHUVWHQGLHZHVHQKDIWH9HUNQSIXQJGHU Rhetorik mit der anthropologischen conditio des handeln Müssens;31 zweitens die Erinnerung daran, dass die Meinung als verbindendes und vermittelndes Medium fungiert32 und dank dieser Leistung politisches Entscheiden ermögOLFKWVRZLHGULWWHQVGLH,GHHHLQHUÄ9HUIDOOVJHVFKLFKWH³±3WDVVHNVSULFKWYRQ HLQHU Ä9HUGUlQJXQJVJHVFKLFKWH³ ± GLHVHU JHQXLQ UKHWRULVFKHQ 9HUQQIWLJNHLW

Günther, 236. Op. cit., 312f. 31  6R KHEW %OXPHQEHUJ KHUYRU GDVV Ä5KHWRULN GHQ +DQGOXQJV]ZDQJ GHV 0lQJHOZHVHQV >VF 0HQVFK@DOVNRQVWLWXWLYHV6LWXDWLRQVHOHPHQWYRUDXVVHW]W³  5KHWRULNGLHQWDOV,QVWUXPHQWDULXPÄGHU+HUVWHOOXQJGHU9HUVWlQGLJXQJ=XVWLPPXQJRGHU'XOGXQJDXIGLHGHU+DQGHOQGH DQJHZLHVHQLVW³   32 Cf. Blumenbergs Hinweise auf den consensus bei Aristoteles als das Wirkliche, das wirklich ist, ZHLODOOHYRQLKPEHU]HXJWVLQG  VRZLHGLH5ROOHGHU0HLQXQJDOVGDVÄGLIIXVXQGPHWKRGLVFKXQJHUHJHOWEHJUQGHWH9HUKDOWHQ³   29 30

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im Namen neuzeitlicher Orientierung an wissenschaftlicher Erkenntnis.33 Umso erstaunlicher muss es erscheinen, dass Ptassek Blumenberg nicht einmal im Literaturverzeichnis aufführt.34 – 3WDVVHNEOHQGHWLP=XJHVHLQHUHPSKDWLVFKHQ$I¿UPDWLRQGHUdóxa als dem der politischen Selbstverständigung angemessenen Rationalitätsniveau und deren Einbindung in den gemeinsamen Werte- und Erwartungshorizont, welcher sich in Aristoteles’ êthos-Begriff manifestiert, die Frage aus, wie Meinung und Erwartungshorizont konkret miteinander so in Beziehung gesetzt werden, dass letztlich ein handlungsleitender Konsens entsteht. Wie gelingt es dem Redner im jeweiligen Einzelfall, Gemeinsames zu mobilisieren? Wie schafft er es, die Ä6WDQGRUWKDIWLJNHLWGHU0HLQXQJHQ³35 zu vermitteln mit dem êthos der Polis – MHQHP VFKZHU DQDO\VLHUEDUHQ Ä.RQJORPHUDW DXV 0HLQXQJHQ *HZRKQKHLWHQ Sitten und Gebräuchen, Interessen, Vorlieben und Stimmungen, mit dem hier DOVUHOHYDQWHQ*U|‰HQGLHVHV+LQWHUJUXQGHVJHUHFKQHWZHUGHQPXVV³"36 Sicher ±GLHVHZHUGHQÄYRQ$ULVWRWHOHV]XP7HLOLQGHU8QWHUVXFKXQJGHU7RSRLDQJHsprochen, wodurch alle diese Momente als Material möglicher ArgumentatioQHQHUVFKORVVHQZHUGHQ³37 Nur der Vermittlungsschritt vom Katalog der Topoi zur Konkretion des Redemoments kommt damit nicht in den Blick. Kurzum, Ptasseks systematische Betrachtung unterstreicht zwar immer wieder die Bedetung des pithanon, des Glaubhaften, im Gegensatz zum Wissen; aber in seiner Betrachtung der sophistischen wie der aristotelischen Rhetorikauffassungen spielen weder kairós noch prépon eine Rolle. Und wenn er auf Cicero zu sprechen kommt, dann einzig und allein als denjenigen, der die Synthese von ratio und oratio, von Rhetorik und sapientia anstrebt auf Kosten der akut auf GDV +DQGHOQ KLQ DXVJHULFKWHWHQ ÄSROLWLVFKHQ³ 5KHWRULN 'DV aptum erscheint lediglich als eine der virtutes elocutionis, und so wirft Ptassek Cicero eine Fi[LHUXQJDXI)UDJHQGHV5HGHVWLOVYRU±XQGDXIHLQ%LOGXQJVLGHDOGDVÄVLFKYRP 3ROLWLVFKHQ QLFKW QXU HQWIHUQW VRQGHUQ DXFK ZHLWJHKHQG HPDQ]LSLHUW³38 Dass Ptassek zu dieser These gelangt, liegt gewiss auch daran, dass ihm, der er dem decorum keine Aufmerksamkeit schenkt, zugleich der darin angelegte Bezug auf einen gemeinsamen Haltungs- und Handlungshorizont entgeht, der auf Anerkennung und Billigung durch die Mitbürger angelegt ist. Wie sonst könnte Ciceros Transfer des decorum orationis auf das decorum vitae, den er in De RI¿FLLV unternimmt, erklärt werden? – Während Ptasseks Analysen also – ähnlich übrigens wie 1986 bereits Thomas Buchheim in seiner Monographie über Das beginnt bei der Absetzung Ciceros von den Grundannahmen der Sophistik (105) und auch $ULVWRWHOHV¶+DQGOXQJVEHJULIIXQGVHW]WVLFKIRUWEHLÄ+REEHV¶3DWKRORJLHGHU5KHWRULN³   Blumenbergs wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung reicht allerdings bis ins 20. Jahrhundert. 34  3WDVVHN JUHLIW VRJDU GLH %OXPHQEHUJ¶VFKH .HQQ]HLFKQXQJ GHV 0HQVFKHQ DOV Ä0lQJHOZHVHQ³ auf – cf. Rhetorische Rationalität, 23. 35 Op. cit., 65. 36 Op. cit., 67. 37 Loc. cit. 38 Op. cit., 90. 33

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die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens – die Rationalität der auf Meinungen basierenden, rhetorischen Auseinandersetzung aus dem Handlungsdruck und der Kontingenz menschlichen Agierens heraus transparent macht, setzt er sich mit dem Wie des Verfügbarmachens von Konsenspotenzialen im konkreten Handlungskontext nicht auseinander. Und infolgedessen auch nicht mit dem primären Maßstab der Rhetorik dafür – nämlich der Angemessenheit in ihren diversen theoretischen Ausprägungen vom kairós bis zum decorum. Wenden wir uns diesen nun zu.

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I. Reden, weil wir handeln müssen: Die sophistische Auffassung des kairós

Im Griechenland des 5. vorchristlichen Jahrhunderts wurde die Persuasion sogleich doppelt virulent: einerseits als Thema der philosophisch-kulturellen Auseinandersetzung – hier sei nur der Name Platons als Stichwort genannt –, andererseits als ein entscheidender Faktor politischer Praxis. Die historischen (LQÀVVHGLHGLHVHU(QWZLFNOXQJGHQ%RGHQEHUHLWHWHQVLQGYLHOIDFKEHVFKULHben und ausgeführt worden.1 Es bedurfte wohl einer Zivilisation, die zur Grenzüberschreitung neigte – nicht allein territorial, sondern vor allem intellektuell.2 Als Avantgarde dieser Zivilisation verstand3 und etablierte sich, was der ÜberVLFKWKDOEHUXQWHUGHP5XEUXPGHUÄVRSKLVWLVFKHQ%HZHJXQJ³4 zusammengeIDVVWZLUG'DVJHOlX¿JH%LOGGHU6RSKLVWHQ]HLJWVLHYRUDOOHPDOV*HOHKUWHXQG Lehrer, die von Polis zu Polis wanderten und aus der unausbleiblichen ErfahUXQJNXOWXUHOOHU9LHOIDOWLKUHHLJHQHQ6FKOVVH]RJHQULFKWHWHQVLHGRFKÄGHQ Blick über die engen Grenzen einer einzelnen Polis hinaus auf einen weiteren +RUL]RQW³5 Hinzu kam, dass mit dem Ende der Tyrannis neue politische SpielräuPHHQWVWDQGHQZDUHQ(QWZLFNOXQJVVWUlQJHGLHHLQPQGHWHQLQMHQHÄSROLWLVFKH 5HYROXWLRQ GHU *ULHFKHQ³ GLH JHSUlJW ZDU YRP Ä:LGHUVSLHO YHUVFKLHGHQVWHU .UlIWH³6QlPOLFKLQGLHDWKHQLVFKH'HPRNUDWLH±GDVHUVWHÄ([SHULPHQWLHUIHOG³7 der Demokratie überhaupt. Athen wurde, wie wir bei Platon lesen können, der 2UWÄZRLQJDQ]+HOODVGLHJU|‰WH)UHLKHLWLP5HGHQKHUUVFKW³8 um die demoNUDWLVFKH .RQNXUUHQ] GLHVHV:LGHUVSLHO GHU .UlIWH DXV]XWUDJHQ Ä'LH 3ROLWLVLHUXQJ GHU 3ROLV JHKW VRPLW HLQKHU PLW HLQHU 5KHWRULVLHUXQJ GHU 3UD[LV³ ZLH Peter Ptassek bemerkt.9 Die prominente Funktion der Beredsamkeit als Arena der politischen Auseinandersetzung bot zugleich den Nährboden für die Blüte Klassisch dazu beispielsweise Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1940, 249 ff., sowie Eduard Zeller, Grundriß der Geschichte der Griechischen Philosophie, Stuttgart 131928, 92 ff., vgl. auch Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik, 15ff., Gert Ueding, Die klassische Rhetorik, 14ff. 2 Christian Meier, Athen, 119. 3 Man denke in diesem Zusammenhang nur an die zahlreichen Vorstöße der Sophisten gegen bis GDKLQJOWLJH$QVLFKWHQ±HWZDLP+LQOLFNDXIGLH(QWWDUQXQJGHVÄQDWUOLFKHQ³nomos als reine Konvention, oder auch mit Blick auf die radikale Erkenntniskritik eines Gorgias an der etablierten Naturphilosophie seiner Zeit oder aber angesichts der Tatsache, dass sich die Sophisten als Lehrer der aretê präsentierten. 4 So Kerferds Ansatz, cf. The Sophistic Movement. 5 Cf. Nestle, Vom Mythos zum Logos, 252. 6 Meier, 108f. 7 Schirren/Zinsmaier, Die Sophisten, 14. 8 Plat. Gorg. 461e. 9  3HWHU3WDVVHNÄ5KHWRULNDOV,QVWUXPHQWGHUSROLWLVFKHQ6HOEVWEHKDXSWXQJ]%GLH6RSKLVWHQ³ in: Kopperschmidt (Hg.): Politik und Rhetorik. Funktionsmodelle politischer Rede, 21. 1

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der Sophistik mit ihren weitreichenden Implikationen: Der lógos entfaltete sich KLHUQLFKWDOOHLQLQMHQHPHQJHUHQ6LQQHYRQÄ5HGH³VRQGHUQ±XQGGDVPDFKW GLHHSRFKDOH%HGHXWXQJGHU6RSKLVWLNDXV±JDQ]XPIDVVHQGDOVÄGDVZLFKWLJVWH 2UJDQRQGHUPHQVFKOLFKHQ+DQGOXQJVRULHQWLHUXQJXQG:HOWHUVFKOLH‰XQJ³10

Politisierung des lógos – Herrschaft durch lógos Damit ist ein ganz entscheidendes Motiv angesprochen: nämlich das der Handlungsorientierung. Zum Selbstverständnis der Sophisten gehört die Orientierung auf das Handeln der Polis und die Konzentration auf jene Fora, auf denen über den Kurs dieses Handelns entschieden wird. Gorgias etwa weist explizit hin auf den politischen Impetus seiner Rhetorikauffassung. Sein Metier sei – wie Platon HVEH]HXJW±MHQHÄhEHUUHGXQJDOVRZHOFKHDQGHQ*HULFKWVVWlWWHQYRUNRPPW und bei den anderen Volksversammlungen ... und in Beziehung auf das, was JHUHFKWLVWXQGXQJHUHFKW³11 Dies ist weit mehr als eine reine Beschreibung – schließlich lässt Platon den Gorgias mit der Erwähnung des institutionellen Rahmens, in dem die Redekunst angewandt wird, zugleich auch Hinweise geben auf ihre nicht zuletzt moralische Dignität. Diese sieht der platonische Gorgias auf K|FKVWHP1LYHDXDQJHVLHGHOWEHKDQGHOHGLH5HGHNXQVWGRFKGLHÄZLFKWLJVWHQ R6RNUDWHVXQWHUDOOHQPHQVFKOLFKHQ'LQJHQXQGGLHKHUUOLFKVWHQ³12 Völlig selbstverständlich gibt er dabei den Blick frei auf die politische wie auch moralische Doppelnatur der Rhetorik: Doppelnatur insofern, als die Redekunst zwar Ausweis bürgerlicher Freiheit ist, zugleich aber jeder Redner danach strebt, die Sache in seinem Sinne zu entscheiden – also Herrschaft auszuüben. Kurzum, sophistische Rhetorik versteht sich als Herrschaftsinstrument: Der LoJRV LVW HV ÄNUDIW GHVVHQ GLH 0HQVFKHQ VRZRKO VHOEVW IUHL VLQG DOV DXFK EHU DQGHUHKHUUVFKHQ³13 'DVVGLH6RSKLVWHQGHQ)RNXVGHU5HÀH[LRQYRQGHQ1DWXUGLQJHQZHJXQG hin auf die Agora der Menschen gerichtet haben, macht die grundsätzlich neue 10 11 12 13

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Gert Ueding, Die klassische Rhetorik, 19. Plat. Gorg. 454b. Plat. Gorg., 451d. Plat. Gorg. 452d; cf. auch 452e, 454b; in ganz ähnlicher Weise lässt Platon auch den Protagoras die Doppelnatur des sophistischen Logos herausstreichen, der darin besteht, dass man über die gemeinsten politischen Angelegenheiten nicht nur reden, sondern sie auch führen können – cf. Plat. Prot. 318e–319a. Ich schließe mich allgemein dem Vorschlag von Thomas Buchheim an, das griechische Wort peithôDOVÄ%HNHKUXQJ³ZLHGHU]XJHEHQXPGHUDXIXQWHUVFKLHGOLFKHLQQHUH Motivationen der Zustimmung schließen lassenden Unterscheidung von überreden und überzeugen im Deutschen aus dem Wege zu gehen. Sie kennt das Griechische nicht; ausschlaggebend ist das faktische Zustandekommen der Anhängerschaft – ob im Denken oder im Handeln. Bedeutungskern der peithô ist, jemanden dazu bringen, etwas zu glauben oder zu tun. Cf. Buchheim, Gorgias von Leontinoi. Reden, Fragmente und Testimonien, xiii, n. 23.

Qualität ihres Denkens aus.14(VLVW±ZLH=HOOHUHVDXVGUFNW±ÄLQHUVWHU/LQLH Kulturphilosophie und unterscheidet sich damit schon in ihrem Gegenstande YRQGHUELVKHULJHQ1DWXUSKLORVRSKLH³15 Während, wie Kerkhoff hervorstreicht, die antike Handlungsvorstellung bis dahin noch vor allem geprägt war von der Ä9RUVWHOOXQJYRQGHU(LQJHODVVHQKHLWGHVSULYDWHQXQG|IIHQWOLFKHQ/HEHQVLQ GLH1DWXU³16VREHVWLPPHQGLH6RSKLVWHQGLH%H]XJVJU|‰HGHU5HÀH[LRQQHX Ihr Interesse gilt nicht mehr den Entwicklungsabläufen der Natur, sondern den Entscheidungsabläufen der Menschen. Damit verstehen sie sich nicht mehr als selbstgenügsame Gelehrte wie ihre philosophischen Vorgänger. Sie legen es DXVGUFNOLFKDXI3HUVXDVLRQDQ±DXI5HVXOWDWHQLFKWDXI5HÀH[LRQ17 Nicht allein rückt demnach institutionell die Entscheidung über politisches Handeln in den öffentlichen, in den rhetorischen Raum. Die wahre Politisierung des antiken Handlungsbegriffs erfolgt dadurch, dass die Sophisten ohne Umschweife den damit sich eröffnenden Herrschaftskontext erkennen und zu dem ihren zu machen versuchen. Genau darin, dass sie es von Anbeginn unterlassen, die damit verbundene Ambivalenz politischer Rhetorik auf eine erkenntnistheoretisch begradigte Bahn zu führen, liegt wohl auch ihre bis heute für viele skandalisierende Wirkung.18

Angemessenheit als kairotische Synergie Es lässt sich also festhalten, dass der Sophist nicht die unverdächtige Existenz eines homo theoreticus führt – er selbst und sein lógos müssen sich im öffentlichen Meinungskampf durchsetzen. Kurzum: Der Sophist strebt nach Geltung bei den polloi.19 Über die Persuasion der Zuhörer geradezu verfügen zu können, ist programmatischer Anspruch der Sophisten.20 Dazu gehört, ihre rhetorische Stärke für alle sichtbar zu dokumentieren. Schirren/Zinsmaier, Die Sophisten, 8, machen darauf aufmerksam, schon Cicero schreibe in den Tusculanen 9 Ä]X8QUHFKW6RNUDWHVDOOHLQHLQHQÃ3DUDGLJPHQZHFKVHO‫]ދ‬XGHUYRQGHU VRSKLVWLVFKHQ%HZHJXQJEHUHLWVDQJHEDKQWZXUGH³ 15 E. Zeller, Grundriß der Geschichte der Griechischen Philosophie, 93. 16 Kerkhoff, Zum antiken Begriff des Kairós, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 27 (1973) 256. 17 Cf. Schirren/Zinsmaier, Die Sophisten, 28. 18 Das Machtbewusste der Sophisten wird auch heute noch gern übersehen. Geradezu grotesk mutet es an, wenn Karl Mertens den Anspruch, durch Rede auch Herrschaft auszuüben, nicht nur Y|OOLJDXVEOHQGHWVRQGHUQLP*HJHQWHLOVRJDUGHQ5HGQHUDOVMHPDQGHQFKDUDNWHULVLHUWGHUÄDQGHUHQLQVHLQHU%HGUIWLJNHLWXQG$QJHZLHVHQKHLWJHJHQEHUWULWW³FI0HUWHQV'HU.DLURVGHU Rede, in: Kopperschmidt, Josef (Hrsg.): Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus, München 2000, 312; cf. dazu auch den Aufsatz von Longo, La retorica di Gorgia. Tecnica della persuasione ed esercizio del potere. in: Museum Patavinum 3 (1985): 355–360. 19 Plat. Euthyd. 305c. 20  3ODWRQOlVVW*RUJLDVGLHVHQ$QVSXFKIRUPXOLHUHQÄ9HUP|JHQGLVWIUHLOLFKGHU5HGQHUJHJHQDOOH XQGEHUDOOHVVR]XUHGHQGDVVHUGHQPHLVWHQ*ODXEHQ¿QGHWEHLP9RONXPHVNXU]KHUDXV]X VDJHQZRUEHUHUQXUZLOO³FI*RUJD 14

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Ein erster Schritt zur Durchsetzung des eigenen lógos besteht darin, Widerspruch zu erheben gegen den gängigen lógos. So stellt Gorgias zu Beginn der Helena IHVWÄ'HUVHOEH0DQQGHUEHUXIHQLVWGDV*HERWHQHLQUHFKWHU)RUP]XVDJHQ PXVVDXFKGLHMHQLJHQZLGHUOHJHQGLH+HOHQDWDGHOQ³21 Nun sind Widerspruch und Widerlegung – der elenchos – im sophistischen Verständnis weit mehr als bloß diskursive Manöver. Das Bedeutungsspektrum dieses Wortes reicht über die allein argumentative Widerlegung hinaus in die Sphäre des Agonalen. Mit dem elenchos ist zugleich ein Bezwingen gemeint, ein in die Knie Zwingen des Gegners. Umso deutlicher tritt der eigene Sieg hervor. Diese fundamentale Art der Widerlegung beherrschten die Sophisten. Sie macht viel von ihrer Übermacht im Redewettstreit aus und ist ein wesentliches Element der bisweilen geradezu unheimlichen22 deinotes der Sophisten. Nicht nur bei Gorgias ist diese Überlegenheit Teil des Selbstverständnisses. $XFK3URWDJRUDVEHKDXSWHWMDYRQVLFKHUVHLVFKOLFKWÄEHVVHUDOVDQGHUH³23 Damit ist viel gesagt über die mentale Konstitution des Sophisten. Unterlegenheit, ja Schwäche zu zeigen und nicht in der Lage zu sein, sich selbst zu behaupten, LVWLQGHQ$XJHQHLQHV6RSKLVWHQLQDN]HSWDEHO±GHQQÄZDVGDV6FKlQGOLFKVWHLVW IUHLQHQ0DQQGXUFKVLFKVHOEVWLQV8QJOFN]XJHUDWHQ³24 Ähnlich äußert sich Kallikles im platonischen Dialog GorgiasÄ$XFKLVWGLHVZDKUOLFKNHLQ=XVWDQG IUHLQHQ0DQQVRQGHUQIUHLQ.QHFKWOHLQ>@ZHLOHUEHOHLGLJWXQGEHVFKLPSIW QLFKWLPVWDQGHLVWVLFKVHOEVW]XKHOIHQ³25 Worauf es ihm ankommt, ist Stärke, verstanden als die Fähigkeit (dynamis), sich in jeder Situation durchzusetzen – und zwar als Kennzeichen seines eigenen professionellen Tuns ebenso wie als Ziel seiner Lehrtätigkeit. So sagt Gorgias, bei der rhetorischen Ausbildung gehe HVGDUXPÄDQGHUHJHZDOWLJ]XPDFKHQLQGHU)lKLJNHLW]XUHGHQ³±légein oietai deîn poieîn deinous.26 Der Sophist will diese dynamis verkörpern und vermitteln, und zwar in ihrer höchsten Ausprägung: ihm geht es darum, dynatôtatos27 zu sein, also in höchstem Maße fähig. Ursprünglich ein Wort, das so viel bedeutete ZLHÄIXUFKWHLQÀ|‰HQG³RGHUÄVFKUHFNOLFK³ZDQGHOWHVLFKGLHdeinotes im alltäglichen Sprachgebrauch schnell zu einem Begriff, der in enger Beziehung zu der handwerklichen Gerissenheit28 der Sophisten steht.29 Erst indem die Sophisten ihre deinotes kultivieren, können sie ihren Wirkungsanspruch einlösen. 21 22 23 24 25 26 27 28

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Helena 2. Cf. Thomas Buchheim, Avantgarde, 12. Plat. Prot. 328b. Gorgias, Palamedes, 20. Plat. Gorg. 483b. Plat. Menon 95c. Plat. Prot. 319a. Aufschlussreich hier der Dreiklang, in den Gorgias die deinotesDQDQGHUHU6WHOOHVHW]WÄGHQQ GXEH]HLFKQHVWPLFKDOVYHUVLHUWXQJHKHXHUOLFKXQG¿QGLJ±EH]LFKWLJVWPLFKDOVRGHU:HLVKHLW³ 3DODPHGHVEHLDOOGHPKDQGHOWHVVLFKLQGHQ$XJHQ7KRPDV%XFKKHLPVÄXPDXVJHVSURFKHQ 6RSKLVWHQW\SLVFKH(SLWKHWD³%XFKKHLP HG Gorgias von Leontinoi. Reden, Fragmente und Testimonien, 180 n.32. W.K.C. Guthrie, The Sophists, 32.

Nichts kann den Sophisten schrecken – und auch genau dies zu betonen, gehört zu seiner Außendarstellung.30 Philostratos berichtet davon im Proömium seiner Vitae SophistarumÄ*RUJLDVVFKHLQWDXFKGDPLWEHJRQQHQ]XKDEHQLPprovisiert zu reden; als er nämlich im Athener Theater auftrat, rief er mutig: ‚stellt mir ein Thema‘, und kündigte so als erster dies Wagstück an, um auf diese Weise zu demonstrieren, dass er alles wisse und über alles sich auf die GeleJHQKHLWHLQVWHOOHQGUHGHQN|QQWH³±peri pantos d’an eipein ephieis tô kairô.31 Aussagen, die zu lesen sind als Ausweis der im höchsten Maße auf den Augenblick und die situativen Gegebenheiten ausgerichteten Rhetorikauffassung des Gorgias:32 Sophistische Überlegenheit ist eine Überlegenheit aus dem Stegreif. Natürlich wirft das schier unbändige Selbstvertrauen der Sophisten die Frage auf, woraus sie ihre Überlegenheit ableiten. Welche Fähigkeit liegt ihrer deinotes zugrunde? Welche persuasive Ressource steht im Zentrum ihres Rhetorikansatzes? Zunächst einmal gilt es im Auge zu haben, dass die typisch sophistischen Vokabeln – die Wirkungsmacht der deinotes und die Umwandlung etwa, die es zu bewirken gilt – solche sind, die eine Dynamisierung des lógos beinhalten. Angesichts der Konzentration auf den Prozess der Umwandlung, auf die Bekehrung, die Veränderung des Meinungsbildes, verwundert es nicht, dass auch der Schlüsselbegriff sophistischer Persuasion ein temporales Gepräge hat. Situative Angemessenheit manifestiert sich in der sophistischen Auffassung vom rechten Zeitpunkt. Im Zentrum des sophistischen Konzepts von Persuasion steht dementsprechend der Begriff des kairós: Alles kommt auf den rechten Zeitpunkt an, um die Chance zu verwirklichen, die im Jetzt beschlossen liegt; so wie es sich herausleVHQOlVVWDXVHLQHU]HLWJHQ|VVLVFKHQ'H¿QLWLRQGHVkairósDOVÄ6SLW]HLQGHU=HLW IU GDV9RUWHLOKDIWH =HLW GLH HLQ *XW PLWYHUZLUNOLFKW³33 Der kairós LVW ÄVWHWV 0lQQHUQGHUVWlUNVWH+HOIHUEHLLKUHP:HUN³YHUPHUNW6RSKRNOHV34 – aber ihn gleichermaßen zu erfassen und zu ergreifen, fällt uns Menschen aufgrund seiner Kürze schwer, wie Pindar unterstreicht. Ho gar kairós pros anthrôpôn brachy métron échei.35 Schwierig also muss es sein, ihn als Verbündeten zu gewinnen und auf diesem Wege die eigenen Intentionen erfolgreich mit dem Lauf der Dinge zu verschmelzen.36 Noch einmal schwieriger, da auch der Sophist den kairós nicht zur Verfügung hat. Im Gegenteil: Er, der Sophist, hat ihn zuallererst aufzuspüren. Denn der Okkasion muss er beständig folgen, ja sich gar zu ihrem treuen, umsichtigen, aufmerksamen Sklaven machen.37 Genau das klingt auch 30 31 32 33 34 35 36 37

Plat. Gorg. 447c. Vitae Sophistarum I, prooemium. Cf. W. Süß, Ethos, 18ff. Ps.Platon, 'H¿QLWLRQHV, 414a16, zit.n. Buchheim, Gorgias, 84. Elektra, 75. Py. IV, 286. Buchheim, Avantgarde, 84. Doro Levi, Il kairos attraverso la letteratura greca, in: Rendiconti dell’Accademia dei Lincei, Classe di Scienze Morali, Storiche e Filologiche, 32 (1923), 268.

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in Gorgias’ Palamedes an – der Redner steht unter dem Zwang, der anangkê, des kairós.38 Insofern sich der kairós in und durch die Umstände formiert, ist ihm stets eine gewisse Dialektik eigen, die ihn zu einem äußerst schwierig zu beherrschenden Werkzeug macht. Nie wird er bloße Verfügungsmasse sein. Wer also beherrscht hier wen? Eine Frage, die sich nicht eindeutig beantworten lässt. Die Herangehensweise des Sophisten an den kairós LVW VR %XFKKHLP ÄQLFKW nur eine diagnostische, sondern in gewisser Weise auch eine genetische; anders gewendet: der Logos changiert zwischen einem Erkennen des Kairos und einem +HUEHLIKUHQVHLQHU³39 *HOLQJWGLHVMHGRFKVR¿QGHQ5HGHXQG+DQGOXQJVVWURP]XK|FKVWHU$Qgemessenheit zusammen. Der sophistische kairós lässt sich mithin als rechter Augenblick bezeichnen, an dem sich die Koinzidenz von eigenem lógos und REMHNWLYHPÄ*DQJGHU'LQJH³YHUZLUNOLFKHQOlVVWDieser Vorstellung von Angemessenheit wohnt der Gedanke inne, dass es einer bestimmten Konstellation bedarf, um erfolgreich zu sein. Damit haftet dem kairós etwas durchaus Objektives an, das nicht im Gutdünken der Beteiligten steht. Das Kriterium rhetorischer Angemessenheit liegt im Verständnis der Sophisten demnach nicht im Takt oder in der Gefälligkeit intersubjektiver Beziehungen, in der sittlichen oder formalen Qualität des menschlichen Umgangs begründet, sondern in der Annäherung an die als objektiv verstandene Gunst der Stunde. Auf diesen tangentialen Moment kommt alles an. Hier bündeln sich die Energien, wie Sophokles40]XYHUVWHKHQJLEWÄ:HUSDFNWGHQ$XJHQEOLFNJHZLQQW MD HLOHQGHQ HLOHQGHQ )X‰HV PLW DOOHU 0DFKW GHQ 6LHJ³ 0LW DQGHUHQ :RUWHQ Der kairós macht denjenigen, den er ergreift und der ihn ergreift, unüberwindlich – eben dynatôtatos. Und genau darauf, auf dieses Zusammenwirken, auf diese Synergie, zielt der Sophist ab. Die Rede aber ist sein Instrument, den ihm entgegeneilenden kairós beim Schopfe zu ergreifen. Denn schon im nächsten Augenblick kann er vorüber sein.

Der kairós – die Herkunft des Begriffs und sein Bedeutungsspektrum 6LFKHUOLFKVLQGGLH6RSKLVWHQQLFKWGLH(U¿QGHUGHVkairós – wohl aber sind sie diejenigen, die seine Relevanz für die Rede und für die Rhetorik zum ersten Mal erkannt und benannt haben.41 Kommt der antiken Überlieferung nach ProWDJRUDVGLH5ROOHGHV(QWGHFNHUV]X±GHQQHUÄHUNDQQWHDOVHUVWHUGLH0DFKW 38 39 40 41

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Gorgias, Palamedes, 32. Buchheim, Avantgarde, 87. Philoktetes, 837. Leider sind die Ausführungen über die Bestimmungsmomente des kairós knapp – wenn es sie denn überhaupt hier und da einmal gibt; zwar benutzen viele antike Autoren den Begriff, aber, ZLH'RUR/HYLVFKUHLEWLVWHVÄRFFDVLRQHUDULVVLPDFKHWDOLVFULWWRULVLLQGXJLQRDGHWHUPLQDUHOD VXDQDWXUDHOHVXHSHFXOLDULWj³±/HYL

des kairós³42 –, so war es wohl Gorgias, der, so berichtet es Dionysios von Halikarnassos, als erster versucht habe, eine Theorie des kairós zu verfassen.43 Was aber lässt sich über Herkunft und Bedeutungsspektrum jenes Zentralbegriffs44 der sophistischen Rhetorik festhalten? Schließlich war die griechische Kultur schon auf vielfältige Art und Weise mit dem kairós vertraut. 1. Nicht nur liegen die Ursprünge des Begriffs kairós in tiefem Dunkel, auch die Blüte seiner Wirkung war kurz. Denn jene Bedeutung und vor allem Bedeutsamkeit, die den Begriff ins Zentrum sophistischen Denkens rücken, und die GHPJDQ]VSH]L¿VFKVRSKLVWLVFKHQ'HQNVWLOHQWVSULQJHQYHUOLHUHQVLFKLQVSlWHUHQ-DKUKXQGHUWHQZLHGHU6LHZDUHQVR'RUR/HYLHLQ6SH]L¿NXPGHVJROGHnen Zeitalters der griechischen Kultur.45 Die etymologischen Wurzeln, die Levi ans Licht hebt, belegen die Nähe des Wortes kairós zur Sphäre der Entscheidung, und das in einem geradezu physischen Sinne. Denn die beiden Worte, aus denen er die Bildung kairós ableitet, sind kêr, Tod, und kára, Haupt. Laut dieser Erklärung wäre kairós jenes, was eine Sache auf den Kopf trifft, auf den kapitalen und vitalen Punkt.46=XGLHVHU%HGHXWXQJVNRPSRQHQWHGHVÄ.DSLWDOHQ³ kommt eine zweite, nicht minder wichtige – nämlich die, auf einen bestimmten Punkt zu zielen und ihn auch zu treffen. Insofern verwundert es nicht, dass die zeitgenössischen Autoren immer wieder auf die Metapher des Bogenschützen rekurrieren, wenn es um die Beherrschung des kairós geht. Diese explizite 9HUELQGXQJ¿QGHWVLFKEHLVSLHOVZHLVHEHL$LVFK\ORV47 und noch in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik¿QGHWVLH:LGHUKDOODQ]HQWUDOHU6WHOOHZHQQDXFKRKQH Bezug auf den sophistischen Zentralbegriff.48 Und der Bogenschütze, der genau ins Ziel trifft, ist natürlich derjenige, der tödlich und damit entscheidend zu treffen vermag. Ganz in diesem Sinne, nur ins Passive gekehrt, verwendet bereits Homer den Begriff: Bei ihm ist mit kairós jene Stelle benannt, an der eine Waffe eine tödliche Verletzung zufügen kann. Und auch bei Thukydides bezeichnet der kairós den günstigen Ort, etwa um eine Stellung zu errichten. All diese Beispiele für die Verwendung des Wortes kairós machen eines klar: Die Griechen sehen den kairós in der Sphäre des Kampfes, des Krieges und Agon beheimatet.49

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DK 80 A1. De compositione verborum, 12,5. Zur Kennzeichnung des kairós als zentralen Begriff für die Situationsbezogenheit antiker Rhetorikauffassungen cf. Karl Mertens, Der Kairos der Rede, 296f. Doro Levi, 260. Op.cit., 262. Eine ganz andere Herleitung bietet Manfred Kerkhoff in seinem Aufsatz Zum antiken Begriff des Kairós an. Seiner Herleitung nach referiert der kairós%HJULIIDXIMHQHÄGUHLeckige Öffnung, die beim Weben entsteht, wenn die Kettfäden angehoben bzw. gesenkt werden, XP GHQ 6FKXVVIDGHQ RGHU (LQVFKODJ KLQGXUFK]XODVVHQ³ DOVR HLQHU9RUVWHOOXQJ GHU ÄUlXPOLFK NOHLQHQXQG]HLWOLFKNXU]GDXHUQGHQgIIQXQJ³FIRSFLWI Cf. Aischylos, Suppl, 446, Ag. 865. Arist. EN I 1, 1094a22–24. Cf. Kerkhoff, 260; Kucharski, Sur la notion pythagoricienne du kairós, in: Revue philosophique de la France et de l’Étranger, 153 (1963), 150.

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2. Zum anderen aber ist der kairós ein Begriff, der schon früh eine Rolle spielt in der Sphäre der Medizin, angesiedelt also in dem nicht minder bedeutungsschwangeren Spektrum von Krankheit, Heilung oder Tod. Schon in der pythagoreischen Zahlenmystik – rund ein Jahrhundert vor dem Auftreten der Sophisten – spielt der kairós eine zentrale Rolle. So berichtet Aristoteles in der Metaphysik,50GDVVGLH3\WKDJRUHHUÄLQGHQ=DKOHQYLHOHbKQOLFKNHLWHQ]XVHKHQ JODXEWHQPLWGHPZDVLVWXQGHQWVWHKW>«@ZRQDFKLKQHQGLHHLQH%HVWLPPWheit der Zahlen Gerechtigkeit sei, eine andere Seele oder Vernunft, wieder eine andere der kairós>%RQLW]EHUVHW]WÄGLH5HLIH³@XQGVRLQJOHLFKHU:HLVHVRJXW ZLH MHGHV HLQ]HOQH³$XFK LQ ZHOFKHU =DKO JHQDX GLH 3\WKDJRUHHU GHQ kairós verkörpert sahen, ist bekannt – nämlich in der Sieben.51 So schien ihnen die Sieben in astronomischen wie auch biologischen und natürlichen Abläufen eine besondere, markante Stellung einzunehmen: Sie markiere nämlich Momente des Übergangs von einem Stadium zu einem anderen. Am siebten Tag der Krankheit zeige sich, ob die Aussicht auf Besserung und Heilung bestehe, oder ob sogar mit einer Verschlechterung des Zustandes – bis hin zum Tod – zu rechnen sei.52 Das Grundverständnis des kairós als dem entscheidenden Moment der Veränderung und Umwandlung, als welche die Sophisten ja die Persuasion ebenfalls auffassen, wohnt dem griechischen Denken also schon in frühester Zeit inne. 3. Nicht nur, dass die Sophisten diese Vorstellung des kairós, wie sie in der frühgriechischen Medizin populär war, aufgreifen. Nein, sie machen weitere, vielsagende Anleihen bei der Medizin, genauer: bei den Medizinern. Orientieren sie sich doch in ihrem professionellen Selbstverständnis an dem der Ärzte. Glauben wir Platon, so treiben sie jedoch auch diese Analogie sogleich wieder auf die Spitze; lässt er doch Gorgias eindrucksvoll schildern, wie die Redekunst des Sophisten die Zuhörer effektiver überzeugen kann als der Rat von Fachleuten; und es liegt eine besondere Pointe darin, dass Gorgias hier als Beispiel JHUDGHGDVGHV$U]WHVZlKOWÄ(LQHQDXIIDOOHQGHQ%HZHLVZLOOLFKGLUKLHUYRQJHben. Nämlich gar oft bin ich mit meinem Bruder oder anderen Ärzten zu einem Kranken hingegangen, der entweder keine Arznei oder den Arzt nicht wollte schneiden und brennen lassen, und da dieser ihn nicht überreden konnte, habe LFKLKQGRFKEHUUHGHWGXUFKNHLQHDQGHUH.XQVWDOVGLH5HGHNXQVW³53 Platon wiederum nimmt diesen Anspruch virtuos auf und formuliert seine ironische $QWZRUW,PÄ*RUJLDV³UlW6RNUDWHVGHP3RORV54ÄJLEGLFKQXUEHKHU]WGHU5HGH ZLHGHP$U]WHKLQ³±tô logô hosper iatrô. Es fällt unmittelbar ins Auge, dass hier die Rollenverteilung eine ganz andere ist, als sie Gorgias veranschlagt hatte. Nicht dem Redner kommt die Rolle des Arztes zu, sondern es ist der lógos 50 51 52

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Arist. Met. A5, 985b27–31. Cf. dazu Paul Kucharski, 142. Diesen entscheidenden Moment auf den siebten Tag des Krankheitsverlaufs anzusetzen, gehörte VFKRQYRUGHUKLSSRNUDWLVFKHQ.RGL¿]LHUXQJ]XGHQSRSXOlUHQ$QVLFKWHQ]XUµDQFLHQQHGRFWULne‘, so Kucharski. Plat. Gorg. 456a–b. Plat. Gorg. 475b.

selbst, natürlich in Form des Dialogs, von dem die heilsame Wirkung ausgehen soll. Dies macht, wie leicht zu erkennen ist, einen ganz gewaltigen Unterschied: Während der Sophist auf die personale Kompetenz des Experten setzt, vertraut Platon auf die dem lógos innewohnende Kraft der dialektischen Argumentation. Bei den Sophisten hingegen wird ein inakzeptabler Mangel an Logik konstaWLHUWÄ'HQQGLHVHU6RKQGHV.OHLQLDVIKUWIUHLOLFKEDOGVROFKH5HGHQEDOGVROFKHGLH3KLORVRSKLHDEHULPPHUGLHQlPOLFKHQ³55 Kein Wunder, verlassen sich die Sophisten schließlich nicht auf die Kraft vernünftiger Rede, sondern nur auf die Macht ihrer 5HGH 6RSKLVWLVFKHU /RJRV HQWZLFNHOW VHLQH ÄWKHUDSHXWLVFKH³ Kraft nicht im Dialog, im Gegenteil: Er ist unilateral und als solcher wird er verabreicht. Denn, so Gorgias in der Helena Ä,P VHOEHQ9HUKlOWQLV VWHKW GLH Wirkkraft der Rede zur Ordnung der Seele wie das Arrangement der Heilmittel ]XUN|USHUOLFKHQ.RQVWLWXWLRQ³56 Wie der Arzt auf den Körper seines Patienten, so wirkt der Sophist auf die Seele seines Zuhörers mit dem Ergebnis, dass er Affekte entfernt oder aber herbeiführt.57 Der Anspruch auf eine professionelle 9HUIHUWLJXQJYRQ3HUVXDVLRQRGHUÄ%HNHKUXQJ³HEHQVRZLHGLH$QOHLKHQEHLP Standesethos der Ärzte, spricht auch aus einer anderen überlieferten Äußerungen des Sophisten Protagoras: Ho men iatrón pharmákoun metaballei, ho de sophisten lógoun±Ä'HU$U]WQXQEHZLUNWVHLQH8PZDQGOXQJGXUFK$U]QHLHQ GHU6RSKLVWDEHUGXUFK5HGHQ³58 Auch hier spielt wieder das Selbstverständnis der Sophisten hinein, das geprägt ist vom Anspruch auf rhetorische Überlegenheit – und vom Verlass auf die schon besprochene deinotes. Allen soeben besprochenen kairós-Verständnissen – ganz gleich, ob sie aus der literarischen oder wissenschaftlichen Tradition entliehen oder aber im sophistischen Selbstverständnis begründet sind – ist eines gemeinsam, nämlich das für unseren Kontext zentrale Denkmotiv: Indem er seine Rede wie ein pharmakon verabreicht, will der Sophist bei seinen Zuhörern eine metabolê, eine Umwandlung auslösen, er will peithô, Bekehrung, bewirken. Welcher Natur DXFKLPPHUGLHVHÄ%HNHKUXQJ³LVWRE±LQGHXWVFKHQ%HJULIIHQJHVSURFKHQ± eher von Überzeugung oder Überredung geprägt: ausschlaggebend ist allein, dass die Zustimmung zu der vom Redner dargelegten Position zustande kommt. Es geht um den Sieg als einschneidendes Ereignis, das das rhetorisch ausgetragene Widerspiel der Kräfte im Nachhinein auseinanderfallen lässt in ein Vorher und ein Nachher – ablesbar etwa an jener dem Protagoras zugeschriebenen Aussage, er könne den zunächst schwächer erscheinenden Logos zum stärkeren machen.59 Wenn das keine Umwandlung in dem besprochenen Sinne, keine metabolê ist! Dieses Vorher und Nachher, getrennt durch den diskursiven Eingriff 55 56 57

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Plat. Gorg., 482a. Helena 14. Cf. zu dem Kontext der griechisch-antiken Affektenlehre und ihrer medizinischen Wegbereiter XQG$QOHLKHQVHKUDXVIKUOLFK+HOOPXW)ODVKDUÄ'LHPHGL]LQLVFKHQ*UXQGODJHQGHU/HKUHYRQ GHU:LUNXQJGHU'LFKWXQJLQGHUJULHFKLVFKHQ3RHWLN³ Plat. Theait. 167a. Cf. Arist. Rhet. 1402a23 und Plat. Apol. Sokr. 19b.

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des Sophisten, macht deutlich, wie sehr hier in zeitlichen Kategorien gedacht wird. Der Kontrast zwischen den Sophisten und ihren theoriegeschichtlichen Vorgängern lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Suchten die eleatischen Naturphilosophen nach einer überzeitlichen Wahrheit hinter den Erscheinungen des Alltags, schlägt der Sophist den entgegengesetzten Weg ein: Seine Argumentation dynamisiert nicht nur den lógos, sondern auch das Dasein. Er setzt damit in Gang, was als eine Modernisierungsbewegung avant la lettre sich bezeichnen ließe, im Zuge derer, so Heinz Ladendorf, die griechische Kultur ÄYRQGHU8QUXKHGHU=HLWOLFKNHLWHUJULIIHQ³60 wird.

Der kairós als Maß ohne Maß $QJHVLFKWVGHVÀFKWLJHQ&KDUDNWHUVGHVkairós drängt sich natürlich die Frage auf: Wie kann ihn der Redner erkennen und ergreifen, wie lässt er sich bestimmen und rhetorisch verfügbar machen? Voraussetzung, um – denken wir noch einmal an das Bild des Bogenschützen – mitten ins Ziel zu treffen und so die volle Wirkung zu entfalten, ist selbstverständlich, nicht aufs Geratewohl vorzugehen, sondern mit Maß – dem rechten Maß. Eben mit Angemessenheit. Nur wer das rechte Maß trifft, kann treffen – und nur wer angemessen spricht, wird die Zuhörer für seinen Standpunkt gewinnen. Zwar wird in der Forschung immer wieder betont, der Sinn für das rechte Maß sei das wesentliche Merkmal, das alle Äußerungen des griechischen Geistes auszeichne.61 Aber: das rechte Maß ist etwas anderes als das richtige Maß.62 Will man die Natur des kairós zutreffend erfassen, so ist dies zweifellos eine JDQ] ]HQWUDOH 8QWHUVFKHLGXQJ *HQDX VLH WULIIW )ULHGULFK 3¿VWHU MHGRFK QLFKW ZHQQHUIHVWVWHOOWÄDOOHVLVWVFK|QZHQQHVPLWGHP.DLURVYHUEXQGHQLVWULFKWLJHV0D‰KDW³63 Hier wird Maß ausschließlich assoziiert mit Ebenmaß – mit Symmetrie und der Zurückhaltung, die im mêden agân angesprochen ist. Warum ist diese Unterscheidung des rechten vom richtigen Maß so wichtig? Weil 3¿VWHUV(QJIKUXQJGHVkairós mit der Symmetrie, das Herzstück seiner Argumentation, suggeriert, es ginge um ein Maß, genauer noch: ein Gleichgewicht, das sich bestimmen ließe mittels eines externen Kriteriums, gewissermaßen eiQHVÄhEHU0D‰HV³PLWGHVVHQ+LOIHVLFKLP(LQ]HOIDOOIHVWOHJHQOLH‰HZDVGDV ULFKWLJH0D‰VHL2GHU±DXFKGDVHLQ0LVVYHUVWlQGQLV3¿VWHUV±LP6LQQHHLQHV Ä0LWWHO0D‰HV³GDVXQVOHGLJOLFKGD]XDQKlOWQLFKWYRPÄPLWWOHUHQ:HJ³DE]XHeinz Ladendorf, Kairos, in: Festschrift J. Jahn, 1958, 225. Z.B. Levi, 266; ebenso Pohlenz, To prépon, 102. 62 Cf. Massagli, Gorgia e l’estetica della situazione, in: 5LYLVWDGL¿ORVR¿DQHRVFRODVWLFD, 73 (1981), Ä/DEHOOH]]DTXLQGLQRQSXzHVVHUHTXDOFRVDG¶LPPRELOHHVWDELOLWRTXDOFRVDGLVHPSUH EHOORLQYLDDVVROXWD³ 63  )ULHGULFK3¿VWHU.DLURVXQG6\PPHWULHLQWürzburger Studien zur Altertumswissenschaft 13, 1938, 134. 60 61

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weichen.64 Denn auch das ist nicht zwingenderweise das Gebot des kairós, wie uns Gorgias deutlich macht, wenn er den kairós gerade in extremen Situationen, nämlich im Krieg, am Werke sieht.65:RUXPHVEHLPVSH]L¿VFKVRSKLVWLVFKHQ Konzept von Angemessenheit vielmehr geht, ist Proportion – aber die lässt sich nur immanent bestimmen. Ließe sich der kairós erfassen mittels externer Maßstäbe – warum sollte er dann überhaupt von solch problematischer Natur sein? Gerade sie aber ist es doch, welche die Griechen umtreibt. Eben weil ihnen klar vor Augen steht: Der kairós ist Zünglein an der Waage – nur wägen lässt er sich nicht! Heinz Ladendorf bringt diese Schwierigkeit auf die geniale Chiffre vom kairós als dem ÄXQZlJEDU1RWZHQGLJHQ³±HULVWXQXPJlQJOLFKDEHUHEHQQLFKWEHUHFKHQEDU schwierig zu treffen, aber eben doch ausschlaggebend. Diesen Umstand nun EHUJHKW3¿VWHU9HUZXQGHUQNDQQGLHVJOHLFKZRKOQLFKWVFKOLH‰OLFKOlXIWGLHVH(LQVLFKWGHPJHQHUHOOHQ,PSHWXVYRQ3¿VWHUV$UJXPHQWDWLRQHQWJHJHQGHQ kairós als handlungsleitende Zielvorstellung in eine ästhetische, von Symmetrie und Ebenmaß geleitete Harmonievorstellung einzubinden. Schon Levis philoORJLVFKH+HUOHLWXQJGHV:RUWHVPDFKWNODUGDVV3¿VWHUV$XIIDVVXQJGHVkairós dann doch zu harmlos bleibt, als dass sie die existenzielle Tiefe des sophistischen kairós-Verständnisses erreichen könnte. Wie schön, wie einfach also wäre es, ließe sich der kairós beschreiben als formales Ebenmaß oder gar Mittelmaß! Aber das ist unmöglich. Dennoch geht es um das rechte Maß, wie Gorgias in der Helena hervorhebt. Die Rede nämlich, die Maß habe, der lógos metron echon, wirke in besonderer Weise auf die Zuhörer ein.66 Worin nun besteht dieses Maß? Und woher gewinnt es der Redner? Vor allen Dingen aber: Wie lässt sich die Fähigkeit, den kairósVRÀFKWLJHUVLFK auch geben mag, zu erkennen, weitergeben, wie lässt sie sich lehren? Diese Frage verschärft sich noch angesichts der bisherigen Analyse des kairós als eines Ortes in der Zeit – gebunden an die jeweiligen irreduziblen Umstände, an die sich eröffnenden Handlungsoptionen. Sie alle sind ja Faktoren, die den kairós EHHLQÀXVVHQ.XU]XP-HGHUkairós ist eine einmalige Gelegenheit. Sie lässt sich nicht wiederholen und auch nicht transferieren. Dementsprechend gilt auch: Das Maß der Rede, von dem Gorgias spricht, kann kaum je zweimal das Gleiche sein, da doch allein das Präsentische den Ausschlag gibt. Entscheidend ist allein das gegenwärtig Angemessene – to parôn epieikes.67'LHVHLQ¿QLWH9HU]HLWlichung nun macht es prinzipiell unmöglich, die jeweilige, jetzige Gelegenheit, die es zu ergreifen gilt, also den kairós, zu systematisieren und lehrbuchartig verfügbar zu machen. Es ist also, die Metapher vom zielenden Bogenschützen  $XFKLQGLHVH5LFKWXQJDUJXPHQWLHUW3¿VWHUDQHLQHU6WHOOH±FIRSFLW DK 82 B6 – hier lobt Gorgias in seinem Epitaphios die athenischen Soldaten dafür, dass sie in YHUVFKLHGHQHQ6LWXDWLRQHQGDVUHFKWH0D‰¿QGHQXDLQGHPVLHÄIXUFKWEDUVLQGLP)XUFKWEDUHQ³HLQ8PVWDQGGHUXQYHUNHQQEDUZHLWDEOLHJWYRQMHJOLFKHU+DUPRQLHXQG2UGQXQJVYRUVWHOOXQJZLH3¿VWHUVLHLQGHQ9RUGHUJUXQGUFNW 66 Gorgias, Helena, 9. 67 Gorgias, Epitaphios, 1. 64 65

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LP+LQWHUNRSIPLW-DQNpOpYLWFKIHVW]XVWHOOHQÄDXFXQHEDOLVWLTXHPrPHFRPSOLTXpHjOLQ¿QLQHSHXWQRXVDSSUHQGUHjFDSWHUORFFDVLRQ³68 Diese Problematik war offenbar auch den Sophisten selbst bereits bewusst. So berichtet jedenfalls Dionysios von Halikarnassos von Gorgias’ vergeblichen Bemühungen, das Sujet, dessen völliger Beherrschung in der Praxis er sich UKPWH DXFK WKHRUHWLVFK ]X PHLVWHUQ Ä9RP kairós aber hat weder irgendein 5HGQHUQRFKHLQ3KLORVRSKELVKHXWHHLQH5HJHORGHU.XQVWGH¿QLHUWXQGDXFK der, der als erster darüber zu schreiben versuchte, Gorgias von Leontinoi, hat nichts Nennenswertes geschrieben. Und es hat ja diese Sache auch nicht die Natur, unter eine umgreifende und geregelte Erfassung zu fallen, und überhaupt ist der kairós QLFKW IDVVEDU GXUFK :LVVHQVFKDIW VRQGHUQ GXUFK $QQDKPH³ ± oud’holôs epistêmê thêratos estin ho kairós alla dóxê.69 'HQQRFK ¿QGHW VLFK EHL *RUJLDV HLQH 6WHOOH DQ GHU HU VR HWZDV ZLH HLQH oberste Regel im Hinblick auf den kairós aufstellt. In seinem Epitaphios lobt Gorgias die aretê der gefallenen Soldaten Athens:70ÄhEHUPWLJJHJHQhEHUPtige, korrekt gegen Korrekte, unerschrocken gegen Unerschrockene, furchtbar LP)XUFKWEDUHQ³,KUHaretê besteht für Gorgias gerade in dieser sozusagen tauWRORJLVFKHQ%HVWLPPWKHLWLKUHV+DQGHOQVÄ'LHVKLHOWHQVLHIUGDVJ|WWOLFKVWH und allgemeinste Gesetz: das Gebotene, wo es geboten ist, zu reden, zu verVFKZHLJHQXQG]XWXQ³,QGLHVHP6LQQHUHNRQVWUXLHUW%XFKKHLPHLQHÄXQLYHUsale Handlungsvorschrift in der Sophistik: ta déonta prattein en kairô³±DOVR GDV*HERWHQHLPUHFKWHQ$XJHQEOLFN]XWXQXQGHUSUl]LVLHUWÄTo déon ist daEHLNHLQÃ0XVV‫ދ‬VRQGHUQMHZHLOVQHXDXI]XQHKPHQGH(PSIHKOXQJGHU6LWXDWLRQ VHOEVW³71 Die Regel, das Gebotene im rechten Moment zu tun, als Tautologie zu bezeichnen, griffe zu kurz. Sie ist im Gegenteil hochbrisant. Denn die Regel, dass die Situation selber bestimmt, was zu tun geboten ist, gilt nicht allein für die Frage, was hier und jetzt das Tunliche oder das Vorteilhafte ist, sondern auch für die Frage, was das moralisch Gebotene ist. Dies belegt eine Passage aus dem pseudoplatonischen De iustoÄ0LUVFKHLQWQXQLQGHPZDVJHERWHQLVWXQG zum rechten Zeitpunkt geschieht, das Gerechte zu liegen, im nicht Gebotenen GDV8QJHUHFKWH³72 So kann sich als nicht nur vertretbar, sondern als notwendig HUZHLVHQ ZDV XQWHU DQGHUHQ 8PVWlQGHQ DOV XQDQJHPHVVHQ JLOW Ä,QGHV VWHKW es mir nicht, dass ich mich selbst lobe! Die gegenwärtige Situation erzwang es YLHOPHKU³±ho de parôn kairós ênangkase.73 Ja, sogar ein kairósgerechtes Lügen erscheint den Dissoi Logoi]XIROJHDN]HSWDEHOÄ'HQkairós für Lügen ehrt PDQFKHURUWV DXFK HLQ *RWW³74 Mit anderen Worten: Der kairós unterläuft alle 68 69 70 71 72 73 74

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Jankélévitch, Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien, I, 124. Dionysius von Halikarnassos, De compositione verborum, 12,5. DK 82 B6. Buchheim, Avantgarde, 85. 377 c–d. Gorgias, Palamedes, 32. Dissoi Logoi, 3, 12.

festen Wertmaßstäbe. So konstatiert der anonyme sophistische Traktat, der unter dem Titel der Dissoi LogoiEHUOLHIHUWLVWÄ8PHVDOOJHPHLQ]XVDJHQDOOH'LQge sind schön, wenn sie im rechten Moment getan werden, zum falschen ZeitSXQNWDEHUVLQGVLHKlVVOLFK³±panta kairô men kalá esti, en akairia d’aischrá.75 Bisweilen, so Gorgias in seinem Epitaphios, kann der kairós auch durch Verschweigen getroffen werden. Bestimmte Dinge in einem bestimmten Moment nicht zur Sprache zu bringen, kann also der sophistischen Wirkungsabsicht ebenso zuträglich sein und die Angemessenheit des lógos an den in steter Formation begriffenen Strom des Handelns zum Ausdruck bringen. Gleichwohl wird es für die Mehrzahl der Fälle durchaus angemessen sein, GHQPRUDOLVFKHQ*HSÀRJHQKHLWHQ]XIROJHQ,P.RQWH[WGHVenkômion zum BeiVSLHOEHUXIWVLFK*RUJLDVVHOEHUDXIGDVVLWWOLFK*HERWHQHÄ$Q0DQQXQG)UDX und Rede und Tat und Stadt und Ding muss man, was des Lobes wert ist, mit /REHKUHQGHP8QZHUWHQGDJHJHQ7DGHOHQWJHJHQEULQJHQ³76 Diese Beispiele zeigen, dass dem kairós auch eine eklatant moralische Dimension zukommt – nur lässt sich diese nicht reduzieren auf das, was im Allgemeinen als legitim gilt – denn alles kann richtig sein, wird es im rechten Augenblick gesagt. Panta gar kairô kala. Damit hat sich erwiesen, dass es für die schwierige Aufgabe, den kairós zu treffen, keine verallgemeinerbare Regel gibt – eben weil doch die Situation selbst nur das Gesetz enthalten kann, dem es zu folgen gilt. Rhetorische Minimalstrategien – nämlich schlichtes Schweigen – können ebenso angemessen sein und dem Gebot der Stunde entsprechen wie moralische Grenzverletzungen. :LHZHLWHQWIHUQWLVWGDVYRQGHP*HGDQNHQ3¿VWHUVHVUHLFKHDXVHLQHQPLWWleren Weg nicht zu verlassen. Worauf allein es ankommt, ist Angemessenheit: Ä0DQWULWWGHU6LWXDWLRQHQWJHJHQZLHGLHVHHLQHPJHJHQEHUWULWW³77 Hat man also die Natur der Situation richtig erkannt und weiß sie einzuschätzen, dann ist schon einmal die Grundvoraussetzung dafür erfüllt, den kairós zu treffen. Sicher sein kann man sich aber nicht – den kairós anzupeilen, bleibt ein Wagnis. Ein Wagnis, das die Sophisten eingehen. Dementsprechend ruft Platon die beiden Aspekte des Ergreifens und Zupackens sowie der Fähigkeit, eine Situation, noch während sie im Fluss ist, richtig einzuschätzen, auf, attestiert er der sophistiVFKHQ5KHWRULNGRFKVLHVHLÄHLQJHZLVVHV%HVWUHEHQGDVNQVWOHULVFK]ZDUJDU nicht ist, aber einer dreisten Seele, die richtig zu treffen weiß und schon von 1DWXUVWDUNLVWLQGHU%HKDQGOXQJGHU0HQVFKHQ³78 Die sophistische deinotes – auch hier klingt sie wieder an – mag einem nicht so recht geheuer sein. Aber sie wirkt. Wo es gefordert, aber eben auch schwierig ist, den kapitalen Punkt zu treffen, weil er der Entscheidende ist, da ist auch der kairós als Inbegriff dieses Erfordernisses nicht Ausdruck einer Vorliebe für 75 76 77 78

Dissoi Logoi, 2,20. Helena, 1. Buchheim, Avantgarde, 82. Plat. Gorg. 463a.

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+DUPRQLHXQG(EHQPD‰VRQGHUQÄ$XJHQEOLFNGHU6FK|SIXQJXQG6FKLFNVDO EHGHXWHW³79 Halten wir fest: Auch wenn das Grundverständnis vom kairós als einem Ä+|KH 7LHI RGHU :HQGHSXQNW³80 schon in der frühen griechischen WissenVFKDIWDQJHOHJWZDU±GLH6RSKLVWHQPRGL¿]LHUHQGLHVHV9HUVWlQGQLVZHQQVLH sich ganz gezielt die Parallele zum Arzt herausgreifen und ihr Standesethos am Berufsbild des Mediziners orientieren. Leiteten die Pythagoreer ihr kairós-Verständnis aus den Zyklen der Sterne und des Daseins, der unbelebten und der belebten Natur ab und deuteten sie ihn dementsprechend im Sinne eines Ordnungsprinzips, das in quasi-naturgesetzlicher Manier stellare und biologische Abläufe strukturiert, so rücken die Sophisten den kairós in den Verfügungsbereich des Menschen. Präziser gesagt: Sie rücken ihn in ihren eigenen Verfügungsbereich, in den der Experten des lógos, die, vergleichbar den Ärzten, wissen, wann und wie ein Eingriff zu erfolgen hat. Worauf es mithin ankommt, ist weniger, dass GLH6RSKLVWHQHLQHQVFKRQLP8PODXIEH¿QGOLFKHQ%HJULIIDXIJUHLIHQHQWVFKHLGHQGLVWYLHOPHKUZLHVLHLKQDXÀDGHQ6LHPDFKHQLKQ]XHLQHP%HJULIIDNXWHU krisis, zum Inbegriff der Entscheidung.81 Einer Entscheidung, die nicht einfach nur fällt, sondern die zwar aus dem Gebot der Stunde abgeleitet, aber eben auch bewusst und mit den Mitteln der Rhetorik herbeigeführt, ja im wahrsten Sinne des Wortes herbeigeredet werden soll.82

Vom Reden zum Handeln Dieser Befund – die konstitutive Entscheidungsorientierung des sophistischen lógos – lenkt den Blick auf die geradezu paradoxe Natur ihres Tuns: Die RedeNRPSHWHQ]GHU6RSKLVWHQQlPOLFK¿QGHWLKU=LHOJHUDGHQLFKWLP5HGHQVHOEHU Der Sophist – jedenfalls, wenn er als politischer Redner und nicht als Rhetoriklehrer, als Praktiker und nicht als Pädagoge redet – tritt nicht in Aktion um des lógos willen. Im Gegenteil: Der Sophist redet, um dem Reden ein Ende zu bereiten. Er argumentiert, damit sich jede weitere Argumentation erübrigt. Dank unüberbietbarer Wirksamkeit soll der sophistische lógos der entscheidende sein. Er ist, wenn er den kairós getroffen hat, das rhetorisch gangbar gemachte Scharnier zwischen gegenwärtiger Rede-Situation und zukünftiger Handlungsoption. 79 80 81

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Ladendorf, 230. Kerkhoff, 264. Demgegenüber ist es einigermaßen undifferenziert, den griechischen Begriff der krísis mit dem deutschen Krisenbegriff gleichzusetzen, wie Mertens das tut. Der kairós ist insofern nicht die $QWZRUWDXIHLQH.ULVHLQGLHVHPGH¿]LWlUHQ6LQQHXQGDXFKQLFKWGDGXUFKEHVWLPPWHLQHÄ.ULVH]XO|VHQ³FI0HUWHQVDer Kairos der Rede, 298 und 306. An dieser Stelle ist Doro Levi zu widersprechen, der einen naturhaften Automatismus des Gelingens unterstellt, wenn er behauptet, im kairós falle dem Menschen die rechte Handlung in den 6FKR‰ÄFRPHGDOO¶DOEHURFDGHLOIUXWWRPDWXUR³&I/HYL

Indem er das Ende des Redens und den Anfang des Handelns markiert, ist er ein Moment des Übergangs. Der dem kairós erfolgreich zur Sprache verhelfende lógos ist schon der Ursprung des Handelns, seine archê.83 Der kairós ist also, wie .HUNKRII]XWUHIIHQGVFKUHLEW]XPHLQHQGLHÄDOOHVJXWPDFKHQGHYROOHQGHQGH =HLW ¿QLWLY VRGDQQ XQGRIW]XJOHLFK GHU]XHWZDVJXWHJHHLJQHWH0RPHQW LQ]HSWLY ³84 Insofern der sophistische lógos darauf angelegt ist, diesen Übergang vom Reden zum Handeln einzuleiten, ist es seine Rolle nicht, Geschehenes im Nachhinein zu diskutieren oder zu legitimieren. Tordesillas leuchtet mittels einer präJQDQWHQ )RUPHO GLHVHQ VSH]L¿VFKHQ 8QWHUVFKLHG ]ZLVFKHQ GHQ 6RSKLVWHQ XQG LKUHQ SKLORVRSKLVFKHQ9RUJlQJHUQ DXV LQGHP HU VFKUHLEW Ä/H SKLORVRSKH HVW GRQFFHOXLTXLWHQWHGHGLUHFHTXLHVWOHVRSKLVWHGHIDLUHrWUHFHTX‫ތ‬LOGLW³85 Der Sophist versucht also, durch ein umfassendes Ermessen des Hier und Jetzt die Zeit für sich spielen zu lassen, indem er im rechten Augenblick das Wort ergreift und mit seinem lógos den Weg zum Handeln ebnet.86 ,Q GLHVHP 6LQQH SRVWXOLHUW *RUJLDV ÄYRU DQVWHKHQGHQ 7DWHQ ¿QGHQ ]XYRU QRWZHQGLJ 5HGHQ VWDWW³87 Der gleiche Gedanke kommt zum Ausdruck, wenn 7KXN\GLGHV¶%HULFKW]XIROJH3HULNOHVPDKQWHUVHKHQLFKWÄLP:RUWHLQH*HIDKU fürs Tun, wohl aber darin, nicht durch Reden sich zuerst zu belehren, ehe man ]XUQ|WLJHQ7DWVFKUHLWHW³88 Die sophistische Auffassung vom Sinn und Zweck des Redens, die sich hier konturiert, hat auch das spätere Denken stark beeinÀXVVW±DEOHVEDUHWZDDQMHQHU3DVVDJHGHULP-DKUKXQGHUWYHUIDVVWHQRhetorik an Alexander, der zufolge das Handeln ohne vorherige Beratung ein Zeichen von Unvernunft ist – to men práttein mê bouleusámenon sêmeion estin anoías.89 Dass rechtes Handeln auf Rede und Beratung angewiesen ist, war mithin zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Dabei erhoben die Sophisten Anspruch darauf, eine kluge Entscheidung herbeizuführen – eine, die als wohlberaten gelten darf. Platon lässt Protagoras GDUOHJHQZRUDXIHVGDEHLDQNRPPWÄ'LHVH.HQQWQLVDEHULVWGLH.OXJKHLWLQ seinen eigenen Angelegenheiten, wie er sein Hauswesen am besten verwalten, und dann auch in den Angelegenheiten des Staats, wie er am geschicktesten sein ZLUGGLHVHVRZRKO]XIKUHQDOVDXFKGDUEHU]XUHGHQ³90 Genau genommen, das haben die anderen, gerade angeführten Textstellen ja gezeigt, wäre die AbIROJHYRQÄIKUHQ³XQGÄUHGHQ³GLH3ODWRQKLHUZLHGHUJLEWXP]XNHKUHQ

Palamedes, 6. Kerkhoff, 267. 85  7RUGHVLOODV$ORQVR/¶LQVWDQFHWHPSRUHOOHGDQVO¶DUJXPHQWDWLRQGHODSUHPLqUHHWGHODVHFRQGH sophistique: la notion de kairos, in: Barbara Cassin: Le plaisir de parler, 60. 86 Buchheim, Avantgarde, 88. 87 Ibid. 88 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, II,40. 89 Cf. Rhetorik an Alexander, 1420b20–1421a2. 90 Plat. Prot. 318e–319a. 83 84

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Aufschlussreich ist die Verknüpfung, die Platon den großen Sophisten im Gorgias vornehmen lässt: die Verknüpfung nämlich von argumentativem und zugleich praktischem Sieg: horas hoti hoi rhêtores eisin hoi symbouleúontes kai hoi nikôntes tas gnomas peri toutôn ± ÄVR VLHKVW GX GRFK GDVV GLH 5HGQHUGLH5DWJHEHQGHQVLQGXQGGHUHQ0HLQXQJGXUFKJHKWLQVROFKHQ'LQJHQ³91 Vom Tenor her identisch eine Textstelle, die aus Gorgias’ Helena stammt – auch hier wird der unmittelbare Zusammenhang ausgeleuchtet, dem wir auf der Spur VLQG Ä5HGH QlPOLFK GLH 6HHOHEHNHKUHQGH ]ZLQJW VWHWV GLH GLH VLH EHNHKUW GHQ:RUWHQ]XJODXEHQXQGGHQ7DWHQ]X]XVWLPPHQ³92 Persuasion, verstanden als Bekehrung, ist Verbindungsglied zwischen Rede und Handlung, legein und prattein. Reden ist für die Sophisten aber nicht allein Vorstufe des Handelns, sondern auch Modus des Agierens selbst. Denn während andere technai]ZLVFKHQÄ7KHRULH³XQGÄ3UD[LV³]ZLVFKHQEHJULIÀLFKHU(UIDVVXQJXQGRSHUDWLYHU$XVIKUXQJ XQWHUVFKHLGHQ N|QQHQ VWHOOW *RUJLDV YRQ GHU 5KHWRULN IHVW Ä'LH 5HGHNXQVW DEHUKDWQLFKWVGHUJOHLFKHQ+DQGJUHLÀLFKHVVRQGHUQLKUHJDQ]H9HUULFKWXQJXQG 9ROOIKUXQJJHKWGXUFK5HGHQ³±pasa hê praxis kai hê kyrôsis dia lógôn estin.93 Reden, entscheiden, handeln – es ergibt, wie wir sehen, wenig Sinn, für den sophistischen lógos diese Sphären auseinanderzuhalten. – Nachdem wir die sophistische Konzeption der Angemessenheit schon näher dargelegt haben, geht es nun darum, sie in die Auffassung davon einzubetten, wie sich der eine lógos gegenüber dem anderen auszeichnen kann; dazu ist es zunächst einmal wichtig, die Sophisten als Kritiker überkommener Maßstäbe der Gültigkeit von Argumenten in den Blick zu nehmen.

Krísis und Kritik – es gibt kein Jenseits des lógos Der Rekurs auf die Angemessenheit, der Rekurs auf den kairós, ist die Antwort der Sophisten auf die conditio humana, so wie sie sich ihnen darstellte. Und diese ist gekennzeichnet sowohl von der Einsicht in die Widersprüchlichkeit der zeitgenössischen philosophischen Entwürfe ebenso wie von der Erfahrung, dass auch das menschliche Zusammenleben nicht von einheitlichen, gar göttlicher Fügung sich verdankenden Gesetzen zusammengehalten wird, sondern sich in verschiedenen Städten und Ländern nach ganz unterschiedlichen, ja kontrastierenden Normen richtet. Prekär nun allerdings ist, dass es die Sophisten selbst – allen voran die beiden Protagonisten Gorgias und Protagoras – sind, die diese moralischen wie auch kognitiven Verunsicherungstendenzen auslösen. Und damit – je nach Blickwinkel – als Zersetzer der Polis-Ordnung oder aber als die ersten Aufklärer gelten müssen. 91 92 93

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Plat. Gorg. 456a. Gorgias, Helena 12. Plat. Gorg. 450b–c.

Dass Gorgias als Kritiker der Naturphilosophie auftrat, ist überliefert: Er hat Ä]XVDPPHQJHVWHOOWZDVYRQDQGHUHQJHVDJWZRUGHQLVWGLHLQLKUHQbX‰HUXQgen über das Seiende unter sich offenbar widersprüchliche Behauptungen aufstellen, da nämlich die einen es als eines und nicht vieles, die anderen wiederum als vieles und nicht eines und jene es als ungeworden, jene als geworden aufweiVHQHUVFKOLH‰WDOVRGLHVJHJHQEHLGH6HLWHQ³94 Dass es für Gorgias, wie er an anderer Stelle95 durchblicken lässt, eben die auf ewige ontologische Wahrheiten abzielenden Naturphilosophen waren, die wie keine anderen in der Lage waren, ihren Zuhörern Unglaubliches und Unsichtbares plausibel zu machen, ist eine intrikate philosophiegeschichtliche Pointe. Vor allem dann, wenn man sich noch einmal vergegenwärtigt, wie sehr die Sophisten in späteren Jahrhunderten des Relativismus geziehen wurden.96 Nicht anders denn als radikal lässt sich ihre Abkehr von Anspruch und Denkmodus ihrer Vorgänger bezeichnen. Denn nicht Wahrheit, sondern ausschließlich Ansichten und Meinungen, kurzum: die dóxa, sind Material des sophistischen Argumentierens. Gorgias formuliert, was als Merksatz dazu gelten N|QQWH Ä0DQ PXVV HV GHQ +|UHUQ DQ HLQHU JHOlX¿JHQ$QVLFKW ]HLJHQ³ ± deî de dóxê deîxai toîs akouousi.97 Gorgias’ Lobpreis der Helena ist vielfach durchZREHQYRQ+LQZHLVHQDXIGLHÀFKWLJHDEHURPQLSUlVHQWH5HVVRXUFHdóxa. Ja, GHQQ ÄGDV$QVLFKWHQ +HJHQ LVW DOOHQ JHPHLQ EHU DOOHV³98 und nicht nur das: Die Vertrautheit mit der dóxa führt dazu, dass sie allenthalben zur Grundlage YRQ(QWVFKHLGXQJHQJHPDFKWZLUGVFKOLH‰OLFKKDOWHQVLFKÄGLHPHLVWHQLQGHQ PHLVWHQ)lOOHQ³99 an die dóxa, wie Gorgias konstatiert. Wie tief die anthropologische Verwurzelung der dóxa in Gorgias’ Augen reicht, das zeigen Formulierungen wie die, mit denen Gorgias die Meinung mit elementarsten psychischen XQGSK\VLVFKHQ9RUJlQJHQLQ9HUELQGXQJEULQJWHWZDZHQQYRQGHUÄdóxa der 6HHOH³100 XQG ÄGHQ$XJHQ GHU dóxa³101 die Rede ist, vor denen der Redner etwas erscheinen lässt. Auch wenn die sophistische Lehre die Abkehr von der Wahrheitssuche im philosophischen Sinne beinhaltet – selbst bei Gorgias bleibt sehr wohl spürbar, dass das Vertrauen auf die dóxa bei nüchterner Analyse als

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Pseudo-Aristoteles, De Melisso Xenophane Gorgia, 5, 979a15–19, in: Thomas Buchheim (Hg.), Gorgias von Leontinoi. Reden, Fragmente und Testimonien, Hamburg 1989, 40. Helena, 13. Beispielhaft dafür sei Heinrich Gomperz angeführt, Sophistik und Rhetorik, ND Damrstadt IZRHVKHL‰WGLH5KHWRULNN|QQHÄLP'LHQVWHGHV8QUHFKWVVRJXWZLHLP'LHQVWHGHV Rechts, im Dienste der Wahrheit so gut wie im Dienste der Lüge, im Dienste der guten so gut ZLHLP'LHQVWHGHUVFKOHFKWHQ6DFKHJHEWXQGEHQXW]WZHUGHQ³%DVLVIUGLHVHV&DYHDWLVWGLH $XIIDVVXQJGHU5KHWRULNDOVÄHLQHIRUPDOH.XQVW³GLHVLFKDXIGDV:LHEHVFKUlQNHZlKUHQGVLH GHP:DVÄPLWVNHSWLVFKHU,QGLIIHUHQ]³EHJHJQHQN|QQH Helena 9. Palamedes, 24. Helena, 11. Helena, 10. Helena, 13.

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DQWKURSRORJLVFKHV'H¿]LWJHOWHQPXVV,KUHJUXQGOHJHQGH5ROOHNRPPWLKUQXU deshalb zu, weil die Menschen epistemisch schwach sind.102 Gorgias’ Schlussfolgerung angesichts dieser Ausgangslage fällt eindeutig DXVÄ:LHYLHOHEHNHKUWHQXQGEHNHKUHQQRFKZLHYLHOH]XZLHYLHOHPLQGHPVLH eine irreführende Rede bildeten. Wenn freilich alle an alles Vergangene ErinQHUXQJLQDOOHV*HJHQZlUWLJH>(LQVLFKW@XQG9RUDXVVLFKWDXIDOOHV.RPPHQGH KlWWHQGDQQZlUH>scZLUNWH@GLH5HGHVHOEVWJOHLFKQLFKWLQJOHLFKHU:HLVH dabei steht es jetzt keineswegs gut weder mit dem Erinnern des Vergangenen noch dem Beachten der Gegenwart geschweige denn der Ahnung des Kommenden. Und daher bestellen die meisten in den meisten Fällen die dóxa zum Beirat ihrer Seele. Die dóxa aber – trügerisch und unsicher wie sie ist – umgibt den, der VLFKLKUHUEHGLHQWPLWWUJHULVFKHQXQGXQVLFKHUHQ*HVFKLFNHQ³103 Eine tiefgreifende Verunsicherung geht mit dieser schlichten Feststellung Hand in Hand; Gorgias jedenfalls scheint nicht der Ansicht gewesen zu sein, es ließen sich in der epistêmê und in den Wissenschaften feste Bezugsgrößen ausmachen, um sie für seine Zwecke der Argumentation und der Persuasion nutzen zu können. Auch diese Verunsicherung hat Gorgias, wie zuvor bereits so manches – denken wir nur an seine Ankündigung, über alles aus dem Stegreif reden zu können oder seine Aussage, die Beherrschung der Rhetorik mache ihn zu dem besseren Arzt –, wie manches zuvor also hat Gorgias auch die epistemische Verunsicherung auf die Spitze getrieben. Die Beobachtung allein, dass die meisten Menschen sich auf Meinungen und Ansichten, auf die dóxa, verlassen XQGVLH]XPÄ%HLUDWLKUHU6HHOH³PDFKHQUHLFKWLKPQLFKW(UZHLWHWGLHHSLVWHmische Verunsicherung zu fundamentalen Zweifeln aus. In einer anderen Schrift nun zieht Gorgias die Schraube der Skepsis eine Umdrehung weiter an – nämlich in der philosophisch provokativen Schrift Über die Natur oder über das Nichtseinde. Sie ist wohl das einschlägigste Dokument sophistischen Denkens, wenn es um die beispielsweise von Zeller attestierte Ä(LQVLFKW LQ GLH )UDJZUGLJNHLW GHU 6LQQHVHLQGUFNH³ JHKW GLH ÄHLQHU JUXQGVlW]OLFKHQ 6NHSVLV GHQ :HJ EHUHLWHWH³104 Gorgias bestreitet hier ganz grundsätzlich, dass Sprache auf Wirklichkeit referiere, ja, dass der Mensch überhaupt eine kohärente Wahrnehmung der Welt habe, geschweige denn sie durch die 6SUDFKHDXVGUFNHQXQGDQGHUHQ0HQVFKHQPLWWHLOHQN|QQHÄ$XIGLHVH:HLVH also könnte, wenn etwas erkennbar ist, keiner es einem anderen verdeutlichen, sowohl weil die Dinge keine Reden sind, als auch weil keiner mit einem anderen 102

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Cf. Helena'HQQVR*RUJLDVHVVWHKWÄNHLQHVZHJVJXWZHGHUPLWGHP(ULQQHUQGHV9HUJDQJHQHQQRFKGHP%HDFKWHQGHU*HJHQZDUWJHVFKZHLJHGHQQGHU$KQXQJGHV.RPPHQGHQ³ Cf. auch Helena 13: Auch die widersprüchlichen und veränderlichen Ansichten der zeitgenössiVFKHQ5HÀH[LRQVDYDQWJDUGHGHU3KLORVRSKHQXQGGHU1DWXUIRUVFKHUHU|IIQHQQLFKWGLH$XVVLFKW auf einen lógosGHUVLFKDOVGDXHUKDIWHUZHLVHQN|QQWH:lKUHQGGLHÄ+LPPHOVNXQGLJHQ³HV fertigbringen, bei ihren Zuhörern eine Ansicht durch eine andere (dóxan anti dóxês) zu ersetzen und dabei die unglaublichsten Dinge glaubhaft machen, zeigt die Wendigkeit der Philosophen im Redewettstreit, wie wandelbar das ist, was einem plausibel erscheint. Helena, 11. E. Zeller, Grundriß der Geschichte der Griechischen Philosophie, 93.

GDVVHOEHDXIIDVVW³105 Oder, etwas anders gefasst in der Überlieferung von Sextus (PSLULFXVÄ1LFKWDOVREHGHXWHQZLUXQVHUHQ0LWPHQVFKHQGDV6HLHQGHVRQGHUQ5HGHZHOFKHHWZDVDQGHUHVLVWDOVGDV9RUOLHJHQGH³106 Kurzum: Unüberbrückbar getrennt sind Rede und Dingwelt. Und das durch zweierlei Faktoren: Zum einen geht die Vermittlung der Realität von der Sprache aus und nicht von GHQ'LQJHQVHOEVWÄ*LOWDEHUGDVVRLVWQLFKWGLH5HGH'DUVWHOOXQJGHVbX‰HUHQ VRQGHUQ GDV bX‰HUH ZLUG ]XU 'HXWXQJ GHU 5HGH³107 Zum andern aber ist HVGHUNDWHJRULVFKHQ8QWHUVFKLHG]ZLVFKHQÄVLFKWEDUHQ.|USHUQXQG6SUDFKH³ GHU*RUJLDV]X6NHSVLVYHUDQODVVWÄ'HQQDXFKZHQQGLH5HGHYRUOLHJWVDJWHU unterscheidet sie sich vom übrigen Vorliegenden, und am meisten Unterschied EHVWHKW]ZLVFKHQVLFKWEDUHQ.|USHUQXQG6SUDFKH³108 Diese Untersuchung ist sicher nicht der Ort, sich detailliert mit der Schrift Peri physeôs auseinanderzusetzen. Das brauchen wir auch gar nicht. Denn schon diese kurzen Passagen reichen völlig aus, um deutlich zu machen, dass der im kairós gesuchte Bezugsrahmen aus rechtem Zeitpunkt, rednerischer Auseinandersetzung und sich anbietenden bzw. geradewegs aufdrängenden HandlungsP|JOLFKNHLWHQQLFKWHWZD$XVÀXVVHLQHVIUHLZLOOLJHQNRJQLWLYHQ0LQLPDOLVPXV¶ sind; die Suche nach dem kairós entspringt nicht dem Verzicht auf bessere Erkenntnisalternativen, die ebenfalls, ja vielleicht sogar in klarerer Weise verfügEDU ZlUHQ DOV MHQHV ÄPD‰ORVH 0D‰³ GHU 3HUVXDVLRQ 8QG QXU GDUDXI PXVV HV uns an dieser Stelle ankommen, um mit der Feststellung, der kairós sei eine höchst relative Größe, die Sophisten nicht auch sofort dem Vorwurf des Relativismus auszusetzen. Vielmehr ist Gorgias’ gewiss auch berufsständisch motivierter Ironisierung der Naturphilosophen über ihren polemischen Tenor hinaus ein durchaus kritisches, will sagen: aufklärerisches Verdienst eigen. Schließlich decouvriert er ganz nebenbei die Pose derer, die mit kontraintuitiven Begriffen hantieren und daraus ihre wissenschaftliche Dignität zu schöpfen glauben. Genau den gleichen aufklärerischen Blick richteten die Sophisten auf die Moral. Auch die Regeln des menschlichen Zusammenlebens setzen sie ihrem korrosiven Zweifel aus. In welchem Maße ihr Vorgehen einen Wendepunkt in der griechischen Mentalität markiert hat, ist mit Ausdrücken beschrieben worden, die in den Rang philosophiegeschichtlicher Schlagwörter aufgerückt sind. *HPHLQWVLQG)RUPHOQZLHGLHÄYRP0\WKRV]XP/RJRV³109 oder jene der Abwendung von der physis und Hinwendung zum nómos, der vom Menschen bestimmt wird.110 Von diesem Bewusstsein der Pluralität der Gesittungen legen die Dissoi Logoi ausführlich Zeugnis ab. Der anonyme Traktat – wahrscheinlich Notizen aus dem sophistischen Unterricht – mag, da kann man sich Albin Leskys UrPs.Arist. De Melisso Xenophane Gorgia 6, 26 ed. Buchheim. Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos, 7, 84. 107 Op.cit., 7,85. 108 Op.cit., 7,86. 109 Cf. Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos, 249ff. 110  &I0D[3RKOHQ]Ä1RPRVXQG3K\VLV³± 105 106

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WHLOZRKODQVFKOLH‰HQHLQ%HLVSLHOIUÄNPPHUOLFKH(U]HXJQLVVH³111 aus dem Lehrbetrieb der Sophisten sein; wertvoll aber ist er auf jeden Fall, verzeichnet er doch detailliert, welche Handlungen bei welchen griechischen Völkern als sittlich oder schändlich angesehen wurden und illustriert, wie unterschiedlich die gleiche Handlung aus der Perspektive divergierender Traditionen beurteilt ZHUGHQNDQQ1XUHLQNXU]HV%HLVSLHOPDJGLHVLOOXVWULHUHQÄ%HLGHQ6SDUWDQHUQ ist es sittlich schön, dass die Jungen Künste und Literatur nicht erlernen, bei GHQ,RQLHUQKLQJHJHQLVWHVVFKlQGOLFKGLHVH'LQJHQLFKW]XNHQQHQ³112 Und der Verfasser zieht den Schluss: Nicht alle haben die gleichen Ansichten – ou gar pantes tauta nomizonti.113 Gorgias’ Verweis auf die dóxa als einzigem und eigentlichem Terrain der Auseinandersetzung beinhaltete die Absage an ein einheitliches, verlässliches Wissen über die Welt, die Dissoi Logoi fügen dem das Moment der moralischen Pluralität – um nicht zu sagen: Verwirrung – hinzu. Die so entstandene /DJH EULQJW 3URWDJRUDV DXI GHQ 3XQNW PLW VHLQHP VRJHQDQQWHQ Ä=ZHL/RJRL )UDJPHQW³ 'LRJHQHV /DHUWLXV EHULFKWHW Ä(U VWHOOWH DOV HUVWHU GLH %HKDXSWXQJ auf, dass es zwei einander entgegen gestellte Aussagen über jegliche Sache JHEH³±Kai prôtos ephê dyo lógous einai peri pantos prágmatos antikeiménous allêlois.114 Aufgrund der Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten, die das Zwei-Logoi-Fragment eröffnet, sind ein paar kurze Ausführungen dazu angebracht. Die gängigste Lesart dieses Satzes richtet ihr Augenmerk vor allem auf die rhetoriVFKH'LPHQVLRQ±DXIGLH$QQDKPHQlPOLFKGDVV]XMHGHUÄ)UDJH³MHGHPÄ7KHPD³JHJHQVlW]OLFKH$UJXPHQWDWLRQHQP|JOLFKVHLHQ3URWDJRUDV¶6DW]ZHLVWDOVR auf die Konkurrenz von Pro und Contra-Rede voraus. Nun weisen sowohl Untersteiner wie auch Schiappa darauf hin, dass dem griechischen Wort pragmaGLHhEHUVHW]XQJGXUFKÄ)UDJH³QLFKWJHUHFKWZLUG Protagoras gehe es nicht um Worte und Gesichtspunkte, sondern um Sachverhalte, also um die Auffassung der Realität selber. Dementsprechend gibt SchiapSDGHQ+LQZHLVÄ3URWDJRUDV¶FODLPLVQRWRQO\DGHVFULSWLRQRIKXPDQDUJXPHQWDWLYHSURZHVVEXWDOVRDFODLPDERXWWKHZRUOG³115 Sowohl Schiappa wie auch Untersteiner übersetzen pragmaGDQQDXFKPLWÄ(UIDKUXQJ³ZDVGHP)UDJPHQW eine eher epistemologisch gefärbte Bedeutung verleiht.116 Für Schiappa sind die lógoi also von einer – wenn auch nicht intersubjektiven, ja gar objektiven – Albin Lesky, Geschichte der Griechischen Literatur, 390. Dissoi Logoi, 2,10. 113 Op.cit., 2, 18. 114 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, IX,51. 115 Edward Schiappa, Protagoras, 92. 116  6FKLDSSDKHEWGDEHLPHKUDXIGLH6SUDFKWKHRULHGHV3URWDJRUDVDEÄ7KHIUDJPHQWLVFOHDUO\D FODLPDERXWODQJXDJHDQGWKHWKLQJVRIUHDOLW\³LP6LQQHLQHU,QIUDJHVWHOOXQJGHUELVGDKLQJlQgigen Name/Bedeutung-Theorie (98). Mario Untersteiner hingegen konzentriert sich eher auf die herakliteische These, dass gegensätzliche Eigenschaften in jedem Ding enthalten sind, derart dass derselbe Wind gleichzeitig als warm und als kalt beschrieben werden kann (cf. Untersteiner, I 6R¿VWLII 6FKLDSSDEHXUWHLOW8QWHUVWHLQHUV,QWHUSUHWDWLRQLQVJHVDPWDOVÄRYHUVWUHVVLQJDQ HSLVWHPRORJLFDOUHDGLQJRIWKHIUDJPHQW³ 6FKLDSSDProtagoras, 110). 111

112

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Erfahrung unterfüttert. Dennoch geht auch er nicht so weit, daraus abzuleiten, es gebe ein verbindliches Wissen darüber, wie es sich nun tatsächlich verhält. $QVRQVWHQ ZlUH 3URWDJRUDV‫) ތ‬HVWVWHOOXQJ GDVV HV LPPHU ]ZHL P|JOLFKH$XIfassungen von der Realität gibt, gegenstandslos. Schiappas Nuancierung wirft nur ein anderes Licht darauf, warum es für Protagoras diese zwei Auffassungen – und damit zwei lógoi – gibt. Denn nun fußt das Widerspiel der Kräfte nicht mehr allein auf der kognitiven Unzulänglichkeit der Adressaten, der polloi – es stehen sich vielmehr zwei gleichermaßen berechtigte Deutungen und Verständnisse der Realität gegenüber. An der Angewiesenheit auf die dóxa ändert das freilich nichts. Der gemeinsame Nenner der Positionen von Protagoras und Gorgias besteht in der Trennung des lógos von der erfahrbaren Welt zumindest in dem Sinne, dass durch den Bezug auf Fakten argumentativ – also auf der sophistischen Suche nach Persuasionspotenzialen – nichts zu gewinnen ist. Die physis hat sich letztlich als für den Menschen und den menschlichen lógos inkommensurabel erwiesen. Es gibt kein Jenseits des lógos, mit dem sich mehr als Plausibilität herstellen ließe. Stattdessen bleibt der Sophist auf Immanenz angewiesen. Und er sagt es auch. Sextus Empiricus kommt in seiner Darstellung gorgianischen Gedankengutes zu einem rigorosen Fazit: In Anbetracht der erkenntnistheoUHWLVFKHQ$SRULHQ GLH GLHVHU HQWIDOWHW KDEH ÄYHUVFKZLQGHW GDV .ULWHULXP GHU Wahrheit; denn wo weder etwas ist noch erkannt werden noch es einem anderen GDUJHVWHOOWZHUGHQNDQQJLEWHVZRKOQDWUOLFKHUZHLVHNHLQ.ULWHULXP³117 Gegenüber der Seinsanalyse ihrer naturphilosophischen Vorgänger vollzieht die Sophistik damit eine radikale Wende. Statt unbegründeter stellt sie lieber gar NHLQH HUNHQQWQLVWKHRUHWLVFKHQ$QVSUFKH 6LH ÄYHU]LFKWHW YRQ YRUQKHUHLQ GDUDXIELV]XGHQOHW]WHQ*UQGHQGHU'LQJHYRU]XGULQJHQ³118 Angesichts dieser Überlegungen lässt sich leicht nachvollziehen, warum Lesky die Wirkung der Sophisten als grundlegend für die ganze Theoriegeschichte des Abendlandes HLQVFKlW]WÄ.HLQHDQGHUH%HZHJXQJNDQQVLFKDQ'DXHUKDIWLJNHLWLKUHU)ROJHQ PLWGHU6RSKLVWLNYHUJOHLFKHQ>@>:DV@VLHDXÀ|VWHNRQQWHLQQHUKDOEGHVJULHchischen Lebens nie wieder ein wirklich Ganzes werden, und die Fragen, die sie stellte, die Zweifel, die sie weckte, sind durch die europäische Geistesgeschichte QLFKWPHKU]XP6FKZHLJHQJHNRPPHQELVDXIGHQKHXWLJHQ7DJ³119 Bemüht man sich nach der vorangehenden Analyse der kulturellen und auch epistemischen Ausgangslage der Sophistik um ein Zwischenresumé, so erweist sich, dass ihrer Mission etwas durchaus Paradoxes anhaftet. Zuerst nämlich unterminieren die Sophisten mit ihrer Kritik die festgefügten Maßstäbe der archaischen Welt, unterwerfen alles dem Widerstreit – und müssen doch in einem zweiten Schritt die Mittel bereithalten, den Widerstreit zu beenden, um das politische Handeln – also das Handeln der polis±]XEHHLQÀXVVHQMD]XOHQNHQZLH 117 118 119

Op.cit., 7,87. Zeller, 94. Lesky, 388.

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es ihrem Anspruch entspricht. Kritik und Beratung sind ihre Mittel, die zuvor naturgegeben scheinenden Verhältnisse gleichsam in Fluss zu bringen; Medium der Entscheidung aber ist der Agon.

Der Agon als Temporalisierung der Auseinandersetzung Wir haben gesehen: Der sophistische lógos treibt einerseits zur Entscheidung; andererseits unterzieht er gängige Maßstäbe, epistemische ebenso wie moralische, anhand derer eine Entscheidung gefällt werden könnte, einer fundamentalen Kritik. Zugleich macht er mit dem kairós ein Konzept temporal-situativer Angemessenheit zu seinem theoretischen Leitmotiv. Diese systematische Dynamisierung und Temporalisierung der Persuasion übersetzt auf die prozedurale Ebene – also auf die Ebene, auf der das Widerspiel der Kräfte, die Auseinandersetzung der zwei lógoiDXVJHWUDJHQZLUGZDVDQKDQGÄVDFKOLFKHU³0D‰VWlbe nicht mehr ausgetragen werden kann. Weder belässt es der Sophist bei der Frontstellung von dóxa gegen dóxa, von These und Antithese, noch unterwirft er die beiden Wirklichkeitsauffassungen, die nun in Form von einander widersprechenden lógoi aufeinandertreffen, einer eingehenden Analyse auf ihren Wahrheitsgehalt hin. Vielmehr löst er die zunächst ausweglos erscheinende Statik des Gegeneinanders auf, indem er die Auseinandersetzung zu einem dynamischen Prozess macht – und zwar auf dem Wege des Wettstreits, des rednerischen agôn. Für den Sophisten geht es nun darum, eine Konfrontation zu bestehen und als Sieger zu beenden. Zu Protagoras’ Pionierrolle für die Entwicklung der Sophistik passt, was Diogenes Laertius von ihm berichtet – nämlich, dass er als erster Redewettkämpfe organisiert habe.120 Auch Platon unterstreicht den großen Anteil, den der rhetoriVFKH$JRQDP3UR¿OGHU6RSKLVWHQKDWZHQQHU3URWDJRUDVDXIGLH%LWWH6RNUDWHV¶VLFKNXU]]XIDVVHQDQWZRUWHQOlVVWÄ6FKRQJHJHQYLHOH0HQVFKHQKDEHLFK den Redekampf bestanden, hätte ich aber das getan, was du von mir verlangst, nämlich immer auf die Art geredet, wie mein Kontrahent mich zu reden hieß, so wäre ich wohl nie besser als irgendjemand erschienen, und Protagoras wäre kein %HJULIIXQWHUGHQ+HOOHQHQ³121 Erinnern wir uns vor diesem Hintergrund an die bewussten Anleihen, die die Sophisten bei den Ärzten nehmen, so wird klar, dass es ihr Anspruch sein muss, den Sieg nicht allein aus einer Position der Stärke zu erringen, wobei eine Position der Stärke im diskursiven Wettstreit gleichbedeutend wäre etwa damit, stets nur vermutete oder tatsächliche Mehrheitsstandpunkte zu vertreten. Ganz im Gegenteil: Gerade im Lobpreis der Helena tritt Gorgias an, den offensichtlichen, weiter verbreiteten Standpunkt infrage zu stellen und zu widerlegen. Er 120 121

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DL IX 52. Plat.Prot. 335a.

tritt also an, genau das zu tun, was Programm des Protagoras, und wir dürfen wohl auch annehmen: sophistisches Programm war. Nämlich in der Lage zu VHLQÄGHQVFKZlFKHUHQlógos]XPVWlUNHUHQ>]X@PDFKHQ³±ton hêttô de lógon kreittô poieîn. Dieses sowohl in Platons Apologie des Sokrates122 als auch in der Rhetorik des Aristoteles123]LWLHUWH)UDJPHQWZLUGRIWPLVVYHUVWlQGOLFKPLWÄGLHVFKOHFKWHUH 6DFKH ]XU VFKHLQEDU EHVVHUHQ PDFKHQ³ EHUVHW]W124 Diese moralisierende Version hat sicherlich viel beigetragen zu dem zwiespältigen, ja negativen BeiJHVFKPDFNGHQGHU%HJULIIÄ6RSKLVW³KHXWHKDW125 Von der griechischen Formulierung gedeckt aber ist sie nicht.126 Es fehlt nämlich jeder Hinweis auf ein schon ]XU9HUIJXQJVWHKHQGHVEHUGHQEHLGHQNRQÀLJLHUHQGHQlógoi stehendes DritWHVHLQQHXWUDOHV.ULWHULXPDQKDQGGHVVHQGDVÄEHVVHUH³YRPÄVFKOHFKWHUHQ³ Argument inhaltlich a priori zu scheiden wäre. Gerade das ist ja ein Ergebnis der bisherigen Analysen: Der Sophist strebt nach Beherrschung der Diskurssituation, ohne dass ihm ein übergeordnetes Kriterium, die Wahrheit, als Kriterium zur Verfügung stünde. Im Gegenteil: Der Sophist ist sich der Begrenztheit der kognitiven Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen, vollauf bewusst. Gorgias macht explizit deutlich, dass überlegene Kenntnis in der Sache nicht Schlüssel zum Erfolg der Sophisten sein kann: Als Redner belehrt der Sophist wie alle Redner nicht, er macht nur glauben – und HUZHL‰HVÄ$XFKN|QQWHHUZRKOQLFKWHLQHQVRJUR‰HQ+DXIHQ>=XK|UHU@LQ NXU]HU=HLWEHOHKUHQEHUVRZLFKWLJH'LQJH³127 Die Rhetorik ist, wie Platon im selben Passus herausstreicht, eben nur pisteutikê, nicht aber didaskalikê – ein Gedanke, den wir in Aristoteles’ Rhetorik wieder begegnen. Statt also ein verfügbares Wahrheitskriterium in dubioser Absicht zu unterminieren, formuliert das stärker/schwächer-Fragment Protagoras’ Ansinnen, das vorgängige Kräfteverhältnis zwischen zwei lógoi umzukehren. Damit ist schon impliziert, dass die ursprüngliche Antithese, die durch das Zwei-LogoiFragment eingeführt wurde, nicht ungelöst bestehen bleiben wird. Oder, mit GHQ:RUWHQ%XFKKHLPVÄhêttôn und kreittôn kennzeichnen zwei Stadien eines Agon, zwischen denen sich das Blatt wendet. Zu einer solchen Steigerung, einer VROFKHQ:HQGHPXVVGHUJXWH5HGQHUIlKLJVHLQ³128,QGHQÄ=ZDQJDXVEHQGHQ :HWWNlPSIHQPLW5HGHQ³129 entfaltet sich die volle Macht des lógos. Diese Be122 123 124 125 126

127 128 129

19b. 2.24.11.1402a23. Beispiele nennt Schiappa, Protagoras, 104f. Cf. dazu auch Schirren/Zinsmaier, Die Sophisten, 29f. Zumindest zwei Gründe sprechen gegen diese Wiedergabe: Zunächst wird der vielschichtige Begriff lógos auf einen Sachverhalt, ja mehr noch: auf ein Anliegen, das der Sophist sich zu HLJHQ]XÄVHLQHU6DFKH³PDFKWYHUNU]WREZRKOHVGRFKDXIHLQHVSUDFKOLFKH%H]XJQDKPHDXI eine Argumentation ankommt. Zweitens enthält der griechische Text kein Wort, dass sich mit ‚scheinbar‘ wiedergeben ließe. Plat. Gorg. 455a, vgl. Plat.Theait. 201a. Buchheim, Avantgarde, 16f. Helena 13.

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kehrung nun, diese Umkehr vermag nur derjenige Redner zu bewerkstelligen, der es verstanden hat, den kairós zu ergreifen. – Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die rhetorische téchnê der Sophisten? Nach allem, was die bisherigen Untersuchungen über die Natur des kairós zutage gefördert haben, darf vermutet werden, dass ihr Beitrag begrenzter ist, als manch plakative Formulierung, etwa eines Gorgias, vermuten ließe.130 Und doch vermag sie Anhaltspunkte zur Annäherung an das situativ Angemessene zu bieten.

Die Rolle der téchnê Sind es wirklich die im sophistischen Unterricht vermittelten Fähigkeiten, die es HUODXEHQGHQ6LHJLP$JRQGDYRQ]XWUDJHQ"$ULVWRWHOHVJODXEWGDUDQQLFKWÄ'LH gleiche Ausbildung wie bei den Berufs-Eristikern genoss man auch im praktischen Fach des Gorgias: denn die einen gaben einem rhetorische Stücke, die anderen Fragefolgen zum Auswendiglernen und zwar solche, in die nach dem *ODXEHQEHLGHUHLQ5HGHDEWDXVFKEHVRQGHUVKlX¿JKLQHLQ¿HOH'HVKDOEZDUGLH Unterrichtung für ihre Schüler zwar schnell, aber ohne Methode; denn keine téchnê, sondern téchnê3URGXNWHJDEHQVLHLQGHU$XVELOGXQJZHLWHU³131 Weder Topos-Kataloge noch auswendig gelernte Phrasen und Wendungen könnten je ausreichen, die rednerische Situation zu beherrschen. Wenn der kairós tatsächlich jener zentrale Begriff für die sophistischen Auffassungen vom Reden und vom Handeln ist, für den wir ihn halten, dann kann von einer téchnê im engeren Sinne keine Rede sein. An diesem Versprechen festzuhalten hieße, auf eine systematische Formel bringen zu wollen, was sich doch einer generalisierenden EHJULIÀLFKHQ(UIDVVXQJHQW]LHKW Das bedeutet nun auf der anderen Seite nicht, dass eine etwas weniger emphatische Auffassung von téchnê nicht doch ihre Berechtigung hätte. Auch eine VROFKH$XIIDVVXQJOlVVWVLFKLQHLQHP'LDORJ3ODWRQV¿QGHQ+LHULVWHVGHU6RSKLVW 3RORV GHU HLQH LQWHUHVVDQWH EHJULIÀLFKH 1XDQFLHUXQJ HLQIKUW ZHQQ HU VDJWÄ'HQQ*HVFKLFNOLFKNHLWPDFKWGDVVXQVHU/HEHQQDFKGHU.XQVWJHIKUW ZLUG8QJHVFKLFNOLFKNHLWDEHUQDFKGHU*XQVW³±empeiria men gar poieî ton aiôna hêmôn poreuesthai kata téchnên, apeiria de kata tychên.132 Erfahrung und Geschicklichkeit also sind die Basis, auf die sich die téchnê stützt – und kein Lehrgebäude wissenschaftlichen Zuschnitts. Damit haben wir im platonischen Polos einen Zeugen, der eine genügsamere Auffassung von Rolle und Bedeutung der sophistischen téchnê vertritt: eine Auffassung, die weniger auf eine verlässliche Systematik denn auf Handwerk und anstatt auf Wissen auf eine Kombination von dóxa und Übung setzt. Ist doch gerade Übung von großer 130 131 132

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Helena 13, cf. Plat. Gorg. 450c. Aristoteles, Sophistische Widerlegungen,183b36–184a4. Plat. Gorg. 448c.

Bedeutung für das Treffen des kairós, wie auch Dionysios von Halikarnassos bezeugt.133 Die viel beschworene und viel kritisierte téchnê der Sophisten ist, so zeigt sich bei näherem Hinsehen, vor allem Ergebnis des Versuchs, dasjenige zumindest zu ordnen und zu kategorisieren, was sich einer generellen Systematik entzieht. Wenn es deswegen auch keine regelrechte téchnê der Persuasion geben kann – denn sie wäre notwendigerweise eine Anleitung zum Treffen des kairós –, so braucht sich der Sophist dennoch nicht allein auf die tychê, den Zufall, zu verlassen. Vielmehr nimmt er durch seine Versiertheit eine mittlere Stellung zwischen diesen beiden Polen ein. – Aber welche Elemente hat diese téchnê nun? Und welche Ressourcen liegen vielleicht doch darin, die hilfreich sein könnten in dem Versuch, den kairós zu erkennen und der Situation angemessen zu sprechen? a) orthoepeia Auch das Interesse der Sophisten für das orthôs legein, für den korrekten Gebrauch der Sprache also, ist – und das vermag nun nicht mehr zu überraschen – nicht philosophisch motiviert, sondern durchaus professionell. Es wird getragen von den Anforderungen erfolgreicher Redepraxis. Damit unterscheidet sich das sophistische orthôs legein von der im platonischen Kratylos ausgetragenen Debatte, die der Frage nachgeht, ob Sprache allein auf Konvention beruhe oder DEHUGRFKHLQHÄQDWUOLFKH5LFKWLJNHLWGHU%H]HLFKQXQJHQ³134 auszumachen sei. Zu dieser Diskussion haben die Sophisten nichts beizutragen – schon aufgrund der engen Verbindung dieser Frage zu der, ob und wie denn das Seiende überhaupt zu erkennen sei. Diese Frage schließlich genau war es, die Gorgias für obsolet erklärt hatte. Damit hatte er ja zugleich die Korrelation zwischen lógos und physis zur Gänze durchtrennt und den Menschen auf einen sprachimmanenten Kosmos verwiesen. Ordnung kann damit nur noch in der Sprache selbst zu suchen sein. Sie zu etablieren, hatten sich die Sophisten zur Aufgabe gestellt. So hatten sie Kriterien zu benennen, auf die sich die peithô stützen konnte, ohne MHGRFKÄ:DKUKHLW³EHDQVSUXFKHQ]XN|QQHQ'DVVRSKLVWLVFKHorthôs legein ist ein Beitrag zur Lösung dieser Aufgabe. Wenn auch nur in Nebenbemerkungen, in Anspielungen und Bruchstücken – das Bemühen der Sophisten um korrekte Sprache, um einen fehlerfreien lógos, ist vielfach dokumentiert. Schon Plato nennt Protagoras einen Vorreiter in Sachen orthoepeia.135 Und zu den vielen Pionierleistungen, die Diogenes Laertios 133

134 135

Denn über das Beherrschen jener dóxa, die einen in die Lage versetzt, den kairós zu treffen, VDJWHUÄ'LHMHQLJHQGLHGLHVH$QQDKPHEHLYLHOHQ$QOlVVHQXQGRIWJHEWKDEHQ¿QGHQLKQ >GHQkairós@EHVVHUDOVDQGHUHGLH±XQJHEW±LKQVHOWHQHUXQGZLHGXUFK=XIDOO¿QGHQ³&IDe compositione verborum, 12,7. Plat. Krat. 383a. Plat. Phaid. 267c.

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dem Protagoras zuschreibt, gehören auch zwei genuin philologische: Protagoras sei der erste gewesen, der die Tempora der Verben bestimmt habe; auch habe er als erster verschiedene Satzformen unterschieden, nämlich vier an der Zahl: Bitte, Frage, Antwort und Befehl.136 Damit hat er, nimmt man Diogenes LaerWLRVEHLP:RUWVRZRKODXIGHP*HELHWGHUJUDPPDWLNDOLVFKHQ.RGL¿]LHUXQJ Grundlagenarbeit geleistet als auch eine Vorform der Sprechakttheorie entworfen. Semantische Klarheit als Grundlage für stringente Rede war hingegen die 6SH]LDOLWlWGHV3URGLNRVYRQ.HRVÄWDXVHQGHUOHLGHUJOHLFKHQ³NRQQWHHUGDUEHU vortragen.137 Eine von Plato überlieferte Anekdote berichtet, Prodikos habe zu diesem Thema einen Vortrag zu einer Drachme angeboten und einen zu fünfzig Drachmen. Prodikos entspricht wohl in vollem Umfang der gängigen Vorstellung von einem Sophisten als freischaffendem Lehrer, der seine Kenntnisse für teures Geld einer ausgewählten Hörerschaft darlegt. Sokrates quittiert dies QDWUOLFKPLW,URQLHÄ+lWWHLFKQXQVFKRQEHLGHP3URGLNRVVHLQHQ9RUWUDJIU fünfzig Drachmen gehört, den man, wie er behauptet, nur zu hören braucht, um hierüber vollständig unterrichtet zu sein, dann sollte dir nichts im Wege stehen, sogleich das Wahre über die Richtigkeit der Benennungen zu erfahren. Nun aber habe ich ihn nicht gehört, sondern nur den für eine Drachme, also weiß ich nicht, ZLHHVVLFKHLJHQWOLFKPLWGLHVHU6DFKHYHUKlOW³138 Prodikos ging es wohl also um die orthotês onomatôn, um den richtigen Wortgebrauch. Kern seines Verfahrens ist die dihairesis tôn onomatôn, die Unterscheidung der Worte.139 Im Dialog Protagoras schaltet sich Prodikos sporadisch ein, um – von Platon ins Ironische gewendete – Kostproben seiner Synonymik zu geben. So unterscheidet er das quantitative koinos (gemeinsam) vom qualitativen isos (gleich): beide Redner müssen angehört werden, aber nicht beide in der gleichen Weise. Ähnlich unterVFKHLGHWHUGDVLQQHUOLFKHÄ$FKWHQ³YRPlX‰HUOLFKHQÄ/REHQ³XQGGDVYHUVWlQGLJHÄ9HUJQJHQ³YRPEOR‰VLQQOLFKHQÄ*HQXVV³140 Diesem Verfahren und seinem Ergebnis, der klaren Unterscheidung von Synonymen und Wortbedeutungen, kam Prodikos zufolge fundamentale Bedeutung zu: Es bildete die Grundlage seiner Lehre und musste deshalb auch das erste sein, was man lernte.141 Nicht umsonst unterstreicht Sokrates in den platonischen 'LDORJHQKlX¿JHUKDEHYRQ3URGLNRVYLHOJHOHUQW142 – schließlich baut auch seine Methode ganz wesentlich auf dem Verfahren der Bedeutungsunterscheidung, der dihairesis, auf. Warum nun ist das orthôs legein für die Sophisten eine Kompetenz von so JUR‰HP:HUW"'LH$XÀ|VXQJGHVEHVWHKHQGHQlógos, der zunächst der stärkere, 136 137 138 139 140 141 142

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DL 9.52 f. Plat. Charm. 163 d. Plat. Krat. 384b. Plat. Prot. 358a, cf. Charm. 163 d. Plat. Prot. 337a. Plat. Euthyd. 277e. Z.B. Prot. 341a.

da allgemein akzeptierte ist, braucht Ansatzpunkte. Ohne diese Ansatzpunkte kann das protagoreische Programm, den zunächst schwächeren zum stärkeren /RJRV]XPDFKHQQLFKWJHOLQJHQ1XUHLQHSUl]LVHEHJULIÀLFKH$QDO\VHYHUPDJ die Fugen und Brüche im lógos des anderen aufzudecken und zu nutzen. Und nur indem die logische Fehlerhaftigkeit des ersten logos aufgezeigt und damit seine Plausibilität in Frage gestellt wird, kann der zweite, eigene lógos eine (LQODVVVWHOOH¿QGHQ Nichts anderes führt Gorgias in seinem Enkomium der Helena in allen Einzelheiten vor. Dabei leitet das eigene orthôs legein unmittelbar über zur Widerlegung des vorherrschenden lógos:HU ÄEHUXIHQ LVW GDV *HERWHQH LQ UHFKWHU Form zu sagen – légein to deon orthôs –, der muss auch diejenigen widerlegen, GLH+HOHQDWDGHOQ³143 Die ganze Anlage des Enkomiums führt aber darüber hinaus vor, dass das orthôs legein mehr meint als die grammatikalische Korrektheit GHVHLQ]HOQHQ:RUWHVPHKUDXFKDOVGLHGLI¿]LOH8QWHUVFKHLGXQJYRQ%HGHXtungsnuancen, so wie Prodikos das vorgeführt hat. Den ganzen lógos frei von Widersprüchen zu halten, ist unabdingbar für jene sprachliche Ordnung, jenen logischen kósmos, der Plausibilität verleiht. Der korrekte Gebrauch der Sprache ist eine erste Voraussetzung für jene VSH]L¿VFKH.RPSHWHQ]GLHGLH6RSKLVWLNNHQQ]HLFKQHWXQGHLQHQ*RUJLDVRGHU Protagoras vom Naturphilosophen eleatischen Zuschnitts unterscheidet. Der Sophist ist nicht Philosoph, sondern Philologe. Während der Naturphilosoph von einem Standpunkt des a priori aus die Wahrheit für sich beansprucht und seine Weisheit als ein göttliches Geschenk nicht weiter herleiten muss, geht der Sophist vom lógos aus, bemüht sich um Widerspruchslosigkeit und etabliert so a posteriori eine rhetorische Wahrheit, die gewiss lediglich für sich in Anspruch nehmen kann, logischer Natur zu sein.144 Das immanente Expertentum der Sophisten erweist sich darin, Plausibilität unabhängig von dem Rekurs auf jedes Sein zu erreichen – ein Sein, das entweder unerkennbar ist oder jedenfalls nicht mit den Mitteln der dóxa bewältigt werden kann. Die Richtigkeit des Sprechens zielt mithin nicht auf Rechthaberei. Vielmehr geht es darum, aus dem kósmos der Worte auch dem auf die Spur zu kommen, was zu sagen und zu tun jetzt angemessen ist. Der Sophist braucht die Differenzierungen des orthôs legein, um Situation und Handlungsmöglichkeiten zu erschließen. Aus seinem Erfolg beim Aufdecken von Widersprüchen und dem folgerichtigen Aufbau der eigenen Argumentation leitet er seinen erst intellektuellen und dann auch praktischen Führungsanspruch ab. Nichts anderes lässt sich aus Gorgias’ Programm ablesen, das er dem Lobpreis der Helena voranstellt: Zu bemäkeln, was gelobt, und zu loben, was getadelt gehört, ist gleichermaßen Unverstand wie moralische Verfehlung, ist zugleich amathía und hamartía.145 Wer also die logischen Verhältnisse aufgrund einer Verwirrung seiner Sprache 143 144 145

Helena, 2. Cf. Renzo Vitali, *RUJLD5HWRULFDH¿ORVR¿D, 130. Helena, 1.

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nicht aufzufassen in der Lage ist, dem ist auch nicht zuzutrauen, angemessen zu reden und zu handeln. Der logischen und rednerischen Verfehlung würde die moralisch-praktische auf dem Fuße folgen. In diesem Sinne lässt sich auch der werbliche Anspruch der Sophisten verstehen, sie würden nicht mehr und nicht weniger als aretê – nennen wir es einmal: Tüchtigkeit oder Handlungskompetenz – vermitteln: aufrecht erhalten ließe sich dieser Anspruch dann, wenn man aretêVRYHUVWHKWZLH%XFKKHLP1lPOLFKLQGHP6LQQHGDVVVLHÄNHLQHVZHJV eine einheitliche Verfassung dessen ist, der sie besitzt, sondern eine je nach der Situation des Handelns differierende, formale Fähigkeit zur angemessenen 5HDNWLRQ³146 b) Die Länge der Rede steuern In eine ganz ähnliche Richtung weist eine anderes Element der sophistischen téchnê. Nämlich die Fähigkeit, die Länge der Rede nach Gutdünken ausgestalten zu können. So berichtet Platon von Protagoras, er habe die Geschicklichkeit besessen, über den gleichen Redegegenstand ebenso schier endlos zu sprechen als auch so kurz, dass niemand sich hätte konziser ausdrücken können.147 Aber QDWUOLFKOlVVWVLFKDXFK*RUJLDVLQGLHVH5LFKWXQJYHUQHKPHQÄ'HQQDXFKGHVVHQUKPHLFKPLFKMDQLHPDQGN|QQHGDVVHOEHNU]HUVDJHQDOVLFK³148 Kurze Rede, lange Rede – das kommt darauf an, wie viel Zeit man hat, wie viel Zeit man sich als Redner nehmen kann. Wäre gar keine Zeit, dann bräuchte es wohl auch in den meisten Fällen gar keine Beratung darüber, was nun zu tun sei. Und wäre unendlich viel Zeit, ließe sich die Entscheidung auf die lange Bank schieben, dann wäre wohl auch der Gegenstand zu uninteressant, als dass sich der Sophist überhaupt zu einer Stellungnahme veranlasst sähe. Diejenigen Fälle, in denen es auf das rechte Maß ankommt – jene also, in denen der kairós seine entscheidende Rolle spielt – sind zwischen diesen Extremen angesiedelt. Folglich darf der Redner weder zu kurz noch zu lange reden – im ersten Falle wäre der kairósQRFKQLFKWGDLP]ZHLWHQZlUHHUEHUHLWVYRUEHLJOHLFKVDPāEHUUHGHW³ Das Zeitmaß des Redens der Situation und ihren Bestimmungsmomenten anzupassen ist damit eine Kunstfertigkeit, die Teil des sophistischen Programms sein muss. c) Ernsthaftigkeit: der kairós ist relativ, aber er versteht keine Ironie Seine Einsicht in die Beschaffenheit des rhetorischen Rohstoffes, dessen er sich bedient, hält den Sophisten nun nicht davon ab, die schwankende Natur der dóxa 146 147 148

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Buchheim, Gorgias, XXVII. Plat. Prot. 334e. Plat. Gorg., 449c.

nur dem gegnerischen Standpunkt anzukreiden, im Redestreit aber weiterhin die Wahrheit für sich zu reklamieren. Gorgias beispielsweise will, so sagt er im Prooemium der HelenaÄGLH:DKUKHLW]HLJHQ³XP+HOHQDYRQLKUHPVFKOHFKWHQ 5XI ]X EHIUHLHQ XQG JOHLFK]HLWLJ ÄGHP 8QYHUVWDQG HLQ (QGH VHW]HQ³ 'LH gleiche Strategie, wenn auch ins Negative gewendet, nutzt Gorgias in seiner Verteidigung des Palamedes: Hier will Palamedes in seinem Plädoyer den Ankläger gerade mit dem Argument in Bedrängnis bringen, dass dieser eben nicht wissen kann, was wirklich geschehen ist, sondern sich lediglich auf Indizien VWW]WÄ:DJVWGXHVDOVRGXZDJKDOVLJVWHUDOOHU0HQVFKHQGHUdóxa vertrauend, der vertrauensunwürdigsten Sache, und die Wahrheit nicht wissend, einen 0DQQDXIGHQ7RG]XYHUIROJHQ"³149 Zum Zwecke der Persuasion also darf der *HJHQVDW]]ZLVFKHQ0HLQXQJXQG:LVVHQUXKLJZHLWHUKLQ9HUZHQGXQJ¿QGHQ Ä'RFKGDUIPDQZHGHUGHQHQWUDXHQGLHHLQH$QVLFKWKHJHQ±VRQGHUQQXU:LVsenden – noch die Ansicht für eher glaubwürdig als die Wahrheit halten – sonGHUQXPJHNHKUWGLH:DKUKHLWHKHUDOVGLH$QVLFKW³150 Zwei Gründe lassen sich dafür nennen: Erstens dürfte die Erkenntniskritik eines Gorgias zum Beispiel ein reines Elitenphänomen geblieben sein; seine Skepsis gegenüber den zeitgenössischen sôphoi und die sich daraus ergebenden Konsequenzen waren im 5. Jahrhundert sicher ebenso wenig in das kollektive Bewusstsein eingesickert wie auch die vielen Seismen philosophischer Skepsis in den Jahrhunderten danach ja nie wirklich in der Lage gewesen sind, die naive Bezugnahme auf die Ä5HDOLWlW³]XHUVFKWWHUQ:DUXPDOVRVROOWH*RUJLDVDXIGLHVHZHUWYROOH4XHOOH des Zweifels verzichten und sich nicht auf die Wahrheit berufen, solange dies zum Nachteil des Gegners geschieht? Schließlich bleibt der Adressat und dessen dóxa richtungsgebend für die sophistische Argumentation. Zweitens aber tut auch der noch so abgebrühte Sophist gut daran, seine allenfalls ironische Bezugnahme auf Wahrheit nicht offenkundig werden zu lassen. Denn Ironie ist sicherlich dort fehl am Platze, wo es ernst wird – und das wird es immer, wenn der kairós zu treffen ist, um dem Reden ein Ende zu machen und dem Handeln eine Richtung zu geben. Wie aber kann es jemand ernst meinen, der sich selbst nicht ernst nimmt? Setzte der Sophist nicht alles daran, den eigenen Standpunkt als den stärksten und damit auch als einen zu präsentieren, den es ernst zu nehmen gilt, ernster sogar als den des Gegners, so hieße das, die Erwartungen des Publikums auf das Schlimmste zu enttäuschen. Ein offener Hinweis auf den Status der eigenen Rede als eine auch bloß auf dóxa gegründete wäre selbst schon ein Verstoß gegen die Angemessenheit und bedeutete damit zugleich auch das Verfehlen des kairós.

149 150

Palamedes, 24. Palamedes 5.

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:RGDV0D‰]X¿QGHQLVW Die eingangs diskutierte Eigenpräsentation der Sophisten als professionelle Techniker des lógos hat die Frage aufgeworfen, auf welche Ressourcen die Sophisten ihre riskante Selbstdarstellung gründen. Inzwischen haben wir gesehen, dass die vieldiskutierte sophistische téchnê zwar durchaus einen Beitrag dazu leisten kann, die Situation erst sprachlich, dann auch rhetorisch in den Griff zu bekommen. Ausschlaggebend aber ist sie nicht. Ausschlaggebend ist die nicht systematisierbare Fähigkeit des Sophisten, empfänglich zu sein für das Gebot der Stunde und den kairós mit den Mitteln der Rede zu verwirklichen – also der Rede jenes Maß zu verleihen, das sie braucht, um zwingend persuasiv zu wirken. Nur die Rede wird sich im Wettstreit durchsetzen, deren Redner in höherem Maße in der Lage ist, sich den kairós zum Verbündeten zu machen, indem er die Maßgaben des Moments versteht und in eine angemessene Rede umsetzt. Nicht XPVRQVWEHKDXSWHW3URWDJRUDVYRQVLFKHUVHLÄEHVVHUDOVDQGHUH³151 Der Sophist als derjenige, der trainiert ist, den kairós zu erkennen und mit seiner Rede den rechten Moment abzupassen, ist wortwörtlich maßgebend. Mit anderen Worten: homo mensura. Es stellt sich mithin heraus, dass gerade jenes Fragment, der Homo-mensura-Satz, einen entscheidenden Hinweis auf den Ursprung des von uns gesuchten, situativen Maßes enthält, das in der konventionellen Lesart als Kernsatz des Relativismus gedeutet wird. Zunächst stehen hier, stärker noch als bei den anderen Fragmenten des Protagoras, Übersetzungsprobleme im Vordergrund, die, wenn schon nicht abschließend geklärt, so doch der Korrektheit halber angesprochen sein wollen. Die Formulierung: Pántôn chrêmatôn métron estin anthrôpos, tôn men ontôn hôs estin, tôn de ouk ontôn hôs ouk estin±Ä'HU0HQVFKLVWGDV0D‰DOOHU'LQJH GHU VHLHQGHQ ZLH VLH VLQG GHU QLFKWVHLHQGHQ ZLH VLH QLFKW VLQG³ OlVVW DQ GUHL Stellen alternative Verständnisse zu. Dies ist nicht der Ort, das Für und Wider der einzelnen Übersetzungsoptionen zu diskutieren. Alfred Neumann, der die möglichen Deutungen und ihre philologischen Fundamente untersucht hat, zweifelt daran, dass es hinreichende Gründe für eine Festlegung auf irgendeinen der Bestimmungsversuche geben kann.152 In der Forschung viel diskutiert worden sind die Bedeutungen der Worte Dinge, Mensch und hônGDVVLFKDOVÃGDVV‫ދ‬LP6LQQHHLQHU([LVWHQ]DXVVDJHRGHUDOV ÃZLH‫ދ‬LP6LQQHHLQHU3UlGLNDWLRQEHUVHW]HQOlVVW:HLWHUKLQVWHOOWVLFKGLH)UDJHREPLWÃ0HQVFK‫ދ‬GDV,QGLYLGXXPJHPHLQWLVWRGHUDEHUHLQHKHUDOOJHPHLQHV Gattungssubjekt als Konstrukt der Erkenntnistheorie – wobei der unhistorische Charakter der letzteren Variante klar zutage liegt. Schließlich noch lassen sich 151 152

Plat.Prot. 328b.  =XGLHVHP(UJHEQLVJHODQJ$OIUHG1HXPDQQLQVHLQHP)RUVFKXQJVEHUEOLFNÄ'LH3UREOHPDWLN des Homo-mensura6DW]HV³LQ&ODVVHQSophistikÄ(V]HLJWVLFKDOVRGDVVHLQHVSUDFKOLFKH Interpretation des Maßsatzes in keinem Punkte jene sichere Fundierung schaffen kann, die für HLQHHLQGHXWLJHXQGUHVWORVHSKLORVRSKLVFKH/|VXQJXQHUOlVVOLFKHUVFKHLQW³FI

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die chrêmata als reale Objekte, als menschliche Angelegenheiten oder als Inbegriff beider lesen. Summa summarum erscheint vor dem praxisorientierten Hintergrund sophistischen Agierens ein Verständnis des Homo-mensura-Satzes sinnvoll, das den Menschen – das Individuum – als Beurteiler von Angelegenheiten153 auffasst.154 Nun kann man davon ausgehen, dass nicht alle Beurteiler gleichermaßen kompetent sind. Ebenso kann man davon ausgehen, dass die Sophisten, als diejenigen, die vor der Volksversammlung auftreten, um mit ihrer Rede Herrschaft auszuüben, einen Kompetenzvorsprung für sich in Anspruch nehmen. Dieser Vorsprung ist es, der sie in die Lage versetzt, das Kräfteverhältnis zwischen den konkurrierenden lógoi umzukehren – also jene Umkehr zu bewirken, die sie im Sinne hatten. Dieser Kompetenzvorsprung, der technischer wie kairotischer Natur zugleich ist, erlaubt es den Sophisten, einen lógos zu formulieren, der wirkt wie ein pharmakon und dadurch ihre eigene deinotes zu unterstreichen. Genau darauf scheint Protagoras im platonischen Theaitetos KLQDXV]XZROOHQ Ä'HQQ ich behaupte zwar, dass sich die Wahrheit so verhalte, wie ich geschrieben habe, dass nämlich ein jeder von uns das Maß dessen sei, was ist und was nicht, dass aber dennoch der eine unendlich viel besser sei als der andere, eben deshalb, weil dem einen dieses ist und erscheint, dem anderen etwas anderes. Und weit entfernt bin ich zu behaupten, dass es keine Weisheit und keinen Weisen gebe; sondern eben den nenne ich gerade weise, welcher, wem unter uns Übles ist und erscheint, die Umwandlung bewirken kann, dass ihm Gutes erscheine und VHL³155 Zwar – und das ist bemerkenswert – legitimiert Protagoras die sophistische Überlegenheit nicht durch den Rückgriff auf ein Wahrheitskriterium, sonGHUQPLWWHOVHLQHV:HUWXUWHLOV6RVDJWHUXQPLVVYHUVWlQGOLFKÄLFKDEHUQHQQH QXUHLQLJHVEHVVHUDOVDQGHUHVZDKUHUKLQJHJHQQHQQHLFKQLFKWV³156 Letztlich aber vermag es die praktische Wirksamkeit des sophistischen lógos offenbar, die Grenzen zwischen dóxa und Wahrheit wieder zu verwischen. Denn der gute SoSKLVWEHZLUNWÄGDVVGHQ6WDDWHQDQVWDWWGHV9HUGHUEOLFKHQGDV+HLOVDPHJHUHFKW

153

154

155 156

Zu dem praxisorientieren Sinn von chrêma FI /DV]OR 9HUVHQ\L Ä3URWDJRUDV¶ 0DQ0HDVXUH )UDJPHQW³± In eine andere Richtung weist die Interpretation Mario Untersteiners, der von der Antithese der dyo lógoi ausgeht und den Homo-mensura-Satz als Wiedergewinnung der Einheit menschliFKHU:DKUQHKPXQJ GHXWHW GHU 0HQVFK ZLUG ]XP Ädominatore di tutte le esperienze³ 3URWDgoras’ Ziel sei es gewesen, so Untersteiner, den erkenntnistheoretischen Wert, den Ertrag der Sinneswahrnehmung zu sichern, der im Widerspruch der Meinungen verloren zu gehen drohte: ÄProtagora si propone di superare i due logoi in contrasto³  =LHOVHLGLH6LFKHUXQJZLVVHQVFKDIWOLFKHQ(UNHQQWLVJHZLQQVMHQVHLWVGHUG\RORJRLÄFLzVLJQL¿FDFKHHJOL>Protagora@ vuole costruire, al di sopra dell’opinione, la scienza³  'DEHLVLHKWHUVLFKMHGRFKGHU)UDJHJHJHQüber, wie die Wende ins Praktische, die das Kriterium für den stärkeren Logos bildet, integriert werden kann. 166d. Plat. Theait. 167b.

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zu sein scheint. Denn was jedem Staate gerecht erscheint, das ist es ihm ja auch, VRODQJHHUHVGDIUHUNOlUW³157 'LHVH (UZlJXQJHQ PDFKHQ HLQHV GHXWOLFK (LQ QLFKW ZHLWHU GH¿QLHUWHV (Ukenntnissubjekt kann Protagoras nicht in den Mittelpunkt seines Homo-mensura-Satzes gestellt haben. Stattdessen unterscheidet er mehr und weniger kompetente Beurteiler. Jaap Mansfeld158 bietet dafür eine plausible Deutung, indem er den anthrôposDOVÄ3HUVRQ³DXIIDVVWDOVNRQNUHWHV,QGLYLGXXPÄ3HUVRQVGLIIHU as to their natural talents, and some people are more experienced or better trained than others. The expert is not possessed of ultimate truths, but he is capable of changing things which appear to be the case to people on the basis of what he NQRZVDVDSHUVRQ³159 Der Hinweis Mansfelds auf Erfahrung und Ausbildung ist leicht zu erkennen als Widerhall zentraler sophistischer Vokablen wie empeiria und téchnê, die es dem Sophisten auch erlauben, jene Veränderung vorzunehmen, von der Protagoras in seinem stärker/schwächer-Fragment spricht. Der protagoreische Anspruch, durch Rede das Kräfteverhältnis zwischen zwei lógoi zu verkehren, lässt sich durch diese Interpretation des Homo-mensura-Satzes zwanglos integrieren. Damit hat sich erwiesen, dass der Homo-mensura-Satz nicht als Beleg für die These taugt, Sophisten seien Vertreter eines wie auch immer gearteten Relativismus. Stattdessen hat sich gezeigt, dass die Fragmente des Protagoras eine Unterscheidung leistungsfähiger und weniger leistungsfähiger Wirklichkeitsverständnisse nahelegen. Diese sind Ergebnis unterschiedlicher Zugänge zu den pragmata, zu den individuellen Erfahrungsinhalten, und werden im agôn logôn vor aller Augen und Ohren entwickelt und verglichen.160 Zwar verzichtet Protagoras auf den Anspruch, unterschiedliche lógoi an einem absoluten Maßstab zu messen. Trotzdem steht am Schluss – indem sich im Redewettstreit ein lógos als der stärkere bewährt – nicht Indifferenz, sondern Handlungsfähigkeit. Und genau darauf ist der sophistische lógos ja von Anfang an orientiert gewesen.

Der kairós als Zentralbegriff der sophistischen Konzeption vom Reden und Handeln So oft also die Sophisten als Kritiker, ja als Zerstörer einer vermeintlich festen Wertordnung gescholten worden sind – es hat sich erwiesen, dass ihr Ansatz mindestens ebenso konstruktiv ist wie er Überkommenes in Zweifel zieht. An Plat. Theait. 167c.  Ä3URWDJRUDVRQ(SLVWHPRORJLFDO2EVWDFOHVDQG3HUVRQV³II 159 Op.cit., 46. 160  ,QGLHVHP6LQQHlX‰HUWVLFKDXFK0DVVLPR0DVVDJOLÄ1RQqTXLQGLTXHOODJRUJLDQDXQDLPSRVtazione relativista, ma, andando oltre questa, si apre ad un affronto e ad una problematizzazione GHOUDSSRUWRIUDO¶XRPRHODUHDOWjFKHqHVSHULHQ]DRFFDVLRQHHQHFHVVLWj³&I0DVVDJOLÄ*RUJLDHO¶HVWHWLFDGHOODVLWXD]LRQH³ 157 158

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die Stelle des Bezugs auf Wahrheit tritt die Kompetenz des einzelnen, an die fester Maßstäbe tritt der Prozess der Auseinandersetzung, der Wettstreit, der Agon. Das sophistische Streben nach Diskursherrschaft hat letztlich nichts anderes zum Ziel, als die prinzipielle Offenheit menschlicher Handlungsmöglichkeiten zu kanalisieren und von Fall zu Fall in eine Ordnung zu bringen – natürlich in die vom Redner gewünschte. Leicht lässt sich nun begreifen, was für einen ungeheuren diskursiven und zugleich praktischen, nämlich auf Praxis gerichteten Kraftakt sich die Sophisten zumuten. Schließlich machen sie den wagemutigen, mit keinerlei Garantien versehenen Versuch, den Menschen trotz seiner kognitiven Schwächen in die Lage zu versetzen, seine Situation in die eigenen Hände zu nehmen. Sie umfassen in ihrer Rhetorikkonzeption den kolossalen Spannungsbogen zwischen Offenheit und Ordnung, intellektueller Ungebundenheit und handlungsorientierter Stabilisierung, Kritik und krísis. Platons ironische Charakterisierung der Sophisten als logodaidaloi, als Redeingenieure also, denen es lediglich um die mêchanê peithoûs161 gehe, kehrt ins Geringschätzige, was doch als Streben nach Konsistenz und Plausibilität durchaus von Wert ist: Die Sophisten zielen auf einen reibungslos funktionierenden lógos, bei dem ein Wort ins andere greift und sich so ein kohärentes Ganzes ergibt. Nicht umsonst spricht Gorgias vom lógous pláttein – gleichsam von der plastisch-konstruktiven Arbeit am lógos.162 Dieser lógos ist der Ausweg, den die Sophisten aus der unübersichtlichen Lage des Menschen anbieten.163 Die mêchanê peithoûs ist mithin nichts anderes als eine Reaktion auf die amêchanía des Menschen. Ihre téchnê kann dieser conditio humana gleichwohl nur etwas Unvollkommenes entgegensetzen. Denn die Fähigkeit zur gelingenden Persuasion ist nichts, was man intentione recta in seinen Besitz bringen kann. Schließlich muss der kairós immer wieder aufs Neue getroffen werden. So wie der Sophist jedes Mal aufs Neue sich dem Redewettstreit stellen muss, so steht auch der kairós als seine schärfste Waffe nie im Vorhinein zur Verfügung. Die Temporalisierung durch den kairós betrifft also keineswegs nur das Kriterium, das den stärkeren vom schwächeren lógos scheidet – nein, sie betrifft auch die Kompetenz des Sophisten selbst; auch sie ist nie ganz errungen, sondern muss sich immer wieder von neuem bewähren. Die Bedeutung der rhetorischen téchnê, von den Sophisten als Hauptnutzen ihrer Lehre angepriesen, schrumpft bei näherem Hinsehen deutlich zusammen. Sie kann kaum mehr sein als eine Propädeutik der Bewährung in der unhintergehbaren Mannigfaltigkeit konkreter Redesituationen. Und wo es weder unerschütterliche inhaltliche Anknüpfungspunkte für die Argumentation gibt noch die téchnê festen Boden unter den Füßen sichern kann, da bleibt letztlich nur der Redner selbst als Quelle und Maßstab der geforderten gedanklichen und lebenspraktischen Synthese übrig. So also liegt dann das Maß, das metron, in 161 162 163

Plat. Gorg. 459b. Helena, 11. Cf. Buchheim, Gorgias, XXVf.

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dem Redner, der im Redewettkampf den kairós auf seiner Seite zieht. Homo mensura. Er muss ermessen, was die jeweilige Situation erfordert. Diese Konzentration auf die Fähigkeit des Redners markiert den neuen Kontext, in dem die sophistische kairós-Auffassung steht: Galt der kairós zuvor als Zäsur natürlicher Abläufe – etwa in der Medizin –, so haben die Sophisten den kairós dem Menschen zugänglich gemacht. Auch wenn nur der Getroffene treffen kann – wenn also der kairós vom Redner ergriffen sein will, um überhaupt wirksam zu werden –, so ist er in der sophistischen Konzeption nun doch zur Ressource geworden, die dem Menschen helfen kann zu verwirklichen, was ihm GDV*HERWHQH]XVHLQVFKHLQWÄ,O\DGRQFGDQVO‫ތ‬RFFDVLRQDOLWpXQHVRUWHGHFDXVDOLWpUpFLSURTXHF‫ތ‬HVWORFFDVLRQTXLDFWLYHOHJpQLHFUpDWHXUPDLVF‫ތ‬HVWSRXUOH JpQLHFUpDWHXUTXHODUHQFRQWUHDXOLHXG‫ތ‬rWUHXQHRFFXUHQFHPRUWHGHYLHQWXQH RFFDVLRQIpFRQGHHWULFKHGHVHQV³164 Angesichts all der Überlegungen, die wir bis hierher angestellt haben, ist klar: Der kairós ist Kulminationspunkt und eigentlicher Leitbegriff sophistischer Doktrin. Der kairósLVW±ZLH5HQ]R9LWDOLHVDXVGUFNW±GLHÄQXRYDSRVL]LRQHPHQWDOHVR¿VWLFD³165(UHUODXEWGHP5HGQHUHLQÄGRPLQDUHODVLWXD]LRQH³166 – ja mehr als das: die persuasive Machtentfaltung, die der kairós ermöglicht, wenn er dem Redner gleichsam als der stärkste Helfer, wie Sophokles vermerkt, ]XU 6HLWH WULWW PDFKW GLH 5HGH ]XP ÄJUR‰HQ %HZLUNHU³ ± lógos dynástês mégas estin.167 Gar als hegemôn bezeichnet die Rhetorik an Alexander168 den lógos. Kurzum, Zeller hat vollkommen recht, wenn er sagt, Ziel der Sophistik sei die Ä%HKHUUVFKXQJ GHV /HEHQV³169 Allerdings bleibt diese kairotische Stärke eine momentane, eine punktuelle. Denn da der kairós sich nur im situativen Ablauf realisieren kann, erlaubt er keine das Hier und Jetzt überschreitende Verfügung über ihn. Die sophistische Rhetorik ist also eine Disziplin, die auf Bereitschaft, auf Geistesgegenwart und Entschlossenheit hin ausgerichtet ist. Gleichwohl bleibt bei der Frage nach dem Wie ein Rest des Unerklärlichen. Mittels ihrer téchnê vermögen die Sophisten die Situation zu präparieren: mit orthoepeia sezieren sie die gegnerische Auffassung und widerlegen sie; sie wissen durch die angemessene Länge der Rede den rechten Moment abzupassen; treffen den Ton, den die Lage erfordert. Doch bei aller Konzentration auf die Gestaltungsmacht des erfahrenen Experten – die aus dem überkommenen, naturphilosophischen kairós-Verständnis übernommene quasi-objektive Natur der okkasionalen Konstellation und das mit ihr verbundene Wechselspiel von aktivem Ergreifen der Gelegenheit und passivem von ihr ergriffen Werden entzieht den kairós der Theorie. Folglich, so stellt sich heraus, nimmt in der sophis164 165 166 167 168

169

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Jankélévitch, Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien, I, 120. Vitali, *RUJLD5HWRULFDH¿ORVR¿D, Urbino 1971, 130. Ibid. Helena, 8. Die Metapher des lógosDOVÄ+HJHPRQ³¿QGHWVLFKEHUHLWVEHL3ODW*RUJHÄ=XP)KUHU DOVRODVVXQVGLHVH5HGHJHEUDXFKHQ³ E. Zeller, Grundriß der Geschichte der Griechischen Philosophie, 94.

tischen Auffassung von Reden und Handeln, nachdem alle falschen epistemischen Sicherheiten zerstört und alle Konventionen enttarnt sind, der Mensch als Maß der Dinge das Steuer in die eigenen Hände – aber eben doch nicht so ganz. Die Objektivität zum Verbündeten der Subjektivität zu machen – das ist die opake Mechanik des kairós. Die Natur des kairós lässt sich erhellen, seine Macht beschreiben, er selbst aber bleibt für die Theorie unfassbar. Dass selbst Gorgias, der große Virtuose des kairós, keine Lehrschrift über ihn verfasst hat, ist dafür wohl das stärkste Indiz.

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II. Warum es keine téchnê der Persuasion geben kann: 9RQGHU6SUHQJNUDIWGHV6SH]L¿VFKHQ LQGHUÄ5KHWRULN³GHV$ULVWRWHOHV

Hatte Platon sich darauf beschränkt, die Rhetorik – insbesondere die von den Sophisten vertretene – von erkenntniskritischer Warte aus zu tadeln, unternimmt es sein Schüler Aristoteles, die Empirie zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung der Redekunst zu machen. Dadurch nimmt seine Rhetorik eine bemerkenswerte Doppelrolle ein: Einerseits ist sie philosophische Analyse des Rhetorischen; kein anderes antikes Werk geht der sprachlichen Verfasstheit des Menschen auf so grundlegende Art und Weise nach. Andererseits aber belässt es Aristoteles nicht bei einer anthropologischen Metabetrachtung, sondern macht sich daran, dem Phänomen der Persuasion auf die Spur zu kommen. Das erklärt den vor allem im dritten Buch sehr handwerklichen Charakter des Werkes. Diese Doppelnatur macht Aristoteles’ Analyse der Rhetorik vielschichtig und reichhaltig – hat aber zugleich eine beträchtliche Heterogenität des Textes zur Folge: Komplexitäten und Komplikationen, die eine Interpretation in Betracht zu ziehen hat. (Inwieweit dies Folge der Entstehungsgeschichte des Werkes als Kompilation aus Vorlesungsmitschriften ist – wer wollte das entscheiden!) Eine dieser Komplexitäten wird uns im Folgenden zuerst beschäftigen – nämlich die Frage nach dem Status der Rhetorik als téchnê. Einem Status, den Aristoteles im ersten Kapitel des ersten Buches mit beträchtlichem argumentativem Aufwand zu etablieren sucht, und der, wie wir sehen werden, die Frage nach der Rolle eines Konzeptes von Angemessenheit unmittelbar berührt. Zunächst aber gilt es festzuhalten, dass die doppelte Perspektive der Rhetorik und die Deutungsschwierigkeiten, die ihr changierender Charakter macht, sich auch in der Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte deutlich niederschlagen – und zwar vor allem in zahlreichen philosophischen Untersuchungen. Dass die Rhetorik aus der Peripherie des aristotelischen Œuvres zusehends in sein Zentrum gerückt ist, liegt vor allem am Wiedererstarken einer von Aristoteles inspirierten praktischen Philosophie. Schließlich kreist die Rhetorik um Fragen der praxis – die kontingenten Bedingungen des Handelns und ihre Bewältigung durch Abwägen und Entscheiden. Sie nimmt also viel aus dem Themenspektrum der Sophistik auf – ohne darauf explizit hinzuweisen. Vor allem angelsächsische Philosophen haben sich der Rhetorik seit Mitte der Neunziger Jahre zugewandt.1 Stets jedoch zeigen sie sich bemüht, ihr Interesse an der Rhetorik zu rechtfertigen. Dazu greifen manche Autoren wissenschaft1

Beispielsweise die zahlreichen Aufsätze und die Monographie Eugene Garvers sowie die beiden Sammelbände von Furley/Nehamas 1994 und Amélie O. Rorty 1996, die zahlreiche Aufsätze HQWKDOWHQXQWHUDQGHUHPYRQVRSUR¿OLHUWHQ$ULVWRWHOHVH[HJHWHQZLH0)%XUQ\HDW7+,UZLQ John Cooper oder Martha Nussbaum.

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simmanente Motive auf,2 andere verweisen auf lebenspraktische Relevanz. Doch all diesen Argumenten mangelt jene Tiefe, die Aristoteles’ eigene Perspektive auf Rhetorik auszeichnet: Nicht als einen wissenschaftlichen Diskurs neben anderen nimmt er die Rhetorik in den Blick, sondern als theoretische Vergewisserung einer Praxis, die sich als essenziell für den Menschen herausstellt; essenziell nämlich in dem Sinne, dass es den Menschen ausmacht, sich mit Sprache zu verständigen und auch auseinanderzusetzen – vielmehr als etwa der Einsatz physischer Stärke. Das zeichnet ihn gegenüber den Tieren aus.3 Doch aus dieser anthropologischen Relevanz des Redens und der Rede ergibt sich eine Gefahr für die Auslegung der Rhetorik, die sich wiederholt manifestiert. Für manche Autoren ist es scheinbar allzu verlockend, die Rhetorik weniger als das zu lesen und auszulegen, was sie ist, als vielmehr dadurch zu nobilitieren, dass man eine größtmögliche Nähe zu Aristoteles’ rein philosophischen Werken konstatiert – oder vielmehr konstruiert. Keine Frage: Anknüpfungspunkte dafür gibt es, etwa in Form des Leitbegriffs der praktischen Philosophie des Aristoteles, der phrónesis, die für die ethisch wie auch rhetorisch bedeutsame Klugheit des Abwägens, der Deliberation, steht.4 Allerdings verführt diese Nähe auch dazu, die Ebene der Analyse zu verlassen und philosophische Ideale mit praktischen Geltungsansprüchen zu belasten. Ein Paradebeispiel für solche Versuche ist die Engführung von Rhetorik und praktischer Vernunft.5 Ein Blick auf die deutschsprachige Forschungsliteratur etwa zeigt, dass Heinrich F. Plett die Gefahr von Idealismen durchaus zu Recht konstatiert.6 Emphatisches VokaEXODUNRPPWEHYRU]XJWGDQQ]XP(LQVDW]ZHQQ5KHWRULNDOV%HLWUDJ]XUÄ3OX Ä,WLVWLPHWRUHFODLPWKH5KHWRULFDVDSKLORVRSKLFZRUN³PHLQW$PpOLH2NVHQEHUJ5RUW\XQG NRQVWDWLHUWÄDUHQHZHGSKLORVRSKLFLQWHUHVWLQDZRUNWKDWKDGEHHQOHIWODUJHO\LQWKHKDQGVRI OLWHUDU\ FULWLFV³$ULVWRWOH¶V 5KHWRULF L[  'DULQ VFKOLH‰W VLH VLFK (XJHQH *DUYHU DQ GHU VHLQ Buch Aristotle’s Rhetoric: An Art of Character als Beseitigung des Mangels verstanden wissen ZLOOGDVVÄQRRQHKDV\HWSUHVHQWHGDUHDGLQJRIWKH5KHWRULFDVDSKLORVRSKLFDOZRUNZLWKLWV RZQLQWHJULW\DQGLWVRZQSKLORVRSKLFLQWHUHVW³HEG 3 Arist. Pol. 1.2.5., 1253a 13–18. 4 In der Rhetorik hebt Aristoteles die phronesis als eine der drei Charaktertugenden des Redners hervor, die besonders dazu angetan ist, seine Glaubwürdigkeit zu unterstreichen: 2.1.5., 1378a 8. 5 Beispielhaft führt Josef Kopperschmidt diese wohl theoriestrategisch motivierte petitio principii YRUZHQQHUVFKUHLEWÄ$OV0HWKRGLVLHUXQJGHOLEHUDWLYHUÃ.RQWLQJHQ]EHZlOWLJXQJµLVW5KHWRULN HLJHQWOLFKQXUGLH0HWKRGLVLHUXQJHLQHV9HUKDOWHQVGDVDXVGHUDOOWlJOLFKHQ3UD[LVJHOlX¿JLVW XQGDOVÃSUDNWLVFKH.OXJKHLWµ SKURQHVLV JLOW³'LHDQJHIKUWH%HOHJVWHOOH (1D± LQ der der phronimos ausgewiesen wird als jemand, der gut über das Zuträgliche deliberiert (kalôs bouleuasthai), setzt den phronimos immer schon als bestmöglichen Zuhörer der Selbstüberzeugung voraus – schließlich verkörpert er ja die phronesis. Anders die rhetorische Situation: Hier sind Redner und Hörer nicht identisch und die Qualitäten der Zuhörer alles andere als gesichert. Vom Text der Rhetorik her lässt sich das Unternehmen des Aristoteles auch lediglich als Methodisierung von lebensweltlicher Argumentation bezeichnen, nicht als Methodisierung einer idealtypischen Vernunftleistung. – Ein ganz unaristotelischer Gedanke! Cf. Josef Kopperschmidt, Rhetorik als Medium der politischen Deliberation, z.B. Aristoteles, in: Kopperschmidt (ed.), Politik und Rhetorik. Funktionsmodelle politischer Rede, Opladen 1995, 85. 6 Heinrich F. Plett, Von deutscher Rhetorik, in: ders. (ed.), Die Aktualität der Rhetorik, München 1996, 17. 2

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UDOLVLHUXQJ GHV 9HUQXQIWEHJULIIV³ XQG ÄGLVNXUVLYH 6HOEVWDXINOlUXQJVFKDQFH³7 DXVJHZLHVHQZLUGMDLP*HEUDXFKGHU5KHWRULN]HLJHÄVLFKGHU0HQVFKDOVHLQ PLWVLFKVHOEVWXQGPLWVHLQHVJOHLFKHQYHUVWlQGLJHQGHV:HVHQ³8 – Wer schon hier den Verdacht, es handele sich bei diesen Wendungen um bloße Postulate, QLFKW Y|OOLJ DE]XZHLVHQ YHUPDJ GHU ¿QGHW VLFK YROOHQGV EHVWlWLJW GXUFK HLQH Formulierung Gonsalv Mainbergers, der schreibt, Aristoteles wolle die téchnê rhêtorikêÄQLFKWDXIGDVEOR‰H+HUVWHOOHQGDQNVDFKIUHPGHU6SUHFKWHFKQLNDXI EOR‰H5KHWRULNUHGX]LHUWZLVVHQ³9'HU9HUZHLVDXIÄEOR‰H5KHWRULN³LVWZHQLJ hilfreich, ersetzt er doch keineswegs eine Begriffsklärung, die sich mit dem rhetorischen Phänomenbestand in der gebotenen Breite auseinandersetzt. – Klar ist: All diese Positionen bleiben weit hinter dem Problembewusstsein zurück, von dem die Rhetorik selbst zeugt. Aristoteles jedenfalls blendet die VernunftGH¿]LWHUKHWRULVFKHU3UD[LVQLFKWHLQIDFKDXV*DQ]LP*HJHQWHLO'DVV5KHWRULN etwas anderes ist als Philosophie, ja sogar als Dialektik, zeigt Aristoteles’ strikte Trennung der Disziplinen, die er sowohl aus praktischer10 wie aus epistemologischer11 Perspektive vornimmt. Und so scheint es bisweilen, als bleibe Aristoteles GHQ3KlQRPHQHQLQK|KHUHP0D‰HYHUSÀLFKWHWDOVVLFKGDVYRQYLHOHQVHLQHU KHXWLJHQ([HJHWHQEHKDXSWHQOLH‰H2GHUZLH3KLOLS1HOHVIRUPXOLHUWÄ3HUVXDVLRQLQGHHGFDQHQWDLOPRUHWKDQLQGXFLQJDVVHQWE\DUJXPHQWDWLRQDORQH>@ The principle relevance that Aristotle has for rhetorical theory today is that he GRHVQRWEHQLJQO\LJQRUHWKLVTXHVWLRQ³12

Angemessenheit – kein Thema für Aristoteles? Welche Rolle nun spielt unsere, nämlich die Frage nach der Angemessenheit, für die aristotelische Rhetorik? Wird sie von Aristoteles selbst als zentrale Frage empfunden? Manches Indiz deutet eher auf das Gegenteil hin. Zum Beispiel die Tatsache, dass ein griechischer Schlüsselbegriff für das Angemessene – nämlich der des prépon – im ganzen Text lediglich an zwei Stellen vorkommt.13 Aber das ist gar nicht einmal der vorrangige Anhaltspunkt dafür, dass Aristoteles einen ganz anderen Kurs einzuschlagen scheint als etwa Gorgias und die Sophisten, die ja, wie wir gesehen haben, dem situativen Moment der Persuasion in Form des kairós-Begriffes eine zentrale Stellung in ihrer Rhetorikkonzeption zuwei7 8 9 10 11 12

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Kopperschmidt, op. cit., 83. Gonsalv K. Mainberger, Rhetorica I. Reden mit Vernunft, 43. Mainberger, op.cit., 62. Da, wo es um die Auffassungsgabe der Zuhörer geht. Dort, wo es um die unterschiedliche Natur der Prämissen geht. Philip Nel, Between argumentation and seduction: the pertinence of Aristotle’s perspective on persuasion, in: South African Journal of Philosophy 14 (1995), 93. Und das auch erst im dritten Buch, nämlich ein erstes Mal in 3.2.3., 1404b18, ein zweites Mal in 3.7.1., 1408a 10.

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sen. (Das Wort kairós übrigens kommt im Text der Rhetorik nur ein einziges Mal vor, und das an einer Stelle, die ohne jedes Gewicht ist für die aristotelische Theoriebildung.14) Zunächst einmal nämlich betont Aristoteles gerade auf den ersten Seiten der Rhetorik immer wieder seine Distanz zu denen, die es – wie eben die Sophisten beispielsweise – ohne Umwege auf Persuasion abgesehen haben. Stattdessen dominiert die Kritik an den technologountes, den zeitgenössischen Handbuchautoren, die ein immer wiederkehrendes Motiv abgibt. Ebenso präsent ist seine strikte Trennung von zulässigen und unzulässigen ÜberzeuJXQJVPLWWHOQKLHUZHLVWHUEHLVSLHOVZHLVHGLHH[SOL]LWH%HHLQÀXVVXQJGHU=Xhörer – seien es nun Richter oder Ratsmitglieder – mittels emotionaler Appelle scharf zurück.15 Situative Faktoren also, das scheint doch wohl der Impetus von Aristoteles’ Ausführungen im ersten Kapitel des ersten Buches zu sein, sollen gerade nicht im Fokus seiner theoretischen Auseinandersetzung mit der Redekunst stehen. Nicht um die Frage, womit man seinen Zuhörer überzeugen kann, geht es Aristoteles zunächst, sondern darum, ob es überhaupt eine Theorie der Rhetorik geben kann, die diesen Namen verdient. Offenkundig positioniert sich Aristoteles damit in der Debatte zwischen Platon und den Sophisten über Nutzen und Gefahren der Redekunst, ohne jedoch klar für eine Seite Stellung zu beziehen. Auch im Hinblick auf die Frage, wo die Rhetorik zwischen epistemischem Ideal und Praxisrelevanz einzuordnen sei, nimmt Aristoteles eine Mittelstellung ein. Einerseits will Aristoteles die Dignität der Rhetorik, die er in eine Reihe stellt mit den edelsten und nützlichsten Eigenschaften und Disziplinen,16 bewahren und gegen den Bann Platons in Schutz nehmen. Platon verdächtigt ja die Rhetorik, bloß dem Schein statt der Wahrheit YHUSÀLFKWHW ]X VHLQ XQG GLH =XK|UHU V\VWHPDWLVFK ]X WlXVFKHQ17 Andererseits ist es dem Schüler Platons darum zu tun, sich nicht mit den Redelehrern und Demagogen seiner Zeit gemein zu machen, die sich auf argumentative Kniffe und emotionale Appelle beschränkten, anstatt an einem reputierlichen Status der Rhetorik als téchnê zu arbeiten.18 .RQWUDVWLHUW PDQ DEHU GLH VSH]L¿VFKH$XVULFKWXQJ GHV HUVWHQ .DSLWHOV GHV ersten Buches mit dem Rest der Rhetorik, so drängt sich die Frage auf, ob die Rhetorik überhaupt einen kohärenten Ansatz verfolgt, oder ob sie nicht vielmehr einen eklatanten Bruch zwischen einer normativen und einer deskriptiven Betrachtung aufweist – einen Riss, der sich schwerlich kitten lässt. Diese Frage 14

15 16 17

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Die Rede ist von 3.14.9., 1415b 12; hier gebraucht Aristoteles das Wort, das sich als Schlüssel der sophistischen Rhetorikauffassung erwiesen hat, in einem denkbar konventionellen Sinne als ÄJQVWLJH*HOHJHQKHLW³bKQOLFKJHQHULVFKXQGEHODQJORVGHU*HEUDXFKYRQeukairôs in 1408b 1. 1.1.5., 1354a 25. 1.1.13., 1355b 5. Dagegen bringt Aristoteles einen gewissen epistemischen Optimismus ins Spiel: Die Menschen VHLHQÄKLQOlQJOLFK]XU:DKUKHLWEHVWLPPWXQGWUHIIHQGLHVHPHLVWHQVDXFK³±D 1.1.3., 1354a 11f.

wird in der Forschung ganz unterschiedlich beantwortet. Michael Cahn spricht JHUDGHKHUDXVYRQHLQHUÄ8QHLQKHLWOLFKNHLWGHV7H[WHV³XQGGLDJQRVWL]LHUWHLQH ÄDXJHQIlOOLJH,QNRKlUHQ]³'DVVÄLP9HUIROJVHLQHU$XVIKUXQJHQGLHHWKLVFK XQGSDWKHWLVFKSURGX]LHUWHQ=XVWLPPXQJHQ>@PHKUXQGPHKULQGHQ9RUGHUJUXQGUFNHQGDVVFKDIIWGLH>@%UXFKOLQLHGLHVLFKTXHUGXUFKGLHVH5KHWRULN ]LHKW³'HU:LOOH]XZLVVHQVFKDIWVI|UPLJHU7KHRUHWLVLHUXQJNROOLGLHUHVR&DKQ PLW GHP 6WUHEHQ QDFK 3UD[LVUHOHYDQ] 'HPQDFK VHL ÄGLH ZHQLJ IROJHQUHLFKH Rezeption dieses Werkes innerhalb der Geschichte der Rhetorik als NebenZLUNXQJ HLQHV DOO]X WLHIJUHLIHQGHQ 7KHRUHWLVLHUXQJVYHUVXFKV ]X EHJUHLIHQ³19 Andere Autoren versuchen sich an einer Interpretation, mithilfe derer sich die Einheitlichkeit des Textes gewährleisten lässt. Wenig überzeugend erscheint der entsprechende Ansatz Antje Hellwigs. Sie schreibt dem ersten Kapitel eine JHZLVVHUPD‰HQSURSlGHXWLVFKH%HGHXWXQJ]XÄ,QHLQHP*HGDQNHQH[SHULPHQW VWHOOW>$ULVWRWHOHV@GLH5KHWRULNXQWHULGHDOH%HGLQJXQJHQXPGDGXUFKGDV:HVHQWOLFKHDQLKULQGHQ*ULII]XEHNRPPHQ³±HUQHKPHÄGLH5HVWULNWLRQDXIGLH questio facti nur vor, um die eigentümliche Fragestellung der Rhetorik und das GD]XQ|WLJH0LWWHOKHUDXV]XNULVWDOOLHUHQ³+HOOZLJYROO]LHKWGHQYHUPHLQWOLFKHQ Bruch in der Tat lediglich nach, erklärt ihn aber nicht, wenn sie selbst wenige =HLOHQVSlWHUIHVWVWHOOWGDVVÄGDVDXVGHU(QWVFKHLGXQJGHV=XK|UHUVHUZDFKVHQde Tun Verantwortlichkeit voraussetzt und dass der Zuhörer daher vom Wert der 6DFKHEHU]HXJWVHLQPXVV³ZHVKDOEDXVVFKOLH‰OLFKIDNWLVFKH$UJXPHQWDWLRQHQ nicht ausreichend seien.20 Markus Wörner wertet das erste Kapitel als eine theoriestrategische MaßnahPH]XU1RELOLWLHUXQJGHV6XMHWV$ULVWRWHOHVVWHOOHÄSURJUDPPDWLVFKGDVMHQLJHLQ den Mittelpunkt der Betrachtung, was den Charakter der Objektivität und RatioQDOLWlWGHVUKHWRULVFKHQ9HUIDKUHQVJDUDQWLHUHQVROO³LQGHU$EVLFKWÄGLHUKHWRULsche dynamisEHUKDXSWHUVW]XHLQHPSKLORVRSKLVFKUHOHYDQWHQ*HJHQVWDQG³]X machen. Beinahe wörtlich greift Wörner eine Formulierung von Antje Hellwig DXIZHQQHUDOVÄ*HGDQNHQH[SHULPHQW³EH]HLFKQHWGDVGD]XGLHQHÄGDV :HVHQWOLFKH³GHU5KHWRULNKHUDXV]XSUlSDULHUHQ(UDN]HQWXLHUWDOOHUGLQJVVHLQH Position, indem er das erste Kapitel von einem philosophischen Impetus getraJHQVLHKWÄXQWHULGHDOHQ%HGLQJXQJHQJHOLQJWHV$ULVWRWHOHVVHLQHQ+|UHUQHLQH Konzeption von Rhetorik nahezubringen, deren Kern nicht die WahrheitsverGUHKXQJ LP 6LQQH GHU ,QWHUHVVHQ GHV 5HGQHUV VRQGHUQ GHU :DKUKHLWV¿QGXQJ GLHQW³21 Aufs Ganze betrachtet aber: Welche Komponente gewinnt schließlich die Überhand in Aristoteles’ eigener Befassung mit der Rhetorik? Geht es ihm in erster Linie um eine Philosophie der Rhetorik, um eine theory of civic discourse, wie etwa George A. Kennedy seine Übersetzung der Rhetorik im Untertitel nennt? Oder aber bleibt Aristoteles doch dem Ausgangspunkt seiner Überlegun19 20 21

Michael Cahn, Die Kunst der Überlistung, 63. Antje Hellwig, Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik bei Platon und Aristoteles, 108f. Markus Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, 70.

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gen, dem Funktionieren der Persuasion unter den Bedingungen des Alltags, vorGULQJOLFKYHUSÀLFKWHW"8QVHUH7KHVHDQGLHVHU6WHOOHLVWNODU$ULVWRWHOHV¶8Pgang mit dem Problem des decorum, mit der Frage nach der Angemessenheit, wird den Ausschlag geben dafür, wie er die offenkundige Spannung zwischen normativer und praktischer Orientierung seiner RhetorikVFKOLH‰OLFKDXÀ|VWXQG entscheidet.

Eine téchnê der wahrheitsgemäßen Persuasion? Außerordentlich vielschichtig sind die Fragestellungen, von denen die Argumentationslinien des ersten Kapitels – kaum fünf Seiten Text im griechischen Original – ihren Ausgang nehmen. Drei Themenbereiche stehen im Mittelpunkt: Erstens – und das ist gewissermaßen das übergreifende Thema – geht es um GHQ6WDWXVGHU5KHWRULNDOVÄRUGHQWOLFKHU³téchnê. Gegenstand dieser téchnê soll Persuasion sein. Sie bildet das zweite Thema, das zweite Leitmotiv. Aber: nicht irgendeine Persuasion, sondern legitime. Und legitime heißt: an der Wahrheit orientierte Persuasion. Dies ist das dritte Kriterium, um das es geht. Status der 5KHWRULNSODQYROOHÄ+HUVWHOOXQJ³YRQhEHU]HXJXQJXQGVFKOLH‰OLFKHSLVWHPLsche Stichhaltigkeit – das sind die drei Elemente, die Aristoteles zu verbinden sich im ersten Kapitel der Rhetorik vorgenommen hat. Schon die ersten Zeilen der Rhetorik lassen keinen Zweifel darüber bestehen, wie eng das Streben, andere zu überzeugen, mit der Lebenswelt verwoben ist. Lange bevor ein ausgebildeter Rhetor seine Zuhörer in einem institutionalisierten Rahmen als Mitglieder der Volksversammlung, als Richter oder Teilnehmer eines Festes mit gekonnt strukturierter, geschmückter Rede zu bewegen sucht, erfreuen sich natürliche Formen von Rede und Argumentation stetiger Präsenz, GHQQDOOHÄYHUVXFKHQELV]XHLQHPJHZLVVHQ*UDGHLQHUVHLWV]XKLQWHUIUDJHQDQGHUHUVHLWV]XEHJUQGHQHLQHUVHLWV]XYHUWHLGLJHQDQGHUHUVHLWV]XHUVFKWWHUQ³22 Schon die Beratung auf privater Ebene ist eine symbouleutische Rede in nuce, denn jeder einzelne ist stets Richter über die Überzeugungsleistung des anderen. Zwar stützt sich alltägliche Persuasion, gelingt sie denn, nicht auf rhetorische Unterweisung, und schon gar nicht hat sie ein gefestigtes Theoriewissen im Rücken: Auf der Ebene der phainomena argumentieren Menschen vielmehr eikê (aufs Geratewohl) oder dia synêtheian apo héxeôs (aufgrund einer durch Übung erworbenen Gewohnheit).23 Vor aller Verfeinerung durch eine Theorie der Überzeugungsmittel hebt Aristoteles ins Bewusstsein, dass sowohl das Talent als auch das Bedürfnis zu argumentieren zum Kern des Menschen gehören. Die Frage nach dem téchnê-Charakter der Rhetorik nun spannt den gedanklichen Bogen, der das ganze Kapitel überwölbt: Die einleitende Passage stellt das 22 23

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1.1.1., 1354a 5f. 1.1.2., 1354a 6f.

ergon rhetorischer téchnê in Aussicht, der Schluss des ersten Kapitels greift dieVHQ*HGDQNHQLPPHUQRFKSURYLVRULVFKZLHGHUDXIEHYRUGLHHQGJOWLJH'H¿nition der Rhetorik zu Beginn des zweiten Kapitels den Gedankengang – wenn auch auf unerwartete Weise – zum Abschluss bringt. Aristoteles’ Plan sieht vor, die Rhetorik auf dem unsicheren Boden der Praxis als téchnê zu konstruieren. Gleich in den ersten Zeilen des Textes stellt sich Aristoteles dieses Ziel, eine Methodik der Überzeugung aus dem vorgängigen, alltäglichen Gebrauch von Argumenten abzuleiten. Diesen zu analysieren und aus den Beobachtungen eine Methode zu destillieren nämlich sei téchnês ergon – die Aufgabe einer Kunst oder Wissenschaft, einer téchnê.24 Zwar relativiert er sie in der Weise, dass er es als Aufgabe der Redekunst nicht ansieht, Persuasionspotenziale, dort, wo sie vom Kenner der Materie erkannt werden, immer auch gleich nutzen zu müssen. %HZXVVWGH¿QLHUWHUMD5KHWRULNDOVGLH)lKLJNHLW]XQlFKVWHLQPDOEOR‰]XHUkennen, was persuasiv wirken könnte – tên aitian theorêin – nicht, sofort diese Wirkung auch erzielen zu wollen. Dieser Kautele zum Trotz aber können wir festhalten, dass seine systematische Betrachtung des Phänomens der Rhetorik QLFKWYRQHLQHPÄK|KHUHQ³1LYHDXDXVHUIROJWXQGHUVLFKQLFKWDXIHLQHSKLORsophische Kritik der Rhetorik beschränkt. Nein, er lässt sich auf das Phänomen der Persuasion ein und versucht, es systematisch in den Griff zu bekommen. Diese Vorgehensweise, den Phänomenbestand gleichsam erst zu sichten und dann auf den Begriff zu bringen, steht im Einklang mit der aristotelischen téchnê-Konzeption, die das Können, das aus Erfahrung erwächst, um ein rationales Verständnis ergänzt – nicht aber danach strebt, es zu ersetzen. Doch ist dies nur eine Seite der Medaille, schließlich wird jede téchnêSHUGH¿QLWLRQHP25 nicht minder gekennzeichnet von ihrer Fähigkeit zur poiesis. Daher ist leicht zu sehen, dass sich Aristoteles mit der Herleitung der téchnê rhetorikê aus der Alltagskommunikation auf eine Intention eingelassen hat, die jenseits einer bloß rekapitulierenden Argumentationslehre liegt. Indem er in Aussicht stellt, zu methodischer Reife zu führen, was in der Praxis stets angestrebt, jedoch nur unsystematisch erreicht wird, muss es ihm um eine Verstetigung des tatsächlichen Persuasionserfolges gehen. Nun ist offenbar, dass sich rednerischer Erfolg in der Praxis – ganz gleich, ob in der Form eines privaten Streitgesprächs oder aber als Produkt sophistischer deinotes ± VWHWV GH¿QLHUW EHU GLH =XVWLPPXQJ GHV =XK|UHUV ]XU 3RVLWLRQ GHV Redners. Es ist deshalb keineswegs offenbar, dass in einer Ableitung der téchnê rhetorikê aus der Lebenswelt ein Kriterium für eine differenzierte Betrachtung der Überzeugungsmittel mitangelegt ist – ein Kriterium also, das es nahelegen oder auch nur erlauben würde, Persuasionsversuche nach Schlüssigkeit oder Legitimität anstatt nach Erfolg zu bewerten.26 Im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Handbuchautoren zeigt Aristoteles ein akutes Gespür für die 24 25 26

1.1.2., 1354a 11. Arist. EN 1140a8, a18. Cf. DeWitt, 197.

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Untiefen rhetorischer Praxis: auf Seiten der Redner konstatiert er den Willen zur Manipulation; aber die prekäre Natur der Urteile beruht in gleichem Maße auch auf der Empfänglichkeit der Zuhörer für solche Strategeme. Stets ist es die ausschließliche Konzentration auf die Affekte der Zuhörer, die dazu führt, dass Gerichtsurteile zu parteilichen Verdikten pervertiert werden. Die Richter ]X=RUQ1HLGRGHU0LWOHLG]XYHUOHLWHQKDEHGHQJOHLFKHQ(IIHNWZLHÄZHQQ PDQGDVZDVPDQDOV5LFKWODWWHJHEUDXFKHQZLOO]XYRUYHUELHJW³27 Ganz vermeiden lässt sich diese emotionale Parteinahme der Richter scheinbar ohnehin schwer, denn die konkrete Verortung des Falles im Gefüge der polis löst bei den 5LFKWHUQ6\PSDWKLHQXQG$QWLSDWKLHQDXVVRGDVVÄLKU9HUJQJHQRGHU6FKPHU] GDV8UWHLOYHUGXQNHOQ³28 Gängige Erfahrung ist auch, dass private RechtshänGHOQXUJHULQJH$XIPHUNVDPNHLWEHLGHQ5LFKWHUQ¿QGHQGHQQGLHVHEHIDVVHQ sich nicht im eigenen Interesse mit dem verhandelten Fall – peri allôtriôn gar hê krísis.298QWHUVWUDWHJLVFKHQ*HVLFKWVSXQNWHQLVWHVGHVKDOEÄI|UGHUOLFKGHQ Hörer einzunehmen; denn seine Entscheidung trifft er über fremde Angelegenheiten, so dass die Zuhörer, indem sie auf ihren eigenen Vorteil sehen und auf *XQVWEH]HXJXQJHQK|UHQGHQ6WUHLWHQGHQZLOOIDKUHQDEHUQLFKWXUWHLOHQ³30 In all diesen Fällen wird zwar Persuasion bewerkstelligt und eine Entscheidung gefällt – die Aufgabe der Rhetorik also formal betrachtet erfüllt31 –, jedoch in HLQHPGH¿]LWlUHQ0RGXV Gerade die zuletzt zitierten Passagen heben ins Bewusstsein, dass Aristoteles den Begriff der krísis freihalten will von manipulativen Momenten: den Streitenden zu willfahren ist eben nicht gleichbedeutend damit, selber eine Entscheidung zu treffen. Unter krísis versteht Aristoteles nicht die affektgeladene Dezision des Moments, sondern ein von aufmerksamen Zuhörern geprüftes, bewusstes Urteil. Er bringt, so lässt sich resümieren, einen durchaus emphatischen Begriff von krísis in Anschlag, indem er die Rhetorik auf einen invarianten Maßstab – GLH:DKUKHLWQlPOLFK±YHUSÀLFKWHW*UXQGODJHGHV8UWHLOVQlPOLFKVROOQLFKWV :HQLJHUVHLQDOVÄGDV:DKUHKLQUHLFKHQG]XVHKHQ³±theôrein hikanôs to alêthes.32 Neben den Anspruch auf Persuasion tritt damit ein inhaltliches Kriterium. Auch auf der institutionellen Ebene verschieben sich die Akzente: Nicht allein um Persuasion, um die Bestimmung erfolgreicher Argumentationsweisen, kann es mehr gehen. Aristoteles hat vielmehr auch die prozedurale Integrität der (QWVFKHLGXQJV¿QGXQJGDVKHL‰WGLH(LQO|VXQJGHVVHQZDVGHQ6LQQLQVWLWXWLRnalisierter Rede bestimmt, im Auge; diese Integrität aber sieht er gefährdet, ja ad absurdum geführt, wenn Emotionen die Auseinandersetzung beherrschen und manipulative Techniken jenes objektive Urteilsvermögen verdunkeln, auf das GLH0HWDSKHUYRQGHU5LFKWODWWHDQVSLHOW7URHOV(QJEHUJ3HGHUVHQLGHQWL¿]LHUW 27 28 29 30 31 32

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1.1.1., 1354a 25f. 1.1.7., 1354b 11. 1.1.10., 1354b 33. 1.1.10., 1354b 33–35. 2.1.2., 1377b 20. 1.1.7., 1354b 10.

KLHU]XUHFKWHLQHÄYLWDOSUHPLVH$ULVWRWOHSUHVXSSRVHVDOOWKURXJKWKDWUKHWRULF RQDQ\FRQFHSWLRQRILWLVLQVWLWXWLRQDOO\DPDWWHURI:DKUKHLWV¿QGXQJ³33 Diese sowohl systematische wie auch institutionelle Nähe der Rhetorik zur Wahrheit ist – das zeigen auch die deskriptiven Schlaglichter, die Aristoteles immer wieder setzt – keineswegs selbstverständlich. Andererseits jedoch: Die YRUHLOLJH ,GHQWL¿]LHUXQJ YRQ 5KHWRULN XQG :DKUKHLW YHUELHWHW VLFK YRU GHP Hintergrund, dass Aristoteles selbst die Praxis als nicht-idealen Ausgangspunkt seiner Überlegungen gewählt hat. Die Aufgabe, der er sich nun gegenübersieht, besteht also vor allem darin zu erweisen, wie die téchnê rhetorikê den Blick auf die Wahrheit unabhängig von den Intentionen der Redner, also allein durch das für sie charakteristische Instrumentarium, eröffnen kann; die Möglichkeit der Ä:DKUKHLWV¿QGXQJ³PXVVVLFKDOVLKUHQWHFKQLVFKHV0HUNPDOHUZHLVHQ Darüber, als wie anspruchsvoll sich Aristoteles’ Ansatz damit erwiesen KDW JHKW *RQVDOY 0DLQEHUJHU KLQZHJ ZHQQ HU VFKRQ GLH (ORTXHQ] GH¿QLHUW DOVÄSURGXNWLYHV*HKDEHQGDVYRQULFKWLJHQ5HJHOQGHU5KHWRULNEHJOHLWHWLVW >@ 'LH (ORTXHQ] WULIIW GDV 5LFKWLJH LP %HUHLFK GHV 5HGHQV LP +LQEOLFN DXI GDVZRYRQGHU0HQVFKEHU]HXJWZHUGHQVROO³34 Dass dem nicht so sein kann, führt nicht nur die von Aristoteles immer wieder berücksichtigte Empirie, sondern auch Mainbergers eigene Formulierung des Problems der Rhetorik vor $XJHQ (V ÄVWHOOW VLFK LQQHUKDOE GLHVHU 'LV]LSOLQ QLFKW QXU GLH )UDJH ZLH HV zum richtigen Sprechen kommt, sondern das Statut der Disziplin selbst steht zur 'LVNXVVLRQ³35 Insofern kommt es einer petitio principii gleich, wenn Mainberger die Problematik, die téchnê als wahrheitsfähig überhaupt erst zu etablieren, durch eine Formulierung entschärft, die als gegeben verbucht, was allererst zu ]HLJHQZlUHÄ0LWGHU5KHWRULNDOV6\VWHPNRPPWLPPHUDXFKVFKRQGDV:DKUH LQGHQ%OLFN³'LHVHU2SWLPLVPXVKLQVLFKWOLFKGHU%H]LHKXQJYRQ7KHRULHXQG Praxis kann sich als berechtigt allein dann erweisen, wenn es Aristoteles gelingt, ein téchnê-immanentes Kriterium herauszuarbeiten, das es erlaubt, der Wahrheit in der Form eines objektiv richtigen Urteils zum Durchbruch zu verhelfen. Und genau das ist – kurz gesagt – die Intention des ersten Kapitels der Rhetorik.

Der entechnos methodos: Ziele und Mittel des ersten Kapitels Das Anfangskapitel der Rhetorik unternimmt es, alle problematischen Aspekte rhetorischer Theorie und Praxis zu einem bündigen Konstrukt zu amalgamieren: Persuasion einerseits – als Zielvorgabe eines lebensweltlichen Rhetorikbegriffs; Wahrheit andererseits – als Anforderung an die epistemische Qualität des durch  7URHOV (QJEHUJ3HGHUVHQ Ä,V WKHUH DQ (WKLFDO 'LPHQVLRQ WR $ULVWRWHOLDQ 5KHWRULF"³  ± deutsch im Original, eine Anspielung auf Markus Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, 70. 34 Gonsalv K. Mainberger, Rhetorica I, 41. 35 Op. cit., 36. 33

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lógos herbeigeführten Urteils; und schließlich die Etablierung der Disziplin als téchnê – gleichsam gegen die gemeinhin wechselvollen Bedingungen ihres Anwendungsfeldes. Das Konstrukt, das Aristoteles dazu im ersten Kapitel entwirft, ist der entechnos methodos. Eine Methode darzulegen, war ja das, was er zu Beginn in Aussicht gestellt hatte; nun geht es darum, sie in die Praxis einzubetten, und Aristoteles macht dies, indem er den entechnos methodos als Verfahren für die Gerichtsrede präsentiert: Eine ideale Gerichtsrhetorik, die darauf angelegt ist, die einander widerstrebenden Richtungsmomente in eine kohärente Konzeption zu integrieren. Schnell wird klar: Das geht nicht ohne weiteres. Der entechnos methodos erweist sich denn auch als instabiles Reaktionsprodukt der drei Elemente Persuasion, Wahrheit und poiesis, die sich nur synthetisieren lassen, wenn die äußeren Bedingungen ein Optimum erreichen. Wie steuert Aristoteles auf dieses Optimum zu? Er versucht dies, indem er HLQH 6WUDWHJLH GHU 'HNRQWH[WXDOLVLHUXQJ GHU 3XUL¿NDWLRQ GHU 3HUVXDVLRQ YHUfolgt.36 Dementsprechend steht das erste Kapitel des ersten Buches der Rhetorik ganz im Zeichen einer sachorientierten Rhetorikkonzeption, für die sich in der angelsächsischen Forschung die Bezeichnung austere view durchgesetzt hat. Ä7KHGRPLQDWLQJPRWLIRIWKLVLQWURGXFWRU\FKDSWHULVOLPLWDWLRQDQGUHVWULFWLRQ³ konstatiert Eckart Schütrumpf zurecht, denn Aristoteles entfaltet eine formal wie funktional, immanent wie auch durch Mechanismen äußerer Kontrolle reglementierte Konzeption der Rhetorik. Der Akzent liegt auf der Sicherung ihrer rationalen Qualität. Zugleich sucht Aristoteles den Kontrast seines Rhetorikverständnisses zu dem der technologountes – ein durchaus rhetorisch zu nennendes Vorgehen zur Untermauerung der eigenen Position. Dementsprechend gehen Kritik der Empirie – nämlich die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Handbuchautoren – und Konturierung der eigenen Konzeption Hand in Hand. Gegen die technologountes richtet Aristoteles den Vorwurf, sie befassten sich nicht mit dem Enthymem als sôma tês písteôsZDVPDQDOVÄ6XEVWDQ]GHU hEHU]HXJXQJVPLWWHO³EHUVHW]HQNDQQ±VRQGHUQQXUPLWGHPZDVDX‰HUKDOE des Sachverhaltes, exô tou prágmatos, liege. Aristoteles’ Strategie, legitimes rhetorisches Argumentieren an einen sachlichen Kern zu binden, liegt auch der Unterscheidung von pisteis einerseits und außertechnischen PersuasionsmögOLFKNHLWHQDQGHUHUVHLWVLQD±]XJUXQGHÄHLQ]LJGLHpisteis gehören zur téchnê DOOHV DQGHUH VLQG =XJDEHQ³ 0LW DQGHUHQ :RUWHQ 1LFKW MHGHV 0LWWHO das angewendet werden kann, um den Zuhörer zu überreden, verdient auch die Bezeichnung pistis – eine Bezeichnung, die sich insofern als normative Prägung herausstellt, als sie in der Praxis durchaus Wege zur Persuasion aus dem Bereich der téchnê ausgrenzt. Aristoteles fühlt sich aufgrund dieser Unterscheidungen berechtigt, den technologountes jeglichen Anspruch auf eine rhetorische téchnê streitig zu machen. In aller Deutlichkeit tritt damit der Ansatz hervor, dem das 36

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In diesem Sinne auch Jacques Brunschwig, Rhétorique et Dialectique, in: David Furley/Alexander Nehamas (eds.), $ULVWRWOHҲV5KHWRULF3KLORVRSKLFDO(VVD\V, Princeton 1994, 87. Er schreibt: Ä,OHVWELHQFRQQXTXHGDQVOHFKDSLWUH$ULVWRWHSUpVHQWH>@XQHFRQFHSWLRQSXULVWHHWLQWHOOHFWXDOLVWHGHODUKpWRULTXH³

erste Kapitel folgt. Er läuft hinaus auf eine starke These. Sie lautet: Wer das prágma verfehlt, verfehlt auch die téchnê.37 Drei persuasive Verfahrensweisen, die unter das Verdikt des exô toû pragmatos fallen, lassen sich ausbuchstabieren. Als irrelevant verwirft Aristoteles erstens Fragen der sprachlichen Präsentation, der Gliederung und Gestaltung von prooimion und diegesis. Diese zielten bloß darauf ab, so sein Einwand, den Hörer in eine günstige Stimmung zu versetzen.38 Zweitens verbannt er evaluative Äußerungen aus den Plädoyers der streitenden Parteien: Die Auseinandersetzung dürfe allein darum kreisen, ob etwas existiere respektive der Fall sei – also um die Aufdeckung der Fakten. Aufgabe der Gerichtsredner sei lediglich das deîxai tò prâgma; die Bewertung der Fakten jedoch solle allein den Richtern vorbehalten bleiben.39 Auf die entschiedenste Ablehnung schließlich stößt jede vorUDQJLJDXI(PRWLRQHQ]LHOHQGH5HGHWHFKQLN$ULVWRWHOHVZHL‰XPGHQ(LQÀXVV den emotionale Appelle auf das Urteilsvermögen haben. Nicht umsonst sieht er die pathe als Grund dafür, dass menschliche Urteile dem Wandel unterliegen: Ä$IIHNWHDEHUVLQGDOOHVROFKH5HJXQJHQGHV*HPWVGXUFKGLH0HQVFKHQVLFK HQWVSUHFKHQGLKUHP:HFKVHOKLQVLFKWOLFKGHU8UWHLOHXQWHUVFKHLGHQ³40 Den Einsatz der patheNULWLVLHUW$ULVWRWHOHVDOVÄDXIGLH3HUVRQGHV5LFKWHUVEH]RJHQ³ (pros ton dikastên XQGVWHOOWLKQGHQhEHU]HXJXQJVPLWWHOQHQWJHJHQGLHÄDXI GHQ6DFKYHUKDOWEH]RJHQ³ peri toû prágmatos) sind.41 Kurz gesagt: Aristoteles lehnt hier alle die Überzeugungsstrategien ab, die ihr Augenmerk eher auf die Reaktion des Hörers legen als auf den Bezug zur Sache. $XVGLHVHQ(UZlJXQJHQHUJLEWVLFKGDV6SH]L¿NXPMHQHUhEHU]HXJXQJVPLWtel, die Gegenstand der téchnê werden können: Sie fungieren als Scharnier zwischen téchnê und pragma, müssen Persuasion und Gegenstand miteinander in Beziehung bringen. Die Bestimmung der entechnischen Überzeugungsmittel ist sowohl für die Etablierung der Rhetorik als téchnê als auch für die angemessene, und das heißt dem pragma gemäße, Argumentation zentral. Miles Burnyeat bringt die terminologische wie systematische Tragweite dieser aristotelischen Zuspitzung der Grundlagen von Persuasion auf Objektivität hin auf den Punkt: Ä6RKHLVWDNLQJLWWKDWSLVWLVUHDOO\GRHVPHDQSURRIQRW PHUH SHUVXDVLRQDV GLVFXVVHGLQWKHKDQGERRNV³42 Der einzig legitime Gegenstand des entechnos

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All diese Erwägungen lässt Helen DeWitt vollkommen außer Acht. Es lässt sich angesichts der Argumentation des ersten Kapitels kaum verstehen, wie sie etwa zur folgenden Einschätzung NRPPHQNDQQÄ>$ULVWRWOH@QHYHUVXJJHVWVWKDWWKHRUDWRUVKRXOGHVFKHZVRPHRIWKHPHWKRGV FDOOHGIRUWRSHUVXDGHDYXOJDUDXGLHQFH³±FI'H:LWW 1.1.9., 1354b 16–21; Aristoteles greift genau diesen Gesichtspunkt wieder auf, wenn er sich der Behandlung des prooemiums in der dikanischen Rede zuwendet – cf. 3.14.8., 1415b 5–6. 1.1.6., 1354a 27–31. 2.1.5., 1378a 19–22. 1.1.3., 1354a17f. Miles Burnyeat, Enthymeme: Aristotle on the Rationality of Rhetoric, in: Amélie Oksenberg Rorty (ed.), Essays on Aristotle’s Rhetoric, Berkeley/Los Angeles/London 1996, 94.

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methodos kann mithin nur darin bestehen, die Auseinandersetzung allein mit Fakten auszutragen – autois tois pragmasin agônizesthai.43 Dem Negativmodell der technologountes stellt Aristoteles also ein Rhetorikverständnis entgegen, das dem Enthymem sowohl unter theoretischen als auch unter praktischen Vorzeichen den Vorrang einräumt. Das Diktum des Anfangs, in dem das Enthymem als soma tês pisteôs ausgezeichnet wurde, entfaltet Aristoteles, indem er die Überzeugungsgewinnung – pistis – ganz allgemein auf ÄHLQH$UW%HZHLV³44]XUFNIKUWZREHLHUGDV(QWK\PHPDOVGLHVSH]L¿VFKUKHtorische Form des Beweisens bezeichnet. Auch die Wirkung des Enthymems für die Persuasion leitet sich aus der Annahme ab, dass Beweise am überzeugungsNUlIWLJVWHQZLUNHQ±ÄGHQQZLUJODXEHQGDDPPHLVWHQZRZLUDQQHKPHQGDVV HWZDVEHZLHVHQVHL³,QGHU.RQVHTXHQ]QHQQW$ULVWRWHOHVGDV(QWK\PHPÄGDV PlFKWLJVWHGHUhEHU]HXJXQJVPLWWHO³±kyriôtaton tôn pisteôn.45 Angesichts der zentralen Stellung des Enthymems kann es nicht verwundern, wenn Aristoteles vor allem ein Kriterium für den guten Redner aufstellt: er muss ein enthymematikos sein. Soweit die theoretischen Weichenstellungen. Aber welche praktische Anwendung hat Aristoteles im Auge?

Die Konzeption einer idealen Gerichtsrhetorik Als Ausgangspunkt seiner Analyse wählt Aristoteles die forensische Rede; er beginnt also mit einem Redegenre, das er offensichtlich selbst als besonders anfällig für manipulative Effekte erachtet. Doch im Rahmen dieser Kritik stellt er auch fest, dass nicht alle Genera der Rede in gleicher Weise zur Persuasion exô toû pragmatos geeignet scheinen: Während sich die Zuhörer vor Gericht EHUHLWZLOOLJDXIGLH1HEHQJOHLVHVDFKIHUQHU$UJXPHQWHXQGDIIHNWLYHU%HHLQÀXVsung führen lassen, achten sie in der Volksversammlung im eigenen Interesse GDUDXIGHQ6DFKYHUKDOWQLFKWDXVGHQ$XJHQ]XYHUOLHUHQÄ'HQQKLHUXUWHLOWGHU Urteilende über eigene Angelegenheiten, so dass es weiter nichts bedarf, als auf]X]HLJHQGDVVHVVLFKVRYHUKDOWHZLHGHU5DWJHEHUEHKDXSWHW³46 Insofern hier der erstrebte Zusammenhang von Sachorientierung und Überzeugung viel eher gegeben scheint, erweist sich die Beratungsrede gegenüber dem Plädoyer vor Gericht als der geeignetere Ausgangspunkt für methodische Erwägungen. Dazu kommt der inhaltliche Vorrang des genos symbouleutikon'DÄGLH%HVFKlIWLgung mit der politischen Rede ehrenvoller und für das Staatswohl wichtiger ist DOVGLHPLW3ULYDWYHUKlOWQLVVHQ³NDQQHVRKQH=ZHLIHOGDVHGOHUH6XMHWIUVLFK beanspruchen.47 – Umso mehr verwundert es, dass Aristoteles seine einleiten43 44 45 46 47

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3.1.5., 1404a 5–6. 1.1.11., 1355a 5: pístis apódeixis tis. 1.1.11., 1355a 7. 1.1.10., 1355a 29–31. 1.1.10., 1354b 23–25.

de Untersuchung am Beispiel der Gerichtsrede durchführt. Der Verdacht liegt nicht fern, dass argumentationsstrategische Beweggründe den Ausschlag dafür geben. Denn auch wenn man den Gedanken, dass die aristotelische Rhetorik, so wie sie uns heute vorliegt, eine Kompilation aus Vorlesungsmitschriften sein könnte und unterschiedliche Phasen in Aristoteles’ Rhetoriklehre widerspiegelt, VRNDQQGLH$XVZDKOGHU*HULFKWVUHGHDOV3DUDGHEHLVSLHOIUÄHQWHFKQLVFKH³$Ugumentation schwerlich als Zufall durchgehen. Stattdessen gibt es gute Gründe, VLFKDXIGLH*HULFKWVUHGH]XEH]LHKHQZLOOPDQGDV,GHDOELOGHLQHUÄVDXEHUHQ³ von den Umständen möglichst wenig kontaminierten Rhetorik in den Vordergrund rücken. Vier Strukturmomente lassen sich aufzählen, die die ideale Gerichtsrede charakterisieren. Zwei davon – Isolierbarkeit und Faktizität – sind intrinsische Merkmale der Gerichtsrede; für zwei weitere Charakteristika – Objektivität und .RGL¿]LHUXQJ ± JUHLIW$ULVWRWHOHV DXI H[WULQVLVFKH 5HJXOLHUXQJ QlPOLFKH DXI Gesetzgebung, zurück. 1. Faktizität. Als einziges der drei Genera hat die Gerichtsrhetorik mit faits accomplis zu tun. Allein beim dikanischen Genus ist es überhaupt sinnvoll, dem pragma Tatsachencharakter zuzusprechen, denn nur hier speisen sich die PräPLVVHQDXVGHPÄZDVGHU)DOOLVWE]ZQLFKWGHU)DOOLVWZREHLGHU%HZHLVXQG die Notwendigkeit von entscheidender Bedeutung sind; denn Geschehenes beVLW]W1RWZHQGLJNHLW³48,GHQWL¿]LHUEDUH7DWVDFKHQDOVRVLQGXQDEGLQJEDUZHQQ sich das Enthymem tatsächlich als stärkstes Überzeugungsmittel erweisen soll. Allein wenn der Schluss zwingend ist, lässt sich das Enthymem unzweideutig in Persuasion ummünzen. Die Aufgabe der Streitparteien ist lediglich, diese Fakten zutage zu fördern. 2. Isolierbarkeit. Ein zweiter Vorteil des dikanischen Genus, den sich Aristoteles zunutze machen kann, liegt in der Begrenzbarkeit des pragma: Gerichtsrhetorik hat es immer mit einem Fall zu tun, also mit einem klar abgegrenzten Handlungszusammenhang. (Wenngleich natürlich die Statuslehre gerade dahinJHKHQGQXW]EDULVWGLH*UHQ]HQ]ZLVFKHQ6SH]L¿VFKHPXQG$OOJHPHLQHPHLQzureißen, indem man den Einzelfall zur Instantiierung genereller Fragen macht.) Um ein Urteil fällen zu können, ist es jedenfalls nicht zwingend, den Fall in einen umfassenden Kontext einzubetten. Anders als etwa bei politischen Entscheidungen, die nur im Kontext komplexer und auf die Zukunft gerichteter Handlungsorientierung ihren Sinn gewinnen, ist in der Gerichtsrhetorik eine auf Tatsachen orientierte Betrachtung leichter möglich – und diese kommt einem Argumentieren in Enthymemen entgegen. Neben diesen inhärenten Vorteilen des Gerichtsverfahrens für Aristoteles’ Vorhaben nimmt die Herausarbeitung optimaler legislativer Rahmenbedingungen breiten Raum im ersten Kapitel ein. Wie eminent wichtig die Rolle der Gesetzgebung für Aristoteles’ Strategie ist, lässt sich schon daran ablesen, dass er Verfassungen danach differenziert, inwieweit sie Auswüchse der Redekunst 48

3.17.5., 1418a 5.

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verhindern. Der Aktionsrahmen der Rhetorik soll begrenzt werden, indem das Sprechen exô toû pragmatos verboten wird.49 Daraus gewinnt er zwei weitere Bedingungen für die Umsetzung des entechnos methodos in Überzeugung: 3. Neutralität. Die wohl weitreichendste Abweichung von empirischer Praxis OLHJWLQGHU9HUSÀLFKWXQJGHU5HGQHUDXI1HXWUDOLWlW6LHVROOHQGLH7DWVDFKHQ JOHLFKVDPEOR‰UHIHULHUHQGUIHQ(VÄLVWRIIHQEDUGDVVQLFKWVLQGHQ$XIJDEHQbereich einer Streitpartei fällt außer den Sachverhalt zu zeigen, dass er ist oder QLFKWLVWJHVFKHKHQLVWRGHUQLFKWJHVFKHKHQLVW³50 Im gleichen Atemzug sagt Aristoteles auch, was nicht Aufgabe der Opponenten ist – nämlich Bewertungen vorzubringen, etwa Sachverhalte als wichtig oder unbedeutend, Handlungen als gerecht oder ungerecht darzustellen. Auf diese Weise wird gerade jene Dynamik suspendiert, die zu entwickeln das Hauptanliegen eines jeden Redners ist – nämlich den Streitgegenstand in ein parteiliches Licht zu tauchen. Die Möglichkeit, GDVV HV XQWHUVFKLHGOLFKH NRQÀLJLHUHQGH 3HUVSHNWLYHQ DXI GLH 5HDOLWlW JHEHQ könnte, kommt dank dieses Eingriffes51 gar nicht erst in den Blick. Parteilichkeit wird als akzidentelles Merkmal der Praxis ausgewiesen, an dessen Stelle der unzweideutige Bezug auf das pragma treten soll. 4. Universalität der Gesetze, .RGL¿]LHUXQJ. Die vor parteilichen Darstellungen geschützte Einheitlichkeit des richterlichen Verständnis- und Beurteilungshorizontes wird nun dadurch noch befestigt, dass die Grundlage der richterlichen Entscheidung als konsistent gedacht wird: ein umfassend ausgearbeiteter *HVHW]HVEHVWDQGVROOJDUDQWLHUHQGDVVDOOHGHQNEDUHQ)lOOHLKUHVFKRQNRGL¿]LHUWH5HJHOXQJ¿QGHQ52 also nicht erst der Abwägung bedürfen. Bei genauerem Hinsehen beschränkt sich das Urteil der Richter auf eine Subsumptionsleistung: 6LHEUDXFKHQHLQH7DWQXUDOVHLQHVRXQGVRNRGL¿]LHUWH6WUDIWDW]XLGHQWL¿]LHUHQ – das dafür adäquate Strafmaß hingegen lässt sich schon dem Gesetz entnehmen.53 Aristoteles setzt – vor dem Hintergrund der von ihm beklagten Gerichtspraxis emotionaler Appelle und unsachlicher Argumentation – alles daran, die Lücke zwischen Fakten und Gesetzen so schmal wie möglich zu halten und den Ermessensraum der Richter auf das Mindestmaß einzuengen. Indem er sowohl die Redner als auch auf die Richter unter die Kuratel der Polisgesetze stellt, dichtet er das Procedere gegen als illegitim erachtete Strategien ab. Zugleich beschränkt er das richterliche Raisonnement. Auf diese Weise bindet Aristoteles das Urteil an zwei Fixpunkte – an das als objektiv feststellbare pragma auf der einen, an die bereits feststehenden Gesetze der Polis auf der anderen Seite. Genau betrachtet ist es Aristoteles darum zu tun, all die Faktoren stillzustellen, die aus der partikularen Situation entspringen. Und mit den situativen 49 50 51

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1.1.6., 1354a 22–24. 1.1.6., 1354a 27–29. Cf. Schütrumpf, Some Observations, David Furley / Alexander Nehamas (eds.), Aristotle’s Rhetoric. Philosophical Essays, Princeton 1994, 106. 1.1.7., 1354a 31f. Cf. 3.17.10., 1418a 26f.

Elementen schwindet auch der Bedarf an einem Kriterium der Angemessenheit – oder genauer: die Notwendigkeit, sich überhaupt zu fragen, was angemessen ist. Denn wo es nichts Partikulares, nichts dem Moment und den Umständen Geschuldetes gibt, muss es auch in einer Theorie der Rhetorik keine AufmerkVDPNHLW¿QGHQ'HQ+|UHUEH]XJ]XPLQLPLHUHQMDDXV]XVFKOLH‰HQLVWGHUHUVWH wichtige Schritt, um situativ gebundene Faktoren zu annullieren.54 Außerdem reduziert Aristoteles die Vielfalt möglicher Persuasionsstrategien auf eine einzige: das Enthymem. Das Szenario, das Aristoteles modellhaft entwickelt, ist mithin von einem Maximum an vorweg Determiniertem gekennzeichnet. Kontingenz auszuschließen und die Durchlässigkeit der Situation für die téchnêgerechte Argumentation zu maximieren, ist das Ziel der idealen Gerichtsverhandlung im ersten Kapitel. Aktionsradius der Redner und die Reichweite des richterlichen Urteils hingegen sind auf das Äußerste reduziert.

Taugt das pragma der Rhetorik als Ankerpunkt für die téchnê? Trägt diese Konzeption? Befolgt Aristoteles sie im Rest der Rhetorik? Um das ]XEHUSUIHQKHL‰WHVVHLQH'H¿QLWLRQGHVWpFKQrJHPl‰HQ$UJXPHQWLHUHQVDOV autois tois pragmasin agônizesthai genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie stellt den Sachverhalt, den Inhalt, das Thema der Rede in den Mittelpunkt und scheint darin den Anker für eine rhetorische téchnê auszumachen. Ist das Sujet der Rhetorik wirklich so homogen? Aristoteles selbst schürt daran Zweifel. Schon die zweite Zeile des Textes enthält eine Andeutung, wie schwierig es sein wird, das Sujet der Rhetorik zu fassen; Aristoteles spricht die Gegenstände GHU5KHWRULN]ZDULP3OXUDODQZHQQHUVDJWVLHEH]LHKHVLFKDXIÄGHUOHL³±VLH sei peri toioutôn tinôn, er nennt jedoch keine konkreten Inhalte. Das erscheint weniger erstaunlich, hält man sich vor Augen, wie ausgedehnt das Einsatzfeld lebensweltlicher Argumentation ist: Begründungen überprüfen und die Legitimität von Handlungen diskutieren55 zu können hat inhaltliche Flexibilität zur 9RUDXVVHW]XQJIROJHULFKWLJELOGHWÄGDV*HJHEHQH³GHQ$XVJDQJVSXQNW56 DieVHVFKDUDNWHULVWLVFK8QVSH]L¿VFKHZLUGGDGXUFKQRFKEHNUlIWLJWGDVVUKHWRULVFK verhandelte Sujets epistemisches Allgemeingut sind, was durch die natürliche Präsenz rhetorischen Verhaltens im Leben schon nahegelegt und durch die Aussage bestätigt wird, alle Menschen hätten Anteil an der Erkenntnis der Gegenstände der Rhetorik.57 Irgendeine Exklusivität des Wissens gehört mithin nicht zu den Merkmalen der Rhetorik; ihre Aufgabe ist es nicht, nach epistêmê zu stre54

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Eine Tatsache im Übrigen, die verdeutlicht, wie isoliert Arist. Rhet. 1.1. innerhalb des übrigen Textes der RhetorikVWHKW±GHQQGLH'H¿QLWLRQGHU5KHWRULNLQ±XQGDXFKDOOHZHLWHUHQ Überlegungen – stellen den Hörer mit seinen kognitiven Mängeln als zentralen Bezugspunkt dar. 1.1.1., 1354a 5f. Cf. 1.2.1., 1355b 31–34. 1.1.1., 1354a 2f.

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ben.58 Ja, es stellt sich sogar immer deutlicher heraus, dass die Rhetorik gar kein konkretes, inhaltlich zu umreißendes Sujet hat. Der Vergleich mit den Wissenschaften, den Aristoteles immer wieder anstellt, lässt den mangelnden Anspruch der Rhetorik auf epistemische Autorität, der gewissermaßen die Kehrseite ihrer Nichtidentität mit bestimmten Inhalten darstellt, noch klarer hervortreten. Im Verlauf des ersten Buches grenzt Aristoteles die Rhetorik zweimal von den Wissenschaften ab. Beide Male zieht er eine Demarkationslinie dahingehend, dass die sachliche Durchdringung bestimmter Themen oder die Wahl IDFKVSH]L¿VFKHU 3UlPLVVHQ YRP 7HUUDLQ GHU 5KHWRULN ZHJIKUW 6R ÄZLUG MHmand, je besser er die Vordersätze auswählt, desto eher ein festes, von Dialektik und Rhetorik verschiedenes Wissen hervorbringen. Denn wenn er zufällig auf die Prinzipien zu reden kommt, so wird es nicht länger Beredsamkeit sein, VRQGHUQMHQH'LV]LSOLQPLWGHUHQ3ULQ]LSLHQHUVLFKEHVFKlIWLJW³59 Aristoteles VHOEVWUHVSHNWLHUWEHLGHU%HKDQGOXQJGHUVSH]L¿VFKHQ7RSRLGHUidia, stets den $EVWDQG ]X )DFKGLV]LSOLQHQ Ä(LQ]HOQ QXQ JHQDX DXI]X]lKOHQ XQG EHJULIÀLFK zu bestimmen, worüber man gewöhnlich verhandelt und sodann noch darüber GHU:DKUKHLWJHPl‰±VRZHLWZLHP|JOLFK±'H¿QLWLRQHQDE]XJHEHQGDUI>@ nicht Gegenstand unserer Untersuchung sein, weil dies nicht Sache der Rhetorik LVWVRQGHUQHLQHU:LVVHQVFKDIW>@³60 Für die Frage nach dem Gegenstand der Rhetorik ergibt sich also ein paradoxes Bild: Jedes Sujet, dem sie sich intensiv ]XZHQGHWVFKHLQWVLFKDXVLKUHP=XVWlQGLJNHLWVEHUHLFK]XYHUÀFKWLJHQ (KHUEHLOlX¿JZDUQW$ULVWRWHOHVGDYRUGLH5KHWRULNLQKDOWOLFKEHU]XEHDQspruchen und gibt damit den entscheidenden Hinweis auf das fachübergreifende theoretische Interesse der Rhetorik: Sie ist – wie die Dialektik – keine WissenVFKDIWYRQ,QKDOWHQVRQGHUQÄYRQGHU5HGHDOOHLQ³61 Ihre Kompetenz liegt nicht in der systematischen Erforschung einer Sache, sondern richtet sich auf einen Gegenstand zweiter Ordnung: auf das Bereitstellen von Argumenten. Sie ist eine dynamis tis porisai logous.62 Doch während die Dialektik auf dem Wege der Begriffsklärung ihre ursprünglichen Prämissen zu übersteigen vermag und auf wissenschaftliches Terrain vordringt, bleibt die Rhetorik fest in der Lebenswelt verankert.63 Mit dieser Aufweichung des angeblich doch so fest umrissenen Gegenstandsbereiches der Rhetorik aber lässt es Aristoteles keineswegs bewenden. Tatsächlich macht er im pragma selbst jenen strittigen Kern aus, den er zunächst, so hatte es doch den Anschein, nicht einmal in der Darlegung und Präsentation des Sachverhaltes durch die Redner zulassen wollte. Ganz offenkundig reicht es nicht aus, einfach nur die Faktizität des Redegegenstandes aufzuzeigen – denn genau diese Faktizität scheint ihm von Natur aus abzugehen. Dies wird etwa 58 59 60 61 62 63

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1.2.7., 1356a 32f. 1.2.21., 1358a 25ff. 1.4.4., 1389b, und auch 1.4.13., 1360a. 1.4.6., 1359b 12–16. 1.2.7., 1356a 33. Philip Nel, Between argumentation and seduction, 97.

GXUFK$ULVWRWHOHV¶ )RUPXOLHUXQJ GHXWOLFK 5KHWRULN EHIDVVH VLFK VWHWV PLW ÄLP *HJHQVDW]6WHKHQGHP³GDVpragma ist also mitnichten als einheitlicher Sachverhalt zugänglich, sondern präsentiert sich immer schon in Alternativen und Gegensätzen!64 :LU EH¿QGHQ XQV QLFKW LP *HULFKWVVDDO HLQHV ZRKOJHRUGQHWHQ Gemeinwesens, sondern auf dem unbeständigen Terrain der Lebenswelt, auf GHPÄNHLQH*HZLVVKHLWLVWVRQGHUQ=ZHLIHOKHUUVFKW³±to akribes mê estin alla to amphidoxeîn.65 Unterschiedliche Meinungen und Perspektiven liegen mithin in der Natur des pragma. Das bestimmende Merkmal rhetorischer pragmata ist JHUDGHLKUH8QWHUEHVWLPPWKHLW,KU6SH]L¿NXPLVWGDVVVLHNHLQHVKDEHQVWDWWGHVVHQVLFKVWHWVÄDXFKDQGHUVYHUKDOWHQN|QQHQ³±bouleuómetha de peri tôn phainoménôn endechesthai amphotérôs echein.66 Rhetorik tritt gerade dort auf den Plan, wo gesicherte Methoden aussetzen, also keine technai zur Verfügung stehen – téchnas mê echomen.67 Dennoch EHQ|WLJWGLH5KHWRULNHLQHIUVLHVSH]L¿VFKH0HWKRGHGLHHVLKUHUODXEWGLH kontingenten pragmata zu behandeln und sie zum argumentativen Umgang mit Alternativen und Gegensätzen befähigt. Bereits in einer frühen Passage des Textes stellt Aristoteles die Fähigkeit, Gegensätzliches zu beweisen – tanantía syllogízesthai68 – als diese konstitutive Kompetenz des Redners heraus. Den argumentativen Zugang zu den Gegensätzen eröffnet dem Redner seine Fähigkeit zum Argumentieren auf beiden Seiten eines Sachverhalts – ein Verfahren, das in der rhetorischen Tradition unter dem Begriff des in utramque partemJHOlX¿J ist. Aristoteles hält dieses Vermögen für fundamental. Er bewertet es keineswegs als einen Kniff zur Durchsetzung eines interessegeleiteten Standpunktes, sondern als eine notwendige Methode der inventio. Sie dient dazu, die Sachlage ]XGXUFKGULQJHQÄGDPLWHVXQVQLFKWHQWJHKWZLHHVVLFKYHUKlOW³69 Argumentationstheoretisch schlägt sich diese gewandelte Perspektive im Status der Prämissen des Enthymems nieder: Sie werden nicht aus notwendig wahren oder auf Tatsachen basierenden Vordersätzen gebildet, sondern aus Wahrscheinlichem und aus Indizien, ex eikótôn kai ek sêmeiôn.70'DÄGDVZDV eben nur meistenteils eintrifft und sein kann, notwendig auch nur aus Prämissen ähnlicher Art, das Notwendige dagegen nur aus dem Notwendigen gefolgert ZHUGHQNDQQ³WULWWQXQGLH:DKUVFKHLQOLFKNHLWDQGLH6WHOOHGHULPentechnos methodos zuvor erhobenen Wahrheitsansprüche. Rhetorische Argumente beziehen ihre Geltung mithin daraus, wie es sich meistenteils verhält, aus dem hôs epi to poly71 und verfügen keineswegs über einen Grad an Bestimmtheit, der 64

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1.1.12., 1355a 36. Das ist nichts anderes als seine Paraphrase des protagoreischen dyo-logoiFragments! 1.2.4., 1356a 7–8. 1.2.12., 1357a 4–5; cf. 1.2.14., 1357a 23–24. 1.2.12., 1357a 2. Ibid. 1.1.12., 1355a 33. 1.2.14., 1357a 32. 1.2.14., 1357a 27; cf. 2.22.3., 1396a 2–3.

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hinreichend wäre, Persuasion aus dem Aufzeigen der Sachverhalte allein, also aus dem, was Aristoteles das deixai to pragma nennt, zu gewinnen.72 Deshalb PVVHQÄDQGLH6WHOOHGHUORJLVFKHQ(LQVLFKWLJNHLWHQDQGHUH)DNWRUHQWUHWHQVLH OLHJHQQLFKWPHKULQGHU6DFKHVRQGHUQLP+|UHU³73 – Damit ist die Frage nach der Angemessenheit in aller Klarheit gestellt.

Zwischenbilanz: Eine téchnê der Praxis? Insgesamt kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Harmonie von Theorie und Praxis, von Ursache und Wirkung, von Argumentation und Persuasion, die Aristoteles in Form des entechnos methodos etabliert, das Ergebnis einer umIDVVHQGHQ 6WLOLVLHUXQJ LVW 0HKU QRFK (V HUZHLVW VLFK GDVV GLH 3XUL¿NDWLRQ der Aristoteles die Rhetorik unterzieht – einerseits, um Argumentation und Persuasion ineinander zu überführen, andererseits um die Rhetorik in den Kanon der technai einzureihen –, sich als ein Reduktionismus erweist, der gegen die genuine Leistung der Rhetorik gerichtet ist. Das hat Aristoteles’ eigene Analyse des pragma gezeigt. Ironischerweise zerbricht die kristalline Trias aus pragma, pistis und poiesis also an der Mannigfaltigkeit eines dieser Elemente, des pragma: das Objekt der Rhetorik selbst unterminiert das Fundament aus Objektivität, das Aristoteles zu legen bestrebt ist. Der Grund dafür liegt in der nicht vorhersehbaren KomplexiWlWGHU3UD[LVÄ$ULVWRWOH¶VDVVHUWLRQVDERXWKLVDUWVHHPWRPDNHUKHWRULFLQWRDQ art and a power which operates by articulating rules for a domain beyond rules. His rhetoric is an art of praxis, but praxis is too bound up with particulars to be IXOO\UXOHERXQG³74 Die Frage nach der Angemessenheit – im Sinne der Situationsgebundenheit von Persuasion –, die Aristoteles im entechnos methodos so penibel auszuklammern versucht hat, kommt durch die eingehende Analyse des pragma wieder ins Spiel. Es hat sich erwiesen, dass Aristoteles’ Ausgangspunkt der alltäglichen Persuasion nicht in Einklang zu bringen ist mit seiner restriktiven Auffassung zulässiger Überzeugungsmittel. Dem Enthymem alleine eine so herausragende Rolle zuzuweisen, ist – mit Blick auf die Beschaffenheit genuin rhetorischer Fragestellungen – nicht anders als unangemessen zu nennen. Kurzum, der epistemisch rigorose Ansatz verfängt nicht. 72

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Im gleichen Sinne äußert sich Aristoteles auch in der Nikomachischen EthikÄ,P%HUHLFKGHU Handlungen und des Förderlichen gibt es nichts Stabiles, wie auch nicht beim Gesunden. Denn weder eine Wissenschaft noch eine allgemeine Empfehlung ist dafür zuständig, sondern die +DQGHOQGHQVHOEVWPVVHQGLHMHZHLOLJH/DJHEHGHQNHQ³±ta pros ton kairon skopein±ÄHEHQVR ZLH LQ GHU 0HGL]LQ XQG GHU 6WHXHUPDQQVNXQVW³  D II ± %HPHUNHQVZHUW DQ GLHVHU Stelle übrigens wieder das Zusammentreffen der beiden Elemente kairós und iatrikê! Hellwig, Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik, 48. Garver, Aristotle’s Rhetoric: An Art of Character, 19.

(QWVFKHLGHQGH:HLFKHQVWHOOXQJHQGLH'H¿QLWLRQGHU5KHWRULNLQ Es ist interessant zu sehen, welchem der beiden Elemente, die Aristoteles in den ersten Zeilen nannte – nämlich die téchnê einerseits, das Phänomen der Persuasion andererseits – er letztlich den systematischen Vorrang einräumt insofern, als er es im weiteren Fortgang seiner Untersuchungen ins Zentrum stellt: nicht die Frage nach einer téchnê der Rhetorik, denn diese ist durch die Analyse der Natur und Beschaffenheit des pragma negativ beschieden, auch wenn Aristoteles dies nicht so sagt. Nein, es ist das Element der Persuasion. Fast scheint es, als hätte Aristoteles im Verlauf der Argumentation festgestellt: Das Streben nach Persuasion ist das Charakteristikum, auf das seine Rhetorik nicht verzichten kann, will sie nicht zu etwas ganz anderem werden. Tatsächlich liegt darin, dass sich Aristoteles auf das lebensweltliche Phänomen der Persuasion von Anbeginn einlässt und auch klar feststellt, dass es diese Persuasion ist, von der die téchnê lediglich abgeleitet ist, eine, nein: die entscheidende Weichenstellung der ganzen Rhetorik. Aristoteles blendet nicht etwa aus oder stellt grundsätzlich in Frage, dass es Persuasionsbedarf gibt – nein, er erkennt ihn sogar ausdrückOLFKDQ'LH5KHWRULNLVWÄJHIUDJWLQVROFKHQ)lOOHQLQGHQHQZLUEHUDWHQRKQH EHVWLPPWH/|VXQJVDQVlW]HEHUHLW]XKDEHQ³75±LPPHUGDQlPOLFKÄZRHVHLQH *HZLVVKHLWQLFKWJLEWVRQGHUQ=ZHLIHOEHVWHKHQEOHLEHQ³76 Und diese Fälle sind ebenso zahlreich wie sie konstitutiv sind nicht nur für das politische Leben der polis, sondern für die menschliche Handlungsorientierung überhaupt. Dies war ja genau die Aufgabe der Rhetorik, der sich schon die Sophisten mit allem Nachdruck zugewandt hatten. So nachdrücklich sich Aristoteles von ihnen distanziert hatte, so nahe steht er ihnen letztlich doch, wenn es um solche Grundfragen geht. Was haben diese Überlegungen mit der Frage nach der Angemessenheit zu tun? Erstens ist deutlich geworden, dass es die Situationsgebundenheit des Rhetorischen war, die sich als Stolperstein für die Frage nach der epistemischen Angemessenheit einer rhetorischen téchnê erwiesen hat. Die Frage nach der Angemessenheit hat ihre Sprengkraft insofern voll entfaltet, als Aristoteles seine téchnê nicht an ihr vorbei hat etablieren können, so wie er es im ersten Kapitel des ersten Buches – mittels der ausschließlichen Konzentration auf den entechnos methodos – in Aussicht genommen hatte. Zweitens wird es nun darum gehen zu analysieren, welche Rolle die Angemessenheit tatsächlich für Aristoteles’ Überlegungen in den Passagen der Rhetorik nach dem ersten Kapitel spielt – in dem Sinne nämlich, dass sie – hinter welchen Begriffen versteckt und in welche Nebensätze platziert auch immer – Voraussetzung ist für das Gelingen von Persuasion. Dass Aristoteles die zentrale Bedeutung der Situation und damit auch den Imperativ der Angemessenheit für das Gelingen von Persuasion erkannt hat, daran kann kein Zweifel bestehen. Nur ist diese zentrale Stellung der Ange75 76

1.2.12., 1357a 2. 1.2.4., 1346a 8.

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messenheit für die Rhetorik bislang unbeachtet geblieben. Wie zentral sie ist, lässt sich daran ablesen, dass sie an keiner geringeren Stelle des Textes benannt ZLUGDOVLQGHUSURPLQHQWHQ'H¿QLWLRQGHU5KHWRULNGLH$ULVWRWHOHV]X%HJLQQ des zweiten Kapitels des ersten Buches vorbringt. Estô dê hê rhêtorikê dynamis peri hekaston tou theôrêsai to endechómenon pithanón±Ä'LH5KHWRULNVHLDOVR DOV)lKLJNHLWGH¿QLHUWGDVhEHU]HXJHQGHGDVMHGHP(LQ]HOIDOOHLQQHZRKQW]X HUNHQQHQ³77 Es ist interessant zu bemerken, wie an dieser entscheidenden Stelle die Übersetzungen auseinander gehen. Ich schließe mich dem Sinn nach der hEHUVHW]XQJ.HQQHG\VDQGHUGLHVH3DVVDJHZLHGHUJLEWPLWÄ/HWUKHWRULFEH >GH¿QHGDV@DQDELOLW\LQHDFK>SDUWLFXODU@FDVHWRVHHWKHDYDLODEOHPHDQVRI SHUVXDVLRQ³ (U HUOlXWHUW DXFK ZRUDXI HV KLHU DQNRPPW ÄIn each case (peri hekaston) UHIHUV WR WKH IDFW WKDW UKHWRULF GHDOV ZLWK VSHFL¿F FLUFXPVWDQFHV³78 Demgegenüber geben Rapp und Krapinger peri hekastonODSLGDUDOVÄEHLMHGHU 6DFKH³EH]LHKXQJVZHLVHÄLQMHGHU6DFKH³ZLGHUZDVGLH%ULVDQ]GHU6WHOOHQLFKW zutage treten lässt, obwohl hier Querbezüge zu anderen Passagen, etwa aus der Nikomachischen Ethik, ganz eindeutig nahelegen, dass mit peri hekaston der Bezug auf den Einzelfall und dessen Umstände gemeint sein muss.79 Diese Auslegung des peri hekaston wird im übrigen von zwei ganz zentralen Passagen aus dem ersten Kapitel gedeckt. Sie sind deswegen zentral, weil Aristoteles hier erklärt, warum Rhetorik überhaupt gebraucht wird. Ihre Funktion besteht nämlich – im Fall der Gerichtsrede – darin, die notwendigerweise bestehende Lücke zwischen Gesetzen und ihrer Anwendung diskursiv zu füllen. ArisWRWHOHVVWHOOWIHVWÄ'HU.HUQGHU6DFKHDEHUOLHJWGDULQGDVVGHU*HVHW]JHEHU nicht nach dem Einzelfall, sondern im Blick auf die Zukunft und für die Allgemeinheit entscheidet, das Mitglied der Volksversammlung und der Richter hinJHJHQEHUEHUHLWVJHJHQZlUWLJYRUOLHJHQGHXQGLQGLYLGXHOOH)lOOHXUWHLOHQ³80 Noch deutlicher wird das situative Moment in einer anderen Formulierung hervorgehoben – dort nämlich, wo Aristoteles ausdrücklich die zeitliche Dimension DQVSULFKW*HVHW]HHQWVSULQJHQÄODQJHQhEHUOHJXQJHQ8UWHLOVVSUFKHKLQJHJHQ GHP$XJHQEOLFN³81 Aristoteles’ Kernaussage ist mithin, dass es Rhetorik nicht mit Allgemeinem, VRQGHUQPLWGHP6LWXDWLYHQXQG6SH]L¿VFKHQ]XWXQKDWPLWKLQHLQH)lKLJNHLW ist, die sich Fall für Fall, Situation für Situation bewähren muss. Die Situationsgebundenheit der Persuasion ist damit auf jeden Fall genannt und eingeführt, und damit ist auch die Relevanz der Frage nach der Angemessenheit nachdrückOLFKLQGHQ9RUGHUJUXQGJHUFNW'DPLWKDWVLFKKHUDXVJHVWHOOWGDVVGLH'H¿QLWL77 78 79

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1.2.1., 1355b 25. Kennedy, 36 n.34. Hier ist beispielsweise zu denken an EN 2.7., 1107a 34f.: peri gar ta kath’ekasta hai praxeis, deon de epi toutôn symphoneîn±Ä'HQQGLH+DQGOXQJHQEHWUHIIHQGDV(LQ]HOQHXQGGHPPXVV PDQVLFKDQSDVVHQ³ 1.1.7., 1354b 5. Zu der im Einzelfall notwendigen Korrektur des Gesetzes durch das situativ Billige (tò epieikes) cf. EN 5.14., 1137a 34ff. 1.1.7., 1354b 2f.

on der Rhetorik, die Aristoteles gibt, imprägniert ist von dem Bewusstsein wenn schon nicht für die zentrale Bedeutung der Angemessenheit selbst, so doch von der unhintergehbaren Beschaffenheit der Rhetorik, die darin besteht, dass sie so etwas wie die Angemessenheit braucht, um jene systematische Lücke zwischen dem Allgemeinen und dem Speziellen ihrer Anwendung zu schließen. hEULJHQVZROOHQZLUEHUHLQHQDQGHUHQEHGHXWVDPHQ$VSHNWGHU'H¿QLWLRQ in 1.2. nicht hinweggehen: Das Wort téchnê nämlich kommt in ihr nicht mehr vor. Stattdessen ist nun nur mehr von einer Fähigkeit, einer dynamis die Rede. Diese Wortwahl hat zwei Implikationen: Zum einen relativiert Aristoteles den Status der rhetorischen Disziplin; darüber haben wir bereits lang gehandelt; zum anderen aber relativiert er auch den poietischen Anspruch dessen, der über die dynamis verfügt, erhöht damit aber auch zugleich den Anspruch an ihn. Es reicht nämlich nicht mehr, ein Experte zu sein, ein bloßer Fachmann. Zur Anwendung der Rhetorik gehört nun notwendigerweise auch eine moralische Komponente. Denn nachdem Aristoteles es aus den bekannten Gründen nicht gelingen konnte, die Rhetorik als auf Wahrheit abonnierte téchnê zu etablieren, muss er dafür den Preis der moralischen Indifferenz der dynamisHQWULFKWHQÄ:HQQHVDEHUVRLVW dass jemand großen Schaden anrichtet bei Anwendung einer solchen Fähigkeit der Worte in unrechter Weise, so besteht hier eine Gemeinsamkeit mit den anderen Gütern – außer mit der Tugend – und vornehmlich mit den nützlichsten: wie körperlicher Stärke, Gesundheit, Feldherrenkunst; denn durch diese kann jemand durch richtigen Gebrauch den größten Nutzen erzielen, durch unrechten *HEUDXFKGHQJU|‰WHQ6FKDGHQ³82 Hier manifestiert sich noch einmal in aller Deutlichkeit die Einsicht, dass die Rhetorik keine moralische Richtlinie ihrer Anwendung aus dem eigenen Regelfundus schöpfen kann. Zwar hält Aristoteles GHQ5HGQHUGD]XDQÄQLFKW]XP6FKOHFKWHQ]XEHUUHGHQ³GRFKWXWHUGLHVLQ HLQHUEOR‰EHLOlX¿JHQ%HPHUNXQJLQ3DUHQWKHVH83 Insgesamt ist jetzt klar, dass die Haltung des Redners es ist, die über Nutzen oder Schaden der Redekunst entscheiden; hê gar sophistikê ouk en tê dynámei all’en tê prohairései.84 Diese grundsätzliche Neujustierung der Rhetorik85 als dynamis, die das peri hekaston im Blick hat, bleibt natürlich nicht ohne Folgen. Ging es Aristoteles bei der Beschreibung des idealen Gerichtsverfahrens noch darum, alle situativen Faktoren stillzustellen, deutet nun alles darauf hin, dass Persuasion nur zu erzielen ist, wenn es die Rhetorik versteht, gerade die Ressourcen zu erschließen, die aus dem jeweiligen Deutungs-, Entscheidungs- und Handlungszusammenhang 82 83 84 85

Cf. 1.1.13., 1355b 2–6. 1.1.12., 1355a 31. 1.1.14., 1355b 18. Auch in diesem Aspekt weicht die hier vorgeschlagene Interpretation ab von der Christof Rapps, der auf der téchnê-Natur der Rhetorik beharrt – ein wenig gegen den Textbefund, denn AristoteOHVVSULFKWQXQHLQPDOQLFKWÄauch>+HUYRUKHEXQJG9@YRQHLQHUÃ)lKLJNHLW dynamis µ³VRQGHUQ±LQGHU'H¿QLWLRQLQDXIGLHHVQXQHLQPDODQNRPPW nur von einer dynamis. Insofern PDJPDQDXFKEH]ZHLIHOQREGLHVZLH5DSSPHLQWÄNHLQHVZHJVGHQ6LQQ>KDW@GHQ6WDWXVGHU 5KHWRULNDOVHLQHUWKHRUHWLVFKIXQGLHUWHQ.XQVWRGHU0HWKRGRORJLHHLQ]XVFKUlQNHQ³&I5DSS 1. Hb., 349.

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erwachsen.86 Dementsprechend beginnt Aristoteles ab dem zweiten Kapitel damit, die Rhetorik zu rekontextualisieren. Offensichtlichste Konsequenz dieses Schrittes ist, dass er nun auch die Emotionen der Zuhörer und die Charakterdarstellung des Hörers in die Liste der entechnischen pisteis aufnimmt. Die kanonisch gewordene Triade aus logos, ethos und pathos ist damit vervollständigt. Und gerade die bislang vernachlässigten Komponenten, nämlich ethos und pathosELHWHQVR*DUYHUHLQHHQWVFKHLGHQGH5HVVRXUFHÄIRUJUDVSLQJDQGGRLQJ MXVWLFHWRWKHVKLIWLQJSDUWLFXODULWLHVRISUDFWLFH³87

Plausibilität – eine relative Größe Aristoteles’ eigene Argumentation zieht bereits zum Ende des ersten Kapitels das Junktim zwischen sachorientierter Rede und Persuasion in Zweifel, das im Konstrukt der idealen Gerichtsrede so zwingend hatte erscheinen sollen. Warum tut er das? Weil er die Idealisierung letztlich nicht so weit treibt, eine bestmögliche ZuK|UHUVFKDIWDQ]XQHKPHQ6WDWWGHVVHQEOHLEWHU5HDOLVWXQGVWHOOWIHVWÄ)HUQHULVWHV bestimmten Leuten gegenüber nicht leicht, selbst wenn wir das genaueste Wissen besäßen, davon durch unsere Rede zu überzeugen. Denn der wissenschaftliche 'LVNXUVLVW6DFKHGHU%HOHKUXQJ'DVDEHULVWXQP|JOLFK³88 Zweierlei stellt diese Diagnose in Frage: einerseits, inwiefern es überhaupt möglich ist, sich auf eine REMHNWLYH6LFKWGHU6DFKH]XEHUXIHQ±GDIUZlUHHEHQÄJHQDXHVWHV:LVVHQ³YRQnöten. Andererseits treten durch den Hinweis auf ihren Verständnishorizont zum ersten Mal die Zuhörer als bestimmendes Moment der Rhetorik auf – und zugleich als limitierendes Moment. Zu der Feststellung, dass das rhetorische pragma nicht die geforderte Eindeutigkeit besitzt, um so etwas wie Wahrheit in den Diskurs zu bringen, tritt nun auch noch das Eingeständnis kognitiver Nichtidealität auf Seiten derer, die die Rede hören und verstehen sollen. Damit verblasst der Grundgedanke des entechnos methodos, der Präzision in der Sache zur vorrangigen Quelle von Persuasion erhoben hatte, zusehends weiter. Kurzum, Enthymeme sind nur in begrenztem Umfang auf dem Niveau des alltäglichen Räsonnierens zuhause, das die Rhetorik um der Persuasionswirkung willen anpeilen muss. Dieser Einsicht trägt Aristoteles Rechnung, indem er auch das Qualitätskriterium, das er an Argumente stellt, von der zuvor geforderten epistemischen Stichhaltigkeit wegverlagert und stattdessen die Aufnahmefähigkeit und das 86

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Darauf weist auch Helen DeWitt hin, jedoch schießt sie in ihrer Einschätzung über das Ziel KLQDXV'DVVÄWKHZRUNDVDZKROHDLPVDWJLYLQJUXOHVIRUDGDSWLQJVSHHFKHVWRFLUFXPVWDQFHV³ zieht die ganze Argumentationsdynamik der Rhetorik, vor allem mit Blick auf die téchnê-Frage gar nicht in Betracht, sondern potenziert den Bezug auf das peri hekaston auf vereinfachende Weise. Cf. DeWitt, 196. Garver, Aristotle’s Rhetoric: An Art of Character, 14. 1.1.12., 1355a 24–27. Diese Unterscheidung ist uns bei Plato schon in den Termini pisteutikê/ diskalikê begegnet.

Vorwissen der Zuhörer zum Maßstab macht. Und das tut er, indem er das Glaubwürdige, das pithanon, ins Zentrum der rhetorischen Unternehmung rückt. Nicht mehr Wahrheit, sondern Plausibilität heißt nun die Zielgröße des Redners – eine Zielgröße, die sich der Haltung des Zuhörers zu einem Sachverhalt eher als der Evidenz des Sachverhalts selbst verdankt. Bester Beleg für diesen Richtungswechsel ist Aristoteles’ expliziter Hinweis darauf, dass das Glaubwürdige immer schon mit einem konkreten Adressaten rechnet: to pithanon tini pithanon esti ± ÄGDV *ODXEZUGLJH LVW LPPHU IU MHPDQGHQ JODXEZUGLJ³89 Nun ist es QXUQRFKHLQNOHLQHU6FKULWWELV]XU5DWL¿]LHUXQJGHUY|OOLJHQ8PNHKUXQJGHU Rangfolge von Hörer und Sache, die Aristoteles vorzunehmen im Begriff ist. Und tatsächlich: Zu Beginn des dritten Kapitels des ersten Buches spricht Aristoteles den Hörer als das telos der Rede an und entwickelt im Ausgang von den möglichen Rollen des Zuhörers, als Richter oder als Betrachter, die drei Genera der Rede.90 Gerade für den Aspekt der Persuasion wird nun offensichtlich, auf welch fundamentale Art und Weise die Verfassung der Zuhörer die Argumentationsmöglichkeiten des Redners bestimmen – sowohl intellektuell wie auch moralisch. Aristoteles weist darauf hin, dass sich rhetorische Argumentationen an Zuhörer ULFKWHQ ÄGLH QLFKW LQ GHU /DJH VLQG YLHOHUOHL PLW HLQHP %OLFN ]XVDPPHQ]XIDVVHQ XQG ZHLWUHLFKHQGH ORJLVFKH 6FKOVVH ]X ]LHKHQ³91 Vielmehr ist davon DXV]XJHKHQ ÄGDVV GHUMHQLJH GHU GLH (QWVFKHLGXQJ WUHIIHQ VROO HLQ HLQIDFKHU 0HQVFKLVW³92 Kurzum: der Redner muss sich den Vielen, den polloi, verständlich machen. Um also das telos der Rede nicht zu verfehlen, aber auch um die Zugangsschwierigkeiten zum pragma auszugleichen, operiert die Rhetorik auf dem epistemischen Niveau nicht des Wissens, sondern der Meinung, der doxa – pros dóxan tas pragmateias tas peri tên rhêtorikên.93 Inhaltlich gewendet bedeutet dies, dass rhetorische Schlüsse auf allgemeine Gesichtspunkte angewiesen sind, also dia tôn koinôn gebildet werden. Ein umfassendes, gesellschaftlich vermitteltes Repertoire solcher Prämissen bieten die als endoxa bekannten allgemein akzeptierte Ansichten und Meinungen.

Lebensweltliche Gelingensbedingungen der Argumentation Aristoteles registriert im Gegensatz zu seinem ursprünglichen Programm vom Enthymem als kyriôtaton tôn pisteôn durchaus, dass Argumentation allein keineswegs persuasive Wirkung garantiert – sie kann sich im Gegenteil sogar als 89 90 91 92 93

1.2.11., 1356b 26f. 1.3.1., 1358b1. 1.2.12., 1357a 11f. 1.2.13., 1357a 11f. 3.1.5., 1404a 1f. cf. 2.1.1., 1377b 3; der doxa-Bezug nun ist etwas, was uns ganz ausdrücklich so auch schon bei Gorgias begegnet ist.

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kontraproduktiv erweisen, wenn sie zu sehr dem Vorbild wirklicher Beweisführung im wissenschaftlichen Sinne, also der apodeixis, nachempfunden wird. $XIGLHVHQ8PVWDQGMHGHQIDOOVOlVVWGLH%HREDFKWXQJVFKOLH‰HQGDVVÄGLH8QJHELOGHWHQEHLP9RONHHKHUEHUUHGHQGZLUNHQDOVGLH*HELOGHWHQ>@GHQQGLH Gebildeten sprechen Allgemeines und Allgemeingültiges aus, die Ungebildeten DEHUGDVZDVVLHZLVVHQXQGGDV1DKHOLHJHQGH³94 Argumente müssen also, um ZLUNXQJVYROO]XVHLQK|UHUJHPl‰SUlVHQWLHUWZHUGHQ'LHVH$XÀDJHDEHUYHUSÀLFKWHWQLFKWDOOHLQ]XHLQHUJHZLVVHQHSLVWHPLVFKHQ%HVFKHLGHQKHLWVRQGHUQ ebenso zur Rücksichtnahme zum Beispiel auf die Eitelkeit und das Unterhaltungsbedürfnis der Hörer. Als Anhaltspunkt dafür, was bei der Argumentation zu beachten ist, mag die Tatsache dienen, dass Widerlegungen beliebter sind als die positive Beweisführung. Denn Inkonsistenz ist leichter zu erkennen, so dass die Beweiskraft durch die Gegenüberstellung deutlicher zutage tritt.95 Sowohl intellektuelle als auch PRUDOLVFKH0lQJHOGHU=XK|UHUKDW$ULVWRWHOHVLP%OLFNZHQQHUHPS¿HKOWGLH partikularen Meinungen der Anwesenden in allgemeine Sentenzen zu fassen – ein Verfahren, das Erfolg verspricht aufgrund der unkultivierten Art der Zuhörer – dia tên phortikótha tôn akroatôn 'LH =XK|UHU ÄIUHXHQ VLFK QlPOLFK ZHQQ jemand durch den Ausspruch eines allgemeinen Satzes zufällig die Ansichten WULIIWGLHMHQHLPVSH]LHOOHQ)DOOKDEHQ³96 Schließlich können auch im weiteren Sinne ästhetische Kriterien den Argumentationserfolg befördern, was besonders für die Überzeugungsmittel der Metapher und des scharfsinnigen Humors – ta asteia – von Belang ist. Hier kommen die Momente der Langeweile respektive der Überraschung der Zuhörer ins Spiel: offensichtliche Enthymeme ermüden97 XQGVLQGGHVKDOEXQEHOLHEWZlKUHQGSRLQWHQUHLFKH5HGH%HLIDOO¿QGHW98 Argumente sind also umso erfolgreicher, je eher sie Komplexität vermeiden, den Stoff zugänglich und kontrastreich darbieten, vorgängigen Ansichten die Dignität des Allgemeinen zu verleihen scheinen oder durch Überraschung unterhalten.

Ethos und pathos als Elemente der Angemessenheit Im zweiten Buch widmet sich Aristoteles vorrangig den Überzeugungsmitteln, die er zuvor – im Namen des entechnos methodos – ausgeblendet hatte: der Charakterdarstellung des Redners – seine Anpassung an die Wesenszüge seiner Zuhörer – und der emotionalen Ansprache des Publikums. Es geht Aristoteles also ganz offenkundig um eine gezielt auf die Umstände des jeweiligen Redeanlasses abstellende Aufdeckung von Überzeugungsmitteln. Um solche Topoi 94 95 96 97 98

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2.22.3., 1395b 27–31. 3.17.13., 1418b 1–4. 2.21.15., 1395b 2. 2.22.3., 1395b 26f. 3.1.4., 1410b 20–27.

mithin, die es dem Redner erlauben, peri hekaston zu sprechen; kein Wunder also, dass just diese Wendung schon in den ersten Sätzen des zweiten Buches erneut auftaucht.99 Dabei unterstreicht Aristoteles ausdrücklich, dass es nicht allein mehr auf stichhaltige Argumentation ankommt; im Gegenteil: anangkê mê mónon pros ton lógon oran – es ist wichtig, nicht allein auf die Aussage zu schauen.1008QGHUIKUWDXVÄ:DVGLH*ODXEZUGLJNHLWEHWULIIWNRPPWHVVHKU GDUDXIDQ>«@GDVVGHU5HGQHUHLQHQEHVWLPPWHQ(LQGUXFNKLQWHUOlVVWGDVVGLH Zuhörer den Eindruck gewinnen, die Stimmung des Redners, die er vermittelt, spräche sie in irgendeiner Weise an, schließlich darauf, ob auch die Zuhörer JHUDGHLQLUJHQGHLQHU6WLPPXQJVLQG³101 Kurzum: Rhetorisches Argumentieren erschöpft sich nun nicht mehr im deixai to pragma, sondern ist zu einem siWXDWLYHQ ÄLQWHUSOD\ EHWZHHQ DXGLHQFH DQG UKHWRULFLDQ³102 geworden. Und dies basiert nicht auf harten Fakten, sondern auf Eindrücken – unter anderem darauf, ÃZLHGHU5HGQHU]XVHLQVFKHLQW‫ދ‬:LHGHULVW$ULVWRWHOHVLPZDKUVWHQ6LQQHGHV Wortes, bei den Phänomenen.103 Und diese sind wechselhaft, aber wirkungsvoll in der Rhetorik, wie sich leicht an Aristoteles’ Bewertung der Rolle der EmotiRQHQDEOHVHQOlVVW6FKOLH‰OLFKVLQGVLHHVGXUFKGHUHQÄ:HFKVHOVSLHOVLFKGLH 0HQVFKHQLQLKUHQ8UWHLOHQXQWHUVFKHLGHQ³104 Mit seinen Ausführungen zu den Emotionen und zum Charakter des Redners wie zu denen unterschiedlicher Zuhörerschaften führt Aristoteles Momente der Situationsorientierung und damit des Strebens nach Angemessenheit in seine Rhetorik ein, ohne dies groß zu thematisieren. Sowohl die Charakterdarstellung als auch die pathe sind – wie das rationale Argument auch – Ingredienzien dessen, was eine Rede überzeugend macht. Diesem erweiterten Blickfeld der Rhetorik entspricht auch Aristoteles’ Revision seines Rednerbildes. Als vorrangiges Merkmal des guten Redners galt im Rahmen des entechnos methodos ja, dass er ein enthymematikos sei. Zwar bleibt diese Fähigkeit bedeutsam; sie wird aber um wichtige Elemente ergänzt. -HW]WQlPOLFKEHVWLPPW$ULVWRWHOHVGHQ5HGQHUDOVMHPDQGHQÄGHULQGHU/DJH ist, logische Schlüsse zu bilden und kenntnisreich hinsichtlich der Charaktere, der Tugenden und drittens hinsichtlich der Emotionen – was und wie beschaffen MHGH(PRWLRQLVWXQGIHUQHUZRUDXVXQGZLHVLHHQWVWHKW³105 Auch wenn Aristoteles’ pathe-Konzeption hier im Einzelnen nicht entfaltet werden kann, so fällt eines doch sofort auf: Es geht ihm nicht um die Erregung VSRQWDQHU Ä$IIHNWH³ XP LQGLYLGXHOOH /HLGHQVFKDIWHQ XQG N|USHUOLFKH %HJLHU99 100 101 102

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2.1.1., 1377b 20. 2.1.2., 1377b 21. 2.1.4., 1377b 24f. Stephen Halliwell, The Challenge of Rhetoric to Political and Ethical Theory in Aristotle, in: Amélie Oksenberg Rorty (ed.), Essays on Aristotle’s Rhetoric, Berkeley/Los Angeles/London 1996, 178. Wörtlich: poion tina phainesthai ton legonta, 1377b 26; cf. auch den Gebrauch von phaneien in 1378a 16 – hier geht es darum, wie man verständig und ernstzunehmend erscheinen kann (also phrônimos und spoudaios). 2.1.8., 1378a 19f. 1.2.7., 1356a 21–25.

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den. Stattdessen sieht er die Emotionen getragen von explizierbaren MeinunJHQXQG(LQVFKlW]XQJHQ6RGH¿QLHUWHU)XUFKWGXUFKLKUH9HUELQGXQJÄPLWHLQHU JHZLVVHQ (UZDUWXQJ PDQ ZHUGH HLQ YHUGHUEOLFKHV /HLG HUGXOGHQ³106 Für $ULVWRWHOHVNRPPWÄFRJQLWLRQDVDQHVVHQWLDOHOHPHQW³YRQ(PRWLRQHQLQGHQ Blick.107 Nicht nur als ein rationales, sondern als moralisches Phänomen verstehe Aristoteles die Emotionen, betont hingegen Silvia Gastaldi;108 die pathe seien nicht mehr und nicht weniger als ein Indikator eines moralischen Bezuges zu anderen Polisbürgern. All diesen Diagnosen ist durchaus zuzustimmen; aber in dem Versuch, in Aristoteles’ Behandlung der pathe ein philosophisch akzeptables Motiv zu konstituieren, verkennen sie, worauf die rationale und die moralische Betrachtungsweise gleichermaßen letztlich hinauslaufen – nämlich auf eine Theorie angemessener Emotionen. Die drei Gesichtspunkte, anhand denen Aristoteles die einzelnen Gefühle Schritt für Schritt durchgeht, nämlich Darstellung der Gemütsverfassung selbst, wem gegenüber werden die Emotionen empfunden und aus welchem Grund, zielen darauf ab, Emotionen als etwas kontextuell, als etwas situativ Angemessenes herzuleiten – darauf, ihre Entstehung erklären und dann auch zum Zwecke der Persuasion nutzen zu können. Ist der Redner in der Lage, diesen Kontext überzeugend herzustellen und die Kriterien der Angemessenheit implizit deutlich zu machen, dann wird er auch die entsprechenden Emotionen hervorrufen.109 Eine falsche emotionale Bewertung der Situation hingegen wird sofort die Wahrnehmung des Charakters des Redners unterminieren. Er wird als unklug oder aber nicht gutwillig erscheinen und somit ist seine Glaubwürdigkeit und seine Persuasionsfähigkeit gefährdet. Gleiches gilt für die Ausrichtung von Rede und Redner auf die charakterlichen Eigenheiten seiner Zuhörer. Warum wohl listet Aristoteles mit viel Akkuratesse die seelischen Dispositionen der verschiedenen Lebensalter und Angehörigen unterschiedlicher Schichten auf, wenn nicht zu dem Zweck, sie aus dem Kontext herzuleiten, in den der Redner seine Rede einbetten soll? Nichts anderes heißt es GRFKZHQQ$ULVWRWHOHVVDJWGLH5HGHPVVHÄHWKLVFK³JHPDFKWZHUGHQ110 Mit einem Wort: Durch die Einführung von ethos und pathos in den Reigen legitimer pisteis hat Aristoteles den Redner und sein Publikum mit allem Nachdruck vom rationalistischen Konzept des entechnos methodos weg und mitten hinein in den facettenreiche Kontext der Angemessenheit, des peri hekaston, geführt.   E I +LHU VSULFKW 0DUWKD 1XVVEDXP YRQ GHU ÄEHOLHI FRPSRQHQW³ FI 0DUWKD Nussbaum, Aristotle on Emotions and Rational Persuasion, in: Amélie O. Rorty (ed.), Essays on Aristotle’s Rhetoric, Berkeley/Los Angeles/London 1996, 309. 107 Cf. William W. Fortenbaugh, Aristotle’s Rhetoric on Emotions, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 52 (1970), 42. 108 Cf. ihren Aufsatz Pathe and polis. Aristotle’s Theory of Passions in the Rhetoric and Ethics, in: Topoi 6 (1987), 105–110. 109 In 2.9., 1386b 8ff. exerziert Aristoteles dies am Beispiel der Entrüstung durch. 110 2.18.2., 1391b 25f. – Kennedy übersetzt êthikous tous lógous poiein KLHUPLWÄWRPDNHVSHHFKHV DSSURSULDWHWRFKDUDFWHU³±HLQHhEHUVHW]XQJGLHHLQHQ+LQZHLVJLEWDXIGLH$XIJDEHGHV5HGners, die charakterliche Disposition seiner Zuhörerschaft angemessen in Betracht zu ziehen. 106

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Rednerische Mittel zur Absicherung ‚ethischer‘ Angemessenheit Zwar unterstreicht Aristoteles die Bedeutung des Charakters für die Überzeugungskraft des Redners, doch geht es im zweiten Buch der Rhetorik (insbesondere in den Kapiteln 12–17) weniger um das êthos des Redners als vielmehr um charakterliche Grundhaltungen, die man bei unterschiedlichen Zuhörergruppen voraussetzen kann. Es geht unter dem Stichwort êthos, welches eine nähere Erläuterung der Charakterdarstellung des Redners erwarten lässt, mithin viel eher um Gesichtspunkte der Angemessenheit mit Blick auf die Erwartungshaltung der Zuhörerschaft. Dabei ist die Charakterdarstellung des Redners außerordentlich anspruchsvoll; idealiter soll er drei Qualitäten zeigen, nämlich praktische Klugheit (phronêsis), moralische Tugend (aretê) und guten Willen (eunoia),111 wobei letztere in den Bereich der pathê fällt. Angesichts dieser moralisch imprägnierten Begriffe erstaunt es zunächst, dass uns Aristoteles dort, wo wir uns Einsichten in die charakterlichen Voraussetzungen eines überzeugenden Redners erhoffen, zurückverweist auf den Konsens der Polis.112 Gesichtspunkte, die nützlich sind, um den Anschein guten Charakters zu erwecken, so sein Hinweis, ließen sich der Darstellung der Tugenden entnehmen – gemeint ist das neunte Kapitel des ersten Buches, wo sich Aristoteles mit den Topoi der Lobrede befasst. Dort nun verschärft Aristoteles noch den Verdacht, das Anscheinende könne ein bloß Scheinbares sein: Stets nämlich, so seine Empfehlung, sollten vorhandene Eigenschaften eines Menschen im bestmöglichen Lichte, kata to béltiston, dargestellt werden.1136RZLUGDXVGHP6WUHLWEDUHQMHPDQGGHUÄJHUDGHKHUDXV³ LVWXQGDXVGHP9HUVFKZHQGHUHLQÄJUR‰]JLJHU³0HQVFK6HKHQZLUXQVKLHU nicht mit einer vordergründigen Umdeutung unangenehmer Eigenschaften zum parteilichen Nutzen konfrontiert? Gleichviel – denn nicht die parteiliche Deutung, die ohnehin dem rhetorischen Handwerk innewohnt, ist hier das Bedeutsame, sondern der sittliche Referenzrahmen, der sich in dem kata to béltiston manifestiert. Ebenso wie Aristoteles’ Aufstellung charakterlicher Prädispositionen entlang der Lebensalter und sozialen Verortung der Zuhörer verweisen auch seine Fingerzeige für die Selbstdarstellung des Redners auf ein Korpus des Erwartbaren und Akzeptablen, einen in der Polis gültigen Kanon der Konvention. Er ist Maßstab für das Verhalten der Zuhörer wie für das des Redners. Doch was steht anderes hinter gemeinsamen Erwartungshaltungen als geteilte Maßstäbe, geteilte Werte? Mit dem Konzept des êthos macht Aristoteles – zumindest innerhalb der Grenzen der Polis – verbindende und damit verbindliche Maßgaben vorstellig, durch deren Anwendung der Redner für die Zuhörer als einer der ihren erkennbar wird. Indem er auf sie rekurriert, vermag der Redner ]XYHUPLWWHOQGDVVHVLKPÄDOV$QJHK|ULJHPGHU+DQGOXQJVJHPHLQVFKDIWXP 111 112 113

2.1.5., 1378a 8. 2.1.7., 1378a 16 – um das phanein geht es. 1.9.29., 1367a 37.

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GLHVHOEHQ:HUWHXQG=LHOVHW]XQJHQJHKWZLHGHQ=XK|UHUQVHOEVW³114 Kurzum: Das êthos sichert die moralische Angemessenheit der Rede ab. Für den Redner reicht es indes nicht aus, gleichsam passiv mit jenen Gesichtspunkten vertraut zu sein, die ihm durch den Bezugsrahmen des pólis-Ethos nahegelegt sind. Vielmehr gilt es, die moralische Angemessenheit seines Standpunktes hervorzuheben, indem er mit rednerischen Mitteln aktiv das gemeinsame moralische Terrain, auf dem er mit seinen Zuhörern steht, markiert. Dazu taugt die von Aristoteles im Anfangskapitel der Rhetorik so stark favorisierte apodeixis nicht, und Aristoteles selbst rät im dritten Buch vom alleinigen Gebrauch sachlicher Argumente ab. Schließlich vermag der Beweis die moralischen Intentionen des Redners nicht sinnfällig zu machen; hat er doch weder êthos noch moralische Intention: ou gar échei oute êthos oute prohaíresin hê apódeixis.115 Insofern die prohaíresis gleichsam das Scharnier zwischen der wahrgenommenen Rednerpersönlichkeit und dem gemeinsamen moralischen Horizont der pólis bildet, muss der Redner ein besonderes Augenmerk darauf richten, sie in seiner Rede deutlich werden zu lassen. Der Schlüssel zur Angemessenheit der Rede in sittlicher Hinsicht liegt also im Einklang von charakterlicher Ausrichtung des Redners mit dem êthos der pólis-Gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund nun gewinnt eine Äußerung Aristoteles’ aus dem ersWHQ.DSLWHOGHVHUVWHQ%XFKHV]XVlW]OLFKH.RQWXU'RUW¿HOGHU6DW]GDVVQLFKW die rednerische Fähigkeit, die rhetorische dynamis, den wohlmeinenden Redner vom Sophisten unterscheide, sondern es eben jene sittliche Grundorientierung sei, die in der jeweils zu aktualisierenden prohaíresis sich manifestiert.116 Bei diesem Satz hatte Aristoteles die Einbettung in das êthos der Polis vor Augen. – Nur: Was muss der Redner tun, wie muss er sprechen, um seine sittlichen Intentionen aufscheinen zu lassen? Aristoteles rät dazu, ein geeignetes rhetorisches Mittel einzusetzen – nämlich die gnômê, die Maxime. Deren Verwendung HPS¿HKOW$ULVWRWHOHVVRZRKOIUGLHnarratio als auch für die Beweisführung, denn sie ist êthikon;117 und damit, das ist jetzt klar, ist ein doppelter Nutzen gePHLQW=XPHLQHQDI¿UPLHUWHLQHgnômê das gemeinschaftliche Fundament des êthos, zum anderen erzeugt sie einen Abstrahleffekt, der sich positiv auswirkt auf die Wahrnehmung des Redners als vertrauenswürdige Persönlichkeit. Die moralische Dimension der Angemessenheit, die im ‚ethischen‘ Argumentieren zum Tragen kommt, führt uns damit besonders deutlich vor Augen, dass es nicht DOOHLQDXIHLQH$QJOHLFKXQJGHV5HGQHUVDQGLH6LWXDWLRQDQGHQVSH]L¿VFKHQ .RQWH[W DQNRPPW YLHOPHKU UHÀHNWLHUW GLH YROOEUDFKWH $QJHPHVVHQKHLWVOHLV114 115

116 117

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Ptassek et al., Macht und Meinung, 67f. 3.17.8., 1418a 16f. Im weiteren Verlauf des 17. Kapitels des dritten Buches kehrt Aristoteles die *HZLFKWXQJ]ZLVFKHQ(QWK\PHPXQGÄHWKLVFKHP³$UJXPHQWLHUHQJHUDGHZHJVXPLQVLQXLHUWHU doch, dass das exakte Argument einem tugendhaften Menschen weniger gut ansteht (armóttei) als ein sittlich rechtschaffenes – cf. 1418a 40. Eine alternative Taktik besteht darin, als Enthymem formulierte Argumente in Maximen umzuformen – cf. 1418b 33f. 1.1.14., 1355b 17f. 3.16.9., 1418a 18.

tung des Redners auf ihn zurück in Form eines Vertrauensvorschusses seitens der Zuhörer. Die Akzeptanz, die der Redner für sich einwerben muss, indem er angemessen auftritt und argumentiert, wird transformiert in Akzeptanz für seine Position, da er sich als glaub- und vertrauenswürdiger Mensch dargestellt hat. Indem er das êthos der pólis in der jeweilig vorliegenden Situation – peri hekaston – zu interpretieren und zu verkörpern weiß, obwohl es im Bereich menschlichen Handelns, wie Aristoteles immer wieder betont, keine Konstanten und Notwendigkeiten gibt,118 macht er sich zugleich zu seinem Träger; aus der situativen Qualität des Angemessenen wächst dem êthos der Handlungsgemeinschaft also zugleich neue Stabilität zu: Indem der Redner seine eigene Lage im Kontingenten stabilisiert – zu seinem eigenen Vorteil – stabilisiert er zugleich den Handlungskontext selbst. Die situative Realisierung des Angemessenen, so lässt sich ein Zwischenresümee ziehen, reicht über den Moment hinaus in die Zukunft des sittlichen Konsenses, in dem sie sich manifestiert. Der Redner befördert nicht nur seinen eigenen Standpunkt in der Auseinandersetzung mit anderen Positionen, sondern fügt zugleich ein weiteres Mosaiksteinchen an den moralischen Konsens der Polis an und damit an die Auffassung davon, was in Zukunft als angemessen im Hinblick auf das êthos zu gelten hat. Damit hat sich die Verknüpfung von êthos des Redners und êthos der Polisgemeinschaft als wesentlich herausgestellt. Nie geht es nur um die Charakterdarstellung des Redners. Vielmehr gewinnt die Bestärkung sittlicher Gesichtspunkte, durch die sie bewerkstelligt wird, etwa durch den Gebrauch von gnômai, handlungsleitende Kraft; sie wird politisch. Aristoteles hat diese politische Potenz der moralischen Dimension von Angemessenheit in seiner Rhetorik explizit angelegt, wenngleich er sie nie in den Vordergrund rückt – wohl zu selbstverständlich erschien ihm dieser Umstand. Nicht umsonst heißt es im neunten Kapitel des ersten Buches, dort, wo er die Topik der populären Moral durchgeht, Lobrede und beratende Rede seien beide Teil des gleichen eidos. Gesichtspunkte der politischen Beratungsrede müsse der Redner lediglich umformulieren, damit sie zur Lobrede würden (und vice versa).119 Und in der Tat beziehen ja die Gesichtspunkte beider Redearten ihre Plausibilität aus dem übergreifenden êthos der Polisgemeinschaft. Denn stets geht es um das Gleiche: nämlich darum, XQG$ULVWRWHOHVVHOEVWEULQJWHVDXIGHQSUlJQDQWHQ1HQQHUÄZDVPDQWXQVROO XQGZLHPDQVHLQPXVV³±ha deî práttein kai poion tina einai deî.120

118

119 120

Cf. EN 2.2., 1104a 4ff.; Rhet. 1.2.4., 1356a 8: die Rhetorik befasst sich mit Themen, wo tò akribes mê estin, alla tò amphidoxeîn; 1.2.12., 1357a 1f.: das ergon der Rhetorik bezieht sich peri hôn bouleuómetha kai téchnas mê échomen; cf. 1357a 5 – es geht also um solcherlei Gegenstände, die sich so oder anders verhalten können – peri tôn phainoménôn endéchesthai amphôterôs échein. 1.9.35., 1367b 37f. 1.9.36., 1368a 1f.

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Habitualisierung und Abwägung: êthos und prépon in der Ethik 'LHVHlX‰HUVWSUDJPDWLVFKHQ(UZlJXQJHQÀDQNLHUW$ULVWRWHOHVPLWGHP+LQZHLV darauf, dass die Glaubwürdigkeit behaupteter Tugenden am besten mit Hinweisen auf Taten zu untermauern ist. Diese nämlich verweisen erst auf das, worauf es letztlich ankommt – nämlich auf die prohaíresis und die héxis eines Redners: ta d’érga sêmeia tês héxeôs éstin.121 Und die moralische Haltung eines Menschen, seine héxis, wiederum ist nichts anderes als ein habitualisiertes Ermessen, das in ähnlichen Situationen zu ähnlichen Entscheidungen führt. Aristoteles weist also schon in der Rhetorik, wo er diese Themen eher kursorisch behandelt, voraus auf die Bedeutung der Gewöhnung für die Prägung eines Charakters, dem das êthos der Polis deshalb vertraut ist, weil es zugleich auch sein eigenes ist. Zwei (LQÀXVVTXHOOHQVLQGHVGLHGHQ&KDUDNWHUIRUPHQ]XPHLQHQVLQGHV+HUNXQIW und Erziehung – eugéneia kai paideia.122 Die Bedeutung dieser Prägung von .LQGHVEHLQHQDQXQWHUVWUHLFKW$ULVWRWHOHVQDFKGUFNOLFK)ULKQÄNRPPWYLHO GDUDXIDQMDVRJDUDOOHV³123 Zum anderen kommt den Gesetzen der Polis, ihrer Verfassung und den darin niedergelegten Werten, große Bedeutung für die Gewöhnung der Bürger an die Tugend zu124 – und dies sei auch ihre explizite Aufgabe, wie Aristoteles betont. +DWGRFKGLHSROLWLVFKH.XQVWGLH$XIJDEHÄGLH%UJHU]XHLQHUEHVWLPPWHQ$UW XQG]XU7XJHQG]XELOGHQ³125 Kurzum, für die Ausprägung der aretai gibt die +DELWXDOLVLHUXQJGHQ$XVVFKODJ'LHHWKLVFKH7XJHQGÄHUJLEWVLFKDXVGHU*HZRKQKHLW³hê de êthikê ex ethous perigignetai, und ebenso wird sie auch durch die Gewöhnung vollendet – dia tou ethous.126 Gewöhnung ist also entscheidend, um Tugend zu erwerben; sie allein reicht DEHUQLFKWXPGLH7XJHQGDXFKDQ]XZHQGHQ'LHVOLHJWDQGHUVSH]L¿VFKHQ1Dtur des Anwendungsgebietes, wie wir nun schon wiederholt dargelegt haben. Ohne hier eine Detaildiskussion der aristotelischen Ethik führen zu können: Die engen Querverbindungen zwischen rhetorischer Angemessenheit und Tugendauffassung in der Nikomachischen Ethik drängen sich förmlich auf. Schließlich bestimmt Aristoteles den zentralen Maßstab für tugendhaftes Handeln – die mesotês – nicht gemäß einer übersituativen Regel, sondern genau das Gegenteil ist der Fall. Er legt größten Wert auf die Charakterisierung der mesotês nicht als HLQHV DULWKPHWLVFKHQ 0LWWHOPD‰HV VRQGHUQ DOV Ä0LWWH IU XQV³127 – sprich: als 121 122 123 124 125

126 127

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1.9.33., 1367b 32f. 1.9.34., 1367b 30f., und Aristoteles fügt an: ex agathôn agathous. EN 2.2., 1103b 26f. EN 2.1., 1103b 3f. EN 1.10., 1099b 33; in der Politik entwickelt Aristoteles den Gedanken weiter dahingehend, GDVVDXFKGHU6WDDWVPDQQGDV5HJLHUHQHUOHUQWLQGHPHU]XQlFKVWUHJLHUWZLUGÄKLHUJLOWGDKHU das Wort und gilt mit Recht, dass keiner gut regieren kann, der nicht sich gut hat regieren lassen. Die Tugend in beidem ist nun freilich eine verschiedene, aber der gute Bürger muss beides verVWHKHQXQGEHLGHVN|QQHQ³FIE EN 2.1., 1103a 14, 24. EN 2.5., 1106a 37f.

proportional und damit situativ bestimmtes Maß. In der mesotês-Lehre geht es ihm nicht um Äquidistanz von den Extremen, sondern um Angemessenheit, bei deren Erwägung es eine ganze Reihe von Kriterien zu beachten gilt, was, wie $ULVWRWHOHV DQHUNHQQW DXFK GLH 6FKZLHULJNHLW DXVPDFKW Ä'DV:HP:LHYLHO Wann, Wozu und Wie zu bestimmen ist aber nicht jedermanns Sache und ist QLFKWOHLFKW'DUXPLVWGDV5LFKWLJHVHOWHQOREHQVZHUWXQGVFK|Q³128 Aber was ist das Richtige anderes als – das Angemessene, das prépon? Dieses prépon nun stellt sich dann ein, wenn die Peristasen richtig erkannt und die Bezüge angemessen hergestellt werden – in der Ethik ebenso wie in der Rhetorik: to prépon dê pros autón, kai en hô kai peri ho±ÄGDV$QJHPHVVHQHULFKWHWVLFKQDFKGHU 3HUVRQGHU6LWXDWLRQXQGGHP2EMHNW³129 Rhetorik wie Ethik haben es mit konkreten Handlungssituationen zu tun. Beide Disziplinen sind folglich in gleicher Weise mit dem peri hekaston befasst. In der Nikomachischen Ethik entfaltet Aristoteles die Rolle des êthos und vor allem den Erwerb des êthos durch Habitualisierung in größerer Klarheit als er dies in der Rhetorik für nötig erachtet. Seine Darlegungen zur Natur der Tugend als Ä0LWWHIUXQV³ZDVQLFKWVDQGHUHVKHL‰WGHQQDOVDQJHPHVVHQH+DQGOXQJVZHLse, hat aber vor allem ins Bewusstsein gehoben, wie zentral die Rolle des prépon als verbindende Achse zwischen Ethik und Rhetorik ist. Angesichts der zentralen Rolle der Angemessenheit in der aristotelischen Ethik wäre es nun in der Tat verwunderlich, käme Aristoteles nicht auch in der Rhetorik noch ausführlicher auf das prépon zu sprechen.

Mehr als stilistische Angemessenheit – das prépon Zu Beginn des dritten Buches der Rhetorik wendet sich Aristoteles der sprachlichen Ausgestaltung der Rede zu. Als grundsätzliche Bemerkung schickt er vorweg, dass es nicht ausreiche, einen gut gefüllten Vorrat an Argumenten zu haben – nein, sie müssen auch auf die rechte Art und Weise vorgebracht werden: nicht nur auf das Was, kommt es an – nicht minder entscheidend ist das Wie.130 Und nolens volens fügt er hinzu, dies trage viel dazu bei, dass die Rede persuasive Qualitäten habe. Untergemengt unter die Einzelbetrachtungen des dritten Buches zu Themen ZLH/lQJHXQG.U]HGHV$XVGUXFNVRGHU6SUDFKUK\WKPXVGHU3URVD¿QGHWVLFK mit dem siebten ein kurzes Kapitel – gerade einmal 56 Zeilen im griechischen Originaltext –, das sich dann doch explizit mit der Angemessenheit befasst. Der Begriff, um den dieses Kapitel kreist, ist der des prépon.131 Auch wenn es sich 128 129 130 131

EN 2.9., 1109a 30ff. EN 4.4., 1122a 29. 3.1.2., 1403b 16. Zur Begriffsgeschichte des prépon allgemein cf. Max Pohlenz, To prépon. Ein Beitrag zur Geschichte des griechischen Geistes, in: ders., Kleine Schriften I, 1965, 100–139.

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allem Anschein nach lediglich um eine Betrachtung der angemessenen sprachlichen Ausgestaltung der Rede handelt, Aristoteles das prépon hier also nur im Kontext der lexisLQGHQ%OLFNQLPPWVR¿QGHQVLFKDQGLHVHU6WHOOHGRFK.HUQaussagen, die unterstreichen, dass auch Aristoteles letztlich nicht umhinkann, der Angemessenheit die zentrale Bedeutung zuzugestehen, die sie für die Persuasion nun einmal hat. Dies wird zunächst deutlich daran, dass es erst das prépon ist, das die drei Überzeugungsmittel, nämlich den Charakter des Redners, die Emotionen der Zuhörer und die Darlegung der Sache selbst zu einem harmonischen Ganzen amalgamiert. Zwar spricht Aristoteles auch hier wieder nur von der Angemessenheit der lexis – aber da ja die Emotionen wie auch die Charakterdarstellung und -adaption an die Zuhörerschaft ihrerseits je schon dem Maßstab der Angemessenheit unterliegen, so kommt der sprachlichen Darstellung hier die Aufgabe zu, das prépon im umfassenden Sinne, nämlich für den Gesamteindruck der Rede, zu sichern. Was Aristoteles als gleichsam nachrangige, eher formale Kompetenz zu behandeln geneigt ist, stellt sich als zentral heraus, wenn es darum geht, die Überzeugungsleistung der Rede zu sichern. Ein Gedanke, den Aristoteles in einer späteren, zusammenfassenden Passage noch einmal auf den Punkt bringt. Denn dort macht er ohne Umschweife klar: to pithanon ek tou prépontos – das Überzeugende kommt aus dem Angemessenen.132 Und: Erst die passende sprachliche Darbietung macht den Redegegenstand glaubwürdig – pithanoi de to pragma kai hê oikeia lexis.133 Dabei gilt es zunächst, die rechte Ausdrucksebene für die in der Rede verhandelte Sache zu treffen – Aristoteles hat hier eine Proportionalität, ein análogon134 im Sinn zwischen der Dignität des Redegegenstandes – ob gewichtig und ernsthaft oder alltäglich, ja niedrig – und der Tonalität des Ausdrucks. Abweichungen von dieser Proportionalität haben zur Folge, dass die Zuhörer sich an eine Komödie erinnert fühlen, die ihre Komik genau dieser Disharmonie verdankt; passiert dies dem Redner jedoch, dann weicht Persuasion der Peinlichkeit, wie Aristoteles mit einem Beispiel belegt.135 Zweitens muss der Ausdruck auch in der emotionalen Färbung angemessen sein – wobei Aristoteles hier EmotionaliWlWEHUHLWVDOV6SLHJHODQJHPHVVHQHUPRUDOLVFKHU(PS¿QGXQJYHUVWHKW±JDQ]LP Einklang mit seinen Ausführungen zu der Natur der pathê im zweiten Buch. So solle von menschlicher hybris in einem verärgerten Ton die Rede sein, gottlose und schändliche Themen sollen mit spürbarem Widerwillen vorgetragen werden, so, als könne sich der Redner kaum überwinden, die Dinge überhaupt zu benennen; über Bewundernswertes hingegen soll in respektvollem Tone gespro132 133

134 135

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3.12.6., 1414a 28. 3.7.4., 1408a 19f. Insofern darf man bei der seiner Behandlung des prépon$ULVWRWHOHV¶Ä9HUHQJXQJGHV%HJULIIVLQVHLQHU$QZHQGXQJDXIGLH/H[LV³QLFKWVRIUEDUH0Q]HQHKPHQZLH Max Pohlenz dies tut. Er nennt zwar die einzelnen Aspekte der Angemessenheit, die Aristoteles im Kontext des sprachlichen Ausdrucks hervorhebt, geht aber an der großen Tragweite des Begriffs für die aristotelische Rhetorikkonzeption vorbei. Cf. M. Pohlenz, 106. 3.7.1., 1408a 12. 3.7.1., 1408a 15.

chen werden.136 Der Charakter des Redners, drittens und schließlich, spiegelt sich in Äußerungen wider, die dem entsprechen, was man von dem Redner anJHVLFKWVGHU/HEHQVSKDVHLQGHUHUVLFKEH¿QGHWXQGGHUPRUDOLVFKHQ+DOWXQJ GLHVHLQHU6WHOOXQJDQJHPHVVHQLVWHUZDUWHQPXVVÄGHQQHVVSUHFKHQGHU%DXHU XQGGHU*HELOGHWHZRKOZHGHUEHUGDVVHOEHQRFKLQGHUVHOEHQ:HLVH³137

Das rechte Maß: zum Beispiel Metaphern An Aristoteles’ Ausführungen zu der Frage, wie Metaphern zu bilden und zu gebrauchen sind, zeigt sich, wie er das préponYHUVWHKWXQGEHJULIÀLFK]XIDVVHQ versucht. In diesem Kontext benutzt er auch explizit den Begriff des prépon zum ersten Mal. Einigermaßen rätselhaft klingt zunächst, wie er das prépon bestimmt – nämlich als eine Frage von Zusammenziehen und Ausdehnen, von Kontraktion und Expansion.138 Die angemessene Ausgestaltung eines sprachlichen Bildes ist mithin angesiedelt auf dem Kontinuum zwischen Untertreibung auf der einen, Übertreibung auf der anderen Seite. Wie nicht anders zu erwarten war, bietet Aristoteles keine handwerkliche Regel dafür an, wie der Redner angemessene Sprachbilder schaffen kann. Denn natürlich hängt, was angemessen ist, vom konkreten Einzelfall ab. Dementsprechend begnügt sich Aristoteles mit dem Hinweis darauf, die Angemessenheit der Metapher sei eine abgeleitete Größe – abgeleitet nämlich aus der Angemessenheit der Analogie, auf der sie DXIEDXH+LHUOLHJWDXFKGHU6SLHOUDXPIUÄ$XVGHKQXQJ³XQGÄ=XVDPPHQ]LHKHQ³IU9HUJU|‰HUXQJXQG9HUNOHLQHUXQJ(LQHJXWH0HWDSKHUPDFKWGLH'LQJH weder größer noch kleiner als sie sind, schöpft ihre Erhellungskraft weder aus übertrieben grandiosen noch aus zu bescheidenen Parallelen. Einen ähnlichen Gedanken lässt Aristoteles auch mit Blick auf die rechte Länge der Rede anklingen, wenn er sagt, gutes Sprechen sei nicht eine Frage von Schnelle oder Kürze, sondern es komme eben auf das rechte Maß an – auf das metriôs légein.139 Die Relevanz der Metapher für die lexis liegt nun aber nicht allein darin, dass sie gewissermaßen ein Prüfstein für die Angemessenheit der sprachlichen Darstellung ist – nein, sie trägt auch auf andere Weise zu eben dieser Angemessenheit bei. Nämlich dadurch, dass der Gebrauch von Metaphern rhetorisch besonders wirNXQJVYROOLVWEULQJHQVLHMHQHQ$QWHLODQÄXQWULYLDOHQ³$XVGUXFNVPLWWHOQGHQ Aristoteles fordert, damit die Rede nicht als gewöhnlich und niedrig empfunden 136 137 138

139

Cf. 3.7.3., 1408a 16ff. 3.7.7., 1408a 31f. 3.2.3., 1404b 17. Ganz ähnlich bereits im zweiten Buch: Hier (2.28.4., 1391b 30) stellt Aristoteles fest, dass die Frage nach der richtigen Größenordnung ein allen Redegenera gemeinsames Problem darstellt; immer sei es nötig, Sachverhalte entweder besonders hervorzuheben oder aber in den Hintergrund zu rücken. 3.16.4., 1416b 35f.

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wird.140'LH0HWDSKHUEHVLW]WÄ.ODUKHLWXQG6‰HXQG)UHPGKHLW³±to saphes kai to hêdy kai to xenikon echei malista hê metaphora.141 Das Stilkriterium der Klarheit wird sich also nicht erreichen lassen, indem der Redner stets allein auf die gebräuchlichsten Formulierungen vertraut; Klarheit darf nie absinken zur Abgedroschenheit. Denn auch wenn Aristoteles Wert darauf legt, dass Worte aus Gründen der Verständlichkeit in ihrer gängigen Bedeutung zu benutzen seien, so sind es die Metaphern, die, so sie denn gut gewählt sind, etwas Neues und Ungewohntes hinzufügen – was aber nicht auffällt, sondern zur Prägnanz des Gesagten beiträgt.142 Könnerschaft im Umgang mit Metaphern wird mithin gar nicht als solche sichtbar, sondern löst sich in reine Wirkung auf. Genau das Gegenteil ist der Fall, wenn der Redeschmuck gesucht oder gar künstlich wirkt. Aristoteles spricht hier von psychra – von einer Frostigkeit der Sprache. Gesuchte und übertriebene Redewendungen sind unpassend und unanJHPHVVHQ±VLHUFNHQGLH5HGHVSUDFKOLFKLQGLH1lKHGHU3RHVLHāEHUIKUHQ GHQ5HGQHU³GHV:ROOHQVDEHUQLFKW.|QQHQVXQG]HUVW|UHQGDPLWVHLQH3HUVXasionskraft. Eine interessante Facette von Angemessenheit bringt Aristoteles an dieser Stelle ins Spiel – nämlich jene, dass der Redner auch in Bezug auf sich selbst, konkreter: auf sein eigenes sprachliches Können, Angemessenheit walten lassen soll. Er rät deshalb dazu, lieber eine mittlere Stilebene anzupeilen, anstatt VLFK GXUFK /HLFKWIHUWLJNHLW LP 7RQ ]X YHUJUHLIHQ ± GHQQ Ä/HLFKWIHUWLJNHLW LVW RKQH9HUGLHQVW0l‰LJNHLWDEHURKQH)HKOHU³143 Wie lassen sich die bisherigen Überlegungen zur Bestimmung des prépon auf einen Nenner bringen? Offenkundig liegt die Angemessenheit in der Vermeidung eines Zuviel oder Zuwenig – sie liegt in der Mitte zwischen Abgedroschenheit und Verkünstelung, zwischen Übertreibung und Herabsetzung eines Redegegenstandes, zwischen der Flucht in Phrasen und Gemeinplätze und rhetorischer Selbstüberforderung des Redners. Kurzum: zwischen den Extremen. Was angemessen ist, orientiert sich an einem mittleren Maß: dêlon hoti to méson harmóttei.144 Das Angemessene ist also – exakt so wie es schon die Tugend in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik war – stets zwischen zwei Extremen zu suFKHQÄ'LH7XJHQGGHV$XVGUXFNVVHLEHVWLPPWDOV.ODUKHLWXQGZHGHU]XÀDFK QRFK EHU GLH :UGH GHV 7KHPDV KLQDXVVFKLH‰HQG VRQGHUQ DQJHPHVVHQ³145 Fast eine petitio principii ZDV$ULVWRWHOHV KLHU DOV 'H¿QLWLRQ DQELHWHW ± GHQQ dass die aretê des Ausdrucks nichts anderes sein kann als Angemessenheit, das dürfte klar zutage liegen. Jedenfalls wird sie nicht im Zuviel oder Zuwenig zu ¿QGHQVHLQVRQGHUQHEHQDOOHLQLPUHFKWHQ0D‰ Dieses meson der Rhetorik ist wie die mesotes der Ethik nicht mit einem gleichsam arithmetischen Mittelmaß, einer Äquidistanz zu den Extremen der 140 141 142 143 144 145

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3.2.2.. 1404b 6. 3.2.8., 1405a 8f. 3.2.6., 1404b 36. 3.3.3., 1406a 17. 3.12.6., 1414a 26. 3.2.1., 1404b 4.

Skala, zu verwechseln – schließlich ist die rechte Sprachebene einerseits nur angesichts der Dignität des behandelten Themas zu wählen, andererseits geht es natürlich schon darum, eine besonders gelungene Mischung aus Bekanntem und 3UlJQDQWHP]X¿QGHQ'HQQZlKUHQG±LQ8PNHKUGHVRELJHQ=LWDWHV±0l‰LJkeit keine Fehler hat, so sollte der Redner natürlich schon nach dem Verdienst einer besonders angemessenen, angenehmen sprachlichen Darstellung streben. Wie aber lässt sich diese sprachlich-stilistische, alles ins rechte Verhältnis, in die rechten Proportionen bringende Angemessenheit verwirklichen? Und damit die Persuasion, die an sie geknüpft ist? Auch hier wieder bietet sich die Metapher als Inbegriff aller Schwierigkeiten an, die sich mit dem prépon verbinden. Denn geradeheraus stellt Aristoteles fest, dass ihr Gebrauch nicht von jemand anderem abgeschaut und so erlernt werden könne.146 Wieder also: ein entscheidendes Kriterium für die persuasive Rede, und wieder das unumwundene Eingeständnis, dass die téchnê zu seiner Anwendung keinen Beitrag leisten kann.

Der angemessene Vortrag Bei der Behandlung der Kunst des Vortrags, der hypokrisis, manifestiert sich aufs Neue und auf das Deutlichste, wie weit sich Aristoteles entfernt von seinem Entwurf einer rhetorischen téchnê, aber auch, wie widerwillig er das tut. Auf einmal nämlich sind es nicht mehr die Enthymeme, von denen die größte Überzeugungskraft ausgeht; sondern es ist die Ausgestaltung des lebendigen Vortrags, der die größte persuasive Kraft habe;147 so groß, dass der Ausdruck selber eher beeindrucke als die Kraft der verwendeten Argumente.148 Und da die Fähigkeit zur gewinnenden hypokrisis vor allem eine Frage natürlichen Talents sei und – was noch wichtiger ist – größtenteils sich gar nicht auf Regeln reduzieren lasse,149 sieht sich Aristoteles gezwungen, die begrenzte Reichweite rhetorischer Regeln für die Persuasionsleistung zuzugeben. Trotzdem aber sind diese Zeilen der Rhetorik wieder geprägt von jenem Duktus der ersten Kapitels, mit dem sich Aristoteles gegen die zeitgenössischen Handbuchautoren richtet; hier, wo es um die Vortragskunst geht, lässt es sich Aristoteles sogar nicht nehmen, Gorgias selbst beim Namen zu nennen und seinen Redestil in Zweifel zu ziehen. Der große Sophist also dient Aristoteles als schlechtes Beispiel und muss gar als schwarzes Schaf der Vortragskunst herhalten.150 Erstaunt zeigt sich Aristoteles darüber, dass noch immer die Mehrheit der Zuhörer der Ansicht sei, sein exaltierter Redestil sei der schönste.151 Gleichwohl 146 147 148 149 150 151

3.2.8., 1405a 9f. 3.1.3., 1403b 21f. 3.1.7., 1404a 18f. 3.1.7., 1404a 15. 3.1.9., 1404a 29. 3.1.9., 1404a 27f.

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muss er wenige Zeilen später zugeben, dass eine Sprache, die vom Gewohnten DEZHLFKWYRQGHQ/HXWHQDOVEHVRQGHUVDQ]LHKHQGHPSIXQGHQZLUG±GHQQÄZDV ZXQGHUOLFKLVWLVWV‰³152 Viel bemerkenswerter als die Tatsache, dass Aristoteles von einem blumigen, poetischen Stil abrät, ist, dass er auf den letzten Seiten der Rhetorik gerade zu dem ermuntert, wovor er zu Beginn des Werkes gewarnt hatte: nämlich dazu, die Überzeugungskraft von Enthymemen eher als mäßig einzuschätzen und ihren Gebrauch deshalb zu begrenzen. So erweist sich im dritten Buch der Rhetorik, dass Aristoteles zwar dem logischen Beweis generell den Vorzug einräumt; aber er weiß um die Grenzen der Plausibilität, an die ein gehäufter Gebrauch von Enthymemen stoßen kann.153 Ähnliches gilt, wenn der Redner seine moralische Haltung deutlich zu machen sucht, denn echei oute êthos oute prohaíresin hê apódeixis±ÄORJLVFKH%HZHLVIKUXQJKDWZHGHU(WKRVQRFKPRUDOLVFKH $EVLFKWHQ³154 Mehr noch: Was akribisch wirkt – nämlich die logisch exakte Beweisführung – kann der Angemessenheit im Wege stehen, weil sie nichts dazu beiträgt, den Redner in ein positives, weil tugendhaftes Licht zu tauchen.155 Auch wenn Aristoteles das Thema Angemessenheit nur kursorisch behandelt und ihm offenkundig keine zentrale Stellung in seiner Rhetorik zubilligt – auffällig ist doch, wie er, ohne viel Aufhebens darum zu machen, die Angemessenheit in seinen Formulierungen immer wieder als regulatives Prinzip in Anspruch nimmt. Und zwar gerade da, wo er abseits aller Betrachtungen über den Status und die Legitimität der Rhetorik unumwunden handwerkliche Hinweise gibt – was er ja gerade im dritten Buch in weiten Teilen tut. Immer wieder taucht hier das Verb harmóttein auf: Was passt, was sich fügt und angemessen ist, entscheidet also über den Einsatz des einen oder anderen Stilmittels – etwa über das rechte Maß und die passende Art von Witz und Humor156 oder über die Ausgestaltung der letzten Sätze einer Rede.157 Wiederholt konnten wir feststellen, dass, je mehr sich Aristoteles einlässt auf die situativen Faktoren, von denen die Persuasion schließlich abhängt, ihm die Überzeugungsleistung immer mehr aus dem Griff der téchnê entgleitet. Nicht nur, dass pithanon und prépon auf das Engste miteinander verquickt sind; nein, je mehr Aristoteles auf das Kriterium der Angemessenheit und seine höchst relativen Bestimmungsmomente eingeht, desto größer wird auch ihr Gewicht für die Theorie, oder präziser: die beschränkte Theoretisierbarkeit der Persuasion. Wir wollen nicht unterschlagen, dass Aristoteles selbst diese Schranken nicht nur 152

153 154 155 156 157

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3.2.3, 1404b 11. Zugleich konstatiert Aristoteles eine Absetzbewegung vom poetisch-literarischen Stil, die von den Dichtern selbst ausgehe. So hätten Tragödienautoren das Metrum vom Tetrameter auf den Iambus umgestellt, da dieser Versfuß dem natürlichen Sprechen näher sei. Ä'DKHULVWHVDEVXUGGLHMHQLJHQ]XLPLWLHUHQGLHVHOEVWQLFKWOlQJHUGLHVHQ6WLOGHU5HGHSÀHJHQ³VFKUHLEW$ULVWRWHOHVGHQ5HGQHUQLQV6WDPPEXFKFID 3.17.7.f., 1418a 9ff. 3.17.8., 1418a 16f. 3.17.12., 1418a 40. 3.18.7., 1419b 7f. 3.19.5., 1420a 7.

gesehen, sondern sogar explizit angesprochen hat: kyriôtera gar estin pros tên chreian tôn kathólou ta kath’ hekasta tôn pragmátôn±ÄGHQQIUGHQ*HEUDXFK VLQGGLHVSH]LHOOHQ6DFKYHUKDOWHYRQJU|‰HUHP*HZLFKWDOVGLHDOOJHPHLQHQ³158 %HLQDKHHLQ:LGHUKDOOGHU'H¿QLWLRQGHU5KHWRULNEHUKDXSWDOV)lKLJNHLWGDV Überzeugende in jedem Einzelfall zu erkennen.

Die größte Kunst ist die, die niemand als solche bemerkt Wie eine ironische, ja subversive Pointe nimmt es sich aus, wenn Aristoteles dem Gerichtsredner einen Topos an die Hand gibt, der seine Überzeugungskraft aus dem Misstrauen gegen die Rhetorik schöpft, ja Redegeschick sogar zum beODVWHQGHQ,QGL]HUNOlUWÄ'LHMHQLJHQDEHUPHLQHQDPHKHVWHQXQJHVWUDIW8QUHFKW WXQ]XN|QQHQGLHIlKLJVLQG]XUHGHQ>@XQGHUIDKUHQLQYLHOHQ'LVSXWHQ³159 Auch der Argwohn gegen die Eloquenz also lässt sich in topische Währung konvertieren, selbst das Argument gegen die Persuasion hilft, Persuasionsgewinn einzustreichen. Mühelos vermag der Rhetor für die Redepraxis zu instrumentalisieren, was die rhetorische Disziplin spätestens seit den Sophisten in Bedrängnis gehalten hat – den Verdacht nämlich, der gekonnte Umgang mit Sprache diene einzig und allein dazu, ein parteiliches Interesse ungeachtet seines Wahrheitsgehaltes und seiner Legitimität durchzusetzen. Eine ambivalente, eine schillernde Finesse allemal: Einerseits arbeitet sie zu Gunsten der Rhetorik, indem sie eindrucksvoll das Geschick des Redners illustriert, eine Situation richtig einzuschätzen und Argumente aufzuspüren, die bei GHQ=XK|UHUQYHUIDQJHQ$QGHUHUVHLWVDEHUPDFKWVLHDXIGLHMDQXVN|S¿JH1DWXU einer Rhetorik explizit aufmerksam, die, wie wir nach den vorangehenden Überlegungen wissen, ihre Herkunft aus einer lebensweltlichen dynamis tôn lógôn, dem Vermögen zu reden also, nicht verleugnen kann und dafür den Preis der moralischen Indifferenz zu entrichten hat. Doch sehen wir von diesen Implikationen ab. Aristoteles führt hier nur noch einmal vor – in erstaunlich sorgloser Art und Weise, das ist richtig –, was wir eh schon wissen. Nämlich, dass es keine téchnê der Rhetorik gibt, die beides kann – zur Persuasion anleiten und gleichzeitig sich auf wahrheitsgemäße Aussagen zu beschränken. Viel interessanter an der soeben zitierten Passage ist etwas anderes. Gemeint ist das intrikate Verhältnis, in dem die kunstvoll gestaltete Rede zur Kunst der kunstvoll gestalteten Rede steht. Das heißt in einem, das sich am treffendsten als gezielte Verschleierung beschreiben lässt. Kurzum, am wirkungsvollsten ist jene Redekunst, die sich nicht als solche erkennen lässt. Oder: am kunstvollsten ist das, was nicht künstlich ist; und damit in höchstem Maße persuasiv. 158 159

2.19.27., 1393a 17ff. 1.12.2., 1372a 11f.

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Genau das nämlich ist das höchste Prinzip der Angemessenheit – und damit auch das höchste Prinzip der Persuasion –, auf das Aristoteles im dritten Buch der Rhetorik zusteuert.160(VLVWHQWVFKHLGHQGVRVFKUHLEWHUÄGLH.XQVWIHUWLJNHLW anzuwenden, ohne dass man es merkt, und die Rede nicht als verfertigt, sondern DOVQDWUOLFKHUVFKHLQHQ]XODVVHQ>@GHQQVRQVWQHKPHQGLH=XK|UHU$QVWR‰ GDUDQZLHJHJHQMHPDQGHQGHUHWZDVLP6FKLOGHIKUW³161 Als Ausweis rhetoULVFKHU([SHUWLVHJLOWDOVRGDV.XQVWJHPl‰HXQGGDPLW$UWL¿]LHOOHGHUHLJHQHQ Rede zu verbergen: die Vollendung der Redekunst liegt in ihrem Unsichtbarwerden. Dazu wäre sicherlich kaum ein Kunstgriff geeigneter als derjenige, das Redegeschick des Gegners dem Ressentiment der polloi auszusetzen und sich selbst als einfach und ehrlich darzustellen. Genau das ist ja das Strategem, das Aristoteles in der oben zitierten Stelle als Topos anbietet. 8QGQLFKWQXUGRUW7DWVlFKOLFK¿QGHQVLFKHLQHJDQ]H5HLKHYRQ3DVVDJHQ in denen Aristoteles das gleiche Prinzip – nämlich das des natürlich Scheinens – auf die verschiedenen Bereiche der lexis anwendet. Was die Wahl der Worte DQJHKWVRVDJW$ULVWRWHOHVÄ'LHVHU7ULFNJOFNWZHQQPDQVHLQH5HGHNRPponiert, indem man seinen Wortschatz aus der gewöhnlichen Umgangssprache QLPPW³162 und auch wenn es, wie wir gesehen haben, geboten ist, hier und da ein wenig Würze in die Alltagssprache zu bringen, so warnt Aristoteles doch vor dem übermäßigen Gebrauch von schmückenden Adjektiven. Dieser nämOLFKāEHUIKUW³163 den Redner – er kommt in den Ruch der Künstlichkeit. Und die – so stellt Aristoteles wiederholt fest – schmälert oder, im schlimmsten Fall, nimmt jegliche Überzeugungskraft.164 Den gleichen Gedanken greift Aristoteles noch einmal auf, wo er auf den Sprachrhythmus in der Prosarede zu sprechen kommt. Sie solle ausdrücklich nicht metrisch verfasst sein – sie habe nämlich VRQVWNHLQHhEHU]HXJXQJVNUDIWGDVLHÄJHNQVWHOW³]XVHLQVFKHLQW165 Und Ähnliches gilt im Übrigen auch für die Selbstdarstellung des Redners, für die Hinweise, die er auf seine charakterliche Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit gibt; auch hier rät Aristoteles dazu, dies unauffällig – lanthánôn – zu tun.166 Freilich geht es nicht um eine natürliche, unbewusste Rhetorik – sondern um HLQHGLHLKUHUHÀHNWLHUWH0DFKDUWQLFKWRIIHQNXQGLJZHUGHQOlVVW6RUlW$ULVWRteles dem Redner, Kritik, etwa an einer übertriebenen Darstellung, vorwegzu160

161 162 163 164 165 166

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Wenn Max Pohlenz also schreibt, bei Aristoteles fände der Begriff des prépon zwar Eingang in VHLQ'HQNHQÄRKQHGRFK]XHLQHP7HUPLQXVYRQNRQVWLWXWLYHU%HGHXWXQJ]XZHUGHQ³GDQQLVW GDV]ZDULQVRIHUQULFKWLJDOV$ULVWRWHOHVLKP±JHZLVVHUPD‰HQRI¿]LHOO±NHLQHQKHUDXVUDJHQGHQ Stellenwert weder in seiner ethischen noch in seiner rhetorischen Theorie zuweist; aber insofern auch unzutreffend, als die Angemessenheit ja, wie wir gesehen haben, letztlich durchaus als oberstes Prinzip der Persuasion erscheint. Cf. M. Pohlenz., 137. 3.2.4., 1404b 18–21. 3.2.5., 1404b 22. 3.3.3., 1406a 13. 3.3.4., 1406b 14. 3.8.1., 1408b 22. 3.16.10., 1417b 8.

nehmen, denn wenn der Redner offenlegt – offenzulegen scheint –, was er tut, dann scheine auch wahr, was er sagt.167 Auch eine Häufung von Ausdrucksmitteln – etwa sprachlicher und stimmliFKHU$UW±HPS¿HKOW$ULVWRWHOHV]XYHUPHLGHQ$XFKKLHUZLHGHUXPJLOWHVGDV UHFKWH0D‰]X¿QGHQ6RVROOHQHLQHUVHLWVKDUVFKH:RUWHQLFKWDXIKDUVFKH:HLse vorgetragen werden, andernfalls werde offenkundig, was man tue.168 Andererseits aber muss auch ein komplementärer Gebrauch der rhetorischen Mittel verKlOWQLVPl‰LJEOHLEHQVROOQLFKWGLHhEHU]HXJXQJVNUDIWOHLGHQ'HQQÄZHQQDOV Ergebnis, freundliche Dinge harsch und harsche Dinge freundlich vorgebracht ZHUGHQZLUGPDQXQJODXEZUGLJ³169 So ist das: Sogar bei jenen Kunstgriffen, die dazu dienen, die Angemessenheit der Rede sicherzustellen, gilt es selbst wiederum, die Proportionen zu wahren. Das, was natürlich und intuitiv wirken VROOLVWLQ:LUNOLFKNHLWGDV5HVXOWDWIHLQHU.DONOHGHUÃ5HODWLYLWlW‫ދ‬GLHDEHUHLgentlich keine sein können; denn sonst wäre ja jeder in der Lage, sie anzustellen.

Der Anspruch der Angemessenheit Das griechische Wort téchnêZLUGLP'HXWVFKHQPDOPLWÄ:LVVHQVFKDIW³PDO PLW Ä.XQVW³ ZLHGHUJHJHEHQ 0LW %OLFN DXI GLH DULVWRWHOLVFKHRhetorik scheint diese Dualität besonders folgerichtig. Aristoteles hatte sich das Ziel gesteckt, die Rhetorik, dieses omnipräsente und den Menschen auszeichnende Phänomen, als wissenschaftliche Disziplin zu entwickeln. Das Ende seiner drei Bücher umfassenden Argumentation scheint viel eher eine Kunst zum Gegenstand zu haben. Eine Kunstfertigkeit allemal, in der es viel eher um Relationen, um Proportionen geht denn um fest gefügte Verfahrensweisen. Warum, ist klar: Angemessenheit hat sich als oberstes regulatives Prinzip für Persuasion herauskristallisiert. Persuasion aber war das Phänomen, das Aristoteles von Anbeginn an im Auge hatte. Weil er diese zentrale Aufgabe der Rhetorik nicht philosophischwissenschaftlichen Stilisierungen opfern wollte, hat er stattdessen den téchnêAnsatz des Anfangs allmählich aufgegeben und seine Konzeption stattdessen immer weiter für Mittel und Wege geöffnet, die sich aus der Überzeugungssituation ergeben und auch nur in ihr konkretisiert werden können. Was aber gar nicht hinreichend betont werden kann, ist, dass Aristoteles nicht das Primat der Persuasion allein zum Leitfaden seiner Überlegungen macht. Vielmehr schließt sich seine Argumentation insofern den Sophisten an, als er in der Rhetorik das einzige und darum so wertvolle Instrument erkennt, Entscheidungen unter Bedingungen der Kontingenz zu herbeizuführen – da, wo Zweifel herrschen, wo es einander widerstreitende Argumente gibt und sich die Dinge 167 168 169

3.7.9., 1408b 2f. 3.7.10., 1408b 8. 3.7.10., 1408b 9f.

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ambivalent zeigen; da, wo wir keine objektiven Verfahren haben um festzustellen, was die beste Lösung ist, und da, wo wir es nicht mit Tatsachen, sondern mit Abwägungen zu tun haben, die Zukünftiges betreffen. Aristoteles, der Philosoph, hat damit viel von dem aufgegriffen, was auch die Rhetorikauffassung der Sophisten ausmacht. Ohne allerdings dabei einen eigenen Begriff für die AngePHVVHQKHLW]X¿QGHQXQGLQV=HQWUXPVHLQHUhEHUOHJXQJHQ]XVWHOOHQVRZLH die Sophisten dies mit dem kairós gemacht hatten. Dennoch: je weiter sich Aristoteles’ Argumentation entwickelt, desto weiter entfernt sie sich vom entechnos methodos und desto mehr ist sie imprägniert von den Anforderungen, die die Angemessenheit nicht allein an den Redner, sondern an die Rhetorik stellt – nämlich die Fähigkeit zu akzeptieren, dass sich die entscheidende Kategorie der Disziplin nicht in ein Korsett aus Regeln einschnüren lässt und sich der Redner erst in der Konkretion des Moments als Meister seines Fachs erweisen kann.

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III. Redekunst und Lebenskunst bei Cicero: Vom decorum orationis zum decorum vitae

Nachdem wir die sophistische und die aristotelische Rhetorik sowohl hinsichtlich ihrer Begriffe von Angemessenheit untersucht haben als auch im Hinblick darauf, welche Auswirkungen die Rolle der Angemessenheit für die Theorie der Rhetorik hat, sind uns nun schon eine Reihe von Gesichtspunkten vertraut, die wir bei beiden herausdestillieren konnten. Wenn wir uns nun Cicero zuwenden, so werden wir zahlreichen dieser Merkmale erneut begegnen. Zugleich aber erreicht die Orientierung an der Angemessenheit, am decorum, bei Cicero eine neue Qualität – weitet er doch das decorum orationis zum decorum vitae aus.

Decorum statt ars In Ciceros Werk De oratore, auf das sich die folgende Analyse hauptsächlich stützt, gehen Theorie der Rhetorik – die ausführliche Diskussion der ars – und Metabetrachtung der disciplina und ihrer Grenzen Hand in Hand. Dabei nimmt die Betrachtung des decorum eine Schlüsselstellung ein: Nicht, dass Cicero diesem Thema lange Passagen des Textes gewidmet hätte; gleichwohl wird die Bedeutsamkeit des decorum allein schon dadurch markiert, dass es als caput artis gleichsam an die Spitze der Rhetorik gesetzt wird. Wer sich nun allerdings eine umfassende Diskussion, gar eine bündige Regel erhofft hatte, mit deren Hilfe die Natur des decorum umfassend sich erhellen, gar handhabbar machen ließe, der wird enttäuscht. Beinahe die gesamten drei Bücher von De oratore hindurch bleibt die Frage nach dem decorum ungestellt und damit unbeantwortet. Dann, als Crassus schließlich das beinahe einzige noch verbliebene Thema mit der Frage einleitet, quid aptum sit, hoc est, quid maxime deceat in oratione,1 fällt die Antwort laSLGDUDXV$QVWHOOHGHWDLOOLHUWHU$XVIKUXQJHQ]XP$QJHPHVVHQHQ¿QGHQVLFK bloß ein paar Gemeinplätze: Große Strafprozesse fordern einen anderen Tonfall als Zivil- und Bagatellverfahren; es kommt darauf an, ob die Zuhörer Senatoren, Richter oder normale Bürger sind; der Redner selbst muss auf sein Alter, sein Amt und seinen Rang achten; und der rednerische Schmuck solle bald intensiver, bald verhaltener zum Einsatz kommen. Kaum zwanzig Zeilen widmet Cicero hier jenen Gesichtspunkten, die das decorum betreffen. Zu überraschen vermag uns diese lapidare Behandlung des Themas gleichwohl nicht mehr. Denn obwohl Cicero ausdrücklich die überragende Bedeutung 1

Cic. De or., III 210.

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des decorum mit dem Hinweis markiert, es kröne die gesamte Beredsamkeit,2 so ist es dennoch wohl nicht umsonst die Figur des als besonders versiert im Vortrag geltenden Crassus, der Cicero zustimmend ein Zitat des Schauspielers Roscius in den Mund legt: esse caput artis decere, quod tamen unum id esse, quod tradi arte non possit±ÄGLHZLFKWLJVWH9RUDXVVHW]XQJGHU.XQVWVHL6WLOJHIKOXQGGRFKVHLGDVGDVHLQ]LJHZDVGLH.XQVWQLFKWYHUPLWWHOQN|QQH³3 'DPLWLVWGLHK|FKVWH(EHQHUKHWRULVFKHU.|QQHUVFKDIW±QlPOLFKGLHÄ%HKHUUVFKXQJ³GHVdecorum – bezeichnet und im selben Augenblick auch schon dem Zugriff der ars und damit zugleich auch dem aller Schulbuch-Rhetoriker entzogen.4 Können die besten Redner ihrer Zeit, Crassus und Antonius, die Cicero in seinem Dialog De oratore disputieren lässt, ihre in jahrzehntelanger Auseinandersetzung vor Senat und Gericht erworbene rhetorische Expertise in die Form einiger weniger, einprägsamer Regeln gießen und an ihre Schüler weiterreichen? Es macht Ciceros Subtilität aus, dass die Beantwortung dieser Frage mit Nein in De oratore offenbar selbst als eine Frage der Angemessenheit empfunden wird. Immer wieder gewinnt der Leser den Eindruck, das decorum diktiere es Crassus und Antonius geradezu, dem Drängen der wissbegierigen Jungoratoren Sulpicius und Cotta nach einem kompakten Lehrgang der Rhetorik zurückzuweisen. Crassus beispielsweise kommt es gerade darauf an, ne quidam magister atque artifexÄQLFKWDOVHLQ/HKUPHLVWHURGHU7KHRUHWLNHU³]XHUVFKHLQHQ5 Vielmehr sagt er von sich – und hier wird nun wirklich die größtmögliche Distanz zum dubiosen griechischen Redetrainer aufgebaut –, er spreche über die Beredsamkeit sicut unus paterfamilias – wie ein ganz gewöhnlicher Familienvater.6 Gerade er! Wie bereits Platon ein knappes halbes Jahrtausend zuvor in Athen, wie Aristoteles, so nimmt sich auch Cicero kritisch der zeitgenössischen Rhetorik-Leitfäden und schulmeister an.7 Und nicht selten trägt er diese Kritik mit einem Gestus der Herablassung vor.8 Der junge Catulus zum Beispiel kritisiert die griechischen doctores, die nur den Schulbetrieb, nicht aber das Forum kennten.9 Für Antonius ist deren doctrina deshalb auch zutiefst lächerlich, perridicula.10 Was QlPOLFKGHUÄ6FKXO5KHWRULN³IHKOHGDVVHLGLH6LWXDWLRQLQGHUHVDXIHWZDV

Cic. De or., III 91. Cic. De or., I 132. 4 Dass es für viele wichtige Probleme der Rhetorik nichts in den Systemen Überliefertes gibt, deutet Cicero vielfach an, zum Beispiel in II 64. 5  &LF'HRU,GHUJOHLFKH7HQRU¿QGHWVLFKEHLVSLHOVZHLVHDXFK, 6 Cic. De or., I 132. 7 Zu der Anregung der Kritik Ciceros durch Aristoteles und die Peripatetiker cf. Karl Barwick, Ä'DVUHGQHULVFKH%LOGXQJVLGHDO&LFHURV³ 8 Beispielsweise in Cic. De or., I 105. Da heißt es über die wissbegierigen Sulpicius und Cotta, dass non Graeci alicuius cotidianam loquacitatem sine usu neque ex scholis cantilenam requirunt. 9 Cic. De or., II 75. 10 Cic. De or., II 77. 2 3

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ankommt – die Konfrontation des Redners mit all jenen Faktoren, die das Beherrschen des Moments so schwierig machen. Durch seine implizite Befassung mit der Angemessenheit im Rahmen einer 5HÀH[LRQEHUGDV9HUKlOWQLVYRQUKHWRULVFKHU7KHRULHXQG3UD[LV±HLQHU5HÀHxion, auf die er in De oratore beständig zurückkommt – macht Cicero nicht nur deutlich, dass sich das decorum einem handwerklich-direkten Zugriff entzieht GLHÄHQWWlXVFKHQGH³%HKDQGOXQJLPGULWWHQ%XFKLVWQXUQRFKHLQPDO,OOXVWUDWLon und indirekte Bestätigung dieser Sichtweise); vielmehr schützt er sich auch davor, einen Anspruch auf Regelbildung dort zu erheben, wo er der Sache nach nicht eingelöst werden kann: Eine notwendige Bescheidenheit, will er sich nicht mit den belächelten doctores auf eine Stufe stellen.11 Auch wenn Cicero also aus gutem Grund das decorum kaum als Gegenstand namhaft macht: Seine zentrale Bedeutung für die Persuasion, die Aristoteles erst nach und nach herauspräpariert hatte, streicht er in aller Deutlichkeit hervor. Idealisierungen der Redesituation liegen ihm fern. Für ihn existiert in der jeweiligen Redesituation nur jene bereits von den Sophisten ins Auge gefasste Konstante – nämlich die, dass es keine Konstanten gibt. Die Umstände der Rede sind jedes Mal anders, von irreduzibler Mannigfaltigkeit; der Redner ist, wie Cicero den Antonius sagen lässt, konfrontiert mit einer LQ¿QLWD YDULHWDV WHPSRUXP.12 Nun ist klar, dass damit auch jeglicher Anspruch der Rhetorik auf die systematische Verfertigung von Persuasionserfolg in Frage gestellt ist. Schließlich, so &LFHUR]HLFKQHVLFKHLQ6\VWHPJHUDGHGDGXUFKDXVGDVVHVÄVLFKDXIJUQGOLche Einsicht und vollständige Erkenntnis der Materie, Distanz vom Urteil bloßer 0HLQXQJXQGZLVVHQGHV%HJUHLIHQJUQGHW³±DOOHV0HUNPDOHGLHJHUDGHQLFKW auf die Rhetorik zutreffen.13 Stattdessen, so zeigt sich, ist die Orientierung auf die Zuhörerschaft ebenso essentiell für Ciceros Rhetorikverständnis wie sie es auch in Aristoteles’ Orientierung auf das pithanon schon geworden war. Was für die jeweiligen Zuhörer plausibel ist und was nicht, welches Argument aus ihrer Sicht Gewicht hat, ist das Ergebnis einer dynamischen Situation, nicht das Produkt von Regeln. 11

12 13

Diese Vorgehensweise nun ist – wie aus dieser Argumentation hoffentlich ersichtlich geworden ist – überhaupt nicht, wie Wilhelm Kroll noch meinte, Ciceros schriftstellerischem Ehrgeiz geschuldet, sondern der Sache selbst – der Einsicht nämlich, dass Persuasion nicht allein Sache einer wie auch immer gearteten ars sein kann – und damit eben auch nicht Sache der griechischen 5HGHÄ7HFKQRORJHQ³GLHKLHUQXQHLQPDOKHUKDOWHQPVVHQDOV6QGHQERFNIUHLQHYHUNU]WH Herangehensweise an das Phänomen der Persuasion. Auch die Exkurse in De oratore, ja schon die Form des Dialogs selbst, sind Teil und Ausdruck dieses anti-technologischen Programms, und nicht nur eine Stilfrage, wie Kroll offenbar vermutet, wenn er schreibt, dass Cicero die rheWRULVFKH/HKUHÄGXUFKDOOHUOHL$EVFKZHLIXQJHQLKUHVWURFNHQHQ&KDUDNWHUV]XHQWNOHLGHQVXFKW Er musste das um so mehr im Auge behalten, als er den Tadel, eine téchnê geschrieben zu haben, nicht bloß als Schriftsteller fürchtet, sondern auch als römischer Senator, der sich doppelt davor hüten muss, auf das Niveau des Graeculus otiosus et loquax , KLQDEV]XVWHLJHQ³&I.UROO Ä6WXGLHQEHU&LFHURV6FKULIW'HRUDWRUH³ Cic. De or., II 145. Cic. De or., I 109.

91

Rednerischer Erfolg, so lässt sich zusammenfassen, ist für Cicero in höchstem Maße abhängig von der Situation. Deshalb liegt für Cicero auf der Hand – und auch hier sehen wir die Wiederkehr eines aristotelischen Motivs, wenngleich in potenzierte Form –, dass die rhetorische Theorie erst auf dem Boden von gelingender und als vorbildlich empfundener Redetätigkeit hat kultiviert ZHUGHQN|QQHQLQGHPÄNOXJH0lQQHUPLW(UIDKUXQJGLH%HREDFKWXQJHQGLH man beim praktischen Gebrauch der Rede angestellt hat, beachtet und notiert, EHJULIÀLFKGH¿QLHUWGXUFK(LQWHLOXQJLQ*DWWXQJHQJHNOlUWVRZLHLQ7HLOEHUHLFKH XQWHUJOLHGHUWKDEHQ³14 Die Theorie der Rhetorik folgt also der Empirie – wie die Philosophie dem Denken: VLFHVVHQRQHORTXHQWLDPH[DUWL¿FLRVHGDUWL¿FLXP ex eloquentia natum.15 Die Einsicht in ihre abgeleitete Natur nun bedeutet nicht, dass eine rhetoriVFKH/HKUHY|OOLJEHUÀVVLJVHL,P*HJHQWHLO'DVUKHWRULVFKH6\VWHPGLHQW – da gleichsam Konzentrat richtiger Praxis – als Korrektiv und Maßstab für den 5HGQHU&LFHURV&UDVVXVVLHKWGHQ1XW]HQGHU5HJHOQYRUDOOHPGDULQÄPDQFKHQ /HXWHQHLQHQJHZLVVHQ6FKOLII]XJHEHQ³16 Auch wenn also Sinn und Nutzen der rhetorischen ars nicht darin liegen kann, jemandem rhetorische Fähigkeiten allererst zu verschaffen, so können sie doch dazu dienen, vorhandenes Talent Ä]XHQWZLFNHOQXQG]XIHVWLJHQ³17 An die Stelle detaillierter Anweisungen tritt dabei eine gedankliche Vertrautheit mit den Grundkonstellationen rhetorischer Auseinandersetzung – diese allJHPHLQHQ$VSHNWHVHLHQÄQLFKWQXUEHVFKUlQNWVRQGHUQVRJDUJHULQJDQ=DKO³ 'HUFLFHURQLVFKH$QWRQLXVHPS¿HKOWGLHVH*HVLFKWVSXQNWHÄZRKOJHRUGQHWXQG ZLUNXQJVYROOJHVWDOWHW³18 stets parat19 zu haben. Doch neben den souveränen Umgang mit dem intellektuellen Rüstzeug der Topik20 muss vor allem Menschenkenntnis treten – die Vertrautheit des Redners mit den gängigen Motiven seiner Mitbürger. Der gute Redner soll, so Cicero, vorwegnehmen, was die Zuhörer ÄGHQNHQZDVVLHJODXEHQZDVVLHHUZDUWHQZDVVLHZQVFKHQXQGLQZHOFKH 5LFKWXQJ VLH ZRKO GXUFK GLH 5HGH DP OHLFKWHVWHQ ]X OHQNHQ VLQG³21 Und das eben lässt sich nur in einer konkreten Situation bewerkstelligen. In der Tat also bleibt die Rolle der rhetorischen ars eine sehr beschränkte, bleiben die Lehrbücher lückenhaft und sparen viele wichtige Aufgaben des Redners aus.22 Ganz anders als bei Aristoteles jedoch steht die Frage, ob es sich bei der Rhetorik überhaupt um eine ars handelt oder nicht, für Cicero mitnichten im Zentrum seiner Überlegungen – ganz im Gegenteil, er strebt nicht einmal Cic. De or., I 109; cf. II 32. Cic. De or., I 146. 16 Cic. De or., I 115, cf. II 232. 17 Cic. De or, II 356. 18 Cic. De or., II 145. 19 Cic. De or., II 146. 20  &I&LF'HRU,,Ä'LH:LVVHQVFKDIWJLEWQXU+LQZHLVHZRPDQVXFKHQXQGZRPDQGDV ZRUXPPDQVLFKEHPKWDXV¿QGLJPDFKHQNDQQ³±QLFKWVDQGHUHVLVWMDGLH)XQNWLRQGHU7RSLN 21 Cic. De or., II 186. 22 Cic. De or., II 64. 14 15

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ihre endgültige Klärung an. Sein Antonius jedenfalls mag sich hier nicht zu :RUWNODXEHUHLHQYHUVWHKHQ±ZHQQDOVRÄMHPDQGGLH%HKHUUVFKXQJGLHVHU.XQVW als Wissenschaft im strengen Sinne bezeichnen will, so widersetze ich mich QLFKW³23 Mit Blick auf den Theoriestatus der Rhetorik macht Cicero in gewisser Weise da weiter, wo Aristoteles aufgehört hatte. Den mühsamen Umweg, eine téchnê der Redekunst aufstellen zu wollen, geht er erst gar nicht. Ob Rhetorik nun zu Recht den Anspruch erheben kann, eine ars zu sein oder nicht – für Cicero kommt es darauf letztlich kaum an.24 Worauf es ankommt, ist Angemessenheit, ist das decorum. Sicherlich ist es auch diese Einsicht und nicht nur Ciceros Freude an Gespräch und Disput,25 die ihn veranlasste, De oratore nicht als belehrendes Traktat, nicht als ars, sondern eben als Dialog abzufassen. In der konkreten Situation des Gesprächs ist es leichter, Hinweise auf die Natur der Angemessenheit zu platzieren. Einigen ihrer Parameter wenden wir uns nun zu.

Ciceros Ideal des Redners – seine Fähigkeiten, der Situation gerecht zu werden Hatten die Sophisten der Rednerpersönlichkeit als dem Sieger des agôn, dem Experten rhetorischer deinotes und als homo mensura, der den kairós zu erspüren und zu ergreifen weiß, eine, wenn nicht die zentrale Rolle innerhalb ihrer Rhetorikauffassung zugewiesen, so trat die Person des Redners in Aristoteles’ Rhetorik allenfalls als Träger und Kenner des êthos in Erscheinung – und natürlich als jemand, der sich auf das Schlüsseziehen versteht, als ein enthymematikos:HQLJHUDEHUOLH‰VLFK$ULVWRWHOHVEHUVSH]L¿VFKH7DOHQWHDXVEHU die ein guter Redner zu verfügen hat. Ganz anders nun Cicero. Für ihn, der er von der ars wenig erwartet, ist wieder die Person des Redners von größtem Gewicht. Zugleich macht er – anders wiederum als die Sophisten – deutlich, dass nicht nur der Redner über das Handlungskurs der pólis entscheidet – nicht PLQGHUHQWVFKHLGHQGLH=XK|UHUEHULKQ'HU5HGQHUÄPXVVVLFKGHQ%OLFNHQ DOOHU/HXWHVWHOOHQ³26 Cic. De or., II 32; eine Einschränkung, die Cicero Antonius im weiteren Verlauf von De oratore machen lässt, belegt, dass es sich hier tatsächlich nicht um die Anerkennung eines wissenschaftlichen Status’, sondern lediglich um eine legere Vereinfachung des Sprachgebrauchs handelt; $QWRQLXVVWHOOWQLFKWLQ$EUHGH ,, GDVVHVVLFKEHLGHU5KHWRULNOHGLJOLFKXPÄHLQ$EELOG XQGHLQ*OHLFKQLVYRQ:LVVHQVFKDIW³KDQGHOHbKQOLFKEHUHLWV&UDVVXV , Änon intellego TXDPREUHPQRQVLPLQXVLOODVXEWLOLGH¿QLWLRQHDWKDFYXOJDULRSLQLRQHDUVHVVHYLGHDWXU³ 24 Cf. Barwick, Das rednerische Bildungsideal Ciceros, in: Abh. Sächs. Akad. der Wiss. zu Leipzig, Phil.-Hist. Klasse LIV 3, Berlin 1963, 81; ähnlich Hans Kurt Schulte, Orator. Untersuchungen über das ciceronianische Bildungsideal, 69. 25  &I2*LJRQ%HPHUNXQJHQ]X&LFHURV'HRI¿FLLVLQPoliteia und res publica (Palingenesia 4: Gedenkschrift R. Stark), Wiesbaden 1969, 268. 26 Cic. De or., I 157. 23

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Diese Tatsache ist in höchstem Maße bestimmend für die Situation des Redners und für die Anforderungen, denen er sich stellen muss. Stets nämlich geht es nicht vorranging um die verhandelte Sache, auch nicht allein um die Qualität der Rede, sondern immer auch um den Redner als Person. Der Anwalt vor Gericht muss mithin immer auch in eigener Sache einen Schiedsspruch gewärtigen,27 und ergreift der politische Orator das Wort, wird nicht nur der Nutzen des von ihm vertretenen Standpunktes betrachtet, sondern nicht minder der Wert dessen, GHUVSULFKWÄ6RRIWZLUQlPOLFKUHGHQVRRIWZLUGHLQ8UWHLOEHUXQVJHIlOOW³28 So hoch also das Podest ist, auf den Cicero den Redner hebt angesichts der Größe und Bedeutung seiner Aufgabe, so tief kann der Redner als Person fallen. Die Dramatik dieser Fallhöhe, derer sich der Redner bewusst sein muss, wird dadurch nur noch unterstrichen, dass das Urteil der Masse sich als überaus dauHUKDIWHUZHLVWVRGDVVÄHLQHUDQGHPLUJHQGHWZDVLP5HGHQDXV]XVHW]HQZDU HQWZHGHULPPHURGHUGRFKIUODQJH=HLWLP5XIHGHU%HVFKUlQNWKHLWVWHKW³29 Kurzum, der Redner steht unter einem Druck, den man ruhig als existenziell bezeichnen darf. Denn es geht um seine Existenz. Omnis silentibus±ÄZlKUHQG DOOHVFKZHLJHQ³±YRUHLQHUULHVLJHQ9HUVDPPOXQJYRQ=XK|UHUQGDV:RUW]X HUJUHLIHQQHQQW&LFHURGHQQDXFKÄHLQHJDQ]HUKHEOLFKH/DVWXQG$XIJDEH³30 Was muss der Redner mitbringen, um dieser Herausforderung gerecht zu werden? Welches sind die Ressourcen des Redners, auf die Cicero Wert legt? Es ist noch einmal ein Verdikt gegen die scriptores artis, das uns den Weg weist: Wer nämlich behaupte, so lässt er Crassus sagen, im rhetorischen Schulbetrieb und fernab der politischen und gerichtlichen Auseinandersetzung ließe sich ein JXWHU5HGQHUIRUPHQGHPIHKOHÄLQ:LUNOLFKNHLWQLFKWGLH0HWKRGHVRQGHUQGLH $QODJH³HLQJXWHU5HGQHU]XVHLQ31 Viel wichtiger also als ars oder doctrina ist für Cicero das ingenium des Redners. Alles andere, wenn auch nicht unwichtig, ist lediglich Ergänzung oder Ausbildung der natürlichen Begabungen. Natura, ars, exercitatio – das ist der Dreiklang, der in Ciceros Augen den perfekten Redner ausmacht,32 wobei der Schwerpunkt ganz klar bei Begabung und Fleiß liegt, während der Theorie nur nachrangige Bedeutung zukommt.33 Dem Talent jedoch weist Cicero eine solche Bedeutung zu, dass, wer das ingenium hat, auch ohne Theoriekenntnisse erfolgreich sein kann.34  &LF'HRU,,,(VLVWVR&LFHURDOVREÄXQVGLH0HQVFKHQLQLKUHQ8QWHUKDOWXQJHQJOHLFKVDP YRUHLQYHUJOHLFKHQGHV*HULFKW]LWLHUWHQ³ 28 Cic. De or., I 125. 29 Cic. De or., I 125. 30 Cic. De or., I 116. 31  &LF'HRU,'LHVJLOWXPVRPHKUDOVIUYLHOH)UDJHQGHU5KHWRULNJDUQLFKWÄGLH9RUVFKULIWHQHLQHVDXVJHNOJHOWHQ6\VWHPVVRQGHUQGDV8UWHLOHLQHVJHZ|KQOLFKHQ9HUVWDQGHV³YRQQ|WHQ sind – cf. De or., II 175 32 Oder synonyme Zusammenstellungen wie in II 147 acumen, ratio, diligentia. 33 Cic. De or., II 150. 34 Cic. De or., II 38, cf. II 147. 27

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In den einleitenden Passagen von De oratore, da also, wo Cicero selbst als Autor spricht und nicht das Personal seines Dialoges diese Aufgabe für sich übernehmen lässt, lässt er keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass der ideale Redner vor allem eines sein muss: ein in hohem Maße Gebildeter, um nicht zu sagen: ein Intellektueller.35 Dies stellt natürlich gewisse Ansprüche an die geistigen Anlagen des Redners,36 weshalb Cicero auch zu dem apodiktischen Urteil kommt: Stultitia autem excusationem non habet37 – Dummheit ist unentschuldbar. Dabei verbindet Cicero diese Forderungen nach ausgeprägter Intellektualität des Redners mit einem konkreten Nutzen für die Rede. Dieser besteht insbesondere in Beweglichkeit und Schnelligkeit, denn aninimi atque ingeni celeres quidam motus erscheinen ihm als Voraussetzung für eine scharfsinnige inventio, eine schmuckreiche narratio und eine zuverlässige memoria.38 Ein scharfer Verstand hilft also dabei, alle nötigen Gesichtspunkte eines Themas zu erfassen39 und ist damit Grundvoraussetzung für Angemessenheit mit Blick auf den Redegegenstand. Ganz ähnlich übrigens verhält es sich mit einer anderen Begabung, die Cicero einem idealen Redner zuspricht, nämlich Anmut und Witz (lepos40). Beides nämlich sind Fähigkeiten, die eng mit dem decorum verbunden sind, wie wir noch sehen werden. Was nun aber ist mit der Stimme, dem wichtigsten Instrument des Orators? Ist sie nicht naturgegeben in dem Sinne, dass sie von seinen geistigen KapaziWlWHQXQEHHLQÀXVVWLVW"0LWQLFKWHQ=ZDUPVVHPDQGLH1DWXUELWWHQGDVVGLH 6WLPPHGHXWOLFKXQGDQJHQHKPVHL±ÄDEHUGDVHLQHZLUGhEXQJVWHLJHUQGDV DQGHUHGLH1DFKDKPXQJYRQ/HXWHQGLHNODUXQGVDQIWVSUHFKHQ³41 Damit sind zwei weitere Ressourcen genannt, die den Redner in die Lage versetzen, eine unvorteilhafte Naturausstattung zu überwinden – nämlich exercitatio und imitatio ZREHL&LFHURGLHLPLWDWLRGH¿QLHUWDOVHLQHYHUVWDQGHVPl‰LJDQJHOHLWHWH exercitatio).42 Neben das ingenium tritt also als zweite große Stütze des Redners sein unbeugsamer Fleiß, diligentia: qua una virtute omnes virtutes reliquae continentur.43 Mit einer Fülle von Ausdrücken unterstreicht Cicero die Bedeutung von Willenskraft, Sorgfalt und Ausdauer: Er nennt cura, attentio animi, cogitatio, vigilantia, adsiduitas, studium und labor, um hier einmal eine Auswahl aufzuführen. Der Fleiß ist es, der für den nötigen inneren Antrieb des Redners sorgt, sein Talent durch Übung auszuprägen und durch Praxis den nötigen Schliff zu erwerben. 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Cic. De or., I 5. Zu Ciceros Konzept des perfectus orator cf. Barwick, 7. Cic. De or., I 125. Cic. De or., I 113. Cic. De or., I 151. Cic. De or., I 213. Cic. De off., I 133. Cic. De or., II 90. Cic. De or., II 150.

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'HQQRFK ÀLH‰HQ DOOH (OHPHQWH HLQ LQ GLH )RUPXOLHUXQJ GHV 5HGQHULGHDOV GDV&LFHURGHQ$QWRQLXVlX‰HUQOlVVWÄ:LUEUDXFKHQHLQHQ0DQQPLWVFKDUIHP Geist und einer Klugheit, die sich auf Begabung und Erfahrung gründet, einen Mann, der ein Gespür für die Gedanken und Gefühle, Meinungen und Erwartungen seiner Mitbürger und der Menschen hat, die er durch seine Rede von etwas EHU]HXJHQZLOO³44 – Eine Formulierung, die neben den diskutierten Ingredienzien vorausweist auf die elementare Bedeutung des decorum – ein Maßstab, der sich nicht konstituieren lässt mithilfe irgendeiner ars, sondern einzig und allein durch den Zugang des Redners zu dem, was die Situation – und insbesondere die Erwartung der Zuhörer – erfordert. Kurzum: An die Stelle trockener Regeln tritt der kundige Redner.

Der Redner und sein Publikum: opinio und consensus Die eben zitierte Passage enthält überdies einen wichtigen Fingerzeig auf die HSLVWHPLVFKHQ(LQÀXVVJU|‰HQGHU3HUVXDVLRQ'LHVHVLQGEHL&LFHURQLFKWZHsentlich anders kalibriert als bei Aristoteles. Cicero kennzeichnet das epistemische Niveau, auf dem die Rhetorik agiert, ganz ohne Umschweife als doxastisch: oratoris autem omnis actio opinionibus, non scientia, continetur±Ä'LHJDQ]H 7lWLJNHLWGHV5HGQHUVDEHUJUQGHWVLFKDXI0HLQXQJHQXQGQLFKWDXI:LVVHQ³45 Damit macht auch er evident, dass fein ziselierte Argumentationsketten keinen rhetorischen Erfolg verheißen – schließlich geht es in der rednerischen AuseinDQGHUVHW]XQJXP'LQJHGLHÄPDQQLFKWDXIGHU*ROGZDDJHVRQGHUQDXIHLQHU JDQ]JHZ|KQOLFKHQ:DDJHSUIW³46 Weniger abgeleitet von der Natur der rhetorisch verhandelten Themen – wie bei Aristoteles – als ganz direkt im Hinblick auf den zu erwartenden Persuasionsgewinn beurteilt Cicero die erforderliche Expertise des Redners auf speziellen Wissensgebieten. Fachmann auf einem dieser Gebiete zu sein, zahlt sich für GHQ5KHWRUQLFKWDXV6ROlVVW$QWRQLXVGHQ&UDVVXVZLVVHQ:DVÄHVGLUGDEHL QW]HQNRQQWHLPEUJHUOLFKHQ5HFKWJHEW]XVHLQLVWIUPLFKXQHU¿QGOLFK Genützt hat dir die außerordentliche Kraft der Rede, die sich mit so viel unbeVFKZHUWHU+HLWHUNHLWXQG(OHJDQ]YHUEDQG³47 Was den erfolgreichen, den persuasiven Redner also auszeichnet, ist – so könnte man es pointiert sagen – gerade 44 45 46 47

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Cic. De or., I 223. Cic. De or., II 30. Cic. De or., II 159. Cic. De or., I 243. Interessant übrigens ist eine vom Grundtenor her ganz ähnliche Stelle, I 62, deswegen, weil Cicero hier den Scaevola ein Beispiel geben lässt, das unmittelbar an den platoQLVFKHQ*RUJLDVHULQQHUWÄ8QG$VNOHSLDGHVDQGHPLFKHLQHQ$U]WXQGHLQHQ)UHXQGJHIXQGHQ habe, stützte sich damals, als er durch seine Redekunst die anderen Ärzte in den Schatten stellte, eben darin, dass er so glänzend sprach, nicht auf sein ärztliches, sondern auf sein rhetorisches 7DOHQW³

nicht Expertentum, sondern ganz im Gegenteil: Laientum. Zwar greift er da, wo es vonnöten ist, auf das Wissen von Experten eines bestimmten Sachgebietes ]XUFN±XQGZDKUVFKHLQOLFKNDQQHUQDFKHLQHUVROFKHQ8QWHUULFKWXQJÄEHVVHU UHGHQDOVGLH9HUWUHWHUGLHVHU)lFKHUVHOEVW³48 Aber inhaltlicher Sachverstand, der über ein lebensweltliches Maß hinausginge, ist seine Zuständigkeit nicht. Die liegt nämlich auf ganz anderen Feldern – dort, wo es auf Vermittlung und damit eben auf das decorumDQNRPPWÄ'HQQHVLVWHLQH6DFKHHLQEHVWLPPtes Fachgebiet als Meister zu beherrschen, und eine andere, sich im normalen Leben und dem gewöhnlichen Umgang mit Menschen nicht dumm und ungeVFKLFNW]X]HLJHQ³49 -D &LFHUR VSULFKW HV XQYHUKRKOHQ DXV 5HGHQ ÄULFKWHQ VLFK QDFK GHP *HVFKPDFNGHU0HQJHXQGGHV9RONHV³50 Dieses Unterworfensein unter das Urteil RIWQLFKWVRQGHUOLFKTXDOL¿]LHUWHU=XK|UHUDN]HSWLHUW&LFHUR]ZDUDOVJUXQGOHgend für die Situation des Redners; aber er macht auch schon einmal deutlich, wie beschwerlich dies für den Redner sein kann – gerade dann, wenn man es nicht allein mit Ungebildeten, sondern – was für ihn fast noch schlimmer zu sein scheint – mit bloß halb Gebildeten zu tun hat. Diese lassen es nicht dabei bewenden, dem Redner zuzuhören und dann ein Urteil zu fällen, sondern fühlen VLFKEHIlKLJWGLH5HGHOHLVWXQJLP(LQ]HOQHQXQWHUGLH/XSH]XQHKPHQÄ:LU stehen aber schon unter dem Druck der Meinungen, nicht nur der breiten MasVHVRQGHUQDXFKGHU0HQVFKHQGLHQXUHLQHREHUÀlFKOLFKH%LOGXQJJHQRVVHQ KDEHQZDVVLHDOV*DQ]HVQLFKWHUIDVVHQN|QQHQ]HUUHL‰HQXQG]HUSÀFNHQVLH JOHLFKVDPXPOHLFKWHUGDPLW]XKDQWLHUHQ³51 Cicero beklagt diese Umstände nicht – wohl aber streut er hier und da kleine Spötteleien ein, mit denen er das epistemische Gefälle zwischen Redner und Hörerschaft kommentiert. So mache es die Qualität einer Rede aus, dass sie ÄNOXJHQ/HXWHQJXWGXPPHQVRJDUDOVZDKUHUVFKHLQW³52 Was hier mit einem Zungenschlag daherkommt, der zynisch erscheinen mag, markiert nicht nur den Unterschied zwischen professioneller und laienhafter Sicht; sondern bezeichnet den persuasiven Brückenschlag, um den es dem Rhetor zu tun sein muss. Wenn eine Rede den intellektuell Gleichrangigen gut, den Unbedarften wahr erscheint, so ist das decorum gewahrt. Schließlich hatte keiner der Zuhörer Anlass, Anstoß zu nehmen an dem, was der Redner vorgebracht hat. 48

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Cic. De or., I 65 – hier kommt einem, wie schon in I 62, Gorgias in den Sinn, der ja auch von sich sagte, er sei im Grunde der bessere Arzt gewesen, weil er es mit Hilfe der Redekunst geschafft habe, die Patienten von Behandlungen zu überzeugen, zu denen sie den Ärzten die Zustimmung verweigert hatten. Cic. De or., I 248. Cic. De or., I 108. Cic. De or., III 24. Cic. De or., I 44. Im zweiten Buch macht Cicero an einer Stelle deutlich, dass gerade in dieser rhetorischen und argumentativen Unerfahrenheit der Zuhörer eine besondere Gefahr liegt. Auf sie muss der Redner mit besonderer Vorsicht reagieren, um Missgriffe zu vermeiden, die dann begierig aufgegriffen werden: homines enim imperiti facilius quod stulte dixeris reprehendere quam quod sapienter tacueris laudare possunt, II 301.

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Auch wenn also das Publikum in keiner Weise ideal ist – daran, dass es dennoch in der Lage ist, ein wenn schon nicht kompetentes, nichtsdestotrotz zutreffendes Urteil über den Redner zu fällen, lässt Cicero keine Zweifel aufkommen. Cicero akzeptiert – wie schon Aristoteles es tat – das Urteil der Vielen als ausschlaggebend.53 :DV GHU 5HGQHU LP +LQEOLFN DXI VHLQ MHZHLOLJHV VSH]L¿VFKHV Redeziel immer wieder aufs Neue durch seine Rede konstituieren muss – und wozu er nur durch das Produkt aus Begabung, Orientierung an Vorbildern, praktischer Übung und Bewährung in der rednerischen Auseinandersetzung in die Lage versetzt wird –, darüber urteilt das Publikum aufgrund eines sensus naturalis, über den jeder Zuhörer verfügt und der auch nicht auf elaborierte KriteULHQDQJHZLHVHQLVWÄ'DUXPEHPLVVWVLFKGDVZDV/DLHQJHZ|KQOLFKEHUHLQH 5HGQHUVDJHQÃ'HU¿QGHWGLHUHFKWHQ:RUWHµRGHUÃ(LQHU¿QGHWQLFKWGLHUHFKWHQ Worte‘, nicht nach irgendeiner Theorie, sondern es ist gleichsam das Urteil einer $UWQDWUOLFKHQ(PS¿QGHQV³54 :DVDEHUVLQGGLHÄUHFKWHQ:RUWH³"(VNDQQVLFKQXUXPHLQ.ULWHULXPKDQdeln, das entscheidend ist für Erfolg oder Misserfolg des Redners und seiner Persuasionsbestrebungen, ein Kriterium, das als Inbegriff die verschiedenen Ebenen der Argumentation auf sich vereint. Natürlich: Hier geht es um Angemessenheit. Und insofern die Hörer immer diejenigen sind, die das Urteil über den Redner fällen, weist Cicero auf eine folgenreiche Asymmetrie hin: Die PKVDPHUZRUEHQH)lKLJNHLWGHV5HGQHUVGDV$QJHPHVVHQH]XVDJHQ¿QGHW auf Seiten der Zuhörerschaft stets schon ihr passives Gegenstück. Das Publikum EH¿QGHW VLFK LQ GHU NRPIRUWDEOHQ /DJH LPPHU VFKRQ EHU GLH HQWVSUHFKHQGH Urteilsfähigkeit zu verfügen: Ob also der Redner das decorum verletzt oder aber durch seine Worte gewahrt, ja verkörpert hat, ist auch in völliger Unkenntnis des rhetorischen Regelwerks und der sachlichen wie stilistischen Alternativen, bloß DXVYRUJlQJLJHP(PS¿QGHQKHUDXV]XHQWVFKHLGHQ8QGGLHVHP8UWHLOKDWVLFK der Redner zu beugen. *HSUlJW ZLUG GHU FRQVHQVXV GHU =XK|UHU YRQ GHQ *HSÀRJHQKHLWHQ GLH LQ communi vita et vulgari hominum consuetudine anzutreffen sind. Die consuetudo ist also ein moralisch geprägter Begriff, denn er umfasst, wie Cicero selbst ]XU(UOlXWHUXQJDQIKUWDOOGDVÄZDVPLWGHPQRUPDOHQ/HEHQPLWGHU3ROLWLN XQGXQVHUHU*HVHOOVFKDIWGHPDOOJHPHLQHQPHQVFKOLFKHQ(PS¿QGHQGHU1DWXU XQGGHU*HVLWWXQJGHV0HQVFKHQLQ%H]LHKXQJVWHKW³55 Eben das, was wir bei Aristoteles als êthos der polisLGHQWL¿]LHUWKDEHQ$OOHUGLQJVIKUWGDV$XVEXFKstabieren der consuetudo für die Bedürfnisse des Rhetors zu nicht sehr erhellenGHQ5HJHOQZLHÄ8QGYRUDOOHPVHKHGHU5HGQHUZRUEHUHUUHGHW:HQQEHU Cf. K. Oehler, Der Consensus omnium als Kriterium der Wahrheit in der antiken Philosophie und der Patristik, in: Antike und Abendland 10 (1961), insbesondere 106–111. 54 Cic. De or., III 151; ganz ähnlich in III 195. 55  &LF'HRU,,lKQOLFKLQ,GRUWIKUW&LFHURDQÄ)UXQVLQGHVVHQGHUHQ:LUNXQJVIHOG inmitten des Volkes und auf dem Forum liegt, genügt es, über menschliche Gesittung das zu ZLVVHQXQG]XVDJHQZDVQLFKWLP:LGHUVSUXFK]XPHQVFKOLFKHU*HVLWWXQJVWHKW³ 53

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HUQVWH 'LQJH VROO HU 6WUHQJH ZHQQ EHU VFKHU]KDIWH$QPXW ]HLJHQ³56 Oder: Ä+lVVOLFKQlPOLFKXQGVHKUIHKODP3ODW]HLVWHVLQHLQHUHUQVWHQ6DFKH'LQJH GLH]XP*HODJHSDVVHQRGHULUJHQGHLQEHUPWLJHV*HVSUlFKDXI]XEULQJHQ³57 Die consuetudo ist – rhetorisch betrachtet – der Inbegriff der Hörerorientierung Ciceros; zugleich aber weist er voraus auf eine zutiefst öffentliche Moralvorstellung58 – eine Moral, die dem Redner die Rolle zuweist, die Maßstäbe, die in ihr eingebettet liegen, wach zu halten und zu verstärken. Bisweilen fühlt man sich hier stark an Gorgias, die Eingangspassage seiner Helena und auch an seinen Epitaphios erinnert; denn betrachten wir den folgenden Textabschnitt aus De oratore, so wird deutlich, dass Cicero hier im Grunde nichts anderes tut als *RUJLDV¶Ä*HVHW]GHU(QWVSUHFKXQJ³DXI]XJUHLIHQXQGGLH5HJHODXI]XVWHOOHQ der Redner habe zu formulieren, was moralisch angebracht ist in der jeweiliJHQ6LWXDWLRQÄ:HUN|QQWHJOKHQGHU]XPlQQOLFKHU%HZlKUXQJPDKQHQZHU leidenschaftlicher zur Abkehr von Verfehlungen aufrufen, wer das Gesindel schärfer tadeln und die Guten schöner loben, wer als Ankläger die Begierde wirkungsvoller in die Schranken weisen und wer als Tröster die Betrübnis sanfter OLQGHUQ"³59 Aufgabe des Orators ist mithin, nicht allein zu erkennen, was geboten und schicklich ist, sondern die dem decorum entsprechende Handlungsweise auch prägnant und überzeugend vorzubringen und damit eben die Maßstäbe festigen, die die consuetudo formen und die politische Gemeinschaft zur Gemeinschaft machen und als Gemeinschaft erhalten. Wie schon bei Aristoteles, so wird der Redner auch bei Cicero zum Träger des êthos: Er muss die consuetudo nicht allein interpretieren, sondern sie zugleich auch verkörpern.

Die emphatische Verortung des Redners in der Gemeinschaft Wenngleich Ciceros idealer Redner viele Fähigkeiten eines Philosophen haben sollte – so leben darf er nicht. Ein Seitenblick auf 'HRI¿FLLV zeigt, wie kritisch sich Cicero nicht nur über Philosophen, sondern über den Sinn der vita contemplativa im Ganzen äußert. Theorie, sobald sie den Horizont der Lebenswelt überschreitet, und Erkenntnis per se können keine Lebensziele sein. Allzu großer Hingabe sind sie deshalb nicht würdig,60 weil reine Erkenntnis ohne Folgen für jene Sphäre bleibt, in der Cicero selbst sein Leben lang tätig war und die er als Cic. De off., I 134. Cic. De off., I 144. 58 Cf. James J. Barlow, 7KH5RPDQ*HQWOHPDQ$QLQWHUSUHWDWLRQRI&LFHUR¶V'HRI¿FLLV, 325. 59 Cic. De or., II 35. 60  &LF'HRII,GRUWKHL‰WHVÄ'HUDQGHUH)HKOHULVWGHUGDVVPDQFKHHLQDOO]XJUR‰HV6WUHEHQ XQGDOO]XYLHO0KHDXIGXQNOHXQGVFKZLHULJH'LQJHZHQGHQXQG]ZDUQLFKWQRWZHQGLJH³ 'DUDXVOHLWHWVLFKDXFK&LFHURV9RUZXUIDQGLH3KLORVRSKHQLP$OOJHPHLQHQDEÄYRP/HUQHLIHU JHKLQGHUWODVVHQVLHGLHGLHVLHVFKW]HQPVVHQLP6WLFK³, 56 57

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höchsten Bezugspunkt veranschlagt; nämlich die Sphäre der communitas, der societas. Und hier geht es nicht um Wissen allein, sondern um die Mehrung der Vorteile der Menschen – also um das, was schon die Griechen als das sympheron, das Nützliche, bezeichnet und zum Hauptgegenstand der beratenden Rede gemacht haben.61 Der Redner muss also ein mit Blick auf die Gemeinschaft Handelnder sein.62 Das Forum ist weit mehr als nur sein professionelles Handlungsfeld, denn er hat die moralische Berufung, sich in die politische und rechtliche Auseinandersetzung innerhalb der civitasHLQ]XEULQJHQ1XUGRUW¿QGHQVHLQH7DOHQWHGHQULFKWLJHQ(QWIDOWXQJVUDXPÄ(VJLOWIUXQVQXQGLHVHQ0DQQYRQGHPZLUUHGHQLQ GHUgIIHQWOLFKNHLWXQGYRUGHQ$XJHQXQVHUHU0LWEUJHUHLQ]XVHW]HQ³63 Hier setzt Cicero die Akzente erkennbar anders als Aristoteles. Dessen Analyse des pragma der Rhetorik und der Aufnahmefähigkeit der Zuhörerschaft veranlasste ihn, die Redekunst nicht in der Sphäre der Wissenschaft, sondern in der des Handelns zu verorten. Dies aber kam einem Zugeständnis gleich; auch wenn die Rhetorik eine einzigartige Rolle unter allen Wissenschaften und téchnaiEHUQLPPW±VLHHUVFKLHQGHQQRFKDOVHSLVWHPLVFKGH¿]LHQW&LFHURKLQgegen rückt den bios politikos emphatisch nach vorne – aus Aristoteles’ wissenschaftstheoretischer Deskription des Aufgabenbereichs der Rhetorik wird bei &LFHURPRUDOLVFKH$I¿UPDWLRQ,KPUHLFKWHVQLFKWPHKUGLH5KHWRULNDOV,QVtrumentarium für Fragen, in denen es kein Wissen gibt und Zweifel herrschen, zu charakterisieren. Stattdessen spricht er mit Emphase von der Mission des SROLWLVFKHQ5HGQHUV'HUVRVDJWHUJHK|UHÄPLWWHQLQGHQ.DPSIGHQ6WDXE XQGGDV*HVFKUHLLQV/DJHUXQGLQGLH6FKODFKWGHV)RUXPV³64 Nur in der akuten Auseinandersetzung, der von allen beobachteten Konfrontation wird der Redner seiner Bestimmung gerecht.65 Erst hier kann er sich den Anforderungen gewachsen zeigen. Denn allein dank eines animus acer et praesens et acutusÄGXUFK Energie und Geistesgegenwart, durch Scharfsinn und Gewandtheit erringt er GHQ6LHJDXIGHP)RUXP³66 – Ein Vokabular und eine Emphase, die uns von den Sophisten vertraut sind: Erst im agôn entfaltet sich die ganze Gewandtheit – die rhetorische deinotes –, die den Redner im entscheidenden Augenblick, im kairós, unüberwindlich, also dynatôtatos, macht. Zwar zieht Cicero diese Parallelen nicht explizit, doch ist das sophistisch anmutende Pathos des Augenblicks schwerlich zu übersehen. Cicero übernimmt also mit Blick auf die AngemessenKHLWHLQH5HLKHYRQ'HQN¿JXUHQVRZRKOYRQ$ULVWRWHOHV YRUDOOHPPLW%OLFNDXI die Verortung im êthos der Gemeinschaft) als auch aus dem sophistischen Fundus (etwa wenn es um die Betonung des öffentlichen Meinungskampfes geht). Was nun hat der Redner konkret zu tun, welche Leitlinien spricht Cicero für 61 62 63 64 65 66

Cf. Cic. De off., I 155. Cic. De off., I 153. Cic. De or., II 41. Cic. De or., I 157. Cf. C.J. Claassen, Recht. Rhetorik. Politik, 368. Cic. De or., II 84.

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bestimmte Facetten des decorum aus? Dieser Frage wollen wir im Folgenden nachgehen.

Ciceros Operationalisierung des rhetorischen decorum Gehen wir das Wagnis ein, das zu tun, was Cicero unterlassen hat – nämlich eine Liste aufzustellen mit Anhaltspunkten, die es zu beachten gilt, will sich der Redner dem decorum annähern, so erkennen wir folgende Leitlinien: Erstens muss der Redner genau abwägen, ob er überhaupt reden soll. Eine fundamentale Regel lautet zweitens, Fehler zu vermeiden. Drittens: präzise Vorarbeit ist erforderlich. Viertens: einstellen auf die Erwartung des Publikums. Fünftens: celare artem! Und sechstens gilt es – und beides sind eminent moralische Kriterien – den Humor richtig zu dosieren und emotionale Anteilnahme zu zeigen. Sehen wir uns Ciceros Einlassungen zu jeder dieser Leitlinien genauer an. 1. Abwägen, ob man überhaupt reden soll. – Das zeitlich primäre Kriterium für Angemessenheit greift nicht erst beim Vortrag, auch nicht erst bei der inventio, sondern schon bei der Frage, ob die Redekunst hier und jetzt überhaupt von Nutzen sein kann. Wenn nämlich der Anlass den Aufwand nicht lohnt, oder aber die potentiellen Zuhörer absehbar unzugänglich sind für das, was der Redner ]XVDJHQKDWHPS¿HKOW&LFHURJDQ]DXIV5HGHQ]XYHU]LFKWHQ'HQQLQVROFKHQ Situationen könnte der Redner sich lächerlich machen – oder, schlimmer noch, ZDVHU]XJHZlUWLJHQKDWVLQGÄ6SRWWRGHU$EVFKHX>«@ZHQQZLUEHL1LFKWLJkeiten Tragödien aufführen oder darangehen, an etwas, das sich nicht bewegen OlVVWKHUXP]X]HUUHQ³67 Gar nicht zu reden kann also ebenfalls angemessen sein – auch das ist ein Gedanke, den wir von den Sophisten her kennen. 2. Fehler vermeiden! – Eindringlich warnt Cicero den Redner vor der Gefahr, durch Missgriffe nicht allein den Persuasionserfolg in Frage zu stellen – was schlimm genug wäre –, sondern zugleich auch sich selbst in Verruf zu bringen. 'LHVH*HIDKUVHLDOOJHJHQZlUWLJGHQQVR&LFHUREHLP9RONN|QQHPDQÄYLHOIDFK XQGDXIPDQQLJIDFKH:HLVHLQ8QJQDGHIDOOHQ³68 Wichtiger noch als die vollkommene Wahrung des Schicklichen ist also, seiner schicksalhaften Verfehlung auszuweichen. Ciceros Ausgangspunkt ist mithin nicht ein Ideal rhetorischer Meisterschaft, sondern die Nichtidealität der Zuhörer. Deren Beurteilung des Redners nämlich, das hebt Cicero in aller Prägnanz hervor, orientiert sich nicht vordringlich an seinen Leistungen, sondern stützt sich vor allem auf ihr feines Sensorium für faux pas und alles, was das decorum verletzt.69 Das oberste Gebot für den Red67 68 69

Cic. De or., II 205. Cic. De or., II 339. Cic. De or., II 301.

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ner ist demnach defensiver Natur und lautet: Keine Fehler machen! Ein Gedanke, den wir bereits bei Gorgias70 und auch bei Aristoteles formuliert gefunden haben.71 Nichts nämlich lässt den Redner in schlechterem Licht erscheinen, als wenn er seinem Fall – und das heißt vor Gericht: seinem Klienten – schadet.72 Die nachdrückliche Kritik Ciceros an Rednern, denen derlei unterläuft, spiegelt sich wider in dem Vokabular, das er für sie bereithält; nennt er sie doch Schurken und Verräter, LPSURELHWSHU¿GLRVL.73 Und er benennt auch klar ihren Hauptfehler – einen für unsere Fragestellung zentralen Punkt, denn als wichtigste Verfehlung LGHQWL¿]LHUW &LFHUR GLH 8QDQJHPHVVHQKHLW (LQH 8QDQJHPHVVHQKHLW GLH VLFK in Argumenten und Darlegungen, die als dem Fall oder dem Klienten alienum empfunden werden, also turpe wirken. Turpe – ein Adjektiv, das bezeichnet, was dem decorum diametral entgegengesetzt ist.74 Kurzum – Fehlleistungen des Redners übersetzen sich stets in Unangemessenheit und gefährden damit die Überzeugungsleistung akut. Das macht sie so gefährlich. 3. Präzise Vorarbeit ist erforderlich. – Entschließt sich also der Redner zur Rede, so warnt Cicero vor Spontaneität. Es gilt, erst zu überlegen, dann zu reden. Die Rede sollte geplant sein, und der Redner ist gut beraten, jede Möglichkeit zu nutzen, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.75 Dabei sollte er sich nicht gleich darauf konzentrieren, seinen Standpunkt möglichst nachdrücklich darzustellen, sondern zuvor das Für und Wider seiner Position76 abwägen: de rebus in utramque partem dicendi etiam nos et vim et artem habere debemus.77 Ergebnis dieser inhaltlichen Prüfung des Stoffes muss es nun sein, die Punkte, die Zustimmung erwarten lassen, zu trennen von denen, die – was, wie wir gesehen haben, der schlimmste Fehler wäre – dem Fall schaden könnten.78 Wie schon bei Aristoteles, so ist auch hier die Frage nach dem Angemessenen bereits Teil der inventio. 4. Auf den Erwartungshorizont der Zuhörer einstellen. – Zur Vorbereitung der Rede gehört neben der Prüfung der angemessenen inhaltlichen Gesichtspunkte die Abstimmung auf den Erwartungshorizont der Zuhörer. Deswegen muss der Redner sein Publikum und dessen Eigenarten kennen.79 Ein Aspekt, der schon bei Aristoteles breiten Raum eingenommen hat, so dass nicht überraschen kann, 70 71 72 73 74 75 76 77

78 79

Palamedes, 20. Arist. Rhet. 3.3.3, 1406a 17. Cic. De or., II 295. Cic. De or., II 297. Cic. De off., I 94: hier heißt es turpe sic indecorum. Cic. De or., II 103. Cic. De or., II 102. Cic. De or., III 107; und zwar auf der ganzen Breite des rhetorischen Themenspektrums: de virWXWHHQLPGHRI¿FLRGHDHTXRHWERQRGHGLJQLWDWHXWLOLWDWHKRQRUHLJQRPLQLDSUDHPLRSRHQD similibusque rebus. Cic. De or. II 102. Cic. De or., I 223.

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was Cicero dazu sagt. Die zentrale Bedeutung der Orientierung auf den consensus der Zuhörerschaft und die consuetudo haben wir schon angesprochen. Allerdings gilt es im Blick zu behalten, dass die mores civitatisKlX¿JHP:HFKVHOXQterworfen seien, und so müsse sich mit ihnen auch der Stil der Rede verändern.80 $XIMHGHQ)DOOHPS¿HKOW&LFHURGHU=XK|UHUVFKDIWVFKQHOOHQWJHJHQ]XNRPPHQ und sogleich an den Anfang der Rede Ausführungen zu stellen, die sie mit Zustimmung quittieren.81 5. Celare artem! – Der Redner sieht sich mit Blick darauf, wie er seine Geistesschärfe darstellt, wie er sie nutzt, vor eine schwierige Abwägung gestellt. Einerseits soll er als weise gelten, ja dafür sogar auch bewundert werden, aber QLH XP GHQ 3UHLV GDVV VLFK VHLQH =XK|UHU VHOEVW DOV 'XPPN|SIH HPS¿QGHQ müssten – dies nämlich wäre im höchsten Grade ineptum.82 Der Redner sollte klüger sein als die große Mehrheit seines Publikums, aber nicht so wirken. So ist es beispielsweise ein Gebot der Angemessenheit, in einer Rede keine philoVRSKLVFKHQ'H¿QLWLRQHQ83 zu benutzen. Sehr instruktiv ist in diesem Zusammenhang, wie Cicero das Verhältnis der beiden Hauptakteure seines Dialogs, Crassus und Antonius, zur griechischen Gelehrsamkeit – sicherlich mit einem Augenzwinkern, aber doch einem wahren Kern – darlegt. Für beide scheint klar zu sein, dass es gegen das decorum wäre, sich als Griechenfreunde zu präsentieren, obwohl doch gar kein Zweifel daran bestehen kann, wie viel sie griechischer Philosophie und Rhetoriklehre verdanken. Während Crassus sich damit begnügt, dem römischen Denken öffentlich den Vorrang vor dem griechischen zu geben, verleugnet Antonius gar, VLFKEHUKDXSWGDPLWEHIDVVW]XKDEHQÄ6RGDFKWHQEHLGHPHKU(LQGUXFN]X machen, der eine dann, wenn er die Griechen zu verachten, der andere, wenn er VLHQLFKWHLQPDO]XNHQQHQVFKLHQH³84 Zwei Worte im lateinischen Text – fore und videretur – machen klar, wie stark es hier um eine Dimension der öffentlichen Darstellung geht, wie stark um das Augenscheinliche, ja den Schein, und nicht um die tatsächliche Haltung der beiden zu hellenischer Gelehrsamkeit.85 Dass sich gegen rhetorische Gelehrsamkeit das Ressentiment des Publikums entzünden und rhetorisch instrumentalisieren lässt, haben wir schon bei Aristoteles gesehen. Auch Cicero kommt ausdrücklich auf die VXVSLFLRDUWL¿FL zu sprechen als etwas, das sich zum Nachteil des Redners auswirkt und sein Ansehen 80

81 82 83 84 85

Cic. De or., II 337; an anderer Stelle reicht Ciceros Anspielung auf die Wechselhaftigkeit dessen, was die – in diesem Falle politischen – Umstände erfordern, sogar noch weiter: In Cic. De off., ,DXFKKHL‰WHVÄ:HQQVLFKGDV>ZDVGHPDOOJHPHLQHQ1XW]HQGLHQW@lQGHUWlQGHUWVLFKGLH 3ÀLFKWXQGVLHLVWQLFKWLPPHUGLHVHOEH³'LHVLVWLPhEULJHQHLQ+LQZHLVGHQDXFK$ULVWRWHOHV in der Politik bereits gegeben hat: cf. Arist. Pol. 3.4, 1276b 30. Cic. De or., II 313. Cic. De or., I 221. Cic. De or., I 222. Cic. De or., II 4. Dieses Thema kehrt in De oratoreKlX¿JHUZLHGHUFI,,,,,,

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wie seine Glaubwürdigkeit in Frage stellt.86 Also muss die Maxime lauten, keinen Anlass für Neid zu bieten.87 Passend zu reden heißt also auch, die Wurzeln GHUHLJHQHQ(ORTXHQ]]XGLVVLPXOLHUHQ&LFHURHPS¿HKOWGHP5HGQHUH[SOL]LW seinen vertrauenswürdigen Charakter aufscheinen zu lassen, indem er schüchtern zu reden anfängt und die Zuhörer spüren lässt, wie schwer es ihm fällt, vor einer großen Menge zu sprechen.88 Förderlich ist auch ein gemessener Einsatz der Stimme – nicht zu laut, nicht zu leise89 – und ein Vortrag, der insgesamt ruhig wirkt und nur dort, wo es geboten ist, energisch akzentuiert wird.90 Allein schon am Detaillierungsgrad der Diskussion, die Cicero den Techniken des artem celare widmet, lässt sich die Bedeutung ablesen, die er diesem Thema zubilligt. Wie schon bei Aristoteles ist das artem celare die regulative Idee aller rhetorischen Kunstfertigkeit. 6. Angemessen dosierter Humor und emotionale Anteilnahme. – Humor und Heiterkeit seien für eine gute Rede unabdingbar, unterstreicht Cicero.91 Ihr Nutzen für den Redner ist ein doppelter, reagiert doch das Publikum mit Wohlwollen auf die Erheiterung und bewundert dabei auch noch eben jenes acumen, das, zeigt es der Redner in einer Art und Weise, die das Publikum nicht herabsetzt, zu den herausragenden Merkmalen eines großen Orators gehört.92 Zugleich macht Cicero jedoch deutlich, dass der Witz den Redner vor besonders schwer zu löVHQGH$XIJDEHQVWHOOW+XPRUWDXJWLQVRIHUQDOV3DUDGHEHLVSLHOIUGLHVSH]L¿schen Anforderungen des decorum und auch für die schwerwiegenden Folgen, die dessen Verletzung nach sich ziehen können. Einerseits nämlich kann Witz seine Wirkung nur entfalten, wenn er spontan wirkt, als Produkt des Scharfsinns und nicht des Kalküls.93 Andererseits und zugleich aber gilt es, eine Vielzahl von Kriterien der Angemessenheit im Auge ]XEHKDOWHQ'HQQ+XPRUVRIKUW&LFHURDXVPXVVÄGLHEHWHLOLJWHQ3HUVRQHQ das Thema und die Situation in Rechnung stellen, damit ein Scherz der Würde NHLQHQ$EEUXFK WXH³94 Und wie der Nutzen eines passenden Scherzes, so ist auch der mögliche Schaden unpassenden Humors ein doppelter. Denn entweder 86

87

88 89 90 91 92 93 94

Cic. De or., II 156. Im weiteren Verlauf jedoch zeigt sich, dass Antonius’ Lektüre die Billigung VHLQHU=XK|UHU¿QGHWXQGDXFK&DWXOXVVHLQHhEHU]HXJXQJlX‰HUWGDVVRKQH8QWHUZHLVXQJLQ der Theorie kein rhetorischer Ruhm zu erringen sei – cf. II 362f. Cic. De or., II 207, 209. Auch wenn Cicero seine Ausführungen an dieser Stelle in erster Linie auf die moralische Qualität der Klienten oder der Position bezieht, die der Redner vertritt, so gilt m.E. das Gleiche auch mit Blick auf den Redner selbst. Auch er schwebt in der Gefahr, Gegenstand des Neides der Zuhörer zu werden, wenn er seine intellektuellen Fähigkeiten durch zu große Brillanz in den Vordergrund stellt. Cic. De or., I 119, cf. II 182–184. Cic. De or., III 41, cf. 44. Cic. De or., II 211f. Cic. De or., II 236. Ibid. Cic. De or., II 219. Cic. De or., II 229.

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untergräbt der Redner seine eigene Glaubwürdigkeit, stellt sich als Possenreißer und Spaßmacher95 dar – kurzum, als jemanden, den man nicht ernst nehPHQPXVVZHLOHUPRUDOLVFKQLFKWTXDOL¿]LHUWLVW96 und Maßstäbe wie Anstand und Feingefühl, ingenuitas und rubor,97 vermissen lässt; oder aber er schadet sich, weil er den Zuhörern schadet, wenn er lächerlich macht, was ihnen wichtig ist oder Personen verspottet, die bei allen beliebt sind.98 Ein außerordentlich schwieriges, da moralisches Terrain also.99 Kurzum, Humor, so effektvoll er sein kann, vermag seine Wirkung nur dann zu entfalten, wenn er dem decorum gerecht wird. Nicht umsonst lässt Cicero den Iulius, der als überaus gewitzter Kopf galt, mit Blick auf diese Schwierigkeiten DXVUXIHQÄ2KKlWWHQZLUGDIUGRFKHLQ6\VWHPSed domina natura est³$XFK hier gilt: Wo die doctrina versagt, da sind Naturell und Charakter des Redners, seine gravitas und seine prudentia, gefordert, den Sinn für Angemessenheit aufzubringen.100 War schon bei den Überlegungen zum Humor die Rede von Anstand und Feingefühl, so tritt die moralische Dimension des decorum vollends in den VorGHUJUXQGZHQQVLFK&LFHURGHP*UDGGHULQQHUHQ,GHQWL¿NDWLRQGHV5HGQHUVPLW der Position, die er vertritt, und, mehr noch, mit der Person, dem Klienten, für den er vor Gericht das Plädoyer hält, zuwendet. Charakteristisch für dieses decorum des Mitfühlens ist, wie stark Cicero – ganz anders als der eher distanziert an dieses Thema herangehende Aristoteles – hier gar nicht so sehr die (mehr RGHUZHQLJHUZQVFKHQVZHUWHGDPHKURGHUZHQLJHUOHJLWLPH %HHLQÀXVVXQJ der Zuhörer in den Fokus rückt, sondern den Abstrahleffekt des emotionalen Engagements auf den Redner selbst. Dieser Nexus zwischen Emotion und Reputation ist gleichbedeutend mit der Überwindung der Grenzen des DUWL¿FLXP hin auf authentische Anteilnahme des Redners. Cicero macht nicht umsonst genau jenen Kontrast namhaft zwischen ars und animus, den der herausragende 5HGQHULQVHLQHU3HUVRQDXÀ|VWÄ1LFKWQDFKGHU5HJHOHLQHU.XQVWYRQGHULFK nichts zu sagen wüsste, sondern aus echter, schmerzlicher Bewegung zerriss ich VHLQH7XQLNDXPVHLQH1DUEHQGHQ%OLFNHQGDU]XELHWHQ³OlVVWHUGHQ$QWRQLXV berichten.101:DUXPGLHVHEHGLQJXQJVORVH,GHQWL¿]LHUXQJ":HLOVLHGDVdecorum gebietet! Denn nicht als Rhetor allein steht der Gerichtsredner vor dem Gericht 95 96

97 98 99

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Cf. Cic. De or., II 244, 247. Cic. De off., I 103; Cicero zieht hier als Beispiel für den angemessenen Scherz das Spiel der JunJHQKHUDQÄ8QGGLH$UWGHV6FKHU]HQVGDUIQLFKWDXVJHODVVHQXQGXQEHVFKHLGHQVRQGHUQPXVV edel und witzig sein. Wie wir nämlich den Knaben nicht alle Freiheit im Spielen geben, sondern nur die, die den Handlungen des Ehrenvollen nicht fremd sind, so soll auch im Scherz selbst ein /HXFKWHQHLQHUUHFKWVFKDIIHQHQ$UWKHUYRUVFKLPPHUQ³ Cic. De or., II 240. Cic. De or., II 237. Cf. G. Ueding, Rhetorik des Lächerlichen, in: L. Fietz, J.O. Fichte, H.-W. Ludwig (eds.), Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens, Tübingen 1996, 25ff. Cic. De or., II 247. Cic. De or., II 195.

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der öffentlichen Meinung,102 sondern als Person in Gänze. Es geht nicht primär um rhetorische Fähigkeiten, sondern um jenes Fundament der Glaubwürdigkeit, ohne das jedes rhetorische Können ins Leere läuft. Und dieses Fundament, das zeigt sich hier erneut in aller Deutlichkeit, ist für Cicero ein moralisches Fundament. Der Redner, der dem decorum gerecht wird, löst in letzter Konsequenz den Gegensatz von Zweck und Mittel. Der moralische Konsens der societas verhindert, dass der Redner lediglich professionell zu sein braucht. Die Sorge um seinen Ruf wird den Redner vielmehr veranlassen, jene Tugenden auf und in sich anzuwenden, die er dem Publikum als Maßstäbe seines eigenen Agierens, seiner eigenen Motivation, glaubhaft machen will. Keine Frage: Es ist ein Punkt erreicht, an dem Rolle und Bedeutung des decorum über das rein Rhetorische hinausweisen. Die Glaubwürdigkeit des Redners, sein Charakter, und sein Erfolg bei den Zuhörern – all das lässt sich nicht trennen. Der Redner ist ganz und gar verwoben mit dem, was angemessen ist – auch mit Blick auf seinen sittlichen Standpunkt. Deutlich hat sich herauskristallisiert, dass Ciceros Begriff des decorum eine moralische, ja moralphilosophische Dimension umfasst.

Moralische Rhetorik und rhetorische Moral Diese Moralität des decorum ist bestimmt durch ihren konventionellen Charakter – sie ist êthos, Sittlichkeit, Gesittung. Denn nur, was Konvention ist, bietet die Chance auf Konsens, taugt damit als rhetorische Ressource. Der Redner hat kein Interesse daran, die consuetudo zu untergraben. Schließlich würde er zugleich auch die Validität seiner argumentativen Ressourcen in Zweifel ziehen. Dementsprechend ist Ciceros Moralkonzeption keine aus dem Kontext der consuetudoKHUDXVJHO|VWH%HWUDFKWXQJVZHLVHHLJHQJDQ]LP*HJHQWHLOÄ(LQH :HUWIUHLKHLWXQG$SROLWL]LWlWGHU:LVVHQVFKDIWJLEWHVIU&LFHURQLFKW³103 Und: Daraus ergibt sich die eigentümliche Doppelnatur des decorum – eine Doppelnatur, die aufgeschlüsselt werden kann anhand zweier Begriffe, die nicht nur ähnlich klingen, sondern auch aufs engste aufeinander verwiesen sind: nämlich ratio, die Vernunftbegabung des Menschen, die zur bewussten Gestaltung des menschlichen Lebens und der Gesellschaft führt einerseits, und oratio andererseits: Die Rede nämlich ist nicht nur Ausdruck dieser Vernunftbegabung, sondern auch elementare Stiftungsinstanz des gesellschaftlichen Zusammenhanges: Eius autem vinculum est ratio et oratio, quae docendo, discendo, communican102 103

Cic. De or., III 32. M. Thurmair, Das Decorum als zentraler Begriff in Ciceros Schrift 'HRI¿FLLV³LQStudia Humanitatis. Ernesto Grassi zum 70. Geburtstag, München 1973, 68; im gleichen Sinn äußert sich K. Büchner, Zur antiken Vorstellung vom Redner, in: Römische Prosa, Studien zur Römischen Literatur IX, Wiesbaden 1978, 42.

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do, disceptando, iudicando conciliat inter se homines coniungitque naturali quadam societate.104 Es ist die Rede, und damit auch der Redner selbst, durch GLH GLH 0HQVFKHQ ÄVRZRKO ]X GHU *HPHLQVFKDIW GHU 5HGH DOV GHV /HEHQV³105 verbunden werden. Die eminent moralische, ja politische Dimension der Rede OLHJWVR&LFHURGDULQGDVVÄGLH%HUHGVDPNHLWGLHXPIDVVWPLWGHQHQZLULQ*HPHLQVFKDIWYHUEXQGHQVLQG³106 Kurz: Rhetorik und Moral sind interdependent, und sie richten sich an die gleichen Adressaten. Kehren wir noch einmal zurück zu der zuvor konstatierten Verschmelzung von Fremdbild und Eigenbild, Wahrnehmung und Moral des Redners. Eine Fusion, die man auch als eine von Sein und Schein bezeichnen könnte. Denn zwar EHLOlX¿JDEHUGRFKGHXWOLFKWULWWXQV&LFHURV$N]HQWXLHUXQJGHUQRWZHQGLJHQ Sichtbarkeit von Moral entgegen: Cicero streicht immer wieder hervor, worum es dem Redner gehen muss: ut probi, ut bene morati, ut boni viri esse videatur107 und dass si ipsi viri boni volumus haberi108 jeder Redeteil boni viri debet speciem tueri.109 Mithin ermahnt Cicero den Redner, er möge seine Rede nutzen gleichVDPDOV3URMHNWLRQVÀlFKHGLHVHLQH*HVLWWXQJVLFKWEDUPDFKW±NXU]XPHVJHKW um die rhetorische Charakterdarstellung des Redners, um sein êthos. Mit seinen Argumenten soll zugleich ein Bild seines Charakters entstehen, das von den Richtern oder der Versammlung gesehen und gleichsam gelesen wird. Ciceros Moral ist eine Moral der Sichtbarkeit, der Perzeption, eine öffentliche Moral. Auch die moralische Dimension von Ciceros decorum-Begriff bleibt mithin dem verhaftet, was bei Aristoteles êthos heißt. Erst im Aufscheinen, im Sichtbarwerden, kann jener gemeinsame Referenzrahmen etabliert werden, kann die oratio ihre gemeinschaftsstiftende Dimension erreichen, kann erst das decorum vollumfänglich eingelöst werden. Angesichts dieser steten Referenz auf den Schein – lassen wir dieses Wort ganz bewusst stehen – konnte es nicht ausbleiben, dass die Frage nach der Motivlage Ciceros gestellt und zum Nachteil des Autors beantwortet wurde. So beispielsweise von Willibald Heilmann; er will Ciceros 'HRI¿FLLV – bei bemerkenswerter, völliger Ausblendung ausgerechnet des decorum-Begriffs110±ÄDOV Ausdruck der allgemeinen Einstellung einer Gruppe gegenüber den Lebensproblemen erweisen, vor die sich die ganze führende Schicht zur Zeit Ciceros JHVWHOOWVLHKW³111 – also als partikularer Ausdruck eines Teils der römischen Aris-

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Cf. Cic. De off., I 50. Cic. De off., I, 12. Cic. De off., I 156. Cic. De or., II 184. Cic. De or., II 192. Cic. De or., II 211. Die umfangreiche Passage in De off,¿QGHWLQVHLQHU$QDO\VHJDUNHLQH%HDFKWXQJ Willibald Heilmann, (WKLVFKH5HÀH[LRQXQGU|PLVFKH/HEHQVZLUNOLFKNHLW in Ciceros Schrift De RI¿FLLV, Palingenisia 17, Wiesbaden 1982, 16.

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tokratie.112 Ciceros Fusion von Redekunst und Moral, von oratio und ratio wird dabei nicht einmal wahrgenommen, und das sicherlich auch aus dem Grund, dass Heilmann die zentrale Rolle des decorum-Begriffs überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt – und natürlich auch nicht seine rhetorisch-moralische Doppelnatur.113 Moral und Rhetorik greifen bei Cicero untrennbar ineinander – und im Begriff des decorumKDEHQZLUGDVHQWVFKHLGHQGHEHJULIÀLFKH%LQGHJOLHGYRU$XJHQ Schließlich ist es das decorum, das als Bezugsrahmen allen Agierens und Argumentierens in Anschlag gebracht wird. Für beide gilt, was Thurmair zu Recht IHVWKlOWÄ'LH=XVWLPPXQJDQGHUHUOHJLWLPLHUWHLQ9HUKDOWHQDOVdecorum. Hier wird die Einbettung in den sozialen Kontext zu einem Erfordernis, über dessen *HOLQJHQGLHDQGHUHQ7HLOQHKPHUGHU,QWHUDNWLRQHQWVFKHLGHQ³114 Personale Moralität und öffentliche Persuasion sind den gleichen Wahrnehmungs- und Gelingensbedingungen unterworfen. Für den Redner als Person, über die moralisch geurteilt wird, gilt, dass er keine Fehler machen, keinen Anstoß erwecken darf, will er als sittlich untadelig und damit glaubwürdig gelten. Und Gleiches gilt für den Redner als Quelle von Persuasion: verecundiae non offendere, in quo maxime vis perspicitur decori±ÄNHLQHQ$QVWR‰]XHUZHFNHQGDULQZLUGEHVRQGHUV GDV:HVHQGHV6FKLFNOLFKHQHUNDQQW³115 Das decorum, wir erinnern uns an die eingangs angeführte Passage – krönt die Beredsamkeit; aber es ist alles andere als autonom, ganz im Gegenteil – es ist Ausdruck größtmöglicher Einbindung LQGLH0D‰VWlEHGHU*HPHLQVFKDIW1LFKWRKQH)ROJHQ'HQQÄ,QGHPGDVdecorum zugleich in der Rhetorik und in der Ethik als Maßstab der Richtigkeit gilt, ZLUGGHU5HGQHUDXIVHLQH9HUSÀLFKWXQJJHJHQEHUGHUPHQVFKOLFKHQ2UGQXQJ LQGHUHUPLWVHLQHU5HGHZLUNWJHEXQGHQ³116 Es ist eine zutiefst soziale, will sagen: der societas geschuldete, Norm. Dabei ist es natürlich angewiesen nicht nur auf einen gemeinsamen Regelfundus, einen gemeinsamen Referenzrahmen, sondern vor allem auch auf einen gemeinsamen Perzeptionsrahmen – und eben den stellt die Rhetorik bereit.

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Zur Historizität des Scipionenkreises bzw. seiner literarischen Bearbeitung bei Cicero, cf. Hans Armin Gärtner, Moralische Normen und politischer Erfolg, in: Sitzungsberichte der Ak. der Wiss. Heidelberg, Phil.-hist. Klasse 1974, 5, Heidelberg 1974, 148f. Cf. R. Schottländer, Die ethische Überordnung der oratorischen über die rhetorische Redekunst, in: Dyck/Jens/Ueding (eds.): Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Band 7, Tübingen 1986, 8ff. Thurmair, 73. Cic. De off., I 99. Ludwig Fischer: Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland, 195.

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Das decorum vitae Angesichts der engen Verschränkung dessen, was rhetorisch persuasiv wirkt, mit dem, was sozial und moralisch auf Zustimmung rechnen kann, ist es konsequent, wenn Cicero den Maßstab decorum auf die gesamte Lebensführung überträgt. Dem decorum orationis, von dem bislang hier die Rede war, korrespondiert das decorum vitae.117 Wobei – und das hebt nur noch einmal die zutiefst rhetorische Prägung des Denkens Ciceros ins Bewusstsein – nicht etwa der soziale und moralische Kontext den Leitfaden für die Rede darstellt. Nein, es verhält sich genau anders herum: Die Rede dient als Exempel für das Leben. Denn wie in einer wohlgefügten Rede sic in vita sollen die Dinge des Lebens omnia apta inter se et convenientia sein.118 Auch in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleibt die Schwierigkeit, eine Anleitung zu formulieren für die Annäherung an das decorum, diesmal nun mit Blick auf die Lebensführung. Cicero behilft sich mit dem Hinweis, hier JHKH HV XP Ä'LQJH VFKZHU LQ :RUWH ]X IDVVHQ DEHU HV ZLUG MD JHQXJ VHLQ ZHQQ PDQ VLH YHUVWHKW³119 Und das fällt zweifellos bedeutend leichter, ist der Leser von 'HRI¿FLLV, der Schrift, in der Cicero seine auf das Leben gemünzte decorum-Vorstellung darlegt, vertraut mit der Konzeption der rhetorischen Angemessenheit.120 Denn bis in das Vokabular hinein reicht die Vorbildfunktion der Rhetorik. Ist doch das, quod dici Latine decorum potest, Graece enim prepon GLFLWXU QLFKWV DQGHUHV DOV TXLGDP RUQDWXV YLWDH ± ÄHLQ JHZLVVHU 6FKPXFN GHV /HEHQV³121 Wobei der Schmuck hier nichts im Nachhinein Hinzugefügtes, nichts Additives bezeichnet, sondern die harmonische, geordnete Einheit von Haltung und Handlung, von Innerem und Äußerem.122 Wenn wir nun genauer betrachten, welche Kriterien Cicero im Einzelnen für das decorum vitae aufstellt, so erweisen sie sich als vertraut: Eine ganze Reihe von Aspekten, die uns aus der Ana117

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Dieser Begriff steht hier als Kurzformel für Wendungen Ciceros wie z.B. hoc decorum, quod elucet in vita, De off., I 98; der Nexus ist auch klar hergestellt in I 93 zwischen ornatus vitae und decorum. Cic. De off., I 144. Cic. De off., I 126. Zumeist steht Ciceros Verhältnis zu Panaitios und der Stoa im Zentrum der Auseinandersetzungen mit 'HRI¿FLLV. Eine Tradition, die philologisch bzw. philosophiehistorisch interessant sein mag, für unsere Fragestellung aber wenig ergiebig ist und hier deswegen auch rigoros ausgeblendet wird. Ausführlich zu der Frage, was und warum Cicero von Panaitios entlehnt hat, äußern sich u.a. Karl Büchner, Cicero und Panaitios; Hans Armin Gärtner, Cicero und Panaitios; 0D[3RKOHQ]ÄTo prépon. (LQ%HLWUDJ]XU*HVFKLFKWHGHVJULHFKLVFKHQ*HLVWHV³/RWWH/DERZVky, Der Begriff des Prépon in der Ethik des Panaitios und Robert Philippson, Das Sittlichschöne bei Panaitios. Cic. De off., I 93. Ganz ähnlich noch einmal in De. off., I 126, wo es heißt: decorum >…@ positum est in tribus rebus, formositate, ordine, ornatu ad actionem apto; dabei denkt Cicero bei formositas in erster Linie an die ins Auge fallende Schönheit der Tugend – cf. dazu auch Hans Armin Gärtner, Moralische Normen und politischer Erfolg, in: Neukam, Peter (Hg.): Vermächtnis und Herausforderung, München 1997, 152f.

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lyse des rhetorischen decorum vertraut sind, kehren hier, auf die Lebensführung gemünzt, wieder. Gehen wir sie in der Reihenfolge durch, die sich aus Ciceros Ausführungen zur Angemessenheit in der Rede ergeben hat. Wie beim rhetorischen decorum ist es auch beim decorum vitae von erstrangiger Bedeutung, Fehler zu vermeiden: ut vitia fugiamus, fordert Cicero uns auf. Und er fügt eine Minimierungsstrategie hinzu, die besagt, dass wir alles, was wir aufgrund mangelnder Fähigkeiten nicht in mit der wünschenswerten Makellosigkeit zu leisten imstande sind, doch quam minime indecore facere possimus.123 Zweitens plädiert Cicero nachdrücklich dafür, das Leben – wie eine wichtige 5HGH±DXIPHUNVDPXQGSODQYROODQ]XJHKHQÄ%HLDOOHQ*HVFKlIWHQDEHUPXVVW 'X EHYRU 'X EHJLQQVW VRUJIlOWLJH 9RUEHUHLWXQJHQ DQZHQGHQ³124 8QG Ä-HGH +DQGOXQJ DEHU PXVV IUHL VHLQ YRQ 8QEHUOHJWKHLW XQG 1DFKOlVVLJNHLW³125 GeUDGH]XHLQ9RUGHQNHQLQ6]HQDULHQLVWKLHUJHIRUGHUWJHKWHVGRFKGDUXPÄGLH Zukunft in Gedanken vorwegzunehmen und lange vorher zu bestimmen, was nach beiden Seiten hin geschehen kann und was getan werden muss, wenn etwas geschieht, und es nicht dahin kommen zu lassen, dass man sagen muss: ‚Ich KlWWHQLFKWJHGDFKW‫ދ‬³126 So wie er den Redner zum Denken in utramque partem zur Vorbereitung der Argumentation aufgefordert hat, so gilt es auch dem Leben insgesamt gegenüber zu treten. Überrascht zu werden, gar Überraschung augenfällig werden zu lassen – das widerspricht ganz offenkundig dem decorum vitae, denn Überraschung untergräbt die Souveränität des Handelnden, mehr noch, sie kann Vorstufe von Täuschung und Niederlage sein. Beides aber wäre mit dem decorum nicht in (LQNODQJ]XEULQJHQÄ'HQQratio und oratio klug zu gebrauchen, und was du tust, überlegt zu tun und in der Sache, was Wahres in ihr ist, zu sehen und zu schauen, ist schicklich; und sich zu täuschen, zu irren, zu Fall zu kommen, sich betrügen zu lassen, schickt sich auf der Gegenseite so wenig wie wahnsinnig XQGEHVFKUlQNW]XVHLQ³127 Wie schon beim rhetorischen decorum bezieht Cicero auch mit Blick auf die Lebensgestaltung eine Kontraposition zu Planlosigkeit, Unüberlegtheit und Zufälligkeit. Unübersehbar eignet dem decorum vitae Aufforderungscharakter – es verlangt vom Menschen, sein Leben nicht einfach zu leben, sondern es zu führen. Die dritte, uns schon aus der Redekunst vertraute Regel der Angemessenheit: GLHNRQVHTXHQWHÄ=XK|UHU³DOVR3XEOLNXPVRULHQWLHUXQJ-DGDVdecorum des /HEHQVNDQQQXULPNRQNUHWHQ.RQWH[WGHV=XVDPPHQOHEHQVGHPÄ3XEOLNXP GHU0LWPHQVFKHQ³128ZLUNHQÄDOVGLH(UVFKHLQXQJVZHLVHGHV6LWWOLFKHQDOVGHV-

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Cic. De off., I 114. Cic. De off., I 73. Cic. De off., I 101; cf. auch I 103: ut ne quid temere ac fortuito, inconsiderate neglegenterque agamus±ÄGDVVZLUQLFKWVJHGDQNHQORVXQG]XIlOOLJXQEHGDFKWXQGXQEHUOHJWWXQ³ Cic. De off., I 81. Cic. De off., I 94. Gärtner, Moralische Normen und politischer Erfolg, 152.

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VHQGHP0LWPHQVFKHQ]XJHNHKUWH6HLWH³129 Wie die Rede, so soll die gesamte /HEHQVIKUXQJ=XVWLPPXQJ¿QGHQ6WHWVJHKWHVXPadprobatioGDUXPÄGDVV ZLU%HLIDOO¿QGHQEHLGHQHQPLWGHQHQXQGEHLGHQHQZLUOHEHQ³130 Alles andere käme in Ciceros Augen nichts geringerem als Tollkühnheit, temeritas, gleich – zumal wenn es nicht aus Versehen, sondern eben aus der zuvor schon kritisierten Nachlässigkeit geschieht.131 8QG &LFHUR XQWHUVWUHLFKW QRFK HLQPDO Ä'HQQ sich nicht zu kümmern um das, was ein jeder über einen denkt, ist nicht allein die Art eines Anmaßenden, sondern sogar eines gänzlich außer Rand und Band *HUDWHQHQ³132 Fasst man die genannten Aspekte zusammen, so zeichnen sich zwei Hauptdeterminanten des decorum vitae ab: Zum einen erfordert es eine überlegte Herangehensweise; es gilt, die Lage im Griff zu haben – keine Fehler zu machen, sich nicht überraschen zu lassen, sich die Situation nicht entgleiten zu lassen und darüber selbst zu Fall zu kommen. Im Gegenteil, erst Vorbereitung und durchdachtes Handeln versetzen einen in die Lage, der Situation gerecht zu werden. Zweitens aber gilt es, neben der intellektuellen Souveränität die Perspektive und Erwartungshaltung der anderen ins Kalkül einzubeziehen. Die Orientierung auf die Mitbürger, die Cicero hier veranschlagt, ist keineswegs geringer als die Orientierung auf die Hörer, zu der er dem Redner rät. Diese Parallelen zeigen eines ganz klar auf: Für Cicero erscheint die Vorstellung absurd, nur Teilbereiche des Lebens – etwa das Reden – unterlägen 1RUPHQNOXJHUXQGYHUVWlQGLJHU$XVIKUXQJÄ=XVDJHQHVJLEWNHLQH.XQVW von den großen Dingen, obwohl doch keines der geringsten ohne Kunst ist, ist eine Behauptung von Leuten, die allzu wenig überlegt reden und in den größten 'LQJHQLQGLH,UUHJHKHQ³133 Mit dem Konzept des decorum vitae fordert und vollzieht Cicero den Schritt von der Rede- zur Lebenskunst. Beide folgen in ihrer strikten Orientierung auf das Publikum im einen, auf die Mitmenschen im anderen Fall dem gleichen Leitmotiv: der Persuasion. Gleichwohl wäre es zu kurz gegriffen, den Transfer des decorum der Rhetorik auf das decorum vitae als schlichte Ausweitung eines Teilsystems aufs Ganze zu verstehen; bietet uns Cicero doch eine nicht anders als anthropologisch zu nennende Fundierung für das Verständnis des decorum vitae aus der Verortung des Individuums in der Gemeinschaft an. Der Schlüsselbegriff dieses Konzepts ist die persona. Die Bedeutung des Rekurses auf die persona reicht über das Aufgreifen eines in der Antike beliebten Vergleichs des Lebens mit dem Theater hinaus, ist Manfred Fuhrmann, Persona, ein römischer Rollenbegriff, in: ders., Brechungen – Wirkungsgseschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition, Stuttgart 1982, 37; Ähnliches KLHOWVFKRQ0D[3ROHQ]IHVW±GDVGHFRUXPVHLÄGLHLQV$XJHIDOOHQGHlX‰HUH(UVFKHLQXQJ³GHV sittlich Schönen: cf. Pohlenz, Antikes Führertum, 60. 130 Cic. De off., I 126, cf. I 98. 131  Ä2IW QlPOLFK YHUOHW]W PDQ HQWZHGHU GLH GLH PDQ QLFKW GDUI RGHU GLH GLH ]X YHUOHW]HQ VFKDGHW :HQQ DXV 9HUVHKHQ LVW HV 1DFKOlVVLJNHLW ZHQQ EHZXVVW 7ROOKHLW³ &I &LF 'H RII ,, 68. 132 Cic. De off., I 99. 133 Cic. De off., II 6. 129

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also mehr als nur ein weit verbreiteter Topos, wie Gärtner zu veranschlagen scheint.134 Auf jeden Fall aber ist der Mensch kein aus Taktik, zum Zwecke der Verstellung Maskierter. Sondern er spielt eine Rolle, die ihm zuvorderst von der Natur in Anbetracht der speziellen menschlichen Fähigkeiten gegeben ist, wobei vorrangig an die Vernunftausstattung des Menschen zu denken ist: nobis autem personam imposuit ipsa natura magna cum excellentia praestantiaque animantium reliquarum.135 – Die persona, die Cicero im Sinn hat, lässt sich also HKHUDOVÄ5ROOHLP/HEHQ³±VRGHU7HUPLQXV)XKUPDQQV136 – auffassen, die ein jeder zu übernehmen hat. Und damit fällt die Nähe zum rhetorischen êthos-Verständnis unmittelbar ins Auge. Insofern ist es plausibel, persona hier im Sinne YRQ Ä&KDUDNWHU³ ]X YHUVWHKHQ DOV HLQH )XQGLHUXQJ MHQHV êthos, das es in der Lebensführung augenfällig zu machen gilt, damit es überzeugend wirken kann. Wer also dem decorum vitae gerecht werden will, der muss seiner persona gerecht werden. Vier Bestimmungsmomente dieser eben nicht individuell-subjektiven, sondern teils durch die Natur des Menschen, teils gesellschaftlich bedingten Rollenwahl führt Cicero aus. Das erste Moment ergibt sich, wie bereits angedeutet, aus dem Vorrang des Menschen vor den Tieren. Hier verortet Cicero die tiefste Quelle der Angemessenheit: decorum id esse, quod consentaneum sit hominis excellentiae in eo, in quo natura eius a reliquis animantibus differat.137 Dieser Faktor also ist – Cicero sagt es ganz explizit –, a qua omne honestum decorumque trahitur±ÄYRQGHPVLFKDOOHV(KUHQYROOHXQG6FKLFNOLFKHOHLWHW³138 Gemeint ist selbstverständlich die Vernunftbegabung des Menschen, seine Teilhabe an der ratio.139(LQKHUPLWGLHVHP6SH]L¿NXPJHKWGDVV&LFHURGLH,QWHOOLgenz eines Menschen, seine geistigen Kräfte, höher bewertet als seine körperliche Leistungsfähigkeit.140 Das zweite Bestimmungsmoment der Rolle im Leben liegt im Charaktertypus, denn in animis existunt maiores etiam varietates141 als mit Blick auf die körperliche Beschaffenheit der einzelnen Menschen. Wenngleich Cicero in diesem Zusammenhang von den propria eines Menschen spricht, so ist doch die %HPHUNXQJ)XKUPDQQVLP$XJH]XEHKDOWHQGDVVÄHUNHLQHVZHJVPLWLQGLYLGXellen Veranlagungen, mit einmaligen, unwiederholbaren Personen im modernen 6LQQHGHV:RUWHVUHFKQHWVRQGHUQPLW&KDUDNWHUW\SHQ³PLWgenera.142 Es geht also um dominante Züge, die einzelnen Menschen eigen sind – große Strenge, herausragender Ehrgeiz, Heiterkeit und Witz, oder Schläue. Jede dieser Cha134 135 136 137 138 139 140 141 142

Op.cit., 153. Cic. De off., I 97. Fuhrmann, Persona – Ein römischer Rollenbegriff, 37. Cic. De off., I 96, cf. I 105. Cic. De off., I 107. Cic. De off., I 101, cf. 107: participes sumus rationis. Cic. De off., I 79. Cic. De off., I 107. Fuhrmann, op. cit., 39.

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rakterzüge vermag – als zweite von der Natur mitgegebene Rolle – das Leben und vor allem auch die Wahrnehmung eines Menschen durch andere zu prägen. Diese nostrae naturae regula unbedingt zu beachten, nicht gegen sie zu agieren, KlOW&LFHURIUXQEHGLQJWJHERWHQ-HGHUVROOWHDQGHPÄ(LJHQWPOLFKHQIHVWKDOten, damit um so leichter jenes decorumGDVZLUVXFKHQLQQHJHKDOWHQZLUG³143 Rasch dargelegt sind die dritte und vierte Rolle, die jeder zugleich ausfüllt. Der Zufall bestimmt die dritte: Sie ergibt sich aus den Zeitumständen und der eigenen gesellschaftlichen Position, aus den Ämtern, die man bekleidet.144 Die vierte Rolle aber schließlich ist selbstgewählt – a nostra voluntate. Sie betrifft GHQ$XVELOGXQJVZHJXQGGLHEHUXÀLFKH%HVFKlIWLJXQJGLHPDQVLFKDXVVXFKW – etwa als Jurist oder als Rhetor.145 Von den vier personae, die Cicero unterscheidet, ist also gerade einmal eine einzige selbstbestimmt. Er versteht den Menschen mithin als zu größten Teilen verortet, bevor er durch die Wahl einer bestimmten Laufbahn noch einen eigenen Akzent setzen kann – denn mehr ist es wohl wirklich nicht. Wie zuvor in der Diskussion von Ciceros Moralkonzept, tritt auch hier sein zutiefst auf Konventionen hin orientierter Denk- und Argumentationsstil in aller Deutlichkeit zutage. Und wie zuvor sehen wir auch KLHUZLHGHUÄHLQJDQ]XQGJDUDXIGLH8PZHOWEH]RJHQHV,QGLYLGXXP³GHVVHQ ,GHQWLWlWÄNHLQHVXEMHNWLYH.DWHJRULH³VRQGHUQÄGLHSHUSHWXLHUWHVR]LDOH5ROOH³ ist.146 Aus der Summe der personae erwächst die Persönlichkeit.147 Zu den zwei Schlüsselaspekten des decorum vitaeGLHZLUELVODQJLGHQWL¿ziert hatten – nämlich intellektuelle Souveränität und das Einbeziehen der Erwartungen der Mitmenschen – kommt nun, mit dem Durchgang durch Ciceros Bemerkungen zur persona, noch eine dritte: nämlich das Er- und Anerkennen der eigenen persona, die sich aus den vier Rollen ableiten lässt. Auf einer noch höheren Aggregationsstufe kommen wir also zu der These: Agieren im Sinne des decorum vitae ist nichts anderes als hochgradig bewusstes Agieren. Es gilt eine Menge im Auge zu haben, will man keinen Anstoß erwecken, sein Leben im Sinne eines ornatus vitae und der geforderten Einheit von Haltung und Handlung, von Innerem und Äußerem führen. Denn, so erinnert uns Cicero: Omnino si quicquam est decorum, nihil est profecto magis quam aequabilitas universae vitae±ÄhEHUKDXSWZHQQHVHWZDV6FKLFNOLFKHVJLEWLVWHVLQGHU7DW QLFKWVPHKUDOVGLHLQQHUHhEHUHLQVWLPPXQJGHVJHVDPWHQ/HEHQV³148 Decorum ist also gleichbedeutend mit einem umfassenden Formbewusstsein – einem Formbewusstsein, das sich nicht nur erstreckt auf Formales, sondern sich erstreckt auf alles. Auf all das jedenfalls, was für andere sicht- und wahrnehmbar ist und im Sinne der gewünschten adprobatio auf sie wirkt. Selbstführung und Selbstbeherrschung erweisen sich mithin als Schlüssel zum decorum. 143 144 145 146 147 148

Cic. De off., I 110f. Cic. De off., I 115. Ibid. Fuhrmann, op. cit., 41. Cf. dazu auch Pohlenz, Antikes Führertum, 68. Cic. De off., I 111.

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Das Konventionelle wird das Eigene, die Norm zur Wahl: Denn das decorum zeichnet, so Cicero, aus, dass in eo moderatio et temperantia appareat cum specie quadam liberali ±GDVVKLHUÄ0l‰LJXQJXQG0D‰KDOWHQLQ(UVFKHLQXQJWULWW YHUEXQGHQPLWGHP$XVGUXFNYRQ)UHLKHLW³149 Ein anspruchsvolles Ideal – und Cicero dachte bei seiner Formulierung gewiss auch nicht an jedermann; vielmehr darf man annehmen, dass er hier wiederum den idealen Redner vor Augen hatte – den orator perfectus, der zugleich ein orator doctus und ein vir bonus ist. Ein Mann, der sich auf dem Forum, vor Gericht, im Senat engagiert und exponiert – kurz, einen Redner, der nicht nur fest in der Sittlichkeit einer Gesellschaft verwurzelt ist, sondern – dank seiner Fähigkeit zur Persuasion als Redner und als Persönlichkeit – auch danach strebt, seine Fähigkeiten einzusetzen: als Politiker, als Führungspersönlichkeit. Keine Frage: Cicero weist dieser Persönlichkeit, die das decorum der Rede und des Lebens kennt und zu handhaben weiß, eine besondere Aufgabe zu.

Die politische Rolle des Redners Diese besondere Rolle des Redners lässt sich mit Fug und Recht als politische NHQQ]HLFKQHQ VFKOLH‰OLFK LVW QDFK &LFHURV:RUWHQ ÄNHLQH YRQ DOOHQ *HPHLQschaften gewichtiger, keine teurer als die, die einen jeden von uns mit der res publicaYHUELQGHW³150 Dass er hinaus müsse aufs Forum, dass er kein abgeschiedenes Gelehrtenleben führen solle, ist bereits deutlich geworden. Nun, nachdem die moralische Potenz des decorum freigelegt ist, seine unlösbare Verbindung mit der consuetudo und den Sitten der Gesellschaft, seine Relevanz auch für die Lebensführung des einzelnen, seine persuasive, gemeinschaftstiftende Funktion als sichtbare Gesittung, hat sich die eminent politische Natur des Redners in aller Klarheit gezeigt. Zumindest der Idee nach übernimmt der Redner keine geringere Rolle als eben die ideale Natur der res publica als Realisierung der societas generis humani durch sein Handeln zu bekräftigen.151 Und dieser hohe Auftrag des Redners – mittelbar damit auch Auftrag der Rhetorik – begründet seine Vorrangstellung gegenüber demjenigen, der allein auf Erkenntnis aus ist. – Sehen wir uns hier nun nicht endgültig einem übersteigerten, überidealisierten Rollenbild des Redners und auch der Rhetorik gegenüber? Gewiss, Ciceros Anspruch an den Redner ist enorm. Gleichwohl hütet er sich davor, jedenfalls mit Blick auf die Verhältnisse, in denen der Redner zu agieren hat, den Boden GHV 5HDOLVPXV ]X YHUODVVHQ 1FKWHUQ VWHOOW HU QlPOLFK IHVW GDVV ÄPDQ DEHU nicht mit vollkommenen und durchaus weisen Menschen lebt, sondern mit denen, bei denen man schon Glück hat, wenn Abbilder der Vollkommenheit vor149 150 151

Cic. De off., I 96. Cic. De off., I 57. Cic. De off., I 153, ähnlich I 155.

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KDQGHQVLQG³152 Was Cicero uns mithin vor Augen führt, ist nicht die Projektion einer idealen Welt – sondern vielmehr die Spannung, die besteht zwischen Ideal und Wirklichkeit. Eine Spannung, die der Redner auszuhalten und auszugleichen hat! Denn der ideale Redner ist einerseits fest verwurzelt in der consuetudo des Alltags – er kennt die Bürger und hat ein untrügliches Gespür für ihre Bedürfnisse und Einstellungen. Auf der anderen Seite weiß er dank philosophischer Bildung um die legitimatorische Tiefenstruktur der Republik. Er ist Gleicher unter Gleichen und doch auch gegenüber der Allgemeinheit ausgezeichnet. Und es macht seine Bestimmung als Redner aus, dieses Spannungsfeld zu umgreifen und mit dem Instrumentarium der Redekunst intellektuell genauso wie praktisch-politisch für die nötige Kohäsion der Gemeinschaft zu sorgen. Erinnern wir uns, wie Cicero seinen Crassus den weit ausgreifenden ZustänGLJNHLWVEHUHLFK GHU 5KHWRULN UHVPLHUHQ OlVVW Ä'LH ZDKUH 5HGHNXQVW MHGRFK ist so umfassend, dass sie den Ursprung, die Auswirkungen und die AbwandOXQJHQDOOHU'LQJHGHU7XJHQGHQXQG3ÀLFKWHQXQGGHUJHVDPWHQQDWUOLFKHQ Voraussetzungen, auf die sich Sitten, Sinn und Leben der Menschen gründen, in sich schließt, dass sie zugleich die Sitten, die Gesetze und Rechtsnormen zu beschreiben, den Staat zu lenken und alle Fragen, wozu sie auch gehören möJHQZLUNXQJVYROOXQGZRUWUHLFK]XEHKDQGHOQZHL‰³153 – So kommen wir der anspruchsvollen Natur des decorum vitae und seiner nicht minder anspruchsvollen Realisierung durch den idealen Redner auf die Spur. Zwei Hauptmerkmale des decorum vitaeKDWWHQZLULGHQWL¿]LHUW=XPHLQHQIRUGHUWHVEHUOHJWHV9RUgehen, mehr noch: intellektuelle Souveränität ein; zum anderen verlässt es sich auf eine ausgeprägte Kenntnis der consuetudo, der Konventionen. Genau diese EHLGHQ)DNWRUHQVLQGHVGLH&LFHURGHQ&UDVVXVLQGHUHEHQ]LWLHUWHQ'H¿QLWLRQ des rhetorischen Zuständigkeitsbereichs hervorheben lässt! Cicero positioniert den Redner mitten hinein in ein Spannungsfeld, das sich auftut zwischen den 3ROHQGHU5HÀH[LRQXQG.RQYHQWLRQ±GHQEHLGHQ4XHOOHQDOVRDXVGHQHQDXFK das decorum sich speist. Das, was die Situation erfordert, wird dem Redner damit unter zwei Gesichtspunkten transparent. Aus seiner Einsicht in das Gebotene erwächst seine große moralische Verantwortung und ergibt sich seine politisch eminente Rolle und Aufgabe, die darin besteht, korrigierend einzugreifen, wo sich von sich aus kein dem römischen Moralverständnis entsprechender Konsens abzeichnet. Kurz, er KDWGLH$XIJDEHXQJH]JHOWH(PS¿QGXQJHQDE]XPLOGHUQRGHUDEHUHLQJOHLFKgültiges Publikum moralisch zu animieren und seine Zuhörer auf den allgemeinen Sittenkonsens – und damit im Idealfall auf das Gebotene – hinzuführen. Es ist also Aufgabe des idealen Redners, den moralischen Konsens der Gesellschaft

152 153

Cic. De off., I 46. Cic. De or., III 76.

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immer wieder aufs Neue zu stabilisieren.154 Nicht die consuetudo einer Kritik zu unterziehen, ist seine Mission, sondern vielmehr, die consuetudo immer wieder neu zu motivieren, zu bekräftigen und zu begründen. Ihm geht es – auf den Nenner gebracht – darum, das Angemessene durchzusetzen. Und natürlich ist es die Rhetorik selbst, die es ihm ermöglicht, diese anspruchsvolle Rolle auszufüllen – ist es doch die öffentliche Ausübung der ReGHNXQVWGLHLKP(LQÀXVVVLFKHUWÄ*UR‰LVWQlPOLFKGLH%HZXQGHUXQJIUHLQHQ JUR‰XQGZHLVH6SUHFKHQGHQ³155 Kurzum, während der Redner im Mittelpunkt des moralisch-politischen Geschehens steht, sorgt zugleich der Nimbus der Redekunst dafür, dass der Transmissionsriemen für die Vermittlung des Angemessenen auch funktioniert. Die Wirkungsmacht des decorum orationis als Kriterium persuasiven Sprechens reicht mithin weit in die Sphäre der Politik hinein.

 'HU5HGQHUÄVROOGLH)lKLJNHLWEHVLW]HQGDV9HUEUHFKHQXQGGLH8QWDWHLQHVhEHOWlWHUVGXUFK seine Rede dem Hass der Bürger preiszugeben und der Bestrafung zuzuführen, zugleich jedoch die Unschuld durch die schützende Macht seiner Geistesgaben von der Bestrafung durch die Gerichte zu befreien. Desgleichen soll er es verstehen, ein erschlafftes Volk in seinem Wankelmut entweder zu rühmlicher Haltung aufzurichten oder von seinem Irrweg abzubringen, es JHJHQ%|VHZLFKWH]XHQWÀDPPHQRGHUVHLQHQ,QJULPPJHJHQ*XWH]XEHVlQIWLJHQ³&LF'HRU I 202. 155 Cic. De off., II 48; cf. II 66. 154

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Exkurs Das exemplarische Scheitern der doctrina: 'DVHOIWH%XFKYRQ4XLQWLOLDQVÄ,QVWLWXWLRQLV2UDWRULDH³

Wie bereits Cicero vor ihm, so behandelt auch Quintilian das, was meo quidem iudicio maxime necessaria1 >est@DP6FKOXVV±QlPOLFKLPYRUOHW]WHQ%XFK seines äußerst umfangreichen Werks über die Ausbildung des Redners. Der Frage nach dem aptum widmet er sich erst, da der Gipfel der Redekunst – die Stegreifrede – schon erklommen ist. Die systematische Spannung, die in dieser Aufeinanderfolge angelegt ist, wird im Einleitungssatz des elften Buches naKH]XXQEHUK|UEDUEHQDQQWÄ,VWQXQVR>«@GLH*HZDQGWKHLWLPVFKULIWOLFKHQ Ausarbeiten und im Überdenken sowie auch, wenn es die Lage erfordert, im Reden aus dem Stegreif gewonnen, so ist unsere nächste Sorge, passend zu reGHQ³Cum res poscet – wenn es die Lage erfordert! Ist hier nicht implizit schon die Beherrschung des decorum vorausgesetzt? Erkennt Quintilian die systematischen Schwierigkeiten des decorum und versucht er, sie zu umschiffen? Oder verkennt er die Natur des decorum? – Sehen wir zu, was er Näheres zur Angemessenheit, die er unter dem Titel aptum behandelt, zu sagen hat. Die Subtilitäten Ciceros jedenfalls scheint er – ob bewusst oder unbewusst – zu ignorieren. Denn just jene Stelle, die wir in all den Ausführungen von De oratore als bewussten Verweis auf die Nicht-Systematisierbarkeit des decorum LGHQWL¿]LHUWKDWWHQ2 als geschuldet jenem Dilemma, dass das decorum gleichsam in sich zusammenschnurrt, versucht man, es in Regeln zu fassen: just jene Stelle also nimmt Quintilian als Referenzpunkt her und sieht hierin Ciceros zentrale Einlassung zur Frage nach der Angemessenheit. Gewiss, ein bisschen wundert er sich schon darüber, dass Cicero diesen Punkt nur kurz streift – hunc locum Cicero breviter in tertio de Oratore libro praestringit3 –, aber er erklärt sich diesen Umstand damit, dass Cicero eben für Kenner der Materie geschrieben habe; und diesen sei schon bekannt gewesen, was es mit dem decorum auf sich habe. Er, Quintilian, hingegen, müsse aufgrund seiner Aufgabenstellung eine Darstellung pluribus verbis geben.4 Verwunderlich ist nur, dass Quintilian Cicero für dessen kurze explizite Befassung mit dem aptum mit den Worten in Schutz nehmen zu müssen glaubt: necque tamen videri potest quidquam omisisse±ÄXQGGRFKOlVVW VLFKQLFKWEHKDXSWHQHUKlWWHHWZDVEHUJDQJHQ³5 1 2 3 4 5

Quint. XI, i, 1. Gemeint ist Cic. De or., III 210. Quint. XI, i, 4. Quint. XI, i, 5. Quint. XI, i, 2–6.

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Die Virulenz der Frage nach dem decorum liegt für Quintilian offenbar zunächst in der eventuellen Disharmonie von Redeschmuck und Redegegenstand bzw. Person des Redners. Fast will es scheinen, als ließe sich Angemessenheit VFKRQGDGXUFKZDKUHQ5HGH¿JXUHQXQG5HGHUK\WKPXVLQ(LQNODQJPLWGHQ,Qhalten der Rede zu bringen. Decorum also nur als Problem der Relation von res und verba, als Problem der rechten Dosierung des rhetorischen ornatus? Das jedenfalls legt die Einleitungspassage des elften Buches nahe.6 Quintilian schreibt der Verletzung des decorum, dem falsch verwendeten Redeschmuck, die Macht ]X ÄGLH .UDIW GHU *HGDQNHQ GLH VLH >GLH 5HGH@ HQWKlOW JHJHQ VLH VHOEVW³ ]X richten – mit anderen Worten: Schon solch eine sprachlich-formale Disharmonie kann dazu angetan sein, die gesamte Wirkung der Rede in ihr Gegenteil zu verkehren und den Redner völligen Schiffbruch erleiden zu lassen. Quintilian ist sich der Sprengkraft des decorum also durchaus bewusst. Auch das mag ein Grund sein, warum er schon sehr bald seinen ersten Ansatz, der lediglich die Harmonie zwischen Inhalt und Schmuck, res und verba, im Blick hatte, ergänzt, ja sogar revidiert, wenn er feststellt: sed totum hoc apte dicere non elocutionis tantum genere constat, sed est cum inventione commune±Ä$EHUGLHJDQ]H Kunst, passend zu reden, beruht nicht nur auf der Art des Ausdrucks, sondern JHVFKLHKWPLWGHU$XI¿QGXQJGHU*HGDQNHQJHPHLQVDP³7 Damit begibt er sich DXIGDVZHLWOlX¿JH7HUUDLQGHU2NNDVLRQ±ZHLWHWDOVRVHLQHQ]XQlFKVWQXUDXI die sprachliche Harmonie gerichteten aptum-Begriff aus. Jetzt geht es um Angemessenheit im umfassenden Sinne – nämlich um die Angemessenheit mit Blick auf die Gesamtheit der Persuasionsumstände. Lausberg hat diese Unterscheidung in seine kanonisch gewordene Differenzierung zwischen innerem und äußerem prépon gegossen: Während sich das eine auf ÄGHQLQQHUHQ%HUHLFKGHV.XQVWZHUNV³ULFKWHEHIDVVHVLFKGDVDQGHUHPLWGHP ÄlX‰HUHQ%HUHLFKGHVVR]LDOHQ)DNWXPV³8 Eine kanonisch, aber dadurch nicht richtiger gewordenen Differenzierung – denn wie kann man in einem Textgenre, dessen genuiner Zweck die Persuasion ist und das allein schon dadurch nie ohne Kontext- und Adressatenbezug sein kann, diese beiden Kriterien trennen? Quintilian jedenfalls gibt für diese Abtrennung des rhetorisch-handwerklichen vom kontextuell-persuasiven Aspekt der Angemessenheit das Vorbild nicht ab. Gleichwohl lässt er, da er unvermittelt das Thema wechselt, die Frage unbeantwortet, die sich doch an seine Feststellung, das decorum zu wahren, sei schon eine Aufgabe der inventio, anschließen muss – nämlich wie der Redner eben dies bewerkstelligen könne. Kurzum: Welches die Kriterien des decorum sind, sagt uns Quintilian hier nicht. Stattdessen, wie schon erwähnt, wechselt er das Thema – aber auf eine Art und Weise, die uns zumindest einen kleinen Hinweis darauf gibt, wo Quintilian Kriterien und Ressourcen für die Wahrung des decorum]X¿QGHQJODXEW1lPOLFKLPPRUDOLVFKHQ.RQVHQVGHQHURIIHQ6 7 8

Quint. XI, i, 2–6. Quint. XI, i, 7. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, §1055, 507.

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NXQGLJIUUHFKWEHODVWEDUHUDFKWHW(UUlWÄGDVVHUVWGHUMHQLJHSDVVHQGUHGHWGHU QLFKWQXULP$XJHEHKlOWZDVQW]OLFKHUVHLVRQGHUQDXFKZDVVLFKJH]LHPH³9 Um sofort darauf schlankerhand die Kongruenz der beiden Gesichtspunkte festzustellen: nam quod decet fere prodest.10 Die Argumente, die Quintilian anführt, diese Kongruenz zu untermauern, wenden sich offenbar an den Rhetorik-Schüler, denn: Welcher versierte Redner würde wohl Gefahr laufen, sich die Richter dadurch zu entfremden – vor dieser Gefahr nämlich warnt Quintilian –, dass man ein Auseinandertreten der beiden Aspekte offenkundig werden lässt und seine Argumentation allein für das Nützliche und gegen das moralisch Akzeptable oder vice versa führt? Schließlich stellt ja Quintilian selbst das Arsenal der Umbenennungen und Umdeutungen in einer späteren Passage des gleichen Kapitels11 ausführlich dar – Munition genug, das offenkundige Auseinandertreten von Nützlichem und Schicklichem von vornherein zu vermeiden. Sein zweites Argument für die Unverbrüchlichkeit des moralischen Konsenses und die Identität von Nutzen und Ethik verwundert bei einem Autor, der insbesondere den Gerichtsredner im Blick hat. Wählt Quintilian doch ausgerechnet das Beispiel des Sokrates, der für seine Überzeugungen den Schierlingsbecher zu trinken bereit war und durch dieses kompromisslose Vertreten seiner Ansichten zum Vorbild für Aufrichtigkeit geworden sei. Worauf Quintilian hier abhebt, ist das Urteil der Nachwelt – die gloria. Sicher ein für den philosophisch-historisch orientierten Leser durchaus valides Argument – doch auch eines, das als Leitmotiv für die rednerische Auseinandersetzung vor Gericht taugt? Es bedarf schon einiges an Vorstellungskraft, um sich dieses Verhaltensmuster bei einem Cicero vorzustellen – dem Redner also, den Quintilian stets als Inbegriff brillanter Rhetorik heranzieht. Und dessen Wendigkeit gerade in heiklen, moralischen Fragen er überdies auch in späteren Bemerkungen wieder und wieder hervorhebt. Kurzum, die Identität von utile und honestum, die Quintilian hier aus der philosophischen Betrachtung heraus in die oratorische Anweisung transferiert, bleibt akademisch. Der Gedanke liegt nahe, die These sei taktischer Natur, wie ja auch Helmut Rahn vermutet:12 Ihr Ziel ist es, den zeitgenössischen Philosophen und Philosophielehrern das Argument der Amoralität oder des Relativismus aus der Hand zu schlagen. Mit Blick auf die Frage nach dem decorum jedoch hilft Quintilians Hinweis auf die Identität von honestum und utile nicht wirklich weiter.

9 10 11 12

Quint. XI, i, 8. Loc.cit. Cf. Quint. XI, i, 90. N. 7 zu Quint. XI, i, 11, p. 549.

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Quintilians sieben Strategien Welche Strategie also wählt Quintilian, um des schwierigen Themas Herr zu werden? Bei der Beantwortung dieser Frage wollen wir uns bewusst auf die ersten Kapitel des elften Buches konzentrieren. Gewiss, Quintilians umfassender Lehrgang mit seiner Betonung der Begabung des Redners und der Bedeutung der Nachahmung im Rahmen des Lehrer-Schüler-Verhältnisses wollen wir nicht XQWHUVFKODJHQ$EHUZLUZROOHQ4XLQWLOLDQJHZLVVHUPD‰HQÄEHLP:RUWQHKPHQ³ – seine Positionen also aus den Argumentationen heraus bestimmen und analysieren, die er zum Decorum – anders als etwa Cicero – explizit anbietet; und aus GHQHQVLFKVLHEHQÄ7HLOVWUDWHJLHQ³LP8PJDQJPLWGHPdecorum herausdestillieren lassen. 'DPLW XQWHUVFKHLGHW VLFK VHLQH +HUDQJHKHQVZHLVH VLJQL¿NDQW YRQ &LFHURV Weg, die rhetorische Relevanz und die Einlösung des decorum vor allem implizit zu behandeln – wobei, wie wir gesehen haben, schon die Form des Dialogs eine wichtige Rolle übernommen hat. Quintilian hingegen verfolgt einen Ansatz, den man als handwerklich bezeichnen könnte. Jedenfalls gilt diese Charakterisierung für die ersten vier der sieben Strategien. Sie bieten dem angehenden Redelehrer konkrete Anhaltspunkte, die es zu befolgen oder auch zu vermeiden gilt. Ein erster Gesichtspunkt, unter den sich Quintilians Empfehlungen rubrizieren lassen, lautet: Fehler vermeiden! Grob unangemessenes Auftreten gilt es um jeden Preis zu unterlassen. Der erste Kardinalsfehler, auf den er zu sprechen kommt, ist – wir kennen diese Warnung schon von Aristoteles wie auch von Cicero – der zu offensichtliche Umgang mit der eigenen rhetorischen BeschlaJHQKHLW6RLVWQlPOLFKÄDOOHV*UR‰WXQPLWGHUHLJHQHQ3HUVRQHLQ)HKOHU]XPDO MHGRFKEHLP5HGQHUGDV3UDKOHQPLWVHLQHU%HUHGVDPNHLW³GHQQGLHVHVYHUXUsacht bei den Zuhörern nicht nur Widerwillen – adfert audientibus non fastidium modo –, sondern macht ihnen den Redner verhasst – sed plerumque etiam odium.13 Interessant nur, dass Quintilian dieser Reaktion eine andere Psychologie unterlegt als etwa Aristoteles. Denn seiner Ansicht nach geht es hier nicht um die Sorge, Opfer der Kunstfertigkeit des Redners zu werden, gewissermaßen mithilfe der rhetorischen ars hintergangen zu werden, sondern es ist die Implikation der Überlegenheit, des Stärkerseins, die den Zuhörern negativ aufstößt. Ä(VEHVLW]WQlPOLFKXQVHU*HLVWYRQ1DWXUHLQ*HIKOIU+RKHV$XIUHFKWHVXQG HWZDVGDVVLFKJHJHQGHQhEHUOHJHQHQVWUlXEW³14 Selbstüberhebung und HerabVHW]XQJDQGHUHUJHKHQGDEHL4XLQWLOLDQV(PS¿QGHQQDFK+DQGLQ+DQG±XQG verletzen den Stolz der Zuhörer. Nur: Wo endet gesundes Selbstbewusstsein, die conscientia,15 wo beginnt ungerechtfertigtes Großtun? Es ist schwierig, ja unmöglich, diese Frage zu beantworten ohne Rekurs auf das, was ja erst errungen 13 14 15

Quint. XI, i, 15. Quint. XI, i, 16. Quint. XI, i, 17.

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werden soll – nämlich ein sicheres Urteil über die Angemessenheit. Und genau diesen Rekurs nimmt Quintilian denn auch. Denn Ärger, ja Hass, erregt nur der, der sich supra modum extollit, also über das Maß hinaus über andere erhebt. Während eine solche Erklärung für den Alltagsgebrauch sicher hinreichend evident ist, kann sie keine systematische Erhellung der schwierigen Grundfrage leisten. Die gleiche Problematik gilt auch für die weiteren Kategorien rednerischer Missgriffe, die Quintilian anführt und die ebenfalls unter die Überschrift des Ä)HKOHUYHUPHLGHQV³IDOOHQ6FKRQLKUH%H]HLFKQXQJHQ±ZLH-lK]RUQ5HVSHNWlosigkeit, Schmeichelei oder Possenhaftigkeit – beinhalten eine Rüge. Eine Rüge, die ganz offenkundig darauf abzielt, dass der Redner es an Angemessenheit, am decorum eben, hat fehlen lassen: Impudens, tumultuosa, iracunda actio omnibus indecora konstatiert Quintilian – und formuliert damit wenig mehr als eine Tautologie.16 Und überhaupt: Der Hinweis darauf, dass man offenkundig Unpassendes zu unterlassen hat, heißt ja noch lange nicht, dass der Redner das decorum versteht und erfasst. Was passend wirkt, lässt sich nicht ex negativo bestimmen. Zu lang wäre die Liste all der Inhalte und Modalitäten, die sich angesichts der Mannigfaltigkeit, ja der potenziell unendlich variierenden Situationen abgearbeitet werden müsste, um sich auf diesem Wege dem decorum anzunähern. Welche Handreichungen also vermag Quintilian anzubieten, um zu einer positiven Bestimmung des Angemessenen zu kommen; was rät er dem Redelehrer – und dem Redner selbst – angesichts der Schwierigkeit, zu erkennen und zu beurteilen, was situativ gefordert ist? In Anlehnung an die rhetorischen circumstantiae unterbreitet Quintilian eine Art Topik der Situation, einen Katalog von Kriterien, die helfen sollen, die Redesituation aufzuschlüsseln und so das decorum zu erkennen und einzulösen. Diese Herangehensweise wollen wir als zweite der Strategien Quintilians bezeichnen. Sechs Positionen umfasst die Liste von Fragen, die sich der Redner selbst zu stellen hat; Fragen, denen man gleich ansieht, für welches in den Augen des Autors vordringlichste Anwendungsgebiet sie gedacht sind – nämlich die Gerichtsrede. Die sechs Positionen also lauten: quis, pro quo,17 contra quos,18 apud quem,19 tempus ac locus20 – wer spricht, für wen, gegen wen, vor wem, zu welcher Zeit und an welchem Ort? Doch wenn es daran geht, die einzelnen Kriterien zu entfalten und mit Leben und Detail zu füllen, steht wenig mehr zu erZDUWHQDOV*HPHLQSOlW]HÄ:HUDEHUZVVWHQLFKWZLHYHUVFKLHGHQGHU5HGHVWLO ist, den die feierliche Würde des Senators, und der, den der Wind der Volksgunst YHUODQJW"³21 Oder: Ipsum etiam eloquentiae genus alios aliud decet±Ä$XFKGHU 16 17 18 19 20 21

Quint. XI, i, 29. In dieser Formulierung cf. Quint. Inst. XI, i, 43. Quint. XI, i, 57. Quint. XI, i, 43. Quint. XI, i, 46. Quint. XI, i, 45.

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7RQGHU%HUHGVDPNHLWVHOEVWJH]LHPWVLFKMHQDFK3HUVRQLQYHUVFKLHGHQHU$UW³22 Oder: Der Anwalt muss seine Rolle dem Charakter seines Klienten anpassen – eadem differentia diligenter est custodienda.232GHU$OV$QZDOWPXVVPDQÄGLH Gefühle von Knaben, Frauen, Völkern, ja auch von stummen Dingen nachbilGHQGHQHQDOOHQGLHMHZHLOVDQJHPHVVHQH$XVJHVWDOWXQJJHEKUW³±omnibus debetur suus decor.24 Der Erkenntnisgewinn hinsichtlich des Decorum selbst bleibt gering – unterstreichen doch diese Illustrationen des Prinzips lediglich immer ZLHGHUZLHZLFKWLJHVLVWVLFKDXIGLH6SH]L¿NDGHU6LWXDWLRQHLQ]XVWHOOHQ Noch sind zwei seiner handwerklich orientierten Strategien daraufhin zu überprüfen, inwiefern sie zum Verständnis des decorum einen Beitrag leisten können. Dazu zählt zum einen der Weg der exempla. Quintilian versorgt seine Leser mit einer ganzen Reihe von Beispielen für angemessene und unangemessene Vorgehensweisen. Und er versucht mittels eingestreuter Differenzierungsmerkmale und Alternativen den Sinn des Lesers für die differentiae, von denen HUVSULFKW]XVFKlUIHQ'DKHL‰WHVHWZDÄDXFKREPDQLQGHUgIIHQWOLFKNHLW oder privat, in einem großen oder beschränkten Kreise, in einer fremden oder der eigenen Gemeinde, im Lager schließlich oder auf dem Forum spricht, macht HLQHQ JUR‰HQ 8QWHUVFKLHG³25 Oder mit Blick auf die Adressaten des Redners KlOW 4XLQWLOLDQ IHVW GDVV ÄQLFKW GDV *OHLFKH EHL JHZLFKWLJHQ ZLH EHL PLQGHU gewichtigen Persönlichkeiten, und nicht das Gleiche bei einem Gebildeten und EHLHLQHP%DXHUQVLFK]LHPW³26 Jede Situation fordert ihre Art der Beredsamkeit – suam quidque formam et proprium quendam modum eloquentiae poscit.27 Auch auf dem Weg der exempla bleibt der Graben zwischen Anleitung und Umsetzung bestehen. Die vierte und letzte handwerklich orientierte Strategie, die uns Quintilian anbietet, besteht genau betrachtet aus Strategemen – aus Kniffen. Und auch wenn Quintilian hier erneut auf der Ebene des Exemplarischen, des Beispielhaften argumentiert, so sind seine Hinweise doch für bestimmte Anwendungsfelder nützlich. Greifen wir zwei dieser Kniffe heraus – der erste gilt dem Umgang mit dem Richter, ist moralischer Natur; der zweite gilt dem Umgang mit Worten und präsentiert eine uns schon von Aristoteles wohlbekannte Technik. – Damit also Spannungen in der Beziehung von Redner und Richter, etwa durch widersprüchliche Interessen, durch vorausgehende Kränkungen oder VorHLQJHQRPPHQKHLWHQ QLFKW GLH$XIQDKPH GHU 5HGH QHJDWLY EHHLQÀXVVHQ JLOW HVIUGHQ5HGQHUGLHVHV(PS¿QGHQYRQ'LVKDUPRQLHDXV]XUlXPHQ:LHGDV geschieht? Nicht etwa, indem die Unterschiede der Standpunkte selbst ausgeräumt werden, sondern indem der Redner versucht, einen gemeinsamen Wer22

23 24 25 26 27

Quint. XI, i, 31; hier fühlt man sich erinnert an Quintilians Ausführungen eingangs des Kapitels: nam cum sit ornatus orationis varius et multiplex conveniatque alius alii – cf. XI, i, 2. Quint. XI, i, 39. Quint. XI, i, 41. Quint. XI, i, 47. Quint. XI, i, 45. Quint. XI, i, 47.

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tehorizont und gemeinsame Interessen herauszustreichen: ¿GXFLDHQLPLXVWLWLDH eius et nostrae causae nihil nos timere simulabimus±ÄZLUZHUGHQQlPOLFKVR tun, als hätten wir im Vertrauen auf seine Gerechtigkeit und auf unsere Sache JDUNHLQH)XUFKW³28 Simulabimus – das ist hier das interessante Wort. Quintilian HPS¿HKOWHLQH)LQWHDQ]XZHQGHQHWZDVYRU]XWlXVFKHQZDVQLFKWGDLVW±9HUtrauen. Das ist etwas ganz anderes als die Strategie der dissimulatio dessen, was da ist – etwa von Bildung und Philosophiekenntnissen –, ist etwas ganz DQGHUHVDOVRDOVGDVZDV&LFHURHPS¿HKOW*HKWHVEHL4XLQWLOLDQGDUXPGHU Relation von Richter und Redner den Anschein einer Qualität zu geben, die sie QLFKWKDWGDVÄVR]LDOH)DNWXP³DOVRXPKLHUHLQPDO/DXVEHUJV:RUWH]XJHEUDXFKHQ]X¿QJLHUHQKDWWH&LFHURPLWGHUdissimulatio etwas ganz anderes im Auge: nämlich die Wahrnehmung des Redners in Einklang zu bringen mit den Maßstäben der Zuhörer. Ein ganz entscheidender Unterschied! Auf der einen Seite, der Quintilians, die Unterstellung gleicher Anliegen und Maßstäbe aus Eigeninteresse heraus; auf der anderen, Ciceros, Seite die Tönung des eigenen Auftretens im Namen sozialer Üblichkeiten. Während Cicero das decorum als Vehikel der Persuasion im Auge hat, bleibt bei Quintilian lediglich der Appell an vermeintliche moralische Verbindlichkeiten, der jedoch kaum mehr ist als ein Deckmäntelchen für das offenkundige parteiliche Interesse. Beide Parteien werden spüren und, ist der Richter rhetorisch geschult, auch rational erkennen, dass die auseinanderstrebenden Interessen in der Sache durch derlei Strategeme nicht stillgestellt werden. Ein Fall, in dem ganz offenbar also die Gefahr lauert, vor der Aristoteles am allermeisten gewarnt hatte: der Redner erscheint als Heuchler, die gezielte Anwendung der Redekunst wird ruchbar; und damit der Persuasionserfolg gefährdet. Weniger Gefahr, decouvriert zu werden, aber ebenso wenig kommunikative Bindekraft weist die andere und letzte Teilstrategie auf, die Quintilian vorschlägt. Es ist die schlichte Umbenennungsstrategie, die uns bei Aristoteles schon begegnet ist und uns auch bei Castiglione wieder begegnen wird. Hier wiederum wird die Einsicht in das rechte Maß schon vorausgesetzt, denn wie sonst ließe sich bestimmen, was die moderatio nahe legt? Die nämlich wird in Anspruch genommen, wenn Quintilian sagt verborum etiam moderatione detrahi solet, si qua est rei invidia±Ä$XFKGXUFKGLH:DKOPD‰YROOHU:RUWHSÀHJW PDQ]XPLOGHUQZDVHWZDDQHLQHU6DFKH$QVWR‰ELHWHW³29 Und so solle man von einem rauen Menschen sagen, er sei streng, von einem Ungerechten, er sei überredet worden, von einem Halsstarrigen, er sei über die Maßen beharrlich. Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Fehler vermeiden, nichts Unpassendes tun, Unterschiede der Situationen beachten, simulatio dessen, was nicht da ist – die ersten vier von Quintilians sieben Teilstrategien sind teils konventionell, teils ineffektiv, teils gefährden sie den Persuasionserfolg. Quintilian gibt Empfehlungen, mit den Herausforderungen des Decorum umzugehen – die Natur des deco28 29

Quint. XI, i, 75. Quint. XI, i, 90.

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rum aufzuschlüsseln, versucht er hingegen nicht. Ob seine Ausführungen jedoch tatsächlich einen Beitrag leisten können, das decorum für den Redner handhabbar, kalkulierbar, anwendbar zu machen, muss zumindest bezweifelt werden. Gleichwohl entwickelt er noch drei weitere Handreichungen und Hinweise, die anderen Zuschnitts sind, weil Quintilian hier einmal nicht von Einzelsituationen ausgeht und auch nicht ex negativo argumentiert, sondern sich dem decorum zu nähern versucht, indem er bestimmte Haltungen und HerangehensweiVHQHPS¿HKOW Der erste dieser Gesichtspunkte lässt sich als Wohltemperiertheit bezeichnen. Der Redner soll eine Geisteshaltung an den Tag legen, die ihn als vir bonusTXDOL¿]LHUW8QGJHNHQQ]HLFKQHWZLUGGLHVH+DOWXQJGXUFK&KDUDNWHULVWLND wie humanitas, facilitas, moderatio und benevolentia – also Menschlichkeit, Gefälligkeit, Mäßigung und Wohlwollen.30 Noch relevanter für die decorumProblematik wird diese Stelle, wenn Quintilian gleich im Anschluss ausführt, dass eben nicht nur diese angenehmen Eigenschaften dem Redner anstehen – nein, die gegenteiligen Regungen mögen nicht minder angemessen sein: sed illa quoque diversa bonum virum decent: malos odisse, publica vice commoveri, ultum ire scelera et iniurias, et omnia >…@ honesta±ÄDXFKGLHHQWJHJHQJHVHW]WH Haltung ziemt einem guten Menschen: die Schlechten zu hassen, im Namen der Öffentlichkeit sich zu erregen, für Verbrechen und Unrecht Rache zu nehmen XQGDOOHVZDV>«@MHPDQGHP(KUHPDFKW³31 Hier nun fühlt man sich unweigerlich an Gorgias’ Epitaphios erinnert – an Gorgias’ universale Handlungsvorschrift, die Buchheim ja auf den Nenner gebracht hatte: ta déonta prattein en kairôÄhEHUPWLJJHJHQhEHUPWLJHNRUUHNWJHJHQ.RUUHNWHXQHUVFKURFNHQ JHJHQ8QHUVFKURFNHQHIXUFKWEDULP)XUFKWEDUHQ³32 Nichts anderes im Grunde fordert auch Quintilian. Nämlich, stets die gebotene Haltung zu zeigen – je nach dem, was die Situation verlangt. Maßstab ist das honestum, das, was einem Ehre macht, und damit letztlich der sittlich-moralische Konsens. Der Redner muss also wissen, was erwartet wird, und muss seine Rede auf das sittlich umrissene decorum abzustimmen verstehen. Die zweite der drei übergreifenden Strategien Quintilians – erneut eine, die Zeugnis ablegt von der Konzentration des Autors auf die Gerichtsrede – zielt wiederum auf das rechte Verhältnis von Beredsamkeit und Redeanlass: Die ars der Rede darf dem Eindruck der Authentizität nicht im Wege stehen, weder ornatus noch feinsäuberliches Argumentieren dürfen die Emotionen überlagern: Ä'HQQZHUHLQPDOZlKUHQGVHLQHU5HGHVHLQHQ6FKPHU]]XXQWHUGUFNHQYHUPDJ GHU YHUPDJ RIIHQEDU DXFK JDQ] YRQ LKP ]X ODVVHQ³33 Schon Aristoteles wusste um die Bedeutung spürbarer Emotionalität seitens des Redners und um GHVVHQ(LQÀXVVDXIGLH'LVSRVLWLRQGHU=XK|UHUXQG5LFKWHU4XLQWLOLDQV6RUJH ist offenbar, der Anwalt könnte – durch zu großen und vor allem zu offenkun30 31 32 33

Quint. XI, i, 42. Quint. XI, i, 42. DK82, B6. Quint. XI, i, 56.

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digen Einsatz rhetorischer Überzeugungsmittel – den Eindruck von Distanz, ja Berechnung erwecken. Und so schreibt er seinen Lesern ins Stammbuch: patrono quoque per similes affectus >…@ erit.34 Kurzum, Quintilian fordert hier erneut den Anschein der Nicht-Rhetorizität ein – gerade für die dramatischsten Passagen eines Plädoyers. Ars alleine also ist kein Garant dafür, dass das decorum gewahrt wird, noch weniger dafür, dass der Redner weiß, wo es im Einzelfall angesiedelt ist oder wie zu reden ist, um ihm gerecht zu werden. Nein, im Gegenteil, auch Quintilian ist sich der Gefahr wohl bewusst, dass die doctrina, die er vermittelt, dem Persuasionserfolg im Wege stehen kann. Rücknahme der sichtbaren ars aber scheint damit auch ihre Überwindung, zumindest aber Ergänzung und Komplementierung durch andere Kompetenzen zu erfordern. Fünfeinhalb Zeilen umfasst eine Passage beinahe ganz am Ende des ersten Kapitels des elften Buches, in der schließlich ein Schlüsselwort fällt – und das wohl zugleich die Kapitulation der Quintilianschen Lehre vor dem decorum beinhaltet. Schauen wir uns die Passage an. Sie lautet: Indecorum est super haec omne nimium, ideoque etiam quod natura rei satis aptum est, nisi modo quoque temperatur, gratiam perdit. cuius rei observatio iudicio magis quodam sentiri quam praeceptis tradi potest: quantum satis sit et quantum recipiant aures non habet certam mensuram et quasi pondus >…@±Ä8Q]LHPOLFKLVWEHUGLHVDOOHV was übertrieben ist, und deshalb verliert auch etwas, was an sich der Sache hinreichend angemessen ist, seinen Reiz, wenn es nicht auch im rechten Maß gehalten wird. Die Beachtung dieser Regel lässt sich gleichsam eher gefühlsmäßig erfassen, als dass sich in Regeln fassen ließe, was hinreichend viel ist und wieviel die Ohren zu fassen vermögen; hier gibt es nicht ein festes Maß und gleichsam HLQH*HZLFKWVPHQJH>«@³35 Ganz klar – der Schlüsselbegriff hier lautet iudicium. Um Urteilsvermögen also geht es. Aber was nun die Frage des Erwerbs dieser Unterscheidungskompetenz angeht, so erkennt Quintilian an, dass er hier an die Grenze des präzeptistischen Ansatzes gestoßen ist – kein festes Maß, kein bestimmtes Gewicht kann er dem Redner an die Hand geben, um ihn für die Mannigfaltigkeit möglicher Redesituationen sattelfest zu machen. – Fünf Zeilen, die den Status all der vorgenannten Einlassungen zum decorum relativieren.

Resumé Dort, wo er sich explizit der Frage nach der Angemessenheit zuwendet, kommt Quintilian kaum über Tautologien und das Aufzeigen von Fehlern, die es zu vermeiden gelte, hinaus. Teils wartet er auch mit rednerischen Kniffen auf. In dem Moment aber, wo er sich anschickt, das schwierige Thema grundsätzlich anzugehen, wird er wortkarg. En passant benennt er, was zwar nicht in die enge 34 35

Quint. XI, i, 84. Quint. XI, i, 91.

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Zuständigkeit der Redelehre an sich fällt, aber doch unverzichtbar ist, will der Redner in der Lage sein, sie erfolgreich anzuwenden – nämlich die Urteilskraft, das iudicium, aufzubringen, mithilfe dessen allein die notwendige Vermittlungsleistung von Situation und ars gelingen kann. Quintilian verbleibt, anders als beispielsweise Cicero es getan hat, im Modus des rhetorischen Hand- oder Lehrbuchs und unternimmt es nicht, sich auf anderen Wegen dem Grundsatzproblem des decorum zu nähern. Damit führt er exemplarisch vor Augen, wie die rhetorische doctrina an dem Anspruch scheitert, das decorum mit den Mitteln der Theorie und im direkten Zugriff zugänglich zu machen.

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IV. Existenzielle Persuasion: Das Geheimnis der grazia LQ&DVWLJOLRQHVÄ/LEURGHO&RUWHJLDQR³

Das Libro del Cortegiano fällt insofern aus der Reihe der bislang behandelten Primärtexte, als Baldassare Castiglione weder im Titel den Bezug zur Redekunst herstellt, noch man mit Recht behaupten kann, sie nehme inhaltlich großen Raum ein. Zwar wird beispielsweise das rhetorische System in allerknappster Form referiert,36 aber nicht im Detail ausgebreitet oder gar diskutiert. Insofern wäre es sicherlich verfehlt zu behaupten, die Rhetorik als Disziplin spiele hier eine zentrale Rolle. Kurzum: Wir haben es nicht mit einem Werk über Rhetorik, geschweige denn mit einem Rhetorik-Lehrbuch zu tun. Dennoch ist der Cortegiano ein höchst rhetorischer Text; ein Text nämlich, in dessen Zentrum das Streben nach Persuasion steht. Dabei muss nicht allein die Rede des Hofmanns überzeugen – die ganze Person muss es. Denn die persuasive Absicht des HofPDQQHVLVWQLFKWLPUKHWRULVFKHQ$JRQ]XREVLHJHQVRQGHUQLQGHUK|¿VFKHQ Konkurrenz zu bestehen. Also muss es ihm darum zu tun sein, durch sein ganzes Handeln zunächst die Aufmerksamkeit des Fürsten auf sich zu lenken und, daran anschließend, dessen Gunst – seine grazia, quell’universal favore che tanto s’apprezza37 – zu erwerben. Viel, ja alles hängt für den Hofmann davon ab, das Wohlwollen des Fürsten zu erlangen. Wie sich dieses eine Ziel erreichen lässt, ist die Leitfrage, welcher der gesamte Dialog nachgeht. Mehr noch als für den Sophisten oder den politischen Redner, den Cicero im Sinne hatte, gewinnt Persuasion für den Hofmann eine geradezu existenziell zu nennende Bedeutung: Sie zu vernachlässigen wäre schlicht eine mortal cosa.38

Die Wiederkehr des methodischen Dilemmas Da nun einerseits – wie wir in den vorausgehenden Überlegungen schon mehrfach gesehen haben – die Realisierung des decorum unumgängliche Voraussetzung für Persuasion ist, andererseits der Titel von Castigliones Werk sich ja durchaus zweideutig als Buch vom Hofmann wie auch als Buch für den Hofmann verstehen lässt und damit suggeriert, es handele sich um ein Handbuch, einen präzeptistischen Text, ließe sich daraus legitim die Erwartung ableiten, dass Castiglione die Frage nach dem decorum explizit stellt – und auch beantwortet. Welches Verhalten ist einem guten Hofmann angemessen und welche Eigenschaften braucht er, um erfolgreich agieren zu können? Genau auf diese 36 37 38

Castiglione, Libro del Cortegiano, I xxxiii, 143f. Cortegiano, I xxi, 121. Cortegiano, II, xxxvi, 251.

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Frage spielt eine Formulierung an, die als Leitmotiv des Buches gelten könnte – wenn nämlich Emilia Pia zum Conte Ludovico da Canossa sagt: voi siete così buon cortegiano, che sappiate quel che si gli convenga.39 Und zu wissen, was konveniert, was sich schickt, ist ja nichts anderes als das Wissen um das, was angemessen ist und dem decorum entspricht. Die Spur ist also aufgenommen.40 Nun stellt sich die Frage: Wie geht Castiglione die Aufgabe an, sich diskursiv und rhetorisch, nämlich in Form eines Dialoges, der Angemessenheit zu nähern? Um nichts anderes schließlich geht es; lautet doch der klar bezeichnete Gegenstand des Buches di formar con parole un perfetto cortegiano!41 Wird er GDVEHJULIÀLFKVFKZHUJUHLIEDUHdecorum geradewegs ins Visier nehmen, ja am Ende doch noch das Kunststück schaffen, Regeln zu formulieren? Erinnern wir uns zunächst noch einmal an De oratore: Seiner Figur Crassus legte Cicero die Formulierung in den Mund, er spreche über Rhetorik wie ein schlichter paterfamilias. Wie arglos nimmt sich dieses Understatement doch aus im Vergleich zu Castigliones Vorgehen! Denn nicht weniger als sieben Schritte der Distanznahme lassen sich hier ausmachen. Davon, dass Castiglione die Fragestellung, der er nachgeht, auf direktem Wege zu behandeln, zu beantworten gar sich anschickt, kann wahrlich nicht die Rede sein. Zum ersten gibt Castiglione vor, gar keine genaue Anleitung im Sinne zu haben: non seguiremo un certo ordine o regula di precetti distinti.42 Damit ist schon einmal die grundsätzliche Herangehensweise beschrieben, und Castiglione hat jeden Soupçon der Pedanterie abgewiesen. Zweitens dann gibt er vor, bloß Protokollant zu sein – Protokollant eines Dialoges, an dem er – drittens – nicht einmal selbst teilgenommen hat, sondern den er lediglich vom Hörensagen kenne: io non v’intervenissi presenzialmente.43 Er ist also – viertens – nicht allein auf die Wiedergabe durch einen anderen angewiesen, sondern – fünftens – nicht minder auf seine eigene Erinnerung dessen, was ihm berichtet wurde: sforzerommi a punto, per quanto la memoria mi comporterà, ricordarli, nämlich die ragionamenti, die Überlegungen, die von den Teilnehmern des Dialogs vorgebracht wurden. Sechstens nun der Dialog als solcher; zum einen ist er natürlich die Form der Wahl, will man sich nicht zu precetti distinti verstehen. Man darf also unterstellen, dass es sich hier nicht allein um eine literarische, womöglich von der Sympathie zu antiken Vorbildern motivierte Entscheidung handelt, sondern um eine, die dem Su39

40

41 42 43

Cortegiano, I, xiii, 103; Castiglione lässt den Conte Ludovico da Canossa sogar noch einmal eben diese Formulierung wiederholen: conoscendo in me ciò che voi avete per burla detto verissimo, cioè ch’io non sappia quello che a bon cortegian si conviene (I, xiii, 104); damit dürfte klar sein, dass die Wortwahl hier ganz bewusst getroffen wurde und uns Castiglione hier bereits einen Hinweis auf die zentrale Rolle der Angemessenheit gibt. Cf. auch II, xi, 210. Gelegt wird sie allerdings bereits im Vorwort: Hier nämlich wird Alfonso Ariosto, dem das Buch vom Hofmann gewidmet ist, bereits mit dem Schlüsselbegriff gelobt als junger Mann, atto ad ogni cosa conveniente ad omo di corte – Ded. i, 72. Cortegiano, I, xii, 102. Cortegiano, I, i, 82, cf. Göttert, 20. Cortegiano, I, i, 83.

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jet selbst sich verdankt.44 Aber Castiglione verschärft die mit dem Dialog selbst einhergehende Perspektivität aller Äußerungen noch einmal dadurch, dass es sich beim Cortegiano, anders etwa als noch für Cicero, nicht um einen ernsthaftgelehrten, wenngleich mit Esprit und Witz versetzten Dialog handelt, sondern um einen, der – und das ist der siebte Schritt – von vornherein als Spiel, als gioco, daherkommt.45 Schauen wir darauf, wie Castiglione den Text anlegt, so sticht also die frappierende Distanz ins Auge, die der Autor zwischen sich und sein Werk legt. Mittels einer regelrechten Verschleierungstaktik enthebt sich Castiglione jeden Verdachtes, die Frage nach dem perfekten Hofmann und dem, was ihm zukomme, das heißt letztlich: die Frage nach der Angemessenheit, auf unangemessene Art und Weise, nämlich intentione recta, anzugehen. Was sich hier DE]HLFKQHWLVWGDVÄ3DUDGR[HLQHVSUl]HSWLVWLVFKHQ7H[WHVGHUGLH0|JOLFKNHLW des precetto radikal in Frage stellt, der die normative Formulierung wagt und VLH]XJOHLFKGHPHQWLHUW³46 Diese durch viele Facetten gebrochene, höchst indirekt angelegte Struktur des Textes jedenfalls lässt nicht erwarten, dass sich die anfangs geäußerte Hoffnung, wir fänden bei Castiglione eine explizite Handreichung zur Beherrschung des decorum, erfüllen wird.47

Zwischen Dienen und Spielen: Zur Rhetorizität des Dialogs Ein Gemeinplatz, aber ein zutreffender, besagt ja, zentrales Merkmal der Renaissance sei das Streben nach Wiederentdeckung und Wiederbelebung des Wissens und der Größe der griechisch-römischen Antike. Keine Frage: Die Be 'LH3OXUDOLWlWGHUK|¿VFKHQFRQVXHWXGLQLGHU=HLWXQGGLH9LHOIDOWP|JOLFKHUopinioni zu den im Text verhandelten Fragen legt diese Form nahe. Cf. dazu auch die hoch interessante Arbeit von Brigitte Brinkmann, Varietas und Veritas. Normen und Normativität in der Zeit der Renaissance, 58ff. Cf. zu dieser Thematik auch die ausführliche Ausarbeitung von Philippe Guérin, Remarques sur le jeu dialogique dans Le livre du Courtisan, in: Grossi/D’Amico (Hrsg.), De la politesse à la politique, Caen 2001, 91–119. 45  'HQQGDVLVWGHU5DKPHQGHV$EHQGV±GHUDXFKKLHUGUHKW&DVWLJOLRQHGLH6SLUDOHGHU5DI¿QHVVH und Distanz noch einmal weiter – zunächst dadurch aufgespannt wird, dass Emilia Pia das Spiel vorschlägt, ein jeder möge ein neues Spiel vorschlagen – delibero proporre un gioco >«@; e questo sarà ch’ognun proponga secondo il parer suo un gioco non più fatto – I, vi, 92; das allein schon ist ein Appell an das Gespür fürs decorum und an die Geistesgegenwart, den ingegno, der Anwesenden und ein Beispiel für die Rückbezüglichkeit des Textes, auf die noch im Detail einzugehen sein wird. 46 Brigitte Brinkmann, Varietas und Veritas, 120; Manfred Hinz spricht in diesem ZusammenKDQJYRPÄ6SLHOHQPLWXQG]XJOHLFK6XVSHQGLHUHQYRQ2UGQXQJ³GLHVODVVHVLFKDOVÄGDVNRPplexe Unternehmen verstehen, das notwendig Unsystematisierbare, die Komplexität sozialer ,QWHUDNWLRQJOHLFKZRKO]XV\VWHPDWLVLHUHQ³&I+LQ]Rhetorische Strategien des Hofmannes, 18. 47 Insofern setzt es schon beträchtlichen Willen zur grobkörnigen Betrachtung voraus, wenn man den Cortegiano, so wie Helga Reimann das tut, schlicht als courtesy book ins Auge fasst; cf. The Informal Code: Changes in Western Etiquette, in: Thought 64 (1989), 44. 44

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rufung auf antike Autoren ist im Cortegiano allgegenwärtig. Der ganze Text, so Castiglione, sei nach antikem Zuschnitt verfasst – alla foggia di molti antichi, gemeint ist: als Dialog.48 Auch die Thematisierung eines Idealbildes ist uns vertraut: nur dass es hier nicht um den perfectus orator geht, sondern um die perfezion della cortegiania, um den perfetto cortegiano, wie es in einer Formulierung heißt, die Castiglione dem Federico Fregoso in den Mund legt.49 Schon auf den ersten Seiten der Vorrede verteidigt Castiglione sein schwieriges Unterfangen, über den perfekten Hofmann zu schreiben, mit dem Hinweis, er begnüge sich damit, in illustrer Gesellschaft zu irren, nämlich in der Platos, Xenophons und Ciceros – von Autoren also, die sich ja ihrerseits mit dem perfekten Staat, dem perfekten König und dem perfekten Redner befasst hatten.50 Und immer wieder, GHQJDQ]HQ7H[WKLQGXUFK¿QGHQVLFKLPSOL]LWHZLHH[SOL]LWH$QNOlQJHDQDQWLke Autoren, allen voran Cicero.51 Mit Blick auf die Rolle der Rhetorik allerdings fallen beim Cortegiano nicht in erster Linie Wirksamkeit oder Kontinuität der Überlieferung ins Auge. Im Gegenteil: Gerade aus dem Interesse an der rhetorischen Potenz des Buches gewinnen grundlegende Differenzen ihre Kontur, die den Cortegiano von den Schriften Aristoteles und Ciceros abheben.52 Differenzen, die sich vor allem aus dem völlig veränderten politischen Kontext herleiten. Denn zu welchem Anlass sollte der Hofmann vor dem versammelten Volk politischen Rat erteilen, als ZHVVHQ$QZDOWVROOWHHUVLFKPLWUDI¿QLHUWHU5HGHDXVJHEHQZHQZLUNXQJVYROO anklagen? Ging es bei Aristoteles und auch bei Cicero um eine Beredsamkeit, die gebraucht wurde, um das Gemeinwesen mithilfe eines öffentlichen Entscheidungsprozesses zu lenken, sich als Redner gegen einen anderen und die eigene inhaltliche Position gegen eine alternative durchzusetzen, so gehört der Hofmann zwar idealerweise dem Adel an – doch zu entscheiden hat er zunächst einmal nichts.53 Sein Metier ist vielmehr das Dienen.54 Die Rhetorizität des Cortegiano – gemeint ist damit die Orientierung auf Persuasion auch jenseits der Beredsamkeit – bewegt sich zwischen den beiden Cortegiano , L  1RUWKURS )U\H KlOW GD]X IHVW Ä(OHPHQWR IRQGDPHQWDOH GHOO¶XPDQHVLPR LWDOLDQRqO¶DPPLUD]LRQH SHU 3ODWRQH QRQ VROR FRPH ¿ORVRIR PD DQFKH FRPH DUWLVWD OHWWHUDWR >@,OJHQHUHGHO&DVWLJOLRQHqHVVHQ]LDOPHQWHTXHOORGHOVLPSRVLRSODWRQLFR³'DQHEHQQHQQWHU natürlich auch Ciceros De oratoreDOVÄXQRGHLWHVWLFKHPDJJLRUPHQWHLQÀXHQ]DURQRODFXOWXUD ULQDVFLPHQWDOH³&IÄ,OFRUWHJLDQRLQXQDVRFLHWjVHQ]DFRUWL³ 49 Cortegiano, I, xii, 102f. 50 Cortegiano, Ded., iii, 78f. 51 Zu den vielen Bezugnahmen Castigliones auf Cicero cf. Elisabetta Soletti, Parole ghiacciate – parole liquefatte. Il secondo libro del „Cortegiano“, 39ff. Zur genaueren Analyse von Castigliones Personaltableau cf. Piero Floriani, I gentiluomini letterati. Il dialogo culturale nel primo Cinquecento, Kap. III, 50ff. 52  'LHVQXQ]LHKW*|WWHUWQLFKWKLQUHLFKHQGLQ%HWUDFKWZHQQHUGHQ+RIPDQQDOVÄHLQH.RSLHGHV DOWHQRUDWRU³EH]HLFKQHW±FIKommunikationsideale, 20. 53  =XUDSROLWLVFKSROLWLVFKHQ5ROOHGHV+RIPDQQVFI*LRUJLR%jUEHUL6TXDURWWLL’onore in Corte. Dal Castiglione al Tasso, 41–89. 54 Dies macht Castiglione immer wieder deutlich, etwa II vii, 202; II viii, 207; II, xxii, 229, passim. 48

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Polen des Dienens und des Spielens. Der Pol des Dienens ist zum einen schon bezeichnet durch die Quasi-Unmöglichkeit deliberativer Rhetorik.55 Castiglione illustriert die Situation des Hofmanns implizit auch durch die Verortung der Szenerie: Denn während Cicero die Runde arrivierter und aufstrebender Redner in De oratore fernab vom hektischen Rom auf einem Landsitz diskutieren lässt, situiert Castiglione die Debatte über die Eigenschaften eines idealen Hofmannes nicht in einem Refugium abseits, sondern am Hofe selbst, wenn auch im Rahmen einer abendlichen, als heiter und spielerisch sich präsentierenden Unterhaltung.56 7HLOQHKPHU GLHVHV 'LDORJHV EHU GHQ SHUIHNWHQ +RIPDQQ VLQG ± +RÀHXWH +RÀHXWHGLHLKUHUVHLWVVFKRQDOVEHVRQGHUVKHUDXVUDJHQGH9HUWUHWHULKUHV6WDQdes gekennzeichnet werden – und zwar sowohl vom Autor selbst in seiner Vorrede57 als auch im Dialog. Wenn es sie irgendwo gebe, dann hier, am Hofe von Urbino: se in loco alcuno son omini che meritino esser chiamati bon cortegiani e che sappiano giudicar quello che alla perfezion della cortegiania s’appartiene, ragionevolmente si ha da creder che qui siano.58 Damit ist klar: Wo herausraJHQGH+RÀHXWHEHUGDVLGHDOH5HGHQXQG+DQGHOQEHL+RIHVSUHFKHQGDVSUHchen sie über sich selbst und die Maßstäbe ihres eigenen Handelns. Wobei diese Maßstäbe auch während des Sprechens, während des Dialoges selbst, weiterhin gelten. Denn eben die Kriterien, die dem Erfolg oder Misserfolg des Hofmanns zugrunde liegen, geben das Thema des Spiels ab, dem sich die illustre Runde ]XZHQGHW$XFKEHLGHU$EHQGXQWHUKDOWXQJGDUIGHU+RIPDQQVHLQVSH]L¿VFKHV Handwerkszeug der cortegiania nicht aus der Hand legen, sondern muss weiter auf seine Qualitäten und Fertigkeiten rekurrieren. Wie spielerisch also wird in diesem Kontext die abendliche Zusammenkunft wirklich gewesen sein? Während einerseits keine Außenperspektive auf die cortegiania eröffnet wird, die Platz ließe für Fragen der politischen Funktionalität oder moralischen Legitimität der Verhältnisse, während also die Verbindlichkeiten und Usancen des Systems nicht in Frage gestellt werden, so heißt das dennoch nicht, dass es gar nichts zu entscheiden und damit auch gar nichts zu bewirken gäbe. Denn dann wäre auch Persuasion sinnlos. Nein, das Spiel macht nur Sinn, wenn es auch Spielraum gibt – mithin etwas zu gewinnen oder zu verlieren. Der Hof ist nämlich in gewissem Sinne durchaus ein Ort der Entscheidung; doch betreffen 55

56

57 58

Die ideale Zielsetzung eines Hofmanns, der zum Erzieher und Berater des Fürsten wird, als ¿QDOH6WXIHGHUgrazia lassen wir hier bewusst außer Betracht – sie ist ein Sonderfall. Auch Hinz betont diesen Umstand: Der Hofmann muss sich auf sein Überleben bei Hofe kon]HQWULHUHQÄRKQHGDVVHUHLQHQVLFKHUHQ6WDQGSXQNWDX‰HUKDOEGHV+RIHVEH]LHKHQN|QQWH³±FI +LQ]%jUEHUL6TXDURWWLJHKWVRJDUQRFKHLQHQ6FKULWWZHLWHUZHQQHUVFKUHLEWÄ)XRULGHOOD FRUWHQRQF¶qLQVRPPDDOWURVSD]LRDPPLVVLELOHIUHTXDQWDELOHSURSRQLELOH/DFRUWHqO¶XQLFR OXRJRGHOÃFDYDOLHUHµ>«@1RQF¶qLQVRPPDQHVVXQDFRPPXQLFD]LRQHIUDORVSD]LRGHOODFRUWH RXQSXUDPHQWHLSRWHWLFRVSD]LRHVWHULRUHDQ]LTXHVW¶XOWLPRSXzHVVHUHWUDQTXLOODPHQWHPHVVRGDSDUWHFRQVLGHUDWRFRPHLQVLJQL¿FDQWHRDGGLULWXUDLQHVLVWHQWH³±FIL’onore in Corte, 42. Cortegiano, I, i, 83. Cortegiano I, xii, 102.

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diese Entscheidungen nicht das Handeln des Staates, sondern Rang und Rolle GHUHLQ]HOQHQ+RÀHXWHVHOEVW(VVLQGLPSOL]LWH(QWVFKHLGXQJHQEHU$XIVWLHJ oder Untergang, Prestigegewinn oder Ansehensverlust. Jeder Hofmann entscheidet – und über jeden wird entschieden. Und das sowohl von seinesgleiFKHQ GHQ DQGHUHQ +RÀHXWHQ ZLH DXFK YRQ GHP )UVWHQ GHP HU GLHQW +LHU nun kommt – um diese Metapher weiterzuführen – die Persuasion ins Spiel. Beim Hofmann fällt es schwer, legitim zwischen der Person des Redners und ihrem Sujet zu unterscheiden. Denn nicht das Wohl des Staates ist primärer Gegenstand seines Redens und Handelns, sondern sein eigenes. Nicht politische Handlungsoptionen interessieren den Hofmann, vielmehr will er seine eigenen Handlungsoptionen erweitern. Und da er nun einmal nicht die Macht hat, die Geschicke des Staates zu lenken, geht es ihm vor allem darum, sich selbst zu lenken – es geht um das governarsi.59 Wie bei Cicero die Verortung durch die persona, so umreißt nun die enge (LQELQGXQJLQGHQK|¿VFKHQ.RQWH[WGLH*UHQ]HQGHV6SUHFKHQVXQG+DQGHOQV Und wie bei Cicero dient die virtuose Verkörperung des decorum vitae als Mittel, sich gegenüber anderen auszuzeichnen, also die bei Hofe so wichtigen Distinktionsgewinne einzustreichen. Das Beherrschen der impliziten Regeln und die entsprechende Selbstbeherrschung in einem umfassenden Sinne werden zu den Vehikeln, die dem Hofmann einen Weg eröffnen, eine eigene Form von 6RXYHUlQLWlW ]X HQWZLFNHOQ XQG EHL VHLQHVJOHLFKHQ $QHUNHQQXQJ ]X ¿QGHQ Auch wenn es im Cortegiano um ein Idealbild geht, so kann dies doch nur ein LPPDQHQWHVLP6\VWHPGHV+RIHVXQGGHV+|¿VFKHQYHUEOHLEHQGHVVHLQ$XVschlaggebend für das Verhaltensideal, das der Dialog entwickelt, ist demnach nicht Systemkritik, sondern Stilkritik. Was heißt das nun für die Frage nach der Rhetorizität des Cortegiano? Zunächst: Die Nachfrage nach Argumentation im aristotelischen Sinne, der Bedarf an lógos, wird begrenzt durch die politischen Verhältnisse; dementsprechend wird auch pathos als Überzeugungsmittel keine herausragende Funktion übernehmen können. Nein, alles kommt auf die Selbst- und Charakterdarstellung des Hofmanns, also auf sein êthos, an. Ihm muss es darum gehen, deutlich zu machen, was für einer er ist.60±*UHLIHQZLU]XHLQHUDQGHUHQEHJULIÀLFKHQ7ULDV der klassischen Rhetorik, um den Hofmann näher zu charakterisieren, so sehen wir, dass auch der Spielraum für das docere und das movere – also für die sachliche Auseinandersetzung und die handlungsorientierte Überzeugung – eher JHULQJVLQGZRUXPHVYLHOPHKUJHKWLVWGLH$GUHVVDWHQ±GLHDQGHUHQ+RÀHXWH und natürlich den Fürsten selbst – im wahrsten Sinne des Wortes anzusprechen – nämlich durch eine Rhetorik, die vor allem eines ist: angenehm, unterhaltsam, brilliant – eine Rhetorik, die sich also vor allem auf das delectare versteht. Diese %HVWLPPXQJGHUK|¿VFKHQ5KHWRULNOlVVWVLFKDOOHLQVFKRQGDUDXVDEOHLWHQGDVV 59 60

Cortegiano II, xxxi, 243.  *|WWHUW VSULFKW LQ GLHVHP =XVDPPHQKDQJ ]XWUHIIHQG YRQ HLQHU Ä1RWZHQGLJNHLW DEHU DXFK 6FKZLHULJNHLWHLQHU5HSUlVHQWDWLRQGHV6HOEVW³FIKommunikationsideale, 198.

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GLH)RUPGHV'LDORJVDXFKLP'LDORJVHOEVWDXIJHJULIIHQXQGVHLQHVSH]L¿VFKH Qualität eben mit Blick auf das delectare ausgeleuchtet wird. Der Dialog beinhaltet nämlich zugleich eine Entscheidung gegen langweiliges Dozieren: Rede und Widerrede bringen Abwechslung – il gioco sarà più bello.61 Bezeichnend und ein wertvoller Beleg für unsere These, nichts anderes als die exemplarische Auseinandersetzung mit der Frage nach dem decorum stehe im Zentrum des Buches vom Hofmann ist ein Satz, der von Federico Fregoso vorgebracht wird: :DVQlPOLFKVROOGHQ:LGHUVSUXFKGHUYHUVDPPHOWHQ+RÀHXWHHUQWHQ"(VVLQG quelle cose che non pareranno convenienti – jene Dinge, die nicht angemessen zu sein scheinen.62 Fassen wir zusammen: Im Cortegiano wird untersucht, was dem Hofmann angemessen ist – gemeint ist: welche Fähigkeiten, welche Ausbildung, welche Tätigkeiten, welches Verhalten, welches Sprechen und Handeln. Die Form, in die diese Untersuchung gegossen wird, der Dialog, ist ihrerseits gleich zweifach durch das Kriterium der Angemessenheit konditioniert: Einerseits musste sich der Autor seinem Thema auf indirektem Wege nähern, um nicht selbst in Dissonanz zu geraten zu dem Ideal, das inhaltlich formuliert werden soll und das gerade er, Castiglione, selbst ein berühmter Hofmann, keinesfalls kompromittieren durfte. Das Paradox des präzeptistischen Textes, der keine Vorschriften formuliert, ist der einzige Ausweg aus der sich sonst unweigerlich öffnenden Falle des abstrahierenden Zugriffs auf etwas, was sich nur situativ erkennen und beschreiben lässt. Aber auch innerhalb des Dialoges – nimmt man ihn einmal für bare Münze, als das, was Castiglione nun wirklich über den perfetto cortegiano sagen kann –, gelten das Prinzip – und das Kriterium – der Angemessenheit weiter. Unangemessenes wird Widerspruch ernten – und doch ist alles nicht so ernst gemeint, niemand wird ins Dozieren verfallen; das Spielerische schützt vor der Versuchung, das decorum in feste Regeln auskristallisieren zu lassen. Auf der einen Seite also das edle Ideal eines perfekten Hofmanns – zweifellos ein würdiges und überaus relevantes, ernstes Sujet; auf der anderen Seite die elegante, von jeder Pedanterie freie Form des spielerischen Wortwechsels: zwei Faktoren, die sich potenzieren zum più bel gioco che far si potesse, zum VFK|QVWHQDOOHUP|JOLFKHQ6SLHOH:DVDEHUNDQQÄVFK|Q³KLHUDQGHUHVKHL‰HQ als unterhaltsam und amüsant, aber auch geistreich und brilliant – kurzum als angemessenIUGLH=XVDPPHQNXQIWKHUDXVUDJHQGHU+RÀHXWHDQHLQHPKHUDXVragenden Hofe?

61 62

Cortegiano I, xiii, 104. Cortegiano I, xii, 103.

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Charakteristika einer Rhetorik des Hofmanns: consuetudo, verisimile, delectare und decorum Formar con parole un perfetto cortegiano – die rhetorische Grundierung des Cortegiano ist unübersehbar. Mehr als das – denn auch wenn wir es nicht mit einem Rhetorik-Lehrbuch zu tun haben, so schreibt Castiglione der Eloquenz doch eine ganz zentrale Rolle zu für die Bildung des Hofmanns. Ohne sie sei sein Können in allen anderen Disziplinen wenig wert.63 Worin dieses Können sich manifestiert? In ganz knapper Form – und ohne schulmeisterliche Gelehrsamkeit – lässt Castiglione den Conte Ludovico auf wenigen Seiten eine Zusammenfassung der antiken Rhetorik referieren, einschließlich der RI¿FLDRUDWRULV, der virtutes elocutionis und, in wenigen Worten, der Charakterdarstellung des Redners durch Gesten und Blicke.64 Also ein ganzes Kompendium der rhetorischen Disziplin, ohne dass es als solches erkennbar wäre – eine doppelte Verneigung vor Cicero: als Autor systematischer Lehrbücher ebenso wie als Verfasser von De oratore, als der er die Parole ausgegeben hatte, eben nie zu viel vom Wissen um die Überzeugungsmittel preiszugeben und sich in rhetorischen Dingen stets als Laie zu präsentieren. Dieses Leitprinzip lässt Castiglione seine Figuren natürlich beherzigen.65 Jegliches Theoretisieren liegt ihnen fern. Dafür nennen sie einige übergeRUGQHWH5HJHOQGHUK|¿VFKHQ(ORTXHQ]:DVGLH:RUWZDKOHWZDDQJHKWVRJLOW dass la forza e vera regula del parlar bene consiste più nel uso che in altro66 – gemeint ist hier jene sprachliche consuetudo, die Castiglione, auch hier im Einklang mit der rhetorischen Tradition der Antike, als consensus eruditorum YHUVWHKW QLFKW DEHU DOV :LOONU HLQHU XQTXDOL¿]LHUWHQ 0HKUKHLW EHL +RIH La bona consuetudine >…@ del parlare credo io che nasca dagli omini che hanno ingegno e che con la dottrina ed esperienzia s’hanno guadagnato il bon giudicio, e con quello concorrono e consentono ad accettar le parole che lor paion bone.67 – Kompetente Beurteiler sind also die, die in gut ciceronischer Tradition ingenium, ars und exercitatio auf sich vereinen – alle drei Faktoren nämlich spricht Castiglione hier deutlich an. Hinzu tritt für ihn und seine Zeitgenossen, die sie sich den Grad an Kenntnissen und Sprechkultur, wie er in der Antike verbreitet war, erst wieder aneignen müssen, die Orientierung an den Werken der Alten. Die Antike bietet den Leitfaden, die wünschenswerte Vertrautheit mit den Kriterien der Beredsamkeit wiederzugewinnen.68 – Mit Blick auf die rhetorische Bildung bei Hofe weist die consuetudine als oberstes Stilprinzip in zweierlei Richtungen: zunächst nämlich verbindet sich mit ihr ein Plädoyer 63

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Cf. Cortegiano,[[[LVHQ]DTXHVWHGXHFRQGL]LRQL>JHPHLQWVLQG5HGHQXQG6FKUHLEHQ@ forse tutte l’altre sariano non molto degne di laude. Cortegiano I, xxxiii, 143f. Und sogar benennen – I, xxvi, 128. Cortegiano, Ded. ii, 75. Cortegiano I, xxxv, 148. Cortegiano I, xxxvii, 150.

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für ein zeitgemäßes Sprechen, gegen ein Nachäffen der Antike. Zweitens aber wendet sich Castiglione mit der consuetudine auch gegen starre stilistische Verbindlichkeiten oder Vorbilder, und heißen sie auch Petrarca oder Boccaccio.69 Castigliones Votum für die consuetudine ist damit zugleich auch ein Votum für eine lebendige Sprache und Sprachnorm – und für eine Mitte zwischen willkürlicher, ungebändigter varietà einerseits und wirklichkeitsfremdem Rigorismus andererseits. Die Rhetorik des Hofmanns soll frei von Marotten, Sölizismen und Altertümlichkeiten, kurz: frei von stilistischen Anstößigkeiten sein. – Anstößigkeiten, die insbesondere beim Schreiben den Moment überdauern und zum bleibenden Ärgernis werden.70 Castigliones Diskussion von Sprache und Beredsamkeit unter dem Rubrum der consuetudine konstituiert gleichsam ein Modell, dessen Maßstäbe sich auf das gesamte Verhalten des Hofmannes übertragen lassen: Während nämlich die consuetudine, die gemeinsame Fundierung, den gesellschaftlich akzeptablen Rahmen des Ausdrucks vorgibt, bleibt dennoch genug Spielraum für den Hofmann, durch seine Rede zugleich auch zu beeindrucken. Denn die klare, verständliche, an der consuetudo ausgerichtete Rhetorik darf, ja soll angereichert und interessanter gemacht werden mit außergewöhnlichen, etwa dem SpaQLVFKHQRGHU)UDQ]|VLVFKHQHQWOHKQWHQ:RUWHQRGHU5HGH¿JXUHQGLHPDQDXV dem Lateinischen und Griechischen kennt.71 Die Sprache des Hofmanns soll also nicht allein italiana und commune sein, sondern nicht minder copiosa e vaULDHTXDVLFRPHXQGHOLFLRVRJLDUGLQRSLHQGLGLYHUVL¿RULHIUXWWL.72 Die Vielfalt also leistet offenkundig einen wichtigen Beitrag zum delectare – ein Gedanke, der uns an Aristoteles’ Einlassungen zur Stilistik der Rede erinnert. An dieser Stelle sei aber nicht verschwiegen, dass die Vielfalt der consuetudini als Maßstab fürs Reden, vor allem aber fürs Handeln durchaus auch als problematisch empfunden wird. Denn wenn auch die sprachliche consuetudine DOV.RQVHQVGHU9HUVWlQGLJHQVLFKHWDEOLHUWVLQGGLHhEOLFKNHLWHQGHVK|¿VFKHQ Verhaltens doch in ständiger Veränderung begriffen. Castiglione jedenfalls kommt mit realistischem Blick zu der Feststellung, dass das, was üblich und akzeptabel ist, eben von Ort zu Ort variiert: le consuetudini sono molto varie.73 Auch im Laufe der Zeit verändert sich die consuetudine, so dass die Dinge mal in diesem, mal in jenem Lichte erscheinen: la consuetudine fa a noi spesso le medesime cose piacere e dispiacere >...@. Però si vede chiaramente che l’uso più che la ragione ha forza d’introdur cose nove tra noi e cancellar l’antiche.74 69 70

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Cortegiano I, xxxi, 139. Da für Castiglione la scrittura non è altro che una forma di parlare che resta und la scrittura conserva le parole e le sottopone al guidicio die chi legge e dà tempo a considerarle maturamente gilt natürlich auch hier die Regel der consuetudine in noch strengerer Weise. Cf. I, xxix, 134f. Cortegiano I, xxxiv, 145f. Cortegiano I, xxxv, 146. Cortegiano I, xxx, 137. Cortegiano I, i, 82.

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Auch wenn sich der Rahmen dessen, was als üblich und angemessen gelten kann, als dynamisches System erweist und stetig weiterentwickelt, so muss der Hofmann doch erkennen, wo die Grenzen des Angemessenen verlaufen. Deren Veränderlichkeit aber bewirkt offenkundig, dass es schwieriger wird, das decorum zu erfassen, gilt es doch, sich gleichsam auf schwankendem Untergrund nicht aus dem Tritt bringen zu lassen. So wie der Ausdruck also einerseits verständlich, andererseits reichhaltig und abwechslungsreich sein soll, gelten für die Inhalte der Rede ähnliche Maßstäbe: Einerseits muss der Hofmann stets im Blick halten, dass seine Aussagen sich im Rahmen des Glaubhaften bewegen, mithin wahrscheinlich klingen – ne’ suoi ragionamenti sia sempre avvertito di non uscir della verisimilitudine –, andererseits aber braucht er keine Angst davor zu haben, hier und dort, und insbesondere wenn er schreibt, seinen Scharfsinn zu demonstrieren und mit dieser acutezza recondita seinen Lesern Konzentration und Bewunderung abzuverlangen.75 Was Castiglione dem idealen Hofmann hier mit auf den Weg gibt, sind also nicht feste Regeln oder gar Versatzstücke; vielmehr umreißt er ein rhetorisches Reservoir, aus dem der cortegiano schöpfen kann, so dass er stets dem obersten *HERWK|¿VFKHU5HGHXQG.RQYHUVDWLRQJHUHFKW]XZHUGHQYHUPDJQlPOLFKdi sorte che, senza venir mai a fastidio o pur a saziare, continuamente diletti.76 Was aber erfreut und delektiert, ist abhängig von Zuhörern und Situation. Kurzum: ohne decorum kein delectare und kein Beitrag zur Persuasion, der rhetorischen wie der existenziellen. Dementsprechend nimmt es nicht wunder, dass Castiglione die Notwendigkeiten des decorum immer wieder mit immer wieder anderen Wendungen hervorstreicht: Der Hofmann muss also zum einen sein Augenmerk auf die Umstände richten – aver molto rispetto al loco, al tempo ed alle persone con le quai si parla77 – und sich von den Erfordernissen der Situation leiten lassen, d.h. secondo il tempo und secondo’l bisogno78 sprechen. Äußert er sich zu schwierigen und unklaren Themen, soll er klar und ohne Pedanterie sprechen. Aber wenn es sich anbietet, auch mit Nachdruck und affektreich.79 Die Mannigfaltigkeit der Gegebenheiten und Konstellationen der Gesprächspartner wird den Hofmann dazu bringen, seinen rhetorischen Fundus selektiv und situativ einzusetzen: conoscendo le differenzie dell’uno e dell’altro, ogni dì muti stile e modo, secondo la natura di quelli con chi a conversar si mette.80 – Damit sind alle Merkmale einer Rhetorik umschrieben, die auf das decorum ausgerichtet 75

76 77 78 79 80

Cortegiano I, xxx, 136; die acutezza¿QGHW$QHUNHQQXQJLQ/REGDVLH$XVZHLVYRQ*HLVWHVJHgenwart und ingegno ist – cf. II, lviii, 282. Cortegiano II, xli, 259. Cortegiano II, l, 272, cf. II, lxvii, 296. Cortegiano I, xxxiii, xxxiv, 144. Cortegiano I, xxxiv, 145. Cortegiano II, xviii, 219. Das gilt natürlich auch für die Anpassung an die Sitten in anderen Ländern – abbia tanto guidicio, che sappia accomodarsi ai costumi delle nazioni ove si ritrova, II, xxii, 228; identisch sind auch die Anforderungen an die Hofdame: auch sie muss sich in vielen Bereichen auskennen, um stets das passende Gesprächsthema parat zu haben, cf. III, vi, 351.

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ist: die Orientierung am consensus, an doxa und endoxa und an den situativen Kriterien der Angemessenheit.

Die Omnipräsenz des decorumLPÄ&RUWHJLDQR³ Was sich nach diesen ersten Annäherungen an Castigliones Text abzeichnet, ist also nichts weniger als die formale wie inhaltliche Durchdringung des Libro del Cortegiano mit der Problematik des decorumhEHUDOOLP7H[W¿QGHQVLFK+LQweise und Verweise auf diese Fragestellung. Castigliones Botschaft aber bleibt stets die gleiche: Alle Fähigkeiten des Hofmanns erzielen ihre Wirkung erst und einzig in einem situativen Rahmen. Erst dank seiner Beherrschung des decorum kann er sie unter Beweis stellen. Oft wählt Castiglione Wendungen wie in qual modo, a che tempo oder con che maniera, um den Bezug auf die Situation deutlich zu machen.81 Etwa dort, wo es im dritten Buch um die donna di palazzo, die Hofdame, geht: Dort heißt es, sie möge in ihrem Verhalten und in ihren Gesprächen stets darauf achten, auf den konkreten Zeitpunkt und Ort Rücksicht zu nehmen – aver rispetto ai tempi e lochi.82 Denn die größten Fähigkeiten, zur falschen Zeit angewendet, wirken unpassend, während auch bescheidenes Können, wohlgebraucht, auf großes Echo zu stoßen vermag. Worauf es also ankommt, ist, dass sich der cortegiano passend und angemessen verhält, also conveniente. So lautet das Schlüsselattribut, das Castiglione immer wieder verwendet.83 Auch an konkreten Ausführungen, in denen die Angemessenheit zum zentralen Kriterium für das Verhalten des Hofmanns gemacht wird, mangelt es nicht. So muss der Zeitvertreib des Hofmannes vor allem eines sein – nämlich conveniente ad uom di corte.84 Dies treffe beispielsweise auf das Jagdvergnügen zu. Castiglione begründet diese Konvenienz durch gleich zwei werthaltige Bezüge: zum einen das eher quantitative Argument, die Jagd diene vielen großen signori zum Vergnügen; zum anderen ist das Jagen – ein eher qualitativer Bezug – durch eine Tradition nobilitiert, die bis in die Antike zurückreicht – comprendesi che ancor tra gli antichi era in molta consuetudine.85 Für beide Teilargumente jedoch gilt: Die Üblichkeit legitimiert die Üblichkeit, drückt sie doch eine breite Akzeptanz und soziale Übereinkunft aus.86 Gemeinsamer Nenner all dieser Beispiele: Der Cortegiano agiert in einem zutiefst von Bezügen und Beziehungen, von Relationen und damit von Relati81 82 83

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Cortegiano I, xlviii, 176, cf. II, vi, 200; es geht um die circonstanzie, cf. II, ix, 207. Cortegiano III iii, 345. Bereits an frühester Stelle eingeführt bereits in der Widmung: Ded., I, 72, cf. I, i, 81, dort heißt es conveniente a gentilomo che viva in corte. Cortegiano I, Ixxii, 121. Loc.cit. Cortegiano I, xlviii, 176.

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vität geprägten Kontext. Der Kontext bestimmt, welche Reaktion sein Handeln auslöst. So kann es denn nicht verwundern, wenn Castiglione schließlich in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringt, dass es letztlich die Modalitäten des Handelns sind, die über die Qualität des Handelns entscheiden. Kontext und QuaOLWlW:DKUQHKPXQJXQG9RUWUHIÀLFKNHLWGHV+RIPDQQVVLQGHLQV0LWDQGHUHQ Worten: herausgelöst aus dem jeweiligen Kontext lässt sich von den Qualitäten des Hofmanns kaum sprechen: volendo voi separare il modo e’l tempo e la maniera dalle bone condizioni e ben operare del cortegiano, volete separar quello che separar non si po, perché queste cose son quelle che fanno le condizioni bone e l’operar bono.87 Kurzum: Das Wissen um das decorum und dessen Beachtung machen den guten Hofmann aus – und nichts anderes. Was wir also vor uns sehen, ist nichts anderes als die Ausweitung genuin rhetorischer Maßstäbe auf die ganze Lebensführung des Hofmanns – eben ein Modell vitaler Persuasion. Wie schon bei Cicero, so geht es auch hier um ein decorum vitae, in dem die Rede nur noch als Teildisziplin unter anderen erscheint. Inzwischen ist offenbar, dass das Buch vom Hofmann schon allein deswegen NHLQ Ä+DQGEXFK³ VHLQ NDQQ ZHLO VLFK DOO GDV ZDV HLQHQ SHUIHNWHQ +RIPDQQ ausmacht, stets nur situativ erweisen kann. Hinzu kommt noch: Nicht allein die 6LWXDWLRQHQVLQGVWHWVDQGHUHDXFKGLH+RÀHXWHXQWHUVFKHLGHQVLFKYRQHLQDQGHU so dass es grundfalsch wäre, ein Ideal zu formulieren mit dem Anspruch, es gelte für alle gleichermaßen. Denn ad ognun non si convien ogni cosa – nicht jedem ist eine Sache angemessen. Man denke nur an die verschiedenen Eigenheiten, die mit dem jeweiligen Lebensalter eines Redners einhergehen – sie gelten in ganz ähnlicher Weise, lässt Castiglione den Federico Fregoso unterstreichen, für den Hofmann: Ogni età, come sapete, porta seco i suoi pensieri ed ha qualche peculiar virtù e qualche peculiar vicio.88 Ein Gedanke, der uns seit Aristoteles’ Rhetorik wohl vertraut ist. Wie nun die Angemessenheit, jenes Maß, das an alles Reden und Handeln des Hofmannes angelegt wird, auf den Nenner bringen? Hier nun ergeht es dem Leser des Castiglione wie dem etwa des De oratore. – Als nämlich Castiglione einen seiner Protagonisten ansetzen lässt, explizite regole universali der Angemessenheit zu formulieren, steht außer ein paar Belanglosigkeiten nicht viel zu erwarten.89 Was Castiglione den Federico Fregoso vorbringen lässt, ist kaum mehr als die zu erwartende Aufforderung, nicht gekünstelt zu agieren und ansonsten eben die Umstände des eigenen Handelns im Auge zu haben – den Ort, die Zeit, die Personen, seine Ziele und Mittel. Um angemessen zu handeln, soll man, so ließe sich das zusammenfassen, eben die Angemessenheit beachten. Eine petitio principii, so offensichtlich, dass sie nicht unbemerkt bleiben kann, und die, darin wird Castigliones meisterliche Beherrschung nicht nur des Sujets, sondern auch dessen angemessener rhetorischen Präsentation deutlich, 87 88 89

Cortegiano I, lv, 188. Cortegiano II, xv, 217; cf. 218ff. Cortegiano, II, vii, 204.

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dann auch sogleich von einer anderen seiner Figuren aufs Korn genommen wird: Queste vostre regule, a me par che poco insegnino.90 Die systematischtheoretische Notlage, die darin liegt, dass das decorum sich eben nicht in Form von allgemeinen Regeln erfassen lässt, wird nun von Castiglione mit einem ironischen Augenzwinkern in Wohlgefallen aufgelöst. Denn derjenige, der die vermeintlich universellen Regeln vorgebracht hat, Federico Fregoso, lacht nur angesichts des Einwurfs, diese Regeln wären wenig aussagekräftig. Und, anstatt sich auf die Problematik weiter einzulassen, wechselt er das Thema. Die notorische Unzugänglichkeit des decorum für Regeln ist somit markiert. Eine Unzugänglichkeit, die Castiglione, um nun wirklich jeden Zweifel auszuräumen, auch seinen Protagonisten in anderen, späteren Passagen des Buches noch einmal ganz deutlich aussprechen lässt – diesmal unter Einschluss eines expliziten Hinweises auf die Mannigfaltigkeit möglicher Umstände.91 Castigliones Cortegiano stößt also spätestens an dieser Stelle an die Grenzen des Sujets, die zugleich auch Grenzen jedes präzeptistischen Versuchs sein müssen, sich dem Thema decorum zu nähern. Doch hat Castiglione diesen Vorstoß unter den hier verhandelten Autoren mit dem größten Nachdruck unternommen.

'LHÄgrazia³±HLQ3URGXNWGHVdecorum Die vorausgehenden Überlegungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Sowohl das, was der Text in seiner Selbstbezüglichkeit über sein Sujet schon DXVVDJWDOVDXFKGHU%OLFNDXIGLH%HGLQJWKHLWHQGHVK|¿VFKHQ3HUVXDVLRQVNRQtextes geben Anlass zu der Behauptung, dass nichts anderes als die Suche nach dem decorum das Gravitationszentrum und eigentliche Thema des Cortegiano ausmacht – so wie die Beherrschung des decorum Kennzeichen des vollendeten Hofmanns ist. Nur: Castiglione benennt sein Thema nicht. Nicht allein, dass er sieben Barrieren der Indirektion92 aufbaut, um nicht in das inzwischen beleuchtete methodische Dilemma des theoretischen Zugriffs auf das Situative hineinzugeraten – nein, er zieht es auch vor, nicht über das decorum selbst, sondern über ein decorum-Produkt zu schreiben – ein Resultat, dem das Streben aller +RÀHXWHJLOWGLHgrazia. Aber da kein Resultat zu erwarten steht, wo es an der 90 91

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Cortegiano, II, viii, 204. 'LTXHVWRFUHGRYHUDPHQWHFKHVLDGLI¿FLOHGDUUHJRODDOFXQDSHUOHLQ¿QLWHHYDULHFRVHFKH occorrono: Cortegiano, II, xvii, 219, 220. Nicht erst Kenneth Burke hat ja diese typische Umweghaftigkeit jeder rhetorischen ars festgestellt – auf diese Quelle bezieht sich beispielsweise Manfred Hinz, op. cit., 22 – schon Aristoteles hatte ja in der Rhetorik auf das Misstrauen der Hörer dem Redner gegenüber hingewiesen, der seine oratorische Ausbildung spürbar werden lässt: cf. 3.2.4., 1404b 18–21. Und im Namen des methodischen wie auch des kommunikativ-sozialen decorum nimmt auch Castiglione diese Haltung gegenüber seinem Leser – dem Hofmann – ein: Er muss ihn auf die Fährte leiten, ohne dies zugleich auch explizit zu machen.

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Kompetenz mangelt, es zu erzielen, sprechen Castigliones Dialogteilnehmer letztlich eben doch über das Reden und Handeln gemäß dem decorum. Was gewinnt Castiglione durch die Konzentration auf die grazia? Nur dies, dass er einen Begriff anwendet, der seinerseits besonders angemessen ist der VSH]L¿VFKHQ 6LWXDWLRQ EHL +RIH 0HWKRGLVFK JHZLQQW HU QLFKWV 8QG GDV DXV zwei Gründen nicht: Zum einen nämlich erweist sich, dass auch der Begriff der grazia alles andere als eindeutig ist. Und zum anderen gilt (was einen ganz eindeutigen Hinweis gibt auf den Zusammenhang dieses Begriffs mit dem der Angemessenheit): Auch die grazia versperrt sich dem direkten methodischen Zugriff, woraus sich – wie Castiglione schon in der Einleitung formuliert – die paradoxe Aufgabenstellung des Buches ergibt: vana cosa e insegnare quello che imparare non si po:93 sinnlos ist zu lehren, was man nicht lernen kann. Damit ist natürlich nichts anderes gemeint als eben die grazia. Über sie lässt Castiglione seine Figur des Conte Ludovico sagen, es sei doch schon beinahe sprichwörtlich, dass man die grazia nicht erlernen könne – sia quasi in proverbio che la grazia non s’impari.94 Ganz unweigerlich muss man hier an Ciceros caput artisPassage denken; denn nichts anderes als die Unzugänglichkeit des decorum für Lehre und (schulförmiges) Lernen wird hier zum Ausdruck gebracht. Spätestens jetzt hat Castiglione seinem ambitionierten Leser vor Augen geführt, dass er auch hier eines nicht zu erwarten hat – ein Handbuch, eine ars der Hofmannskunst nämlich; womit er sich sehr wohl in die antike Tradition von Aristoteles und Cicero eingereiht hat, auch wenn er ohne das Gegenbild des Sophisten oder Redelehrers auskommt, auf das sich seine beiden Vorläufer so gern und oft bezogen haben. Gleichwohl gibt auch Castiglione, wie er in der Vorrede deutlich macht, die Hoffnung nicht auf, seinen Lesern eine Handreichung geben zu können; und wählt, um seine Hoffnung zu unterstreichen, wiederum ein Bild, das uns aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles bekannt ist – nämlich das des Bogenschützen.95 Denn so wie Aristoteles sicher ist, dass gutes Handeln leichter fällt, wenn dem Handelnden das Ziel wie einem Bogenschützen vor $XJHQVWHKWVRPXWPD‰WDXFK&DVWLJOLRQHGDVVHVGHQ+RÀHXWHQQXQOHLFKWHU fallen wird, sich mit ihrem Handeln dem Ziel der idealen cortegiania zu nähern, da er ihnen dieses Ideal vor Augen gestellt hat. Interessant zu bemerken ist hier, dass Castiglione zwar das Bild des Bogenschützen aus der Tradition entlehnt, es zugleich aber nuanciert. Und zwar mit Anmerkungen, die dem Ideal der Perfektion wie auch dem Impetus der Perfektibilität des Hofmannes zuwider zu laufen scheinen. Zum einen nämlich relativiert er dieses Ideal der perfezion mit dem lapidaren Zusatz qual che ella si sia, zum anderen rückt er an die Stelle der tatsächlichen Einlösbarkeit des Ideals ein relatives Bessersein: Wenn von vielen Bogenschützen nicht einer ins Schwarze trifft, so wird derjenige als der beste

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Cortegiano, Ded., iii, 78. Cortegiano, I, xxv, 125f. Cf. Aristoteles, EN I 1, 1094a 22–24.

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gelten, dessen Pfeil dem Ziel am nächsten kommt.96 Kurzum – Castiglione weiß VHLQHQSlGDJRJLVFKHQ(KUJHL]]XGRVLHUHQZHLOHUVLFKGHUVSH]L¿VFKHQ1DWXU seines Sujets nur allzu bewusst ist. Doch zurück zur grazia, dem Zentralbegriff von Castigliones decorum-Konzeption und zu seiner aufschlussreichen Doppeldeutigkeit. Auf dieser Doppeldeutigkeit nämlich beruht die besondere Angemessenheit des Begriffs für den K|¿VFKHQ.RQWH[W.HLQHVZHJVNDQQPDQ0DQIUHG+LQ]XQGVHLQHPEHJULIIVKLVWRULVFKHQ 3RVWXODW ]XVWLPPHQ Ä'LH Ãgrazia‘ war bei Castiglione ein AttriEXWGHU+RÀHXWHVHOEHUXQGEHGHXWHWHVRYLHOZLH$QPXWGDQDFKDEHUEH¿QGHW VLHVLFKQXUQRFKLP%HVLW]GHV+HUUVFKHUVXQGEHGHXWHWVRYLHOZLH+XOG³± Nein, eine historische oder literaturgeschichtliche Abfolge dieser Art lässt sich jedenfalls mit Blick auf Castiglione nicht bestätigen, denn schon bei ihm bedeutet grazia beides: sowohl jene Eigenschaft (oder besser: jenes Bündel von Eigenschaften), die einen Hofmann sogleich höchst angenehm und einnehmend macht (al primo aspetto sempre >…@a ciascun gratissimo) als auch die Reaktion des Fürsten darauf: la grazia da quei signori a quali serve97 ist ja doch nichts anderes als das umfassende Wohlwollen – quell’universal favore98 –, das der )UVW MHQHQ +RÀHXWHQ HQWJHJHQEULQJW GLH VLFK EHVRQGHUV KHUYRUJHWDQ KDEHQ Die grazia ist also einerseits ein Verhaltensmerkmal, eine Eigenschaft, aber andererseits und zugleich auch Folge und Erfolg dieser Eigenschaft – eine begriffliche Einheit, die Castiglione auf die schwer zu übersetzende, nur scheinbar tautologische Formel bringt chi ha grazia quello è grato99 – vielleicht am ehesten noch wiederzugeben als ‚derjenige, dessen Handeln gefällig ist, gefällt‘. Aktion und Reaktion, Subjektives und Intersubjektives verschmelzen im Begriff der grazia zu einer Einheit. Man könnte auch sagen: Wir haben es hier – wie schon bei Ciceros decorum vitae – erneut mit einem Begriff zu tun, der immer schon den Verweis auf den Kontext und auf den Prozess der Persuasion enthält, in dem er angesiedelt ist. Zugleich aber ist grazia gewiss ein facettenreicher, ja oszillierender Begriff. Und das nicht nur aufgrund seines zweifachen Bedeutungskerns. Castigliones Gebrauch des Wortes fügt noch weitere Unsicherheiten hinzu. Spricht Castiglione nämlich dort, wo er überhaupt erst die grazia einführt, im 14. Kapitel des ersten Buches, zunächst noch davon, dass manche das Glück haben, accompagnati da tante grazieDXIGLH:HOW]XNRPPHQ±]XOHVHQDOVÄDXVJHVWDWWHWPLWYLHOHQ JXWHQ(LJHQVFKDIWHQ³±VRYHUVFKLHEWVLFKGLH%HGHXWXQJVFKRQZHQLJH=HLOHQ später derart, dass mit una certa grazia nun ein regulatives Prinzip im Verhalten des herausragenden Hofmannes bezeichnet zu sein scheint, un ornamento che 96

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Cf. Cortegiano, Ded., iii: colui che più se le avvicinerà sarà il più perfetto, come di molti arcieri che tirano ad un bersaglio, quando niuno è che dia nella brocca, quello che più se le accosta senza dubbio è miglior degli altri. Cortegiano II, vii, 202. Cortegiano, I, xxi, 121. Cortegiano I, xxiv, 124.

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componga e compagni tutte le operazioni sue.100 Grazia, so zeigt sich, ist beinahe schon eine Zauberformel für den Erfolg bei Hofe, handlungsleitende Regel und Handlungsdividende gelingender Praxis gleichermaßen. Genau betrachtet sind es also drei aufeinander folgende Phasen, die Castiglione zu einem Begriff amalgamiert: grazia als regulatives Prinzip angemessenen Handelns, als sich daraus ableitendes Charakteristikum der konkreten Handlung, also manifeste Instanz des Prinzips, und schließlich als Reaktion des Fürsten, der sein Wohlwollen gewährt.

Der Hofmann als Meinungsbildner Auch wenn der Fürst als derjenige, der allein favori ed onori101 verteilen kann, selbstverständlich der letztintendierte Adressat aller Hofmannskunst ist, so dient doch der ganze Hof als Resonanzboden und Transmissionsriemen für den Ruf des Hofmanns. Deshalb richtet sich der appellative und persuasive Impetus der grazia zugleich an alle cavalieri e donne,102 also die gesamte Hofgesellschaft. Saccone unterscheidet insofern völlig zurecht zwei Dimensionen, zwei Stoßrichtungen der grazia:103 Während die vertikale Dimension in der Tat auf die Huld des Fürsten abzielt, kann diese vertikale Beziehung nicht ohne Vorarbeit auf der Ebene der peers, DOVR GHU KRUL]RQWDOHQ %H]LHKXQJ ]X GHQ DQGHUHQ +RÀHXWHQ DXIJHEDXW ZHUGHQ Grazia ist insofern nicht allein eine Funktion, ein Ausdruck des decorum, kein neutraler Begriff, sondern spitzt das Kriterium rhetorischen Gelingens zu – zu einem Kriterium des Erfolgs in einem kompetitiven Lebensraum. Grazia gewinnt ihre Bedeutung und entfaltet ihre Wirkung nur dann, wenn sie wahrgenommen XQGDXIJHIDVVWZLUGZHQQVLHLKU3XEOLNXP¿QGHW,QVRIHUQGLHgrazia vom Hofmann verkörpert wird, hat sie ihren Wert also nicht per se, sondern gewinnt ihn erst dadurch, dass die anderen sie als solche auch erkennen und anerkennen. Was GHQ+RIPDQQDXVPDFKWLVWVHLQHÄSUHRFFXSDWLRQZLWKKLVVRFLDOLPDJH³104 – eine Rücksichtnahme, die ihn mitten hinein platziert ins Gebiet der doxa – der MeinunJHQXQG$QVLFKWHQHLQHV3XEOLNXPVGLHVLFKQLFKWPHKUXQWHUGHP(LQÀXVVGHV Ä5HGQHUV³GHV+RIPDQQVLQXQVHUHP)DOOHEH¿QGHQ(LQ%HUHLFKGHUXQVYRQ Gorgias und Aristoteles, ganz besonders aber von Cicero her wohl vertraut ist. Der Meinung kommt in Castigliones Buch ein außerordentlicher Rang zu. Und eine doppelte Funktion: Sie relativiert, aber sie stiftet auch Relationen, verbindet. Schauen wir uns diese Doppelfunktion näher an. 100 101 102 103

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Cortegiano I, xiv, 108. Cortegiano II, xix, 224ff. Cortegiano, II, xvii, 219. Cf. Eduardo Saccone: Grazia, Sprezzatura, Affettazione in the Courtier, in: Robert W. Hanning/ David Rosand (eds.): Castiglione. The Ideal and the Real in Renaissance Culture, New Haven und London, 1983, 49. Op. cit., 63.

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Keine Frage: Im Libro del Cortegiano sehen wir einen Text vor uns, der durch und durch doxastisch verfasst ist und keine festen epistemischen Bezugspunkte kennt – weder formal noch inhaltlich. Das Bewusstsein der Veränderlichkeit und ÀDFKHQ)XQGLHUXQJOHEHQVZHOWOLFKHU8UWHLOHDXFKGLH6FKZlFKHLQGLYLGXHOOHU Einsichts- und Erkenntnisfähigkeit (cognizione), veranlasst den wortführenden &RQWH/XGRYLFRGD]XGLH5XQGHGHU+RÀHXWHDXIGLH3DUWLNXODULWlWDXFKGLH Beschränktheit, seiner Ansichten in aller Offenheit hinzuweisen. Dementsprechend nimmt er natürlich auch nicht für sich in Anspruch, ein kompetenteres Urteil darüber, was den perfekten Hofmann ausmacht, fällen zu können, als seine Gesprächspartner; er stellt ihnen frei, sich an ihr eigenes Urteil zu halten, sollte es anders ausfallen als das seine.105 Dass dies leicht der Fall sein kann, liegt an der Vielfalt der Usancen, der costumi, die zwar die Maßstäbe des menschlichen Umgangs vorgeben, aber eben auch divergieren von Land zu Land, von Hof zu Hof, ähnlich wie die individuellen Urteile von Person zu Person.106 Angesichts dieser Vielfalt der Meinungen und Ansichten – per la varietà de’ giudìci – lässt es Castiglione mit seinen Protagonisten bei dem bewenden, was wahrscheinlich ist – quello che mi par più simile al vero.107 Auch das ist natürlich leicht als ein urrhetorisches Motiv zu erkennen. Die Vielfalt der Urteile und Meinungen und ihre Veränderlichkeit – und zwar nicht allein im Laufe der Zeit, nicht allein von einer Person zur anderen, sondern schon bei ein und derselben Person,108 fügt eine weitere Schwierigkeit hinzu, wenn es darum geht, sich dem Ideal des Hofmanns zu nähern. Denn nicht allein der Hofmann ist in das instabile Gefüge der doxa eingebettet, sondern auch die Diskussion über das Ideal der Hofmannskunst. Unter den Diskutanten, die Castiglione antreten lässt, herrscht – kurzum – eine durchaus skeptische Grundhaltung, die in der Bemerkung Ludovico Canossas NXOPLQLHUWGLH:DKUKHLWVHLKlX¿JYHUERUJHQ±spesso la verità sta occulta.109 8QGZHGHUGLH+RÀHXWHQRFKGHU$XWRUGHUGLH)lGHQGHV'LDORJVLQ+lQGHQ hält, streben danach, die epistemischen Grenzen der doxa zu überschreiten. 'DZRDOOJHPHLQJOWLJH0D‰VWlEHIHKOHQZR(UNHQQWQLVNULWLNDOVK|ÀLFKH Relativierung des eigenen Standpunktes, nicht aber als Ansatz genommen wird, zu überindividuell gültigen Einsichten zu kommen – verliert da nicht auch die Angemessenheit jedes Maß? Durchaus nicht – denn auch wenn es keine Wahrheitskriterien gibt, so gibt es doch die Standpunkte, die sich durchsetzen und da-

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Cortegiano, I, xiii, 105. Das stellt Castiglione bereits in der Einleitung fest – als einen Grund, der es ihm so schwer macht, ein Idealbild des Hofmannes zu zeichnen – Ded. i, 82. Cortegiano I, xiii, 105. Ché non solamente a voi po parer una cosa ed a me un’altra, ma a me stesso poria parer or una cosa ed ora un’altra. Cf. I, xiii, 105. Cortegiano I, xiii, 105; An dieser Stelle bedient sich Castiglione eines Motivs, das wir aus der Behandlung der pathe in der Rhetorik des Aristoteles kennen, nämlich dass ein Redner Laster als Tugenden ausgibt und etwa den Dummen als herzensgut, den Bescheidenen geizig oder den von sich Eingenommenen als frei bezeichnet.

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mit intersubjektive Gültigkeit erlangen.110 Auch hier ist Castiglione wieder Rhetoriker durch und durch. Und so gibt es doch ein verbindendes Band, wenn auch keines, das kognitiven Vorrang für sich beanspruchen könnte. Dieses Band, das alle umfasst, nennt Castiglione opinion universale111±JOHLFKVDPHLQHÄ|IIHQWOLFKH0HLQXQJ³GHUK|¿VFKHQ*HVHOOVFKDIW112 Die doxa trennt mithin nicht nur den Hofmann von festem epistemischen Boden unter den Füßen – sie verbindet zugleich alle bei Hof und bildet den Bezugspunkt des Hofes, ungeachtet ihres Wahrheitsgehaltes. Die opinione universale ist, so könnte man sagen, in all ihrer Relativität und Wandelbarkeit doch auch unhintergehbar und unumgänglich. Ihr kann keiner entrinnen. Tröstlich aber ist, GDVVVLHMHGHQIDOOVLQ0D‰HQEHHLQÀXVVEDULVW8QGGDV0LWWHOVLHLPHLJHQHQ 6LQQH]XIRUPHQXQG]XEHHLQÀXVVHQKHL‰W±grazia. %HLDOOHU$XVULFKWXQJDQGHUÄEOR‰HQ³0HLQXQJEHLDOOLKUHU:HFKVHOKDIWLJkeit, sollten wir nicht übersehen, dass Castiglione nicht dem bloßen Schein das Wort redet. Denn auch wenn die Macht positiver oder negativer Vormeinungen zunächst groß ist, so halte ihre Wirkung doch immer nur eine gewisse Zeit vor, bevor sich der wahre Charakter und die wahren Fähigkeiten eines Hofmannes zeigten.113 Liest man diesen Zusammenhang rückwärts, so zeigt sich, dass es die opinione universale ist, die den Hofmann zu besonderen Leistungen und tadellosem Verhalten anspornt. Zwar werden damit all die Elemente, die die Reputation114 des Hofmanns ausmachen, nicht als Wert an sich dargestellt, sondern gewinnen Wert nur dadurch und insofern sie Instanzen sozialer Wertschätzung sind; doch auch wenn die moralische Qualität des Hofmanns letztlich nur Vorbedingung der Anerkennung und damit Vorbedingung der positiven öffentlichen Meinung ist, so lautet Castigliones Empfehlung an den Hofmann eben letztlich doch, sich seine Reputation durch entsprechendes Verhalten zu erwerben. Gleichviel: Was zählt, ist die Erscheinung, der Eindruck. Und dem Ziel, einen positiven Eindruck zu hinterlassen – oder gar dem Ziel, einen Ruf auszuprägen, der dem Hofmann selber schon vorauseilt115 – diesem Ziel gelten auch die Mittel, GLHGHP+RIPDQQLGHDOHUZHLVHPLWDXIVHLQHQ:HJJHJHEHQVHLQVROOWHQÄ&DVWLJOLRQHGHSLFWVDVHOIEXLOWIURPWKHRXWVLGHLQ³116 – vergleichbar der von Cicero 110

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Diese Gültigkeit geht sogar so weit, dass die fremde Meinung uns selbst glaubwürdiger erscheint als unsere eigene: voi stesso e noi altri tutti molte volte, ed ora ancor, credemo più alla altrui opinione che alla nostra propria – II, xxxv, 250. Cortegiano I, xvi, 110. Castiglione geht sogar so weit, das Schicksal seines eigenen Buches der commune opinione anzuvertrauen, wie Carlo Ossola hervorhebt, cf. Dal ‚Cortegiano‘ all’ ‚Uomo di mondo‘, 62. Cortegiano I, xvi, 111. Bisweilen stehen der Wahrheit jedoch Hindernisse im Weg – auch das macht Castiglione an dieser Stelle sehr deutlich. Castiglione selbst verwendet auch diesen Begriff – cf. II, xxix, 240. Cortegiano II, xxxii, 246. Richard A. Lanham, The Motives of Eloquence  lKQOLFK DUJXPHQWLHUW %jUEHUL 6TXDURWWL Ä/¶DSSDULUHKDXQDIXQ]LRQHIRQGDPHQWDOHSRLFKpVHQ]DO¶HVVHUHUHVWHUHEEHQRQFRQRVFLXWR QRQDWWXDWRLQTXHOPRQGRGLUDSSRUWLFKHqODFRUWH³±FI L’onore in Corte, 42.

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vorgetragenen Konzeption der Persönlichkeit, die sich aus den vier Elementen der persona zusammensetzt, auch wenn Castiglione noch stärker in sozialen und doxastischen Kategorien denkt als Cicero, der den Menschen ja zunächst einmal als animal rationale in den Blick genommen hatte. Als ausgesprochen illustrativ für die konstitutive Rolle der opinione erweist sich die Diskussion der Frage, ob der ideale Hofmann adeliger Herkunft sein PVVH(LQLJNHLWKHUUVFKWLQGHU5XQGHGHU+RÀHXWHGDUEHUGDVVDGHOLJH+HUkunft allein gewiss keine Garantie für einen tugendhaften Charakter ist. Warum dann also doch lieber die noble Herkunft? – Zunächst hebt Ludovico da CaQRVVDDXIGLHYHUSÀLFKWHQGH1DWXUDGOLJHU$EVWDPPXQJDE6LHVHLZHQLJHUHLQ ZQVFKHQVZHUWHV3ULYLOHJDOVYLHOPHKU9HUSÀLFKWXQJXQG$QVSRUQEHVRQGHUH Leistungen zu vollbringen; Adel sei wie eine helle Lampe, deren Licht gute wie schlechte Werke klar hervortreten lasse; dementsprechend sei es für einen Adeligen besonders beschämend, nicht einmal so tugendhaft zu erscheinen wie seine Vorfahren.117 Schon hier liegt in Bezug auf das Sichtbarmachen des Charakters, das mit der besonderen Aufmerksamkeit, die dem Adeligen zuteilwird, einhergeht, und dem damit zugleich verbundenen timor d’infamia, der Akzent deutlich auf der öffentlichen Wirkung moralischen oder unmoralischen Handelns – nicht auf der Qualität des Handelns selbst. Noch deutlicher wird diese Akzentuierung, wenn Ludovico da Canossa das positive Vorurteil herausstreicht, das sùbito accompagna la nobilità.118 Noble Herkunft, so argumentiert er, gebe dem Hofmann gleichsam einen Reputationskredit mit auf den Weg – und dies ist dann natürlich auch der Grund, warum der ideale Hofmann ein Adeliger sein muss. Der Gesichtspunkt verschiebt sich hier unverkennbar von der moralischen Qualität des Adels zugunsten des persuasiven Nutzens, der mit dem Standesmerkmal einherJHKWÄ'HUvirtù-Anspruch der nobilità³VRKlOW%ULJLWWH%ULQNPDQQGHQQDXFK ]XUHFKWIHVWÄJHUlWPLWGLHVHP$UJXPHQWDXVGHP%OLFN³119 Stattdessen geht es nun um die Projektion einer positiven fama. Worauf es dem Hofmann letztlich ankommen muss, ist klar: Nämlich auf die wirksame Überführung seines Handelns in die ungleich wertvollere, da universell gültige Währung der Anerkennung seines Handelns und die daraufhin – dank der opinione universale – einsetzende Rückprojektion auf den Handelnden. Nichts anderes nämlich ist das von Saccone zitierte social image. Die paradoxe Einsicht an dieser Stelle lautet: Erst wenn der Hofmann sich als symbolische Existenz begreift und formt, wird er in der Realität erfolgreich sein. Nichts anderes als diese angestrebte Übersetzung von Handeln in Reputation verbirgt sich hinter im Cortegiano so prominenten Begriffen wie laude,120 gloria oder onore. So gilt Ehre – onore – als wahre Belohnung für alle Anstrengungen 117 118 119 120

Cortegiano I, xiv, 106. Cortegiano I, xvi, 110. Brinkmann, op. cit., 61. Denn das ist es, was der Hofmann von seinen peers erwerben kann – da essi>VFprincipi@grazia e dagli altri laude – Cortegiano I, i, 82 cf. auch I, xvii, 112.

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– il vero premio delle virtuose fatiche.121 Und auch im Krieg geht es weniger um die heldenhafte Tat selber, als vielmehr um den Ruhm, der dafür zu erwarten steht: Sapete che delle cose grandi ed arrischiate nella guerra il vero stimulo è la gloria.122 Diese gloria zu manifestieren und weiterzutragen – hier stellt sich Castiglione erneut in die Tradition Ciceros – macht auch die Bedeutung der lettere aus: Die Literatur verbreitet und perpetuiert den Ruhm des einzelnen. So erklärt sich wohl auch, dass der perfekte Hofmann beides sein soll – ein om di guerra wie auch ein letterato – beides kombiniert sei convenientissimo.123 Ein reines Soldatendasein ohne literarische Bildung erschiene roh und unkultiviert; ein reines Gelehrtenleben aber, auch hier mag man das Echo aus Ciceros De oratore vernehmen, zu introvertiert und nicht der Bewunderung des Hofstaates würdig. Die Ausrichtung des Hofmanns auf die opinione universale unterstreicht, dass es vor allem auf die Sicht der anderen auf den Hofmann ankommt. Qualitäten des Hofmanns sind wahrgenommene Qualitäten124 – und nur als solche zählen sie. Losgelöst von der Sicht des Hofstaates, losgelöst von dem Eindruck, den der Hofmann von sich hinterlässt, büßen seine Eigenschaften und Fähigkeiten ihre Relevanz ein. Für den Hofmann bedeutet dies: Die Trennung zwischen Innen- und Außenwelt wird irrelevant. Die Existenz des cortegiano ist eine zutiefst immanente, HLQH XQDXÀ|VOLFK NRQWH[WXHOOH XQG GDPLW HLQH PLW GHP decorum untrennbar verwobene Existenz. So wie schon das Spiel der abendlichen Runde kein Hinaustreten aus dem professionellen Habitus der Spieler erlaubte, so erlaubt auch die Verwiesenheit auf die opinione universale keine Unterscheidung zwischen Charakter und Image, Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Können und Wirkung des Hofmannes. Dementsprechend gilt: le cose estrinsiche spesso fan testimonio delle intrinsiche.125 Und: tutto questo di fuori dà notizia spesso di quel dentro.126 Cortegiano I, xviii, 115. Diese Aussage wird später sogar noch einmal zugespitzt: laude nämlich sola è vero premio delle virtuose fatiche, cf. II, viii, 205. 122 Cortegiano, I, xliii, 165; auch dieser Standpunkt wird noch einmal wiederholt und verstärkt – cf. II, viii, 205: la causa che lo conduce alla guerra, che dee esser solamente l’onore. Für den Hofmann gelten also politische Erwägungen oder idealistische Motive kaum etwas. Worauf es ihm ankommt, ist die Mehrung seines persönlichen Rufes und die Festigung der opinione universale über ihn. 123 Cortegiano I, xlvi, 170. 124  &DVWLJOLRQHGUFNWGLHVH:LUNXQJVRULHQWLHUXQJGXUFKGHQKlX¿JHQXQGH[SRQLHUWHQ*HEUDXFK des Wortes impressione aus. Ungeachtet der tatsächlichen Qualitäten eines Hofmanns, die sich erst im Laufe der Zeit herauskristallisieren – der erste Eindruck bestimmt über die Aufnahme bei Hofe (cf. Cortegiano I, xvi, 111f.: di quanta importanzia siano queste impressioni, ognun po facilmente comprendere >«@Vedete adunque di quanta importanzia sia questa prima impressione). Dementsprechend eindringlich fällt Castigliones Mahnung an den Hofmann aus, nur ja dafür Sorge zu tragen, ein positives Bild von sich zu vermitteln: Deve adunque il cortegiano por molta cura nei princìpi di dar bona impression di sé e considerar come dannosa e mortal cosa sia lo incorrer nel contrario – cf. Cortegiano II, xxxvi, 251, cf. I, xvi, 112. 125 Cortegiano II, xxvii, 236. 126 Cortegiano II, xxviii, 239. 121

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Vor dem Hintergrund dieses Befundes kann man Lanhams Diagnose nur zustimPHQÄ(DFKLQGLYLGXDOPXVWOHDUQLQDGGLWLRQWRDV\PEROLFYRFDEXODU\RIZRUG DQGJHVWXUHKRZWRUHDGKLVRZQJHVWXUHVDVRWKHUVUHDGWKHP³127 Kurzum: In der Immanenz des Hofes gibt es keine Äußerlichkeiten, sondern nur Anzeichen, die es zu lesen gilt. Und es ist alles andere als irrelevant, von wem sie gelesen werden. Deshalb muss der Hofmann großes Augenmerk auf die Auswahl seines Publikums legen.

'LH+RÀHXWHDOV3XEOLNXP Handeln und Beurteiltwerden fällt für den Hofmann in eines. Schon Cicero hatte die Tatsache, dass im Reden wie im Leben überhaupt stets ein Urteil über den Redner gefällt wird, zu den Grundkonstanten seiner conditio gezählt. – Für den Einsatz, die fatiche, die ihm das Streben nach Anerkennung abverlangt, wünscht sich der Hofmann Anerkennung von denen, die ihn umgeben und beobachten; entsprechend wird er versuchen sicherzustellen, dass seine Taten wahrgenommen werden128 – und zwar nicht von zufälligen Zeugen, sondern von denen, auf deren Urteil es dem Hofmann ankommt; von denen also, von denen er sich den größten und nützlichsten Reputationsgewinn versprechen kann. Für den cortegiano gibt es gewissermaßen eine Rangliste unterschiedlich wertvoller Zielgruppen, angeführt natürlich von seinem Fürsten oder König selbst. Castiglione rät dem Hofmann dementsprechend dazu, sein Publikum sehr bewusst zu wählen. Im Schlachtengetümmel etwa soll er sich hervortun nicht nur durch herausragende Taten, sondern auch ganz simpel dadurch, dass er nicht im Chaos des Schlachtfelds verschwindet, sondern sich durch sein Handeln auszeichnet vor den Augen der Edelsten und des Königs selbst: al conspetto de tutti i più nobili ed estimati omini che siano nell’esercito, e massimamente alla presenzia e >…@ agli occhi proprii del suo re o di quel signore a cui serve.129 Auch möge der Hofmann darauf achten, nie als letzter vor das Publikum zu treten, damit sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer, und vor allem der Frauen, nicht schon erschöpft habe, bevor er die Augen auf sich lenken kann. HervorzuKHEHQLVWGDVVVLFK&DVWLJOLRQHQLFKWDOOHLQDXIGDVK|¿VFKH0LOLHXEHVFKUlQNW sondern sich für seinen idealen Hofmann die Anerkennung auch bei den Bürgern, ja sogar bei der Menge wünscht – auch dort soll er geschätzt sein, massimamente nella moltitudine, con la quale bisogna pur che l’om si accommodi.130 Castiglione lässt seine Diskutanten lebhaft debattieren, bis zu welchem Punkt sich der Hofmann auch vor Bürgern auf sportlichen Wettbewerb einlassen soll; 127 128

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Lanham, The Motives of Eloquence, 152. Che sappia tirar con destrezza e proposito le persone a vedere ed udir quello, in che a lui pard’essere eccellente, Cortegiano II, xxxviii, 255. Cortegiano II, viii, 205. Cortegiano I, xxii, 122.

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denn während die Volksnähe einerseits großherzig und sympathisch wirkt – par che quella domestichezza abbia in sé una certa liberalità amabile – steht ihr ein beträchtliches Risiko gegenüber, wäre es doch unwürdig – fuor della dignità –, einen adeligen Hofmann gegen einen Bürgerlichen im sportlichen Wettbewerb unterliegen zu sehen. Gegen ihn zu gewinnen hingegen wäre von geringem Wert.131 – Derlei Reputationsarithmetik gilt es zu treiben, will der Hofmann EinÀXVVGDUDXIQHKPHQZLHHUZDKUJHQRPPHQZLUGXQGZHOFKHopinione universale sich über ihn herausbildet. Denn von dem Geschick, das er an den Tag legt, wenn es darum geht, sein Publikum zu wählen oder die Wahrnehmungsgewohnheiten mit in Rechnung zu stellen – etwa, was die Reihenfolge des Auftretens bei Turnieren angeht – , wird auch seine grazia abhängen. Dass die Orientierung auf das Publikum als unbedingtes Kernkriterium für die Wahrung der Angemessenheit gelten muss, hat die Untersuchung aller hier verhandelten Autoren ergeben. Die fein ziselierten Betrachtungen Castigliones über die verschiedenen Zuhörer- und Betrachtergruppen, denen der Hofmann sich gegenübersieht, ist von daher nur noch einmal ein Beleg für die zentrale Rolle des decorum bei Hofe.

Voraussetzungen zum Erwerb und Ausüben von grazia Die Schwierigkeit, ja das Dilemma ist offenbar: Einerseits ist grazia der Schlüssel – der einzige Schlüssel – zum Erfolg bei Hofe; das einzige Mittel auch, die Wahrnehmung des eigenen Handelns und Redens, mithin den eigenen Ruf, die opinione universaleLQHLJHQHU6DFKH]XEHHLQÀXVVHQ$QGHUHUVHLWVDEHUJLOW(V gibt keine Lehre der grazia, denn es gibt keine Regeln.132 Zudem gibt es auch niemanden, der sich zum Lehrer berufen fühlte.133 Und dass Castiglione grundsätzliche Zweifel daran hat, die grazia ließe sich überhaupt erlernen, haben wir ja bereits gesehen. Aus gutem Grund: Schließlich muss derjenige, der das decorum zu wahren sucht, mehr tun, als bloß offenkundig unpassende Verhaltensweisen zu vermeiden – etwa die, auf der Straße zu tanzen oder im Gespräch mit einer Mutter, deren Sohn gestorben ist, Scherze zu machen. Wie Federico Fregoso im Streitgespräch mit dem Unico Aretino unterstreicht, muss man, um sich angemessen zu verhalten, subtilere Abstufungen beherrschen. Geht es doch bei der Frage danach, wie der Hofmann seine Fähigkeiten und Kenntnisse richtig einsetzt und anbringt (in qual modo e maniera e tempo debba il cortegiano usar le 131 132

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Cortegiano II, x, 208. Dies zu versuchen, so lässt Castiglione den Unico Aretino sagen, sei zu schwierig und mögOLFKHUZHLVH EHUÀVVLJ WURSSR GLI¿FLOH H IRUVH VXSHUÀXR; II, vi, 201; ähnlich auch II, xiii, 214. Der Conte jedenfalls sieht das so: Obbligato non son io, – disse il Conte, – ad insegnarvi a diventar aggraziati, né altro, ma solamente a dimostrarvi qual abbia ad essere un perfetto cortegiano. Né io già pigliarei impresa di insegnarvi questa perfezione – Cortegiano I, xxv, 125.

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sue bone condicioni ed operare queste cose che già s’è detto convenirsegli?134), vor allem um Fragen des Mehr oder Weniger. Und doch: So lautstark diese Zweifel auch immer und immer wieder geäußert werden – Castiglione kommt nicht zu dem Schluss, dass die grazia nun einmal allein denen offen stehe, die sie ohnehin und ohne eigenes Zutun als don della natura e de’cieli,135 als Geschenk des Himmels, mit auf den Weg bekommen haben. Eine Aussage, die jede $XIVWLHJVSHUVSHNWLYH IU +RÀHXWH GLH VLFK GLHVVHLWV GHU 3HUIHNWLRQ EHZHJHQ zunichte machen würde! Nein, Castiglione wird durchaus einen Weg aufzeigen, sich grazia anzueignen, auch wenn es ein langer, mit Mühe und Anstrengung YHUEXQGHQHU:HJLVW(LQ:HJGHUEHUGLHVQXUVROFKHQ+RÀHXWHQRIIHQVWHKW die, wenn auch nicht von der Natur mit allen Begabungen bedacht, zumindest QLFKWLQGLH.DWHJRULHGHU±VDORSSIRUPXOLHUW±ÄKRIIQXQJVORVHQ)lOOH³JHK|UHQ der wahre Adressat des Libro del Cortegiano ist also ein zumindest mit Blick auf seine natürlichen Talente und Gaben mittelmäßiger Hofmann – der jedoch bestrebt ist, mangelnde Naturausstattung durch Anstrengung wettzumachen: dico che tra questa eccelente grazia e quella insensata sciocchezza si trova ancora il mezzo; e posson quei che non son da natura così perfettamente dotati, con studio e fatica limare e correggere in gran parte i diffetti naturali.136 Hier fühlt man sich wieder an Cicero erinnert, der ja Fleiß und Mühe als wichtigste Eigenschaften eines jeden Orators bezeichnet hatte. Denn auch Castiglione lässt seine Protagonisten ein ums andere Mal betonen, wie viel Mühen der Hofmann aufwenden muss, um seinem Ziel näher zu kommen. Dies gehe eben nur con studio e fatica,137 lässt er den Cesare Gonzaga unterstreichen. Und der gleiche Gedanke wird kurz darauf noch einmal wiederholt – Castiglione insistiert hier geradezu: Diejenigen, die nicht von Natur aus mit allem ausgestattet sind, was die grazia ausmacht und befördert, könnten doch – sofern sie gewisse Grundlagen mitbrächten – grazia erwerben, sofern sie die damit verbundenen Mühen auf sich nehmen – son atti a poter esser aggraziati aggiungendovi fatica, industria e studi.138 :LH ODVVHQ VLFK QXQ GLH 9RUDXVVHW]XQJHQ LGHQWL¿]LHUHQ GLH GHQ +RIPDQQ auf jenem mittleren Terrain verorten zwischen denen, die es nicht nötig haben, sich um grazia zu bemühen, und jenen, bei denen alle Mühe keinen Sinn hätte? – Schauen wir uns an, welche Merkmale Castiglione für den idealen, den perfekten Hofmann veranschlagt – und substrahieren wir jene Elemente, die ganz offenkundig nur als don della natura e de’cieli zu haben sind. Castiglione zählt an zwei Stellen auf, welche Elemente den perfekten Hofmann ausmachen: Es sind dies zum einen:139 ingegno, bellezza di volto, disposizion di persona e quella grazia, che al primo aspetto sempre lo faccia a ciascun gratissimo. Zum 134 135 136 137 138 139

Cortegiano II, vi, 200. Cortegiano I, xxiv, 124. Cortegiano I, xiv, 108. Cortegiano I, xxiv, 124. Cortegiano I, xxiv, 125. Cortegiano I, xv, 110.

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anderen140 stellt er den perfekten Hofmann vor als ingenioso, discreto, essere aggraziato in ogni cosa che faccia o dica. Die grazia selbst ist hier natürlich der erste Aspekt, der abzuziehen ist; um sie geht es schließlich ja erst. Zweitens drängt sich das angenehme Äußere, das schöne Gesicht ebenso wie die physische Veranlagung auf als etwas, das sich kaum verändern lässt. Im Übrigen ist es interessant zu sehen, dass Castiglione sich für den idealen Hofmann nicht einmal eine besonders imposante Erscheinung wünscht, da jede extreme Äußerlichkeit Verwunderung hervorrufen kann.141 Stattdessen sollte der ideale Hofmann lieber ein bisschen kleiner sein. Castigliones Fokus richtet sich hier nicht so sehr auf die Physis selbst als vielmehr auf die Eigenschaften, die sich aus der Physis ergeben und von ihr unterstützt werden – nämlich um Gewandtheit, agilità, und um Leichtigkeit und Gelöstheit, leggerezza e discioltura.142 Die physische Konstitution hat also keinen Wert an sich; vielmehr soll sie die gewünschte Gewandtheit des Wesens unterstützen und sinnfällig machen. Zwei Begriffe aus der oben genannten Reihung aber stechen ins Auge, die zu bezeichnen scheinen, was als unabdingbare Grundlage für jede Bemühung um grazia gelten muss; es sind dies bezeichnenderweise intellektuelle Gaben und Fähigkeiten, die der Hofmann mitbringen muss, nämlich ingenio und discrezione. Die gleichen Kompetenzen sind an anderer Stelle bezeichnet mit den Worten avvertenzia143 und giudicio.144 Stets also geht es um Geistesgegenwart, um Unterscheidungs- und Urteilskraft. Essentielle Fähigkeiten in Castigliones Augen; aber warum? Weil es Fähigkeiten sind, über die der Hofmann verfügen muss, will er – so wie es das decorum verlangt – die Mannigfaltigkeit der Situationen und vor allem sich selbst, seine eigene Rolle und die situativen Anforderungen an sein eigenes Reden und Handeln, richtig einschätzen. Sie versetzen den +RIPDQQLQGLH/DJHVLFKLP.RQWH[WGHUK|¿VFKHQ*HVHOOVFKDIW]XVHKHQXQG sein Verhalten im Hinblick auf Angemessenheit zu steuern. Es geht also um una certa prudenzia e giudicio di elezione, e conoscere il più e ’l meno nelle cose >...@ per operarle oportunamente o fuor di stagione.145 Urteilskraft und decorum sind mithin aufs Engste miteinander verschränkt. Synonym für giudicio ist ein anderer Ausdruck, den Castiglione benutzt: nämlich der der discrezione. Dies wird deutlich, wenn er Rolle und Nutzen der discrezione näher erläutert. Nur dann nämlich, wenn der Hofmann über diese discrezione verfügt, wird er ein gerechter Beurteiler seiner selbst, ein giusto giudice de se stesso146 sein, nur dann wird er die Erfordernisse der Situation erfassen und nur dann mit Leichtigkeit 140 141

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Cortegiano I, xxii, 123. Vegnendo adunque alla qualità della persona, dico bastar ch’ella non sia estrema in piccolezza né in grandezza; perché e l’una e l’altra di queste condicioni porta seco una certa dispettosa maraviglia e sono gli omini di tal sorte mirati quasi di quel modo che si mirano le cose monstruose – Cortegiano I, xx, 118. Cortegiano I, xx, 118, cf. xxii, 122. Cortegiano II, viii, 206. Cortegiano II, xvii, 219. Cortegiano II, vi, 202. Cortegiano II, xiii, 214.

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der Situation entsprechen – s’accommoderà bene ai tempi. Auch hier liegt die Anspielung auf die Angemessenheit klar zu Tage. Wird also der guidicio vor allem analytisch nuanciert als Fähigkeit, die Anforderungen der Situation zu erkennen und die eigene Rolle richtig einzuschätzen, so komplementiert der ingegno diese Fähigkeit der Analyse mit der Geistesgegenwart, die erforderlich ist, um entsprechend zu agieren und zu reagieren. Mit ingegno bezeichnet Castiglione – anders als Cicero mit dem ingenium – mithin nicht allein das Vorhandensein von Talent, sondern ganz generell die Fähigkeit, sich weiterzuhelfen. Also beispielsweise die Geistesgegenwart, ein Gespräch nicht versiegen zu lassen und nicht um Worte verlegen zu sein – ein saper trovar che dire.147 Die Grundlage dieser Gewandtheit in der Sache aber muss der Hofmann durch Bildung legen – er muss einigermaßen vertraut sein mit literarischen Studien und alten Sprachen wie auch über Kenntnisse in Malerei und Musik148 verfügen – nicht als Selbstzweck, sondern aus zwei ganz konkreten Motiven: zum einen, um die Damen bei Hofe versiert unterhalten zu können,149 zum anderen, um das eigene Urteilsvermögen mit Blick auf Werke der Kunst, Literatur und Musik auszubilden.150 Und natürlich führt Castiglione die vorbildliche Realisierung dieses Postulats auch gleich in situ vor – nämlich PLWWHOVGHVJHLVWUHLFKHQ6FKODJDEWDXVFKHVGHQGLH+RÀHXWHVLFKLP/DXIHGHV Dialogs liefern. Auch hier also wendet Castiglione wiederum auf den eigenen Text an, was Gegenstand des Textes selber ist.

Vom Erwerb der grazia Ohne Urteilskraft, ohne giudicio keine grazia – völlig unzweifelhaft fällt Castigliones Verdikt an dieser Stelle aus.151 Oder andersherum: Nur wer Urteilskraft hat, kann auch überzeugen – überzeugen in jenem breiten, nicht nur rhetorischen, sondern existenziellen Sinne, wie es der Hofmann tun muss. Ja, Castiglione geht sogar so weit zu sagen, dass die Urteilskraft als Grundlage angemessenen Verhaltens nicht nur notwendig, sondern sogar hinreichend ist: 147 148 149

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Cortegiano II, xvii, 220. Cortegiano II, xiii, 213. Es geht um piacevoli intertenimenti con donne, le quali per ordinario amano tali cose – Cortegiano I, xliv, 166. Denn per quella esercitazion saprà giudicar le cose altrui – Cortegiano I, xliv, 167. Was allerdings manche Autoren nicht daran hindert, die zentrale Rolle und Funktion der Urteilskraft gar nicht erst ins Auge zu fassen – so etwa Northrop Frye, der aus der Schwierigkeit, die grazia verbal in den Griff zu bekommen, schließt, dass derjenige, der nicht schon in ihrem Besitz sei, auch gar keine Chance habe zu begreifen, worum es beim diesem Konzept eigentlich gehe – ein Kurzschluss, mit dem Frye nicht weniger tut als den ganzen Sinn und Impetus des Libro del CortegianoLQ)UDJH]XVWHOOHQÄ/DgraziaqTXDVLLPSRVVLELOHGDGH¿QLUHVIXJJHDG RJQLIRUPXOD]LRQHYHUEDOH>«@HTXDQWLQRQODSRVVLHGRQRqLPSUREDELOHVDSSLDQRFKHFRVDVLD³ ±)U\HÄ,OÃ&RUWHJLDQRµLQXQDVRFLHWjVHQ]DFRUWL³Spicilegio moderno, 10 (1978), 9f.

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credo che basti in tutto questo dir che ’l cortegiano sia di bon giudicio, >…@; ed essendo così, penso che senza altri precetti debba poter usar quello che egli sa a tempo e con bona maniera.152 Der giudicioLVWGDPLWHLQGHXWLJLGHQWL¿]LHUWDOV$XVJDQJVSXQNWIUGHQ(Uwerb der grazia. Nur diese Urteilskraft versetzt den Hofmann in die Lage, die Grenzen seiner Natur und seines Charakters erst zu erkennen, dann zu überwinden. Ohne sie könnte er gar nicht ausmachen, wo er studio e fatica aufwenden muss, um der grazia näher zu kommen, wo er ansetzen muss, um in seine natürliche Disposition einzugreifen und corregger in sé i vicii naturali.153 Castiglione illustriert dies am Beispiel der Lebensalter – einem Thema, das uns auch schon seit Aristoteles begleitet. Nicht nur, dass er die Charakteristika von Jugend, mittlerem Alter und den Greisenjahren unterscheidet und dem mittleren Alter den Vorzug gibt; vielmehr rät er im Sinne des giudicio dazu, den Fehlern der Jugend und des Alters – nämlich Leichtsinn und Sprunghaftigkeit hier, Starrsinn und Kälte dort – entgegenzuwirken und so die Ausgeglichenheit des mittleren, besten Alters vorwegzunehmen bzw. zu verlängern. Zeichnet sich also ein junger Hofmann durch Überlegtheit und das rechte Maß an gravitas aus, dann hat er ein non so che di più che gli altri giovani.154 Ist der Hofmann also weder dumm noch hässlich, und verfügt er über hinreichend Urteilskraft, so bringt er mit, was es braucht, um sich grazia zu erwerben. Aber wie? Drei Etappen lassen sich mit Castiglione auf dem Weg zur grazia unterscheiden. Die erste Etappe ist eine der Selbsterkenntnis: Der Hofmann kommt nicht umhin, sich als Lernenden aufzufassen. Er begreift, dass auch wenn sich die grazia nicht lehren lässt, er doch ihr bon discipulo155 und damit Schüler derer VHLQPXVVGLHDXIGHQYHUVFKLHGHQHQ)HOGHUQK|¿VFKHQ9HUKDOWHQVPLWgrazia agieren. Kurzum: Der Hofmann muss sich Vorbilder suchen. Und bei dieser Suche muss er sich – das versteht sich inzwischen fast schon von selbst – von seiner Urteilskraft leiten lassen.156 Nur sie nämlich erlaubt es ihm, auch ohne fremde Anleitung zu erkennen, wonach er sucht und was er sich aneignen muss. An dieser Stelle tritt erneut die paradoxe Natur des Libro del Cortegiano zutage: Denn welcher Leser würde verstehen, wovon die Rede ist, brächte er die geforderte Minimalkondition, nämlich Urteilskraft, nicht schon mit? Kurzum, wer nicht weiß, wonach zu suchen ist, dem wird auch Castigliones Buch keine wirkliche Anleitung sein können. – Die zweite Etappe dann ist gekennzeichnet vom Bemühen des Hofmannes um imitatio: darum also, den Meistern und Vorbildern, die er ausgewählt hat, ähnlich zu werden. Ja, Castiglione geht sogar so weit, von einer regelrechten Transformation zu sprechen: assimigliarsi al maestro e, se possibil fosse, trans152 153 154 155 156

Cortegiano II, vi, 201. Cortegiano II, xvi, 218. Cortegiano loc. cit. Cortegiano I, xxvi, 126. Cortegiano I, xxvi, 127.

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formarsi in lui.157 Und wieder erinnern wir uns an Ciceros Ermahnung an jeden angehenden Orator, es vor allem nicht am nötigen Fleiß mangeln zu lassen, wenn Castiglione hier seinerseits vom Hofmann größte Sorgfalt – diligenzia ±HLQIRUGHUW0LWGHPREHUÀlFKOLFKHQ$EVFKDXHQXQG1DFKlIIHQYRQHLQ]HOQHQ Gesten und typischen Verhaltensweisen ist es also nicht getan – im Gegenteil. Castiglione warnt davor, denn gerade solch prägnante Äußerlichkeiten seien es doch oft, die auch bei großen Männern als unpassend, als eigenartig und eiJHQWPOLFKLQV$XJH¿HOHQ158 Stattdessen muss der Hofmann jene Aspekte auswählen und auf die Facetten sich konzentrieren, die bei jedem seiner Vorbilder besonders lobenswert, besonders laudevole, sind. Doch die imitatio hat Grenzen. Grenzen, die Castiglione gezogen sieht von den natürlichen Begabungen und Neigungen eines jeden Hofmanns. Castiglione warnt davor, den charakteristischen Stil eines Menschen zu blockieren durch das Streben, allgemein anerkannten Vorbildern und Idealen nachzueifern, die jedoch für den Einzelnen unpassend – eben ohne convenienza159 – sein können. Mithin darf keine imitatio so weit gehen, das Talent und den natürlichen Ausdruck des angehenden Hofmanns zu überformen. Imitatio kann also sowohl zur grazia hin- als auch von ihr wegführen, kann förderlich wie hinderlich sein. Nur beides zusammen, die bewusste Auswahl des Vorbilds und die nicht minder bewusste Steuerung der Intensität des Nachahmens, kann den Hofmann auch vor dem schlimmsten Fehler bewahren, den er auf der Suche nach grazia begehen kann – jenem Fehler, den Castiglione für so gravierend erachtet, dass er ihm nicht nur viele Beispiele, sondern sogar einen prägnanten eigenen Begriff widmet: dem der affettazione. Jedes gekünstelte Verhalten nämlich wird von den verständigen Betrachtern bei Hofe augenblicklich als das So-tun-als-ob decouvriert, das es ist, und gibt den Hofmann der Lächerlichkeit preis: Qual occhio è così cieco, che non vegga in questo la disgrazia della affettazione?160 Die affettazione also muss der Hofmann umschiffen wie einen äußerst gefährlichen Felsen – come un asperissimo e pericoloso scoglio.161 War bis zu diesem Punkt der Erwerb der grazia geprägt von Fleiß und Mühe – eben studio e fatica –, so wird der sich vervollkommnende Hofmann in den Disziplinen, die für ihn von Bedeutung sind, einen Grad an Sicherheit erreichen, der es ihm erlaubt, die dritte, letzte und wichtigste, ja eigentlich die allein ausschlaggebende Stufe zur grazia zu erklimmen. Er wird die Mühe, die er aufgewandt hat, die tatsächliche Arbeit an sich selbst, in eine qualitativ neue Dimension, eine symbolische Dimension nämlich, überführen können; so, wie es ihm ja immer schon darum gehen musste, sein So-Sein zu überführen in die opinione, in die Wahrnehmung durch die anderen. Für diese qualitativ neue Stufe hat Castiglione einen eigenen, neuen Begriff eingeführt. Es geht – per forse dir una 157 158 159 160 161

Cortegiano I, xxvi, 126. Auch dieser Gedanke ist gut ciceronisch – cf. Cic. De or., 2.91. Cortegiano I, xxxvii, 153. Cortegiano I, xxvi, 129. Cortegiano I, xxvi, 127.

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nova parola – um una certa sprezzatura, che nasconda l’arte e dimostri ciò che si fa e dice venir fatto senza fatica e quasi senza pensarvi.162 Dieser Satz nun ist zweifellos ein, ja vielleicht der systematisch zentrale Satz des ganzen Buches. Warum? Zunächst ganz offenkundig deshalb, weil er den Schlüsselbegriff sprezzatura enthält und in wenigen Worten ihre Funktionsweise umreißt. Das italienische Wort sprezzatura ist notorisch schwierig zu übersetzen – es lässt sich vielleicht am ehesten wiedergeben als Lässigkeit, ja als bewusste Nachlässigkeit. Sie ist damit das ganze Gegenteil dessen, was Castiglione noch auf der zweiten Etappe vom Hofmann gefordert hatte – nämlich ein Höchstmaß von Fleiß und Sorgfalt, von diligenzia. Damit ist deutlich, dass der Hofmann mit der sprezzatura wirklich ein qualitativ neues Niveau erreicht hat, ein Niveau, das sich nicht an den Haaren herbeiziehen,163 nicht direkt ansteuern lässt, sondern nur über den Umweg des Lernens und der Nachahmung, der mit Urteilskraft versehenen Bemühung erreicht werden kann. Alles andere nämlich führt geradewegs zum gekünstelten, gewollten Verhalten, zur affettazione. Lässigkeit also negiert die Mühe, mit der sie erworben wurde – alles wirkt ungewollt, ungezwungen, beiOlX¿JHEHQsenza fatica e quasi senza pensarvi. Und doch ist diese Negation eine, die von den Eingeweihten durchaus verstanden, durchaus wahrgenommen wird. Denn ein weiteres zentrales Wort des Schlüsselsatzes, über den wir sprechen, lautet dimostri – die sprezzatura zeigt etwas, sie weist auf etwas hin – wenn eben auch auf etwas, das buchstäblich durch Abwesenheit glänzt. Die sprezzatura zeigt mithin, dass etwas nicht da ist: Und damit ist das dritte, nicht minder zentrale Leitmotiv unseres Satzes angesprochen – das nämlich der Dissimulation. Nascondere l’arte – das Verbergen der (erworbenen) Kunst, das Verbergen von studio e fatica eben ist es, was die sprezzatura leistet und was vielleicht am ehesten erklärt, warum sie den Hofmann wirklich eine qualitativ neue Stufe erreichen lässt. Jene mühsam zu erklimmende Leiter, die der Hofmann auf dem Wege der imitatio Sprosse um Sprosse hat hochsteigen müssen – auf einmal kann er sie von sich stoßen, sie wird unsichtbar für seine Umwelt. Daraus ergibt sich auch, dass die sprezzatura – anders eben als ihr Gegenstück, die Affektiertheit – gerade nichts Ostentatives an sich hat. 0LW GHP9HUZHLV DXI GHQ QLFKWVGHVWRWURW] ÄGHPRQVWUDWLYHQ³ &KDUDNWHU GHU sprezzatura hebt Castiglione ihren persuasiven, adressierenden Charakter jedes von ihr geprägten Stils ganz deutlich ins Bewusstsein. Mit anderen Worten: Die sprezzatura LVWQLFKWVIU(UHPLWHQ6LHEUDXFKWGDVK|¿VFKH3XEOLNXPXPHUkannt und decodiert zu werden. Erst dann lässt sie sich in Distinktionsgewinn für den Hofmann ummünzen – und um diesen eben geht es ja. Somit erklärt sich auch die Bedeutung der sprezzatura für den Hofmann: Sie verleiht ihm die gewünschte situative Souveränität. Und dadurch wird sie, wie Castiglione den

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Cortegiano I, xxvi, 127f. Cortegiano I, xxvi, 128.

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Conte sagen lässt, il vero fonte donde deriva la grazia164 – zur wahren Quelle der grazia.

Dissimulation und Vergrößerung Merkmal all dessen, was mit sprezzaturaJHWDQZLUGLVWGDVVHVEHLOlX¿JXQG nicht gewollt erscheint – das aber bedeutet natürlich mitnichten, dass es auch EHLOlX¿JLVW(WZDVGDVSHUVXDVLYZLUNHQVROONDQQQLFKWDEVLFKWVORVVHLQ8QG genau das gilt natürlich auch für das Phänomen, um das es uns hier geht. – Castiglione bringt diese Ambivalenz der sprezzatura unzweifelhaft zur Sprache. Wünscht er sich doch ausdrücklich, der Hofmann möge das Geschick besitzen, das, was er mit sprezzatura tut, doch auch so zu tun, dass es bemerkt und wahrgenommen wird, so dass ihm die Ehre und Anerkennung zuteil werden, die er verdient: Voglio adunque che ’l nostro cortegiano, se in qualche cosa >…@ si trovarà eccellente, se ne vaglia e se ne onori di bon modo; e sia tanto discreto e di bon giudicio, che sappia tirar con destrezza e proposito le persone a vedere ed udir quello, in che a lui par d‘essere eccellente; auch das also ist wiederum, wie Castiglione deutlich hervorhebt, eine Aufgabe, die allein mit Urteilskraft und Differenzierungsvermögen zu lösen ist. Ein besonderer Schwierigkeitsgrad liegt natürlich darin, dass Ziel und Modalität der Zielerreichung in einem nachgerade paradoxen Verhältnis zueinander stehen. Demonstration darf nicht als 2VWHQWDWLRQ HUVFKHLQHQ GDV %HDEVLFKWLJWH VROO EHLOlX¿J ZLUNHQ GDV EHZXVVW Herbeigeführte dennoch wie zufällig und unpräpariert aussehen – auch wenn es das nicht ist: mostrando sempre farlo non per ostentazione, ma a caso, e pregato d‘altrui piú presto che di voluntà sua; ed in ogni cosa che egli abbia da far o dire, se possibil è, sempre venga premeditato e preparato, mostrando però il tutto esser all’improviso.165 Das besondere Wesen der sprezzatura liegt, so wie ihre Funktionsweise hier beschrieben wird, zweifelsohne darin, dass nicht – jedenfalls nicht prima facie – der Schein das Sein überwiegen soll. Ganz im Gegenteil: Das mit Mühe und Arbeit verbundene Sein wird verkleinert, ja gänzlich in Abrede gestellt zugunsten des Anscheins der Mühelosigkeit. Keine Frage: Die sprezzatura ist eine Strategie der Dissimulation.166 Eine Strategie also, die uns schon seit Aristoteles vertraut ist, wenngleich Castiglione sie – angemessen DQGHQK|¿VFKHQ.RQWH[W±PLWVSLHOHULVFKlVWKHWLVFKHQ(OHPHQWHQDQUHLFKHUW Vernehmlich klingen Gedanken aus Ciceros De oratore an, wenn Castiglione an oratori antichi eccelentissimi erinnnert, die vorgegeben hätten, keinerlei literarische Studien betrieben zu haben, so dass ihre Rede ganz natürlich und kunstlos erschienen sei.167 Nicht nur aufgrund dieser Anspielung muss man zu dem 164 165 166

167

Cortegiano I, xxviii, 132. Cortegiano II, xxxviii, 255. Das sagt Castiglione sogar recht explizit, benutzt er doch eben dieses Verb: dissimulare – cf. I, xxvi, 128. Cortegiano I, xxvi, 128.

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Schluss kommen: Mit seinem Konzept der sprezzatura stellt Castiglione eine zutiefst rhetorische Handlungsvorschrift auf. Sie ist sichtbares, wahrnehmbares Vehikel für eine Kunst, der schon Aristoteles und Cicero höchsten Rang und höchsten Überzeugungswert zusprachen – nämlich für die Kunst, die Kunst zu verbergen: für das artem celare. Castiglione spricht, was seine Vorgänger und Vorbilder nur streiften, deutlich aus: Però si po dir quella esser vera arte che non pare esser arte.168 0|JOLFKHUZHLVH GHP *HERW GHU 8QWHUKDOWVDPNHLW K|¿VFKHU .RQYHUVDWLRQ verdankt sich der Umstand, dass Castiglione den Mangel an Überzeugungskraft, ja die zerstörerische Wirkung des Gekünstelten, nicht allein am Beispiel der Rede169 – wir kennen den Topos inzwischen –, sondern am Beispiel zu stark und zu offensichtlich geschminkter Frauen erläutert. Auch hier, so lässt er den Conte erläutern, sei Einfachheit und Natürlichkeit am schönsten, und auch hier sei das Misstrauen, von Kunst und Künstlichkeit betrogen zu werden – eben die VXVSLFLR DUWL¿FL vor der schon Cicero gewarnt hat170 –, gegenwärtig: è quella sprezzata purità gratissima agli occhi ed agli animi umani, i quali sempre temono essere dall’arte ingannati.171 Denn wo die Absicht ruchbar wird, zerstört sie jede grazia – und zerstört damit auch jede Aussicht auf erfolgreiche Persuasion: mostrar l’arte ed un così intento studio levi la grazia d’ogni cosa.172 Erst wer sich der Mühe unterzieht, aber jede Mühe in Abrede stellt, wer die Tatsachen nicht zugunsten des Scheins zu vergrößern, sondern vielmehr zu verkleinern bestrebt ist, dessen Handeln wird in der Wahrnehmung der anderen dennoch größerer Wert zugeschrieben. Ja, paradoxerweise wirkt die sprezzatura als Vergrößerungsglas, das die tatsächlichen Fähigkeiten des Hofmanns beeindruckender erscheinen lässt, als sie vielleicht sind. Warum? Weil die Betrachter von der Geste auf das Können und von der Modalität des Handelns auf die Qualität des Handelnden Rückschlüsse ziehen. Weil also, mit anderen Worten, das, was mit Leichtigkeit getan zu sein scheint, den Eindruck vermittelt, dass derjenige, der so handelt, würde er sich nur richtig anstrengen, noch weitaus mehr und Größeres tun könnte: negli animi delli circunstanti imprime opinione, che chi così facilmente fa bene sappia molto più di quello che fa, e se in quello che fa ponesse studio e fatica, potesse farlo molto meglio.173 Ein Satz, der nicht nur noch einmal zwei zentrale Begriffe der sprezzatura-Diskussion, nämlich den der Meinung und den der (negierten) Anstrengung in den Zusammenhang rückt, sondern auch deutlich macht, welchen Gewinn die Dissimulation des Bemühens einbringt – nämlich den einer Kompetenzvermutung, die das social image des Hofmanns kultiviert und veredelt, auch wenn sie von der Realität gar nicht 168 169

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Cortegiano I, xxvi, 128. Cf. loc. cit.: se>l’arte@fosse stata conosciuta, arìa dato dubbio negli animi del populo di non dover esser da quella ingannati. Cic. De or., II 156. Cortegiano I, xl, 159. Cortegiano I, xxvi, 128. Cortegiano I, xxviii, 132, cf. II, x, 209.

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gedeckt ist – eine Möglichkeit, die Castiglione im Übrigen durchaus billigend in Kauf nimmt: spesso lo fa estimar molto maggior di quello che è in effetto.174 Und der cortegiano ist selbstverständlich gut beraten, selbst zu dieser Wirkung beizutragen – etwa, indem er seine Leistungen relativiert oder gar in Abrede stellt.175 Eine interessante Veranschaulichung des Mechanismus der DissimulaWLRQJLEW&DVWLJOLRQHEULJHQVGRUWZRHUVHLQHK|¿VFKH5XQGHEHUGLHUHFKWH Kostümierung bei Festen diskutieren lässt. Auch hier nämlich bietet sich die Gelegenheit, die Erwartungshaltung des Hofstaates zu durchbrechen und zugleich zu übertreffen – etwa, wenn sich ein Ritter als Hirte verkleidet oder ein Junger als Alter, dann aber bei Tanz und Spiel durch Gewandtheit und Eleganz auffällt: dann accresce molto la grazia.176 Rekapitulieren wir einen Augenblick lang: Angeleitet von seiner Urteilskraft wird der Hofmann zum Lernenden. Über die Auswahl von Vorbildern und deren mit Mühe und Anstrengung verbundene imitatio gelangt er zur selbständigen Beherrschung seines Metiers, der cortegiania als Summe aller bei Hofe nötigen und angesehenen Fertigkeiten. Damit hat er den Status erreicht, der es ihm erlaubt, seinen Werdegang aus der Wahrnehmung auszublenden – zugunsten der VSH]L¿VFKHQ0RGDOLWlWGHU0KHORVLJNHLWGHUsprezzatura. Was also von all der Sorgfalt, der Orientierung an Vorbildern und der Anverwandlung an sie übrig bleibt, ist nichts als eine reine und liebenswürdige Einfachheit, als pura ed amabile simplicità.177 Von außen betrachtet ist die Souveränität des Hofmanns ohne sichtbare Wurzeln. Sie ist ihm selbstverständlich geworden – und so wird sie DXFKYRQGHQDQGHUHQ+RÀHXWHQXQGYRP)UVWHQZDKUJHQRPPHQ178 Der Hofmann hat sein Ziel, die grazia, erreicht.

Castigliones rhetorische Anthropologie der zweiten Natur Mit der sprezzatura nun haben wir das regulative Prinzip, die Modalität erfolgreichen Redens und Verhaltens bei Hofe offengelegt – jenes ornamento che componga e compagni tutte le operazioni, das Castiglione im Auge hatte, als er darüber sprach, wie wohl die grazia zu erwerben sei.179 Wer sprezzatura an den Tag legt, der zeigt, dass er das decorum beherrscht. Und wir haben auch gese174 175

176 177 178 179

Cortegiano I, xxviii, 132. Cortegiano I, xliv, 168; hier heißt es ganz unverstellt: per le ragioni che avemo dette, fuggirà l’affettazione e le cose mediocri che farà parranno grandissime. Cortegiano II, xi, 210. Cortegiano I, xxvii, 130, cf. xl, 158. Lanham, The Motives of Eloquence, 152. Cortegiano I, xiv, 108; neben der hier zitierten gibt es wenige Zeilen darüber eine beinahe gleichklingende Stelle, die wiederum den Aspekt des geforderten Verhaltensmodus des HofPDQQVGDVÄ.RPSRVLWLRQVSULQ]LS³VHLQHV$JLHUHQVDQNOLQJHQOlVVWZHQQHVKHL‰WGLH3HUVRQ und das Handeln des Hofmanns sollten di questa grazia composti sein.

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hen, warum Castiglione darauf bestehen musste, dass man grazia nicht lernen kann – dass sia quasi in proverbio che la grazia non s’impari; denn wer eben GLHVLQ$QJULIIQHKPHQZROOWHGHU¿HOHVRJOHLFKGHP2GLXPGHUaffettazione, des Gewollten und an den Haaren Herbeigezogenen, anheim. Nur wer von Natur aus – und hier liegt unzweifelhaft die wahre Eintrittsbarriere in den Kreis derer, die das Phänomen der grazia verstehen und daran teilhaben können – über die gebotene Urteilskraft verfügt, der und nur der hat die Chance, sich die Maßstäbe der grazia zu erschließen und zu lernen, wie man ihnen gerecht werden kann. Und da es nun einmal niemanden gibt, der einem das beibringen könnte, bleibt dem Hofmann nur eines übrig: Er muss sich die grazia abschauen, er muss sie stehlen von denen, die sie zu haben scheinen: averà da rubare questa grazia da que’ che a lui parerà che la tenghino e da ciascun quella parte che piú sarà laudevole.180 Castigliones entscheidender Beitrag zum Verständnis des decorum ist vor allem darin zu sehen, dass er den Weg zur Beherrschung des decorum als einer Obliegenheit der Selbsterziehung gewiesen hat. Oder anthropologisch gefasst: Das decorum manifestiert sich als zweite Natur. Damit zeigt sich zugleich: Angemessen zu reden und zu handeln ist zuvorderst eine Steuerungsaufgabe. Es geht um ein Sich-Beherrschen, das governarsi.181 Der Hofmann hat – wie wir eingangs sagten – nicht die Aufgabe, eine politeia zu führen, ist kein Politiker. Seine Aufgabe ist es, sich selbst zu regieren und seine eigenen Angelegenheiten zum Erfolg zu führen. Insofern ist das governarsi keine Frage des =XUFNVWHOOHQV HLJHQHU ,QWHUHVVHQ LP 6LQQH GHVVHQ ZDV PDQ ODQGOlX¿J XQWHU ‚Selbstbeherrschung‘ verstehen könnte, sondern eine Frage ihrer intelligenten, persuasiven Beförderung. Es geht, um auch das noch einmal in Erinnerung zu rufen, darum, die eigenen Spielräume zu nutzen – um Individualpolitik. Das aber kann nur gelingen auf der Folie der opinione universale. Sie zu formen und zu gestalten ist ureigenste Aufgabenstellung des Hofmanns. Und deshalb hat der Hofmann, der nach grazia strebt, nicht nur eine Steuerungs-, sondern nicht minder auch eine Gestaltungsaufgabe: parmi necessario che e’ sappia componere tutta la vita sua,182 und zwar nach demselben Maßstab, den auch Cicero bereits als Essenz des decorum vitae in Anschlag gebracht hatte – nämlich die aequabilitas universae vitae.183 Teile und Ganzes sollen ein stimmiges Bild abgeben und der Hofmann stets als in sich geschlossene, harmonische Persönlichkeit ohne Brüche in Charakter oder Handlungsweisen wahrgenommen werden.184 Und insofern hier die Wahrnehmung und das Urteil der anderen ausschlaggebend ist, wird deutlich, worum es bei Castiglione wie schon bei Cicero im Kern geht: um existenzielle Persuasion. 180 181 182 183 184

Cortegiano I, xxvi, 127. Cortegiano II, xxxi, 243. Cortegiano II, vii, 202. Cic. De off., I, 111. Cortegiano II, vii, 203.

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Kontingenz und Spiel – Freiheit im Zwang Der Blick geht nach der Detailanalyse des decorum in Castigliones Cortegiano wieder auf die übergeordnete Ebene: Welches Menschenbild zeichnet sich hier ab? Und welche Rolle spielt darin die Persuasion? Noch einmal also wenden wir uns der Frage nach der Rhetorizität des Libro del Cortegiano zu. Zu Beginn der Überlegungen hatten wir die offenkundigen Unterschiede zwischen einem sophistischen, aristotelischen oder ciceronischen Rhetorikverständnis einerseits XQGGHUK|¿VFKHQ5KHWRULNDQGHUHUVHLWVKHUYRUJHKREHQ'LHVH'LIIHUHQ]OlVVW sich auf einen kurzen Nenner bringen: Die Persuasion des Hofmanns zielt nicht auf die die Bewältigung der Kontingenz im Sinne einer Offenheit und Unterbestimmtheit der Entscheidungssituation. Der Hof ist eben keine polis. Und der Hofmann kein Politiker. Doch auch wenn der Hofmann kein Akteur in der politischen Arena, in der Arena der ernsten, der schicksalhaften Entscheidungen über das Los der Gemeinschaft sein kann, so bleibt er dennoch Handelnder im Ä6SLHO³GHU+RIJHVHOOVFKDIWGHVVHQXQJHVFKULHEHQHXQGNDXPMHDUWLNXOLHUWHQ Maßstäbe vom decorum diktiert und dessen Spieleinsatz die Reputation der Spieler selbst, dessen Hauptgewinn die grazia des Fürsten und damit die keineswegs spielerische Perspektive auf persönlichen Erfolg, aufs Reüssieren und Fortkommen bei Hofe ist. Kein Zweifel: Angesichts der scheinbar spielerischen Beschaffenheit dieses Handlungsfeldes ist es nicht ohne Reiz, den Hofmann gleich ganz auf eine Rolle LP EHUWUDJHQHQ 6LQQH ]X UHGX]LHUHQ VR ZLH /DQKDP GDV WXW Ä7KH FRXUWLHU cannot change reality. It will be a drama of some sort. He must become expert in GUDPDLQVW\OLVWLFPDQLSXODWLRQVRWKDWLWZLOOEHFRQYLQFLQJGUDPD³185 Gewiss, die Ausgangsfeststellung ist zutreffend; aber Lanham unterschlägt die ernsthafte, und, da es letztlich eben doch um Nähe zum Fürsten und damit zur Macht und allemal doch um Meinungsmacht über die opinione universale geht, zugleich die inhärent politische Natur der Existenz des Hofmanns. Wenn also von Drama überhaupt die Rede sein kann und soll, so entspringt dies keineswegs nur der Freude am Darstellen. Wenn eine Rolle, dann eine, die beide – Akteur und Zuschauer – so ernst nehmen, als gäbe es nichts anderes. Angesichts der ständigen Beobachtung, unter der sich der Hofmann in der Konkurrenz um Ansehen XQG5HSXWDWLRQEH¿QGHWZLUGLKPDXFKGLHK|¿VFKH8QWHUKDOWXQJGDV6SLHO zum Ernst.186 Alle Arten von Zeitvertreib sind auch Okkasion, sein Ansehen zu steigern oder aber an Ansehen zu verlieren.187 Stets gilt es, Souveränität im Umgang mit dem situativ Geforderten zu zeigen, gilt es, das decorum zu treffen, gilt es, mit grazia zu reden und zu handeln, um grazia zu erwerben. Worauf auch Lanham, The Motives of Eloquence, 155.  &I%jUEHUL6TXDURWWL 187  ,QVRIHUQPVVHQZLUZLHGHUXP/DQKDP]XVWLPPHQZHQQHUIHVWVWHOOWÄ,WLVWKHQDDSURIRXQG mistake to consider Urbino a leisure-class state. Urbino knows no leisure at all, just as selfconscious man knows no leisure in the world. He is either making or unmaking himself. Tertium QRQGDWXU³±The Motives of Eloquence, 157. 185 186

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immer er sich einlässt, aufs Turnierreiten oder Speerwerfen beispielsweise – der Hofmann muss gerüstet sein: sowohl im Hinblick auf eine ansehnliche Ausstattung wie vor allem mit Blick auf sein eigenes Können.188 Stets gilt es, sich auf der Höhe zu zeigen und Sieger zu sein – auch im Spiel. Denn das macht bei Hofe auch den Sieger in der Realität aus. Dies nun ist fürwahr keine leicht zu bewältigende Aufgabe. Nicht nur, weil DOOH DQGHUHQ +RÀHXWH GDV JOHLFKH =LHO YHUIROJHQ 6RQGHUQ YRU DOOHP GHVKDOE ZHLOGDVK|¿VFKH.RRUGLQDWHQV\VWHPVLFKLQVWlQGLJHU%HZHJXQJEH¿QGHWNHLne Fixpunkte kennt. Auch das, was üblich ist und die Usancen vorgibt, die consuetudine, gleichsam der umfassende Beurteilungsrahmen, der auch die Maßstäbe bereitstellt für die Decodierung und Bewältigung des Situativen: Auch dieser Beurteilungsrahmen, das muss an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich dargelegt werden, bietet keine zuverlässige Orientierung. – Hinzu kommt &DVWLJOLRQHVK|FKVWQFKWHUQH(LQVFKlW]XQJGHUPRUDOLVFKHQ4XDOLWlWK|¿VFKHQ Umgangs. Nur die Eingebildeten und Arroganten würden von den Herren gemocht und befördert, lautet eine dieser Thesen.189 Und niemals dürfe man jemandem wirklich völlig vertrauen – nicht einmal einem teuren Freund; bemerkenswert, dass dieser Gedanke zwar geäußert, doch zugleich auch als bloß intrapersonal und damit als kaum öffentlich zu äußern gekennzeichnet wird: ho pensato talor da PH D PH FKH VLD EHQ QRQ ¿GDUVL PDL GL SHUVRQD GHO PRQGR Qp GDUVL FRVu LQ preda ad amico, per caro ed amato che sia.190 Zwar lässt Castiglione hier den Federico Fregoso einen radikalen Ausweg weisen, indem er ihn schlankerhand festhalten lässt: In cose disoneste non siamo obligati ad ubedire a persona alcuna – anstößige Ansinnen also entbinden den Hofmann von seiner dienenden 3ÀLFKW MHGRFK LVW GDV QDWUOLFK HLQH DOOHQIDOOV PRUDOLVFKH %HIUHLXQJ GLH GDV konkret-situative Dilemma für den Hofmann kaum aufzulösen in der Lage ist. Für den Hofmann, der aufs decorum und damit auf seine eigene Reputation bedacht ist, gilt es, solcherlei Dilemmata von vornherein auszuschließen, oder im Zweifelsfalle sich aus dem Dienstverhältnis zu befreien – levarsi da quella servitù –, denn ein moralisch zweifelhafter Fürst wird auch auf die Reputation des Hofmanns einen Schatten werfen, perché ognun presume che chi serve ai boni sia bono e chi serve ai mali sia malo.191 Doch selbst wenn es dem Hofmann gelingt, sich einem Herrn anzuschließen, der über ein solch negatives Urteil erhaben ist, so bedeutet das gleichwohl nicht, dass es leichter wird, das decorum zu wahren und stets grazia zu zeigen. Castiglione verliert nämlich auch das Abhängigkeitsverhältnis, in dem der Hofmann gegenüber seinem Fürsten steht, nicht aus dem Blick: Der Hofmann 188

189 190 191

Zum Beispiel porrà cura d’aver cavallo con vaghi guarnimenti, abiti ben intesi, II, viii, 206, oder auch prima ha da procurar d’esser tanto bene ad ordine di cavalli, d’arme e d’abbigliamenti, che nulla gli manchi, II, ix, 207. Cortegiano II, xxi, 227. Cortegiano II, xxix, 241. Cortegiano II, xxii, 229.

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ist Diener. Doch, um die Würde des Standes zu wahren, gilt es gleichwohl, ihn vom adeligen Schmeichler und Heuchler, vom nobil adulatore,192 abzuheben. Das Differenzierungsmerkmal, das Castiglione beibringt, ist die innere Einstellung, die Neigung des Hofmanns zu seinem Fürsten. Der Hofmann solle, so lässt Castiglione den Federico Fregoso ausführen, all seine Gedanken und seine Geisteskraft darauf verwenden, seinen Herren zu bewundern und zu lieben. Alles soll er darauf ausrichten, dem Fürsten zu gefallen – solange dessen Absichten und Vorlieben moralisch akzeptabel oder neutral seien: a questo voglio che ’l cortegiano si accommodi, se ben da natura sua vi fosse alieno.193 Gleichviel – der Hofmann hat an dieser Stelle seine Präferenzen zurückzustellen und muss sich in gewissem Grade denen seines Herren anpassen, und das auch gegen seine Natur – per farsi piacere quello che forse da natura gli despiacesse.194 Dennoch spricht Castiglione hier nie von Zwang, sondern von Freiwilligkeit, mit der dies geschehen solle. – Mit anderen Worten: Der Hofmann kennt seinen Platz ganz genau, er weiß, dass er Diener ist, nicht Herr. Auch an dieser Stelle also kommt eine seiner vorrangigen Fähigkeiten, nämlich seine Unterscheidungsund Urteilsfähigkeit, seine discrezione und sein bon giudicio, zum Tragen. Halb Illustration dieser Eigenschaften, halb Ermahnung, es nicht an ihnen fehlen zu lassen, schließt Castiglione seitenweise Beispiele an, wie und wie eben nicht ein guter Hofmann sich gegenüber seinem Herren zu verhalten habe. An dieser Stelle wird noch einmal ganz offenkundig: Nach der bereits zitierten Regel, die besagt, dass chi ha grazia quello è grato, muss der Hofmann seine erste Natur zugunsten einer zweiten Natur überwinden – einer zweiten Natur, welche die Handlungsmodalität der grazia und damit zugleich das Ziel des Erwerbs der fürstlichen Huld verinnerlicht hat. Ganz besonderes Augenmerk richtet Castiglione auf die Ausnahmesituation des direkten Zwiegesprächs mit dem Fürsten: Dieses nämlich ist insofern ein besonderer Moment – auch eine besondere Bewährungsprobe für den cortegiano –, als sie die Machtasymmetrie zwischen Diener und Herrscher aufzuheben scheint. Diese besondere Konstellation ist Grund genug, einmal die scheinbare Symmetrie als Ausgangspunkt der Überlegungen anzunehmen: benché il nome di conversare importi una certa parità, che pare che non possa cader tra ’l signore e ’l servitore, pur noi per ora la chiamaremo così.195 Wohlgemerkt, Castiglione weiß sehr wohl, dass sie de facto weiter besteht, doch liegt gerade in der scheinbaren Augenhöhe die besondere Chance, aber auch Prüfung der Fähigkeiten des Hofmanns. Kurzum, in der Konversation mit dem Fürsten braucht der Hofmann alle seine Haupttugenden

192 193 194

195

Cortegiano II, xviii, 221. Cortegiano II, xviii, 221. Cortegiano II, xviii, 221 – ein Umstand, den Castiglione hier schon zum zweiten Mal in kurzem Abstand erwähnt, den er also besonders unterstreicht. Damit ist klar, dass der Hofmann notwendige Zugeständnisse machen muss, aber er macht sie nicht aus äußerem Zwang, sondern aus Urteilskraft. Cortegiano II, xviii, 220.

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– insbesondere sein giudicio und sein ingegno.196 Jetzt kommt es darauf an! Angesichts der bedeutsamen Okkasion, die er vor sich hat, muss sich der Hofmann nun con ogni suo studio darum bemühen, gerade dieses Gespräch angenehm – grato – für seinen Fürsten zu gestalten.197 Das bedeutet auch, die Themenauswahl an die Stimmungslage des Fürsten anzupassen und sich auf seinen Geschmack einzustellen – eben ganz besonders dann, wenn es zum Zwiegespräch IHUQDEGHUDQGHUHQ+RÀHXWHNRPPWMa se ’l cortegiano >...@ si ritrova poi secUHWDPHQWHLQFDPHUDGHHYHVWLUVLXQҲDOWUDSHUVRQDHGLIIHULUOHFRVHVHYHUHDG altro loco e tempo ed attendere a ragionamenti piacevoli e grati al signor suo.198 Hier ist – auch wenn der Begriff sprezzatura in diesem Zusammenhang nicht fällt – in höchstem Maße jene Leichtigkeit gefragt, das offenbar Schwierige zu bewältigen, den Bewährungsdruck, der von der fortbestehenden Asymmetrie ausgeht, nicht nur auszuhalten, sondern sogar umzuwandeln in eine angenehme, leichte Gesprächsatmosphäre, kurzum: mit Geistesgegenwart und sprachlichem decorum zugleich grazia zu zeigen und grazia zu erwerben. Aber: Natürlich darf auch diese Absicht – und intentional, jedenfalls auf Seiten des Hofmanns, ist das Ganze natürlich – nicht offen zutage treten. Und so nimmt es auch nicht ZXQGHU GDVV &DVWLJOLRQH MXVW DQ GLHVHU 6WHOOH HLQH 0DKQXQJ HLQÀLFKW QLFKW durch offenkundiges Streben nach favori den Eindruck der grazia zu gefährden. Die Machtasymmetrie aufzuheben ist somit das Streben des Hofmanns nicht. Er weiß um sie, respektiert sie, aber begegnet ihr mit seiner eigenen Souveränität – mit grazia. Indem er den ihm gesteckten Rahmen des Sprechens und Handelns virtuos ausfüllt und interpretiert, bringt er ihn zum Verschwinden. Der politischen Macht des Fürsten begegnet er mit der Souveränität seines Agierens auf allen anderen Feldern – dem Gespräch, dem Spiel, der Unterhaltung, der Kunst und Poesie; dafür wird er respektiert und geschätzt und kann so die Asymmetrie der Fakten durch die Souveränität der Form wenn schon nicht neutralisieren, so doch zumindest erheblich abmildern. Zur Wechselhaftigkeit der consuetudine und zu dem Bewusstsein um die eigene Abhängigkeit von der Gunst des Fürsten tritt ein dritter und noch schwerer wiegender Faktor, der Leichtigkeit und Souveränität ständig bedroht: Es ist dies die Macht des Schicksals, des Zufalls – kurzum der fortuna. Die Erfahrung der fortuna imprägniert das gesamte Menschenbild des Cortegiano. Nicht nur, dass sie uns schon in den allerersten Zeilen des Textes entgegentritt als eine Macht, die die Fertigstellung des Buches, so erzählt es uns Castiglione, jahrelang verhindert hat: Nie sei er wirklich dazu gekommen, sich auf sein Werk zu konzentrieren, denn la fortuna già molt’anni m’ha sempre tenuto oppresso in così continui travagli.199 Nein, Castiglione geht noch weit über diese Einzelbeobachtung hinaus. Für ihn ist die fortuna die eigentlich beherrschende Macht in allen menschlichen Belangen: in tutte le cose mondane la veggiamo dominare. 196 197 198 199

Cortegiano II, xviii, 221. Cortegiano II, xviii, 220. Cortegiano II, xix, 224. Cortegiano Ded, I, 70.

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Sie ist der vorrangige Grund, warum einige es mit wenig Begabung hoch hinaus schaffen, anderen hingegen, obwohl fähiger und damit würdiger, es nie zu etwas bringen.200 Fortuna also ist charakterisiert als invidiosa und contraria,201 als verbunden mit calamità202 und avversità,203 als dubbiosa sorte.204 Deutlicher kann es kaum sein: Zur Gänze negativ ist die Macht des Schicksals für Castiglione konnotiert. Sie ist eine irrationale, sich um gute Gründe nicht scherende Macht, deren Folgen Anlass vor allem zu Trauer geben: non mediocre tristezza befällt Castiglione in dem Moment, in dem er sich vor Augen führt, dass die meisten derer, die er als Teilnehmer des Dialogs darstellt, inzwischen gestorben sind.205 Kurzum, die Wechselhaftigkeit der menschlichen Verhältnisse bis hin zur Vergänglichkeit des Menschen und alles Menschlichen ist hintergründig stets präsent im Cortegiano.206 Damit ist die Fallhöhe des Hofmanns markiert: Castigliones Ideal der cortegiania ist keines. Er formt keinen idealen Menschen, keine ideale Welt, keine Utopie. Castiglione hat – wie in ähnlicher Radikalität auch schon die Sophisten – nicht die Abschaffung, sondern lediglich die Bewältigung der Kontingenz im Auge. In einer Welt von fortuna einerseits, von manifesten Abhängigkeiten und Machtasymmetrien andererseits, obliegt es dem Hofmann, mit seinen Mitteln der Persuasion – grazia und sprezzatura sind hier an erster Stelle zu nennen – dennoch Souveränität und Haltung zu zeigen. Die Freiheit im Formalen, die Souveränität des Stils, die lässige, geistreiche Konversation und das Scherzen in einer Lage, die geprägt ist von Heteronomie – hier zeigen sich die Würde und die Haltung des Hofmanns. Doch falsch wäre es, es bei der Feststellung der Heteronomie bewenden zu lassen. Denn das decorum weist dem Hofmann den Weg hinaus, der sich erst die Gunst, dann die Nähe des Fürsten erarbeitet und schließlich sein Berater wird. Der Hofmann weiß um die Kontingenz, die sein /HEHQSUlJW±DEHULQGHPVLHVLFKLKUVWHOOWVLH]XEHZlOWLJHQYHUVXFKW¿QGHW er eine neue Rolle. Eine Rolle, in deren Zentrum nichts anderes steht als das decorum.

200 201 202 203 204 205 206

Cortegiano I, xv, 109. Cortegiano I, iii, 85. Cortegiano I, iii, 86. Cortegiano I, iv, 89. Cortegiano I, xxi, 119. Cortegiano Ded, I, 71. Cf. Cortegiano I, xxxi, 141: quella mutazion che si fa in tutte le cose umane, oder auch I, xxxvi, 149: e noi ed ogni nostra cosa è mortale.

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V. Annäherungen an das decorum: Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussbetrachtung

Wie also, so lautete die Ausgangsfrage, erschließt die rhetorische Theorie das Phänomen der Angemessenheit? Rekapitulieren wir in einem ersten Schritt die Hauptergebnisse unserer Untersuchungen und fassen wir die Konzeptionen von Angemessenheit zusammen, welche die einzelnen hier verhandelten Autoren entwickeln. In einem zweiten Schritt geht es darum, Konstanten innerhalb der verschiedenen Perspektiven auf das decorum]XLGHQWL¿]LHUHQXQG]XVDPPHQzutragen, zu zeigen, auf welche Mittel und Wege die rhetorische Theorie trotz der eingangs skizzierten Schwierigkeiten verweist, um die Frage nach der Angemessenheit doch in Ansätzen zu beantworten. Die Sophisten erhoben innerhalb der abendländischen Rhetoriktradition als erste und wohl auch mit der größten Vehemenz den Anspruch auf die Beherrschung der Persuasion. Dazu bedurfte es eines Kriteriums von Überlegenheit, das nicht an vermeintliche epistemische Superiorität gebunden war, hatten die Sophisten doch derlei Ambitionen selbst nachdrücklich in Frage gestellt. Folgerichtig lösten sie den statischen Maßstab ontologischer Wahrheit ab durch die Faktizität des in der Dynamik des rhetorischen Wettstreits errungenen Sieges. Dementsprechend ist auch das Kriterium, das die Sophistik in Anschlag bringt, um den stärkeren lógos auszuzeichnen, ein dynamisches, ein zeitliches – nämlich der kairós. Durch vier Merkmale lässt sich der kairós zusammenfassend charakterisieren: Er ist erstens objektiv. Beim kairós DOV GHU VSH]L¿VFK VRSKLVWLVFKHQ9RUstellung von Angemessenheit geht es nämlich nicht um ein Maßnehmen an den sozialen oder kommunikativen Gegebenheiten der Situation, sondern um das rhetorisch vermittelte Abpassen jenes tangentialen Moments, in dem die Dynamik der Ereignisse und die vom Redner befürwortete Handlungsoption zur Deckung gebracht werden. Die quasi-objektive Natur des kairós-Begriffs verdankt sich auch dem Umstand, dass ihn die Sophisten der naturwissenschaftlichen, insbesondere medizinischen Begriffstradition ihrer Zeit entlehnt hatten – allerdings nicht ohne ihn radikal um- und aufzuwerten, nämlich vom naturhaften Zeitpunkt der Entscheidung zwischen zwei möglichen Ereignispfaden zum potenziellen Verbündeten des Menschen – eines besonderen Menschen gleichwohl, des Redners nämlich. Der kairós ist damit zweitens zutiefst subjektiv – subjektiv insofern, als er QXUYRQHLQHPTXDOL¿]LHUWHQ,QGLYLGXXPGHPDXVJHELOGHWHQXQGHUIDKUHQHQ6Rphisten, erspürt und präsent gemacht werden kann. Nur er ist der Mensch, der Maß zu sein vermag – homo mensura. Damit zeigt sich deutlich, dass sophistische Rhetorik Expertentum zu ihrem Leitbild macht. Der kairós ist, drittens, ÀFKWLJ (U LVW QLFKW YRQ 'DXHU QLFKW GHKQ XQG YHUIJEDU VRQGHUQ PDUNLHUW 165

eine vorüberziehende Okkasion. Er hat seine eigene Temporalität und ergo muss er erkannt und ergriffen werden, oder aber er ist verloren. Folglich gilt viertens: Der kairós ist kein Moment des Betrachtens, sondern der Dezision, des Übergangs vom Reden zum Handeln. Der kairós wird mithin durch die Rede vermittelt und wirksam, doch tendiert er über die Sphäre des Redens hinaus auf das Polis-, auf das politische Handeln. Nicht umsonst rücken die Sophisten selbst sich und ihr rhetorisches Agieren immer wieder in den Kontext der politischen Entscheidung. Die sophistische Rhetorikkonzeption ist fokussiert auf einen Redner, der den kairós erkennt und ihm durch seine Rede zur Durchsetzung verhilft. Ihr Ziel lautet krísis trotz Kritik: Handlungsleitende Gesichtspunkte sind nicht mehr mythisch oder hierarchisch abgesichert, sondern müssen vom handelnden Individuum selber gefunden, formuliert und in die Tat umgesetzt werden.1 Der kairós-Begriff ist folglich die Antwort der Sophisten auf die epistemische wie moralische Verunsicherung, die sie selbst mitausgelöst haben. An die Stelle überzeitlicher Normen tritt die akute Präsenz des Jetzt, der Situation, der Umstände. Sich darin durchzusetzen durch rechtes Ermessen der Situation und mittels eines lógos, der im rechten Moment kommt, ist Anspruch der Sophisten. Beinahe alles hängt für den Sophisten vom kairós ab, weitaus weniger dagegen von der vielfach beschworenen sophistischen téchnê, deren Rolle, wenn auch nicht unwichtig, sich auf die einer handwerklichen Propädeutik beschränkt. Der Umgang mit dem kairós jedenfalls liegt nicht im Perimeter der téchnê. Mit dem vermeintlichen Anspruch der zeitgenössischen technologountes auf eine téchnê der Persuasion, den Aristoteles so heftig kritisiert, ist es, jedenfalls mit Blick auf die theoretische Fundierung bei den Sophisten, mithin nicht weit her. Dementsprechend erhebt Aristoteles den Einwand, sie würden keine systematische Beweisführung lehren, was doch wohl Erkennungsmerkmal einer wahren rhetorischen téchnê sei. Was die Sophisten versäumt haben, scheint Aristoteles nachholen zu wollen: Das Bestreben, die Rhetorik als téchnê zu etablieren, treibt erkennbar Aristoteles’ Argumentation im ersten Kapitel der Rhetorik an. Während er den Persuasionsanspruch der Rhetorik aus der Lebenswelt entlehnt und in seine Zielstellung integriert, grenzt er sich mit dem epistemischen Anspruch auf Wahrheit, den er im ersten Buch der Rhetorik in den Vordergrund rückt, klar von sophistischer Praxis ab. Zunächst scheint es, als würde er mit seinem Konzept einer idealen Gerichtsrhetorik alle situativen Faktoren stillstellen, so dass die Frage nach der Angemessenheit in seinen Überlegungen keinen systematsichen Ort würde einnehmen können. Doch seine Ausführungen zu dem für die Konzeption des ersten Kapitels so zentralen pragma-Begriffes selbst sind es, die Aristoteles vom austere view wegführen – und der Angemessenheit ihre Rolle zuweisen. Im Zuge dieser Untersuchung des pragma und der Rolle der Rhetorik übernimmt Aristoteles – trotz all seines Pathos der Abgrenzung – eine ganze Reihe 1

Barbara Cassin, L’effet sophistique, 232.

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grundlegender Parameter von den Sophisten. So erinnert uns Aristoteles’ Analyse des pragma stark an Protagoras’ dyo-logoi-Fragment. Stimmen doch darin beide überein, dass vor allem die politischen Fragestellungen, mit denen die Rhetorik es zu tun hat, sich in Gegensätzen präsentieren und einer letztgültigen, auf Wissen basierenden Antwort unzugänglich sind. Gleiches gilt für die explizite Ausrichtung auf die doxa und die Betonung der epistemischen Schwäche der Zuhörerschaft. Selbst mit Blick auf die Relativität der polis-Verfassungen und damit der moralischen Maßstäbe des jeweiligen Gemeinwesens herrscht Einvernehmen zwischen Aristoteles und der Sophistik. Entscheidende Einlassstelle für die Umstandsgebundenheit der Rhetorik – und damit für die Angemessenheit, das prépon – ist eine kleine Formel, die sich MHGRFKDQHLQHU]HQWUDOHQ6WHOOHGHV7H[WHV¿QGHWQlPOLFKLQGHU'H¿QLWLRQGHU Rhetorik zu Beginn des zweiten Kapitels des ersten Buches der Rhetorik. In dieser Formel – gemeint ist das peri hekaston – liegt die radikale Abkehr vom entechnos methodos beschlossen. Die mit ihr vollzogene Hinwendung zum JeweiOLJHQ6SH]L¿VFKHQXQG6LWXDWLYHQEHUZ|OEWDOVXQDXVJHVSURFKHQHV/HLWPRWLY alle restlichen Kapitel der Rhetorik, denn nun entfaltet Aristoteles – gleichwohl ohne dies explizit zu machen – einen ganzen Kriterienkatalog angemessenen Sprechens, sei es mit Blick auf die Charakterdarstellung des Redners, die sich am Polis-êthos orientieren muss, die pathê, oder aber die sprachliche Ausgestaltung der Rede. Mit Blick auf das Ziel, die Zuhörer zu überzeugen, stellt Aristoteles zudem als übergreifendes Gebot der Angemessenheit auf, jedwedes Element, das für die Zuhörer den Einsatz einer rhetorischen téchnê spürbar werden lassen könnte, aus der Rede zu verbannen. Das Motiv des celare artem führt Aristoteles explizit in die Rhetoriklehre ein; ein Motiv, das sie von da an begleitet hat – bei Cicero und Quintilian nicht minder eminent als bei Castiglione. Es sei hier noch einmal unterstrichen: Im Vergleich zu den strengen, auf Sachorientierung und Faktizität hin ausgerichteten Vorgaben, die Aristoteles im ersten Kapitel macht, vollzieht er im Verlauf der Rhetorik eine regelrechte Umorientierung hin zum Situativen. Sie kulminiert schließlich in der (bislang weithin unbeachtet gebliebenen) Aussage, das Glaubwürdige resultiere aus dem Angemessenen – to pithanon ek tou prépontos. Kurzum, die Angemessenheit entwickelt sich im Durchgang durch die aristotelische Rhetorik vom Anathema zu ihrem regulativen Prinzip. Auch wenn diese Rolle nie explizit zum Thema gemacht wird, so ist es doch das prépon, das Aristoteles Betrachtung der Rhetorik vom zweiten Kapitel des ersten Buches an lenkt. Insofern er sich letztlich für die Angemessenheit entscheidet, rückt Aristoteles vom téchnê-Anspruch ab zugunsten des lebensweltlich konstitutiven Momentes der Persuasion – auch wenn er es beim theorein der Überzeugungsmittel EHOlVVWZLHVHLQH'H¿QLWLRQGHU5KHWRULN]X%HJLQQGHV]ZHLWHQ.DSLWHOVGHXWlich macht. Während er also der Rhetorik eine ähnliche Rolle zuweist wie die Sophisten, schließt er sich ihrem radikalen Willen zur unbedingten Persuasion 167

nicht an. Aus der téchnê ist eine dynamis geworden, deren rechte Anwendung einen moralisch kompetenten Redner erfordert. Zugleich weicht der Anspruch auf Wahrheit zugunsten einer Orientierung am pithanon und am êthos der polis. Dass die Tugenden, die dieses êthos tragen, in der Nikomachischen Ethik ebenfalls nach Kategorien des prépon ausgedeutet werden insofern, als die mesotês nicht als arithmetische Mitte, sondern als Proportionalität, als situative Angemessenheit, verstanden ist, sei hier nur noch einmal am Rande erwähnt. Fünf Motive gilt es mit Blick auf Ciceros gewichtigen Beitrag zum Verständnis des decorum hervorzuheben. Erstens: Im Gegensatz zu Aristoteles, für den die Angemessenheit vordergründig kein beherrschendes Thema war, weist Cicero dem decorum explizit die Rolle des caput artis zu. Das decorum wird damit augenfällig als oberstes Kriterium der Redekunst veranschlagt. Zweitens: Mit dem Versuch, das decorum wie auch immer lehrbuchhaft – im Sinne einer téchnê – verfügbar zu machen, hält sich Cicero keinen Moment auf. Das decorum ist zwar das caput artis, aber eben auch das, quod tradi arte non possit. Damit entzieht Cicero der rhetorischen ars den Zugriff auf die maßgebliche Quelle von Persuasion. Stattdessen setzt er den Akzent auf die Rolle des Redners als Person – als außerordentlich begabte und gut ausgebildete, erfahrene Persönlichkeit, die ihre Rolle zu wählen, ihr nachzukommen und sie auszufüllen weiß. Drittens: Das decorum orationis wird eingebettet in und rückgebunden an einen viel weiterreichenden Begriff von Angemessenheit – den des decorum vitae. Das decorum wird damit moralisch, ja letztlich sogar politisch relevant – und das in viel höherem Maße als etwa bei Aristoteles, bei dem diese Parallelität gleichwohl schon angelegt war, wie unsere Seitenblicke auf die Nikomachische Ethik gezeigt haben. Cicero, so könnte man sagen, verbindet mit nachdrücklichem Strich die Punkte, die bereits bei Aristoteles erkennbar auf dem Tableau standen. Dadurch werden Rede und Moral faktisch aufeinander verwiesen: keine Persuasion ohne gemeinsamen Moralhorizont, aber auch keine geteilten Werte ohne geteilte Worte, sprich: ohne ihre ständige Bestärkung und Stabilisierung durch den öffentlichen Diskurs. Viertens: Die Grundkriterien für die Verwirklichung beider decora sind beinahe identisch. Ausdrücklicher und präziser als seine Vorgänger formuliert Cicero eine Reihe von Hinweisen, die es erleichtern sollen, sich dem decorum anzunähern. Ihnen wenden wir uns gleich noch einmal zu. Und fünftens schließlich: Cicero löst als erster das Problem einer diskursiven Befassung mit dem decorum mittels eines formalen Kunstgriffs: dem des Dialogs nämlich (der gleichwohl, das ist offenkundig, eine in der Antike gängige Darstellungsweise war). Der Dialog erlaubt es ihm, die Frage nach der Angemessenheit zu behandeln und Substanzielles zu ihrer Erhellung beizutragen, ohne in die Aporie zu geraten, ein Sujet Regeln unterwerfen zu wollen, das sich

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allen generalisierenden Bestimmungen entzieht. Ciceros Lösung weist den Weg, den auch Castiglione beschreiten wird. ,P *HJHQVDW] ]X GHP 5HÀH[LRQVQLYHDX GDV &LFHUR YRUOHJW YHUVXFKW VLFK Quintilian bei seiner Einlassung zum decorum eher in schlichter Handwerklichkeit; natürlich ohne Erfolg. Der Natur des decorum kommt er mit seinen sieben Teilstrategien nicht auf die Spur. Die Warnung vor groben Schnitzern, die Forderung, angemessen zu sprechen, eine Abwandlung der circumstantiae, ein paar rednerische Kniffe, darunter die simulatio, das taktische Vortäuschen von Haltungen und Regungen – mehr umfasst das erste Kapitel des elften Buches seiner Institutio Oratoriae, das er explizit der Frage quod deceat in oratione widmet, nicht. Im Kontrast der modi operandi der beiden großen Römer tritt das Scheitern der reinen doctrina an der Frage nach der Angemessenheit exemplarisch zutage. Castiglione nun hat in inhaltlicher wie in formaler und theoretischer Hinsicht Ciceros Lektionen verinnerlicht. Zunächst einmal ist sein idealer Hofmann wie schon der ideale Redner Ciceros als öffentliche Existenz konzipiert – als jemand, dessen Reden und Handeln ausgerichtet ist auf das Ziel, in der opinione universale zu bestehen (im zweifachen Sinn des Wortes!). Insofern bedarf es kaum mehr der Erwähnung, dass es bei Castiglione wie bei Cicero ebenfalls nicht allein um ein decorum der Rede geht, sondern um eines des Lebens. Denn vital, ja existenziell, ist das Streben des Hofmanns nach Persuasion – was in seinem Fall bedeutet: nach Gewinnen der Aufmerksamkeit und der Gunst seines Fürsten. Da diese Gunst eine wertvolle, aber endliche Ressource ist, unterscheidet sich Castigliones Konzept in diesem Punkt erheblich von dem Ciceros: es ist ersichtlich kompetitiv, denn hier spricht nicht einer für alle, gar für die res publica, sondern die Rhetorik des Hofmanns ist Rhetorik einzig und allein in eigener Sache. 'DVLQWULNDWH)XQNWLRQVSULQ]LSK|¿VFKHU3HUVXDVLRQQXQLVWGDVVhEHUOHJHQheit nur unangestrengt demonstriert werden kann. Das Schwere mit Leichtigkeit, ja mit sprezzatura zu tun, so als wäre es gar nichts, mithin die aufgewandten Mühen zu dissimulieren, macht die gesuchte Souveränität aus. Das celare artem, das uns seit Aristoteles als Konstante durch die verschiedenen Konzeptionen des decorum begleitet, erreicht bei Castiglione höchste Wirkungsmacht und wird gar zum Schlüssel seiner Konzeption von Angemessenheit. Es ist diese angenehme Leichtigkeit, diese grazia, die ihrerseits mit grazia, mit fürstlicher Huld, belohnt wird. Obwohl also der Hofmann ganz ausdrücklich nur den Status eines Dieners, nicht den eines Staatsmanns, gar eines Herrschers, innehat, so vermag er doch mittels der ihm eigenen, souveränen Modalität obenauf zu kommen. Die Asymmetrie der Macht gegenüber seinem Fürsten vermag er nicht zu überwinden, er kann sie nur – temporär – neutralisieren, indem er ihr mit formaler Souveränität begegnet. Auch mit Blick auf die Darstellungsmittel, die er zur Annäherung an das decorum anwendet, stellt Castiglione sich voll und ganz in die Tradition Ciceros. 169

Wie dieser greift auch Castiglione zum Mittel des Dialogs – also zu einer unsachlichen, zu einer inszenierten Form; einer Form aber, die das Verdienst hat, des Odiums des Gelehrten wie des Lehrbuchhaften völlig unverdächtig zu sein. Nicht nur kommt es darauf an, worüber gehandelt wird, sondern mindestens genauso viel darauf, wie. Das celare artemHPS¿HKOW&DVWLJOLRQHIROJOLFKQLFKW nur seinen Lesern – er wendet es selbst in Vollendung an.

Abschließende Bemerkungen Nimmt man die gesamte Untersuchung noch einmal in den Blick mit dem Ziel, eine systematische Summe aus den einzelnen Perspektiven zu ziehen, welche die untersuchten Autoren auf das decorum eröffnet haben, so kristallisieren sich die folgenden Gesichtspunkte heraus: Erstens: Rhetorik, die nach den Gründen gelingender Persuasion fragt, NRPPW]ZDQJVOlX¿JDXIGLH$QJHPHVVHQKHLW]XVSUHFKHQ. – Beredtes Zeugnis im Sinne dieser These legt die aristotelische Rhetorik ab. Sie nimmt ihren Ausgang vom Phänomen lebensweltlicher Persuasion – und Aristoteles räumt, wie wir gesehen haben, der Erklärung gelingender Persuasion letztlich den Vorrang vor epistemischen Zielgrößen ein. Aristoteles’ ‚realistischer‘ Ansatz rekurriert letztlich auf Grundbedingungen, auf die bereits die Sophisten nachdrücklich hingewiesen haben. Dazu zählen die unbedingte Orientierung auf die Meinung, die Relativität moralischer Wertbezüge (sie unterscheiden sich von Polis zu Polis) und die Ausgangslage, dass es zu jedem Redegegenstand zwei zueinander im Gegensatz stehende lógoi gibt. Zugleich aber hat die Rhetorik als Verfahren lebensweltlicher Rationalität die Aufgabe, Mehrheitsvoten mittels Rede und Widerrede, mittels Persuasion also, herbeizuführen. Insofern sich Aristoteles dieser Analyse der grundlegenden Parameter der Rhetorik anschließt, wendet sich sein Blick Schritt für Schritt dem peri hekaston zu – und damit Gesichtspunkten, die sich allesamt unter das Leitmotiv der Angemessenheit stellen lassen. Dieser sich in Aristoteles’ Rhetorik erst nach und nach abzeichnende Vorrang des decorum ist für Cicero zum archimedischen Punkt seiner Rhetoriktheorie geworden: Das decorum ist das caput artis. Und nicht nur das, bei Cicero wie auch, noch prominenter, bei Castiglione wird es zum Leitprinzip der gesamten Lebensführung. Zweitens: Je zentraler die Bedeutung des decorum für die Theorie der Rhetorik wird, umso nachdrücklicher in Frage gestellt wird der Anspruch auf eine téchnê der Persuasion. Auf diesen Umstand reagieren Cicero und Castiglione methodisch durch die Wahl ihrer Darstellungsmittel. – Ein Hauptergebnis unserer Untersuchungen lautet schlicht: Es kann keine ars, keine bloße Theorie der Persuasion geben, die Aussicht auf Erfolg hätte. Das hat Aristoteles (auch wenn er es so nicht sagt) systematisch nachgewiesen, Quintilian belegt es durch sein Scheitern, Cicero und Castiglione versuchen erst gar nicht, diesen Irrweg 170

zu beschreiten. Wer also die rhetorische Disziplin als téchnê der Persuasion ansieht, irrt, wer sie als solche anpreist, schwindelt. – Auch bei den Sophisten ist die Rolle der téchnê von weitaus geringerer Bedeutung als man angesichts des großen Widerstandes, den ihnen ihre Eigenwerbung eingebracht hat, annehmen würde. Sie geht kaum hinaus über eine Propädeutik im Hinblick darauf, wie eine Situation zu meistern ist – durch sprachliche Richtigkeit und semantische Unterscheidungen (orthoepeia), die wohldosierte Länge der Rede und die angemessene, nämlich ernsthafte Haltung zum eigenen lógos. Wenn also auch das Versprechen einer téchnê der Persuasion von den Sophisten nicht eingelöst werden kann, so kommt ihren Ansätzen doch das Verdienst zu, als Werkzeuge der Situationsanalyse – und der Analyse der gegnerischen Rede und ihrer sprachlich-gedanklichen Schwachpunkte – die Rhetorik über das Geratewohl, die tychê, hinauszuführen. Die téchnê-Ungeeignetheit einer auf Angemessenheit angelegten Rhetorik nun hat zur Folge, dass das decorum am ergiebigsten in der ‚literarischen‘ Form des Dialogs behandelt wird. Einen ersten Beleg für diese These liefert uns Cicero: Zwar sind eine Vielzahl seiner rhetorischen Schriften Traktate; aber die weitreichendsten Ausführungen zur Angemessenheit macht er im Dialog De oratore. Der Vergleich von De oratore etwa mit dem Orator macht den profunden Unterschied deutlich – bewegt sich Cicero doch in Orator, 71 etwa auf dem (wie wir zeigen konnten unergiebigen) Erkenntnisniveau Quintilians. Ein zweiter Beleg für unsere These ergibt sich aus der bewussten methodischen Wahl Castigliones. Er wolle gar keine precetti distinti verfassen, streicht er hervor – also wählt er den Dialog. Dass er ihn auch legitimiert sieht als Rückgriff auf antike Vorbilder – verfasst alla foggia di molti antichi und damit im Einklang stehend mit kulturellen Leitmotiven seiner Zeit, der Renaissance – wird zweitrangig angesichts der methodischen Vorzüge des Dialogs vor dem Traktat. Wir dürfen mithin annehmen, dass sich diese Wahl der Darstellungsform bei Cicero ZLHEHL&DVWLJOLRQHGHUVSH]L¿VFKHQ1DWXUGHV6WRIIHVYHUGDQNW:HLOGDVVLWXativ Richtige stets nur in einer Situation richtig sein und persuasive Wirkung entfalten kann, entspricht es seiner Natur, es auch in einer Situation, einer Szenerie zu präsentieren. Kurzum, der Dialog bietet eine Form, die den Autor aus der Aporie des systematischen Zugriffs erlöst: Das Abstrahierte, Systematische, Verkürzte und auf den Nenner Gebrachte greift im Falle des decorum nicht nur notwendigerweise zu kurz, es banalisiert auch, weil es den Reichtum der Bezüge und Kriterien einkürzt – nur sie aber sind es doch, die den Leser ermessen lassen, was angemessen ist! Nur so kann auch der intendierte didaktische Erfolg zustande kommen: Jeder Versuch, Präzepte des decorum zu erlassen, würde das decorum selbst vaporisieren. Die dialogische Darstellungsform, die Cicero und Castiglione gewählt haben, sind also keiner schriftstellerischen Vorliebe oder der imitatio der Antike geschuldet, sondern die einzige dem Sujet angemessene Herangehensweise.

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Drittens: Auch wenn es, wie wir gerade noch einmal gesehen haben, keine handbuchartigen Regeln der Angemessenheit geben kann, so lassen sich dennoch ein paar praktikable Strategien und Herangehensweisen für decorum-gerechtes Reden und Verhalten ausmachen. Zunächst gilt es noch einmal kurz, den %HLWUDJGHUVRSKLVWLVFKHQÄ3URSlGHXWLN³DQJHPHVVHQHQ5HGHQVLQ(ULQQHUXQJ zu rufen. Sie ist, wie schon ausführlich dargelegt, alles andere als eine téchnê der Persuasion, bietet jedoch einiges sprachliches Rüstzeug, sich einer Situation zu nähern und sich rednerisch in ihr zu bewähren. – Jenseits der Handreichungen der orthoepeia zeichnen sich eine Reihe von Handlungsstrategien ab, die geeignet sind, sich dem jeweils Angemessenen systematisch zu nähern. Lassen wir sie hier noch einmal ausgehend von den entsprechenden Einlassungen Ciceros, aber angereichert um Einsichten unserer anderen Autoren, Revue passieren. 1. Zunächst hat ein Redner in jeder Situation aufs Neue und genau abzuwägen, ob er überhaupt reden soll. Daran erinnert uns nicht erst Cicero. Schon bei den Sophisten hieß es: Auch Schweigen kann dem kairós entsprechen. 2. Ein grundlegender Imperativ decorum-gerechten Redens und Handelns lautet: jegliche Fehler vermeiden! Implizit oder explizit wird er von allen Autoren erwähnt – von den Sophisten bis hin zu Castiglione. Schon bei Gorgias hieß es, es sei das Schändlichste für einen Mann, durch sich selbst ins Unglück zu geraten. Aristoteles rät dazu, keine Risiken einzugehen – etwa mit %OLFNDXIGLH6WLOHEHQHGHU5HGH'HQQÄ/HLFKWIHUWLJNHLWLVWRKQH9HUGLHQVW 0l‰LJNHLWDEHURKQH)HKOHU³8QG&LFHURIRUGHUWXQVDXIut vitia fugiamus. In Quintilians Betrachtung geben ebenfalls die vitia, die es zu meiden gilt, oftmals den Anstoß, sich zu Fragen der Angemessenheit zu äußern. Bei Castiglione wird der Kardinalfehler der affettazione gar zum ständigen Gegenbild angemessenen Agierens. 3. Sodann ist präzise Vorarbeit erforderlich, und zwar mit Blick auf die Inhalte wie auch mit Blick auf die zu erwartende Redesituation. Was konkret vermag der Redner ex ante zu tun, um sich bestmöglich an das situative decorum anzunähern? Aristoteles fordert, der Redner solle tanantía syllogízesthai, also das Redethema intellektuell vorab soweit ergründen, dass ihm Pro- und Contra-Argumente gleichermaßen vertraut sind. – Quintilian steuert eine Liste der circumstantiae als Leitfaden bei, die der Vollständigkeit halber hier noch einmal genannt sei. Sie umfasst die Aspekte des quis, pro quo, contra quos, apud quem, tempus ac locus. Diese zu berücksichtigen, sei, so Quintilian, schon Teil der inventio±(LQZHLWDXVXPIDVVHQGHUHU%HJULIIYRQÄ9RUEHUHLWXQJ³OLHJWJDQ]RIIHQNXQGLJGHU$XVELOGXQJGHV+RIPDQQV]XJUXQGHXQG das Gleiche wird man natürlich auch von der Gesamtausbildung des Redners im ciceronischen Kanon von ars und vor allem exercitatio sagen können.

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4. Das decorum ist eine relative Norm. Sie basiert auf Meinungen, auf Erwartungen – und ist dennoch von größter Verbindlichkeit. Sich auf die Erwartungshaltungen und Vormeinungen des Publikums einzulassen – also strikte Hörerorientierung –, lautet daher die nächste Regel, die helfen soll, das Angemessene zu erschließen. Das Moment der rigorosen doxa-Ausrichtung haben ja alle Autoren hervorgehoben – von Gorgias über Aristoteles’ consensusKonzeption bis hin zu Castiglione, der die antiken Auffassungen in seinen Begriff der opinione universale ummünzt. Kognitiv wie moralisch also bezieht sich das decorum auf das, was alle, zumindest aber, was andere meinen. Soziale und epistemische Bestimmungsmomente des decorumÀLH‰HQ]Xsammen in der Tatsache, dass es unter dem Aspekt der Angemessenheit vor allem auf die wahrgenommene und von anderen lesbare Existenz ankommt. Leben wird, daran gemahnt insbesondere Cicero, gleichbedeutend mit beurteilt werden. Die Maßstäbe der Zuhörer und Mitmenschen ernst zu nehmen, LVWREHUVWH3ÀLFKWGHVDXIGDVdecorum bedachten Redners. Die sittliche Natur dieses Kontextes und die unerlässliche Einbettung von Redner und Rede in diesen Kontext hat Aristoteles nachdrücklich hervorgehoben. Die Bezugnahme auf das êthos der Gemeinschaft sichert jedoch nicht nur das decorum moralisch ab – sie wird zugleich auch Ressource der Persuasion, etwa wenn Aristoteles das rednerische Mittel der Maxime (gnomê) in den Blick nimmt. Generell gilt: Angemessenheit und Moral stehen bei ihm in einem engen Wechselverhältnis – nie ist für ihn das eine ohne das andere denkbar. Aus dieser Interdependenz resultiert nicht allein die ausführliche Bezugnahme auf die Tugenden, die Verhaltensweisen von Menschen während bestimmter Lebensalter oder die fein ausgearbeitete Psychologie der Emotionen in seiner Rhetorik, die ohne Bezug auf das êthos der Polis nicht transparent gemacht werden können, sondern nicht minder die gewichtige Rolle der Angemessenheit in seiner Ethik. Wie anders als durch Referenz auf geteilte moralische Wertmaßstäbe lässt sich übrigens auch das Lob verstehen, das Gorgias jenen Soldaten im EpiWDSKLRV DXVVSULFKW GLH VLFK ÄNRUUHNW JHJHQ .RUUHNWH XQHUVFKURFNHQ JHJHQ 8QHUVFKURFNHQH³ YHUKDOWHQ" 1XU HLQ LPSOL]LWHV JHPHLQVDPHV 9HUVWlQGQLV dessen, was als moralisch ‚korrekt‘ zu gelten hat, rettet seine Aussage davor, bloß eine Tautologie zu sein. Zur angemessenen Adaptation an den sozial-moralischen Kontext gehört schließlich – auch darauf weisen alle Autoren hin –, den Humor richtig zu dosieren. Ohne den moralischen Kontext richtig zu ermessen, können seine impliziten Regeln und die hierauf beruhenden Erwartungen nicht gekonnt durchbrochen werden – worauf ja, dies können wir bei Cicero ebenso wie bei Castiglione nachlesen, angemessener Humor basiert. 5. Die abschließende Hauptregel lautet: celare artem! Alle unsere Autoren kennen und nennen das Leitmotiv der dissimulatio. Sie ist ein Kernbestand 173

decorum-gerechten Argumentierens und Agierens. Wenn sich die Sophisten auf die Wahrheit berufen, obwohl sie selbst ihre Verlässlichkeit am nachhalWLJVWHQLQ)UDJHVWHOOHQZHQQ$ULVWRWHOHVDOV7RSRVHPS¿HKOWGDV0LVVWUDXHQ gegen die Rhetorik auszunutzen und Redegabe als belastendes Indiz zu behandeln; wenn Cicero seine Protagonisten vorgeben lässt, von griechischer Bildung unbeleckt zu sein; wenn selbst Quintilian davor warnt, die eigene Redekunst ruchbar werden zu lassen – dann ist hier immer ein und dasselbe Prinzip am Werke, nämlich das der dissimulatio. Das Gemachte erscheint nun einmal nicht glaubwürdig – das mit offenkundigem Können Vorgebrachte weckt Misstrauen, die VXVSLFLRDUWL¿FL. Kurzum: Jede sichtbare Technik der Persuasion dementiert sich selbst. Weswegen es auch jeder ars darum gehen muss, ihre Rolle unsichtbar werden zu lassen. Im Gelingen der Persuasion tendiert die ars auf Selbstabschaffung hin. Sie ist kein Thema mehr, hinterlässt keine Spuren. Genau diese Beseitigung aller Spuren der Aneignung ist zentraler Gedanke von CastigOLRQHVÄ$QOHLWXQJ³]XPdecorum. Schließlich kreist sein zentrales Konzept der sprezzatura um nichts anderes. Auf den mühevollen, mit studio e fatica verbundenen Erwerb im umfassenden Sinne persuasiver Kompetenzen folgt deren Dissimulation – sonst ist alles wieder verloren. Daraus ergibt sich eine durchaus paradoxe Folgerung: Selbst wenn es eine ars gäbe, die das decorum theoretisch zu erschließen und zu seiner praktischen Anwendung anzuleiten in der Lage wäre – diese ars zu kennen, müssten alle Redner auf das Heftigste in Abrede stellen, wollten sie sich nicht beim Publikum in Misskredit bringen! – So weit also unser Durchgang durch die fünf Faustregeln des decorum, die sich im Zuge der Analyse der einzelnen Autoren abgezeichnet haben. Damit sind wir bei einem weiteren, vierten Aspekt: Die Fähigkeit, die soeben resümierten Anhaltspunkte anzuwenden, ist keineswegs voraussetzungslos. Jedoch ändern sich die jeweiligen Voraussetzungen, auf die die einzelnen Autoren rekurrieren. – Angesichts der Vielfalt, ja Widersprüchlichkeit sittlicher Orientierungen, die in verschiedenen Poleis galten, nahmen die Sophisten Rekurs auf eine außermoralische, ja quasi-objektive Instanz, den kairós, um Angemessenheit auszuzeichnen. Der Zugang zum kairós nun war allein dem durch universelles rhetorisch-politisches Expertentum herausstechenden Individuum gegeben. Demgegenüber betont Aristoteles die Bedeutung von Habitualisierung als Voraussetzung und Grundlage für das Wissen um den angemessenen Umgang mit den moralischen Erwartungshaltungen der Mitbürger. Folglich sind Rhetorik, Moral und Politik für Aristoteles auf das engste miteinander verwoben. Dieser einheitliche politisch-moralische Referenzrahmen verstärkt sich bei Cicero eher noch: Für ihn verschmelzen die drei Disziplinen vollends miteinander, so dass decorum orationis und decorum vitae ebenso wie honestum und utile sich aus den gleichen Quellen von gesellschaftlicher Konvention und philosophischSROLWLVFKHU5HÀH[LRQVSHLVHQN|QQHQ 174

Castiglione hingegen, auch wenn er in vielerlei Hinsicht aus dem gedanklichen Fundus von De oratore schöpft, löst diesen harmonischen Zusammenhang ZLHGHUDXI,QHLQHUK|¿VFKHQ:HOWGHUHQconsuetudine sich als höchst wandelbar darstellt, bietet sittliche Habitualisierung keinen zuverlässigen Zugang zum decorum mehr. Auch das Verhältnis von Fürst und Hofmann, von Herrschern und Beherrschten, stellt sich weniger harmonisch dar als die von Cicero so emphatisch ausgemalte Relation von Redner und res publica. Kurzum, für Castiglione gibt es keinen gesicherten, gemeinschaftlichen Deutungshorizont mehr, von dem aus das Angemessene moralisch erschlossen wäre. Dementsprechend wandelt sich auch die Voraussetzung für die Verwirklichung des decorum von substanzieller Vertrautheit zu formaler Intelligenz: Nicht habitualisiertes êthos, sondern individuelle Urteilskraft wird zur Eintrittsbarriere in den Kreis derer, die ihr Handeln und Sprechen bewusst auf Angemessenheit hin orientieren können. Castiglione geht gar so weit, die Urteilskraft als die ausschlaggebende Ressource zu betrachten, die befähigt, das Angemessene zu erfassen, ganz senza altri precetti, mithin ohne überhaupt Regeln erlernen und beachten zu müssen. Castigliones Insistenz auf den buon giuidicio nun schließt den Kreis mit Blick auf jenes Diktum aus Ciceros De oratore, aus dem sich eine Grundfragestellung unserer Untersuchungen ergab, und dem gemäß das decorum jenes caput artis sei quod tradi arte non possit. Denn wo es an Urteilskraft – und auch dem nötigen ästhetischen Sensorium – fehlt, zu erkennen, wer das decorum verwirklicht und wer es verfehlt, dort ermangelt auch der theoretischen Unterweisung jeder Anknüpfungspunkt, ihre Gesichtspunkte verständlich zu machen. Rückblickend lässt sich also sagen: Akzentuierten Aristoteles und Cicero die Integrationskraft des geteilten êthos, so schärft Castiglione den Blick für die Rolle der Urteilskraft als variable, weniger auf eine konkrete Ausprägung von consuetudo festgelegte, zugleich instrumentelle Ressource für die Auffassung der Kriterien situativ angemessenen Handelns und Redens. Damit gibt Castiglione eine Antwort auf die Voraussetzungen decorum-gemäßen Agierens, die auch für die Bedingungen der modernen, postkonventionellen Gesellschaft gültig ist. So oder so aber gilt: Was die rhetorische Theorie zur Frage der Angemessenheit als Fingerzeig für die Praxis beizutragen hat, bleibt auf Voraussetzungen angewiesen, die selbst nicht Teil dieser Theorie sein können. Fünftens schließlich bleibt die Frage nach dem Erwerb einer umfassenden „Decorum-Kompetenz“: Wie, wenn überhaupt, lässt sie sich aneignen? – Castiglione kommt das Verdienst zu, über die Analyse der Bedeutung der Angemessenheit für das persuasive Auftreten hinaus dargelegt zu haben, wie derjenige, der mit der nötigen Urteilskraft ausgestattet ist, den Sinn für Angemessenheit einzuüben und sich schließlich vollkommen anzueignen vermag – auch ohne dass er sich auf den Referenzrahmen eines geteilten êthos verlassen kann. Im Kern beschreibt Castiglione den Erwerb des handlungsleitenden Sinns für das decorum, den er grazia nennt, als einen Prozess nicht der Aneignung einer ars, sondern als einen der Selbsterziehung. 175

Dessen Ausgangspunkt ist in der Tat, sich nicht als Wissenden, sondern als Lernenden aufzufassen – als jemanden, der sich den Modus der Angemessenheit von anderen, deren Verhalten sich als angemessen erweist, abschaut. Anders gewendet: Auf das Erkennen der eigenen natürlichen Verhaltensschwächen folgt das bewusste governarsi – der Eingriff in natürliche Dispositionen zugunsten einer zweiten Natur, deren Maßstab decorum heißt und die durch intensive Einübung und zugleich die Dissimulation aller damit verbundenen Anstrengungen zur eigentlichen Natur wird. Offenkundig ist dieser Weg zum decorum vitae um ein vielfaches schwieriger als die Rollenauffassung, die Cicero unter dem Rubrum der persona vorträgt, ist doch mit dem erweiterten Spielraum auch die Verantwortung des einzelnen für seinen Erfolg oder Misserfolg erheblich gewachsen. Denken wir an das homo mensura-Konzept der Sophisten, an Aristoteles’ Bestehen auf die Bedeutung der Erziehung für den Erwerb des êthos, an Ciceros decorum vitae$XIIDVVXQJRGHUDEHUHEHQDQ&DVWLJOLRQHVÄ/HKUH³GHUgrazia: Stets zeigt sich, dass die Angemessenheit einen weitaus breiteren Zugang erfordert als ihn eine rhetorische ars allein je bieten könnte. Dem bloßen Fachmann bleibt das decorum verschlossen. Dass alle Autoren, die wir untersucht haben, eine über eine rein fachliche téchnê weit hinausreichende Perspektive auf das decorum eröffnet haben, unterstreicht nur noch einmal, dass das Phänomen der Persuasion über das argumentierende Sprechen weit hinausreicht. Warum Cicero formulierte, dass esse caput artis decere, quod tamen unum id esse, quod tradi arte non possit, liegt nun in letzter Klarheit vor uns.

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