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German Pages 307 [308] Year 2015
Christoph auf der Horst, Miriam Seidler (Hrsg.) Bildlichkeit im Werk Durs Grünbeins
Bildlichkeit im Werk Durs Grünbeins Herausgegeben von Christoph auf der Horst und Miriam Seidler
Fördermittel der Fritz Thyssen Stiftung ermöglichten die Durchführung der Tagung und die redaktionelle Bearbeitung der Beiträge des Sammelbandes.
ISBN 978-3-11-031865-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-031873-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038980-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: DTKUTOO/iStock/thinkstock Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Durs Grünbein Stummfilm | 1
I. Prolog Miriam Seidler Vom Stellenwert der Bilder. Bilder, Bildlichkeit und Bildtheoretisches im Werk Grünbeins | 5 Michael Eskin im Gespräch mit Durs Grünbein Von Augenmenschen und Ohrenmenschen. Über die Bildlichkeit dichterischer Sprache | 15
II. Bilder, Bildlichkeit und Bildtheoretisches Andreas Degen Bildpoetik und Faszinationspoetik im Frühwerk Durs Grünbeins | 31 Ralf Simon Szenographie und Zeitverlauf. Zur Bildlichkeit der Lyrik Durs Grünbeins (Erklärte Nacht: Traktat vom Zeitverbleib) | 53 Christian Kohlross Was eigentlich heißt es, sich ein Bild von etwas zu machen? | 71 Silvia Ruzzenenti Bilder-Logik. Zur bild-epistemologischen Poetologie Durs Grünbeins | 83
III. Wahrnehmung und Erkenntnis im Werk Durs Grünbeins Hinrich Ahrend „Aqua alta“. Das Meer als Ort phänomenologischer Erkenntnis bei Durs Grünbein | 115
VI | Inhalt Michael Eskin Denkbilder. Zu einem Motiv bei Durs Grünbein | 141 Urs Büttner Erkenntnisse des Schnees. Grünbeins cartesische Anthropologie und Ästhetik | 163 Christoph auf der Horst Durs Grünbein, Descartes und die Neurologie: Kennt Grünbeins Psychopoetik einen embodied cognition-Ansatz? | 185
IV. Bildlichkeit in Nach den Satiren Burkhard Meyer-Sickendiek Nach den Satiren. Bildtheoretische Überlegungen zu Grünbeins ‚Werkzäsur‘ | 219 Anne-Rose Meyer ‚Fußspur‘ und ‚Röntgenbild‘. Bildwissenschaftliche Aspekte und intermediale Differenzen in einem Gedicht Durs Grünbeins | 239 Miriam Seidler Wahrnehmung, Sterblichkeit und das Werk Andrea Mantegnas in Grünbeins Zyklus Physiognomischer Rest | 257
V. Epilog Durs Grünbein Die Lehre der Photographie | 287 Fußnote zu mir selbst | 295 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 299
Durs Grünbein
Stummfilm Gigantische Agenda, dieses Leben – Das so ganz anders kam und dann doch so. Wir sehen uns, wenn wir die Augen schließen, In einem Fahrstuhl, der die Jahre wie Etagen zählt. Oft steigt einer mittendrin aus, läuft auf sich zu Den Flur hinab, sein eigener Doppelgänger. Die Hälfte ist Stolpern, an falsche Türen klopfen, Weil von außen ein Herz aufgemalt ist. Und dann Dies Niedersinken vor Müdigkeit, das so gut tut. Von Tag zu Tag fällt nun ein Blütenblatt Aus dem irren Blumenstrauß, der die Vase gestern Beinah zum Explodieren brachte in seiner Pracht. Blaue Anemone, weiße Iris, schwarze Tulpe – Das klingt alles nach freier Improvisation: Etüden für ein Spielzeugklavier. Nun fang an, Schreib ein Buch deiner täglichen Schwächen.
Buch der Schwächen Präambel für ein Tagebuchprojekt. Der Autor führt seit langer Zeit ein Tagebuch mit dem gleichnamigen Titel. Aufgezeichnet werden Alltagsereignisse unter besonderer Berücksichtigung der natürlichen Unzulänglichkeiten des Protokollanten.
| I. Prolog
Miriam Seidler
Vom Stellenwert der Bilder Bilder, Bildlichkeit und Bildtheoretisches im Werk Grünbeins
Bildlichkeit und Literaturwissenschaft „Die Poesie spricht in Bildern. Sie nennt Dinge der Welt, welche ein inneres Auge durch die Kraft des Wortes aufs Neue wahrnehmen kann.“1 Mit diesem Satz beginnt Walther Killy im Jahr 1956 seine Untersuchung Wandlungen des lyrischen Bildes und definiert eine vage beschriebene Bildlichkeit als „konstitutiven Urgrund aller Poesie“.2 Wie Ralf Simon im Rahmen seiner Überlegungen zum Topos der „Poesie als Rede in Bildern“ gezeigt hat, war diese Erkenntnis Mitte des 20. Jahrhunderts nicht neu, sondern beruht auf einer zweihundert Jahre alten Tradition.3 Bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat in seinen Vorlesungen zur Ästhetik darauf verwiesen, dass „[i]m allgemeinen […] das dichterische Vorstellen als bildlich bezeichne[t]“4 werden kann.5 Um die Beschreibung genuin literarischer Bildlichkeit, die Funktion dieser für die Literatur und deren Zusammenhang mit der bildenden Kunst ringt die Forschung immer wieder. Der Primat, den Hegel der Literatur zugewiesen hat, weil sie gerade nicht auf Materielles, sondern auf geistige Vorstellungen verweist, wird dabei nicht zwangsläufig anerkannt. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen der vielfältigen theoretischen Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Literatur und bildender Kunst seit der Aufklärung, sowie der zunehmenden Präsenz von intermedialen Text-Bild|| 1 Walther Killy: Wandlungen des lyrischen Bildes. Göttingen 1956, S. 5. 2 Hermann Korte: Bildlichkeit. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 1996, S. 257–271, hier S. 271. Einen kritischen Blick auf die Möglichkeiten einer wie auch immer gearteten ‚literarischen Bildlichkeit‘ entwickelt Philip Nicholas Furbank bereits im Jahr 1970 in seiner Untersuchung Reflections on the word ‚image‘. London 1970. 3 Vgl. Ralf Simon: Die Bildlichkeit des lyrischen Textes. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke. München 2011, S. 17. 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik III. Frankfurt a.M. 1970, S. 276. 5 Dass sich Grünbein auch mit dem Werk Hegels auseinandergesetzt hat, zeigt sich in seiner Poetikvorlesung aus dem Jahr 2009, wo er auf den „alten Hegel-Satz ‚Dichtung ist die Kunst der Künste‘“ Bezug nimmt. Durs Grünbein: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Berlin 2010, S. 58.
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Verbindungen von der Werbung bis zum Comic und der exponentiell gestiegenen Verwendung von Bildzitaten und Fotografien in literarischen Texten6 ist die literarische Bildlichkeit etwas aus dem Blick geraten. Dies erstaunt umso mehr, als gerade in den Bildwissenschaften in den vergangenen Jahren das Bild zu einem Gegenstand expliziter theoretischer Beschäftigung wurde, die sich in einer insbesondere in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten fast exponentiell zunehmenden Literatur aus immer mehr beteiligten Disziplinen niederschlägt. In den 1990er-Jahren wurden angesichts einer alltäglichen Omnipräsenz von Bildern (‚Bilderflut‘) und der zentralen Bedeutung, die den Bildern in den Wissenschaften durch die neuen Möglichkeiten bildgebender Verfahren in Naturwissenschaft und Medizin beigemessen wurde, verschiedene Ansätze entwickelt, dieser vermeintlichen neuen Bildsituation theoretisch zu begegnen. Prominent haben sich auf der bildtheoretischen Bühne insbesondere zwei Ansätze zu einer ‚bildlichen Wende‘ platziert, die sich u.a. als Reaktion auf Richard Rortys weitreichende Kritik an einer „Geschichte der Dominanz visueller Metaphern”7 und dem mit auf ihn zurückgehenden, sehr wirkmächtigen linguistic turn begreifen lassen. So läuten die Kunsthistoriker William J. Thomas Mitchell und Gottfried Boehm unter unterschiedlichen Vorzeichen einen pictorial turn bzw. einen iconic turn8 ein und machen dabei in Abgrenzung zum linguistic turn das Bild als theoretischen Gegenstand, dem eine sprachlich nicht übersetzbare Eigenlogik innewohnt, stark. Eine neue Tendenz ist hierbei, bildtheoretische Ansätze in Form einer Bildwissenschaft bzw. image studies zusammenzuführen und auch als Disziplin zu institutionalisieren.9 Dass man sich hierbei nicht zwangsläufig auf unerschlossenem theoretischem Neuland bewegt, macht u.a. Gottfried Boehm einsichtig mit seinem klaren Verweis auf Konrad Fiedlers
|| 6 Vgl. hierzu den Sammelband Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text (Hrsg. von Silke Horstkotte und Karin Leonhard. Köln u.a. 2006) und das im November 2014 erschienene Handbuch Literatur & Visuelle Kultur, das es sich zur Aufgabe macht, in einem interdisziplinären Zugang die „Beziehungen zwischen Literatur und visueller Kultur als einen Gegenstandsbereich zugänglich [zu machen], der die konstitutive Funktion von Sprache und Schrift in Prozessen visuell vermittelter Bedeutungsproduktion auf besondere Weise exponiert.“ (Claudia Benthien; Brigitte Weingart: Einleitung. In: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Hrsg. von Claudia Benthien und Brigitte Weingart. Berlin, Boston 2014, S. 1-28, hier S. 7f.) 7 Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Frankfurt a.M. 1981, S. 23. Vgl. hierzu auch Bernd Stiegler: ‚Iconic Turn‘ und gesellschaftliche Reflexion. In: Trivium 1 (2008), http://trivium. revues.org/391 [15.12.2014]. 8 Vgl. Gottfried Boehm: Was ist ein Bild? München 1994. 9 Wie z.B. der Schweizer nationale Forschungsschwerpunkt um Gottfried Boehm an der Universität Basel eikones. Bildkritik – Macht und Bedeutung der Bilder (www.eikones.ch) mit einer eigenen Buchreihe und einer Online-Zeitschrift rheinsprung11. Zeitschrift für Bildkritik.
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Schriften zur Kunst und die anthropologisch Überlegung von Hans Jonas zum Menschen als bildverstehendem ‚Homo Pictor‘.10 Auf die ins 19. Jahrhundert zurückgehenden Bestrebungen einer formalen Ästhetik, Bilder als eigenständigen theoretischen Gegenstand näher zu umreißen, macht auch Lambert Wiesing aufmerksam.11 Wiesings Überlegungen zu den phänomenologischen Ansätzen von Edmund Husserl und Jean-Paul Sartre sind aus literaturwissenschaftlicher Perspektive dahingehend anregend, da dort dezidiert zwischen materiellen Bildern und Vorstellungen, image und imagination unterschieden wird.12 Dass die theoretische Reflexion von Bildlichkeit keineswegs in disziplinärer Eintracht erfolgt, wird deutlich, wenn beispielsweise die unterschiedlichen Ansätze der Gestaltpsychologie und der Zeichentheorie respektive Semiotik aufeinandertreffen.13 Zwar wird das bildwissenschaftliche Forschungsfeld maßgeblich von Kunstwissenschaftlern und Philosophen dominiert, dem Frankfurter Germanisten Volker Bohn kommt jedoch das Verdienst zu, 1990 erstmals die Vielfalt der Ansätze „Bildlichkeit“ theoretisch zu reflektieren, zusammengefasst zu haben.14
Bilder und Bildlichkeit im Werk Grünbeins Der vorliegende Band möchte die aktuellen Diskussionen um das Bild, die Bildlichkeit und die Bildtheorie für die literaturwissenschaftliche Analyse fruchtbar machen und das Werk Durs Grünbeins daraufhin befragen, ob und wie neuere bildtheoretische Ansätze für das Verständnis von zeitgenössischer Lyrik ertragreich gemacht werden können. Das Werk Durs Grünbeins eignet sich für diesen Ansatz auf besondere Weise, da er sich selbst intensiv mit dem Verhältnis von bildender Kunst und Literatur auseinandergesetzt hat – nicht zuletzt, weil er
|| 10 Vgl. Konrad Fiedler: Schriften zur Kunst. Hrsg. von Gottfried Boehm. München 1991; Homo pictor. Hrsg. von Gottfried Boehm. München u.a. 2001. 11 Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Reinbek b.H. 1997. 12 Lambert Wiesing: Phänomene im Bild. München 2000, S. 45ff. 13 Vgl. hierzu Ernst H. Gombrich, Julian Hochberg, Max Black: Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit. Aus dem Englischen von Max Looser. Frankfurt a. M. 1977. Ernst Gombrich stand zu der Zeit auch im Disput mit Nelson Goodmann. 14 Vgl. den Sammelband Bildlichkeit. Hrsg. von Volker Bohn. Frankfurt a.M. 1990.
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sich selbst Ende der 1980er-Jahre als Performancekünstler versucht hat15 und immer wieder mit bildenden Künstlern zusammenarbeitet.16 Diese produktive Auseinandersetzung mit den bildbasierten Künsten schlägt sich nicht nur in seiner Lyrik, sondern auch in Essays und Interviews nieder.17 Zentral sind seine Überlegungen in einem Interview, das 2001 der Journalist Heinz-Norbert Jocks mit ihm geführt hat: „Literarische Bilder“, sagt er dort, „drehen sich um das Imaginäre des Imaginären. Gemälde, Fotografien, Filme und Videos betonen die materielle Seite der Imagination.“18 Die Differenz zwischen Literatur und bildbasierten Künsten sieht Durs Grünbein in der Art und Weise, wie beide die Vorstellungskraft des Rezipienten anregen. Der Leser von Literatur geht mit dem Autor einen fiktionalen Pakt ein. Er ist sich beim Lesen bewusst, dass er sich in eine imaginierte oder fiktive Welt begibt. Zwar ist die Diegese im Akt des Lesens real, der Leser ist sich aber über deren Kunstcharakter im Klaren. Dieses Spiel mit der Imagination unterscheidet sich insofern von der Auseinandersetzung mit den bildbasierenten Künsten, als letztere dem Rezipienten eine Welt zeigen, die er aus der Fläche in die Realität übersetzen muss. Der Übersetzungscharakter ist damit ein anderer. Gerade aus dieser unterschiedlichen Rezeptionshaltung entsteht aber eine Spannung, die sich hervorragend für die Arbeit von Autorinnen und Autoren mit intermedialen Bezügen und der Auseinandersetzung mit Fragen der Bildlichkeit in der Literatur eignet. Bereits im ersten Gedichtband Grünbeins Grauzone morgens aus dem Jahr 1988 finden sich nicht nur Bezüge zur bildenden Kunst,19 sondern auch verschiedene Formen literarischer Bildlichkeit, z.B. in dem Gedicht Farbenlehre, die eine präzise Beschreibung von Grünbeins ‚Bildpoetik‘ ermöglichen.20 Diese differenziert sich in seinen nachfolgenden Gedichtbänden aus. Durs Grünbein
|| 15 Vgl. dazu Noël Reumkens: Kunst, Künstler, Konzept und Kontext. Intermediale und andersartige Bezugnahmen auf Visuell-Künstlerisches in der Lyrik Mayröckers, Klings, Grünbeins und Draesners. Würzburg 2013, S. 225ff. 16 Vgl. Markus Lüpertz, Durs Grünbein: Daphne – Metamorphose einer Figur. Anlässlich der Ausstellung Markus Lüpertz ‒ Durs Grünbein, Daphne – Metamorphose einer Figur. Hrsg. von Andrea Firmenich. Köln 2005. 17 Vgl. zu dem Verhältnis von Bildlichkeit und Essay den Beitrag von Silvia Ruzzenenti in diesem Band. 18 Durs Grünbein, Heinz-Norbert Jocks: Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. Köln 2001, S. 35. 19 Vgl. hierzu Noël Reumkens: Concept(ion) versus Ekphrasis. Durs Grünbein’s Approach to the Pictorial Arts. In: Durs Grünbein: A Companion. Hrsg. von Michael Eskin, Karen Leeder und Christopher Young. Berlin, Boston 2013, S. 119–144. 20 Vgl. den Beitrag von Andreas Degen in diesem Band.
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erprobt anhand neuer Themen und Motive, z.B. in der Auseinandersetzung mit der Hirnforschung und der Quantenphysik, auch formal neue Zugänge zu einer spezifisch literarischen Bildlichkeit. Dabei steht in dieser ersten Werkphase neben den Themen der Gedichte vor allem die Auseinandersetzung mit der Wirkung des sprachlichen Materials im Fokus seiner theoretischen Reflexionen. Seine Frankfurter Poetikvorlesung Vom Stellenwert der Worte beendet Durs Grünbein im Jahr 2009 mit einigen „verstreute[n] Behauptungen, […] Ansätzen zu einem zukünftigen persönlichen Manifest“.21 Dabei geht es ihm um die Reflexion der Möglichkeitsbedingungen von Literatur. Im Zentrum steht die titelgebende Überlegung zum Verhältnis von „Schwingungswert und Stellenwert des in den Vers gebundenen Wortes“.22 Dieses bestimmt er wie folgt: Alles kommt darauf an, das Wort an der richtigen Stelle im Vers anklingen zu lassen, nicht zu früh, nicht zu spät. Der Stellenwert ergibt sich aus dem Bedeutungszusammenhang im Gedicht, seiner semantischen Architektur, aber auch, da jedes Gedicht zugleich ein dramatisches Ereignis ist, aus seiner Dramaturgie, das heißt der inneren Struktur, die auf eine größtmögliche Wirkkraft der Worte angelegt ist. Der Stellenwert bestimmt sich demnach sowohl semantisch und kontextuell als auch prosodisch und erst in zweiter Linie grammatisch. Im elektrischen Feld des präzisen Kontexts erst blüht das Wort im Gedicht zu voller Größe und Wirkung auf.23
Das Gedicht wird von Grünbein als komplexes Gebilde beschrieben, bei dem weniger die Grammatik, also die Verbindung der Zeichen eine Rolle spielt, als vielmehr die mit dem einzelnen sprachlichen Zeichen verbundene Bedeutung und die klangliche Qualität des Wortes, die sich im Rhythmus des Verses, der Prosodie, niederschlägt. Auch wenn Grünbein das Gedicht als „dramatisches Ereignis“ versteht und damit eine Spannung auf der Inhaltsseite zu seinen wichtigen Merkmalen gehört, konstituiert es sich zuerst und in erster Linie als klangliches Gebilde. Diese poetologische Standortbestimmung räumt dem einzelnen Wort als kleinste bedeutungstragende Einheit eine zentrale Funktion ein. Diese wird vom Lyriker nur aufgerufen, denn die Erfahrung, die Voraussetzung der Bedeutungsstiftung ist, wird vom Rezipienten selbst eingebracht. Kognitionswissenschaftlich liegt also ein Top-Down-Prozess vor. Dem Wort wird aufgrund einer ‚persönlichen Einsicht‘ Bedeutung zugewiesen. Ästhetikgeschichtlich würde man hier eher auf die Anregung der Phantasie oder der Vor-
|| 21 Grünbein, Vom Stellenwert der Worte, S. 51. 22 Ebd., S. 53. 23 Ebd., S. 53f.
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stellungskraft des Individuums verweisen, die das Gedicht in der Rezeption zu einem besonderen Erlebnis macht. Das Beziehungsgeflecht, das in einem solchen Verständnis des Gedichtes als ‚Beschwörungszauber‘ entwickelt wird, ist aufgrund der untergeordneten Bedeutung der grammatikalischen Strukturen zwar beim Lesen zu erfassen, aber seine Wirkung ist nur schwer beschreibbar. Wie dieser Prozess des Lesens aussieht, beschreibt Durs Grünbein in einer weiteren Notiz: Das Anschauliche des Gedichts verdankt sich einem Ultraillusionismus des Geistes. Gedichte werden gleichsam mit geschlossenen Augen gelesen. Aus Analogien und Metaphern rekonstruiert der Leser eine Welt im Licht seines inneren Himmels. Er liest im Gedicht in sich selbst.24
Die inneren Bilder oder die Evokation von Vorstellungen beim Lesen machen die Wirkung jeden Gedichts aus. Bildlichkeit in der Definition Grünbeins verbindet damit Produktion und Rezeption.25 Dabei kommt es darauf an, dass dem Gedicht eine Spiegelfunktion zugewiesen wird, die den Leser auf sich selbst zurückverweist. Eine solche Spiegelfunktion können aber nicht nur Gedichte oder sprachliche Bilder übernehmen. Im Gedichtband Nach den Satiren (1999), der im Fokus des vierten Teils des Bandes steht, erprobt Durs Grünbein mit der Abwendung vom Sarkasmus hin zu komischen Schreibweisen nicht nur neue Formen der literarischen Bildlichkeit,26 sondern nimmt wiederholt Bezug auf Rezeptionsprozesse von materiellen Bildern in Form von Fotografien und Gemälden. Hier zeigt sich, dass die Rezeption von Kunst Grünbein nicht nur theoretisch beschäftigt, sondern sich auch in seiner Lyrik produktiv niederschlägt. Der Bogen, den er von den Gemälden des Malers Andrea Mantegna aus dem 15. Jahrhundert über Ausgrabungsstücke aus Pompeji und Herculaneum zu aktuellen Fotografien und Röntgenbildern schlägt,27 beeindruckt nicht nur den Leser, sondern zeigt auch die für Grünbeins Lyrik charakteristische Transformation des Alltäglichen in ein literarisches Ereignis. Dabei verdeckt seine Aussage im Interview mit Heinz-Norbert Jocks
|| 24 Grünbein, Vom Stellenwert der Worte, S. 57. 25 Damit denkt Grünbein eine bereits in der antiken Rhetorik entwickelte Überlegung zum Verhältnis von Bild und Rede weiter. So stellt Frauke Berndt in Bezug auf Quintilian fest: „Die Bildlichkeit der Rede findet vielmehr ‚im Kopf‘ der Hörerinnen und Hörer statt, ja verdankt sich einem Akt der (Vor-)Täuschung.“ (Frauke Berndt: 2.2 Literarische Bildlichkeit und Rhetorik. In: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Hrsg. von Claudia Benthien und Brigitte Weingart. Berlin, Boston 2014, S. 47‒68, hier S. 50) 26 Vgl. dazu den Beitrag von Burkhard Meyer-Sickendiek in diesem Band. 27 Vgl. hierzu den Beitrag von Anne-Rose Meyer in diesem Band.
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wohl eher seine sprachliche Arbeitsweise, als den Blick für die wirkliche Leistung des Lyrikers und Essayisten zu schärfen: Zumindest als Zuschauer kann ich mich gut hineinversetzen in andere ästhetische Felder. Das beste ist, daß man als Schriftsteller frei ist in der Betrachtung, unbelastet vom Clinch mit der Materie. Man muß kein Bild gemalt haben, um mitzureden über die sogenannte Peinture.28
Wie Sonja Klein in einem Beitrag zu Durs Grünbeins Verserzählung29 Vom Schnee oder Descartes in Deutschland überzeugend gezeigt hat, geht es Grünbein weniger darum, an die Materialität von Bildern zu erinnern und deren Gemachtheit zu beschreiben, sondern er wird im Schreibprozeß selbst zum Maler, der sein Papier zur Leinwand macht, der seine Bilder in den Schnee malt, so daß sich die geschilderten Gemälde bald von ihren Originalen ablösen, ein Eigenleben entwickeln und miteinander korrespondieren. Das Museum […] ist denn auch eines, das nur im Kopf be- und entsteht.30
Ob der malende Lyriker Grünbein dabei auf reale Gemälde, Fotografien oder Röntgenbilder zurückgreift, bleibt sekundär. Wichtig ist der ‚Eindruck‘, den Dichtung auf der „inneren Retina“ hinterlässt: „Wenn es ihr gelingt, findet sie hin und wieder das schlagende Bild, das auf der inneren Retina bleibt und einen lebenslang schützt und begleitet.“31 Dieses Statement steht am Ende von Durs Grünbeins autobiografischem Essay Fußnote zu mir selbst. Es macht einsichtig, wie wichtig das poetische Bild und damit das eine unauslöschliche Erinnerung oder auch nie gemachte Erfahrung in der Phantasie des Lesers evozierende ‚innere‘ Bild für die Poetologie und die Lyrik Durs Grünbeins ist.
|| 28 Grünbein; Jocks, Durs Grünbein im Gespräch, S. 25. 29 Der Begriff der Verserzählung wurde interessanterweise für Grünbeins Text bislang nicht verwandt. Dabei stellt er sich mit seinem Text in eine literarische Tradition, die ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert mit Christoph Martin Wielands philosophischen Verserzählungen gefunden hat. Grünbein gelingt es auf beeindruckende Weise zu zeigen, dass dieses Genre auch für den gegenwärtigen Leser mit Gewinn zu entdecken ist. Interessant wäre es, hier den Aufsatz von Rüdiger Zymner zur Bedeutung der langen Verserzählung in der englischsprachigen Literatur in Bezug auf den Text Grünbeins weiterzudenken: Rüdiger Zymner: ‚There is nothing hotter than a terific verse novel.‘ Zur Konjunktur der langen Erzähldichtung. In: Comparatio. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 1 (2009) H. 1, S. 145‒162. 30 Sonja Klein: „Imago für Imago von der Schöpferwelt dort draußen“ ‒ Durs Grünbeins Vom Schnee oder die Melancholie der Sprache. In: Symposium 63 (2009), H. 3, S. 207‒219, hier S. 212. 31 Durs Grünbein: Fußnote zu mir selbst. In diesem Band S. 295‒298, hier S. 298.
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Das Konzept des Sammelbandes Der Sammelband Bildlichkeit im Werk Durs Grünbeins ist mehr als ein Tagungsband zu der im Jahr 2012 von der Thyssen-Stiftung geförderten Tagung Bilder, Bildlichkeit und Bildtheoretisches. Ansätze einer modernen Bild-Epistemologie im Werk Durs Grünbeins. Er ist Produkt eines produktiven Dialogs mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und mit dem Autor Durs Grünbein selbst. In seinem wissenschaftlichen Teil zum Werk Durs Grünbeins folgt der Band den knapp skizzierten Feldern – der Funktion und Reflexion literarischer Bildlichkeit (II), deren Bedeutung für den Erkenntnisprozess des Lesers (III) und der Bezugnahme auf materielle Bilder im Gedichtband Nach den Satiren (IV). Welche Definitionen von Bild und Bildlichkeit Durs Grünbein in seinem Werk sowohl explizit als auch implizit formuliert und reflektiert, untersuchen die Beiträge. Neben der Frage nach der Poetik – Grünbeins streng gehütetem „Kochrezept“32 – steht dabei die von Grünbein selbst angeregte Frage nach der Bedeutung der Rezeption für die (zeitgenössische) Lyrik im Hinblick auf die mit der Evokation von Bildern einhergehende Wirkungsästhetik im Fokus. Der Sammelband wird aber auch durch einen äußerst produktiven Dialog mit dem Autor Durs Grünbein selbst bereichert. An dieser Stelle gilt Durs Grünbein ein herzlicher Dank. Nicht nur dafür, dass er bereit war, mit Michael Eskin in einem eigens für diesen Band geführten Interview seine bildtheoretischen Positionen offenzulegen und damit die Reflexion der im Rahmen der Tagung diskutierten bildtheoretischen Konzepte durch die Formulierung seiner eigenen Ansichten anzuregen. Darüber hinaus war Durs Grünbein auch bereit, mit einer Auswahl eigener Texte einen literarischen Beitrag zur Bilddiskussion zur Verfügung zu stellen. Der Dialog zwischen Kolleginnen und Kollegen und mit dem Autor selbst ist damit begonnen. Er hat die Arbeit am Sammelband sehr bereichert. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir diesen Dialog in der Zukunft auf die eine oder andere Weise weiterführen könnten. Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle der Fritz Thyssen Stiftung. Ohne die großzügige Tagungsförderung wäre es uns nicht möglich gewesen, den Gesprächsfaden aufzunehmen. Darüber hinaus möchte ich denjenigen danken, mit denen der Dialog im Verborgenen geschah, ohne deren Unterstützung und Diskussionsbereitschaft der Band aber nicht in der heutigen Form vorliegen
|| 32 Grünbein, Vom Stellenwert der Worte, S. 51.
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würde: Eleonore Michel hat einen großen Teil der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge übernommen und mit ihrer gründlichen Lektüre und ihrer Diskussionsfreude wesentlich zum Gelingen des Bandes beigetragen. Felix Mayer hat die abschließende Korrekturlektüre übernommen und mich damit in der Endphase sehr entlastet. Und nicht zuletzt hat Dr. Manuela Gerlof mit ihrer Vermittlung in schwierigen Zeiten und dem Vertrauen in das Buchprojekt nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass der Band in der heutigen Fassung vorliegt. Einen herzlichen Dank dafür.
Literaturverzeichnis Benthien, Claudia; Weingart, Brigitte (Hrsg.): Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Hrsg. von Claudia Benthien und Brigitte Weingart. Berlin, Boston 2014. Berndt, Frauke: 2.2 Literarische Bildlichkeit und Rhetorik. In: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Hrsg. von Claudia Benthien und Brigitte Weingart. Berlin, Boston 2014, S. 47‒68. Boehm, Gottfried (Hrsg.): Homo pictor. München u.a. 2001. Boehm, Gottfried (Hrsg.): Was ist ein Bild? München 1994. Bohn, Volker (Hrsg.): Bildlichkeit. Frankfurt a.M. 1990. Fiedler, Konrad: Schriften zur Kunst. Hrsg. von Gottfried Boehm. München 1991. Furbank, Philip Nicholas: Reflections on the word ‚image‘. London 1970. Gombrich, Ernst H.; Hochberg, Julian; Black, Max: Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit. Übers. von Max Looser. Frankfurt a.M. 1977. Grünbein, Durs: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Berlin 2010. Grünbein, Durs; Jocks, Heinz-Norbert: Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. Köln 2001. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Ästhetik III. Frankfurt a.M. 1970. Horstkotte, Silke; Leonhard, Karin (Hrsg.): Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text. Köln u.a. 2006. Killy, Walther: Wandlungen des lyrischen Bildes. Göttingen 1956. Klein, Sonja: „Imago für Imago von der Schöpferwelt dort draußen“ – Durs Grünbeins Vom Schnee oder die Melancholie der Sprache. In: Symposium 63 (2009), H. 3, S. 207–219. Korte, Hermann: Bildlichkeit. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 1996, S. 257–271. Lüpertz, Markus; Grünbein, Durs: Daphne – Metamorphose einer Figur. Anlässlich der Ausstellung Markus Lüpertz – Durs Grünbein, Daphne – Metamorphose einer Figur. Hrsg. von Andrea Firmenich. Köln 2005. Reumkens, Noël: Concept(ion) versus Ekphrasis. Durs Grünbein’s Approach to the Pictorial Arts. In: Durs Grünbein: A Companion. Hrsg. von Michael Eskin, Karen Leeder und Christopher Young. Berlin, Boston 2013, S. 119–144. Reumkens, Noël: Kunst, Künstler, Konzept und Kontext. Intermediale und andersartige Bezugnahmen auf Visuell-Künstlerisches in der Lyrik Mayröckers, Klings, Grünbeins und Draesners. Würzburg 2013. Rorty, Richard: Der Spiegel der Natur. Frankfurt a.M. 1981.
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Simon, Ralf: Die Bildlichkeit des lyrischen Textes. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke. München 2011. Stiegler, Bernd: ‚Iconic Turn‘ und gesellschaftliche Reflexion. In: Trivium 1 (2008), http://trivium.revues.org/391 [15.12.2014]. Wiesing, Lambert: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Reinbek b.H. 1997. Wiesing, Lambert: Phänomene im Bild. München 2000. Zymner, Rüdiger: ‚There is nothing hotter than a terific verse novel.‘ Zur Konjunktur der langen Erzähldichtung. In: Comparatio. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 1 (2009), H. 1, S. 145‒162.
Michael Eskin im Gespräch mit Durs Grünbein
Von Augenmenschen und Ohrenmenschen Über die Bildlichkeit dichterischer Sprache Michael Eskin: Was verstehst du unter einem Bild und was bedeuten dir Bilder? Durs Grünbein: „Bilder bedeuten alles im Anfang“, lautet eine Zeile bei Heiner Müller, die mir lange Zeit nachging, auch weil sie scheinbar so einfach ist, aber in Wirklichkeit äußerst tückisch. Was soll das heißen: „Bilder bedeuten“? Und warum „im Anfang“? Kommt es denn später zu einer Abschwächung, bedeuten die Bilder dann weniger oder beginnt ihre Bedeutung zu schwanken oder zu verblassen? Lösen Bilder einen Prozess im Bewusstsein aus? Bilder scheinen im Betrachter etwas zu konstituieren, sie sind gleichzeitig Konstituenten und Konstellationen. Sie schaffen eine Sofortbeziehung zwischen den Dingen und sind im besten Fall – einprägsam. Sie haben also eine wichtige Gedächtnisfunktion. Und meine Vermutung ist nun: Für jeden Einzelnen von uns sind es andere, jeder hat seinen eigenen Bilderfundus. Es gibt die kollektiven Bilder, die in vielen Speichern überdauern, in vielen Gehirnen – und es gibt die subjektiven Bilder, mit deren Hilfe jeder für sich durch sein eigenes Leben navigiert. Die Poesie hat es zumeist mit den letzteren zu tun. Diese müssen aber so beschaffen sein, dass sie bis zu einem gewissen Grad übertragbar sind. Metaphern, die funktionieren, benötigen eine anthropologische Basis. Sie müssen im Leser etwas ansprechen, das längst in ihm vorhanden ist. Sie aktivieren sein Fühlen und Denken, indem sie ihn für Augenblicke in ihrer Anschaulichkeit ‚erleuchten‘. Da wir hier vom Schreiben reden (aber nicht nur vom Gedichteschreiben), ist es nützlich, die verschiedenen Arten von Bildern auseinanderzuhalten. Wir sagen ‚Bild‘, und meinen damit oft dreierlei zugleich: Erstens das Bild, das wir vor Augen haben, den Gegenstand, das Motiv, den Ausschnitt Welt usw. Zweitens das Bild als fertiges Gemälde, Photographie oder Reproduktion, auf die wir uns gemeinsam berufen. Und drittens das Sprachbild, das einiges mit der Augenwelt, mit dem Zirkus des Sichtbaren zu tun hat, aber noch mehr mit den Vorstellungen und Phantasien. Nur Realmenschen glauben an Abziehbilder. In Wirklichkeit sind Auge und Geist so trickreich verknüpft, dass sie sich gegenseitig immer neu verblüffen und hinters Licht führen. In jeder guten Gedichtzeile fechten Physis und Metaphysik ihren Kampf um das Imaginäre aus. Das Imaginäre aber deckt sich nicht mit dem Bild, von dem es heißt: Du sollst dir kein Bild machen. Das Imaginäre
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ist die Domäne und die Freiheit des Einzelnen, mit seiner Vorstellungskraft anzufangen, was immer er will. Für das Schreiben heißt das: Es ist das Wort, das die Bilder schafft, und es sind die Bilder, die wiederum die Worte nach sich ziehen, immer hübsch wechselseitig und gegenläufig. Dasselbe könnte ein surrealistischer Künstler von seinem Werk behaupten. Und die besten von ihnen haben es ohne Scheu auch getan. Das war das Neue an Künstlern wie Max Ernst, Apollinaire, Breton und ihren Vorläufern und Vorbildern wie Lautréamont oder Raymond Roussel. Das Wort zieht das Bild nach sich und umgekehrt: Das ist die Formel der avancierten Moderne. Dreitausend Jahre lang (wahrscheinlich auch mehr) gab es so etwas wie eine Ordnung der Bilder. Man nehme als Dokument nur ein Buch wie das des Philostratos aus dem 2. Jahrhundert nach Christus, die Eikones. Ein griechischer Gelehrter in Rom versucht sich an Bildbeschreibungen, seine Vorlage sind Wandgemälde mythologischen Inhalts. Er fand sie in den Villen der steinreichen Römer am Golf von Neapel. Es findet sich so gut wie alles darin, was den Bildsinn anspricht, vom Motiv des Herakles bei den Pygmäen (Vorbild für die Gulliver-Story) bis zu den Bienen, den Spinnweben, dem Thunfischfang, der Kunst der Stillleben oder Familienszenen bei den Kentauren als Höhepunkt antiker Malerei. Wie sieht es aus, wenn so ein kleines Pferdemenschenbaby gesäugt wird? Es sind Kompendien wie diese, mit denen die Kette der Wesen und Dinge geschmiedet wurde. Dazu vier Zeilen aus einem Notizbuch. Ich entdeckte sie neulich beim Aufräumen wieder. Sie sollten einmal einer Gedichtsammlung vorangestellt werden: Ich war ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch – nun lieg ich hier Am Grund der Aschengrube, niemands Halt. Ich hatte Pech. Die andern waren Kraut und Tier. Ich war wie dieser ferne Stern dort, kalt.
Es ist ein Ausschnitt, der Sprecher ist die Materie selbst. Ich war damals sehr verstrickt in Lukrez’ De rerum natura. Bei ihm finden wir übrigens ein ganzes Kompendium der verschiedenen Bildmodelle, mit denen der Poet/Philosoph als Beobachter den Naturphänomenen beizukommen versucht. Man hat gesagt, das Bild sei der Stillstand der Sprache. Das poetische Bild wäre demnach so etwas wie ein Veto gegen den Fluss der Rede und des Lesens. Dafür braucht es das ganze herrliche Brimborium der Metaphern, denn Metaphern sind bildtechnisch betrachtet das Rätselhafteste überhaupt. Sie inszenieren als Überraschung die Paradoxie aller Bildlichkeit, indem sie die logische Erwartung durchkreuzen.Sie tauchen oft unbegründet auf,und es fehlt ihnen auch die Pointe – und doch funktionieren sie nach den Eigengesetzen der Poesie.
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In der Dichtung geht es darum, Bilder zu finden, die unmittelbar einleuchtend und doch so unvertraut sind, dass sie in Staunen versetzen. Nur das bürgt für den kleinen Erkenntnissprung, um den alles sich dreht, in der Philosophie genauso wie in der Kunst. Das Bild ist etwas, das aus dem Strom des Realen ragt und dem man dann lange nachschaut im Weiterfließen. Bilder unterbrechen den Zeitablauf oder schmiegen sich ihm an, wie beispielsweise im Film. Michael Eskin: Wie schafft es ein dichterisches Bild, unmittelbar einleuchtend und unvertraut zugleich zu sein? Sind alle unmittelbar einleuchtenden, obwohl unvertrauten Bilder eo ipso dichterische Bilder? Oder gehört noch etwas anderes dazu, aus einem derartigen Bild ein dichterisches Bild zu machen? Durs Grünbein:Wenn ich das Rezept wüsste, könnte ich Gedichte wie Plätzchen backen. Das dichterische Bild schafft einen Kontrast zum Gewohnten, es überrascht uns als sonderbare Fügung. Der Explosionseffekt entsteht dadurch, dass im dichterischen Bild denkbar weit entfernte Elemente blitzartig miteinander verbunden werden. Aus der nie dagewesenen Verknüpfung springt der Funke. Es sind dies aber nur Explosionen innerhalb der Psyche. Sie sind in nichts den äußeren Sensationen vergleichbar, die durch die Retina auf uns einstürmen. In Gedichten wird aus Verweisen und Vergleichen die ganze Materie noch einmal gewebt, in Sprüngen durch Raum und Zeit. Vielleicht muss alle interessante Poesie ihrem Wesen nach manieristisch sein, denn sie braucht, um zu ergreifen und zu irritieren, immer einen gewissen Überschwang. Sie setzt sich dem Risiko des Befremdens aus, indem sie Verfremdungen anstrebt, wozu es naturgemäß der Halluzinationen bedarf. Ob ein Bild ‚gesucht‘ oder glücklich gefunden ist, kann sie oft selbst nicht sagen. Michael Eskin: In dem Bild vom Bild als etwas, das „aus dem Strom des Realen ragt und dem man dann lange nachschaut im Weiterfließen“, ist weder ganz klar, ob Bild oder Betrachter sich bewegt, noch auch was mit dem Bild hinsichtlich des Realen passiert. Wird es Teil dessen? Und wenn ja, was passiert mit ihm, sobald es nicht mehr aus dem Realen herausragt? Und macht es einen Unterschied, ob wir oder die Bilder in Bewegung sind – oder beide? Durs Grünbein: Die Psyche ist immerfort in Bewegung – erst recht beim Lesen. Es ist die schnellste Fortbewegungsform, die es gibt, schneller als alle Transrapidzüge und Überschallflugzeuge. Man ist in einem Augenblick in Hawaii und schon im nächsten wieder in seinem Liegestuhl zurück. Das poetische Bild aber kann lange fortwirken, manchmal ein Leben lang. Es hält sich nicht an das Zeit-
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bewusstsein. Der Betrachter bewegt sich weiter, aber das Bild bewegt sich mit ihm mit. Da man poetische Bilder nicht wirklich ‚sehen‘ kann, ist es Unsinn, vom Nachschauen zu sprechen. Etwas ragt aus dem Strom des Realen, und man sinnt ihm dann lange nach. Michael Eskin: Inwiefern ist dein Verständnis der Metapher als etwas, das vor allem deswegen funktioniert, weil es „im Leser etwas anspricht, das längst in ihm vorhanden ist“, mit dem „objective correlative“ T. S. Eliots verwandt und mit dem Bildverständnis bzw. der Bildverwendung in der Dichtung der Moderne im Allgemeinen, z.B. als eines der sprachlichen Mittel der Verfremdung bei maximaler Nähe zur Wirklichkeit, zu den Dingen selbst? Ich denke hier vor allem an Viktor Schklovskij Programm des „neuen Sehens“ und Ezra Pounds Postulat des „Direct treatment of the ‚thing‘ whether subjective or objective“. Durs Grünbein: Wenn ich das so genau wüsste. Die genannten Herren haben, soweit ich weiß, auf den Konstruktivismus der Kunst großen Wert gelegt. Sie haben das Verfahren betont, und das Verfahren hieß immer Verfremdung. Alles drehte sich um die Veränderung der Wahrnehmung, um den Aufbau von Widerständen, der ein allzu leichtes Verständnis verhindern, das Erlebnis des Kunstwerks verlängern sollte. Das war der Weg der Kunst in die technische Moderne. Die Frage, wie bringt man auch ein Luftgebilde wie das Gedicht, etwas so Sublimes und Immaterielles, auf die Höhe von Automobil, Funkturm und Maschinengewehr. Am Ende lief es für die Dichtung auf die prismatische Zerlegung der neuen Realitäten hinaus. Manche sind hier sehr radikal vorgegangen, auch in der Auflösung der Dinge und des Betrachtersubjekts – zum Beispiel die Surrealisten. Auf eine gewisse Weise hat erst der Automatismus des entfesselten Surrealismus Ezra Pounds Postulat erfüllt. Aber alle diese Entwicklungen sind nun im besten Falle fest integriert im Bewusstsein der heute Wachsamen. Und mittlerweile wissen wir auch etwas mehr über die Biochemie der Sache. Vielleicht ist ja mein Traum die direkte Injektion: Gedichtzeilen, die unmittelbar ins Blut gehen. Warum trifft ein bestimmter Ton? Warum schließen sich manche Bilder, bei aller Inkongruenz, enger an die Existenz an als andere? Michael Eskin: Eines der Gedichte, das auf einer deiner Japan-Reisen entstand und der Tradition des Haiku verpflichtet ist, lautet: Im Rinnstein schwimmt, schau: Eine einzelne Nudel. Der Regen kocht Suppe.
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Wie nah fühlst du dich dem Imagismus, der sich ja auch auf fernöstliche Modelle berief? Und was können wir von Dichtern wie H. D. (Hilda Doolittle), Pound, T. E. Hulme und W.C. Williams heute noch lernen hinsichtlich der Macht und Signifikanz des Bildes? Durs Grünbein: Das sind alles ehrwürdige Programme gewesen, und man staunt, wie viel Kunsttheorie in sie eingeflossen ist. Der Imagismus war so etwas wie das Zerreißen der Spinnweben, die sich um das Gedicht gelegt hatten, als Rhetorik und in Form einer abgegriffenen Bildlichkeit, wie sie für den Symbolismus und die epigonale Neo-Romantik typisch war. Also weg mit dem ganzen Brimborium und her mit den einzelnen scharfen Details. Es ging darum, das Bild aus dem Zusammenhang zu reißen und rein für sich stehen zu lassen. Bei T. S. Eliot hat das zu einer ganzen Reihe herrlicher Paradoxien geführt, die uns heute noch in Erregung versetzen können. Bei W. C. Williams dagegen zu einer neuen Einfachheit des Ausdrucks, die ihn zum Paten machte für vieles, was in der amerikanischen Poesie nach dem Krieg dann geschah, von den Beatniks bis hin zur neuen narrativen Sachlichkeit des amerikanischen Durchschnittsgedichts, die Verwendung von Umgangssprache und überraschend geläufigen Bildern. Ezra Pound hat es wie so oft theoretisch etwas übertrieben. In den Cantos gibt es wunderbar abstrakte imagistische Stellen – für den, der das zu schätzen weiß. Sie speisen sich sowohl aus vorhomerischen als auch aus asiatischen Quellen. Fernöstliche Bildästhetiken aber lassen sich nur bis zu einem gewissen Grad importieren, vieles bleibt als Exotismus wie hinter Glas. Das haben auch die Pariser Maler zu spüren bekommen, die Nabis, die Impressionisten, die eine Weile mit japanischen Ausdrucksmitteln experimentierten. Mir scheint, bei alldem wurde oft die tiefenpsychologische Seite der Sache vernachlässigt. Vielleicht war die russische Spielart des Imagismus – der Akmeismus – hier überzeugender, weil er die seelische Funktion ursprünglicher Bilder auch für den modernen Menschen besser verstand. Einig waren sich alle darin, dass es eine neue Klarheit des Ausdrucks brauchte. Wobei diese Klarheit, wie immer auf Seiten der Kunst, nichts anderes sein konnte als eine weitere Variante dessen, was die ästhetische Reflexion von Beginn an als verworrene Erkenntnis, als etwas verworren Geistiges definiert hatte. Einige der Modernen (z.B. Joyce, aber auch Pound) betrachteten sich gewissermaßen als Metaphernhistoriker. Unter Berufung auf die Philosophie Giambattista Vicos konnten sie den Sprung zurück zu Homer als einen Sprung in die Ultramoderne verkaufen, indem sie das Abstrakte und das Konkrete zu versöhnen suchten, wie am vermeintlichen Ursprung der Bilder. Die nächsten, die das Spiel dann auf die Spitze trieben, waren die Surrealisten. Ich rede von Spitze, weil diese Leute niemals zu den Wurzeln vordrangen,
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und zwar aus freien Stücken. Ihr Instinkt sagte ihnen, dass sie auf alle Philologie, auf alle klassische Hermeneutik verzichten mussten. Sie lehnten das alles als Literatur ab und suchten die Wahrheit der Bilder unmittelbar in ihrer Entfesselung durch das automatische Schreiben. Die richtigen Bilder würden sich von selbst einstellen durch die Arbeit des Unbewussten, daran glaubten zumindest Breton, Soupault und Éluard eine Zeit lang. Andere sprangen auf den fahrenden Zug auf und versuchten es mit einer Balance aus Kontrolle und traumnaher Bildlichkeit. Man kann die Spur des Surrealismus seither bei vielen europäischen Dichtern und erst recht natürlich bei den Südamerikanern wiederfinden. Die Frage ist aber immer: Handelt es sich nur um eine neue Malweise oder zeigt sich in den bildgebenden Verfahren der menschliche Geist unmittelbar bei der Arbeit? Das Verführerische an der Poesie ist, dass sie das Problem nie endgültig lösen kann. Es gibt keine ein für alle Mal gültige Methode zur Herstellung eindringlicher Bilder. Und außerdem: Einmal ein Bild auszuschöpfen bis zu Ende, wer das könnte ... Michael Eskin: Stehen dein Bildbegriff und deine dichterische Bildverwendung und -gestaltung in einem intendierten Dialog mit zeitgenössischen Bildtheorien bzw. Bilddiskussionen sowohl im philosophisch-textkritischen als auch im (neuro)wissenschaftlich-kognitiv-linguistischen Bereich? Hier habe ich u.a. William J. Thomas Mitchells Picture Theory, Ralf Simons Dichtung-alsBildkritik Projekt, sowie die sog. Imagery Debate im Sinn. Wenn ja, inwiefern? Und wenn nicht, könntest du dann den Dialograum, in dem dein theoretisches Nachdenken über Bilder sich bewegt, etwas genauer abstecken? Durs Grünbein: Interessant sind solche Theorien allemal. Nur nützen sie dem Praktikanten der Wirklichkeit wenig. Mit einer Theorie vom Fliegen im Kopf kann man noch lange nicht abheben. Dasselbe gilt für die schönen neuen Bildtheorien aus Kunstgeschichte und Naturwissenschaft. Dichtung ist immer zugleich Bildkritik, da sie per se Imagination in Bewegung ist und also Auflösung des Gegenstandes betreibt. Die Unruhe des Geistes, für die die Philosophie immer wieder Regeln und Beschränkungen sucht, stellt sich wie von selbst jedes Mal wieder her, wenn man interessante Gedichte liest. Aber da ist noch ein Aspekt, den die Nachkriegsmoderne deutlich gemacht hat. Das war vielleicht das Segensreichste am sogenannten Freien Vers (den ich als Dogma nicht besonders mag). Folgendes hat sich gezeigt: Das Gedicht als Bild (Gemälde) und die Bilder im Gedicht sind zweierlei. Auch das moderne Gedicht, nach dem Verständnis eines Hugo Friedrich etwa, war doch bei aller Vielfalt der Ausdrucksformen und Strukturen noch immer Gedicht geblieben. Erst nach dem Krieg gab es, vor allem in Amerika, Versuche, das Gedicht als
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Fläche, Malfläche zu begreifen. Kann man die Worte auf einer Buchseite wie Farben verteilen? Oder wie einzelne Formelemente, in derselben Weise wie Kandinsky oder Miró es für die Malerei beansprucht haben? Gibt es einen Abstrakten Expressionismus in den Feldern der Poesie? Man nahm also wiederkehrende Universalien wie ‚Stern‘ oder ‚Wind‘ oder ‚Meeresbrandung‘ und verteilte sie so, dass die Ode oder die offene Elegie oder das, was man schlicht das Poem nannte, einem wie ein Gemälde aus Worten erschien, abstrakt und konkret zugleich. Das war aber nicht mehr das traditionelle Gedicht, das seinen Sinn wie lauter Vögel aus dem Käfig der Zeilen entließ. Das war nun eine Art Informel mit den Mitteln des Wortschatzes und den Tricks der Grammatik. Man konnte das Gedicht nun lesen und zugleich betrachten (ich spreche nicht von Visueller Poesie, die in ihrer Frühform noch etwas Kindliches hatte – die Kalligramme des Apollinaire beispielsweise ‒, aber dann schnell leblos wurde). Ich spreche von einer Poesie, die gleitende Übergänge ermöglichte, verschiedene Schichten von Bildlichkeit aufdeckte. Wenn man lange genug hinsah und der Blick geschult war, erfüllte sich so das Horazische Ut pictora poesis auf eine ganz wundersame, noch nie dagewesene Weise. Michael Eskin: Wie kaum ein anderes Gedicht in deinem Werk inszeniert das Gedicht Raketen unterm Empyreum aus Strophen für Übermorgen das von dir angesprochene Thema der Bewegung der Imagination und der Auflösung des Gegenstandes, und zwar im Dialog mit dem philosophischen Denken im Allgemeinen und mit demjenigen Hegels im Besonderen. In Versen wie – um nur einige zu zitieren – Der Philosoph, wo er nicht spricht, agiert im dunkeln. Er scheut die Mythen, weil sie so unfaßbar sind. Kaum aber spricht er, überstürzen sich die Bilder [...] // Soweit das Falsche, hier auf Erden wiederkehrend Als Allgemeines: dieser Zirkus Sinnlichkeit [...] // Allez! Das ist es, was sich Dialektik nennt. / [...] In der Bewegung, satzweis, liegt der ganze Akt, Der erst gelingt, wenn sich die Bilder überstürzen [...]
verquickst du auf sinnfällige Weise die Diskurse des Denkens und des Dichtens, wobei sich der Dichter als eigentlich referentiell Denkender präsentiert, wohingegen der Philosoph sich als Metaphernkünstler entpuppt. Ausgehend von der Annahme, dass es hier um mehr geht als nur um die Wiederaufnahme von Derridas These hinsichtlich der konstitutiven Funktion der Metapher im Diskurs der Philosophie (Stichwort: ‚weiße Mythologie‘), möchte ich dich bitten, darauf einzugehen, wie du das Verhältnis siehst zwischen philosophischem und dich-
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terischem Denken (das du an anderer Stelle auch „Philosophie in Metren“ nennst), und welcher Stellenwert dem Bild in diesem Verhältnis zukommt? Durs Grünbein: Das eine sind die Bilder, und das andere ist die Problematik des Sehens. Simple Kunst hält sich mit Fragen der Abbildung auf, den interessanten, verstörenden Kunstwerken geht es um eine Bewusstwerdung des Sehens. Im Ringen um die Veränderung, die Erneuerung des Sehens liegt die wahre kognitive Revolution der Künste. „Ich lerne sehen“, sagt Rilke im Malte Laurids Brigge. Und damit war nicht das simple direkte Beobachten gemeint, sondern ein Sehen in Bildern und mit dem Herzen, ein synoptisches Sehen, das die Phänomene in der Zusammenschau wahrnimmt und im Innern verarbeitet. „Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles viel tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.“ Das ist eine ziemlich genaue Beschreibung dessen, was man das dichterische Denken nennen könnte. Das Subjekt geht dabei so weit in sich, dass es die anderen dort wiederfindet und zum allgemeinen Subjekt wird. Dabei beginnt es, die Dinge gleichsam schärfer zu sehen. Die Eindringlichkeit der poetischen Bilder verdankt sich dieser Bewegung nach innen, auf die gemeinsame Lichtung. Poesie bahnt den Subjekten Wege ins Innere, in einem Maße, das Philosophie nur in Umschreibungen andeuten kann. Dabei entstehen poetische Bilder nicht einfach durch äußerliche Vergleiche. Sie sind Erfindungen eines Sehens in der Synthese, überraschend und oftmals ungewöhnlich. Gerade die kleinen Schocks ihres Auftauchens machen den Reiz der Gedichte aus. Sie sind das, was man von den Gedichten erwartet und wovon man nie genug bekommen kann. Weshalb jemand, der in Gedichten zu denken gelernt hat, immer mehr davon braucht. Er wird sich nicht nur der einheimischen Lyrik verschreiben, sondern sich gerade in fremden Kulturen, entferntesten geographischen Räumen umsehen. Daher auch die unstillbare Sehnsucht nach älterer Poesie, nach den Romantikern, den Metaphernbaumeistern des Barock, den Passionen der Troubadours, dem ursprünglichen Formenreichtum und den Mythenvariationen antiker Dichter. Das Gedicht überrascht uns mit seiner Hinwendung zum Detail, es behält immerfort seine geistige Sprungfertigkeit. Der moderne poetische Geist kann es durchaus aufnehmen mit den Operationen der Philosophie. Aber es handelt sich nicht um ein Konkurrenzunternehmen, vielmehr ist es ein Vorstoß in gemeinsame Räume. Die Poesie hat ein riesiges Aufgabenfeld. Im Sichtbarmachen des Übersehenen liegt ihre Stärke, in der Vergegenwärtigung des Unsichtbaren. Doch ihre
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Königsdisziplin scheint mir die Veränderung der Sehweisen selbst. Damit leistet sie etwas, das die Philosophie uns immer nur versprechen kann – selten löst sie es ein. Womit ich sagen will, dass Poesie und Philosophie aufeinander angewiesen sind. Aus der Sicht einer Anthropologie des Geistes gehören sie zueinander. Ihr Dialog ist zu allen Zeiten nachweisbar, mal intensiver, mal schwächer bis hin zur Verleugnung. Doch ohne diesen Dialog stagniert das Denken. Sehr großmütig hat es Gaston Bachelard einmal so ausgedrückt: „Ein Philosoph, der in den Dichtungen das Wirken der metaphysischen Prinzipien sucht, entdeckt im poetischen Schaffen die formelle Ursache.“ Und noch eins: Entgegen landläufigen Vorstellungen ist die Poesie keine Repräsentantin des vormodernen Denkens und Daseins. Spätestens um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat sie ihren eigenen Rückzugstendenzen den Kampf angesagt. So ist das Neue an der modernen Lyrik – sagen wir, seit Baudelaire – gerade die Autonomie des Bildes. Es durchkreuzt die allgemeinen sprachlichen Umgangsformen und schafft sich seinen eigenen Ausdruck. „Das Bild ist eine reine Schöpfung des Geistes“, liest man bei Pierre Reverdy. „Es soll auf seinen eigenen Flügeln daherkommen.“ Die Poesie ruft die abwesende Wirklichkeit herauf. Sie ist ein Bewusstsein, das im Menschen den Möglichkeitssinn stärkt. Sie immunisiert ihn gegen das scheinbar Unveränderliche. Die Realität wird als abblätternder Firnis auf der Oberfläche der Welt sichtbar. Insofern ist die Poesie, trotz ihres scheinbaren Überhangs an elegischen Formen, immer auch Verheißung des Neuen, vielleicht noch nie Dagewesenen, zumindest Erinnerung an das Uneingelöste. Poetische Bilder können weite Lebensspannen umfassen, Horizonte aufreißen, blitzartig Teile des Universums erhellen, gerade weil sie sich nicht sklavisch an den Common Sense halten. René Char: „Bildhaft gesehene Zeit ist aus den Augen verlorene Zeit. Sein und Zeit sind zweierlei. Das Bild, wenn es über Sein und Zeit hinaus ist, strahlt und ist ewig.“ (Hypnos, 13) Michael Eskin: In dem Manifest-Gedicht Erklärte Nacht, das mit der Frage anhebt: „Oder Dichtung, was war das noch?“, ‚definierst‘ du die Metapher poetisch – das heißt, unter anderem, in einem Bild – folgendermaßen: Metaphern sind diese flachen Steine, die man aufs offene Meer Schleudert vom Ufer aus. Die trippelnd die Wasserfläche berühren, Drei, vier, fünf, sechs Mal im Glücksfall, bevor sie bleischwer Den Spiegel durchbrechen als Lot. […]
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Könntest du anhand dieser Verse erläutern, inwiefern sich hier Bilddenken abspielt, zumal auf den ersten Blick keine Auflösung des Gegenstandes betrieben zu werden scheint – oder vielleicht doch? Durs Grünbein: Dieses Gedicht war mehr eine Deklaration – wie schon der Titel sagt. Es arbeitet durchgängig mit Andeutungen und erhebt nicht den Anspruch auf eine Bildkritik. Ich möchte es eigentlich nicht weiter kommentieren. Die Mühe, herauszufinden, was da gesagt wird, sollen sich bitte andere machen. War die verklärte Nacht noch ein romantischer Topos (als solcher wird er von Schönberg bei der Vertonung des Dehmel-Zyklus’ ja regelrecht zitiert), so führt die Erklärte Nacht schon auf das Gelände der Sprachtheorie, man könnte auch sagen, hin zu einer Kritik des lyrischen Bewusstseins. Es reiht sich damit ein in eine Gattung selbstreflexiver Gedichte. Das alles gehört zum Nachdenken über das Metier. Wird darüber hinaus noch anderes angesprochen? Ich hoffe es, aber ich kann dazu nicht mehr sagen. Nur würde ich heute die Zeilen anders aufteilen, mehr nach Art einer Ode. Das scheint mir heute die stimmigere Form. ERKLÄRTE NACHT Oder Dichtung, was war das noch? Entführung In alte Gefühle … Stimmenfang, SilbenZauber, ars minor im elaboriertesten Stil. Die Kälte der Selbstbegegnung, ein Tanz Zwischen allen Stühlen. Nichts Halbes, Nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel. Dem einen Gebet ohne Gott, Andern das „Echt Absolut Reelle“. Jene Zickzacknaht – Vernunft, an Affekte Und Mythen gebunden – frischer Narben, Die den schläfrigen Leib markieren Mit empfindsamen Stellen. Rückkehr der Echos zur Quelle, zum Mund, Wo die Laute sich runden. Atembild, Gehaucht in die Frostluft, ins taufrische nihil. Magisches Gängelband, Ariadnefaden Durchs Dunkel der Aporien, Kette Aus Glücksmomenten bis zurück Zu den Mädchenbädern am Nil. Innigste Linie, nie in Zahlen zu fassen, So entflieht sie den Geometrien, Seit die Welt als beschreibbar gilt, In Formeln auflösbar, in Naturgesetze.
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Vergeßt dieses schamlose Ich und sein Du, Herbeigesehnt aus der Ferne. Der Vers Ist ein Taucher, er zieht in die Tiefe, Sucht nach den Schätzen am Meeresgrund, Draußen im Hirn. Er konspiriert Mit erloschenen Sternen. Metaphern sind diese flachen Steine, Die einer weit aufs offene Meer Schleudert vom Ufer aus. Die trippelnd Die Wasserfläche berühren: drei, vier, fünf, Sechs Mal im Glücksfall bevor sie bleischwer Den Spiegel durchbrechen als Lot. Risse, Die durch die Zeiten führen. Philosophie In Metren, Musik der Freudensprünge Von Wort zu Ding (und zurück). Geschenkt, sagt der eine, der andere: Vom Scharfsinn gemacht. Was bleibt, Sind Gedichte, Lieder, wie sie Die Sterblichkeit singt. Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus Aus der menschlichen Nacht.
Michael Eskin: In deinem Werk spielt die bildende Kunst eine zentrale Rolle – Gemälde und bildende Künstler gehören zu den Hauptakteuren deiner Dichtung wie auch deiner Prosa. Mantegna, Hals, Rembrandt, Vermeer, Duchamp und viele mehr stecken einen visuellen Dialograum ab, in dem deine Poetik sich aufspannt. Inwiefern hängt dein Nachdenken über das Bild bzw. die Rolle des Bildes in der Dichtung mit deinem Interesse an Gemälden zusammen? Und hat sich dein Bildverständnis gewandelt, seitdem du, als Dichter, an einer Kunstakademie bildenden Künstlern beim Nachdenken über künstlerische Ästhetik unter die Arme greifst? Durs Grünbein: Die Lust, aus der Sprache herauszuspringen, ist größer geworden. Das Vergnügen, in reiner Betrachtung zu versinken. Ein Gemälde hat den Vorteil, dass es dir auf einen Blick unendlich viel mehr Informationen herrüberreicht als ein Text. Und immer wird die Sinnlichkeit über die Semantik triumphieren, worauf die Maler besonders stolz sind – sie nennen es die ‚peinture‘. Die Malerei entführt mich also zunächst aus den Buchstabengehegen. Sie macht mir den Kopf frei für neue Ideen. Sie gibt mir einen Geschmack vom Abenteuer der Anschauung und stachelt mich auf, es ihr gleichzutun mit den Mitteln der Sprache. Von den alten Malern konnte man die Genauigkeit lernen, den Sinn für das sprechende Detail, für die Wirkungen des Lichts, die Hell-Dunkel-Effekte usw. Die modernen schickten einen in die Lehre der Verfremdung, der Aus-
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druckssteigerung durch Verknappung, die monomanische Konzentration, die Zergliederung der Objekte usw. Das alles sind sehr verschiedene Verfahren, aber als solche erinnern sie einen immer auch an das Gemachte in aller Kunst. Sie helfen der Intuition auf die Sprünge, gerade weil sie hier und dort übertreiben. Mir scheint nämlich, in so gut wie jeder Malerei steckt etwas Manierismus, und gerade das ist ihre Stärke. Es bleibt dabei, die Einfälle kommen einem noch immer von allein und aus heiterem Himmel. Aber die Ermunterung, sie in die eine oder andere verrückte Richtung weiterzutreiben, hat mir die Malerei gegeben. Nach dem Besuch mancher Retrospektive war ich regelrecht aufgeputscht, tagelang wie im Rausch. Zum Beispiel kann man von den Malern lernen, dass es sich lohnt, das Objekt zu belagern. In diese Kategorie gehören Meister wie Cézanne oder Morandi oder ein barocker Stilllebenmaler wie Sebastian Stoskopff. Dann gibt es die Jäger der verlorenen Zeit, zu denen ich Maler wie Bonnard oder Gerhard Richter zählen würde, und natürlich Vermeer, den Hellsichtigsten von allen. Wieder andere zeigen dir, wieviel Muster und Dekor in unserer Umwelt steckt – Matisse ist so einer. Und Matisse zeigt dir auch, dass Linien wie Akkorde funktionieren und also die sichtbare Welt durchaus musikalisch ist, wenn sie der richtige Tonfarbensetzer berührt. Die Kubisten haben die Gleichzeitigkeit der Perspektiven entdeckt – etwas, das mit Worten kaum zu erreichen ist. Man kann bei den Malern der verschiedensten Epochen in die Lehre gehen, und es wird immer ein Gewinn für den Schriftsteller sein. Die Frage, die sich daraus ergibt, begleitet vor allem die dichterische Produktion. Ist der Dichter primär ein Ohren- oder ein Augenmensch? In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich die Fraktionen in dieser Frage radikal aufgespalten. Wahrscheinlich ist er beides zugleich – in den besten Momenten. Er muss sich nicht entscheiden. Er denkt in Bildern und lässt sich vom Klang beraten: Die Tonspur begleitet den stummen Fluss der Bilder. Und noch etwas ist geschehen. Seit die Dichtung als fortlaufendes Spiel der überlieferten Formen in die Krise kam (seit der klassische Vers in die Krise kam und aufgesprengt wurde zum freien Vers), sind es die visuellen Künste, die ihr immer wieder Auswege zeigten. Nicht nur die Tafelbildmalerei – auch das Plakat, der Film, der Comicstrip und erst recht die Photographie. Auch der metaphorische Apparat steckte schließlich in einer Krise. Es war gut, dass ein Pedant wie Raymond Roussel gezeigt hat, wie ruiniert die Metapher längst war. Nun konnte man sehen, um welche Leere die Sprache kreist. Das war sehr heilsam, und es führte zu neuen Experimenten,und viele von ihnen eröffneten neue Bildräume. Man merkt oft erst beim wiederholten Mal Lesen, wie viel Bilderwissen in manchen Gedichten der Gegenwart steckt. Auch hat sich die Geographie des poetischen Bildraums enorm erweitert mit all den Möglichkeiten für Reisen,
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imaginären wie realen. In manchen Gedichtbänden geht es heute zu wie in den Sälen ganzer Gemäldegalerien. Von nun an kommt es zu den kühnsten Bildsprüngen, die Surrealisten hatten es vorgemacht. Auch hier wirkten die Schulen der Malerei als Befreiung. Das denkbar fern Auseinanderliegende rückt im Blitz des poetischen Bildes zusammen. Wer kennt das nicht: Mancher ist nach dem Verlassen der Sauna rot wie ein Hummer. Dazu passt ein Fundstück. Ich stieß eines Tages auf eine paradoxe Gegenüberstellung. Sie geht zurück auf ein Spiel, das einer der Ahnen des Surrealismus erfand,ein gewisser Isidore Ducasse, bekannt unter dem Pseudonym Comte de Lautréamont. Er war der erste, der die Frechheit besaß es auszuprobieren, in seinen nur fragmentarisch erhaltenen Gedankenskizzen unter dem Titel Poésies. Dort führt er das Zitieren ad absurdum, indem er die Aussagen einflussreicher Denker wie Pascal, La Rochefoucauld und La Bruyère zum Spaß in ihr Gegenteil verkehrt. Das Ziel war, unser Verhältnis zum Apodiktischen zu erschüttern. Breton, sein gelehrigster Schüler, nimmt den Faden auf und wendet mit seinem Freund Éluard die Technik auf Paul Valéry an, die höchste geistige Instanz seiner Zeit in Fragen der Poesie. Valéry und Anti-Valéry (Breton, Éluard), Noten zur Dichtung Im Dichter: Spricht das Ohr, Horcht der Mund; Zeugt und träumt der Verstand, das Wachen; Ist der Schlaf hellsichtig; Schauen Bild und Phantasma, Werden Mangel und Leere zum Schöpfer.
Im Dichter: Lacht das Ohr, Lästert der Mund; Tötet der Verstand, das Wachen; Träumt der Schlaf und ist hellsichtig Schließen Bild und Phantasma die Augen; Werden Mangel und Leere geschaffen.
Heute sind wir so weit, dass wir beide Positionen nebeneinander stehen lassen, ohne die eine mehr zu belächeln als die andere. Oder?
| II. Bilder, Bildlichkeit und Bildtheoretisches
Andreas Degen
Bildpoetik und Faszinationspoetik im Frühwerk Durs Grünbeins Die Begriffsnamen ‚Bild‘ und ‚Bildlichkeit‘ können in verschiedenen wissenschaftlichen Diskursen für sehr unterschiedliche Gegenstände und Konzepte stehen, die nur teilweise Gemeinsamkeiten aufweisen. Unter einem Bild können materiale Bilder (wie Gemälde, Zeichnungen, Pläne), optische Bilder (wie Spiegelungen, Lichtprojektionen), perzeptuelle Bilder (wie Landschaftseindrücke und andere konfigurierte Sinnesdaten), mentale Bilder (wie Imaginationen, Träume, Erinnerungen), typologische Bilder (wie Präfigurationen, Schemata, Inbegriffe) oder rhetorische Bilder (wie Metaphern und andere Tropen) verstanden werden.1 Für die meisten der genannten Bildbegriffe gilt, dass sie die Fähigkeit voraussetzen, etwas als zugleich anwesend und abwesend zu begreifen; Bilder zeigen zugleich sich selbst und etwas anderes.2 Dabei perspektiviert und interpretiert der Modus der Repräsentation das Repräsentierte.3 Dies gilt selbst für so realistische Bilder wie das Spiegelbild (optisches Bild), das Räumliches immer flächig und Kontinuierliches immer ausschnitthaft repräsentiert. Ausgehend von dem Kriterium der notwendigen Perspektivierungs- und Interpretationsleistung von Bildern liegt für die meisten Bildbegriffe die zentrale Funktion des Bildes gerade nicht in der Ähnlichkeitsbehauptung, sondern vielmehr darin, die „verborgenen Aspekte von Dingen bzw. die verdeckte Typik von Dingen zugänglich zu machen“.4 Im ästhetischen Erleben von Bildern verbindet sich damit eine die Aufmerksamkeit bindende und die psychischen Ressourcen des Betrachters stimulierende Wirkung:5
|| 1 Diese Übersicht unterschiedlicher Bildbegriffe orientiert sich an William J. Thomas Mitchell: Bildtheorie. Hrsg. und mit einem Nachwort von Gustav Frank. Frankfurt a.M. 2008, S. 20f. und Bernhard Asmuth: Bild, Bildlichkeit, A, B. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2: Bie– Eul. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen 1994, Sp. 10–21, hier Sp. 10. 2 Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007, S. 19. 3 Wilhelm Köller: Sinnbilder für Sprache. Metaphorische Alternativen zur begrifflichen Erschließung von Sprache. Berlin, Boston 2012, S. 38. 4 Ebd., S. 45. 5 Ralf Simon (Die Bildlichkeit des lyrischen Textes. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke. München 2011, S. 28) unterscheidet hingegen nicht objektbezogen (Bild und Referenzobjekt), sondern subjektbezogen (Bild und dessen Erscheinungsweise) zwischen Bild und Bildträger: Ein Gemälde ist nur ein Bildträger, erst seine Erscheinungsweise für einen Betrachter macht es zu einem Bild.
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Bilder halten uns einerseits gefangen, weil sie uns ein ganz konkretes Wahrnehmungsangebot für eine Sache machen. Sie regen uns aber gleichzeitig auch dazu an, dieses Wahrnehmungsangebot zu transzendieren, insofern sie deutlich machen, dass es sich dabei um einen ganz bestimmten medialen Zugang zu der jeweiligen Sache handelt und nicht um die Sache selbst.6
Für den perzeptuellen Bildbegriff (z.B. bildhafter Landschaftsausschnitt) scheint das Kriterium des „doppelten Zeigens“7 allerdings weniger ausschlaggebend zu sein, ebenso das damit verbundene, vielfach als konstitutiv für den Bildbegriff angesehene Kriterium einer Ähnlichkeit zwischen Bild und repräsentiertem Objekt.8 Der Bildbegriff resultiert hier (wie auch bei nicht gegenständlichen materialen Bildern, etwa abstrakter Malerei) eher aus dem Verhältnis von Rahmen (als Kontinuitätszäsur) und Umrahmtem; das Umrahmte wird durch den Rahmen zu einer Struktur verdichtet und als Gestalt exponiert.9 Das Rahmenkriterium spielt auch für andere Konzeptvarianten von Bildlichkeit eine zentrale Rolle; auf sprachbasierte Bildvorstellungen übertragen ließe sich etwa der Bruch einer anschaulichen Isotopie als Rahmen auffassen. Die Anwendbarkeit des – wie auch immer konzipierten – Bildbegriffs auf Texte ist, sofern damit nicht Metaphern oder andere Tropen gemeint sind, umstritten.10 In jedem Fall ist bei einer solchen Anwendung zu beachten, dass es sich dann um ein doppeltes Repräsentationsverfahren handelt: Zunächst wird „mit Wörtern als Zeichenträgern auf eine konkrete Sachvorstellung verwiesen“, die dann „ihrerseits selbst als Zeichenträger für eine weitere Verweisfunktion
|| 6 Köller, Sinnbilder für Sprache, S. 47. 7 Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 19. 8 Eine Ähnlichkeit zwischen Bild und Referenzobjekt ist nicht gegeben, sondern wird subjektiv zugewiesen; es kann ähnliche und weniger ähnliche Bilder geben. Ralf Simon (Der poetische Text als Bildkritik. Paderborn 2009, S. 78) weist auf die Wichtigkeit der Auswahl jener Elemente hin, die mit sparsamen Mitteln komplexe Eigenschaften des Referenzobjektes erkennbar werden lassen. 9 Simon, Der poetische Text als Bildkritik, S. 83 führt im Anschluss an Nelson Goodman Dichte als zentrales Kriterium von Bildlichkeit an: „Es ist erstaunlich, welche Dichte und Intensität allein dadurch erzeugt werden kann, dass man innerhalb eines Rahmens eine Figur formiert. Nirgendwo ist eine größere Dichte bei gleichzeitiger Sparsamkeit vorhanden, als bei Bildern.“ 10 Hermann Korte (Bildlichkeit. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. 2. Aufl. München 1997, S. 257–271, hier S. 257) spricht von einer „unbestimmten, unscharfen Bezeichnung für unterschiedliche Formen“ uneigentlicher Ausdrucksweisen. Einen knappen historischen Abriss des Bildbegriffs in der Literaturwissenschaft, etwa bei Roman Ingarden, Hermann Pongs und Walther Killy, bietet Sandra Richter: Wie kam das Bild in die Lyriktheorie? Präliminarien zu einer visuellen Theorie der Lyrik. In: Das lyrische Bild. Hrsg. von Ralf Simon u.a. München u.a. 2010, S. 63–78.
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dienlich gemacht wird“.11 Anders gesagt können die sprachlichen Signifikanten aufgrund einer arbiträren semiotischen Relation solche Vorstellungen evozieren, die als materiale, optische, perzeptuelle, mentale oder typologische Bilder aufgefasst und in ikonische Relation gestellt werden. Dadurch, dass bei sprachbasierter Bildlichkeit eine zweite, nicht ikonische, sondern arbiträre Repräsentationsstufe ins Spiel kommt, gewinnt hier die Perspektivierungs- und Interpretationsleistung von Bildern an Bedeutung. Das Proprium sprachbasierter Bildvorstellungen gegenüber visuellen Bildvorstellungen liegt darin, dass hier in viel größerem Maße Ähnlichkeit aktiv durch den imaginierenden Leser generiert werden muss.12 Im Anschluss an Jürgen Link soll im Folgenden unter einem sprachlichen, d.h. sprachbasierten Bild eine „kohärente Gruppe“ von Sprachzeichen verstanden werden, deren Signifikat „durch einen komplexen visuellen Signifikanten dargestellt werden kann“.13 Link bezeichnet eine solche Gruppe von visualisierbaren isotopen Sprachzeichen in Anlehnung an das barocke Emblem als Pictura. Die Pictura ist eine kohärente Gruppe isotoper Sprachzeichen, die im Leser spontan eine Vorstellung evoziert, die auch als Zeichnung, Inszenierung, Fotografie oder in anderer medialer Form visualisiert werden könnte. Eine solche anschauliche Vorstellung ist ein mentales Bild. Das sprachliche Bild (Pictura) eines Textes zielt also auf die spontane Evokation eines mentalen Bildes. Dieses wird durch die denotative Bedeutung der Sprachzeichen konstituiert, die im konkreten Repräsentationsakt durch Assoziationen des Lesers zu einer quasivisuellen Anschauung ergänzt und kognitiv-emotional aktualisiert werden. Dieses sprachbasierte mentale Bild kann in den untersuchten Gedichten Durs Grünbeins auch als erinnerter Anblick (perzeptuelles Bild) oder als Grafik (materiales Bild) vorgestellt werden. Es kann außerdem durch eine explizite Bedeutungszuweisung im Gedicht auf einen Symbolisierungsprozess (typologisches Bild) verwiesen werden. Bildlichkeit in der Lyrik Grünbeins zielt also einerseits auf Anschaulichkeit (mentaler Bildbegriff), andererseits auf Übertragbarkeit (typologischer Bildbegriff) – insofern kann von einer Poetik der doppelten Bildlichkeit gesprochen werden. Sie intendiert durch die sprachliche Anordnung und die semantischen Vernetzungen innerhalb des Textes ein den Leser invol|| 11 Köller, Sinnbilder für Sprache, S. 44. 12 Ebd., S. 53 unterstreicht, dass sprachliche Bilder nicht nur „interpretationsfähig, sondern auch interpretationsbedürftig [sind]. Sie provozieren nicht nur dazu, vielfältige Wissensbestände zu aktivieren und unterschiedliche Welten aufeinander zu beziehen, sondern sie regen auch dazu an, weiträumige Semioseprozesse in Gang zu setzen und zu halten.“ 13 Jürgen Link: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis. 6. Aufl. München 1997, S. 165.
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vierendes Oszillieren zwischen der (sprachlich stimulierten) Imagination der Pictura als Sache und als Zeichen, anders gesagt: ein Oszillieren zwischen einem Wahrnehmungsbild einerseits und einem „Inbild“ („Konzentrat der Erscheinungswelt“14) oder „Sinnbild“ (etwas, das „komplexe Zwecke [...] für die Psyche erfüllen kann“15) andererseits. Grünbein selbst hat wiederholt auf die besondere Bedeutung sprachlicher Bilder für seine Dichtung hingewiesen, die Forschung ist diesen Hinweisen verschiedentlich nachgegangen.16 Im Folgenden werden anhand von vier Gedichten aus dem Frühwerk Durs Grünbeins verschiedene Möglichkeiten der poetischen Konstitution und wirkungsästhetischen Funktion von Bildern und von deren Fragmentierung erläutert. Das Spektrum reicht von der Poetik der doppelten Bildlichkeit bis zu deren Auflösung und wirkungsästhetischen Überbietung im Faszinationsstil.
1 Poetik der doppelten Bildlichkeit Grünbeins Gedicht Farbenlehre17 aus dem 1988 publizierten Debütband Grauzone morgens besteht aus drei Versgruppen. Die erste und zweite Versgruppe beschreiben in einem räumlichen Zusammenhang einen zurückliegenden Geschehenszusammenhang, das Abrutschen vom Fenster und Aufschlagen des
|| 14 Durs Grünbein: Mein babylonisches Hirn. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 18–33, hier S. 29. 15 Durs Grünbein: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Berlin 2010, S. 22. 16 Stellvertretend sei auf die Bilanz von Hinrich Ahrend hingewiesen, der zwei konkurrierende bildbezogene Darstellungsverfahren Grünbeins unterscheidet: „Auf der einen Seite die statische Epiphanie, verstanden als plötzliches Hervortreten einer Anschauung, auf der anderen Seite eine an gleitenden Wahrnehmungen orientierte, fluktuierende Bildlichkeit, die Ganzheit gerade hintertreibt.“ (Hinrich Ahrend: „Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“. Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins. Würzburg 2010, S. 88) Die zugrunde gelegte Annahme, dass es Grünbein generell um eine „Fixierung konzentrierter Ganzheitserlebnisse“ gehe, weshalb das zweite Darstellungsverfahren eigentlich inadäquat sei, erscheint wenig plausibel. Vielmehr sind, wie gezeigt, sowohl das Picturaverfahren als auch der Faszinationsstil auf eine wirkungsästhetische Dynamik im Sinne einer forcierten Imaginations- und Kognitionsaktivierung angelegt, insofern im ersten Fall durch die Interrelationen zwischen Pictura und expliziter Subscriptio eine spezifische Semantisierung der Pictura, im zweiten Fall ein letztlich unabschließbares semantisch-imaginatives Austarieren disparater semantischer Felder bzw. Isotopien zu leisten ist. 17 Durs Grünbein: Farbenlehre. In: ders.: Grauzone morgens. Gedichte. Frankfurt a.M. 1988, S. 75.
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Schienbeins, der mit dem Blick auf die offene Wunde endet. Beide isotope Versgruppen bilden einen Satz und sind damit auch grammatikalisch zu einer Einheit verbunden. Sie lassen sich als Pictura des Gedichtes auffassen. Diese wird durch die folgende dritte Versgruppe, deren Signifikat nicht visualisierbar ist, kommentiert: Farbenlehre Vom Fenster abgerutscht mit dem Schienbein aufgeschlagen am Gitterrand einer Hortensienrabatte sahst du zum erstenmal deinen Knochen bloßgelegt gelblichrot und wo kein Blut war elfenbeinweiß. So gesehen das weißt du nun prägen sich Farben besonders fest ein.
Die Pictura von Farbenlehre besteht aus den Elementen „Fenster“, „Schienbein“, „Gitterrand“, „Hortensienrabatte“, „Knochen“ und „Blut“; deren Anordnung im Text entspricht in etwa dem Ablauf des Geschehens. Die Pictura ließe sich noch einmal untergliedern in die (räumlich strukturierte) Teilpictura ‚Sturz‘ und die (farblich strukturierte) Teilpictura ‚Anblick der Wunde‘. Während der eigentliche Sturz durch Verben in Partizipialform („abgerutscht“, „aufgeschlagen“, „bloßgelegt“) als abgeschlossenes Geschehen markiert ist, bildet dessen Folge, der Anblick der Wunde, die eigentliche Handlung: „sahst du“. Als Subjekt und Prädikat des Satzes steht „sahst du“ grammatikalisch im Zentrum der Pictura und leitet nach der graphisch markierten Zäsur den zweiten Teil der Pictura ein. Die erste Versgruppe veranschaulicht somit die spezifischen Bedingungen, unter denen das erinnerte Wahrnehmungsbild der zweiten Versgruppe steht. Die Elemente der Pictura sind nicht nur durch den räumlichen und den Ereigniszusammenhang motiviert, sondern zeigen auch semantisch motivierte Beziehungen.18 Der Bewegung von oben nach unten (Sturz) entspricht in der zweiten Versgruppe eine Bewegung von außen nach innen (Bloßlegung des Knochens). In beiden Versgruppen geht es um Schwellen bzw. Schwellenüber|| 18 Link, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe, S. 166.
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tritte („Fenster“, „Gitterrand“ bzw. Bloßlegung des Knochens), die Wortgruppe „mit dem Schienbein auf-/ geschlagen“ hat in der Wortgruppe „Knochen bloßgelegt“ eine semantische Parallele. Eine weitere Parallele besteht, wenn man von wahrscheinlichen Imaginationsassoziationen der Wörter ausgeht, zwischen den Farben von Hortensienblüten und der „gelblichrot[en]“ und „elfenbeinweiß[en]“ Farbe der Wunde. Die sentenzartige dritte Versgruppe kommentiert zeitlich versetzt (Tempuswechsel von Präteritum zu Perfekt) das Geschehen (Sturz) und dessen unmittelbare körperliche (Anblick der Wunde) und längerfristige psychische Folgen (Erfahrung). Das adverbiale „so“ verweist auf den zuvor beschriebenen situativen Kontext (erste Versgruppe), unter denen die „Farben“ der Wunde (zweite Versgruppe) betrachtet wurden: Dieses „so“ macht das Wahrnehmungsbild der Wunde einprägsam. In dieser Relation kann die dritte Versgruppe mit Link als explizite Subscriptio bezeichnet werden. Durch die Subscriptio erhält die Bildebene (Pictura), in Farbenlehre insbesondere deren zweiter Teil, eine spezifische Bedeutung; dies lässt die Pictura textimmanent zu einem Symbol werden.19 Mit anderen Worten: Die Subscriptio verwandelt das durch die Pictura evozierte mentale Bild (Vorstellung) in ein typologisches Bild (Sinnbild), zumindest intendiert das hier aufgezeigte Darstellungsverfahren Grünbeins eine solche oszillierende Interferenz zwischen bloßer Anschauung (mentales Bild) und Symbolisierung (typologisches Bild), die im ästhetischen Erleben jeweils zu aktualisieren ist. Fasst man, orientiert an der Dreistelligkeit der frühneuzeitlichen Emblematik, den Titel des Gedichtes Farbenlehre als Motto (bzw. Inscriptio) des Textes auf, so steht dieses mit der (sprachlichen) Pictura in einer Rätselspannung.20 Diese Spannung veranlasst eine stärkere kognitiv-imaginative Involvierung des Rezipienten. Die Subscriptio bietet eine Auflösung dieser Spannung an; im konkreten Fall klärt sie, inwiefern die in der Pictura dargestellte Kindheitserfahrung als eine Farbenlehre aufgefasst werden kann. || 19 Ebd., S. 168: „Unter Symbol [...] verstehen wir eine in bestimmter Weise verfremdete Pictura: und zwar wird dabei das komplexe Signifikat einer Pictura auf ein anderes komplexes Signifikat, das wir Subscriptio [...] nennen, abgebildet. Das Symbol stellt insgesamt die semantische Vereinigung der beiden komplexen Signifikate dar.“ 20 „Die häufig zwischen Motto und pictura bestehende Spannung, die durch die subscriptio nicht immer vollständig gelöst wird, hat die Funktion, den Leser an der Ausdeutung teilhaben zu lassen. Das Verhältnis der drei Elemente zueinander sowie ihre jeweilige Bedeutung für das Verständnis wird in der Forschung unterschiedlich aufgefaßt. Die Beziehung von inscriptio und pictura ist als das Stellen eines Rätsels interpretiert worden, dessen Lösung in und mit der subscriptio gegeben werde.“ (Sabine Mödersheim: Emblem, Emblematik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2: Bie–Eul. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen 1994, Sp. 1098–1108, hier Sp. 1100)
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Die Subscriptio (dritte Versgruppe) lässt sich mit zentralen Elementen auf die Pictura abbilden, es gibt eine Reihe gemeinsamer lexikalischer und semantischer Paradigmen von Pictura und Subscriptio: die Anredeform („du“), die visuelle Wahrnehmung („sahst“ und „gesehen“), die Farbe des Wahrgenommenen („gelblichrot“,„elfenbeinweiß“ und „Farben“), das gewaltsame Öffnen oder Eindringen („aufgeschlagen“, „bloßgelegt“ und „einprägen“), der Zeitpunkt („zum erstenmal“ und „nun“) und die Haltbarkeit/Festigkeit („Knochen“, „elfenbein[...]“ und „fest“). Die Pictura von Farbenlehre beschreibt also nicht nur ein Geschehen (Sturz, Anblick), sondern soll, nach Maßgabe der ihr durch gemeinsame lexikalische und semantische Paradigmen zugeordneten Subscriptio, zugleich etwas Unanschaulichem, nämlich dem Machen einprägsamer Erfahrung, eine für den Leser eindrückliche, da assoziativ an eigene Erfahrungen anschließbare und somit affektiv nachdrückliche Vorstellung geben: Die schmerzhafte Einprägung in den Körper (Verwundung) wird zu einem – durch Anschaulichkeit – einprägsamen Symbol für den psychisch-kognitiven Erkenntnisprozess. Die Autopsie des eigenen Körpers („bloßgelegt“) betrifft die biologische Bedingtheit der eigenen Existenz: „zum erstenmal“ begegnet das angesprochene Du im Anblick der Wunde seiner bislang verborgenen stofflichmateriellen Basis und damit der eigenen Sterblichkeit. Dieses für die Texte Grünbeins aus den 90er Jahren bestimmende Motiv ist also bereits im ersten Gedichtband präsent.21 Aus der intendierten Schwellenüberschreitung in die Außenwelt (Fenster) ist eine unerwartete schmerzvolle Schwellenüberschreitung nach innen (Körper) geworden. Auf diese gleichermaßen körperliche wie psychisch-kognitive Ein-Prägung weist, in ironischer Anspielung auf Goethes naturwissenschaftliches Hauptwerk, der Titel des Gedichtes Farbenlehre hin.
2 Geteilte Pictura Der an Farbenlehre erläuterten Poetik der doppelten Bildlichkeit, bei der eine Pictura (mentales Bild) durch eine Subscriptio eine Symbolisierung (typologisches Bild) erfährt, folgt Grünbein auch in dem gleichfalls in Grauzone morgens publizierten Gedicht Anderswo.22 Mit der für Grünbeins Bildpoetik zentralen
|| 21 Das für Grünbein zentrale „Sarkasmus-Symbol des Knochens“ (Ahrend, „Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“, S. 193) findet sich also bereits hier. 22 Durs Grünbein: Anderswo. In: ders.: Grauzone morgens. Gedichte. Frankfurt a.M. 1988, S. 55.
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Formulierung „unverwandt zeigt“ reflektiert es zugleich sein eigenes Verfahren; insofern ist Anderswo ein poetologisches Gedicht: Anderswo Einmal sah ich im Eis des Zwingerteichs festgefroren eine geriffelte Wodkaflasche mit dem Markenbild ‚Brüllender Eisbär‘ auf blauem Grund klar und stillgelegt wie eine Sache, die man als abgeschlossen betrachtet bis sie nach Jahren plötzlich sich anderswo unverwandt zeigt.
Die erste und zweite Versgruppe bilden die Pictura des Gedichtes, an die sich am Ende der zweiten Versgruppe mit dem Vergleichswort „wie“ die Subscriptio anschließt. Die Pictura beschreibt ein erinnertes Wahrnehmungsbild, den Anblick einer im Eis des Zwingerteiches festgefrorenen Wodkaflasche der Marke „Brüllender Eisbär“.23 Ähnlich wie in Farbenlehre beschreibt die erste Versgruppe einen räumlichen Zusammenhang, aus dem in der zweiten Versgruppe ein bestimmter Ausschnitt fokussiert wird, in diesem Fall das „Markenbild“ der Sorte „Brüllender Eisbär“. Die Pictura lässt sich wiederum in zwei, der graphischen Anordnung der Versgruppen folgenden Teile untergliedern: der Fundort der Flasche, das „Markenbild“. Zwar gehören beide Teile der Pictura der gleichen Isotopie an und können als eine Einheit visualisiert werden, dennoch unterscheiden sie sich stärker als in Farbenlehre, insofern das Signifikat der ersten Versgruppe die Vorstellung einer visuellen Wahrnehmung (Lage der Flasche), das der zweiten Versgruppe die Vorstellung eines materialen Bildes („Markenbild“) evoziert. Die Flasche im Eis und das Bild eines Eisbären auf der Flasche sind zwar isotop, gehören aber unterschiedlichen ontologischen Ebenen an. Darüber hinaus lässt sich die Darstellung eines brüllenden Eisbären auf dem Flaschenetikett als Symbolisierung der mit dem Genuss des Wodkas verbundenen Emotionen, nämlich des rauschhaften Empfindens von Stärke, Vitali|| 23 Mit „Zwingerteich“ ist das flache Gewässer um den Dresdner Zwinger, ein barockes Lustschloss, gemeint. ‚Eisbär-Wodka‘ war eine Wodka-Marke in der DDR; das Etikett zeigt auf dunkelblauem Grund einen Eisbären mit erhobenem Kopf.
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tät und Erregung, interpretieren. Insgesamt könnte also hinsichtlich des ikonischen Verhältnisses von Wahrnehmungsbild und „Markenbild“ statt von zwei Teilen einer Pictura auch von zwei isotopen Picturae gesprochen werden. Zwischen den Elementen (beider Teile) der Pictura lassen sich semantische Parallel- und Oppositionsrelationen aufzeigen. Dominant ist das semantische Paradigma ‚gefangen, erstarrt‘, das durch „im Eis“, „Zwinger-“, „festgefroren“ und „stillgelegt“ erfüllt wird. Zum selben Paradigma, allerdings dieses negierend, gehört „brüllender“. Am deutlichsten wird diese Oppositionsrelation im Verhältnis von „brüllender“ zum folgenden „still-/ gelegt“: Die – durch das Wortenjambement verdeutlichte – Oppositionsrelation liegt hier auf semantischer Ebene (starke akustische Wahrnehmbarkeit vs. keine akustische Wahrnehmbarkeit), grammatikalischer Ebene (Partizip I vs. Partizip II) und klanglicher Ebene (unreiner Reim „brüll-“ vs. „still-“). Nimmt man die weiteren genannten Elemente dieses Paradigmas hinzu und stellt sie möglichen konnotativen Bedeutungen von ‚brüllend‘ gegenüber, lassen sich etwa folgende, die gesamte Pictura des Gedichtes semantisch strukturierende Oppositionspaare aufstellen; dabei nimmt jeweils die zweite Position das Wort ‚brüllend‘ ein: ‚gefangen‘ („im Eis“, „Zwinger-“) vs. ‚sich zum Ausdruck bringen‘; ‚starr‘ („fest-“) vs. ‚vital‘; ‚nicht erregt‘ („-gefroren“, „klar“) vs. ‚erregt‘. Insgesamt steht das „Markenbild// ‚Brüllender Eisbär‘“ mit den Konnotationen ‚Freiheit‘, ‚Vitalität‘, ‚Erregung‘ in semantischer Opposition zur Beschreibung der räumlichen Lage, in der es bzw. die Wodkaflasche sich befindet. Diese dominante semantische Opposition innerhalb der Pictura wird dadurch verstärkt, dass die der Benennung des „Markenbild[es]“ folgende Apposition „auf blauem/ Grund klar und still-/ gelegt“ syntaktisch und semantisch sowohl an „Wodkaflasche“ als auch an „Brüllender Eisbär“ anschließbar ist; abhängig davon, ob man „Grund“ als ‚Grund des Zwingerteiches‘ oder – was der Etikettgestaltung dieser Wodkamarke entsprechen würde – als ‚blauer Hintergrund‘ liest. Die Pictura wird mit dem letzten Vers der zweiten und der gesamten dritten Versgruppe als ein anschaulicher Vergleich für eine abstrakte Vorstellung ausgewiesen. Diese in der Subscriptio benannte Vorstellung lässt sich als unerwartete Wiederbegegnung mit einer bekannten „Sache“ paraphrasieren, die in einem ungewöhnlichen Kontext für den Betrachter eine ganz neue Bedeutsamkeit sichtbar werden lässt: Der Anblick einer gewöhnlichen Wodkaflasche bzw. ihres „Markenbildes“ wird, übertragen in das für diese ungewöhnliche ‚Syntagma‘ der erstarrten winterlichen Situation am „Zwingerteich“ (insofern: „anderswo“), schlagartig zu einem kontrastiven Symbol der Vitalität und Freiheit. Der abgebildete „Brüllende Eisbär“ im realen Eis bewirkt einen irritierenden, die kognitiven und psychischen Ressourcen mobilisierenden Effekt, vergleich-
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bar etwa dem Effekt einer kühnen Metapher; mit dem Unterschied, dass dabei nicht die Isotopie, sondern die Ontologie gestört wird. Wie in Farbenlehre werden in Anderswo Wahrnehmungsbeschreibung und „Markenbild“ der Pictura durch die Subscriptio zu einem typologischen Bild jener abstrakten Vorstellung. Die Korrelation von Pictura und Subscriptio beruht auf folgenden semantischen Paradigmen: ‚Zäsur‘ („einmal“ und „plötzlich“), ‚Ortsangabe‘ („im Eis des Zwingerteichs“ und „anderswo“), ‚visuelle Wahrnehmung‘ („sah“ und „betrachtet“, „sich […] zeigt“), ‚Gegenstand‘ („Wodkaflasche“, „Markenbild“ und „Sache“), ‚eingesperrt, erledigt‘ („festgefroren“, „stillgelegt“ und „abgeschlossen“) sowie ‚sich zum Ausdruck bringen‘ („brüllend“ und „sich […] zeigt“). Nicht nur durch den expliziten Vergleichshinweis ‚wie‘, sondern vor allem durch die genannten Paradigmen lässt sich die Pictura als Symbol der in der Subscriptio genannten Vorstellung, dass eine für erledigt gehaltene „Sache“ „anderswo“ unerwartet aktuell und bedeutsam werden kann, auffassen. In Rückgriff auf die Elemente der Pictura ließe sich dies etwa so interpretieren: Die leere Wodkaflasche bzw. ihr häufig gesehenes „Markenbild“ „zeigt sich“ „anderswo“ – nämlich eingefroren im Zwingerteich – „plötzlich“ in einer akuten Bedeutsamkeit, etwa – im Sinne der Analyse der Pictura – als ‚brüllendes‘ Gegenbild zum völlig erstarrten, kalten, bewegungslosen Kontext der winterlichen Landschaft.24 Dass Grünbein die Wirkung des (typologischen) Bildes im Modus eines Sich-Zeigens von Bedeutung versteht, lässt sich auch der graphischen Anordnung entnehmen, die durch Absetzung „Markenbild“ und „unverwandt zeigt“ in eine formale Parallele setzt. Nur im Modus der Ikonizität (typologischer Bildbegriff) können nicht kontingente Elemente in einen semantischen Zusammenhang gebracht werden: In dem durch den Betrachter bzw. Leser angesichts einer bestimmten situativen bzw. kontextuellen Anordnung leistbaren Sprung von der bloßen Gegenstandswahrnehmung zu einer (ikonischen) Zeichenwahrnehmung kann zwischen dem, was real nichts miteinander zu tun hat („unverwandt“), eine perspektivische semantische Beziehung hergestellt werden.25 Das chiffrenhaft für die Poetik des Frühwerks von Durs Grünbein
|| 24 Eine politische Deutung des Gedichtes, die die winterliche Erstarrung am „Zwinger“ als Allegorie der ‒ zumal angesichts der Reformprozesse im Wodka-Land Sowjetunion ‒ erstarrten gesellschaftlichen Situation in der DDR in den späten 80er-Jahren versteht, ist aus dem Entstehungszusammenhang des Textes, der Gesamtkonzeption von Grauzone morgens sowie aus den in der DDR-Literatur häufigen impliziten politischen Codierungen naheliegend; das Gedicht selbst gibt keinen Hinweis darauf. 25 Der Dichter kann, so Grünbein, „die Dinge nicht anders sehen [...], als er sie sieht“, ihn können „die Dinge nicht anders ansehn als in dieser besonderen Anordnung“ (Grünbein, Mein babylonisches Hirn, S. 18).
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stehende Wort „unverwandt“ meint somit einerseits die Kombination ‚wesensfremder‘ Vorstellungen, andererseits die ästhetische Wirkung einer solchen Kombination, nämlich die im Versuch einer Kohärenzbildung fixierte Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf eben dieses Vorstellungs- bzw. Wortarrangement.26 In diesem Sinne beruht die Wirkung besonderer Erfahrungsmomente wie die Wirkung eines solche Erfahrungsmomente simulierenden, sie im Gedächtnis aufrufenden Gedichtes auf Unverwandtheit. In einen anderen Zusammenhang gestellt wird eine „Sache“, die „als abgeschlossen betrachtet“ wurde, in neuer Weise bedeutsam. Grünbeins Poetik der doppelten Bildlichkeit ermöglicht durch die latente, vom Leser je individuell imaginativ zu aktualisierende und emotional-kognitiv zu erlebende Pictura-Subscriptio-Beziehung des Textes die ästhetische Erfahrung eines solchen Sich-Zeigens.
|| 26 Die Bedeutung von ‚unverwandt‘ wird im Grimm’schen Wörterbuch einerseits mit ‚nicht weg- oder abgewendet‘, ‚unveränderlich‘, andererseits mit ‚wesensfremd‘, ‚nicht bluts- oder stammverwandt‘ angegeben (Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 24. Nachdruck der Erstausgabe Leipzig 1936: Elfter Band III. Abtheilung: Un–Uzvogel. Bearb. von Karl Euling. München 1999, Sp. 2114–2118). Das im Gesamtwerk mindestens zehnmal vorkommende Wort gebraucht Grünbein vorzugsweise in Verbindung mit dem häufigen Motiv des Tierblicks, das für eine vorrationale, animalische, offene Form der Weltzugewandtheit steht. Im Gedicht Buna 2 heißt es „Der Blick des Zauberers/ (und Tricksters)/ in die Welt/ So wie sie ist,/ entzaubert,/ kantig,/ abgebrannt/ Müßte ein Blick sein der durch Schlitze fällt/ Aus Tier- oder Dämonenmasken./ Unverwandt/ Verschwimmt er nicht,/ behält nichts,/ sagt nichts und/ Ist nur Reflex in einer Folge von Reflexen.“ (Durs Grünbein: Buna 2. In: ders.: Schädelbasislektion. Gedichte. Frankfurt a.M. 1991, S. 145). Über die Kluft zwischen poetischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung heißt es im Essay Ameisenhafte Größe: „Was es auch war, das er [der Dichter, A.D.] mit seinen seltsamen Mitteln herausfand, unter den beiden Augen der Geschichte, im Licht der Naturwissenschaften, blieb es allemal Zeichenschau, Zauberei, inspiriertes Spiel. Doch mit derselben Unverwandtnis beobachtete zumeist auch der Dichter, manchmal fast tierhaft unverwandt, was in der Welt der Tatsachen getrieben wurde.“ (Durs Grünbein: Ameisenhafte Größe. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 13–17, hier S. 14). Mit ‚unverwandt’ wird auch die sexuelle Anziehung zweier einander unbekannter Menschen (in Durs Grünbein: Morgenandacht und Ketzerei. In: ders.: Liebesgedichte. Frankfurt a.M., Leipzig 2008, S. 14f.) oder der Wahrnehmungsmodus während des einsamen Streunens durch fremde Städte bezeichnet („Unverwandt treibst du umher, durch die Städte. Von Anfang an/ Vertraut mit dem Schlachtgestank, dem Lärm der Basare“, aus Durs Grünbein: Traktat vom Zeitverbleib Nr. 7. In: ders.: Erklärte Nacht. Frankfurt a.M. 2002, S. 97–118, hier S. 103). In Porzellan bezeichnet sich das autornahe Ich in einer Selbstanrede als „Du, der Unverwandte“ (Durs Grünbein: Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt. Frankfurt a.M. 2005, Nr. 10).
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3 Kombination diskrepanter Picturae Eine Steigerung des wirkungsästhetischen Effekts des beschriebenen PicturaVerfahrens lässt sich im Gedicht MonoLogisches Gedicht No. 5 aus Grauzone morgens aufzeigen.27 Das Gedicht besteht in grammatikalischer Hinsicht aus vier Sätzen. Diese markieren vier rhetorisch-stilistisch bzw. semantisch unterschiedene Teile des Gedichtes: Der erste Satz kann als Motto, der zweite und dritte Satz als die beiden Picturae, der vierte Satz als die den Zusammenhang zwischen den vorangegangenen Teilen klärende Subscriptio aufgefasst werden: MonoLogisches Gedicht No. 5 Seltsam was mich noch immer umhaut ist diese Plötzlichkeit mancher Augenblicke. Z. B. das helle Blinken der Bauchseite wenn ein Delphin sich herumwirft und durch den hochgehaltenen Reifen am Arm der Dompteuse springt. Oder der kalte Sekundenbruchteil wenn eine 61er Bildröhre auf einen Schlag implodiert und dir erst über den Splittern klarwird daß da immer schon kein Gedächtnis war (was also sollte verlöschen?). Vermutlich kommt alles von dieser feindlichen Lichtung in deinen Träumen dem schiefen Tableau aller toten lebendigen Dinge
|| 27 Durs Grünbein: MonoLogisches Gedicht No. 5. In: ders.: Grauzone morgens. Gedichte. Frankfurt a.M. 1988, S. 86f.
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tagsüber abgedrängt in jene diapositiven Regionen wo jedes so unabänderlich wirkt nicht wahr und trotz allem kaum länger dauert als ein paar tausend REM.
Statt wie in Anderswo zwei hinsichtlich des ontologischen Status der Signifikate unterschiedene Teile ein und derselben Pictura in ein Verhältnis zu setzen, kombiniert Grünbein in diesem Gedicht zwei disparate Picturae (DelphinPictura, Bildröhren-Pictura) miteinander und intensiviert damit die imaginative Stimulation des Rezipienten. Das Motto („Seltsam [...]“) und die Subscriptio („Vermutlich [...]“) stehen in einer logischen Relation von Problembeschreibung und Erklärungshypothese; allerdings unterscheiden sich beide in stilistischer Hinsicht, worauf noch einzugehen sein wird. Thematisch schließt sich das Gedicht an die beiden zuvor behandelten an, auch hier geht es um außerordentliche visuelle Wahrnehmungseindrücke und deren Bedeutung. Wie das poetische Darstellungsverfahren ist auch die Erfahrungsqualität der dargestellten Wahrnehmungen intensiviert: Ging es in Farbenlehre um Gesehenes, das sich einprägt, in Anderswo um Gesehenes, das sich in neuer Weise zeigt, so tritt im Motto die epiphaneische Qualität der Wahrnehmung in MonoLogisches Gedicht No. 5 gesteigert entgegen: „Seltsam was mich noch immer/ umhaut ist diese Plötz-// lichkeit mancher Augenblicke.“ Diese Aussage wird, markiert durch „Z.B.“, mit den folgenden beiden Wahrnehmungsbeschreibungen exemplifiziert: zum einen mit dem Aufblitzen der hellen Unterseite eines springenden Delphins, zum anderen mit dem Implodieren einer Fernseh-Bildröhre. Beide Picturae beschreiben, anders als in Farbenlehre und Anderswo, eine Augenblickswahrnehmung in einem außerordentlich dynamischen Geschehen; sie beschreiben den Wendepunkt eines Geschehens oder Zustandes (Sprung durch den Reifen, Implosion). Die trotz ihrer disparaten Isotopie nebeneinander gestellten und durch „oder“ verbundenen Picturae veranlassen in der Rezeption ein imaginativ-kognitives Interagieren beider Vorstellungen, die sich als spontane Suche nach solchen Bildaspekten bzw. -assoziationen beschreiben lässt, die eine gemeinsame semantische Schnittmenge bilden, d.h. ein semantisches Paradigma konstituieren können. Solche Paradigmen beider Picturae sind: die Plötzlichkeit des Geschehens („wenn [...] sich herumwirft“ und „wenn [...] implodiert“), die damit verbundene perzeptive Intensität („helle Blinken“ und „auf einen Schlag“) und die Vorstellung einer Klimax oder Wendung („sich herumwirft“, „durch den hochgehaltenen Reifen“
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und „implodiert“, „dir [...] klarwird“). Diesen drei aus dem mentalen Bild der Picturae gewonnenen Paradigmen entsprechen im Motto die Wortbedeutungen „Plötzlichkeit“, „Augenblicke“ und „umhaut“. Ein viertes semantisches Paradigma ließe sich mit ‚Offenbarwerden von Verborgenem‘ (analog dem „bloßgelegt“ in Farbenlehre und Sich-Zeigen in Anderswo) beschreiben: Für die Delphin-Pictura wird dieses Paradigma durch das Sichtbarwerden der gewöhnlich verdeckten hellen Bauchseite des Tieres, für die Bildröhren-Pictura durch das ‚Klarwerden‘ der Spurlosigkeit aller Bilder im Apparat erfüllt. Zu diesem Paradigma gehört im Motto die Wortbedeutung von „seltsam“. Als vierter Teil des Gedichtes schließt die auf die Picturae folgende Subscriptio an die Problembeschreibung des Mottos an, indem sie eine Hypothese darüber formuliert, warum manche Augenblicke für den – in der zweiten Pictura in Du-Form angesprochenen – Wahrnehmenden von einer so seltsamen und ‚umwerfenden‘ Wirkung sind. Der Grund liegt weniger im wahrgenommenen Objekt als im wahrnehmenden Subjekt und im bildgebundenen Erfahrungsfundus seines „Gedächtnis[ses]“, der durch bestimmte Wahrnehmungen aktiviert wird; in dieser Hinsicht unterscheiden sich die mentalen Bilder von der Spurlosigkeit jener optischen Bilder, die in der Bildröhre eines Fernsehers entstehen.28 Die zum Ausgangspunkt des Gedichtes gemachte überwältigende Wirkung mancher Wahrnehmungen „kommt“, so die Antwort der Subscriptio, „vermutlich“ von jener „feind-/ lichen Lichtung in deinen Träumen“. Die kühne Metapher „feindliche Lichtung“ wird durch einen zweiten Komplex kühner Metaphern, nämlich den des „schiefen Tableau[s]/ aller toten lebendigen Dinge“, weniger erläutert als semantisch und imaginativ angereichert. Die Kombination der Signifikanten induziert (macht erlebbar), was sie bezeichnen: Der semantische Kollaps etwa von „feindliche Lichtung in deinen Träumen“ soll ähnlich ‚umhauend‘ wirken wie das Blinken des Delphinbauchs.29 Diese im bildgebundenen Erfahrungsfundus des Gedächtnisses („diapositive Regionen“) aufbewahrten und durch (wahrnehmungs- bzw. sprachbasierte) Assoziationen aktua-
|| 28 Wie hier entwickelt Grünbein im Frühwerk seine Bildpoetik des Engramms (der reaktivierten Erfahrungsspuren) wiederholt in Absetzung von der Erfahrungsleere medialer Bilder, so im Fernseh-Gedicht Ultra Null: „[W]ie du siehst,/ Ist das Schirmbild ein Nichts. [...] Nicht ein Bild// Überlebt seine Einschaltzeit (Einsamkeit).“ (Durs Grünbein: Ultra Null. In: ders.: Schädelbasislektion. Gedichte. Frankfurt a.M. 1991, S. 138–140, hier S. 138) 29 Grünbeins Poetik, die das Gedicht als Simulationsanordnung für exzeptionelle Erfahrungen analog unmittelbarer (nicht sprachbasierter) Erfahrungen versteht, führt beide Bereiche mit den Worten aus MonoLogisches Gedicht No. 5 zusammen: Es gelte „Augenblicke für sich [zu] entdecken, in denen alles gesteigert erscheint, von plötzlicher und genauer Leuchtkraft im Wort.“ (Grünbein, Ameisenhafte Größe, S. 16)
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lisierbaren „Dinge“ sind – hier fällt eine konzeptionelle Nähe zur Subscriptio von Anderswo auf – zugleich „tot“ und „lebendig“.30 Die Figur des Paradoxons verweist auf den ontologischen Schwellencharakter von Erinnerung, Imagination und Traum. Die daran gebundene latente Wirksamkeit der bildgebundenen „Träume“ unterliegt im Konkurrenzverhältnis zu aktuellen Wahrnehmungen. Sie sind deshalb „tagsüber abgedrängt“ in die „diapositiven Regionen“ des Gehirns, wo alles – in einem analogen Paradoxon zu den „toten lebendigen Dinge[n]“ – „unabänderlich wirkt“, obwohl es „nicht wahr“ ist. Durch Assoziationen, die von aktuellen Wahrnehmungen angeregt werden, werden diese „Träume“ wieder lebendig und wirksam. Für die oben genannten, aus der semantischen Interferenz von Aspekten beider Picturae gewonnenen Paradigmen ‚Plötzlichkeit‘, ‚perzeptive Intensität‘, ‚Klimax‘ und ‚Offenbarung‘ lassen sich in der Subscriptio Entsprechungen finden: Dem Paradigma ‚Plötzlichkeit‘ lässt sich „kaum länger dauert als ein// paar tausend REM“, dem Paradigma ‚perzeptive Intensität‘ lässt sich „Lichtung in deinen// Träumen“, dem Paradigma ‚Offenbarung‘ lässt sich „kommt alles von“ jenen „Dinge[n]“, die „tagsüber abgedrängt“ sind, zuordnen. Auch das Paradigma ‚Klimax‘ wird, allerdings in Negation („unabänderlich wirkt“), erfüllt. Im markanten Unterschied zum Motto und zu den beiden Picturae wird der Sprachstil der Subscriptio durch kühne Metaphern (wie „feindliche Lichtung“) und Paradoxa (wie „tote lebendige Dinge“) bestimmt. Stabile bildliche Vorstellungen, wie sie sich im Lesen der Picturae des Gedichtes aufgrund der isotopen Semantik spontan einstellen, lassen sich hier nur ansatzweise evozieren. Stattdessen werden durch die Kombination disparater Semantiken imaginative Assoziationsketten angestoßen, die sich allenfalls momenthaft zu Bildfragmenten fügen, jedoch nicht zu einer stabilen Anschaulichkeit verbinden. Metaphern und Paradoxa appellieren an die imaginative und kombinatorische Aktivität des Lesers: Wie das Blinken des Delphinbauchs oder die Implosion der Röhre im aktuellen Wahrnehmen stimulieren sie im Bemühen um Verständnis die „diapositiven Regionen“ des Gehirns. Das Gedicht induziert sprachlich, wovon es in Hinblick auf visuelle Wahrnehmungen redet. Durch dieses wirkungsästhetisch forcierte Involvierungs- und Aktivierungsverfahren, das dem Leser die Aktualisierung eigener Erlebnisse abverlangt, macht Grünbein das von den sprachlichen Signifikanten bezeichnete Geschehen unmittelbar sinnlich erlebbar. Das unbildliche, da Anschaulichkeit permanent stimulierende, aber nicht stabilisierende Darstellungsverfahren der Subscriptio lässt, in der aufgezeigten paradig-
|| 30 Vgl. in Anderswo: Eine „Sache“, die man als „abgeschlossen“ betrachtet, „zeigt“ sich „plötzlich“.
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matischen Verknüpfung mit den übrigen Teilen des Gedichtes, die „toten […] Dinge“ im Erinnerungsfundus des Gehirns wieder „lebendig“ und wirksam werden.31
4 Faszinationspoetik der disparaten Bildfragmente Das fünfte Gedicht aus dem Zyklus Schädelbasislektion,32 1991 im gleichnamigen Gedichtband veröffentlicht, unterscheidet sich durch seine rhythmische und klangliche Überstrukturiertheit und eine radikale Verflechtung disparater Isotopien von den bisher untersuchten Gedichten. Grünbein hat hier das picturabasierte Darstellungsverfahren der doppelten Bildlichkeit (mentales und typologisches Bild) zugunsten eines bildfragmentierenden, verschiedene Isotopien montierenden Darstellungsverfahrens der Faszination aufgegeben: Unterm Nachtrand hervor Tauch ich stumm mir entgegen. In mir rauscht es. Mein Ohr Geht spazieren im Regen. Eine Stimme (nicht meine) Bleibt zurück, monoton. Dann ein Ruck, Knochen, Steine. ... Schädelbasislektion.
Die rhythmische und klangliche Überstrukturiertheit in Form eines relativ regelmäßig ausgefüllten Metrums, reiner Reime und zahlreicher Assonanzen verleiht dem Gedicht in der sinnlichen Wirkung seines Vortrags eine starke
|| 31 Dieses Darstellungsverfahren ist besonders geeignet, das Gedicht bzw. seine ästhetische Realisierung als „Bruchstücke einer früheren Erinnerung“ (Grünbein, Mein babylonisches Hirn, S. 26) aufzufassen. Ein Gedicht dringt, so Grünbeins wirkungsästhetisches Programm, wie ein ergreifendes Erlebnis „real in den Körper ein und explodiert im Unbewußten mit seinen Klängen und Codes, im Idealfall gleich einem intensiven Traum. Noch bevor man begreift, was geschieht, hat es sich als Erinnerungsspur festgesetzt, und man ist fortan gezeichnet, stigmatisiert durch ein paar merkwürdig aufgeladene Worte. Im Bruchteil einer Sekunde (länger dauert es nicht) hat ein neuronales Gewitter, ein Synapsenblitz die ganze Gehirnlandschaft verändert.“ (Durs Grünbein: Reflex und Exegese. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 61–66, hier S. 62) 32 Durs Grünbein: Schädelbasislektion. In: ders.: Schädelbasislektion. Gedichte. Frankfurt a.M. 1991, S. 11–15, hier S. 15.
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Geschlossenheit, die der semantischen Disparatheit der nicht isotopen Bildfragmente entgegensteht und dem Gedicht eine faszinierende Wirkung verleiht.33 Die Grammatikalität der ersten sechs Verse unterstützt dies. Dieses Darstellungsverfahren ähnelt hinsichtlich der Auflösung von Anschaulichkeit durch kühne Metaphern und Paradoxa dem der Subscriptio in MonoLogisches Gedicht No. 5. Während dort jedoch eine Kohärenzlatenz im Semantischen durch paradigmatische Korrespondenzen zu den beiden Picturae wie zum Motto gewahrt ist, wird hier durch den hohen Stimmigkeitseindruck der klanglichrhythmischen Korrespondenzen eine entsprechende, durch die Disparatheit der Isotopien aber unmögliche Kohärenz im Semantischen gefordert. Dieses Darstellungsverfahren eines sinnlich präformierten Kohärenzbildungsdrucks kann, in markanter Absetzung zu Grünbeins Poetik der doppelten Bildlichkeit, als Poetik der Faszination bezeichnet werden.34 Es verbindet sinnliche Attraktivität (hohe klanglich-rhythmische Stimmigkeit) und semantische Obscuritas zu einer anhaltenden Stimulierung der Imagination und Kognition.35 Der Eindruck einer hohen sinnlichen Stimmigkeit entsteht durch den doppelten Kreuzreim, bei dem sich die betonten Silben viermal auf -o- und je zweimal auf -e- bzw. -ei- reimen, durch häufige Assonanzen und vor allem durch den regelmäßigen Wechsel von – je nach Kadenz – sechs- bzw. siebensilbigen Versen mit trochäischem Auftakt. Das Metrum kann in der Grundform als Kom-
|| 33 Grünbein spricht hinsichtlich des Schädelbasislektionen-Zyklus’ von einer „elliptischen Reimsprache“ (Grünbein, Vom Stellenwert der Worte, S. 38), die „mit Bedacht die Mitte zwischen der Lust am Noch-nie-Gesagten und einem Reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist“, hält (ebd., S. 36). 34 Nach Grünbein erlöst die Stimme „das Wort aus dem lexikalischen Tiefschlaf, paradoxerweise indem sie es mit dem Bann der Kadenz belegt“. Das Gedicht gerinne dadurch einerseits zu einem „Denkbild“, andererseits gehe es als „Lautfolge“ vorüber (Grünbein, Mein babylonisches Hirn, S. 26). Damit beschreibt Grünbein die wirkungsästhetisch äußerst produktive Reibung zwischen der Obscuritas- und der Attraktionskomponente des Faszinationsstils. 35 Unter ästhetischer Faszination verstehe ich „die anhaltende Beschäftigung mit einem sinnlich reizvollen, in seiner Bedeutung problematischen Objekt. Die hohe Affinität von dessen materialer sinnlicher Seite bei gleichzeitiger semantischer Offenheit und Widersprüchlichkeit motiviert den Wahrnehmenden, durch nachhaltige Aktivierung seiner Gedanken- und Imaginationstätigkeit eigenständig eine Bedeutsamkeit zu konkretisieren. Eine Darstellungsweise, die einer solchen ästhetischen Anwendbarkeit entgegenkommt, kann Faszinationsstil genannt werden.“ (Andreas Degen: Faszination und Sympathie. Zur Begründung einer Ästhetik der Faszination durch Johann Georg Hamann. In: Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Claudia Hillebrandt und Elisabeth Kampmann. Berlin 2014, S. 66–96, hier S. 96)
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bination zweier Kretizi36 beschrieben werden, die bei weiblicher Kadenz um eine unbetonte Silbe am Versende erweitert wird. Insbesondere die über das Versende fortgeführte Regelmäßigkeit der beiden Kretizi im ersten (männliche Kadenz) und zweiten Vers (weibliche Kadenz) verleiht dem Gedicht vom Anfang her einen hämmernd-treibenden Charakter, der in Verbindung mit den diskrepanten Isotopien entscheidend für die faszinierende Sogwirkung verantwortlich ist. Dieser Rhythmus wird erst mit der siebenten Silbe (weibliche Kadenz) des zweiten Verses variiert. In den folgenden Versen ist der erste Kretikus jeweils voll ausgebildet, während der zweite Kretikus durch die weibliche Kadenz und gelegentliche Betonungsverschiebungen in der vierten und fünften Silbe nicht immer klar hervortritt. Die durch Assonanzen, Reim und Rhythmus evozierte hohe akustische Stimmigkeit, die in der blockartigen Anordnung der Verse abgebildet wird, forciert im ästhetischen Erleben einen kognitions- und imaginationsaktivierenden Kohärenzbildungsdruck, der als ästhetische Faszination erlebt wird. Voraussetzung für den Faszinationsstil ist die Fragmentierung von Anschaulichkeit und die Verflechtung diskrepanter Isotopien. Die beiden Eingangsverse lassen ansatzweise, von der finiten Verbform her, eine Tauchbewegung vorstellen, die sich aber weder räumlich verorten noch hinsichtlich der Subjekt-Objekt-Relation zum Sprecher bestimmen lässt: „Unterm Nachtrand hervor/ Tauch ich stumm mir entgegen.“ Es folgen weitere Orts- und Richtungsangaben („unterm [...] hervor“, „mir entgegen“, „in mir“, „im Regen“, „bleibt zurück“), die insgesamt den Eindruck einer großen, aber ganz unanschaulichen Bewegtheit geben. Im weiteren Versuch, den grammatisch korrekt kombinierten Signifikanten ein kohärentes Signifikat zu entnehmen, interagieren im ästhetischen Erleben die verschiedenen nicht isotopen semantischen Felder der Wörter und Wortgruppen. Die diskrepanten Isotopien sind derart ineinander verflochten, dass hinsichtlich der Metaphorik nicht nach Bildspender und Bildempfänger gefragt werden kann. Allenfalls lassen sich die verschiedenen Wörter und Wortgruppen bestimmten semantischen Bereichen zuordnen, etwa dem Bereich ‚Rede‘ („stumm“, „Ohr“, „Stimme“, „monoton“), ‚Anatomie‘ („Knochen“, „Schädelbasis[…]“), ‚Regen‘ („Regen“, „rauschen“) und ‚körperliche Bewegung‘ („tauch[en]“, „spazieren“, „bleibt zurück“, „Ruck“). Insbesondere durch die Schlusszeile, die aus einem einzigen, die Komposita ‚Schädelbasisbruch‘ und
|| 36 Kretikus ist ein dreisilbiger Versfuß mit der Betonungsfolge: betont, unbetont, betont. – Ahrend („Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“, S. 193) spricht in Hinblick auf den Zyklus von „stanzenartigen“ Strophen, allerdings weicht das Gedicht hinsichtlich des Versfußes am Verseingang, der Hebungszahl und des Reimschemas von der Stanze ab.
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‚Basislektion‘ kompilierenden Neologismus besteht, lässt sich das Gedicht als thematische Variante zu Farbenlehre verstehen.37 Hier wie dort geht es um einen Unfall („ein Ruck, Knochen, Steine“) und dessen einprägsame Erinnerungsspur im Gehirn („[…]basislektion“). Dem Gedicht gelingt jedoch gegenüber dem früheren eine Engführung des Themas, da hier die körperliche Einprägung im Sinne einer Fraktur des Schädels und die psychische Einprägung im Sinne einer lehrreichen ‚Lektion‘ dasselbe Organ betreffen. Eine gleichsam ikonische Umsetzung dieser thematischen Engführung auf Signifikantenebene leistet der Neologismus „Schädelbasislektion“. Ob die übrigen Verse eher als Vergegenwärtigung des Unfallhergangs oder als Aufwachen aus der Bewusstlosigkeit und beginnende Rückerinnerung zu lesen sind, lässt sich kaum entscheiden. Der Neologismus der Schlusszeile führt vor, was für das gesamte Gedicht gilt: Die Verflechtung und Verdichtung der semantischen Bereiche führt zur Fragmentierung der Bildlichkeit; nicht im Sinne einer sentenzartigen Abstraktheit, sondern im Sinne einer Montage disparater Isotopien, die aufgrund des sinnlichen Kohärenzdrucks imaginativ stark anregend wirken können.38 Ohne ein stabiles mentales Bild kann von einer Symbolisierung im Sinne des typologischen Bildbegriffs keine Rede sein. Durch die hohe klanglich-rhythmische Stimmigkeit des Gedichtes wird dieser Kohärenzdruck erheblich forciert: Sinnliche Stimmigkeit und semantische Obscuritas sind für unterschiedliche Rezeptionskanäle (Perzeption, Kognition) auf unterschiedliche Weise attraktiv – in ihrer poetischen Balance generieren sie ein hohes Faszinationspotential. || 37 Anders die Deutung von Ahrend („Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“, S. 197), der hier den Entstehungsprozess eines Gedichtes nachvollzogen sieht. Er stützt sich dabei auf eine Passage aus Grünbeins Essay Mein babylonisches Hirn, in dem es heißt: „Der Dichter mit seinem Niemand an alle gehorcht nur seinem eigenen Unheimlichen, einer Fremdheit im eigenen Leib, die ihn selbst überrascht und beschämt. [...]. Sein Geheimnis ist die irgendwann im Bruchteil einer Sekunde an der Schädelbasis ankommende Lektion. Mit ihrer Tiefenwirkung separiert sie ihn von allem anderen Sprechen, das als belangloser Wortschwall unterhalb der magischen Reizschwelle bleibt und in kürzester Zeit wieder vergessen ist.“ Allerdings führt Grünbein zur Veranschaulichung dieses Zur-Sprache-Kommens anschließend die Einflüsterung unter Narkose bei einem Unfallopfer an: „Die Art wie sie zu ihm spricht, gleicht der Einflüsterung unter Narkose, dem rettenden Einfall in katastrophischer Lage, dem ruhigen Zuspruch des Sanitäters, der ein Schockopfer vor der Aufgabe seiner Lebenskräfte bewahren soll.“ (Grünbein, Mein babylonisches Hirn, S. 20) 38 Im Hinblick auf den gesamten Zyklus resümiert Stefanie Stockhorst, dass begriffliche und konzeptionelle Anleihen aus dem wissenschaftlichen Diskurs „lediglich als bildliche Versatzstücke gebraucht“ werden, „um semantische Räume zu eröffnen“ (Stefanie Stockhorst: Ästhetisierung der Anatomie. Medizinische und literarische Referenzräume in Durs Grünbeins Schädelbasislektion. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 191–212, hier S. 212).
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5 Zusammenfassung Der analytische Durchgang durch vier frühe Gedichte Grünbeins hat ein Spektrum unterschiedlicher Funktionsweisen von sprachbasierter Bildlichkeit offengelegt. In der Folge der behandelten Gedichte wurde hinsichtlich der Homogenität der visualisierbaren Isotopien der Gedichte (Pictura) ein stufenloser Übergang von einer homogenen Pictura (Farbenlehre) über die Verwendung isotoper Picturateile (Anderswo), der Kombination disparater Picturae (MonoLogisches Gedicht No. 5) bis hin zu einer picturafreien, unanschaulichen Verflechtung diskrepanter Isotopien (Schädelbasislektion) nachgezeichnet. Obgleich bereits im Fall der homogenen Pictura durch deren Kombination mit Motto und Subscriptio ein Oszillieren zwischen Wahrnehmungsbild und Sinnbild und damit eine stärkere Aktivierung des Lesers intendiert ist, nimmt die wirkungsästhetische Affinität zu einer solchen Involvierung mit dem Abbau der Picturahomogenität bzw. der Verstärkung semantischer Montageformen zu. Mit der Kombination disparater Picturae und der bildzersetzenden Verflechtung diskrepanter Isotopien wird eine forcierte imaginative und kognitive Stimulationsintensität erzielt. Dies meint Grünbein mit seiner „Theorie vom Ortssinn der Worte“, die den „Kern“ seiner Poetik ausmache: Schwingungswert und Stellenwert des in den Vers gebundenen Wortes bedingen einander. Der Stellenwert ist zugleich auch der Gradient für den Ortssinn der Worte, man könnte sagen: ihr Heimweh nach einer stabilen Bedeutung für den Einzelnen, der mit ihrer Hilfe seine Existenz in Zeit und Raum zu verankern hofft. In der Poesie kommt es, wie auf die Variablen in mathematischen Gleichungen, auf das einzelne Wort an.39
Insbesondere für das letzte der untersuchten Gedichte kann dieses Darstellungsverfahren als Faszinationsstil bezeichnet werden. Dabei wird auf die semantische Diskrepanz durch ein intensives sinnliches Stimmigkeitserleben (Klang, Rhythmus) ein hoher Kohärenzbildungsdruck ausgeübt, der die faszinierende Sogwirkung dieses Gedichtes erklären kann. Das die Fragmentierung, nicht Auslöschung von Bildlichkeit voraussetzende Erleben ästhetischer Faszi-
|| 39 Grünbein, Vom Stellenwert der Worte, S. 53. Grünbeins „Theorie vom Ortssinn der Wörter“ zeigt Parallelen zur Sprach- und Dichtungstheorie Johann Georg Hamanns, die insgesamt für eine Ästhetik der Faszination grundlegend ist: „Die Wörter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen und ihre Begriffe sind in ihren Bestimmungen und Verhältnissen, gleich den Münzen nach Ort und Zeit wandelbar.“ (Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. In: ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 2. Hrsg. von Josef Nadler. Wien 1950, S. 57–82, hier S. 71)
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nation kann mit Grünbein als Verbindung von sinnlicher Lust (noch einmal „murmelnd“) und kognitiver Herausforderung („als hätte es nie ein Verstehen gegeben“) beschrieben werden: [D]as Gedicht tritt auf der Stelle und tut so, als hätte es nie ein Verstehen gegeben, es treibt die Worte dorthin, wo sie behalten werden, wo eine Stimme sie murmelnd noch einmal und noch einmal wiederholen muß ... selbst dann noch, wenn ein Teil von ihnen (oder das Ganze) längst als verstanden gilt.40
Dieses Darstellungsverfahren eines sinnlich präformierten Kohärenzbildungsdrucks kann, in markanter Absetzung zu Grünbeins Poetik der doppelten Bildlichkeit (Wahrnehmungs- und Sinnbild), als Poetik der Faszination bezeichnet werden.
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|| 40 Aus Grünbeins Kommentar zu Gedichte und Teillösungen von Peter Waterhouse. In: Durs Grünbein; Brigitte Oleschinski; Peter Waterhouse: Die Schweizer Korrektur. Hrsg. von Urs Engler. Basel 1995, S. 62.
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Hamann, Johann Georg: Sokratische Denkwürdigkeiten. In: ders.: Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe. Bd. 2. Hrsg. von Josef Nadler. Wien 1950, S. 57–82. Köller, Wilhelm: Sinnbilder für Sprache. Metaphorische Alternativen zur begrifflichen Erschließung von Sprache. Berlin, Boston 2012. Korte, Hermann: Bildlichkeit. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. 2. Aufl. München 1997, S. 257–271. Link, Jürgen: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis. 6. Aufl. München 1997. Mitchell, William J. Thomas: Bildtheorie. Hrsg. und mit einem Nachwort von Gustav Frank. Frankfurt a.M. 2008. Mödersheim, Sabine: Emblem, Emblematik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2: Bie–Eul. Hrsg. von Gert Ueding, Sp. 1098–1108. Richter, Sandra: Wie kam das Bild in die Lyriktheorie? Präliminarien zu einer visuellen Theorie der Lyrik. In: Das lyrische Bild. Hrsg. von Ralf Simon u.a. München 2010, S. 63–78. Simon, Ralf: Der poetische Text als Bildkritik. Paderborn 2009. Simon, Ralf: Die Bildlichkeit des lyrischen Textes. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke. München 2011. Stockhorst, Stefanie: Ästhetisierung der Anatomie. Medizinische und literarische Referenzräume in Durs Grünbeins Schädelbasislektion. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 191–212.
Ralf Simon
Szenographie und Zeitverlauf Zur Bildlichkeit der Lyrik Durs Grünbeins (Erklärte Nacht: Traktat vom Zeitverbleib)
1 Das lyrische Bild als Textkategorie Wenn der Terminus des lyrischen Bildes eine für die Literaturwissenschaft analytisch einlösbare Dimension haben soll, dann muss er als Textkategorie denkbar sein. Er kann mithin keinesfalls vom Terminus des inneren Bildes ausgehen, wenngleich er mit diesem die Bestimmung des Unsichtbaren teilt. Ebenso wenig wird die intermediale Szene weiterhelfen, also die Verknüpfung des sichtbaren Bildes mit dem Text über die Kopula ‚und‘ (Text ‚und‘ Bild), weil darin das Problem, was poetische Bildlichkeit sei, auf das visuelle Bild zuerst ausgelagert und dann durch eine bloße Kopula mit dem Text als etwas anderem verknüpft wird. Das lyrische Bild ist vielmehr eine Formierung der Sprache hinsichtlich einer bestimmten, sehr komplexen Verwendungsweise. Es ist nicht sichtbar, aber textuell nachweisbar. Das lyrische Bild ist in dem Maße sinnlich, wie man textuelle Gegebenheiten ‚sinnlich‘ nennen mag. Was man anhand eines Textes imaginiert, der inneren Anschauung beiträgt oder auf vorher Angeschautes zurückführt, dies alles betrifft außertextuelle Gegebenheiten. Vielleicht mag man daran glauben, dass der Autor glaubt, das Gedicht führe „das Denken in einer Folge physiologischer Kurzschlüsse vor“.1 Vielleicht. Aber zunächst lesen wir einen Gedichttext. Wird man ihn gut lesen, wenn man, anstatt die Sprache zu beobachten, die Sprache benutzt, um sie als referierend auf physiologische Kurzschlüsse zu verstehen? Wenn uns das Gedicht überzeugt, dann nicht, weil es auf etwas verweist, dem man Interesse entgegenbringen kann (oder auch nicht). Es überzeugt, sofern es eine sprachliche Präsenz hat, die gerade nicht von sich wegverweist. Die Sprache selbst muss den Leser überzeugen, sie als eigenständige Metapher z.B. von physiologischen Kurzschlüssen lesen zu wollen, und das wird sie nicht allein als Darstellung von Kurzschlüssen bewerkstelligen können.
|| 1 Durs Grünbein: Mein babylonisches Hirn. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 18–33, hier S. 33.
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Bildlich wird lyrische Sprache durch eine intensive aisthetische Verdichtung, die innerhalb des Textes nur durch solche textuelle Rekursionen erzeugt werden kann, welche den semantischen Funktionalitäten eine der Sprache selbst entwachsende ikonische Manifestation zur Seite stellt.2 Sprache ‚bezieht‘ sich nicht auf (visuelle) Bilder, sie ist in ihrer eigenen Struktur mit dem Ikonischen verknüpft, und sie entlässt es aus sich durch eine Rekursionsform, die wir poetisch zu nennen uns angewöhnt haben. Vorderhand lässt sich das Gedicht als eine Szene beschreiben, welche sich durch die vielfach in sich hineingespiegelte Textlogik solange verdichtet, bis die Differenz zwischen Semantik und Ikonizität in Bewegung gerät und die Sprache zum distinkten Oszillieren von Bild und Text3 anhebt. Das wäre der Ort des Gedichtes: Immer in und zugleich hinter der Sprache, in ihr ihr Anderes findend, um von dorther die sprachliche Poiesis neu zu vereinbaren. Das Bildliche ist der Lyrik nur dann zuzudenken, wenn das Gedicht eine solche insistente Reflexion zulässt und also die Kraft besitzt, auf jede mit Recht gestellte Frage nach dem Bild eine gerechte Antwort4 geben zu können. In diesem Moment wird die Szene des Gedichtes, die vorderhand eine thematische sein kann und meist auch ist, zu einer Szene der Text-Bild-Inversion. Lyrische Szenographie ist insofern ein Suchbegriff für poetologische Inversionsbewegungen. Wird sie mit dem Zeitbegriff in Verbindung gebracht, dann ist damit gesetzt, dass Zeit hier als Rekursionsfigur zu denken ist, also gegen die Vorstellung einer nur chronometrisch verlaufenden Linie. Durs Grünbein, der Vielen als der bedeutendste deutschsprachige Lyriker der Gegenwart gilt, hat in seinem Gedichtband Erklärte Nacht einen aus 22 Gedichten bestehenden Traktat vom Zeitverbleib5 veröffentlicht. Bedenkt man die intensiven essayistischen Überlegungen Grünbeins zur Möglichkeit einer dritten, präzisen ebenso wie sinnlichen Sprache zwischen Naturwissenschaft und Belletristik,6 dann gibt der Titel dieser Gedichtfolge das Versprechen, Zeit und || 2 Vgl. zur Unterscheidung von semantischer Funktionalität und ikonischer Manifestation sowie zur Frage einer Bildtheorie des Textes: Ralf Simon: Der poetische Text als Bildkritik. München 2009. 3 Vgl. Jean-Luc Nancy: Am Grund der Bilder. Berlin 2006, S. 109–133. 4 Vgl. Anselm Haverkamp: Figura cryptica. Frankfurt a.M. 2002, S. 149–162. 5 Durs Grünbein: Erklärte Nacht. Gedichte. Frankfurt a.M. 2002: Der Traktat vom Zeitverbleib findet sich auf den Seiten 97–118. Zitiert wird hier nach dieser Ausgabe unter Nennung der Gedichtnummer und der Verszeile. 6 Vgl. dazu Olav Krämer: Bildliches Denken als Erkenntnismodus zwischen Poesie und Wissenschaft. Grünbein über Dante, Darwin, Hopkins und Goethe. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 241‒ 257.
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lyrische Poiesis zu bedenken: durchaus philosophisch (Traktat), aber in der Sprache des Gedichts. Der exegetische Gang durch die Gedichte gestaltet sich im Folgenden als Gang antithetisch gesetzter Analyseschritte. Zuerst (2) steht die irritierende Reduktion der Zeit, so wie sie in den Gedichten thematisch formuliert wird, zur Debatte. Die Irritation besteht darin, dass eine entleerte Zeit keinen Anschluss an eine gehaltvolle Lyrik erlaubt. Im Gegenzug (3) entdeckt sich dann aber die Sequenz der ersten drei Gedichte als Formulierung eines dichten Wahrnehmungsmodells, in dem die Stimme als Ordnungskraft im Feld einer synästhetischen Wahrnehmung verstanden wird und das Gedicht, als eine solche Stimme, selbst zum Wahrnehmungsvollzug wird. Das vierte Kapitel thematisiert die lyrische Szenographie, indem die in der Sammlung nach den Eingangstexten folgenden Gedichte in zwei Gruppen eingeteilt werden: Gedichtgruppe der metonymischen Mimesis und Gedichtgruppe der vanitas-Semantik. Hier verflacht offenkundig die lyrische Intensität und fällt auf den entleerten Zeitbegriff zurück, der im zweiten Kapitel analysiert wurde. Abschließend (5) wird der Widerstreit von starken und schwachen Gedichten, von entqualifizierter Zeit und dichtem Wahrnehmungsmodell noch einmal vertieft, indem die Selbstaussagen der Gedichte (enge Textur) in den Kontrast zu ihrer lyrischen Praxis gestellt werden.
2 Formalisierungen, Reduktionen: Zeit und Selbstbezug Das Wort ‚Zeitverhalt‘ erinnert an Klopstock. In seiner metriktheoretischen Hauptschrift Vom deutschen Hexameter steht „Zeitausdruck“ für die langsame oder schnelle Bewegung der Worte, also für die quantitative Dimension des prosodischen Materials, „Tonverhalt“ aber für die Beschaffenheit der Silben, je nachdem, ob sie steigend oder fallend sind.7 ‚Zeitverhalt‘, quasi die Summenformel der beiden genannten Termini, ist ein Begriff, den Voß in seiner Metriktheorie8 und in einem Brief an Klopstock (Juni 1785) benutzt. Dass auf Klopstock verwiesen wird und folglich die weitgehende Alliteration von Grünbeins ‚Zeitverbleib‘ auf den Terminus ‚Zeitverhalt‘ naheliegt, mag man den || 7 Friedrich Gottlieb Klopstock: Vom deutschen Hexameter. In: ders.: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hrsg. von Winfried Menninghaus. Frankfurt a.M. 1989, S. 126f. 8 Johann Heinrich Voß: Zeitmessung der deutschen Sprache. Königsberg 1831 [zuerst 1802], S. 96–114 („Vom Zeitverhalt“).
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Reimworten des ersten Gedichtes aus dem Traktat entnehmen. „Kopf – tropft – klopft“ spielt nicht nur anagrammatisch mit dem Autornamen Klopstock, sondern explizit mit der bei Clemens Brentano kreierten Verunglimpfung Klopfstocks.9 Die metriktheoretische Pointe, die in Klopstocks Unterscheidung von Zeitausdruck und Tonverhalt zu finden wäre, wird freilich von den 22 Gedichten des Traktats unterlaufen. Sie zeichnen sich kaum durch eine metrische Raffinesse aus, die sich auf Klopstock zu beziehen das Recht haben könnte. Meist in den beiden alternierenden Versfüßen geschrieben, weisen sie nur wenige Irregularitäten auf, zuweilen eine zweite Senkung. Andererseits hat aber das hier an Grünbein herangetragene Wort ‚Zeitverhalt‘ einen spezifischen semantischen Wert. Indem durch die Wortneubildung die für die deutsche Metrik spezifische Differenz von quantitativer und qualitativer Prosodie nicht mehr aufrechterhalten wird, tritt die Zeit als solche, in ihrer bloßen Abstraktheit hervor. Klopstocks Begriffspaar Tonverhalt/Zeitausdruck intendiert mit seiner Spannung zwischen Zeit und Ton die durch das Gedicht performativ vollzogene Gestaltung der Zeit, während die Verschmelzung zu einem Begriff (Zeitverhalt) diese Spannung gerade auflöst. Lyrische Zeit kann sich nicht als solche in den Verhalt stellen, ihrem quantitativ-chronometrischen Ablauf kann erst der Ton eine Wahrnehmungsqualität beibringen. Die Metapher Zeitverhalt (wenn es denn eine Metapher ist) nihiliert alle metriktheoretische Qualifikation und lässt allein die abstrakte und leere Zeit übrig. In diesem Sinne wird die thematische Frage, wo die Lebenszeit verbleibt (Grünbeins Zeitverbleib), auf der Ebene der Metrik verdoppelt. An Grünbeins entfernte Klopstockreminiszenz den Terminus Zeitverhalt heranzutragen, hat also die philologisch eher assoziative, gedanklich aber genaue Pointe, eine metriktechnische Entsprechung zum Problem der leerwerdenden Zeit – dem Thema des Traktats – artikulieren zu können. Das dritte Gedicht fügt dem hinzu: Zeit aber ist nicht das Wort. Weil es nicht zupackt, nicht beißt.
Gemeinhin wird man der Ansicht sein, dass es prominente Metaphoriken der Zeit gebe, allen voran die von ihrem Verfließen. Aber tatsächlich ist ‚Zeit‘ kein Wort, das eine Metapher bilden kann. Blumenberg hat in seinen Studien zur Metaphorologie darauf hingewiesen, dass Begriffe wie Welt, Natur, Geschichte
|| 9 Vgl. Clemens Brentano: Das Märchen von dem Schulmeister Klopfstock und seinen fünf Söhnen. In: ders.: Werke. Bd. 3. Hrsg. von Friedhelm Kemp. München 1965, S. 439–483.
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oder Zeit einen eigentümlichen Zwischenstatus haben.10 Sie sind weder denotativ einlösbar noch konnotativ an spezielle Metaphoriken gekoppelt; sie haben einen kaum bestimmbaren begrifflichen Gehalt, sind aber auch nicht an bestimmte Vorstellungen gebunden; sie stehen für Totalhorizonte, die sie nicht adressieren können, obwohl sie dennoch semantisch unverzichtbar sind. Ihre jeweilige Funktion entspringt aus der doppelten Bewegung einer sowohl begrifflichen als auch metaphorischen Beziehung, deren Rechtsgrund arbiträr ist. Wir veranschaulichen uns den Kollektivsingular ‚Zeit‘, indem wir eine vollständig anschauungslose, aber auch als Begriff schwer zu definierende Einheit durch Bilder und Metaphoriken in eine Konkretheit überführen, deren fundamentum in re dahingestellt bleibt. Blumenberg hat dafür – für die Literaturwissenschaft etwas irreführend11 – den Begriff der absoluten Metapher als Grenzbegriff eingeführt. ‚Zeit‘ hat keinen Bildbereich, der sich mit einem anderen zu einem tertium comparationis verbinden könnte; ‚Zeit‘ hat auch keine spezifische Semantik, die sich eignen würde, ihr konnotatives Feld mit dem eines anderen Begriffes zu verschränken. In diesem Sinne kann ‚Zeit‘ keine Metaphern im üblichen Sinne bilden. Die Sprache reagiert nach Blumenberg auf dieses Problem, indem sie einen vollkommen bildlosen Begriff mit einem bildlichen Vorstellungsgehalt nicht über ein tertium verbindet, sondern beides schlechthin identifiziert. Das Verfließen der Zeit ist eine solche absolute Metapher, denn der ikonische Bereich besteht vollständig aus den Potenzialen des einen Relatums der Metapher (Verfließen), während das andere (Zeit) davon vollständig überdeckt oder ausgefüllt wird. In diesem Sinne erzeugt ‚Zeit‘ ständig absolute Metaphern, weil das Wort weder als Begriff stabil ist noch eine genuine Bildlichkeit mitbringt. Zeit kann also tatsächlich nicht das Wort sein, mit dem sich lyrische Bildlichkeit aufbauen ließe, es packt nicht zu, weil es keinen Rechtsgrund kennt, sich an ein anderes Wort zu halten. Es bleibt isoliert oder es wird in der absoluten Metapher total.
|| 10 Vgl. die Überlegungen Hans Blumenbergs in seinem Aufsatz Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. In: ders.: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a.M. 1979, S. 75–93, bes. S. 81f. 11 Der Begriff findet sich vor Blumenberg und in anderer Bedeutung bei Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. 6. Aufl. Hamburg 1974. Affinitäten dazu hat der Begriff der kühnen Metapher: Harald Weinrich: Semantik der kühnen Metapher. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37 (1963), H. 3, S. 325–344. – Blumenbergs in seinem Aufsatz Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit entwickeltes Konzept der absoluten Metapher meint aber nicht das Fehlen des tertium comparationis, sondern die vollständige Deckung eines Bildes (Verfließen) mit einem Begriff der höchsten Abstraktionsstufe (Zeit).
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Damit hat sich der Traktat vom Zeitverbleib eine aporetische Ausgangsposition geschaffen. In der dekonstruierenden Aufnahme Klopstocks wird Zeit entqualifiziert, aber genau diese Nullposition ist dem lyrischen Text keine Handreichung. Der Traktat beginnt radikal, geradezu in einer gedanklichen Geste, die einer Reduktion folgt, die dem von Grünbein stets bekämpften Cartesianismus entspricht. Wo Descartes in den Meditationes auf ein cogitans sum zurückgeht und dann die Schwierigkeit hat, von dieser leeren Position aus wieder zur Welt zu kommen, referiert Grünbeins Traktat auf den formalsten und leersten Zeitbegriff. Die Frage, ob und wie unter diesen Startbedingungen Lyrik geschrieben werden könne, stellt sich so radikal wie analog bei Descartes die Frage nach dem argumentativen Fortgang, der aus dem Reduktionsexperiment herausführen könnte. Allerdings kann Grünbein im Unterschied zu den Meditationes nicht auf einen Gottesbeweis zurückgreifen. Sein Problem, lyrische Textualität erzeugen zu wollen, ist angesichts einer solchen Reduktion fast noch größer als das Descart’sche Problem, in dessen semantischer ego-cogito-Struktur immerhin die Voraussetzung einer göttlichen Definitionsmacht enthalten war. Grünbein steigert diese Sachlage um eine weitere, ebenfalls der philosophischen Tradition entspringende Überlegung. Die Gedichte scheinen die Zeitproblematik mit derjenigen der Selbstreflexion zu verknüpfen, wobei diese wiederum in ihrer formalen Eigenschaft der Selbstverfehlung infolge des Selbstbezuges verstanden wird. Die Paradoxie der Aktdifferenz der Selbstreflexion spaltet das sich auf sich beziehende Ich in das gedachte und das denkende Ich, in factum und facere, und verfehlt dadurch systematisch genau jene Einheit des Ich, um derentwillen die Reflexion auf sich selbst anhob. Für diesen Mangel der Reflexionslogik, der wiederum seinen Grund in der Zeitdifferenz zwischen Denkakt und Denkresultat hat – erst die kontrafaktisch angenommene unmittelbare zeitliche Identität von Denken und Gedachtem könnte Selbstidentität realisieren –, gibt es eine Reihe von topischen Formulierungen. Die Gedichte des Traktats vom Zeitverbleib versammeln diese gängigen Philosopheme. Es ist die Rede vom „Wunsch aufzuklären, was hinterm Rücken geschah“ (Gedicht 1, Vers 12) oder davon, „der Zeit […] beim Fressen“ (Gedicht 2, Vers 20) zusehen zu können, „[s]olange man neben sich steht“ (Gedicht 2, Vers 19). Das Verlöschen des Ziels in der reflexiven Drehung der Erinnerung (Gedicht 3, Strophe 4), die wiederkehrende Paradoxie des Ursprungs (Gedicht 1, letzter Vers; Gedicht 2, Vers 1; Gedicht 11, letzte Strophe), schließlich die prosaische Kurzformel, dass das Gedächtnis das, „was eins war, entzweit“ (Gedicht 19, Vers 11) und dass „[j]eder […] um den Blinden Fleck [kreist]“ (Gedicht 20, Vers 16): Grünbeins Gedichte lesen sich auf dieser Ebene als Ansammlung des Formulierungsrepertoires der Reflexionstheorie.
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Die bisherigen Beobachtungen zum Traktat vom Zeitverbleib sind irritierend. Sie bestehen aus einer Bewegung nicht der lyrischen, sondern der philosophischen Reduktion auf die bloße Zeit und auf die formalisierte Idee des Selbstbezuges. Weder wird Zeit metrisch gestaltet, noch wird sie phänomenal gebunden. Sie ist als purer chronometrischer Verlauf oder als das ungenügende Wort bestimmt, also einer vollständigen Entqualifizierung unterworfen. Der thematische Anlass der Gedichte, der im 40. Geburtstag eines männlichen Subjekts gesucht wird, wird den Texten nicht zur Aufforderung einer ins Konkrete buchstabierten Zeiterfahrung. Er mündet vielmehr in einer sehr allgemeinen, an die vanitasSemantik des Barock erinnernden elegischen Klage über die Vergänglichkeit und über das Rätsel der Zeit. Diese Gemengelage ist ein schlechter Ausgangspunkt für eine Lyrik, die, wie aus Grünbeins essayistischem Werk zu entnehmen ist, abstrakte Trennungen von Geistes- und Naturwissenschaft unterlaufen und gerade die nomothetischen Epistemologien an eine sinnliche und präzise Beschreibungssprache rückbinden will. Fast erwecken diese Gedichte zumindest in der bislang skizzierten Ausgangslage den Eindruck, genau diejenige Abstraktion und Reduktion zu vollziehen, gegen die sich Grünbeins Intentionen formieren.
3 Blick und Erblicktwerden, Bild Überraschenderweise bieten die Gedichte gegen diese gedanklichen Formalisierungen ein genuin inhaltliches Theorem auf, das der Responsivität des Blickes. Im dritten Gedicht ist zu lesen, dass gegen die schmerzlich ausgesprochene Silbe – „Zeit“, das einsilbige Wort ist hier gemeint – keine Predigt hilft, sondern: Nur Aufblicken, himmelwärts. Auch, wenn von dort bald (Habacht!) Die Augen zurückkehrn. (Gedicht 3, Vers 8–10)
Die Responsivität des Blickens ist in der Phänomenologie12 und in der ihr folgenden Bildtheorie13 ein zentrales Theorem. Der Blick erkennt das, was ihn an-
|| 12 Vgl. Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M. 2006. Im Hintergrund stehen die Überlegungen zum sehenden Sehen und zur Reversibilität im Kapitel Die Verflechtung – Der Chiasmus bei Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare gefolgt von Arbeitsnotizen. Hrsg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von
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schaut. In den Gesichtskreis tritt, was selbst die Intensität eines Blickenden besitzt. Indem unser Sehen über die Dinge hinwegschweift, bleibt es dort hängen, wo die Konstellation des Dinglichen eine sprechende ist. Die Grunderfahrung des Gespenstes, dass es uns immer schon erblickt hat, bevor wir es sehen und wir seinen Blick auf uns gerichtet fühlen,14 steckt in jedem Erblicken. Wir sehen nur, was wir als das gesehen haben, das uns schon gesehen hat. Das erste Gedicht hebt mit diesem Motiv an: Vis-à-vis gehn die Lichter aus. Die Nacht schluckt, was sie kann. Die Straße, ein Tankerdeck, sinkt und versinkt unter den zähen Strudeln aus Abfall und Laub, mit denen heut Gestern begann. Zum Meeressaum wird die Stadt. Ferne Geräusche nähen Den Fenstern ein paar letzte, dubiose Geschichten an. Ein Mann sitzt da und wird vierzig. Er hält sich den Kopf, Gebeugt übern Tischrand, ein Alpinist, wie zum Biwak bereit, Am gesicherten Seil. Er riecht seinen Körper. Ein Wasserhahn tropft. Irgendein Dichter schrieb in den Vers was vom Abhang der Zeit. Eine Formel, wofür? Ein Refrain, der ans Stirnbein klopft. Nicht das Altern, das schlimme war diese Fragerei, Blindlings, der Wunsch aufzuklären, was hinterm Rücken geschah. Könnten sie winken, die Dinge, man wäre, von soviel Bye-bye Ganz erschöpft. Selbst der Gruß einer Mücke ging einem nah. Was zuerst da war? Die Stimme. Sie fragt nach der Henne, dem Ei.
„Vis-à-vis“ ist das erste Wort des Traktats, und es oszilliert nicht untypisch für Grünbein zwischen dem alltäglich Idiomatischen und der Blick-auf-BlickResponsivität. Programmatisch ist das erste Gedicht auch darin, dass es sich als synästhetisches Wahrnehmungsmodell präsentiert. Man mag die Metaphern, dass die „Nacht schluckt, was sie kann“ (Vers 1) und dass ferne Geräusche den Fenstern Geschichten annähen (Verse 4f.), nicht für sehr gelungen halten, aber es wird deutlich, dass das Gedicht die fünf Sinne versammelt: Sehen (Vers 1), Schmecken (Vers 1: schlucken), Hören (Vers 4: Geräusche), Fühlen/Tasten (Vers 4: nähen) und Riechen (Vers 8). Das Sehen wird somit in den Verbund einer dichten Wahrnehmungsmatrix integriert. Das hypothetisch unterstellte || Claude Lefort. Aus dem Französischen von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München 1986, S. 172–203. 13 Vgl. Georges Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. München 1999. 14 Vgl. zum Visier-Effekt: Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt a.M. 1995, S. 22–24.
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„Bye-bye“ (Vers 13) der Dinge ist insofern die Weiterführung des „Vis-à-vis“. Aber erst der letzte Vers, der die Frage stellt: „Was zuerst da war?“, gibt die Antwort auf die in der Synästhesie liegende Frage. Es ist die Stimme. Das Gedicht erprobt hier ein Theorem. Die These, dass die Sinne in der Wahrnehmung ursprünglich in einem ungetrennten Knäuel vereinigt seien und dass der Säugling erst die Differenzierungsarbeit in die fünf Sinne zu leisten habe, ist stets von der Spekulation begleitet, dass es einen Leitsinn gäbe.15 Gemeinhin ist es der Sehsinn, in Herders Theorie wird der Tastsinn ontologisch und der Hörsinn epistemologisch16 mit dieser Aufgabe betraut. Grünbein votiert mit der „Stimme“ für den Hörsinn. Die Frage „nach der Henne, dem Ei“ (Vers 15) ist in diesem Kontext in das Feld dichter Wahrnehmung hineingesprochen. Für das Gedicht ist es die Stimme, welche das Wahrnehmungsnotat, das dieses Gedicht ist, in eine Ordnung bringt und welche die fünf Sinne ausrichtet. Es entsteht an dieser Stelle eine zweite Lektüre des Eingangsgedichtes. Anfangs wurden die Formel „was hinterm Rücken geschah“ (Vers 12) und die Ursprungsfrage (letzter Vers: „Was zuerst da war?“) der Aktdifferenz der Selbstreflexion zugeordnet, nunmehr aber zeigt sich, dass auch eine Deutung möglich ist, welche die Autopoiesis der Wahrnehmung betont. Hinter dem Rücken befänden sich dann die Dinge und die von ihnen ausgehenden Geräusche, Widerstände, Gerüche und Vorstellungen. Könnten diese Dinge winken (Vers 13), dann wäre das lyrische Ich dieses Gedichtes in einer permanenten Wahrnehmungsaufregung: „lebenslang Hysterie“ nennt es der achte Vers des zweiten Gedichtes, welches die Wahrnehmungstheorie konsequent weiterschreibt. Die Wahrnehmung ist also ein synästhetisches Knäuel, welches tendenziell das Ich zu einem mannigfach verstreuten vielfachen Selbst17 dissoziieren könnte. Die Alternative bestünde zunächst darin, Ich und Welt unberührt nebeneinander her laufen (Gedicht 2, Vers 5–7) oder das Ich zum Wahrnehmungshysteriker werden zu lassen. Aber das zweite Gedicht etabliert eine Vermittlung:
|| 15 Vgl. zu dieser Debatte: Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne. Hrsg. von Hans Adler und Ulrike Zeuch. Würzburg 2002. 16 Herder denkt den Tastsinn als ontologisches Fundament der fünf Sinne und den Hörsinn (Stimme) als den die Sinne vermittelnden Sinn. Vgl. dazu Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen: Über Riedels Theorie der Schönen Künste [1769]. In: ders.: Werke. Bd. II: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. Hrsg. von Wolfang Pross. München, Wien 1987, S. 57–240 und die Preisschrift Über den Ursprung der Sprache. In: ebd., S. 251–357. 17 Vgl. zu dieser Formulierung den Bezug zum ersten Satz des §16 Von der ursprünglichsynthetischen Einheit der Apperzeption der Kant’schen Kritik der reinen Vernunft (Ausgabe B von 1787). In: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1976, S. 140b.
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Wann fing das an, daß sich still Außen- und Innenwelt trennten? Beides war schließlich zuviel. Gibst du den Indifferenten, Zeigt sich, daß alles da draußen Auch ohne dich läuft, irgendwie. Entweder ist man hier Pause Oder lebenslang Hysterie. Angesichts all der verbauten Umgebungen, die man bald kennt, Murmelt man leis erst, dann lauter. Murmeln macht resistent. „Was, wenn hier alles an allem Einfach vorbeifällt, und nichts Entgeht diesem Wirbel? Im Fallen, Was wird gewahrt? Das Gesicht. Bist du nicht hier, um diskret Furchen zu ziehn ins Vergessen? Solange man neben sich steht, Sieht man der Zeit zu beim Fressen.“
Das erst leise, dann resistent machende Murmeln, jene Stimme aus dem ersten Gedicht, ordnet die Wahrnehmung, indem sie diese sich zuspricht. Dies ist der Sinn der Anführungsstriche der beiden letzten Strophen. Es ist die lyrische Stimme selbst, die sich hier zur Form der Wahrnehmung ruft. Zunächst wird erneut die Gefahr formuliert, dass die Wahrnehmung eine beziehungslose andauernde Metonymie des einfach Vorbeifallenden sei (Vers 13–15). Aber das, was „gewahrt“ (bewahrt und gewärtigt) wird, ist das „Gesicht“.18 Die letzte Strophe ist dieses Gesicht, ein gefurchtes („um diskret/ Furchen zu ziehn“), eines, das in sich doppelt ist, einerseits diskret anwesend, andererseits neben sich stehend: doppelter Blick, Responsivität, Vis-à-vis. Die Stimme also ordnet die Wahrnehmungen zu einem wiederum sinnlichen Modell, welches sich ikonisch darstellt. Die Stimme, das Murmeln führt nicht in die Selbstreferenz der Sprache und auch nicht in die Abstraktheit einer nur aus Begriffen verknüpfenden Logik, sondern sie führt zu einem Wechsel in den Registern des Sinnlichen: zur
|| 18 Das Gesicht wahren: Auch diese Redewendung spielt in den Vers hinein, wenn es darum geht, sich von der Wahrnehmung nicht überfordern zu lassen, sie zu ordnen, mithin das Gesicht zu wahren.
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Angesichtigkeit der Wahrnehmung, zur Lesbarkeit der Welt, zur lyrischen Szenographie. Das gefurchte Gesicht, das die letzte Strophe des zweiten Gedichtes ist, spielt aber auch mit dem Begriff des Lyrischen als solchem, nämlich mit dem versus des Verses, also der Etymologie der Ackerfurche, aus der die Idee des Verses und der Zäsur gemeinhin hergeleitet wird. Es zeigt sich, dass die lyrische Form des Verses genau die zu sich zurückkehrende Verdopplung ist, in der sich das Ich in seinem Selbstbezug aus dem es gefährdenden Chaos der dichten Wahrnehmung zu retten versucht. Die Strophe soll ein Gesicht sein. Indem das Gesicht ein Gedicht ist und indem das Gedicht in der Form seiner Parallelismen stets verwandelt immer wieder zu sich zurückkommt und seine Selbigkeit sagt – „Jede Sequenz ist ein Simile“19 –, kann es als die Darstellung genau jener abstrakten Formalismen begriffen werden, mit deren irritierender Analyse der hier versuchte Lektüregang anhob.
4 Lyrische Szenographien Lyrische Szenographie: Wenn es also die Stimme ist, deren Murmeln, Selbstgespräch, gefurchte und gedrehte Erinnerung20 aus Wahrnehmungen eine lesbare Angesichtigkeit macht, so dass „[d]ie Augen zurückkehrn“, sobald „himmelwärts“ geblickt wird (Gedicht 3), dann entsteht der lyrischen Rede mit dem Gedicht notwendig eine Szene, eine Situation, eine deutbare und damit lesbare Konstellation. Der Traktat vom Zeitverbleib kennt drei szenographische Muster. Die drei ersten Gedichte und einige spätere lassen sich als lyrische Hermeneutik der Schreibszene verstehen. Sie sind unter der Voraussetzung, dass das lyrische Ich am Schreibtisch sitzt und seine Poetologie reflektiert, kohärent lesbar. Eine weitere Gedichtgruppe thematisiert die Zeit im Horizont einer vanitas-Semantik, also als melancholischen Schwund, als Dahinsickern oder als todbringende Skandierung des Lebenslaufes. Vor allem im Mittelteil finden sich realistische Szenen; die Gedichte formulieren narrativ oder metonymisch Situationen alltagspragmatischer Zeiterfahrungen. In der Tat gehören manche Texte des Traktats geradezu der Verfahrensweise der descriptio an: eine Szene im Sportverein, pöbelnde Männer in der Sauna
|| 19 Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt a.M. 1979, S. 110. 20 „Kaum, daß Erinnerung pfeift,/ Verlischt in der Drehung das Ziel“ (Gedicht 3, Vers 13f.).
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(Gedicht 5), eine Szenographie des Zugreisenden (Gedicht 6),21 ein zum Nörgler desillusionierter Flaneur, dessen Gang durch die Großstadt aus den mythologischen Korrespondenzen Baudelaires ein „Blablabla“ macht (Gedicht 7), eine Kinoszene als Bildkritik (Gedicht 8), eine Krankenhausszene als Einordnung des ausgelieferten Körpers in das sterile Regime der Krankheitsmaschinerie (Gedicht 9), die Szenographie einer Nacht im Krankenbett (Gedicht 10), die Szene eines Verkehrsunfalls, bei der der Text offen lässt, ob der Unfall Bildspender oder Bildempfänger ist (Gedicht 20), ein Denkbild als lyrische Szene (Gedicht 21). Diese Gedichte (die schwächere Hälfte dieser Sammlung) entwerfen Beschreibungen einer Szene oder kleine Narrationen einer Situation, sie leben einerseits von ihrer mimetischen Substanz, andererseits von der Möglichkeit, eine prosaische, im Kern metonymische Lyrik zu schreiben, Lyrik also als Abbruchunternehmen ihrer selbst zu inszenieren. Das lyrische Ich steckt in diesen Texten wie in einem Wahrnehmungstunnel, es ist passiv den entgegenkommenden Bildern ausgeliefert, so im Kino, so in der Kontiguitätsassoziation der Großstadt, so in dem gereihten Hintereinander des Zuges. Das Chaos der Wahrnehmung wird in dieser Gedichtgruppe in der Tat sowohl chronometrisch als auch über den Handlungsablauftypus der jeweiligen Situation organisiert und also durchaus unter dem Niveau, das die ersten Gedichte des Traktats etabliert haben. Man wird von einem konzeptionellen Bruch in der Gesamtkomposition des Traktats vom Zeitverbleib sprechen müssen. Die genannten Gedichte illustrieren das luxuriöse Desillusioniertsein22 des gerade Vierzigjährigen, aber damit fallen sie auf ein thematisches Sprechen zurück, welches dem Zusammenhang von Subjekttheorie und synästhetischer Wahrnehmung dadurch ausweicht, dass die Frage nach der Zeit und die Frage nach der Position des Subjekts in die Gegenständlichkeit einer realistischen (metonymischen) Szene gestellt wird. Indem diese Gedichtgruppe das Lamento eines weinerlich gewordenen Existentialismus artikuliert und sich über die Unbequemlichkeiten des Zugreisenden oder über die Männerreden in der Umkleidekabine des Sportvereins auslässt, verfehlt sie mehrfach den Anspruch, den der Traktat vom Zeitverbleib in seinen Eröffnungsgedichten stellt.
|| 21 Der Zug ist in der Moderne das Inbild der Metonymie und des Realismus. Die aus vielen Filmen bekannte Szene auf dem Bahnsteig zeigt die Nachbarschaftsassoziation der Metonymie in der Abfolge der Abteile des anfahrenden Zuges. Vgl. dazu Roman Jakobson: Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak. In: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt a.M. 1979, S. 192–211. 22 Czernins umfassender und niederschmetternder Polemik gegen die Lyrik Grünbeins ist an diesem Punkt Recht zu geben. Vgl. Franz Josef Czernin: Falten und Fallen. Zu Durs Grünbeins Gedichtband. In: Der Himmel ist blau. Aufsätze zur Dichtung. Basel, Weil a.R. 2007, S. 29–56.
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Die Szenographie der Schreibszene hat in den ersten Gedichten die enge Konstellation von Ich-Reflexion und dichter Wahrnehmung formuliert und damit das Gedicht als Wahrnehmungsmodell gedacht. Die Gedichtgruppe der realistischen Zeiterfahrungen dementiert diese Konstitutionsproblematik durch eine prosaische Mimesis und widerruft damit de facto den gleichsam transzendentalpoetischen Auftakt. Dieser gedankliche Rückschritt schlägt sich in der lyrischen Form nieder: Die Gedichte lassen die intensiven Rekursivitäten der Anfangsgedichte vermissen und vertrauen einzig auf ihr Erzählprogramm, so dass sie zu kreuzgereimten Momentaufnahmen eines missgelaunten Blicks auf die unschöne Wirklichkeit geraten. Vom 12. Gedicht an folgen Texte, welche die abstrakte Negativität der Zeit thematisieren. Auch diese Gedichte irritieren, denn sie praktizieren genau das, was schon im dritten Gedicht als nichtpraktikabel ausgewiesen wurde: „Zeit aber ist nicht das Wort“, war dort zu lesen. Die Frage nach dem Verbleib der Zeit, ihr Dahinsickern (Gedicht 14), ihr Sichmitteilen als „Schwund“ (Gedicht 12) das bloße Vorsichherschieben der Zeit (Gedicht 16), Zeit „nur als Frist“ in der Kontingenz der Lebensformen (Gedicht 17), Zeit als vereinzelnder und nagender „Stundenwurm“ (Gedicht 18), Zeit als Verkürzung des Glücks (Gedicht 21): Diese Motive fallen auf ein Konzept von Zeit zurück, welches als das bloße Verfließen von leerer Gegenwart, als abstrakte Wanderung des Jetztpunktes ohne jede formierende Kraft begriffen wird. Dabei haben doch gerade die ersten Gedichte des Traktats Wahrnehmung als Ergebnis einer lyrischen Stimme verstanden, so dass die Möglichkeit vorhanden gewesen wäre, Zeit als qualitative Formierung der Wahrnehmung durch die Macht der lyrischen Angesichtigkeit zu denken. Kurioserweise wird ein starker Begriff der Zeit, der zunächst etabliert wird, durch die dann folgenden Texte ignoriert, um in den lyrischen Ton einer Klage über den Zeitverfall (nicht also den Zeitverbleib) zu münden. So formuliert das 18. Gedicht: Worin das Gemeinsame liegt, Hat sich schon mancher gefragt, Wo alles vorm Herzschlag verfliegt, Während der Stundenwurm nagt. Einsamkeit treibt sie zuhauf. Eigensinn stellt hier die Weichen. Man streichelt, betrügt sich und rauft, Tanzt, geht zerstreut über Leichen.
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Unterwegs auf geheimen Pfaden Leben sie – jeder in seiner Welt. Sechs Milliarden Monaden, Die ein Ich bei Bewußtsein hält. In Urwäldern, Wüsten und Städten, Sie sammeln sich überall, Unter Steinen wie Asseln, in Betten. Was sie antreibt? Élan vital. Keinem wird jemals schwindlig Beim verzögerten Fall durch die Zeit. Bis zuletzt hoffen sie, kindlich, Auf ein wenig Geborgenheit.
Die Mischung aus vanitas-Semantik in der Form der entqualifizierenden Aufzählung des weltlichen Treibens (Verse 7f. und Strophe 4) und Anspielungen auf Theoriebestände der Metaphysik (Leibniz’ Monaden, Bergsons élan vital) sowie einem Zeitbegriff, der zum verfliegenden Herzschlag wird (Vers 3), aber keinerlei Synthesisfunktion mehr zugesprochen bekommt, lässt das Gedicht auf eigentümliche Weise flach werden. Die poetische Textualität kehrt nicht mehr zu sich zurück, sie vertieft sich nicht in das anfangs doch behauptete Wahrnehmungsmodell einer vielfachen Rekursion der Sinnlichkeit. So fragt man sich, wie das Aufeinanderfolgen der Lyreme zu denken sei. Kann der Herzschlag verfliegen, „während“ zugleich „der Stundenwurm nagt“? Wenn die Sekunde verfliegt und die Menschen wie berührungslos durch die Zeit fallen (Vers 18), kann man dann überhaupt zur zeitlichen Synthesis der ‚Stunde‘ kommen? Ist nicht schon längst die Zeit verflogen, die gesammelt erst die Stunde ergäbe, an der gleichwohl und währenddessen der zitierte Wurm nagt? Wenn dem aber so wäre, aus welcher Position wird all dies beobachtet? Das Gedicht kennt ein erstaunlich intaktes lyrisches Ich, welches wie unbeteiligt das Zerstörungswerk der Zeit protokolliert, als ob es von ihm nicht betroffen wäre (während es seine Betroffenheit permanent artikuliert).23 Das lyrische Ich spricht nur über die anderen und deren kindliche Hoffnungen (Vers 19), als ob es nicht selbst in der Zeit stünde, wenngleich doch genau dies andauernd behauptet wird („Der Mensch? – Ein Kadaver in spe“, Gedicht 12, Vers 20). Dass diese Art des Gedichtes nur eine schwache Aufeinanderfolge, ein seinerseits gewichtloses Hindurchfallen durch die Zeit ist und keine dichte Textualität bildet, wird auch auf der Ebene der Philosopheme deutlich. Ist es dem Au-
|| 23 Vgl. auch hierzu Czernin, Falten und Fallen, S. 42, S. 52–55.
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tor24 damit ernst, Gott als reale Position zu behaupten, oder macht sich hier ein Bildungszitat gegen die Intention selbständig? Jenes Ich, das die Monaden der Weltbevölkerung (sechs Milliarden) bei Bewusstsein hält (Vers 12), ist nach Leibniz dasjenige Gottes als Zentralmonade. Dem widerspricht aber durchaus der élan vital (Vers 16), der dem Lebendigen ohne eine transzendente Erhaltungsgarantie zukommt. Das Gedicht erzeugt den Widerspruch zwischen zwei herbeizitierten Theoriegebäuden, ohne davon Notiz zu nehmen. Nicht dieser Widerspruch ist dem Gedicht vorzuwerfen, sondern die Tatsache, dass der Text nicht darauf zurückkommt, ihn unbearbeitet stehen lässt. Dass zudem das 22. Gedicht das Leibniz’sche Denkbild des Uhrwerks zitiert, aber daraus just das Gegenteil der prästabilierten Harmonie der monadischen Eigenzeiten ableitet, steigert die Ratlosigkeit des Lesers hinsichtlich der Frage, wie ernst man die benannten Philosopheme zu nehmen hat. Die Frage schlägt auf das Gedicht zurück. Ist es nur ein Wahrnehmungsprotokoll, in dem sich entlang einer mechanischen Zeitachse ein lyrisches Murmeln einstellt, welchem es einerlei ist, einmal Bergson und einmal Leibniz zu assoziieren, ohne deren Kohärenz zu bedenken? Ist es also im eigentlichen Sinne ein verzögerter Fall durch die Zeit hindurch (Vers 18)? Ist Grünbeins Lyrik, statt formierter Widerstand gegen den ubiquitären Tausch zu sein, selbst in einem jeden Bild austauschbar?
5 Verstrickung, Verflechtung, Schichtung: Das lyrische Bild? Die „Verstrickung[.] [m]acht jeden zum Brombeerstrauch“, ist im 19. Gedicht zu lesen. „[V]erklebt und zerrauft// ist das Haar“ (ebd.), störrisch gleich „einem Nadelkissen“ (Gedicht 10, Vers 1f.). „Leben“ wird im dritten Gedicht genannt, wenn sich alles mit allem einlässt,25 so wie sich das Rückgrat der Sprache reflexiv wendet, wenngleich es von „Präfix und Suffix“ umstellt, also erneut verstrickt, ist. Zeit kann auch als „Kreuzung“ (Gedicht 13, Vers 3) zwischen Vorgängen „hinterm Rücken“ (ebd.) und dem chronometrisch Offenbaren erschei|| 24 Es wurde bislang die Intentionalität des Autors nicht betont. Es wurde also z.B. nicht darauf hingewiesen, dass der Vierzigjährige der Gedichte Grünbein selbst sein könnte, der im Publikationsjahr dieses Alter erreichte. Dort aber, wo das Gedicht gegen seine Form die Brüche zeigt, die aus dem Eingreifen einer Intention resultieren, welche nicht dem Text folgt, sondern einer Attitüde, ist vom Autor zu reden. 25 „Es läßt sich mit allem ein, Leben“ (Gedicht 3, Vers 17). ‚Leben‘ ist hier Satzsubjekt, aber als Apposition nachgestellt und im Satz zunächst unbestimmt durch das ‚es‘ markiert.
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nen, und dies heißt im 13. Gedicht „Wald“ (Vers 13), verstanden als historische Tiefe, aus der „ein paar antike Stimmen durchs Brausen/ Der Zeiten drangen“ (Gedicht 10, Verse 4f.).26 Entsprechend können die Bilder wie im rückwärts gespulten Film „im Krebsgang“ (Gedicht 15, Vers 11) gehen oder „im Einzelbild“ (ebd., Vers 12) stocken. Analog verspricht die Grammatik Rückhalt gegen die Zeiten (Gedicht 21, Verse 9f.). Diese Stellen machen deutlich, dass der Traktat vom Zeitverbleib durchaus einen komplexen Begriff der Zeit kennt. Verdichtung, zeitliche Verkehrung, Übereinanderlagerung, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und also rhizomatisch verschränkte Semantiken, im Wald und im Brombeerstrauch das Bild komplexer Verflechtungen: Diese Bildersprache ist auf der Suche nach einem Zeitbegriff, welcher der Wahrnehmungstheorie des ersten Gedichtes entsprechen könnte. Wenn an der Gedichtgruppe der metonymischen Mimesis und an der Gedichtgruppe der vanitas-Semantik Ungenügen artikuliert worden ist, dann wurde der Rechtsgrund dafür an denjenigen Gedichten gewonnen, welche die Szenographie der Schreibszene ausformulieren. Grünbeins Gedicht tritt in der stärksten Position dort hervor, wo die lyrische Stimme das komplexe Geflecht der Wahrnehmung nicht in Philosopheme, sondern in die sprachliche Bildlichkeit überführt, Aisthesis also durch die Stimme ins Ikonische transformiert wird. Hier deutet sich eine starke Theorie der lyrischen Bildlichkeit an. Sie könnte ihre Legitimation in der Phänomenologie von Merleau-Ponty gewinnen, historisch beim anthropologischen Einspruch gegen den cartesianischen Zweisubstanzendualismus im 18. Jahrhundert (also etwa bei Herder, Baumgarten, Moritz) oder beim sprachphilosophischen Einspruch gegen die rekurrente Allianz von Gehirnforschung und Kognitionstheorie. Es handelt sich um die Theoriefelder, die Durs Grünbein in seiner Essayistik bestellt und die er in einigen seiner Gedichte auf der Ebene lyrischer Theoreme exponiert. Bei alledem bleibt die Frage, ob das Gedicht bei Grünbein aus sich selbst heraus die Kraft hat, diesen theoretischen Anspruch ästhetisch einzulösen.
|| 26 Zum Schichtenmodell der Zeit in Grünbeins Prosa vgl. Gesa von Essen: „So viele Zeiten zur selben Zeit.“ Geschichte und Gedächtnis in Grünbeins Das erste Jahr. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 79–102.
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Was eigentlich heißt es, sich ein Bild von etwas zu machen? Während man im Deutschen einen Begriff von etwas haben kann, kann man sich, wiederum im Deutschen, ein Bild von etwas nur machen. Haben im Sinne von besitzen kann man hier zwar auch ein Bild, aber diese Redeweise macht sofort klar, dass es nur ein Abbild ist, über das man (im Geiste) verfügt, und nicht, wie bei einem Begriff, den man von etwas hat, die Sache selbst. Das althochdeutsche bilidi, auf das das neuhochdeutsche Wort Bild zurückgeht, bedeutet daher auch so viel wie „die durch Nachahmung zustande gekommene und als solche mit magischer Kraft begabte Darstellung“.1 Der Gebrauch des Wortes magisch ist hier wie auch sonst – man denke an den Gebrauch der Wörter Naturmagie, Sprachmagie oder auch magischer Realismus – verräterisch. Er verrät eine Erklärungslücke, ein Nichtverstehen. Was nicht oder nicht recht verstanden wird, ist das Verhältnis von Bild, Abbild und Gegenstand – also was es heißt, sich ein Bild von etwas zu machen. Es ist diese Frage, die Frage, was das ist, ein literarisches Bild, und was es im Unterschied dazu heißt, sich ein Bild von etwas zu machen, über die im Folgenden nachgedacht werden soll, zusammen mit Durs Grünbein, mit einigen seiner Gedichte. Dass diese Frage keine ganz einfache ist und nicht ohne weiteres Nachdenken beantwortet werden kann, hängt damit zusammen, dass wir erst einmal von den Bildern, die in und um uns herum sind, zurücktreten müssen, um Distanz zu gewinnen zu ihnen: zum einen von den inneren Vorstellungs- oder Erinnerungsbildern und zum anderen von den uns überflutenden medialen Bildern. Und genau eine solche Distanzierung zu erreichen, ist der Zweck der Frage: Was eigentlich heißt es, sich ein Bild von etwas zu machen? Nehmen wir an, jemand forderte uns dazu auf, uns ein Bild eines uns ganz und gar unbekannten Menschen zu machen. Wie würden wir das anstellen? Und warum fiele uns das so schwer? Warum fiele es uns leichter, wenn wir eine verbale Beschreibung des Unbekannten erhielten (etwa derart, dass es sich um einen jungen Mann handelt, der
|| 1 Eugen Biser: Bild. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. von Hermann Krings u.a. Bd. I: Das Absolute–Gesellschaft. München 1973, S. 247–255, hier S. 248.
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so und so aussieht, diese und jene Eigenschaften, diese oder jene Lebensgeschichte hat, usw.)? Was änderte sich durch den Gebrauch der Beschreibung an unserer Fähigkeit, uns ein Bild des Unbekannten zu machen? – Und was wäre das für ein Bild? Was änderte sich an unserem Vermögen, der Aufforderung zu folgen, nun dadurch, dass uns jemand eine Photographie, also ein Abbild des Unbekannten reichen würde? Warum fiele es uns dann noch einmal um einiges leichter, der an uns ergangenen Aufforderung zu folgen? Und was wäre das für ein Bild, das wir uns dann machten? Ja, könnte es nicht sein, wir würden, nachdem wir sowohl die Beschreibung zur Kenntnis genommen als auch das Bild betrachtet haben, jene Aufforderung zurückweisen, indem wir dem, der sie geäußert hat, entgegenhalten, wir seien auch jetzt noch lange nicht in der Lage, uns ein Bild des Unbekannten zu machen? Und was folgt daraus? Zunächst dieses, dass mit dem Bild, das wir uns von etwas machen, ein normativer Anspruch einhergeht, mit den Worten einer längst vergangenen Ästhetik gesagt: ein Anspruch auf Vollkommenheit der Darstellung.2 Es ist diese, meist dem Gebrauch des Begriffs Realismus zugrunde liegende Normativität, die den Begriff des Bildes epistemisch interessant und anspruchsvoll werden lässt. Möglich ist diese Normativität, dieser Anspruch auf Vollkommenheit aber nun allein auf Grund der Tatsache, dass das Bild der Anfang einer Kette von Schlussfolgerungen ist – auf das, was es darstellt oder bedeutet. Wer mit der Aufforderung, sich ein Bild von einem ihm unbekannten Menschen zu machen, konfrontiert wird, ist meist sogleich auch mit den geläufigsten Arten des Schlussfolgerns konfrontiert, die beim Verfertigen eines Bildes eine Rolle spielen: zum einen der sprachlichen Beschreibung, zum anderen der bildlichen Repräsentation – der Photographie, zum Beispiel. Doch bevor nun Durs Grünbein in dieser Sache zu Wort kommt, noch kurz ein etwas genauerer Blick auf diese wohl vertraute Unterscheidung, darauf, worin genau diese beiden Arten des bildbasierten Schlussfolgerns – die sprachliche Beschreibung und die bildliche Repräsentation – sich unterscheiden.
|| 2 Diesen Anspruch kann man unterlaufen, wie vielfach die moderne Kunst, er ist aber immer da, und sei es dadurch, dass er zurückgewiesen wird. Er ist der Grund dafür, dass Dilettantismus in der Kunst so schwer zu ertragen ist.
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Zunächst: Bildliche Repräsentationen (Photographien, Gemälde, Vorstellungsoder Erinnerungsbilder) und sprachliche Beschreibungen haben etwas gemein: Sie dienen nicht einfach als Prämissen für Schlüsse auf Gegenstände, sondern auch als Prämissen, aus denen auf Eigenschaften von Gegenständen geschlossen werden kann – kurz: Sie beziehen sich nicht nur auf etwas, sie charakterisieren es auch, und zwar in der Regel so, dass diese Charakterisierungen wahr oder falsch sein können; die Beschreibung, die ich gebe, kann zutreffen oder nicht, ein Bild kann ein Bild eines bestimmten Menschen sein oder nicht. Was die Schlüsse, die wir aus sprachlichen Beschreibungen einerseits und bildlichen Repräsentationen andererseits ziehen, unterscheidet, liegt dabei auf der Hand: Während die sprachlichen Beschreibungen unsere Schlüsse auf Gegenstände und Eigenschaften dieser Gegenstände durch ein System semantischer und syntaktischer Konventionen regeln, geschehen die von bildlichen Repräsentationen geleiteten Schlussfolgerungen fast völlig regel- oder konventionslos, und jedenfalls weitestgehend spontan und assoziativ. Um innere Bilder oder Photographien zu entschlüsseln, muss man nicht erst eine Sprache erlernen oder ein Notationssystem beherrschen. Bildliche Repräsentationen repräsentieren, um einen Begriff der Ästhetik Nelson Goodmans zu gebrauchen, analog, nicht digital.3 Sie veranlassen uns zu Schlüssen, deren (manchmal die Gestalt von Zeichen annehmende) Prämissen weniger distinkt und bestimmt sind als die Schlüsse, die durch sprachliche Beschreibungen induziert werden. Gerade diese Undifferenziertheit ermöglicht bildlichen Repräsentationen aber eine im Vergleich zu sprachlichen Beschreibungen größere Präzision, da im Prinzip alles an ihnen auch repräsentieren kann. Bildliche Repräsentationen sind daher zugleich unbestimmtere und unendlich viel präzisere Charakterisierungen von Gegenständen. Soweit die traditionelle, ich könnte auch sagen: konventionelle, hier, zugegeben, sehr schematisiert dargestellte Sicht der Dinge.4 Lässt man nun Durs Grünbein zu Wort kommen, so ändert sie sich sofort, wie ein kurzer, zugegeben, wiederum flüchtiger Blick auf die abschließenden Verse seines den Band Erklärte Nacht eröffnenden Gedichts Was ist das, Frühling? sofort deutlich macht:
|| 3 Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übers. von Bernd Philippi. Frankfurt a.M. 1997, S. 163–165. 4 Sie findet sich etwa in Christel Fricke: Der Augenzeuge und der Polizist. Ein Beitrag über die quasi-bildlichen Vorstellungen. In: Cognitio humana. Die Dynamik des Wissens und der Werte. Hrsg. von Christoph Hubig und Hans Poser. Leipzig 1996, Bd. II, S. 934–941.
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Frühling heißt, leicht gehässig betrachten, was sich eben entscheidet, Zu leben und leben zu lassen, sich einzumischen ins Große Ganze. Heißt zusehn, wie Erregung keimt an den giftigsten Stellen, Den billigen Angeboten zu folgen, den falschen Allianzen. Er, der in allem die Klaue zeigt, wird auch diesmal nicht fehlen, Wenn es gilt, in die Nester zu greifen, wahllos. Mit erstem Flaum Etwas Öl aufzuwischen, und hier eine Handtasche aufzuschlitzen, Dort eine Kehle, ein Kleid. Hält nicht jeder den Daumen Gesenkt beim Spazierengehn? Vorm Café, wer bleibt sitzen In den häßlichen Plastikstühlen, wer döst da, den Rücken durchnäßt?5
Bereits diese kurze Passage und bereits ein erstes oberflächliches Lesen dieser Passage zeigt, dass und was mit der herkömmlichen Unterscheidung von sprachlich-beschreibendem Bild und bildlicher Repräsentation nicht stimmen kann, und zwar gerade dann nicht, wenn man einräumt, dass das Gedicht bemüht ist, ein Bild des Frühlings zu entwerfen. Denn weder ist es klar, ob, und wenn ja, in welchem Sinne es das, wovon es spricht (nennen wir es: diese besondere Art von Frühling) gibt – noch, ob es sich bei dieser Darstellung des Frühlings um eine endlich differenzierte Darstellung eines endlich Differenzierten, also eines bestimmten Gegenstands, eben dieses Frühlings handelt. Oder ob hier nicht von einem sprachlichen System aus Regeln und Konventionen ein regelloser, unkonventioneller, einzig durch die Konvention der Lyrik selbst geregelter Gebrauch eines Begriffs – des Frühlings – gemacht wird, und zwar derart, dass dabei die herkömmliche Unterscheidung von bildlicher Repräsentation und sprachlicher Beschreibung und damit am Begriff des Frühlings das Verhältnis von Anschauung und Begriff unterlaufen, kontingent gesetzt, in seiner Zufälligkeit herausgekehrt wird. So wenig, heißt das im Ergebnis, wie es Begriffe ohne Anschauungen oder Anschauungen ohne Begriffe gibt, gibt es sprachliche Beschreibungen, die nicht immer auch einen bildlichen Charakter hätten. Die konventionelle Unterscheidung von bildlicher Repräsentation und sprachlicher Beschreibung mag erklären, warum es für mich oder auch jemanden, der eine Photographie gesehen hat, einfacher ist, einen bestimmten Menschen zu identifizieren, als für all diejenigen, die nur über eine verbalsprachliche Beschreibung verfügen.6 Aber schon ein paar Verse, wie die gerade
|| 5 Durs Grünbein: Was ist das, Frühling? In: ders: Erklärte Nacht. Gedichte. Frankfurt a.M. 2002, S. 9f. 6 Oder, warum es für den Augenzeugen einfacher ist, einen Täter zu erkennen, als für den Polizisten, der nur über eine Zeugenaussage, also über eine sprachliche Beschreibung der Merkmale des Täters verfügt.
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zitierten, machen deutlich, wie haltlos diese Unterscheidung, wie bilddurchsetzt also die Sprache, gerade die Sprache der Lyrik ist. Was aber heißt hier: bilddurchsetzt? Nun, Grünbeins Verse fordern ihre Leser dazu auf, sie als Antwort auf die Titelfrage – Was ist das, Frühling? – zu verstehen und sich anhand des Gedichts ein Bild vom Frühling zu machen, ein ganz eigenes, man möchte sagen: eigensinniges. Und in der Tat, auf diesen eigenen Sinn, auf diese Weise, den Frühling als etwas Besonderes oder immer wieder etwas Besonderes als Erscheinung des Frühlings zu nehmen und sich infolgedessen ein ganz eigenes, eigenartiges und einzigartiges Bild vom Frühling zu machen, kommt es an. Und wie immer dieser in seiner Art einzige, von seinem Bild nicht mehr zu unterscheidende Frühling dann aussehen mag, es ist nicht mehr der Frühling Mörikes, der sein blaues Band durch die Lüfte flattern lässt, oder gar der Goethe’sche, Strom und Bäche durch seinen holden belebenden Blick vom Eise befreiende Frühling, der uns hier begegnet, sondern ein Frühling, der die klassisch-romantisch-biedermeierliche Vorstellung vom Frühling zum Klischee werden lässt. Bilddurchsetzt, das heißt hier also: interpretationsdurchsetzt. Anschauungen, Bilder bestimmen, wie wir etwas als etwas nehmen, und dieses bildgeleitete, sich in Bildern ausdrückende Etwas-als-etwas-Nehmen hat immer schon Eingang in die Sprache gefunden, ist nichts, was erst im Nachhinein zu ihr hinzuträte. Damit aber steht nun das Verhältnis von Bild und Begriff in Frage und eben, ob das unauflösliche Verhältnis von Anschauung und Begriff selbst wiederum ein begriffliches (philosophisches), also nach Maßgabe des Begriffs zu denkendes oder eher doch ein bildliches (poetisches), nach Maßgabe des Bildes zu denkendes ist. Nun mag es hinreichend klar sein, was ein Begriff ist oder ausmacht, nämlich die Regel, die den Gebrauch eines Wortes bestimmt. Und es mag auch noch einigermaßen deutlich sein, was mit Anschauung gemeint ist, nämlich eine gemäß der visuellen Wahrnehmung als Beobachten aufgefasste und auf ein Erkennen des Beobachteten gerichtete Tätigkeit des Geistes. Doch spätestens dann, wenn es darum geht, zu bestimmen, was ein Bild ist oder ausmacht, hat es mit der Klarheit und Deutlichkeit meist ein jähes Ende, jedenfalls dann, wenn man sich nicht einfach mit der Erklärung zufrieden geben möchte, dass ein Bild sowohl aus Anschaulichem als auch aus Begrifflichem besteht. Will man sich überdies darüber klar werden, inwiefern das Bild, gerade das literarische Bild, eine Alternative zum philosophischen Begriff sein kann, ist man gut beraten, sein Augenmerk auf das zu richten, was gemeinhin als Verkörperung des literarischen Bildes gilt: die Metapher.
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Daher begegnet sie uns nun noch einmal, die anfängliche Frage nach dem, was es heißt, sich ein Bild zu machen, nun aber anhand der Metapher – und zwar im Rahmen eines anderen Gedichts aus Grünbeins Band Erklärte Nacht. Es trägt die Metapher im Titel, es heißt Metapher. Seine ersten Verse lauten: ‚Zerplatzen aber müssen sie alle‘, scherzt Lukian Mit der Stimme des Charon. Vor Lachen Kaum halten kann der sich, auf Erden zu Gast.7
Wie unschwer zu erkennen, erklärt sich hier die Metapher, die Rede, die zu ihrem Verständnis der Bildlichkeit, der Vorstellungs- und Erinnerungsbilder bedarf, selbst. Das Als-ob, das jede Metapher ist – ich sehe Achill, als ob er ein Löwe wäre, den Raum, als ob er gekrümmt wäre, das Tischbein, als ob es ein Bein wäre –, dieses Als-ob wird hier nicht nur anschaulich gemacht wie in jeder Metapher, sondern zum Bild – dadurch, dass der Dichter Lukian mit der Stimme des Charon spricht, so, als wäre er ein anderer, der er im Als-ob zugleich ist und nicht ist. Dieses Zugleich von Sein und Nicht-Sein, diese durchaus ontologische Differenz macht die Metapher aus – ihren Grund und Abgrund, und nicht nur ihn, sondern auch das Lachen. Denn wer lacht oder scherzt, der erfährt nicht nur, dass etwas nicht ist, nicht so ist, wie er es erwartet, sondern er erfährt die Differenz zweier Welten, die Distanz, die zwischen der einen Welt liegt, die er kennt und die seine Erwartung bestimmt, und der anderen Welt, in der das, worüber er lacht, Sinn macht. Auch dem Lachen gelingt es dabei, beides, beide Welten im selben Moment präsent zu halten und dabei auch die Welt, die nicht die wirkliche ist, für einen Moment so zu nehmen, als ob sie die wirkliche Welt wäre. Dass sie es nicht ist, macht die Erleichterung aus, die das Lachen bewirkt. Dass sie es sein könnte, seine Abgründigkeit. Das Lachen, die Metapher und das literarische Bild scheinen daher auf das Engste verschwistert zu sein, überhaupt, und auch hier bei Durs Grünbein. Das Gedicht Metapher fasst diese Familienähnlichkeit in einer Vorstellung – der des mit der Stimme des Charon, des Fährmanns über den Totenfluss sprechenden und für seinen Spott berühmten satirischen Dichters Lukian von Samosata. Das Gedicht spricht so, als ob Grünbein (oder ein lyrisches Ich) Lukian und dieser wiederum Charon wäre. Charon, der in der Lukianischen Satire Charon oder die Weltbeschauer das Totenreich verlässt und die Welt der Sterblichen besucht, sagt darin: „Ich habe Lust bekommen, [...] zu sehen, wie es in der Welt aussieht, was die Menschen hier treiben, und was das für Dinge sind, deren Verlust Alle || 7 Durs Grünbein: Metapher. In: ders.: Erklärte Nacht. Gedichte. Frankfurt a.M. 2002, S. 93f., hier S. 93.
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beklagen.“8 Und als er es sieht, muss er lachen, das ist bei Lukian nicht anders als bei Grünbein. Doch worüber? Gemeint sind die Blasen, alle die Menschenleben, Wie Schaum unterm Wasserfall aufgeworfen. Ein Bild für die Götter, dies ihr quirliges Werden Und Vergehn binnen kürzester Zeit.9
Der scherzende Lukian wie auch Charon, die beide im Blick auf diese Welt nicht mehr eigentlich von dieser Welt sind, sie also sehen nur „Blasen“, „Schaum unterm Wasserfall“, „[e]in Bild für die Götter“ eben. Das aber heißt, sehr buchstäblich, dass das menschliche Leben erst in der Metapher, erst im Bild ein verstehbares wird, sich also in seinem Sinn erschließt. – Im Bild, das heißt nicht einfach in der Anschauung, und es heißt auch nicht im Begriff. Denn einen Begriff vom Werden und Vergehen, von der Zeit, wer hat den schon – wenn er danach gefragt wird? Oder eine Anschauung von der Zeitlichkeit, da doch die Zeit gerade das ist, was sich der Anschauung entzieht? Ein Bild, darauf kommt es an, das aber kann man haben, dennoch: Manche [der Blasen, Ch.K.] sind klein und zerplatzen sofort, manche Überdauern länger, so höhnt er. Sie fließen Mit andern zusammen, bilden luftige Herden. Chimären aus Luft sind sie alle, die vielen Leben, Groß die einen, die andern verschwindend gering. Aufgebläht sind sie, zeitlebens Beschwerte Von Schwerkraft, all diese Nichtse.
Sobald man ein Bild hat, vom Leben in der Zeitlichkeit, sei es das der Blasen unterm Wasserfall, sei es das der Chimären aus Luft, kann man es mit anderen Bildern vergleichen. Und manchmal bemerkt man dann, dass man es schon einmal gesehen hat, oder viele, vielleicht gar unzählige Male. Und mag sich dann denken: wie langweilig, alles schon einmal dagewesen. Es ist ein im Grunde wohl vertrautes Motiv, das der vanitas, der Einsicht in die Leere und Vergeblichkeit des irdischen, von einer unbarmherzigen Schöpfung zum Tode verurteilten Seins, das hier zum Bild wird; wer weiß, zum wievielten Male. Doch warum? || 8 Lucian: Charon oder die Weltbeschauer. In: ders.: Lucian’s Werke. Übers. von August Pauly. Bd. 3, Stuttgart 1827, S. 305–330, hier S. 305. 9 Vgl. hier und im Folgenden Anm. 7.
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Warum erscheint es hier bei Grünbein noch einmal, dieses wohl vertraute Bild? Und was macht es zum Bild? Schauen wir auf die nächsten beiden Strophen: Zum Beispiel die Gräber der Helden von Troja – ‚Groß sind sie ja nicht gerade‘, spottet der Fährmann Am hiesigen Ufer. Mit Waffen und Pferden Begraben, blieb nichts als ein grüner Hügel zurück. Ninive, Babylon, Ilios, Mykene: zeig mir die Städte, Ruft er dem Hermes zu. Alle verschwunden, Beschämend die Reste, erwidert der Göttergefährte.
Nun müssen wir gar nicht erst genauer hinschauen, um zu bemerken, dass da etwas nicht ganz stimmt mit dem Spott des Fährmanns Charon. Denn wo er Recht hat, damit, dass nichts mehr ist, wie es einmal war, hat er zugleich Unrecht: So tot die Helden von Troja, so klein ihre Gräber sind, so groß und lebendig sind sie. So sehr die Furie des Verschwindens auch Ninive, Babylon, Ilios und Mykene mit sich gerissen hat, so sehr von ihr verschont geblieben sind diese sagenhaften und sagenumwobenen Städte auch. Und dies nicht etwa allein durch die Sage, sondern eben dadurch, dass sie geworden sind, was die Helden von Troja immer schon waren: Bilder. Im Bild, in der Wiederholung des Bildes, in seiner Erinnerung, in seiner Wirkungsgeschichte hat, was Menschen geschaffen haben, ein Nach- oder Fortleben, vielleicht aber auch, wie im Fall der Helden von Troja, ihr eigenes Leben, ihr Eigenleben. Menschliches Leben vergeht, ja, auch Zeugnisse menschlichen Lebens vergehen, Bilder aber bleiben. Jedenfalls können sie das. Wenn sie erinnert, tradiert, reproduziert und variiert werden. Zum Beispiel, ars longa vita brevis, in der Kunst. Wenn das so ist, dann aber sind die nächsten beiden Verse ‒ „So hat sich sein Ausflug gelohnt. Was für ein Leben/ Sie führen, die Armen, vom Unglück Versehrten.“ ‒ eine ironische Bemerkung über die Vergeblichkeit des Tuns dessen, der sich über die Vergeblichkeit allen irdischen Seins amüsiert, über Charon also, der mit einer geradezu touristischen Naivität die Welt betrachtet und glaubt, mit Augen sehen zu können, was sich nur im Bild erschließen lässt: das menschliche Leben. Da das, was es ist, sich nur in der Metapher erschließt, in den Chimären und zerplatzenden Blasen, gerade deshalb entzieht es sich der einfachen Anschauung. Dass Ninive, Babylon, Ilios und Mykene wie alle menschlichen Dinge vergehen, besagt nichts über ihre Bedeutsamkeit, sondern nur darüber, dass ihr Medium, der Ort, an dem diese Bedeutsamkeit zur Er-
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scheinung kommt, das Bild ist – der Zusammenhang, die Synthese von Anschauung und sprachlicher Deutung. Wenn es deshalb im letzten Vers heißt „‚An Charon denkt keiner‘, resümiert er verstört.“, so gilt die Verstörung des Lukian nicht nur den Irdischen, die sich in ihrer Seins-, Todes- und eben zuletzt Lebensvergessenheit nicht mit den Augen des Charon betrachten können, sie gilt auch dem Charon selbst, der das Leben, die conditio humana zwar in ihrer metaphorischen Gestalt zu erfassen vermag, aber nicht mehr die eigene metaphorische Gestalt, die eigene Bildlichkeit. Dass die Welt sich erst in der Metapher, im Bild erschließen lässt, gilt eben nicht nur für diese Welt, es gilt auch für die Welt Charons, den Hades. Das aber heißt, das Leben, das Dasein im vollen, auch den Tod und das Nichts umfassenden Sinne ist überhaupt nur metaphorisch und das heißt im Bild zu fassen – in seiner Ganzheit und Gesamtheit. – Im Bild, das heißt, nicht in der Anschauung und auch nicht im Begriff! Seins- als Metaphernvergessenheit; Bildvergessenheit als Zeitdiagnose, mag man sich fragen, wie kann das sein, in Zeiten des pictural turn, in Zeiten der Bilderflut? Und das Bild gar als epistemische Alternative zu Begriff und Anschauung? Kann das gutgehen? Ja, vielleicht schon, dann jedenfalls, wenn man sich vor Augen hält, dass wir in Zeiten leben, die der Buchstäblichkeit, der Anschaulichkeit und Konkretion verfallen sind. Doch gilt eben die Lukianische Verstörung am Ende des Gedichts auch der Metapher, gerade ihr. Auch die Metapher erhält hier nicht das letzte Wort. Sie tritt vielmehr in der finalen rhetorischen Geste des fiktiven Zitats vor sich selbst zurück. „An Charon denkt keiner“, das heißt ja auch, an die metaphorisch imaginierte Gestalt des Charon, kurz: an die Metapher soll man besser gar nicht mehr denken. Und zwar aus gutem Grund. Denn sonst eben wäre, was bliebe, wenn das große Ganze allein in der Metapher, im Bild zu fassen wäre, nur eines noch, nämlich metaphorische Metaphysik, Metaphernmetapyhsik, vorangetrieben mit den Mitteln der Poesie. Gerade um das nicht zu sein, muss die abschließende Geste des Gedichts eine negative, zumindest eine skeptische sein. Auch der Metapher kann nicht einfach vertraut werden, nicht einmal in Zeiten wie den unseren. Nicht einmal die Poesie kann das. Auch Metaphern müssen sich erst bewähren. Wo aber sollten sie das, wenn nicht in der Poesie, wenn nicht im Gedicht? Metaphern sind diese flachen Steine, die man aufs offene Meer Schleudert vom Ufer aus. Die trippelnd die Wasserfläche berühren, Drei, vier, fünf, sechs Mal im Glücksfall, bevor sie bleischwer
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Den Spiegel durchbrechen als Lot. Risse, die durch die Zeiten führen. Philosophie in Metren, Musik der Freudensprünge von Wort zu Ding. Geschenkt, sagt der eine, der andre: vom Scharfsinn gemacht. Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt. Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht.10
Die Metapher also muss sich an der Oberfläche des Gedichts bewähren, die sie immer nur trippelnd, drei, vier, fünf sechs Mal berührt, bevor sie vergeht – bleischwer den Spiegel durchbricht als Lot – und übergeht in etwas anderes, ein Bild. Aber ist die Metapher, mag man entgegnen, nicht selbst schon ein Bild, ein sprachliches Bild? Ja, das ist sie, jedenfalls insofern sie im Als-ob ein Bild gibt. Achill ist ein Löwe ist eine Metapher, die ein Bild von Achill als Löwen gibt; und auch der die Wellen durchbrechende flache Stein ist ein Bild, hier eines, das die Metapher von sich selbst gibt. Doch ein solches Bild ist zunächst nur ein isoliertes, einzelnes Bild, und als solches eigentlich gar kein Bild. Denn ein einzelnes, isoliertes Bild gibt es so wenig, wie einen einzelnen Begriff – oder wenn, dann nur als Chiffre. Begriffe wie Bilder gibt es (für das Verstehen) immer nur in der Mehrzahl, entweder im Zusammenhang eines Begriffsschemas oder dem einer Allegorie. Die Metapher von der Metapher als einem flachen, aufs offene Meer geschleuderten, die Wellenkämme durchbrechenden Stein entfaltet ihre bildliche Wirkung deshalb erst im Zusammenhang mit anderen Metaphern, derjenigen der Risse durch die Zeiten, der „Freudensprünge von Wort zu Ding“ oder des Reiseführers „beim Exodus aus der menschlichen Nacht“. Wer würde da noch glauben, Metaphern seien zweckfrei? Das genaue Gegenteil ist der Fall. Sie haben einen sehr genau zu bestimmenden Zweck: das literarische Bild – die Verwandlung des allegorischen und nicht selten auch begrifflichen Zusammenhangs, in dem sie stehen. Es ist dieser aufs Ganze, gerade das Ganze der Erkennbarkeit gehende Impetus, der die Metapher und natürlich das Bild vom Motiv unterscheidet. Auf dieses Ganze der Erkennbarkeit erhebt zwar auch der Begriff durch die Regel, die er dem Wortgebrauch vorschreibt, seinen Anspruch, doch heißt das eben, die (auch für ihn unverzichtbare) Anschauung einer Regel zu unterwerfen. Zwar unterwirft nun auch das Bild die Anschauung einer gewissen Ordnung – doch ich weiß nicht, ob es erlaubt ist, hier von Regel zu sprechen. Das
|| 10 So lauten die letzten Verse des letzten Gedichts in dem Band Erklärte Nacht, es heißt ebenfalls Erklärte Nacht (Grünbein, Erklärte Nacht, S. 145).
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Bild, heißt das, verleiht der Anschauung eine bestimmte Gestalt. Aber die Regel, nach der es zu deuten ist, ist ihm nicht gegeben, sondern erst aus ihm, dem Bild zu erschließen. Und anders als bei einem Begriff ist, was sich derart aus ihm erschließen lässt, nicht selbst hinreichend bestimmt. Denn anders als bei einem Begriff ist bei einem Bild nicht immer schon klar, was Zeichencharakter, das heißt einen die weiteren Schlussfolgerungen bestimmenden Charakter hat. Bei einem Bild, anders als bei einem Begriff, kann alles an der Darstellung zum Zeichen werden. Das macht Bilder im Goodman’schen Sinne zu dichten und analogen Darstellungsverfahren.11 Als literarische, an die Sprache gebundene Darstellungsverfahren erwecken sie zwar den Eindruck, als seien sie digital oder syntaktisch, also auf der Ebene der Zeichen hinreichend differenziert und als sei, was ein Zeichen ist, wenn schon nicht, wofür es ein Zeichen ist, hinreichend bestimmt. Aber die konkrete Poesie oder die philologische Auseinandersetzung um die Zeichenhaftigkeit der Satzzeichen (die Bedeutung der Kommasetzung bei Kleist etwa) haben deutlich gemacht: Bei der Dichtung kann wie bei einem Gemälde im Prinzip alles zum Zeichen, zur Prämisse eines Schlusses werden – auch noch die Pause zwischen den Worten, das Weiß, das die Druckerschwärze umgibt oder die Bedingungen der Produktion und Rezeption von Zeichen. Literarische Werke bedienen sich daher sowohl digitaler, hinreichend differenzierter als auch analoger, regelloser Darstellungsverfahren, wie wir sie von bildlichen Repräsentationen – Spiegel-, Schatten-, Vorstellungsbildern oder eben Gemälden – kennen. Das allein aber verleiht ihnen noch keine literarische Bildlichkeit. Literarisch wird eine sprachliche Repräsentation erst dadurch, dass sie luzide, sich selbst transparent ist, also nicht einfach etwas repräsentiert, sondern die sprachlichen Verfahren der Repräsentation zeigt.12 Und tatsächlich geht es literarischen Werken häufig um die Verfahren der Darstellung mehr als um das Dargestellte, so dass, was dargestellt wird, der Inhalt, seine Funktion darin hat, ein Mittel zur Darstellung von Darstellungs- oder Repräsentationsverfahren zu sein. Diese Verfahren der Repräsentation werden dabei nicht nur gezeigt, vorgezeigt, sondern sie werden anschaulich, als Form. – Ganz so wie in Grünbeins Metapherngedicht die Form der vanitas anschaulich wird, als eine Metapher, die vor sich selbst zurücktritt.
|| 11 Vgl. Goodman, Sprachen der Kunst, S. 164. 12 Das macht die besondere Nähe der Literatur zu dem aus, was im philosophischen Jargon reine Anschauung heißt.
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Ein Bild im vollen Sinne wird ein literarisches Bild, ein Zusammenhang von Metaphern, aber erst dadurch, dass die in seiner Form anschaulich gemachten Darstellungsverfahren selbst etwas darstellen – die Wirklichkeit oder: eine Wirklichkeit. Das aber kann nur unter der hypothetischen Voraussetzung geschehen, dass die literarische Form keine der Wirklichkeit äußerliche ist, sie also nicht in einem lediglich arbiträren Verhältnis zu ihr steht, sondern der Sinn vielmehr selbst immer schon sinnlich, anschaulich, sprachlich anschaulich ist. Anders etwa als bei einem Modell, heißt das, geht mit dem literarischen Bild der Anspruch einher, dass die Wirklichkeit, der Sinn des Wirklichen selbst Bildcharakter hat, das Bild also nicht, wie ein zuerst religiöser, dann philosophischer Ikonoklasmus behauptete, immer schon einen verfälschenden Charakter hat – sondern dass es eben in Wirklichkeit genau so ist, wie es bei Goethe heißt: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“,13 oder bei Grünbein: „An Charon denkt keiner“.
Literaturverzeichnis Biser, Eugen: Bild. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. von Hermann Krings u.a. Bd. I: Das Absolute–Gesellschaft. München 1973, S. 247–255. Fricke, Christel: Der Augenzeuge und der Polizist. Ein Beitrag über die quasi-bildlichen Vorstellungen. In: Cognitio humana. Die Dynamik des Wissens und der Werte. Hrsg. von Christoph Hubig und Hans Poser. Leipzig 1996, Bd. II, S. 934–941. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: ders.: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 3. Dramatische Dichtungen I. Textkritisch durchges. und kommentiert von Erich Trunz. 16. überarb. Aufl. München 1996. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übers. von Bernd Philippi. Frankfurt a.M. 1997. Grünbein, Durs: Erklärte Nacht. Gedichte. Frankfurt a.M. 2002. Lucian: Charon oder die Weltbeschauer. In: ders.: Lucian’s Werke. Übers. von August Pauly. Bd. 3. Stuttgart 1827, S. 305–330.
|| 13 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: ders.: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 3. Dramatische Dichtungen I. Textkritisch durchges. und kommentiert von Erich Trunz. 16. überarb. Aufl. München 1996, Vers 4727.
Silvia Ruzzenenti
Bilder-Logik. Zur bild-epistemologischen Poetologie Durs Grünbeins An solchen Kreuzungen läuft alles wieder zusammen, die Erkenntnistheorie mit der Kunstgeschichte, der philosophische Traktat mit dem literarischen Experiment.1
„Zunächst einmal glaube ich an die Macht der Bilder und Metaphern.“ (GJ 34): Durs Grünbeins Bekenntnis, 2001 in einem Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks formuliert, umfasst ein sehr breites gedankliches Spektrum. Auf poetologischer Ebene geht es um das Potential poetischer Bildlichkeit, einen Themenkomplex, der wie die Herausarbeitung der Spezifik der dichterischen bzw. „eidetischen Präzision“2 die gesamte Geschichte der Poesie prägt. Grünbeins einschlägige Reflexionen, meistens selbst in hohem Grad metaphorisch formuliert, gestalten sich wie ein offenes ‚bildtheoretisches‘ Geflecht mit klar erkennbaren files rouges. Auf textueller Ebene lässt sich die performative Kraft der Bilder an der „poetischen Textur“ selbst beobachten.3 In der Forschung ist Grünbeins poetisch-reflexives Anatomisieren des Erkenntnispotentials der poetischen Bilder oft angesprochen worden, nie jedoch, soweit ich sehe, mit der hier anvisierten Fragestellung. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Bild und Wort, die sich im Rahmen des iconic turn vollzog, hat unumgänglich zu einer neu akzentuierten Auseinandersetzung mit der sprachlichen Bildlichkeit geführt. Im Folgenden werde ich in der Perspektive der hier zur Debatte stehen|| 1 Durs Grünbein; Heinz-Norbert Jocks: Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. Köln 2001, hier S. 28. Das Interview wird im Folgenden mit der Sigle GJ und Angabe der Seitenzahl im Text zitiert. 2 Grünbeins Gebrauch des Begriffs der Eidetik ist nicht auf eine Formel zu bringen. Aufgrund seiner Abwehr begrifflichen Kristallisierungen gegenüber verleiht er dem Konzept der „eidetischen Präzision“ einen hohen Grad an Polysemie. Weder im rein phänomenologischen oder rein psychologischen Sinne verwendet, kreist dieses Konzept um eine „Präzision“, welche mit der „Wesenserkenntnis des Bewußtseins“ zu tun hat, da ihr die Fähigkeit innewohnt, „Sinneseindrücke nach Aufhören der Reize deutlich als subjektive Anschauungsbilder wiederzuerleben“ (Max Apel, Peter Ludz: Eidetisch. In: Philosophisches Wörterbuch. 6. Aufl. Berlin, New York 1976, S. 74). 3 Dieser Aspekt findet in Michael Eskins Beitrag in diesem Band einen an Präzision unübertroffenen Ausdruck. Zur Performativität des poetischen Denkens anhand der „revivification“ von Seneca im Gedicht Julia Lilla vgl. insbes. Michael Eskin: Poetic Affairs. Celan, Grünbein, Brodsky. Stanford, California 2008, S. 71–87.
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den Frage einigen Kerngedanken von Grünbeins bild-epistemologischer Poetologie nachgehen, die das poetische Wort mit einer den Bildern inhärenten Wirkungsmächtigkeit in Zusammenhang bringen. Den Ausgangspunkt bildet Grünbeins Charakterisierung des „poetischen Essay[s]“4 als eine Form, die Dichtung und Reflexion vereint und die Erkenntnismodi der Poesie nach der Formel „präzise, doch ungenau“5 verwirklicht. Der Fokus liegt auf der Idee einer ‚Bilder-Logik‘ – einer „logica d’immagini“,6 wie es in der vom Autor autorisierten italienischen Fassung des Interviews Poesie und Essay lautet –, um die Funktion der poetischen Bilder als archimedischen Punkt von lyrischen und essayistischen Schreibweisen hervortreten zu lassen. Die dem poetischen Wort inhärente Bildlichkeit sorgt für eine Kohärenz, die anders und doch nicht minder streng ist als die der systematischen Ästhetik. Die Idee der Wirkungsmächtigkeit dieser Bilder-Logik, genauer der „bild-logischen Verknüpfung“ (GR 507), die durch das poetische Bild Präsenz erzeugt, soll im Spannungsfeld Sprache-Bild-Körper in Zusammenhang mit dem bildwissenschaftlichen Begriff des Bildakts, wie von Horst Bredekamp formuliert, umkreist werden.7 Einige zentrale Aspekte der poetologisch wie poetisch artikulierten Bilder-Logik werde ich schließlich am Beispiel der Reflexion über „Bild und Metapher“ (GJ 28) untersuchen, die Grünbein in seinem vielleicht faszinierendsten poetischen Essay Die Bars von Atlantis. Eine Erkundung in vierzehn Tauchgängen (2009) entwickelt und im poetischen Textgewebe zum Ausdruck bringt.
|| 4 Durs Grünbein; Silvia Ruzzenenti: Poesie und Essay. Ein Interview mit Durs Grünbein. Mit einer Vorbemerkung von Giulia Cantarutti. In: Euphorion 102 (2008), H. 4, S. 503–513, hier S. 506. Das Interview wird im Folgenden mit der Sigle GR und Angabe der Seitenzahl im Text zitiert. 5 Durs Grünbein: Erratum. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 268. 6 Durs Grünbein, Silvia Ruzzenenti: Poesia e saggio. Un’intervista. In: Il saggio. Forme e funzioni di un genere letterario. Hrsg. von Giulia Cantarutti u.a. Bologna 2007, S. 235–246, hier S. 239. 7 Auf den Begriff des Bildakts rekurriere ich hier heuristisch, um bestimmte Facetten von Grünbeins bild-epistemologischer Reflexion zu eruieren. In dieser Perspektive werde ich hier auf jene grundlegende mediale Differenz zwischen literarischen und materiellen Bildern nicht spezifisch eingehen, deren Problematisierung für eine ausführlichere Untersuchung des Verhältnisses von Grünbeins poetologischer Idee einer ‚Bilder-Logik‘ zu Bredekamps Begriff des Bildakts unerlässlich wäre. Diesem Thema widmet sich meine aktuelle Forschung, die sich Wolfgang Braungarts entscheidenden Anregungen verdankt.
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1 „Präzise, doch ungenau“ Es ist ein Topos, dass spätestens im 20. Jahrhundert die Zeit des ästhetischen Präskriptivismus endgültig vorbei ist. In der Gegenwartsliteratur werden der Bruch mit Gattungskonventionen und die individuelle Poetik der Autoren zu einem immer radikaleren Plädoyer für die Vielheit des ästhetischen Ausdrucks sowie der poetologischen Konzepte.8 Als postmodern ist weniger ein auf die Moderne folgender ästhetisch-historischer Zeitraum zu bezeichnen, als vielmehr eine literarisch-ästhetische Geisteshaltung.9 Laut Jean-François Lyotards berühmtem Wort „Il me semble que l’essai (Montaigne) est postmoderne et le fragment (l’Atheneum) moderne“10 hat diese Geisteshaltung keineswegs mit der Chronologie zu tun und findet gerade in der Offenheit des essayistischen Schreibens eine privilegierte Lokalisierung. Gerade von diesem, der Kunst inhärenten, „prinzipiellen Anachronismus“ (GJ 45) zeugt auch Grünbeins Dichtung – sowohl in Versen als auch in Prosa. Weit über den topischen Bruch mit der Tradition der Moderne (und Postmoderne) hinaus, über jene, von Hermann Korte prägnant als Energie der Brüche11 definierte Antwort der Poesie auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts hinaus, ist Grünbeins Traditionsverständnis diskontinuierlich, trans-historisch und anthropologisch fundiert: „Dem Nachgeborenen bleibt nur, sich der vielen Modernemomente seit der Antike immer wieder aufs neue zu vergewissern [...]. Sie alle konvergieren im Prisma der Anthropologie.“ (GJ 17) Diese Auffassung der Geschichte als „persönliches Chronogramm“12 verbindet sich mit einer geokulturellen Entgrenzung, die sich in Grünbeins bewusster Selbststilisierung als Weltdichter, „as a poet writing in German rather than as a German poet“,13 wi|| 8 Vgl. Peter V. Zima: Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Tübingen, Basel 2001; Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. 6. Aufl. Berlin 2002, sowie Hermann Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945. 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart, Weimar 2004. 9 Vgl. die Problematisierung in Alexander Müller: Das Gedicht als Engramm. Memoria und Imaginatio in der Poetik Durs Grünbeins. Oldenburg 2004, S. 9–13. 10 Jean-François Lyotard: Le postmoderne expliqué aux enfants. Correspondance 1982–1985. Paris 1986, S. 33. 11 Hermann Korte: Energie der Brüche. Ein diachroner Blick auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts und ihre Zäsuren. In: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1999, S. 63–106. 12 Durs Grünbein: Kurzer Bericht an eine Akademie. In: ders.: Antike Dispositionen. Aufsätze. Frankfurt a.M. 2005, S. 11–14, hier S. 13. 13 Michael Eskin: The Driving Bell and the Bristlemouth. The Art of Grünbein’s Prose. In: Durs Grünbein: The Bars of Atlantis. Selected Essays. Hrsg. von Michael Eskin. Aus dem Deutschen
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derspiegelt.14 Seine „explicitly trans-national, self-presentation“15 ist untrennbar von einem Selbstverständnis als postmodernem, schiffbrüchigem Poet-Kosmopolit, der „Auf einem Ozean der Ignoranz [...] ausgesetzt/ Von den Schiffen der Philosophen“ treibt, „auf hoher See [...]/ wo das Epos in Trümmer ging“.16 Jenseits der Avantgarden, um den Titel von Grünbeins erster Poetikvorlesung zu zitieren, und jenseits jedes „Regelwerk[s]“ gehe das Schreiben „aus dem Schreibprozeß selbst hervor, aus [...] immer neuen Versuchsanordnungen“.17 Zuerst tastende Suche, lassen sich diese „Versuchsanordnungen“,18 die den Konnex zwischen Poesie und Erfahrung ins Zentrum rücken, nur a posteriori als „Methode“ erkennen. „[M]an kann mich gern verreißen, aber nicht auseinanderreißen“ (GR 513), verrät Grünbein, der von Anbeginn auch der essayistische Begleiter seiner Poesie ist, in einem Interview über die genetische Einheit von Poesie und Essay: Ich habe meine ersten Essays als Studien für Gedichte geschrieben, und umgekehrt habe ich dann Gedichte geschrieben und aus denen sind wieder Essays hervorgegangen (GR 505).
Gerade diese genetische Verbindung mit der Poesie ist für Grünbeins essayistische „Gestaltungsvariante“ (GR 505) sowohl auf der formalen Ebene als auch in
|| übersetzt von John Crutchfield, Michael Hoffmann und Andrew Shields. New York 2010, S. VII– XVIII, hier S. X. 14 Über Grünbeins „cosmopolitanism in life and art“ als schiffbrüchiger Dichter und über die Zentralität der Flaschenpost-Metaphorik in seinem intertextuellen Dialog mit Mandelstam vgl. Michael Eskin: Of Sailors and Poets: On Celan, Grünbein and Brodsky. In: German Life and Letters 60 (2007), H. 3, S. 315–328, insbes. S. 321–324; im Zusammenhang mit der europäischen Tradition vgl. Michael Eskin: Durs Grünbein and the European Tradition. In: Durs Grünbein. A Companion. Hrsg. von Michael Eskin u.a. Berlin, Boston 2013, S. 23–38, insbes. A Poet Adrift, S. 25–30. 15 Ebd., S. 23. 16 Durs Grünbein: Wo kein Credo mehr gilt. In: Libellen in Liberia. Gedichte und Berichte. Hrsg. von Brigitte Labs-Ehlert. Detmold: Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe, 25 (2010). Unverkennbar ist hier – wie Eskin anmerkt – der Bezug auf Lyotards Rede vom Ende der „grands récits“ in La condition postmoderne. Vgl. Eskin, Durs Grünbein and the European Tradition, S. 25. 17 Durs Grünbein: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Frankfurt a.M. 2010, S. 50, Hervorhebung S.R. Vgl. dazu auch: „denn das Gedicht [...] imitiert den zum ersten Mal gegangenen Weg, erst am Ende zeigt sich, durch welche Landschaft es ging und wen das hypnotische Sprechen gemeint hat“ (Durs Grünbein: Mein babylonisches Hirn. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 18–33, hier S. 25. Der Essay wird im Folgenden mit der Sigle MbH und Angabe der Seitenzahl im Text zitiert). 18 Grünbein, Vom Stellenwert der Worte, S. 50.
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poetologischer Hinsicht konstitutiv: „Denken und Ausdrucksfindung kommen aus einer und derselben Quelle“.19 Diesen „Gattungszwitter“, auf einem schillernden Konfinuum zwischen Poesie und Prosa schwebend,20 wo sich „gedankliche Reflexion, Einfühlung und Anschauung die Waage“ (GR 512) halten, definiert Grünbein zum ersten Mal in diesem Interview als „poetischen Essay“: Das Schöne ist, daß der Essay eine Form mit vielen möglichen Gestaltungsvarianten ist. Ich schreibe den poetischen Essay, und diese Texte sind immer in Reichweite zu dem Geschriebenen, was auch die Gedichte wollen, und dadurch entsteht ein untergründiges Geflecht. (GR 506)
In diesem „untergründige[n] Geflecht“ sind essayistische und lyrische Schreibweisen förmlich ineinander gesponnen.21 Im Kontrast zum ‚philosophischen Essay‘ à la Adorno22 ist der poetische Essay kein Versuch „in Begriffsbestimmung“, sondern der Versuch, „anschauliches Denken“ (GR 507) zu werden. Als
|| 19 Durs Grünbein: Zur Frage des Stils. In: ders.: Antike Dispositionen. Aufsätze. Frankfurt a.M. 2005, S. 58–60, hier S. 58. 20 Vgl. Max Bense: Über den Essay und seine Prosa. In: ders.: Plakatwelt: 4 Essays. Stuttgart 1952, S. 9–38. 21 Zur gegenseitigen Durchdringung der zwei Dimensionen vgl. Michael Eskin: „Stimmengewirr vieler Zeiten“: Grünbein’s Dialogue with Dante, Baudelaire, und Mandel’shtam. In: The Germanic Review 77 (2002), Themenheft: German Poetry after the Wall, I, S. 34–51; ders., Poetic Affairs; ders., The Driving Bell and the Bristlemouth; Fabian Lampart: „Jeder in seiner Welt, so viele Welten …“. Durs Grünbeins Dante’. In: Durs Grünbein. Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Bd. 153. München 2002, S. 49–59; Maurizio Pirro: „Ein Feld als Reflexionsraum, leer aber wachsend, von unten“. Verflechtungen lyrischen und essayistischen Schreibens bei Draesner, Grünbein und Petersdorff. In: Germanistentreffen Deutschland-Italien, Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD). Bonn 2003, S. 169–187; Silvia Ruzzenenti: Durs Grünbein e il saggio. Invito alla lettura. In: Comunicare Letterature Lingue 7 (2007), S. 231–239; Hinrich Ahrend: Essayistische Lyrik. Grünbeins Grenzgänge zwischen Poesie und Poetik. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a., Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 135–170; ders.: „Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“. Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins. Würzburg 2010; Silvia Ruzzenenti: „Präzise, doch ungenau“. Tradurre il saggio. Un approccio olistico al ‚poetischer Essay‘ di Durs Grünbein. Berlin 2013, insbes. S. 237–258. 22 Wesensfremd ist Grünbeins Essay sowohl die tektonische Form einer logisch-argumentativen philosophischen Traktatistik, als auch der für eine „methodisch[e] [U]nmethodi[k]“ plädierende (Theodor W. Adorno: Der Essay als Form (1958). In: Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Ludwig Rohner. München 1972, S. 61–83, hier S. 71) und zugleich dem Begrifflichen verpflichtete ‚philosophische Essay‘ Adornos oder Schillers: „Ich weiß, was Adorno wollte, das kann man bei ihm ja nachlesen: Seine Essays zur Literatur oder zu gesellschaftlichen Fragen sind im traditionellen Sinne Essays eines Philosophen – Versuche in Begriffsbestimmung. Das ist etwas anderes.“ (GR 506)
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Gegengift für die Abstraktheit des philosophischen Jargons erhält der poetische Essay die Verbindung zum Einmaligen, zur „Idiographie“ (MbH 19). Als „Gattungszwitter“ wird der poetische Essay zu einer Mischform zwischen begrifflichreflexivem und poetisch-anschaulichem Schreiben, dessen Zentrum das poetische Bild ist, das „ein und [die]selbe Quelle“23 konstituiert. Dieses „Ineinanderverwobensein[s]“ der zwei Schreibformen ist kompositorisch im poetischen „Material“ selbst zu erkennen: In den zwischen Essay und Gedicht wandernden „Wiederholungsstrukturen“ (GR 509), die variiert in immer neuen Konstellationen rekurrieren. Diese unaufhörliche poetische Transition trägt dazu bei, die „Verschiebung der Gattungsgrenzen“ kontinuierlich zu erneuern, die Form „offen [zu] halten“: „Keine Abgrenzung der Gattungen, es gibt viel mehr Osmosen, als man denkt.“ (GR 509)24 Hier, bei der Konturierung des poetischen Essays, taucht also mit neuer Kraft jener identifizierende Konnex von poiesis und analysis auf, welcher das Verhältnis von Philosophie und Dichtung reflektiert.25 Dass dieses Verhältnis sich als „die Geschichte einer unglücklichen Liebe“26 zusammenfassen lässt, ist für Grünbein, den Nietzsche-Verehrer,27 die vielleicht größte Qual: Auch glaube ich nicht wirklich an die Trennung von Philosophie und Poesie, vielmehr – ich wehre mich gegen sie. (GR 507)
„Durch die Ursünde ihrer Entzweiung“ aus dem gemeinsamen Ursprung – den Grünbein bei den Fragmenten des Parmenides, bei deren „Nähe zu universeller Bildlichkeit und Gesang“ aufspürt – sind Poesie und Philosophie doch „bis heute aneinandergekettet geblieben“.28 Die ersten Schritte in Richtung dieser Entzweiung situiert Grünbein in präsokratischen Zeiten; der fatale Brechpunkt fällt mit Platons „perfidem Vorschlag“ zusammen, „die Dichter selbst, diese || 23 Grünbein, Zur Frage des Stils, S. 58. 24 „Ich schließe das Gedicht in seiner Form nicht ab. [...] Das Gedicht, auch das streng durchgearbeitete Gedicht, ist wie eine organische Zelle, in der gerade der genetische Code für alle anderen Zellen sprachlich mit enthalten ist.“ (GR 509f.) 25 Über die Verflechtung poetischer und philosophischer Modi in Zusammenhang mit dem Begriff des poetischen Denkens vgl. Alexander Regier: Philosophy and Poetry in Durs Grünbein’s Prose. In: Durs Grünbein. A Companion. Hrsg. von Michael Eskin u.a. Berlin, Boston 2013, S. 95–117, insbes. S. 118–113. 26 Durs Grünbein: Die Stimme des Denkers. In: ders.: Antike Dispositionen. Aufsätze. Frankfurt a.M. 2005, S. 181–198, hier S. 190. 27 Denn „gäbe [es] sie wirklich, die Demarkationslinie zwischen Dichtung und Philosophie [...] dann war Nietzsches Leben ein Tanz auf der Grenze, besser: im Niemandsland zwischen den beiden Reichen“ (ebd., S. 191). 28 Ebd., S. 190.
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Bande von Lügnern und Illusionisten, aus dem Staat zu verbannen“: Als sich „[d]as Schöne und das Erhabene [...] ein für allemal den Ideen“29 zu unterwerfen schienen. Die ursprüngliche, innere Zusammengehörigkeit von Poesie und Philosophie veranschaulicht der poetische Essay, der als Raum für das poetische und bildliche „Reflektieren über die Bildhaftigkeit des Denkens“ (GR 510) bezeichnet wird. Hier findet Grünbein einen Reflexionsraum mit der wesentlichen Distanz zum lyrischen Schaffen. Es handelt sich aber um eine merkwürdige Distanz, einen „träumerische[n]“ Abstand: Gerade aus solcher onirischen Tiefe gelingt es dem Dichter, eine ästhetische Reflexion zu formulieren, die jenseits jeder starren Systematik auf der poetischen Erfahrung beruht und sie zugleich befruchtet: „Der freie Fall durch die Netze der Tradition hindurch auf den Boden persönlicher Wahrnehmung und Existenz“.30 Denn dem Habitus des poeta doctus zieht Grünbein durchaus den des antipedantischen poeta empiricus vor,31 dem eine Gelehrsamkeit „leicht wie Licht“ eigen ist.32 Wie man dem frühen Essay Ameisenhafte Größe (1991) entnehmen kann, ist der Dichter „Schüler der Erfahrung“, der „alles, was mit den Sinnen gedacht wurde“,33 verdichtet. Nur auf diesem Wege entsteht die Erkenntnis des Dichters, und zwar eine poetisch fundierte.34 Die Erkenntnismodi der Wissenschaft sind anders als jene der Poesie: Diese operiert jenseits der fixierbaren Begrifflichkeit und ohne An-
|| 29 Durs Grünbein: Das Gedicht und sein Geheimnis. In: ders.: Gedicht und Geheimnis. Aufsätze 1990–2006. Frankfurt a.M. 2007, S. 84–94, hier S. 87. 30 Grünbein, Das erste Jahr, S. 279. 31 Wolfgang Adam plädiert hinsichtlich Grünbeins Dialog mit Juvenal für die Angemessenheit der Bezeichnung poeta ethicus: Wolfgang Adam: Dialogo con Giovenale: Schlaflos in Rom di Durs Grünbein. In: Prosa saggistica di area tedesca. Übersetzt von Giulia Cantarutti. Hrsg. von Giulia Cantarutti und Wolfgang Adam. Bologna 2011, S. 197–210, hier S. 201. 32 Mit dieser alliterierenden Wendung wird bekanntlich Georg Christoph Lichtenbergs Gelehrsamkeit in Elias Canettis Die Provinz des Menschen charakterisiert (vgl. Elias Canetti: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942–1972. Frankfurt a.M. 1981, S. 263). Diese Art von Gelehrsamkeit ist seit Montaigne ein Spezifikum des Essayisten (vgl. Giulia Cantarutti: Zu den großen Zusammenhängen der kleinen Prosa. In: Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Hrsg. von Thomas Althaus u.a. Tübingen 2007, S. 25–44, hier S. 41). Grünbeins Lektüre von Canettis Werk hat einen ausgesprochen „existentiellen“ Rahmen (Durs Grünbein: Wir Buschmänner. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 197–209, hier S. 197). 33 Durs Grünbein: Ameisenhafte Größe. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 13–17, hier S. 17. 34 Tilmann Köppe: Grünbeins Idee von der Erkenntnis des Dichters. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 259–270.
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spruch auf Exhaustivität. Selbst das reflexiv-argumentative Schreiben des Essays „sollte immer ein Quantum an Unbewußtem haben“ (GR 513): Ich kann das alles nicht beweisen, aber es ist eine Evokation, ich kann es einfach hinstellen. Das ist eine absolute Provokation und ich weiß, daß viele Leser das als fragwürdig empfinden. Aber es ist Teil des ästhetischen Reizes, daß es unerklärt bleibt, ohne willkürlich zu sein! Das hat Duchamp sehr treffend formuliert, die künstlerische Präzision ist anders als die wissenschaftliche Genauigkeit. (GR 507)
Die treffende Definition der spezifischen Unschärfe, worin der begrifflich nicht zu erschöpfende epistemologische Wert der poetischen Erkenntnis besteht, findet Grünbein in einem Zitat Marcel Duchamps, dem „ersten Grenzgänger zwischen den Darstellungsmedien“ (GJ 26). Die erste Essay-Sammlung Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen (1996) schließt gerade mit diesem Zitat von ungeheurer Offenheit: „Präzise, doch ungenau“.35 Das ästhetische Gebot des inexact, mais précise zielt bei Duchamp darauf, eine der wesentlichen Eigenschaften der Poesie auf den Bereich der Kunst zu übertragen, um Malerei und bildender Kunst den Effekt der Poesie zu verleihen.36 Duchamps Formel, um 180 Grad gedreht, gibt den geheimnisvollen und zugleich unwillkürlichen modus operandi von Grünbeins Schreiben wieder.37 Mit „präzise, doch
|| 35 „Das Gedicht, einziges perpetuum mobile im Studio der Illusionen, glänzt mit der zerebralen Intimität einer Stimme, die vor sich hin spricht, ohne erkenntlichen Grund, präzise, doch ungenau.“ (Grünbein, Erratum, S. 268) Es handelt sich um Marcel Duchamps berühmte Formel für die Methodik der Kunst: „précise mais inexact“. Die Anspielung auf Robert Musils Skizze der Erkenntis des Dichters (1918) ist nicht zu überhören. Vgl. außerdem die Frankfurter Poetikvorlesung Skizze zu einer persönlichen Psychopoetik (Grünbein, Vom Stellenwert der Worte, S. 15–51). 36 „‚One must be inexact, but precise‘. This is one of the essential qualities of poetry. It is what gives the effect of poetry to painting and sculpture“. Wie James Johnson Sweeney beobachtete, drückte Duchamp dieses Gebot exemplarisch in seiner Satire über die wissenschaftliche Präzision aus, die nonsense Physik oder „Pataphysique“ seines Large Glass. Das Erreichen dieser ästhetischen Dimension ist für Duchamp der identitätsstiftende Moment tout court: „himself in his paintings“ wurde Marcel Duchamp erst, als er es schaffte, ungenau aber präzise [„inexact, but precise“] zu werden (James Johnson Sweeney: Foreword. In: Jacques Villon, Raymond Duchamp-Villon, Marcel Duchamp. Hrsg. von Salomon R. Guggenheim Museum Library and Archives. Berne 1957, S. 9–12, hier S. 9). 37 Explizit äußert sich Grünbein zu Duchamp vor allem im Gespräch mit Hans-Norbert Jocks (GJ 34–36) und in seinem Schlußwort zur Schädelbasislektion (Durs Grünbein: Schlußwort zur Schädelbasislektion. In: ders.: Gedichte. Bücher I–III. Frankfurt a.M. 2006, S. 385–395, hier S. 387f.). Kryptisch bezieht er sich auf den französischen Künstler an mehreren Stellen. Ein Fall für sich ist die Auseinandersetzung mit Duchamps infra-mince-Konzept im Gedichtzyklus Posthume Innenstimmen. Diese intertextuelle Referenz wird als intersemiotische Übersetzung,
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ungenau“ schließt das Prosastück Erratum – ein Titel, der, jenseits der üblichen Bedeutung des Terminus (‚Druckfehler‘), auch mit dem lateinischen Etymon spielt: ‚Verirrung‘ als ein Verlieren des rechten Wegs. Hier wird die paradoxe präzise Ungenauigkeit des poetischen Wortes, das als „Stimme“ physiologisiert wird, wiedergegeben: „Eine Stimme läuft über vom Denken und verirrt sich tief in der Sprache, im Dickicht des Nicht-Ich.“38 Die Erkenntnis des Dichters entsteht und besteht jenseits des festen Regelwerks der Begrifflichkeit und der logisch-argumentativen Sprache: in den „Zwielichtzonen von Bild und Gedanken“ (GJ 26).
2 „Bilder-Logik“ Die fließenden Grenzen von Sprache und Logik erkundend lässt sich aus diesen Zwielichtzonen heraus das Denken selbst überdenken – und zwar im Lichte des Bildes. Nicht von ungefähr entsteht hier eine Konfiguration, wo sich Poesie, Ästhetik und Erkenntnis an der Schnittstelle Bild kreuzen. Denn die rätselhafte, präzise Ungenauigkeit der poetischen Erkenntnis sowie die Kraft des poetischen Wortes in Prosa und in Versen liegen für Grünbein ganz im Gelände der Unbegrifflichkeit – einer Dimension, die vom „Mythen-Bewußtsein de[r] Philosophen bis hin zu Blumenberg“ (GR 510) zeugt. Auf dem Konfinuum zum Unsagbaren stößt die rein begrifflich-argumentative Sprache an ihre Grenzen. In Grünbeins Werk tritt dieser Komplex in vielfältigen Variationen immerfort auf. Im frühen Essay Reflex und Exegese (1992) kehrt der Gedanke durch den Bezug auf Fritz Mauthner wieder, der die Sprache als ein völlig ungeeignetes Werkzeug der Erkundung der ‚Welt an sich‘ und gar der ‚Welt des inneren Erlebens‘ auffasst. In dieser Sprachkritik findet Grünbein ein vorläufiges Fazit für die „ganze Unschärfe unserer sprachlichen Situation“: „Wir haben keine Sprache des inneren Sinns.“39 Dieses erscheint als der logische Satz für das Korollar der Skepsis der
|| als eine „Art der Übertragung [...] von einer Kunstform auf die andere“ (ebd.) definiert. Vgl. Florian Berg: Das Gedicht und das Nichts. Über Anthropologie und Geschichte im Werk Durs Grünbeins. Würzburg 2007, S. 134ff., sowie die ausführliche Untersuchung von Noël Reumkens: Concept(ion) versus Ekphrasis. Durs Grünbein’s Approach to the Pictorial Arts. In: Durs Grünbein. A Companion. Hrsg. von Michael Eskin u.a. Berlin, Boston 2013, S. 119–144, insbes. S. 130–144. 38 Grünbein, Erratum, S. 268, Hervorhebung S.R. 39 Durs Grünbein: Reflex und Exegese. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 61–66, hier S. 64.
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Möglichkeit gegenüber, dass zwischen den „Eigenwelten“ jedes Selbst je eine Möglichkeit der Verständigung bestehen kann.40 Doch finde sich gerade in der Sprache ein Medium, das durch das „Einzelerlebnis“41 „den ganzen, vom Sensorium des Sprechers, Lesers und Hörers erfaßten Erlebnisraum“42 durchdringt: Doch was, wenn die natürliche, innengeleitete Wahrnehmung, auf der Mauthner als Pflanzenliebhaber bestand, immer schon reichhaltiger, dynamischer und differenzierter war als die in Formeln und Abstraktionen gealterte Sprache? Das einzige, was Sprache dann aufzubieten hatte, waren ihre Bilder, die Vorstellungen, die in ihr arbeiteten.43
Die Janusköpfigkeit des poetischen Wortes, dem nicht nur ästhetische, sondern auch epistemische Qualitäten innewohnen, liegt in der Wirkmächtigkeit seiner Bilder und in deren Eigenschaft, Außen- und Innenwelt, sinnliche Wahrnehmung und anschaulich-poetische Durchdringung in einem Akt „imaginative[r] Erkenntnis“44 zu vereinigen. Die „genuine Bildlichkeit“ (GJ 37) – Metapher, Anschauung, Bilder-Konstellation – sieht Grünbein als eine Vereinigung von Sprache, Wahrnehmung und Denken, die – an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Poesie, Philosophie und Dichtung, (Neuro-)Physiologie und Kunst – die disiecta membra des Humanum zusammenfügt. Das Prozedere der Imagination, das Prozedere der poetischen Bilder als agierende Kraft, die ihr Erkenntnispotential jenseits der Grenzen der Begrifflichkeit entfalten und „aufs Ganze der Erkenntnis“45 gehen, schildert Grünbein im Kompositionszug seines poetischen Essays als einen beinah autogenen Aggregationsprozess verschiedener „Bildbereiche“ und „Anschauungen“: || Vermutlich handelt es sich dabei eher um eine Paraphrase als um ein exaktes Zitat aus Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901–02). Vgl. dazu Ahrend, „Tanz zwischen sämtlichen Stühlen”, S. 67. Diese „ungenaue“ Zitierpraxis, bereits von Montaigne gepflegt, entspricht dem essaytypischen antipedantischen Gestus. 40 Denn „[d]urch die Sprache haben es sich die Menschen für immer unmöglich gemacht, einander kennen zu lernen“: Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1: Zur Sprache und zur Psychologie. 3. Aufl. Stuttgart, Berlin 1921, S. 54. 41 Durs Grünbein: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 89–104, hier S. 89. 42 Durs Grünbein: Katze und Mond. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 55–60, hier S. 57. 43 Grünbein, Reflex und Exegese, S. 65, Hervorhebung S.R. 44 „Die Poesie ist eine Form der imaginativen Erkenntnis. Es ist eine Form zu denken, absolut gleichrangig der Philosophie.“ (Olga Olivia Kasaty: Ein Gespräch mit Durs Grünbein. In: Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche über Liebe, Leben und Literatur. München 2007, S. 73– 99, hier S. 73) 45 Durs Grünbein: Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen. Frankfurt a.M. 2001, S. 97.
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Ich arbeite stark assoziativ. Mein Essay [...] hat eine Art eidetischer Struktur: Es werden oft Bildbereiche verknüpft, eine Anschauung knüpft sich an eine andere Anschauung [...] Diese Art von zirkulärer, bild-logischer Verknüpfung ist für mich viel richtiger als alle systemische Philosophie. (GR 506f.; Hervorhebung S.R.)
Mit Hilfe dieser „bild-logischen Verknüpfung“ ziele der poetische Essay idealiter auf jene „Synthese der Konzepte mit den Perzepten“ (GR 511), die das menschliche Denken, das begrifflich-analytische wie das poetisch-ästhetische, zusammenhält. Auch darin spiegelt sich die im frühen Essay Ameisenhafte Größe ausgedrückte Entscheidung des Poeten wider, „einen dritten Weg auf der Suche nach positiver Erkenntnis auf dem Feld seiner Kunst“46 einzuschlagen. Dieser dritte Weg stellt dem topischen Dualismus der Two Cultures47 eine „Third Culture“ entgegen:48 Die Verbindung von Naturwissenschaften und Humaniora „auf dem Feld“ einer „Kunst“, die im poetischen Wort „aisthesis und alétheia“49 versöhnt. Bezeichnenderweise evoziert Grünbein bei seiner Konturierung des „poetischen Essay[s]“ einen seiner teuersten poetischen Urahnen: Novalis. Mit seiner „negativ romantische[n] Sehnsucht nach dem Zusammenhang des Denkens“ (GR 511) verkörpert Novalis das Gegengift für jede Trennung in abgekapselten Wissenswelten. Die Aufgabe der wirksamen Poesie und der „eigentliche[n] Bildlichkeit“ als deren privilegiertes Medium ist nichts Geringeres, als die verlorene, || 46 Grünbein, Ameisenhafte Größe, S. 13. 47 Das bezieht sich auf P. C. Snows epochale Versinnbildlichung der Kluft zwischen Naturund Geisteswissenschaften in der Schrift The Two Cultures (1959). 48 Diese durchaus modernespezifische Bemühung um eine Aufhebung des Dualismus zwischen technisch-wissenschaftlicher und humanistisch-literarischer Intelligenz durch Anschluss der letzteren an die erstere, durch eine Verbindung also der für „Mensch und Kultur zuständigen Diskurse“ mit den „(Natur)-Wissenschaften von Menschen“ findet sich bereits in der für die literarische Anthropologie des 18. Jahrhunderts charakteristischen Affinität von Literatur und „Lebensphilosophie“ (Wolfgang Riedel: Poetik der Präsenz. Idee der Dichtung bei Durs Grünbein. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24 (1999), H. 1, S. 82–105, hier S. 83f.). Im Zeichen dieser Verbindung sieht Grünbein die einzigartige Zeit „vom Ende des 18. bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts“, in der wir, „nur einmal in der Menschheit“, diese „Dichte der Zusammengehörigkeit von Romantikern und Physikern, von Physikern und Poeten, von Etymologen und Chemikern“ haben (GR 510). Dieser Verbindung entspricht eine „lichtvolle Darstellung“, eine „kunstvolle und doch ungekünstelte Schreibart“ (Cantarutti, Zu den großen Zusammenhängen der kleinen Prosa, S. 27–34 passim; vgl. auch dies.: Il bisturi e il cuore. Antropologia e moralistica nell’illuminismo tedesco. In: Ecriture et anatomie. Médicine, Art, Littérature. Atti del convegno internazionale. Monopoli 2–4 ottobre 2003. Hrsg. von Giovanni Dotoli. Bari 2004, S. 557–584). 49 Durs Grünbein: Darwins Augen. In: ders.: Gedicht und Geheimnis. Aufsätze 1990–2006. Frankfurt a.M. 2007, S. 65–74, hier S. 67.
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ursprüngliche Einheit von Wissenschaft, Philosophie und Poesie, Intellekt und sinnlicher Wahrnehmung, von begrifflicher Abstraktion und poetischer Imagination wieder herzustellen und greifbar zu machen.50 Was Grünbein zum „ursprünglichen Modus der Erkenntnis überhaupt“51 erklärt, der einst Poesie und Wissenschaft vereinte, ist fraglos kein bloßes „Denken in Bildern“, sondern „ein poetisches Denken“, dessen aktive, strukturierende Kraft in der Wirkmächtigkeit des poetisches Wortes als Bild liegt, das Denken voranzutreiben und vorwegzunehmen: Denn „Dichtung [ist] vorwegnehmendes Wissen […], das mit einer Ahnung beginnt“.52 Die Kraft des poetischen Denkens liegt gerade in dieser Art „bild-logischer Verknüpfung“, die eine Re-Konzeptualisierung der Grenzen zwischen poiesis und analysis anstrebt. Denn auf „bild-logischer“ Ebene lässt sich eine Form des Denkens vorstellen, die den begrifflichen Einschränkungen philosophischen Denkens entgeht.53 Die „Bilder-Logik“ bewirkt, dass das poetische Denken die Grenze zur Unbegrifflichkeit überschreitet: „Zu jeder Logik, scheint mir, gibt es eine Gedicht-Logik, zu jedem Satz einer Erkenntnislehre einen Gedicht-Satz“.54
3 Der Nexus Sprache-Bild-Körper Wie drückt sich diese spezifische „Gedicht-Logik“, die „Bilder-Logik“ des poetischen Denkens aus? Woraus besteht deren aktive Wirkmächtigkeit, die Gedicht und Essay innere Stringenz verleiht und den ungenauen, doch präzisen Erkenntnismodus der Poesie vorantreibt? Die zentrale Rolle für dieses erkenntnisstiftende, ultralogische Potential der poetischen Bilder im Werke Grünbeins
|| 50 Von dieser ursprünglichen Einheit zeuge bereits der Mythos: „Die Griechen hatten dafür die Figur der Mnemosyne, die Mutter der Musen. Aus ihrem Schoß gingen sie alle hervor: Geschichte, Dichtung, Tragödie, Musik, Tanz, Pantomime, Komödie, Astrologie, Instrumentalkunst, sogar die Geometrie. Entscheidend ist, daß alles aus einem Zeugungsakt stammt, aus der Verbindung von Uranos und Gaia, Himmel und Erde“ (Grünbein, Das erste Jahr, S. 13). 51 Olav Krämer: Bildliches Denken als Erkenntnismodus zwischen Poesie und Wissenschaft. Grünbein über Dante, Darwin, Hopkins und Goethe. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 241–257, hier S. 257. 52 Durs Grünbein; Aris Fioretos: Gespräch über die Zone, den Hund und die Knochen. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 43 (1996), H. 6, S. 486–501, hier S. 487. 53 Vgl. Regier, Philosophy and Poetry in Durs Grünbein’s Prose, insbes. S. 111. 54 Durs Grünbein, Brigitte Oleschinski, Peter Waterhouse: Die Schweizer Korrektur. Hrsg. von Urs Engeler. Basel 1995, S. 33.
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spielt durchaus der Konnex Sprache-Bild-Körper. Hinsichtlich dieses poetischpoetologischen Komplexes hat Wolfgang Riedel zum ersten Mal 1999 die kritische Kategorie einer Poetik der Präsenz fruchtbar erarbeitet.55 Im Folgenden wird es darum gehen, diese im Sinne von Grünbeins bild-epistemologischer Poetologie perspektivisch zu analysieren, um die Funktionsweise und Performativität der Bilder-Logik in der Triangulierung Sprache-Bild-Körper einzukreisen. Riedels bahnbrechende, 1999 erschienene Untersuchung konzentriert sich auf Grünbeins frühe, medizinisch und neurophysiologisch besonders stark geprägten Texte, deren poetische Fokalpunkte in der Dankesrede zur Entgegennahme des Georg-Büchner-Preises 1995 ihre meist zitierte, zum locus classicus gewordene Formulierung fanden. Der wesentliche Fokus gilt dem Konzept einer – bei Büchner für das eigene Schreiben präfigurativ aufgespürten – „somatische[n] Poesie“,56 einer „Physiologie aufgegangen in Dichtung“,57 die den Körper zur „letzte[n] Instanz“58 macht, gemäß dem der Neurophysiologie verpflichteten Gebot: „unter der Schrift arbeitet der Nerv“.59 Diese poetische Funktionalisierung des Physio-Psychologischen entspricht einer „Reflexologie des Sprechens“, um Mandelstams Formel für Dantes Dichtung zu zitieren,60 nach welcher entweder „alles wirksame Schreiben vom Körper aus [geht] oder […] bloße Literatur“ bleibt.61 Das poetologische Diktat, dem gemäß im poetischen Textgewebe das Reale der Physis Eingang finden soll, wonach Dichtung also auf ‚Anwesenheit‘ der „Wirklichkeit von Mensch und Welt“ im poetischen Wort zielt, definiert Riedel als Poetik des Präsenz.62 Diesbezüglich lassen sich in Grünbeins Werk zwei bild-epistemologische Haupt-Fäden63 erkennen. Erstens folgt Grünbeins Rekurs auf den Konnex Kör-
|| 55 Riedel, Poetik der Präsenz, S. 90. 56 Durs Grünbein: Den Körper zerbrechen. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 75‒87, hier S. 75. 57 Ebd., S. 76. 58 Ebd., S. 79. 59 Ebd., S. 81. 60 Ossip Mandelstam: Gespräch über Dante. In: ders.: Gespräch über Dante. Gesammelte Essays II (1925–1935). Aus dem Russischen übertragen und hrsg. von Ralph Dutli. Frankfurt a.M. 1996, S. 113–175, hier S. 164. 61 Grünbein, Drei Briefe, S. 40. Wie Eskin aufmerksam registriert, hallt hier Verlaines Gedichtzeile „tout le reste est littérature“ (Art poétique) wider. Vgl. Eskin, Poetic Affairs, S. 45, Anm. 9. 62 Riedel, Poetik der Präsenz, S. 90. 63 Eine konzeptuell ähnliche, binäre Strukturierung findet sich in Olav Krämers Untersuchung über Grünbeins Bildliches Denken als Erkenntnismodus. Unterschieden wird hier zwischen der Ebene der Erfahrung und jener der Texte: Die erste Dimension führt Krämer auf Grünbeins „Grundüberzeugung“ zurück, „sinnliche Wahrnehmungen von besonderer Intensität
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per-Bild einem präzisen poetischen Anliegen. Gegen den Lehrsatz von der Nichtreferentialität der Poesie,64 demzufolge Poesie Zeichen in „reine Signifikante[n]“ verwandelt, die auf nichts außerhalb ihrer (Realität, Lebenswelt, Autor-Ich) verweisen, sowie gegen ihre „Totalisierung“, d.h. die poststrukturalistische Tilgung der Referenten auch aus der nicht-poetischen Sprache,65 wendet sich Grünbein hier vehement. Die Physiologisierung des poetischen Wortes nach der Devise eines ‚dritten Weges‘ verrät des Dichters Abwehr gegenüber dem sprachkritischen Topos der referenzlosen Signifikanten:66 In poetische Bilder übersetzt der Dichter „eine Fülle von Einzelbeobachtungen, Schocks oder Glücksmomenten“.67 Die aus dem perzeptiven Kontinuum als „physiologische Kurzschlüsse“ (MbH 28), als „shocks“ emportauchenden und sich in den Körper als „Gedächtnisspur[en]“ „engrammatisch“68 einschreibenden sinnlichen Wahrnehmungen, die zugleich Erkenntniserlebnisse stiften, werden durch analytisch nicht isolierbare, als „eidetisch“ und „bild-logisch“ konnotierte Prozesse in poetische Form bzw. in poetische Bilder (‚Metaphern‘) verwandelt. Das poetische Wort kommt also von den Sinnen und strebt danach, die einmaligen Sinneseindrücke zu bewahren:
|| und Komplexität [seien] zugleich intellektuelle Erkenntniserlebnisse“; zur zweiten Dimension hingegen gehöre die Überzeugung, „sprachliche Bilder [seien] ein ebenso legitimes Mittel des Ausdrucks und der Vermittlung von Erkenntnissen wie abstrakte Begriffe; sie vollbringen eine eigenständige kognitive Leistung, die nicht von Begriffen übernommen werden kann“ (Krämer, Bildliches Denken als Erkenntnismodus, S. 242). 64 Als konnotierenden Zug für die Poesie der Moderne wird die Nichtreferentialität bekanntlich in Hugo Friedrichs epochaler Schrift Die Struktur der modernen Lyrik (1956) definiert: Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit einem Nachwort von Jürgen v. Stackelberg, Erstausgabe 1956. Reinbeck b.H. 2006, S. 122–128 passim. 65 Das literaturtheoretische Konzept der Nichtreferentialität findet bekanntlich in Jacques Derridas totalisierender „Ontosemiologie“ sein für die nicht-poetische Sprache theoretisches Pendant. Vgl. Jacques Derrida: De la Grammatologie. Paris 1967. 66 Dieser begriffliche Zusammenhang wird zum ersten Mal von Wolfgang Riedel hervorgehoben und untersucht. Grünbeins Poesie wird hier mit Gerhard Roths Neurophilosophie in Verbindung gebracht, wobei Grünbeins poetologische Auffassung des Gehirns als „PräsenzGenerator“ konstruktivistisch interpretiert wird (Riedel, Poetik der Präsenz, S. 87–98). 67 Grünbein, Das erste Jahr, S. 279. Zur Zentralität des Schock-Begriffs in Grünbeins Ästhetik und zur Genese seiner poetologischen Funktionalisierung bei Baudelaire und Valéry vgl. Michael Eskin: Body Language. Durs Grünbein’s Aesthetics. In: Arcadia. International Journal for Literary Studies 37 (2002), H. 1, S. 42–66, hier S. 51ff. 68 Durs Grünbein: Drei Briefe. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 40–54, hier S. 41. Zur poetischen Signifikanz des neurologischen Begriffs des Engramms vgl. Müller, Das Gedicht als Engramm.
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Denn das Wort ist physischen Ursprungs. Nur das innegewordene Wort [...] hält die Verbindung zum Einmaligen, zur Idiographie primärer Wahrnehmung. (MbH 18f., Hervorhebung S.R.)
Die ontosemiologische abolition des Referenten, die Mallarmés Poetik der Abwesenheit auf das Nicht-Poetische überträgt, wird bei Grünbein radikal umgekehrt: Wird dort „jede Form menschlicher Rede ins geschlossene Universum der Sprachimmanenz“ gesperrt, so erstrebt hier der Dichter, die „Wirklichkeit von Mensch und Welt“ im poetischen Wort wieder erfahrbar und zugänglich zu machen.69 Als verdichteter Ausdruck, als Bild, wird das poetische Wort zum Mittel perzeptiven Transfers. Erst durch die im Bild gespeicherte Spur der Physis wird das poetische Wort ‚übertragungsfähig‘, also in die Lage versetzt, den Prozess der Vergegenwärtigung von sinnlichen Eindrücken zu vollziehen: Präsenz zu erzeugen. Die die Verbindung „zum Universum der Körper“ (GJ 29) herstellende, eigene Kraft der Bilder ermöglicht ein „wirksame[s] Schreiben“, eine in Bildern gespeicherte, gedanklich-poetische Übersetzung des sinnlichen Wahrnehmungserlebnisses des Dichters: „Es ist nichts im wirksamen Schreiben, was nicht vorher in den Sinnen war.“70 Die zweite, für die Bestimmung der Bild-Epistemologie wichtige Schreibform betrifft die Performativität poetischer Bilder. Idealiter solle die den poetischen Bildern innewohnende Kraft unmittelbar „in die Gedanken und Emotionen des Lesers“ (GJ 29) eingreifen, ein entsprechendes Erlebnis beim Leser auslösen:71 aus der Latenz72 – einer gemäß dem lateinischen Etymon latere ‚verborgenen‘, ‚versteckten‘ Kraft – neue Präsenz erzeugen. Diese dem poetischen Wort inhärente Latenz, welche sich in doppelter Hinsicht – während des poetischen Schaffensprozesses als auch in seinen unendlich changierenden Rezeptionsmöglichkeiten – in aktueller und aktiver Präsenz entfaltet, wird poetolo-
|| 69 Riedel, Poetik der Präsenz, S. 90. 70 Grünbein, Drei Briefe, S. 41. 71 U.a. MbH 24ff.; Drei Briefe, 41f.; Katze und Mond, S. 57; GJ 33f. 72 Die ungeheure Vielfalt von Bedeutungen, Konnotationen und Gebrauchskontexten, die man seit der Antike mit dem Begriff der Latenz verbindet, lässt die inhärente Produktivität und Dynamik des Begriffs erahnen, die Hans Ulrich Gumbrecht als „Zentrifugalität“ bezeichnet (Hans Ulrich Gumbrecht: Zentrifugale Pragmatik und ambivalente Ontologie. Dimensionen von Latenz. In: Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und Florian Klinger. Göttingen 2011, S. 9–19, hier S. 10). Für Bredekamps Problematisierung in Bezug auf die Bildakttheorie vgl. Horst Bredekamp: Die Latenz des Objekts als Modus des Bildakts. In: Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und Florian Klinger. Göttingen 2011, S. 277–284.
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gisch unterschiedlich umkreist. Die größte Rolle73 spielt hier ein Gebot Ossip Mandelstams, Grünbeins vielleicht teuersten „tote[n] Dichter“-Gesprächspartner:74 „Das Wort ist Psyche“ – zugleich aber auch Physis.75 Wie man dieser Schlüsselstelle aus dem poetologisch konstitutiven Essay Mein babylonisches Hirn (1992) entnehmen kann, sei das „Geheimnis“76 des „dichterischen Wort[s]“, die Unmittelbarkeit, seine Magie die physische Präsenz eines Sprechers, der immer woanders oder lange schon tot ist. In den verschiedenen Rhythmen, den verdichteten Bildern wird die Vorstellung des einzelnen synchronisiert mit der Weltwahrnehmung aller – solange es Überlieferung gibt. (MbH 22)
Für diese Kraft der „kinetisch aufglühende[n] Bilder“, die aus der poetischen Sprache Präsenz erzeugen, ist durchaus die Poesie von Mandelstams und Grünbeins gemeinsamem „Urahn“ Dante (GR 511)77 das wichtigste Modell: das „sich für Augenblicke ganz in Anschauung“78 verwandelnde poetische Wort. Im Gespräch über die fließenden unscharfen Grenzen zwischen Poesie und bildender
|| 73 Vgl. Eskin, Body Language, insbes. S. 35. 74 „[D]er Dialog [ist] die Grundlage aller künstlerischen Arbeit. [...] mit dem Gedichteschreiben, wurde Mandelstam [für mich] zum Begleiter [weil] die Plastizität seiner Bilder, seine Art des Zugreifens auf winzige konkrete Alltagsdetails mir so ungeheuer vertraut vorkamen. [...] Er schreibt mit den großen Einsamen der Weltpoesie, mit Ovid und Dante, auf Du und Du“ (GJ 14). 75 Physis und Psyche sind unauflöslich verbundene Dimensionen: Gewollt tautologisch scheint also die wechselhafte argumentative Verwendung von ‚Physiopoetik‘ und ‚Psychopoetik‘: Vgl. den Essay Skizze zu einer persönlichen Psychopoetik (Grünbein, Vom Stellenwert der Worte, S. 15–51). Analog dazu wird die für die Poesie wesentliche Verbindung von Physis und Psyche, und somit zugleich die Komplementarität von sinnlicher Wahrnehmung und gedanklicher Verarbeitung, im Essay Reflex und Exegese fokussiert. Vgl. Grünbein, Reflex und Exegese, S. 63f. 76 Auf den Begriff des Geheimnisses rekurriert Grünbein in Zusammenhang mit der Wirkmächtigkeit des Gedichts bzw. des poetischen Wortes/Bildes immer wieder: „Ich argumentiere da [im poetischen Essay, S.R.] sehr stark eidetisch, nicht logisch oder paralogisch [...] Das ist sozusagen meine ‚Geheim-Poetologie‘“ (GR 507); sowie Grünbeins poetologische Bekenntnis im Essay Das Gedicht und sein Geheimnis: „Was immer er [der Dichter, S.R.] an Erklärungen für sein Tun angibt, es dient ihm zuallererst dazu, ein Geheimnis zu hüten“ (Durs Grünbein: Das Gedicht und sein Geheimnis. In: ders.: Gedicht und Geheimnis. Aufsätze 1990–2006. Frankfurt a.M. 2008, S. 84–94, hier S. 84). 77 Zu Dante als Schlüsselfigur in Grünbeins Dichtung haben folgende Untersuchungen Pionierarbeit geleistet: Eskin, „Stimmengewirr vieler Zeiten“; Lampart, „Jeder in seiner Welt, so viele Welten …“. Via Mandelstam findet Grünbein das Modell einer beispielhaften wissenschaftlichen Schreibweise in Charles Darwins „bildhafte[m] Stil“ (Grünbein, Darwins Augen, S. 69). 78 Grünbein, Galilei vermißt Dantes Hölle, S. 97.
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Kunst vergleicht Grünbein diesen Erzeugungsprozess seitens der poetischen Bilder mit einem Akt der Transsubstantiation: Der Vorgang gleicht dem einer umgekehrten Transsubstantiation, der Verwandlung von Christi Leib und Blut zuerst in Brot und Wein und schließlich in Zeichen und Schrift. Alles bleibt an der Schrift kleben, und diese ist denkbar abstrakt. Die einzige Chance für ein Minimum an Auferstehung liegt in der Anschaulichkeit des Geschriebenen, in seinem Untertauchen in Bild und Metapher (GJ 28, Hervorhebung S.R.).
Denn nicht lediglich in der Sprache agiert diese geheimnisvolle, präsenz-erzeugende Kraft: Grünbeins Verschränkung von „Bild und Metapher“ reicht viel weiter.
4 „Dichter unter Bildkünstlern“ „Dichter unter Bildkünstlern“79 ist Grünbein von Anbeginn gewesen. Sehr früh tritt der Sprachkünstler in Dialog mit den anderen Künsten: von der Musik bis zu Theater und Performance,80 von der Video-Kunst bis zur Malerei. Grenzgängerisch lässt er alles in seine Poesie einfließen – oder besser gesagt: Die verschiedenen Künste werden durch die Poesie wie durch ein Prisma reflektiert, das jeden Lichtstrahl anders färbt und bricht. Poetisch und poetologisch funktionalisiert wird aber vor allem die bildende Kunst. Weder ist es verwunderlich, dass sein publizistisches Debüt Ghettohochzeit (1991) Gedichte mit anatomischen Zeichnungen des Künstlers Via Lewandowsky, seines Kindheitsfreundes, kombiniert,81 noch, dass beide Freunde zusammen, der Dichter und der Künstler, im Erscheinungsjahr des vielleicht meist gefeierten Gedichtbands Schä-
|| 79 Durs Grünbein; Thomas Naumann: Poetry from the bad side. Ein Gespräch mit Thomas Naumann. In: Sprache im technischen Zeitalter 30 (1992), H. 142, S. 442–449, hier S. 447. 80 Zu Grünbeins Tätigkeit mit der performance-Gruppe der Autoperforationsartisten, die aus Else Gabriel, Micha Brendel, Rainer Görß und dem mit ihm seit der Kindheit befreundeten Via Lewandowsky bestand, vgl. Durs Grünbein: Protestantische Rituale. Zur Arbeit der Autoperforationsartisten. In: Kunst in der DDR. Hrsg. von Eckhart Gillen und Rainer Haarmann. Köln 1990, S. 309–318; sowie den Überblick in: Müller, Das Gedicht als Engramm, S. 15. 81 Dieses privat publizierte Projekt Ghettohochzeit (1988) wurde zuletzt anlässlich der Grünbein gewidmeten Veranstaltung Limbische Akte ausgestellt. Vgl. Silvia Ruzzenenti: Limbische Akte: Durs Grünbein im Portrait (Autorentage Schwalenberg vom 22.–24.10.2010). In: Zeitschrift für Germanistik 21 (2011), H. 2, S. 374–376.
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delbasislektion die Text-Bild-Installation Globale Läsion entwerfen.82 Über die Jahre ist Grünbeins Dialog mit der Kunst und den Künstlern ein omnipräsentes Stimmengewirr: Ohne seine poetische Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst, von Leonardo und Raffael über Frans Hals, Brueghel und Rembrandt bis Marcel Duchamp und Francis Bacon, wäre sein Werk nicht denkbar. Der frühe Umgang mit den Alten Meistern in Dresden sowie mit der antiken Kunst und dem archäologischen Weltkulturerbe in Pompeji und Paestum, die stete Zusammenarbeit mit Künstlern – von A. R. Penck bis Ilya Kabakov, von Thomas Florschutz und Andreas Koziol bis Markus Lüpertz und Barbara Klemm – die Wahl der Poetik-Professur an einer Kunstakademie zeugen ebenfalls davon, dass dieser Dichter danach strebt, dem ganzen „Facettenreichtum des Denkens“ (GR 511) Rechnung zu tragen. Als Hommage an Durs Grünbein ließ sich mit Fug und Recht die Veranstaltung Limbische Akte (Schwalenberg, 22.–24.10.2010) nur als synkretisches Event mit einem ausgesprochen interdisziplinären Spektrum konzipieren.83 Die einmalige Vielstimmigkeit der (von einer gleichnamigen Ausstellung begleiteten) besonders gelungenen Veranstaltung entstand eben aus dem intensiven Dialog zwischen dem Dichter und seinen Künstlerfreunden – Poeten und Literaten, aber auch Philosophen, Regisseuren, Schauspielern, Archäologen, Komponisten und bildenden Künstlern. Auch materielle Bilder finden in Grünbeins poetisches Werk immer wieder Eingang: von den anatomischen Zeichnungen in Schädelbasislektion und den berühmten Abbildungen des Innenohrs im Essay Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen bis zu den unzähligen Reproduktionen von Kunstwerken im Gespräch mit Hans-Norbert Jocks. Letztens ist Grünbeins „Kartei-Karte“ selbst zum materiellen Bild geworden: Reproduziert mitten in einem Kunstkatalog aus Gedichten, Prosastücken, Photographien und Zeichnungen, der unter dem Titel DreamIndex / Aus der Traum (Kartei) in der Documenta-Reihe 2012 erschien.84 Dass Grünbeins Wahlverwandtschaft mit den Künsten von einem ausgeprägten bildtheoretischen Verständnis und einem poetologischen Interesse untrennbar ist, liegt auf der Hand. Im Folgenden wird sich zeigen, wie Grünbeins Idee der Wirkmächtigkeit poetischer Bilder, des ultra-begrifflichen Potentials poetischer „Bilder-Logik“ mit der bildwissenschaftlichen Theorie des „Bildakts“ wesentliche Berührungspunkte aufweist. Hierbei soll es keinesfalls darum ge|| 82 Zur Ausstellung Bemerke den Unterschied, die in der Kunsthalle Bremen stattfand, vgl. Bemerke den Unterschied. Katalog der Ausstellung. Kunsthalle Nürnberg 11. April–5. Mai 1991. Hrsg. von Micha Brendel u.a. Nürnberg 1991. 83 Vgl. Ruzzenenti, Limbische Akte, S. 374–376. 84 Durs Grünbein: Dream Index / Aus der Traum (Kartei). Introduction / Einführung: Michael Eskin. Ostfildern 2012, S. 24–27.
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hen, vermeintliche bildtheoretische Fundamente von Grünbeins bild-epistemologischer Poetologie zu erörtern, noch deren Plausibilität aus bildwissenschaftlicher Sicht zu überprüfen. Meine konterkarierende Schilderung soll hingegen dazu beitragen, das poetische Bild in seiner prismatischen poetologischen Funktion erscheinen zu lassen: Als ein Element, dessen Refraktionskraft neues Licht auf alles andere wirft. Denn Grünbeins eigene „Sehnsucht nach dem Zusammenhang des Denkens“ (GR 511) findet gerade im poetischen Bild ihr wirkmächtigstes Medium, um über die Klüfte zwischen den Wissenswelten Brücken zu schlagen. In der gegenwärtigen Bildtheorie genießt die Rede vom Bildhandeln, vom Agieren der Bilder und von agierenden Bildern, Hochkonjunktur.85 Die vexata quaestio, ob Bilder erst durch eine handlungsstiftende Aktivität des Betrachters ihre Wirkung erhalten oder ob „den Bildern eine autonome Aktivität zugesprochen werden kann“, erscheint als „Symptom“ einer allumfassenden Grundproblematik, die sicherlich weit entfernt von einer auch nur vorläufigen Lösung steht.86 Vor diesem Hintergrund stellt das Konzept des Bildakts87 einen wichtigen Bezugspunkt dar. Der Terminus Bildakt ist bekanntlich von John L. Austins und John R. Searles sprachpragmatischem Begriff des Sprechakts abgeleitet, so wie dieser in den Schriften How to do Things with Words (1962) und Speech Acts (1969) formuliert wurde. Die begriffliche Schärfe dieser Theorie, wonach ge-
|| 85 In der aktuellen Bild- und Kunstwissenschaft sowie in der Bild-und Kunstphilosophie ist eine große, kaum überschaubare Vielfalt an Positionen und Ansätzen zu erkennen. Ein vielbeachteter Ordnungsversuch, eine „Systematik von Bildhandlungstypen“, stellt Silvia Sejas Differenzierung in vier bildtheoretische Paradigmata dar, anhand derer der Begriff des „Bildhandelns“ eingegrenzt wird: die Paradigmata des Bildspiels, des Bildakts, der Werkzeuge sowie der Probehandlungen mit interaktiven Bildern. Vgl. Silvia Seja: Der Handlungsbegriff in der gegenwärtigen Bild- und Kunstphilosophie. In: Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft. Hrsg. von Ingeborg Reichle u.a. Berlin 2007, S. 97–112, hier S. 97f. und dies.: Handlungstheorien des Bildes. Köln 2009. 86 Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Berlin 2010, S. 49. 87 Auf das autonome Wirken der Bilder weist bereits der Soziologe Henri Lefebvre hin, in dessen epochaler Kritik des Alltagslebens (1961) die Formel „L’image est acte“ auftaucht. Begrifflich erweitert als acte iconique wird das Konzept vom Agieren der Bilder aber erstmals 1990 durch den Photographen und Photo-Theoretiker Philippe Debois und 2001 durch Gottfried Boehms Bestimmung des Bildes „als Faktum und als Akt“. Diesen Anstößen sind in der Kunstgeschichte zahlreiche komplexe Auseinandersetzungen mit der Frage nach der Eigenkraft der Bilder gefolgt – u.a. von Hans Belting, Wolfgang Kemp. Vgl. Bredekamp, Theorie des Bildakts, S. 48–55. Für eine ausführliche ideengeschichtliche Rekonstruktion siehe Seja, Handlungstheorien des Bildes, S. 68–112.
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sprochene Sätze „unhintergehbare Fakten schaffen“,88 beruht vor allem auf Searles Bestimmung der Sprache als einer regelgeleiteten Form des Verhaltens. Das Konzept der Performativität der Sprache versucht dann erstmals Søren Kjørup im Jahre 1974 für die Welt der Bilder nutzbar zu machen: Im Sinne eines ‚pictorial speech act‘ gibt er also die ersten Anstöße dazu, die ‚Worte‘, mit denen laut der Sprechakttheorie ‚Dinge‘ erzeugt werden, durch ‚Bilder‘ zu ersetzen.89 Kjørups Ansatz folgen zahlreiche Versuche, Wörter als Instrumente des Sprechakts gegen Bilder auszutauschen. Jedoch alles andere als begrifflich unproblematisch erscheint solch eine implizierte Gleichsetzung von words und pictures. Der entscheidende begriffslogische Kurzschluss ergibt sich aus zwei Gründen. Einerseits betrifft die sich im Sprechakt ausdrückende Performativität der Sprache das Sprechen als ein Kontinuum von Worten, nicht aber das Wort als ein einzelnes Element, das dem Bild in seiner „inneren Konsistenz“90 entsprechen würde. Darüber hinaus impliziert diese Tausch-Operation eine den Bildern wesensfremde Funktionalität. Infolge von Searles „begrifflicher Verhärtung“91 der Sprechakttheorie geht „die präzise Offenheit jeder lebendigen Sprache“92 verloren. Die Bilder „in denselben funktionalen Zusammenhang [...] wie die instrumentell begriffenen Wörter“93 zu stellen, bedeutet einen gravierenden Verlust, denn es widerspricht „dem Kern ihrer Eigenart“.94 Das Fazit dieser Kurzschlüsse für eine Theorie des Bildakts lässt sich mit den Worten des Kunst- und Bildwissenschaftlers Horst Bredekamp zusammenfassen: Nach gut vierzig Jahren haben sich die Vorstöße, die Theorie des Sprechakts für die Welt der Bilder zu nutzen, als ein zunächst vielversprechender Versuch erwiesen, die Ästhetik unter den Bedingungen des iconic turn neu zu formulieren. Von der Klärung einer Bildakttheorie, in der Bilder eine genuine Rolle spielen, kann aber ebensowenig die Rede sein wie von der Fundierung einer hieraus abzuleitenden ‚Bildwissenschaft‘.95
|| 88 Bredekamp, Theorie des Bildakts, S. 50. 89 Aus Austins How to do Things with Words wird bei Kjørup entsprechend How to do Things with Pictures. Vgl. Søren Kjørup: George Inness and the Battle of Hastings or Doing Things with Pictures. In: The Monist 58 (1974), H. 2, S. 216–235; ders.: Pictorial Speech Acts. In: Erkenntnis 12 (1978), S. 55–71. 90 Bredekamp, Theorie des Bildakts, S. 51. 91 Bredekamp, Die Latenz des Objekts als Modus des Bildakts, S. 280. 92 Bredekamp, Theorie des Bildakts, S. 50. 93 Ebd., S. 51. 94 Ebd. 95 Ebd.
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Es dürfte kein Zufall sein, dass Grünbein anlässlich der Buchpremiere96 seines Gedichtbandes Cyrano oder die Rückkehr vom Mond (2014)97 gerade Horst Bredekamp als Gesprächspartner erkor. Denn hinsichtlich dieses theoretischen Geflechtes um den Bildakt ist Bredekamp der größte Innovator in der gegenwärtigen kunstwissenschaftlichen Diskussion. Seine Theorie des Bildakts (2010) schlägt einen völlig neuen Weg ein. Einen Bruch mit der sprachpragmatischen Fundierung markierend, versetzt Bredekamp die Aktivität, den Kern der Performativität, nicht in den Sprecher oder Betrachter, sondern in das Bild selbst. Bei diesem Positionswechsel sei die Latenz des Bildes wesentlich, „die in der Form steckende potentia“,98 „im Wechselspiel mit dem Betrachter von sich aus eine eigene, aktive Rolle zu spielen“.99 Fern von jedem Neo-Vitalismus wird hier die Rede von der lebendigen Kraft des „Bildwerks“ als Reformulierung einer Erkenntnis aus Platons Sophistes eingeführt: Erörternd, wie das Bild zu definieren sei, das sich einerseits durch seine Ferne vom Sein auszeichne, andererseits aber deren Teil und Medium sein könne, hat Platon durch Theaitetos geäußert, es sei ‚also nicht wirklich nicht seiend, doch wirklich‘. Die doppelte Verneinung läßt die unvereinbaren Positionen gemeinsam bestehen. Die Wahrheit dieser Paradoxie ist die Logik des Bildes.100
Der Bildakt lässt sich in diesem Sinne als „eine Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln“ begreifen, welche sich „aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden und auch hörenden Gegenüber“ generiert.101 Die Präsenz, die sich dem Betrachter durch den Bildakt manifestiert, ist nach Bredekamp weder semiotisch noch hermeneutisch zu klären. Es handle sich um eine physisch wirksame Kraft, welche zugleich im
|| 96 Literarisches Colloquium Berlin, 25.03.2014. 97 Durs Grünbein: Cyrano oder die Rückkehr vom Mond. Berlin 2014. 98 Bredekamp, Theorie des Bildakts, S. 55. 99 Ebd., S. 52, Hervorhebung S.R. 100 Ebd., Hervorhebung, S.R. Vgl. auch Gottfried Boehm: Ikonische Differenz. In: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik (2011), H. 1, S. 170–178, Hervorhebung S.R. Von einer solchen paradoxen Logik bezüglich des poetischen Wortes ist in Grünbeins Werk oft die Rede. Beispielhaft ist der Passus aus dem Essay Drei Briefe, in dem die Poetik des Sarkasmus umkreist wird: „Denn statt irgendwelcher Lyrismen gibt es mit einem Mal Fleisch, von den Knochen gelöst, Blöße ... was unter den Griechen sarkazein hieß. [...] das Spiel mit den Bruchstücken einer abduktiven Logik, die auf den Paradoxen tanzt. [...] Denn in dieser Zwangslage des Vielzuvielen an Vielzuvielem auf engstem Raum, in dieser äußersten Polyphonie des Geschehens hat das Sprechen im Gedicht die Funktion eines paradoxen Innehaltens.“ (Grünbein, Drei Briefe, S. 50f.) 101 Bredekamp, Theorie des Bildakts, S. 52.
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Bild, in der materiellen Physis des Bildes und in seiner formalen Gestalt, gefangen (latent) ist und „vielerlei Bewegungen außerhalb des Bildes auslösen kann“.102 Bei dieser Art von Bildakt, den Bredekamp als intrinsischen Bildakt definiert, wirke die „Kraft der gestalteten Form als Form“ katalysierend.103 Gegen die Idee einer – wenn auch durch die Sprachphilosophie als mystifizierend demaskierten – Erfassbarkeit der Welt durch Sprache wird nun den Bildern die Wirksamkeit zugeschrieben, im aktiven Umgang mit den Betrachtern zu agieren. Der Begriff des Bildakts konterkariert somit den „sprachlogischen Kampf gegen den poetischen Überschuß der Sprache“:104 Denn erst im Zusammenhang oder auch im Kontrast mit der Sphäre des Visuellen vermag die Sprache „zur höchsten Entfaltung ihrer selbst zu gelangen“.105 Fern von einem „bildbezogene[n] Votum im Wettstreit zwischen Bild und Sprache“ verstehen sich sowohl Grünbeins poetische und poetologische Idee einer an das ganze Sensorium appellierenden, präsenz-erzeugenden und das poetische Denken vorantreibenden „Bilder-Logik“ als auch Bredekamps Theorie des Bildakts als Beiträge zur Stärkung der Sprache „in der Ära ihrer visuellen Herausforderung“.106 An der Schnittstelle Bild wird somit der ursprüngliche, in der aísthēsis eingeschriebene Nexus zwischen Poesie und bildender Kunst, zwischen bildlogischer und bild-erzeugender Kraft, wieder greifbar.
|| 102 Gumbrecht, Zentrifugale Pragmatik und ambivalente Ontologie, S. 15. 103 Bredekamp, Theorie des Bildakts, S. 53. Neben dem intrinsischen Bildakt unterscheidet Bredekamp zwei andere Grundkategorien. Der schematische Bildakt entstehe durch eine „Verlebendigung des Bildes“, wie es „in Körperkompositionen, Automaten oder Biobildwerken“ geschieht. Bei dem substitutiven Bildakt äußere sich die Wirkkraft durch den „wechselseitigen Austausch von Körper und Bild in Religion, Naturforschung, Medien, Recht, Politik, Krieg und Bildersturm“ (ebd., S. 52f.). 104 Ebd., S. 54. 105 Bredekamp, Theorie des Bildakts, S. 54. Bezeichnenderweise taucht die aquatische Metaphorik auch bei Bredekamps Korrelierung der dröhnenden Überfülle an visuell-bildlichen Stimuli mit jener an auditiven und schriftlichen sprachlichen Stimuli wieder auf, wo die Rede von einer „Umschäumung der Lebenswelt“ ist (ebd., S. 54). 106 Ebd.
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5 Die Bars von Atlantis: Konstellationen der „Bilder-Logik“ Jene Wirkmächtigkeit der poetischen Bilder, die dem „wirksame[n] Schreiben“107 innewohnt und welche der Autor als „eidetische“, „bild-logische Verknüpfung“ (GR 507) und „Bilder-Logik“108 kondensiert, kommt in der Form des poetischen Essays besonders zur Geltung. Der Großessay Die Bars von Atlantis. Eine Erkundung in vierzehn Tauchgängen (2009) stellt dafür ein poetologisch sowie poetisch besonders prägnantes Beispiel dar. Nicht nur wird in diesem Werk die metaphorologische Reflexion explizit thematisiert und in Gestalt der aquatischen Daseinsmetapher durch das ganze Werk durchgespielt, sondern hier wird auch die spezifische ‚Physiologie‘ der ikonischen-eidetischen Logik Grünbeins besonders anschaulich: von den kleineren bildlichen Argumentationsschlüssen bis zum gesamten Duktus der Text-Komposition. Das poetische Bild – Ägide von „höchst unterschiedliche[n] Verfahren der Ausdruckskunst“ wie „Gleichnis und Metapher, Vergleich und Analogie“ (BA 12) – nimmt in der poetologischen Reflexion des Großessays den absoluten Fokus ein. Keinesfalls von einer stringenten Metaphorologie, durchaus aber von einer reichen Konstellation an poetisch formulierten ästhetischen Schwerpunkten kann hier die Rede sein: Eine Konstellation, die die „kleine[.] poetologische[.] Rundreise“109 von Die Bars von Atlantis von Anbeginn erhellt. Deren Leitfaden lässt der einführende Passus vom zweiten Tauchgang, dem Kleinessay Dichtung als Schifffahrt, hervortreten: Irrfahrt? Ozean? Schiffbruch? Sind das alles nicht nur Metaphern, windige Gleichnisse? Und was haben sie uns in unserer heutigen, verkehrstechnisch soviel weiter entwickelten, ungeheuer beschleunigten Welt noch zu sagen? (BA 12)
Wie der sybillinische Titel andeutet, liegt das Thema der essayistischen Tauchgänge ganz im aquatischen „Ur-Topos“.110 Die Bars von Atlantis besteht aus vier-
|| 107 Grünbein, Drei Briefe, S. 41. 108 Durs Grünbein, Silvia Ruzzenenti: Poesia e saggio. Un’intervista. In: Il saggio. Forme e funzioni di un genere letterario. Hrsg. von Giulia Cantarutti u.a. Bologna 2007, S. 235–246, hier S. 239. 109 Durs Grünbein: Die Bars von Atlantis. Eine Erkundung in vierzehn Tauchgängen. Frankfurt a.M. 2009, hier S. 16. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle BA und Angabe der Seitenzahl im Text zitiert. 110 Das Wort ‚Tauchgang‘ selbst ist ein schönes Beispiel für die Vielschichtigkeit von Grünbeins Spiel mit den Ressourcen der Polysemie und der Re-Etymologisierung. Der Untertitel
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zehn „knappen Exkurse[n]“. Diese vierzehn Essays entwickeln „sprunghaft“ und auf „eigene, verschlungene Weise“ wie Mosaiksteinchen das Gesamtbild einer poetisch-poetologischen Erkundung in der Grünbein eigenen idiosynkratischen Lektüre, die vielerlei Variationen der seit der Antike verwandten nautischen Metaphorik ergibt.111 Zentral ist dabei die unauflösliche, dynamische Verschränkung von zwei (Meta)-Diskursen, welche die poetische Textur des gesamten Langessays konfiguriert: Die der eigenen Poetologie inhärente metaphorologische Reflexion wird hier mit jedem der vielfältigen Bilder der Seefahrt und des Schiffbruchs korreliert.112 Den Schiffbruch selbst hat Blumenberg endgültig zur „Daseinsmetapher“113 erklärte. Dieser Ur-Topos (BA 17), zu den altehrwürdigsten, meist verbreiteten Figuren sowohl der abendländischen als auch der chinesischen, persischen und arabischen Kultur und Literatur gehörend, habe sich zu einem ‚Inbild‘ verwandelt. Und gerade dieses ‚Inbild‘ bildet den Kern jener Metapher, welche der ganze Langessay auf bildlich-gedanklich verschlungenen Wegen ersichtlich macht. Dabei nimmt sich Grünbein vor, „einen Fundort einzukreisen“, der erstmals in Platons Dialogen Kritias und Timaios sondiert wurde: den Mythos von Atlantis, der das „Versinken von Zivilisationen, ihr Verschwinden auf natürlichem Wege, mit der Furcht vor der Gleichgültigkeit des Meeres verknüpft.“ (BA 17) Aus dem Atlantis-Stoff hervorgehend artikuliert sich die poetologische „Gesamtexkursion“ (BA 17) in verschiedenen Etappen, die ein „verborgenes Erzählmoment in der Poesie der Moderne“ thematisieren: Jene „Weltflucht, wovon die auffällig weitverbreiteten Tiefseephantasien der Dichter“ (BA 17) unverkennbare Zeichen sind. Atlantis wird konterkariert vom „isolierten Bild der Bar“, welches, „in Ergänzung“ zu Gaston Bachelards Poetik des Raumes, als „Modell für die Dehnung der Zeit auf engstem Raum“ fungiert und zugleich einen „gewaltige[n] Sprung ins Phantastische“ darstellt (BA 34). Die
|| verbirgt einen poetologischen Hinweis: Diese „Unterwasser-Spaziergänge“ spielen auf Montaignes Vergleich der gedanklichen und ästhetischen Bewegung des essayistischen Schreibens mit einem Spaziergang und somit auf die Urform des Essays an. Vgl. den berühmten Passus aus dem Essay De la vanité: „Mon stile et mon esprit vont vagabondant de mesme“ (Michel de Montaigne: Essais. Texte établi et annoté par Albert Thibaudet. Paris 1939, livre III, chapitre IX, S. 1116). 111 „Das Menschliche, Allzumenschliche in seiner ganzen Regenbogenfarbigkeit individueller Entfaltung als Stil und Form [...] läßt [....] sich immer nur an Indizien [erkennen], am Auftauchen idiosynkratischer Wesenszüge.“ (GJ 16) 112 Pascals Formel „vous êtes embarqué“, die als Motto von Schiffbruch mit Zuschauer erscheint, kommt bekanntlich eine Schlüsselfunktion für die gesamte metaphorologische Reflexion Blumenbergs zu. Vgl. ebd., S. 23. 113 Vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher (1979). 5. Aufl. Frankfurt a.M. 2012.
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poetologisch konstituierende Metaphorik der reflexiv-poetischen ‚Expedition‘ nimmt Grünbein in Tauchen mit Descartes, einem fast zur gleichen Zeit entstandenen Gespräch mit Michael Eskin, wieder auf. Auch hier ist das Bildfeld der Rundreise, der Erkundung und der Expedition mit dem erratischen Meditieren und jenem Schreiben jenseits von fester Begrifflichkeit korreliert, die seit Montaigne der offenen Form des Essays exemplarisch entsprechen: „Es ist eine Expedition mit offenem Ausgang, kein Schaulaufen mit festen Begriffen“.114 Diese offene Form der Reflexion ist ihrerseits mit der unergründlichen Genese der Poesie und der geheimnisvollen „Funktionsweise“ ihrer Bildlichkeit verknüpft: So weiß ich zum Beispiel noch immer nicht, wie Gedichte eigentlich funktionieren. Ich ahne etwas von gebündelter Wortenergie und davon, daß gute Poesie etwas in uns aufwühlt, was dort lange geschlummert hat und nun geweckt werden mußte [...]. Was weiß denn die Gehirnforschung über die Funktionsweise von Metaphern?115
Den Nukleus dieser grundlegenden Bild-Problematik versucht die metaphorologische Reflexion von Dichtung als Schifffahrt durch interrogative Verfahren poetisch-poetologisch zu ergründen. Die Fragen, die sich der Dichter hier stellt, kreisen um nichts Geringeres als um die Gründe für die Beständigkeit der Poesie. Gottfried Boehm, der mit William J. Thomas Mitchell als Initiator des iconic turn gilt, stellt in seiner Schrift über Die Wiederkehr der Bilder die Frage, was „die Metapher möglicherweise dafür geeignet“ mache, „das strukturelle Muster von ‚Bildlichkeit‘ abzugeben“.116 Grünbein verschiebt die Perspektive und fragt, was den Metaphern, den poetischen Bildern, ihre Haltbarkeit verleiht, was diesen „in sich gekehrte[n] Bilder[n]“ ermöglicht, den „Bezug zur Außenwelt“ (BA 16) zu bewahren: „[S]ollten poetische Bilder etwa historisch unverwüstlicher [...] als Thesen und Theorien“ (BA 12) sein? [S]ind am Ende, bei aller Modernisierung, Dynamisierung und schließlich Globalisierung, die Fundamente und die Grundrisse menschlicher Imagination nicht noch immer dieselben? (BA 12)
Den größten „lebende[n] Beweis“ für die Unverwüstlichkeit der poetischen Bilder und für die „Omnitemporalität“ der Poesie, das „Ineinanderverwoben-
|| 114 Durs Grünbein; Michael Eskin: Tauchen mit Descartes. Ein Gespräch mit Durs Grünbein. In: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 3 (2011), S. 389–402, hier S. 390. 115 Ebd., Hervorhebung S.R. 116 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: Was ist ein Bild? Hrsg. von Gottfried Boehm. München 1994, S. 11–37, hier S. 26.
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sein aller Zeitformen“ (GJ 18), findet Grünbein im „kinetische[n], taktile[n], physiologische[n] Arbeiten“ (GD 96) der poetischen Bilder selbst. Wenn aber „Dantes vielgliedrige, unter vielen Segeln segelnde und kinetisch aufglühende[n] Vergleiche“ der Inbegriff für die Möglichkeit der Poesie sind, „den Reiz des noch nie Gesagten“ zu bewahren,117 lässt das „Gleichnis vom Gedicht als einer Flaschenpost“ (BA 10) eine andere Facette der Wirksamkeit der Bilder zur Geltung kommen. Das Bild der Dichtung als Flaschenpost – welches im gleichnamigen Kleinessay im Fokus der poetisch-essayistischen Reflexion steht – zeugt umgekehrt von der Unverwüstlichkeit selbst topisch gewordener Metaphern.118 Auf einer metaphorologischen Ebene skizziert also der Kleinessay das Programm der gesamten essayistischen „Expedition“. Die nautische Metaphorik lässt sich mittels einer die gesamte textuelle Komposition durchziehenden Verkettung von Bildern verfolgen. Bereits in den Eröffnungszeilen verwendet Grünbein die Metapher der „Schleppnetze“, der Anthologien, in denen sich die Verse des bekannten Dichters „[ver]fangen“ (BA 9). Anschließend hallt das Aquatische in der Erwähnung von Claude Debussys Symphonie op. 109 La Mer wider. Diese Bilderkonstellation verknüpft sich dann mit dem Bild der Poesie als „Flaschenpost“ (BA 10), einem der grundlegenden bildlichen Schwerpunkte des Gesamtwerks überhaupt. Hier kommt das Phänomen der Wirkmächtigkeit der poetischen Bilder performativ zum Vorschein. Denn erst durch das Zitieren der Metapher selbst wird in zweierlei Hinsicht Präsenz erzeugt: „[D]as Zitat öffnet den Zwischenraum für die Begegnung“.119 Das Bild evoziert unmittelbar die Figur von Mandelstam als Verfasser des Essays Über den Gesprächspartner (1913), dem ersten modernen Dichter, für welchen die Metapher der Dichtung als Flaschenpost eine Schlüsselstellung einnimmt. Mit Mandelstam verbindet sich dann unverkennbar die Figur von Paul Celan, seinem ersten Übersetzer. Das Zitieren des Bildes erschafft also die Möglichkeit, durch die Kraft der Bilder einen Moment der Auszeit zu erzeugen, sich dem Fluss von Wahrnehmungen zu entziehen und dorthin zu gelangen, wo nur das Gebot der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (GJ 45) gilt. Hier wird der Dialog mit den Urahnen der Tradition physisch präsent. Das Zitat wirkt wie ein Katalysator, der die Latenz, die in der poetischen Form des Bildes gespeicherte, schlummernde Kraft, in Präsenz || 117 Ossip Mandelstam: Entwürfe zum Gespräch über Dante (Notizbuch). In: ders.: Gespräch über Dante. Gesammelte Essays II (1925–1935). Aus dem Russischen übertragen und hrsg. von Ralph Dutli. Frankfurt a.M. 1996, S. 176–193, hier S. 184. 118 Zur Flaschenpost-Metapher in der deutschen Literatur vgl. Karen Leeder: Introduction: The Address of German Poetry. In: German Life and Letters 60 (2007), H. 3, S. 277–293. 119 Durs Grünbein: Z wie Zitat. In: ders.: Antike Dispositionen. Aufsätze. Frankfurt a.M. 2005, S. 61–64, hier S. 63.
Bilder-Logik. Zur bild-epistemologischen Poetologie Durs Grünbeins | 109
verwandelt. Andererseits zeigt sich die aktive Kraft des Bildes in der poetischen Textur selbst: Lange ist sie da draußen, auf der hohen See der Bücherwelt, in diesem Meer des gedruckten Verstummens, umhergeschaukelt, und ihm nun wieder vor die Füße gespült worden. (BA 10)
Wie in einer mise en abîme wird die Metapher der Flaschenpost durch ihr eigenes rhythmisch-prosodisches und schriftlich-graphisches Bild anschaulich gemacht: Die schlummernde Kraft des Bildes wird erweckt und aktiviert. Die syntaktische Gestaltung, durch die Reihe von Appositionen und durch die Setzung der Kommas kadenziert, lässt eine wellenähnliche Bewegung entstehen. Rhythmisches und Visuelles wirken synergetisch. Die konstitutiven Leerstellen im Text, le blancs de l’écriture, erzeugen Präsenz – und zwar physische Präsenz. Die dem poetischen Bild innewohnende Kraft bewirkt, dass die Schrift, das graphische Element, und die Leerstellen, die bedeutungsträchtigen Zeichen, zu einem materiellen Bild werden. In diesem poetischen, bildlichen Akt agiert die Bilder-Logik als korrelierendes Medium. Denn wie Grünbein in seinem Nietzsche-Essay hervorhebt, bedeutete poiesis ja bei den Griechen „Handlung und Schaffen“, „Dichtkunst und Tätigsein“120 zugleich: Darin, im Agieren der Bilder, in ihrem po(i)etischen Schaffen von Präsenz, liege der einzige, mächtige Grund für die Lebenskraft der Poesie.
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|| 120 Grünbein, Die Stimme des Denkers, S. 183.
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| III. Wahrnehmung und Erkenntnis im Werk Durs Grünbeins
Hinrich Ahrend
„Aqua alta“. Das Meer als Ort phänomenologischer Erkenntnis bei Durs Grünbein Das Meer hat den Menschen von jeher fasziniert und ihn stets zur Selbstbespiegelung herausgefordert – auch und vor allem zur literarischen. In der Lyrik nach 1800 avanciert der maritime Bereich zunehmend zum Bildspender für die Selbsterkundungen der dichterischen Imagination unter dem Vorzeichen einer wissenschaftlichen und zugleich wissenschaftskritischen Moderne. Ein prominentes poetologisches Bild ist Ossip Mandelstams Metapher der Dichtung als Flaschenpost, deren Relevanz für die Poetik Grünbeins in der Forschung inzwischen hinreichend bekannt ist und die er zuletzt auch in Die Bars von Atlantis als Reflexionsfolie für dichterische Grundsatzfragen nutzte.1 Ein sinnvolles Deutungsparadigma für den Imaginations- und Erfahrungsraum Meer könnte eine poetische Variante der Phänomenologie sein, mit der Grünbein sich seit 1993 in verschiedenen Essays, Gesprächen und Vorträgen wiederholt auseinandergesetzt hat.2 Michael Eskin gegenüber sprach er 2011 wie selbstverständlich von „meiner Phänomenologie“ und bezeichnete in diesem Zusammenhang das Tauchen als „de[n] perfekte[n] Modus der Wahrnehmung“.3 Vorauszuschicken ist, dass ‚Phänomenologie‘ – wie schon das selbstbewusste „meiner“ suggeriert – nicht in einem schulenspezifisch strengen Sinn zu verstehen ist. Allerdings beruft sich Grünbein in dem im Jahr 2001 publizierten Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks auf so einschlägige wie verschiedenartige Repräsentanten einer philosophischen Phänomenologie: Gaston Bachelard, Maurice Merleau-Ponty sowie vor allem Edmund Husserl.4 Auch wenn Grünbein nicht als poetischer Handlanger dieser Philosophen erscheinen möchte, muss es doch als prinzipiell legitim gelten können, seine Gedichte einmal auf seine || 1 Vgl. hierzu Kapitel I: Flaschenpost. In: Durs Grünbein: Die Bars von Atlantis. Eine Erkundung in vierzehn Tauchgängen. Frankfurt a.M. 2009, S. 9–11. 2 Bedeutende Belegstellen wären etwa: Durs Grünbein: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 89–104; Durs Grünbein; Heinz-Norbert Jocks: Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. Köln 2001, S. 5 u. 10f.; Durs Grünbein: Warum schriftlos leben. In: ders.: Warum schriftlos leben. Aufsätze. Frankfurt a.M. 2003, S. 34–65, hier S. 38–40; ders.: Der cartesische Taucher. Drei Meditationen. Frankfurt a.M. 2008, S. 30–32. 3 Durs Grünbein, Michael Eskin: Tauchen mit Descartes: Gespräch mit Durs Grünbein. In: Sinn und Form 63 (2011), H. 3, S. 389–402. 4 Grünbein; Jocks, Durs Grünbein im Gespräch, S. 10f.
116 | Hinrich Ahrend
Einflussquellen hin zu lesen. Demzufolge soll im Hauptteil dieser Untersuchung der Versuch unternommen werden, zwei Meeresgedichte Grünbeins mit Husserls und Merleau-Pontys Überlegungen zu Bildlichkeit, Wahrnehmung und Wissen zusammenzubringen und sie mit den Begriffen dieser Ansätze zu interpretieren, um die Besonderheiten von Grünbeins Epistemologie des dichterischen Bildes herauszuarbeiten. Dem umrissenen Analyseziel entsprechend wird die Leitthese verfolgt, dass Grünbein seinen philosophischen Einflussquellen einiges verdankt5 und dass seine poetische Bild-Epistemologie ohne die Phänomenologie nicht zu denken ist. Folgerichtig wird sich die Analyse auch an deren Bildbegriff orientieren, d.h. an einem Verständnis des Bildes, das dieses innerhalb einer wahrnehmungstheoretischen Perspektive behandelt. Zur Beschreibung der damit verbundenen Probleme bediente sich die ältere Philosophie des Terminus der ‚Anschauung‘ und auch Grünbein greift gelegentlich auf ihn zurück. Die Untersuchung wird sich in drei Abschnitte gliedern. Zunächst gilt es, Grünbeins Poetik einer phänomenologisch-poetischen ‚Anschauung‘ in ihren Grundzügen vorzustellen und diese, hier bereits kapriziert auf den Motivbereich des Meeres, in einem zweiten Abschnitt mit einem Überblick über die frühere Lyrik Grünbeins zu konfrontieren. Dies als Grundlage für den Hauptteil: In seinem Zentrum wird der Zyklus Studien in Aquamarin stehen, den Grünbein 2010/11 in der Zeitschrift mare erstmalig publiziert hat6 und der in ganz entscheidender Weise auf der Verbindung von Poesie und phänomenologischer Erkenntnis aufbaut.
|| 5 Die Produktivität von Husserls und Merleau-Pontys Philosophien in Grünbeins lyrischem und essayistischem Werk konnte bereits meine Dissertation aufzeigen. Vgl. hierzu Hinrich Ahrend: „Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“. Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins. Würzburg 2010, etwa S. 72–102 (in Kapiteln über den Essay Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen sowie über die Büchner-Preis-Rede Den Körper zerbrechen). 6 Unverändert wiederabgedruckt in: Durs Grünbein: Koloß im Nebel. Gedichte. Frankfurt a.M. 2012, S. 102–110; Zitate aus Studien in Aquamarin werden im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle SiA und Seitenzahl angegeben.
„Aqua alta“. Das Meer als Ort phänomenologischer Erkenntnis | 117
1 Die dichterische Anschauung. Ein rascher Durchgang durch Grünbeins Poetik Der konzeptuelle Schulterschluss von Poesie und Erkenntnis – ein altes Thema der Dichtungstheorie seit der Antike – gehört zu denjenigen poetologischen Leitvorstellungen, die Grünbein seit frühesten Tagen vertritt. Nach lyrischen Vorbereitungen in Grauzone morgens erhebt der Essay Ameisenhafte Größe (1990) die „Verbindung von Poesie und Erkundung“7 zur Leitmaxime und verpflichtet den Dichter darauf, sich durch die ‚Mühen der Ebene‘ der empirischen Wirklichkeit voranzuarbeiten, ameisengleich bescheiden und ohne hochtrabendes ideologisches Rüstzeug, nur ausgestattet mit Wahrnehmung und Verstand. Was ‚Erkundung‘ für Grünbein genauer heißt und was dies insbesondere für die dichterische Sprache bedeutet, darüber klärt uns dann der Essay Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen (1993) auf, der die Idee einer spezifisch dichterischen ‚Anschauung‘ erstmals vorrangig zum Thema macht. Anhand einer Einflüsse von Ossip Mandelstam und Edmund Husserl verarbeitenden Lektüre von Dante Alighieris Divina Commedia entwickelt Grünbein eine Konzeption des dichterischen Bildes, die eine Einheit von „dichterische[r] Imagination und naturwissenschaftliche[r] Abstraktion“8 anstrebt, die die physiologisch-sinnliche Wahrnehmung von Welt mit ihrer intellektuellvisionären Durchdringung verbindet und dabei auf die Gewinnung anthropologischen Wissens fokussiert ist.9 Dante ist „ein lebendiges Wesen, das sich für Augenblicke ganz in Anschauung verwandelt hat“,10 ist der „Kartograph eines Weltinnenraums“,11 der „delische Taucher“,12 den sein Vers in die Tiefe zieht.
|| 7 Durs Grünbein: Ameisenhafte Größe. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 13–17, hier S. 15. 8 Grünbein, Galilei vermißt Dantes Hölle, S. 91. 9 Zu Grünbeins Dante-Essay vgl. Michael Eskin: „Stimmengewirr vieler Zeiten“. Grünbein’s Dialogue with Dante, Baudelaire, and Mandelʼshtam. In: The Germanic Review 77 (2002), H. 1, S. 34–50; Fabian Lampart: „Jeder in seiner Welt, so viele Welten …“. Durs Grünbeins Dante. In: Durs Grünbein. Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Bd. 153. München 2002, S. 49–59; mit besonderer Konzentration auf Fragen der Bildlichkeit vgl. Olav Krämer: Bildliches Denken als Erkenntnismodus zwischen Poesie und Wissenschaft. Grünbein über Dante, Darwin, Hopkins und Goethe. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 241–257. 10 Grünbein, Galilei vermißt Dantes Hölle, S. 97. 11 Ebd., S. 96. 12 Ebd., S. 97.
118 | Hinrich Ahrend
Diese Tiefe ist vor allem eine epistemische: „[I]m Laufen entstehend[.]“,13 den Strom der Erscheinungen sensibel und aufmerksam registrierend und ausgelöst durch (physische) Schocks dringt die „explodierende Ansicht“14 Dantes, „präzis wie ein Insektenauge“,15 auch in übersinnliche Erfahrungsbereiche vor, rekonstruiert die historischen und mythologischen Bedeutungsschichten des Faktualen und erschließt somit epiphanieartig dem „Primärsinnliche[n]“16 eine reich schattierte „Raum- und Zeitentiefe“.17 Lassen sich in diesem Konzept poetischer Bildlichkeit, das die Sprache an den Körper als primäres Vehikel der Welterkenntnis zurückbindet, Spuren von Maurice Merleau-Pontys phänomenalem Leibbegriff ausmachen,18 so ist es in der 1995 gehaltenen Büchner-Preis-Rede Den Körper zerbrechen Edmund Husserls Transzendentalismus bzw. sein Konzept der phänomenologischen Reduktion, dem sich Grünbein mit zum Teil beträchtlichen Abstrichen bzw. Umkehrungen verpflichtet zeigt.19 Den Stammvater der Phänomenologie vom Kopf auf die Füße stellend, bestimmt er die poetische Anschauung nunmehr als ein Instrument der Autopsie. Es gelte, die Phänomene von allen überflüssigen (will sagen: ideologisch-abstrakt konstruierten) Beimengungen oder Ummantelungen zu reinigen und das herauszustellen, was „der ganzen kreatürlichen Existenz ihre Richtung“20 gibt. Dabei handelt es sich um eine essentielle Basis, die als reines Körperphänomen gedacht wird, nicht wie bei Husserl als reines Bewusstsein. Die ‚Wesensform‘ (Husserl) der Welt interessiert ihn jetzt, und zwar jene der historischen Welt, d.h. die „Antriebskräfte […], nach denen Geschichte und Geschichten plausibel erscheinen“.21 Im Unterschied zu Dante, der in permanenter Bewegung begriffen ist und die Welt in ihrem kontinuierlichen Fluss erkundet, sitzt Büchner am Seziertisch und nimmt die Welt – im wahrsten Sinne des Wortes – unter die Lupe. Doch zur Ruhe kommt Grünbeins poetische Phänomenologie damit noch lange nicht. || 13 Ebd., S. 98. 14 Ebd., S. 97. 15 Durs Grünbein: Mein babylonisches Hirn. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 18–33, hier S. 19. 16 Grünbein, Galilei vermißt Dantes Hölle, S. 100. 17 Ebd., S. 95. 18 Ahrend, „Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“, S. 81–83. 19 Ebd., S. 98f. 20 Durs Grünbein: Den Körper zerbrechen. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1995, gehalten am 21. Oktober 1995 im Staatstheater Darmstadt. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 75–86, hier S. 78f. 21 Ebd., S. 81.
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Vielmehr werden diese Impulse in der Folgezeit produktiv aufgenommen und weitergeführt. Markante Belege dafür – sowohl aus der exogenen wie der immanenten Poetik Grünbeins – wären etwa das bereits erwähnte Gespräch mit Jocks, in dem er sein Interesse für die „Prozesse[.] der Anschauung vom Körper her“22 nachdrücklich betont, oder auch Vom Schnee oder Descartes in Deutschland (2003), wenn der Naturforscher Descartes zum Thema gemacht wird, der autopsiegestützte Studien am körperlichen Objekt (hier die Augäpfel) vornimmt und seinen Diener Guillot über die visuelle Wahrnehmung sowie deren Bedeutung für die Konstitution von Welt im Sinnesapparat des Subjekts23 belehrt – als ein „Dante der Erkenntnistheorie“,24 so Grünbein im Kommentar. Und wenn in der Frankfurter Poetikvorlesung Vom Stellenwert der Worte (2009/2010), die neben der eigenen dichterischen Vergangenheit Problemfragen des Kompositorischen und der techné in den Vordergrund stellt, die Dichtung als eine „Freilichtmalerei“25 bezeichnet wird, die die Panoramen des Draußen, in „Subjektmagie“26 transformiert, in den Vers aufzunehmen bestrebt sei, dann ist damit ein Schlagwort benannt, das gut zu zahlreichen Gedichten aus Strophen für übermorgen (2007) sowie vor allem zu den lyrischen Stadtrundgängen in Aroma. Ein römisches Zeichenbuch (2010) passt. Denn Basis dieser dichterischen ‚Malerei‘ ist immer noch die komplexe, Innen und Außen ineinanderblendende und das „bestürzend Synchronische[.]“27 verschiedener „Zeitschichten“ (Koselleck) aufzeigende Anschauung. Seit Nach den Satiren (1999) und ganz massiv dann seit Die Bars von Atlantis (2009) schenkt Grünbein zudem einem Bereich seine Aufmerksamkeit, der – anders als die Stadt oder die Naturlandschaft – für seine lyrische Phänomenologie bis dato eher eine Randzone markierte: das Meer.
|| 22 Grünbein; Jocks, Durs Grünbein im Gespräch, S. 11. 23 So vor allem im Canto 16: Über das Sehen. In: Durs Grünbein: Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. Frankfurt a.M. 2003, bes. S. 60; zu Grünbeins Descartes-Figur vgl. exemplarisch Carlos Spoerhase: Über die Grenzen der Geschichtslyrik. Historischer Anachronismus und ästhetische Anachronie in Durs Grünbeins Werk, am Beispiel seiner Arbeiten über Descartes. In: Zeitschrift für Germanistik 21 (2011), H. 2, S. 263–283; Sonja Klein: „Denn alles, alles ist verlorne Zeit“. Fragment und Erinnerung im Werk von Durs Grünbein. Bielefeld 2008, S. 109–168; Bernadette Malinowski, Gert-Ludwig Ingold: „… im andern dupliziert“. Zur Rezeption cartesischer Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft in Durs Grünbeins Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 271–306. 24 Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 22. 25 Durs Grünbein: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Berlin 2010, S. 47. 26 Ebd., S. 52. 27 Grünbein, Galilei vermißt Dantes Hölle, S. 102.
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Doch dieser Motivbereich kommt nicht von ungefähr. Auch er hat seine Vorgeschichte in Grünbeins Werkbiographie, die nun kurz aufgezeigt werden soll.
2 Meer- und Gewässermotive in Grünbeins Lyrik bis 2010 Motive aus dem Bereich ‚Meer‘ und ‚Wasser‘ – in welcher Form auch immer – treten in der Lyrik Grünbeins, wie sie bis dato vorliegt, mit beharrlicher Kontinuität auf, und zwar schon seit seinem ersten Gedichtband, Grauzone morgens (1988). In Schädelbasislektion (1991) stellt sich ein Motiv ein, das dann etwa in Dante als ‚delischer Taucher‘ wiederkehren und schließlich in Die Bars von Atlantis dominant werden wird: die Praxis des Tauchens, das (stets metaphorisch zu verstehende) Hineingleiten in Gewässertiefen. Während das Tauchen in dem titelgebenden, programmatischen Eingangszyklus oder in Morgenandacht und Ketzerei lediglich als eine Weltflucht-Metapher, d.h. für den „Zugang zum Unbewußten“28 verwendet wird, stellt Niemands Land Stimmen schon einen anspruchsvolleren, weil die metaphorische Tragweite des Tiefsee-Motivs stärker herauskehrenden Umgang damit dar.29 Hier werden die Berliner U-BahnSchächte u.a. als eine tiefseeartige „Dunkelheit, nur von kleinen/ Fischen und Troglodyten durchirrt“,30 vorgestellt. Die nächtliche U-Bahnfahrt durch die als lichtlose Tiefsee imaginierte städtische Unterwelt stellt die situative Grundierung bereit für eine Erkundung von Wahrnehmungsprozessen, in denen die Grenzen zwischen Ich und Welt überschritten bzw. (im wahrsten Sinne des Wortes) zum Verschwimmen gebracht werden.31 In anthropologischer Vertiefung, d.h. mit besonderem Akzent auf der Eruierung gattungs- bzw. evolutionsgeschichtlicher Grundlagen, begegnet uns diese Poetik dann in Falten und Fallen (1994), z.B. in dem Gedicht Trigeminus, das die Haltung der (Welt-)Erkundung im Medium des Schauens bereits in dem auf den Gesichtsnerv
|| 28 Durs Grünbein: Drei Briefe. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 40–54, hier S. 41. 29 Zu diesem Zyklus vgl. Keiji Fujii: Anatomie und Gedächtnis. Über Durs Grünbeins Gedichtzyklus Niemands Land Stimmen. In: Doitsu-bungaku 106 (2001), S. 93–100; Olav Krämer: Ich und Welt. Durs Grünbeins Zyklus Niemands Land Stimmen und sein Gedicht Nach den Satiren I. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 48 (2004), S. 348–374; Ahrend, „Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“, S. 244–248. 30 Durs Grünbein: Von der üblen Seite. Gedichte 1985‒1991. Frankfurt a.M. 1994, S. 111. 31 Dazu Krämer, Ich und Welt, S. 352ff.
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rekurrierenden Titel indiziert und im Aufspüren einer im Bodenschlamm von Baggerseen versunkenen Vergangenheit bereits das spätere Atlantis-Motiv vorbereitet. Dies begegnet uns erstmalig in dem Gedicht Kosmopolit aus Nach den Satiren, einem Band, der das Meeres-Motiv dann in erhöhter Variationsbreite behandelt. Zur Exemplifizierung können, neben dem eben erwähnten Beispiel, Gedichte wie Vita brevis, Traum vom fliegenden Fisch, Westindische Insel, „Nicht für Zoologen!“. Fünf Impromptus sowie Veneziana benannt werden. So unterschiedlich diese Texte im Einzelnen sein mögen, gemeinsam ist ihnen, dass sie nunmehr das Meer selbst sowie seine Zonen und Randzonen (wie: offene See, Insel, Strand, Venedig als Küstenstadt) und seine Bewohner in den lyrischen Fokus rücken lassen – und damit Bereiche des Maritimen, die bis dahin, sieht man einmal von einem Gedicht über einen Unfall mit einem Weißen Hai aus Den Teuren Toten (1994) ab, in Grünbeins Lyrik praktisch keine Rolle spielten. Aber auch das vertraute Thema Tiefsee ist alles andere als vergessen, ja wird nun erst eigentlich zum Thema gemacht. Das Gedicht Sous les Mers, enthalten in dem Zyklus Nicht für Zoologen! und korrespondierend mit dem Essay Zeit der Tiefseefische (1995), der Grünbeins Faszination für diesen Bereich nachdrücklich bezeugt, ist der Beobachtung der „blinde[n] Schwimmer“32 in den „Restlichtzonen“33 verschrieben, und zwar im Medium einer Anschauung, die auf das Fremdartige und Bizarre abhebt und dies durch historische Reminiszenzen an „Samurais“ und „Aztekengötzen“34 ironisch untermauert. Im Unterschied zu Niemands Land Stimmen etwa, geht der Blick hier mehr ins Objektive, hin zum Einzelphänomen und seiner gedankliche Durchdringung; nicht das Zerebrale, der Wahrnehmungsprozess, sondern das Phänomenale, der Wahrnehmungsgegenstand in seiner inkommensurablen Einzigartigkeit steht im Vordergrund. Ein Gleiches gilt – nach eher selbstreflexiv-poetologischen Ausprägungen der Taucher-Metapher in Erklärte Nacht (2002) oder Calamaretti (erstmals publiziert 2005, wiederabgedruckt in Strophen für übermorgen, 2007)35 – für das Poem Nautilus und die Seinen, das in dem anlässlich der Schwalenberger Autorentage entstandenen Sonderdruck Libellen in Liberia (2010) enthalten ist. Thema ist nicht etwa Kapitän Nemos gleichnamiges Unterseeboot, sondern das Meerestier || 32 Durs Grünbein: Sous les Mers. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 136f., hier S. 136. 33 Ebd., S. 137. 34 Ebd. 35 Zur Produktivität dieser Metapher in den genannten Gedichten vgl. Michael Eskin: „Risse, die durch die Zeiten führen“. Zu Durs Grünbeins Historien. In: Durs Grünbein: Der Misanthrop auf Capri. Historien, Gedichte. Frankfurt a.M. 2005, S. 107–121, hier S. 108f. u. 120f.
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dieses Namens. Im Medium eines lyrischen „Vexierbild[s]“,36 das minutiöse Beobachtung, ironisch-sarkastischen Kommentar und streiflichtartige Ausleuchtung der Evolution dieser Gattung wie ihre Verwertung durch den Menschen in eins setzt, wird die „Molluske“ im „Panzerbau“37 auch als metaphorisches Brennglas sowohl für den Menschen als Geschichtswesen wie für den Poeten, wie Grünbein ihn z.B. in Aus einem alten Fahrtenbuch entworfen hat, begreifbar. Geschichtliches spielt auch in Studien in Aquamarin eine Rolle. Doch wie zu zeigen sein wird, ist dies nicht die einzige Sinndimension, die in den Wahrnehmungsbildern dieses Zyklus virulent ist.
3 Meer und Anschauung in dem Zyklus Studien in Aquamarin (2010/11) Angesichts der Tatsache, dass sich für Grünbein die Haltung einer auf das Wahrnehmungsphänomen konzentrierten Erkundung in seinen späteren Büchern also keineswegs erledigt hat, ist es einen Versuch wert, auch seine neuesten Meeresgedichte unter dieser Fragestellung zu untersuchen. Vorauszuschicken ist, dass sich das bereits in Beispielen wie Sous les Mers oder Nautilus und die Seinen vorherrschende Prinzip auch hier allerorts bemerkbar macht: der Versuch Grünbeins, sich dem Meer als neugieriger Beobachter zu nähern und es in eine lyrische Anschauung zu bannen, die nicht beim Positivistischen stehenbleibt, sondern das „Erscheinen[.] von Sein für das Bewußtsein“38 aufzeigt, d.h. knapp gesagt, den Umgang eines betrachtenden Bewusstseins mit dem Meer herausstellt. Diese Anschauung ließe sich in verschiedene Anschauungsformen untergliedern, die dem lyrischen Blick auf das Meer eine große spielerische Lebendigkeit und perspektivische Offenheit verleihen: 1) das eidetische Symbol, 2) eine strukturell der ekphrasis verpflichtete Bildlichkeit, die sich entweder als eine Szene, welche eine wissenschaftliche Reisegesellschaft zeigt, oder als eine – an Kinofilme wie Unsere Ozeane (2010) gemahnende – kameraartig schweifende Panoramaaufnahme des Meeresbodens ausbuchstabieren kann, 3) ein || 36 Durs Grünbein: Transit Berlin. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 136–143, hier S. 140. 37 Durs Grünbein: Libellen in Liberia. Gedichte und Berichte. Hrsg. von Brigitte Labs-Ehlert. Detmold 2010, S. 24. 38 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. von Rudolf Boehm. Berlin 1966, S. 85, Hervorhebung im Original.
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Verfahren aus der impressionistischen Malerei aktualisierendes Wahrnehmungsbild mit poetologischer Sinndimension sowie 4) eine porträtartige Vignette des Meeresforschers Ernst Haeckel. Im Folgenden sollen zwei Anschauungsformen herausgegriffen werden, die – auch unabhängig vom vorliegenden maritimen Kontext – für Grünbeins phänomenologische Lyrik eine wichtige Rolle spielen: das statisch-epiphanische Symbol (Gedicht 1) und das gleitenddynamische Wahrnehmungsbild (Gedicht 4). Letzteres wird zuerst behandelt werden.
3.1 Das Meeresblau als poetologisches Wahrnehmungsbild Der Grünbein von 2010 ist nicht auf dem Stand des Dante-Essays, der BüchnerPreis-Rede oder vergleichbarer Äußerungen aus der zweiten Hälfte der 1990erJahre stehen geblieben. Eine „im Laufen entstehende Zwiesprache“,39 wie sie ihm 1993 vorschwebte, oder die 1995 erstmals in expliziter Poetik aufgeworfene Autopsie am lyrischen Seziertisch wären für ein Meeres-Gedicht auch denkbar ungeeignete Leitmetaphern zur Skizzierung des poetischen Kurses. Tatsächlich wird der sinnlich-unmittelbare Weltzugang zunächst ersetzt durch eine Meditation, die die räumliche Unermesslichkeit des Meeres – mit Bachelard gesprochen – in „eine philosophische Kategorie der Träumerei“40 einholt: der Außenraum als Gegenstand einer meditativ-träumerischen Versenkung. Allerdings darf man dabei nicht übersehen, dass Basis dieser Meditation immer noch der empirische Augenschein ist. Sowohl der Umgang mit dem Meerwasser („An so vielen Küsten hast du es aufblitzen sehn, immer anders/ Gischtig zuzeiten, verräterisch eisig, dabei salzschwer“; SiA 108) als auch jener mit dem Meeresblau basiert ganz entscheidend auf einem (sinnlichen!) Wahrnehmungsszenario. Und damals wie heute ist das Beobachtungsinteresse auf die feinen Unterschiede gerichtet, auf die Nuancen des Blauen, seine Schattierungen und Farbabstufungen: „Lokalfarben sind es“, „Indigo ist da“, „[a]uch ein Gasflammenblau“, „Ultramarin gibt den Fond ab“, „[h]ier ein Saphirblau“ (SiA 108f.). Auffällig ist, dass das Meeresblau – mag es, wie uns die Ozeanographie belehrt, objektiv betrachtet ein physikalisch erzeugtes Naturphänomen sein – Grünbein vor allem als das interessiert, was es für das menschliche Auge ist: nämlich eine Farbe. Damit legt er den Akzent nicht auf die physikalische Erklärbarkeit, sondern auf die Sichtbarkeit und eo ipso – da Bilder die Erschei-
|| 39 Grünbein, Galilei vermißt Dantes Hölle, S. 98. 40 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. Übers. von Kurt Leonhard. München 1960, S. 213.
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nungsmedien des Sichtbaren sind – auf die Bildlichkeit. Die nüchterne Bestandsaufnahme suggeriert uns zweierlei: Erstens zeigt sie uns, dass das Blau zunächst nichts anderes als eine ‚reine Anschauung‘ ist, d.h. das Blau interessiert nicht als Träger eines durch die Farbe symbolisierten Sinns, sondern ist ausschließlich als Objekt einer (visuellen) Wahrnehmung gegeben. So schon in dem vorangehenden, szenenartigen Gedicht Nr. 3, das eine an Bord eines Bootes versammelte Gruppe von Ozeanographen zeigt, welche nicht nur als „Helden der Anschauung“ (SiA 106), sondern auch als „Helden der Farbgebung“ (SiA 107) bezeichnet werden, da sie in die Betrachtung des Meeresblaus versunken sind. Indem Grünbein den Akzent auf das Visuelle legt, zeigt er uns zweitens, dass er neben der Philosophie eine künstlerische Disziplin mit ins Boot holen möchte, an die er auch in früheren Büchern bereits Anschluss suchte: die Malerei. Allerdings sind es nun nicht mehr die gegenständlichen Körperdarstellungen eines Francis Bacon oder die monumentale Bildkunst eines Andrea Mantegna,41 sondern die (in der Schlussstrophe selbst erwähnte) impressionistische Malerei mit ihrer besonderen Sensibilität für farbliche Nuancen. So sehr Grünbein bemüht ist, als der Verfertiger eines lyrischen Meeresimpressionsgemäldes in Erscheinung zu treten, so sehr muss doch betont werden, dass er dies mit einem Erkenntnisinteresse verbindet. Denn sein Blick auf die vor ihm ausgebreitete maritime Farbpalette ist nicht nur durch einen esthetic intent motiviert, wie man ihn bei Malern guten Gewissens voraussetzen kann. Vorwiegend ist und bleibt dieser Maler doch ein Erforscher des vielfarbigen Phänomenalen, dessen sensibles Registrieren der verschiedenen Blautöne einem Willen zum Wissen unterliegt: „Wieviele Schichten hat das Meeresblau, das ein Blau,/ Ein einziges, niemals ist, sondern immer nur Schleier,/ In den Materie sich hüllt, ein hin und her wogendes Mineral?“ (SiA 108) Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, Grünbeins Gedicht mit der Phänomenologie Edmund Husserls zu korrelieren, den Grünbein ja bereits vor Jahren als einen wichtigen Anreger seiner Poetik reklamiert hat. Signifikant in dieser Hinsicht ist der Umstand, dass das Blau, vor dem Hintergrund eines Meeres, das – so Grünbein mit Michelet – eigentlich „milchweiß“ (SiA 108) ist,42 als „die große neptunische Täuschung“ (SiA 108) bezeichnet wird,
|| 41 Zur Relevanz dieser beiden Künstler wie zur bildenden Kunst überhaupt für Grünbeins Poetik vgl. seine eigenen Erläuterungen in Grünbein; Jocks, Durs Grünbein im Gespräch, S. 20– 53, sowie das Gedicht Mantegna vielleicht in: Grünbein, Nach den Satiren, S. 195. 42 Vgl. hierzu das Kapitel Das Milchmeer in Michelets Werk Das Meer, wo es heißt: „Das Meerwasser – sogar das reinste, weitab von aller möglichen Vermischung auf See entnommen – ist leicht weißlich und ein wenig klebrig. Hält man es zwischen den Fingern, so entrinnt es fädig
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als eine vom Auge des Betrachters evozierte „Illusion“ (SiA 108). Damit wäre es aber zugleich auch ein ‚Bildobjekt‘ nach Husserl: nicht ein realer Gegenstand, sondern ausschließlich eine Beschreibung dessen, was man sieht,43 also ein „Motiv“, ein intentionales Objekt für jemanden oder ein „Phänomen im Bild“, das nur solange existiert, wie jemand auf den Bildträger schaut.44 Dieser ist in diesem Falle das Weiß als ‚wahrer‘ Seinszustand des Meeres, wie die ironische, Herman Melvilles Moby Dick abgelauschte Einschätzung des Weißen als „schreckliche Wahrheit“ (SiA 108)45 unmissverständlich darlegt. Deswegen kann das Weiß von Grünbein auch als eine „Leinwand“ (SiA 108) bezeichnet werden, auf die die Farbe Blau dann vom Betrachter bzw. Maler aufgetragen wird. In der Begrifflichkeit des phänomenologischen Bildforschers Lambert Wiesing gedacht, käme dem Blau also nur eine „artifizielle Präsenz“ zu, d.h. eine „Präsenz ohne substantielle Anwesenheit“,46 da es physikalisch gar nicht existiert und daher – mit Husserls eigenen Worten – „nicht wirklich gegeben“ ist.47 In diesem Szenario liegt der Akzent eindeutig auf der produktiven Tätigkeit des betrachtenden Bewusstseins, das dem Außenreiz etwas hinzufügt oder, um im Bild zu bleiben, die weiße Leinwand mit Blautönen bemalt: „Blau nur als Lichtreflex, relativ, Valeur auf der Leinwand,/ Die das haltlose Auge ausmalt von Moment zu Moment.“ (SiA 108) Dieser Satz, der beschreibt, wie das Blau als Phänomen entsteht, ließe sich als eine subtile Anweisung an den Leser (resp. den Betrachter der von Grünbein lyrisch evozierten Situation der Meeresbetrachtung) verstehen, nun seinerseits ins ‚Malen‘ zu verfallen und den für sich || und läuft nur langsam ab.“ (Jules Michelet: Das Meer. Übers., hrsg. und mit einem aktuellen Nachwort von Rolf Wintermeyer. Frankfurt a.M. 2006, S. 91). 43 „Das Bild als das durch die bestimmte Farben- und Formgebung so und so erscheinende Bildobjekt“ (Edmund Husserl: Phantasie und Bildbewußtsein. Hrsg. und eingeleitet von Eduard Marbach. Hamburg 2006, S. 21, Hervorhebung im Original); zum Problemfeld Bildbewusstsein, Wahrnehmung und Anschauung bei Husserl insbesondere in den Logischen Untersuchungen vgl. (außer Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M. 2005) die orientierenden Ausführungen bei: Rudolf Bernet, Iso Kern und Eduard Marbach: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens. Hamburg 1989, S. 131–143; Patrick Hofmann: Phänomen und Beschreibung. Zu Edmund Husserls „Logischen Untersuchungen“. München 2004, S. 156–179, Henning Peucker: Von der Psychologie zur Phänomenologie. Husserls Weg in die Phänomenologie der „Logischen Untersuchungen“. Hamburg 2002, S. 217–253. 44 Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 30f. 45 Vgl. hierzu Ismaels Ausspruch aus dem einschlägigen Kapitel Das Weiß des Wals: „Es war das Weiß des Wals, das mich weit mehr als alles andere in Angst und Schrecken versetzte.“ (Herman Melville: Moby-Dick oder Der Wal. Übers. von Matthias Jendis. München 2001, S. 310) 46 Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 32. 47 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. 2 Bde. in einem Band, mit einer Einführung u. einem Namen- u. Sachregister von Elisabeth Ströker. Bd. 2. Hamburg 2009, S. 589.
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genommen immer noch etwas blassen Aussagegehalt des Gedichts – vordergründig scheint es ja nur um die ‚reine Anschauung‘ des Meeres zu gehen – in Richtung weiterer Sinndimensionen chromatisch zu vervielfachen. Husserlianisch gesprochen, könnte man sagen: Grünbein fordert den Leser insinuierend dazu auf, das Bildobjekt als ein Symbol aufzufassen, ihm eine Zeichenhaftigkeit unterzuschieben, die es für sich genommen laut Husserl eigentlich nicht hat.48 Wir werden dazu eingeladen, das Gelesene mit einer echoartigen Kette subjektiv projizierter Retentionen zu amalgamieren, die das sinnliche Wahrnehmungssubstrat kurzschließen mit den in unserem ‚babylonischen Hirn‘ archivierten (historischen, poetologischen, philologischen) Wissensbeständen und es damit epistemisch aufladen.49 In prinzipiell vergleichbarer Weise hatten schon die impressionistischen Maler die Eigenaktivität des Rezipienten, seine Sehleistung und Empfindungen wecken und am Zustandekommen von Gestalt und Aussage ihrer Bilder beteiligen wollen. Dieses Verfahren einer epistemischen Aufladung von Sinnesdaten macht Grünbein – wie schon in den Bänden von Grauzone morgens bis Aroma – seinerseits zum Konstruktionsprinzip seiner lyrischen Bilder, wenn er im Gedicht den Bildeindruck „mit Imaginärem schwanger“ gehen lässt und ihn „als ein Überschreiten des Realen darbietet“.50 So geht ein unspezifisch bleibender, geheimnisvoller Blauton, der direkt nach dem „verwaschen[en]“ „Indigo“-Blau (SiA 108) genannt wird, vollständig in romantisch-legendarischem Bergwerkswissen über die von Kobolden produzierten Silbererze auf; ein lieblicher „Türkiston“ (SiA 109) provoziert eine idyllische Lektüre-Erinnerung an jene kleinasiatische Bucht, in der „Odysseus verschnaufte jenseits der Odyssee“ (SiA 109) – eine Reminiszenz offenbar an den schiffbrüchigen Odysseus, der im 5. Gesang des Homerischen Epos nach stürmischer Meerfahrt an den Strand der Insel Ogygia gespült wird, wo ihn die Nymphe Kalypso sieben Jahre lang festhält. In Assoziationen wie diesen, die eine vom jeweiligen Blauton ausgelöste subjektive Erinnerung aufrufen, die Farbe also gewissermaßen atmosphärisch ‚ausmalen‘, scheint das intentionale Bildobjekt Blau bzw. Blauton nun seinerseits zum Bildträger sprachlich-semantischer Bildobjekte zu werden, die als epistemische
|| 48 „Das Bildobjekt bedeutet nichts, nämlich nichts in der Weise eines Symbols, es weist nicht von sich weg, aus sich heraus, sei es auch auf ein Ähnliches, das als ein anderes gegenüber dem schon bildlich Erscheinenden sich geben würde“ (Husserl, Phantasie und Bildbewußtsein, S. 39). 49 Dies käme dem von Husserl so genannten Akt der ‚Bedeutungserfüllung‘ gleich (dazu Hofmann, Phänomen und Beschreibung, S. 162). 50 Jean-Paul Sartre: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. Übers. von Hans Schöneberg. Reinbek b.H. 1971, S. 289.
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Retentionen in das farbliche Substrat eingeblendet sind. Vor diesem Hintergrund lässt sich der oben zitierte Satz vom die Leinwand ausmalenden Auge als eine selbstreflexive Metapher lesen, mittels derer das Gedicht auf eigene Konstruktionsprinzipien aufmerksam machen und dementsprechend auch den Leser zu einer Lektüre anhalten will, die auf das Zeichenhafte und Symbolische der von Grünbein eingesetzten Sprachbilder abhebt. Damit befinden wir uns auf dem Boden einer impliziten Poetik. In Richtung poetologischer Aussagegehalte werden wir als Leser, so wir Grünbeins Einladung folgen, auch die Bildepistemologie des Meeresblaus auszudeuten haben – nicht zuletzt wegen der damit zusammenhängenden Symbolik des Aquamarins, der in seiner Eigenschaft als kostbares Mineral an die poetischen ‚Edelsteine‘ Mallarmés gemahnt und typologisch dem Stein zuzurechnen ist, den Grünbein bereits in dem Gedicht Erklärte Nacht als Dichtungsmetapher verwendet hatte.51 Und das Blau hat als Chiffre für ‚das Poetische‘ im weitesten Sinn seit Novalis52 in der modernen Literatur europaweit Karriere gemacht, wie Angelika Overath in ihrer einschlägigen Studie gezeigt hat.53 Einer der prominentesten (und insbesondere für den jungen Grünbein wichtigsten!) Vorläufer ist sicherlich Gottfried Benn, dem das Blau als ein Mittel der „Selbstentzündung“ und damit als ein poetisches Reizwort ersten Ranges galt.54 Interessanterweise haben beide ein geographisch ähnliches Blau im Auge, denn bei Benn wie bei Grünbein geht es um das ‚südliche Blau‘:55 Studien in Aquamarin handelt vom Mittelmeer. Die poetologische Dimension dieser Farbe speist sich bei Grünbein vor allem aus seiner eigenen Poetik, wie er sie in früheren Jahren formuliert hat – und wie er sie im Prinzip auch jetzt noch verteidigt. Metaphern wie „eine zweite Haut“ oder „Lokalfarben […], mit den Tiefen wechselnd“ (SiA 108), deuten darauf hin. Als eine „zweite Haut“, die körperliche Sinnesreize in eine innere, eine
|| 51 Dazu Eskin, „Risse, die durch die Zeiten führen“, S. 107ff. 52 Man denke hierbei vor allem an das allbekannte poetologische Zentralsymbol der blauen Blume im Heinrich von Ofterdingen. Doch auch die Lehrlinge zu Sais stiften einen intertextuellen Bezug: Wie auch in Grünbeins Gedicht geht es hier um einen „Schleier“ (Novalis: Werke. Hrsg. und kommentiert von Gerhard Schulz, 3. Aufl. München 1987, S. 112), der sich über die Wahrheit legt. Schon bei Novalis ist er eine Chiffre für den poetischen Text (vgl. dazu das Kapitel Novalis: Arabeske und Naturphilosophie in meiner Studie: Verschlungene Lineaturen. Die Poetik der Arabeske in Ludwig Tiecks Erzählwerk. Würzburg 2012, S. 38–48, bes. S. 47). 53 Vgl. hierzu Angelika Overath: Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht. Stuttgart 1987. 54 Gottfried Benn: Epilog und Lyrisches Ich. In: ders.: Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke. Hrsg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt a.M. 2006, S. 269–275, hier S. 274. 55 Für Benn vgl. das Kapitel Das südliche Blau. In: Gunnar Decker: Gottfried Benn. Genie und Barbar. Biographie. Berlin 2006, S. 111–113.
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Nervensprache übersetzt, hat Grünbein die Dichtung bereits 1992 in einem Gespräch mit Thomas Naumann bezeichnet.56 Und als chromatisches Spektrum aus „Lokalfarben […], mit den Tiefen wechselnd“, gilt ihm die poetische Sprache spätestens seit Erklärte Nacht: Der Dichter muss tauchen können, um die ‚Schätze im Hirn‘,57 dieser „Schatztruhe an Erinnerungsbildern“,58 ans Tageslicht zu heben und sie in einer mehrere zeitliche Tiefenschichten umfassenden lyrischen Rede auszustellen59 – bis sie idealerweise „alles umhüllt, was dem Meer [der Einzelpsyche] angehört, in ihm aufwächst“ (SiA 108).60 Der Sprecher in Grünbeins Gedicht ist so ein Taucher – wie auch in anderen Teilen von Studien in Aquamarin. Im ersten und zweiten Gedicht des Zyklus beispielsweise nimmt er die Welt am Meeresboden persönlich in Augenschein. Was hier als situationsstiftende Szene ausgeformt ist, wird in unserem, dem Meeresblau gewidmeten Gedicht Nr. 4 dann (meta-)poetische Textrealität. Denn entsprechende snapshotartige Ausgriffe in Gedächtnistiefen, insbesondere aus der Kunst- und Literaturgeschichte, in denen wahrnehmendes Subjekt und Wahrnehmungsgegenstand, Innenwelt und Außenwelt ineinander überfließen, nimmt das vorliegende Gedicht, wie bereits erwähnt, selbst vor – und zwar an signifikanten Stellen, nämlich an solchen, die den primären Wahrnehmungsgegenständen, Meer und Meeresblau, gewidmet sind: Das essentielle Weiß des Meeres gemahnt an Michelet und Moby Dick, der das „Ultramarin“ trübende Meeresschaum wird als „Kunstfälschung[…]“ (SiA 109) wahrgenommen, mit dem „Saphirblau“ wird die Bildkunst der „Impressionisten“ assoziiert, und der || 56 Durs Grünbein; Thomas Naumann: „Poetry from the bad side“. Gespräch. In: Sprache im technischen Zeitalter 30 (1992), S. 442–449, hier S. 447. 57 Durs Grünbein: Erklärte Nacht. In: ders.: Erklärte Nacht. Gedichte. Frankfurt a.M. 2002, S. 145. 58 Grünbein, Die Bars von Atlantis, S. 27. 59 Eskin, „Risse, die durch die Zeiten führen“, S. 108f. 60 Vgl. hierzu Baudelaires Gedicht Der Mensch und das Meer: Die Tiefen des Meeres werden hier mit den Abgründen der menschlichen Psyche verglichen. Grünbein kommt in Die Bars von Atlantis auf dieses Gedicht zu sprechen. In Vom Stellenwert der Worte bezeichnet er den Vers als „das Integral der Persönlichkeit“ (Grünbein, Vom Stellenwert der Worte, S. 40). – Aus dieser poetologischen Zielvorgabe erklären sich nicht zuletzt die ironischen Seitenhiebe gegen die Ozeanographie in anderen Teilen von Studien in Aquamarin: Deswegen in Gedicht Nr. 3 das Frotzeln gegen eine Gruppe von Wissenschaftlern, die an Deck ihrer Jacht versammelt sind und nur von außen auf das Wasser schauen; deswegen auch – im fünften Gedicht – der vorwurfsvolle Einwand gegen Ernst Haeckel, der „nie in einem Taucheranzug gesteckt“ (SiA 110), die Welt unter Wasser also nie aus eigener Anschauung kennengelernt habe – obgleich er doch in seinem populären Standardwerk Kunstformen der Natur (1899–1904) als ein Experte der Meeresforschung auftrat, genau wie in seiner Vorlesung Arabische Korallen (1876), auf die Grünbeins Text anspielt.
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„Türkiston“ (SiA 109) provoziert sofort die nostalgische Erinnerung an Homers Odyssee. In Bezügen wie diesen, die einerseits die bildkünstlerische, andererseits die literarische Tradition aufrufen, wird zugleich das Verhältnis von Schriftlichkeit und Bildlichkeit als angestrebte Struktureinheit beispielhaft manifest. Seit frühesten Tagen sind das für Grünbein keine Gegensätze. Zwar legt seine neue „Theorie vom Ortssinn der Worte“61 den Akzent auf die Schrift, doch dass das Bild sich damit erledigt hat, lässt sich mitnichten behaupten. Im Gegenteil: Wenn Grünbein das Meeresblau als „Valeur auf der Leinwand“ (SiA 108) bezeichnet, dann intendiert er – Ferdinand de Saussures semiotischen ValeurBegriff aufgreifend und mit der schon im Descartes-Epos bemühten, aufs Bildhafte abzielenden Leinwand-Metaphorik verbindend – eine Verschränkung dieser beiden Aspekte. Man könnte sogar so weit gehen und sagen, dass das Verhältnis von Bildlichkeit und Schriftlichkeit ein Thema ist, das auf einer untergründigen Ebene ausgehandelt wird, als ein poetologischer Subdiskurs, der im gesamten Zyklus auf verschiedenen Ebenen metaphorisch camouflierten Sprechens geführt wird. Zumindest könnte man die Versuche, das Meer einerseits mit kunstgeschichtlichem, andererseits mit literarhistorischem Wissen kurzzuschließen, als subtile Fingerzeige in diese Richtung deuten. Bisher ist für die Analyse von Grünbeins Gedicht über das Meeresblau ausschließlich die Husserl’sche Phänomenologie berücksichtigt worden. Es wäre aber ebenfalls möglich, es mit Maurice Merleau-Ponty zu lesen. Insbesondere dessen Ausführungen zur Farbwahrnehmung ließen sich gewinnbringend heranziehen, hier seine Überlegungen zur Farbe Rot: „Das Rot ist nicht bloß einfach gegenwärtig, in seiner Gegenwart vergegenwärtigt es mehr als es selbst, etwas, was nicht ‚reelles Moment‘, sondern ‚intentionales Moment‘ der Wahrnehmung, nicht mein ‚Besitz‘, sondern ein ‚Vermeintes‘ ist.“62 Merleau-Pontys Worte über das Rot könnte man auch auf Grünbeins Umgang mit dem Meeresblau übertragen: Auch sein Blau „vergegenwärtigt“ etwas, „was nicht ‚reelles Moment‘, sondern ‚intentionales Moment‘ der Wahrnehmung, nicht mein ‚Besitz‘, sondern ein ‚Vermeintes‘ ist“: nämlich die poetologische Dimension dieser Farbe bzw. die an sie gekoppelten Retentionen, Erinnerungen und Reminiszenzen. Diese machen die „Schichten [des] Meeresblau[s]“ (SiA 108) zu einer epistemischen Konfiguration von „Impressionsschicht[en]“,63 die die „Konfiguration || 61 Grünbein, Vom Stellenwert der Worte, S. 53. 62 Maurice Merlau-Ponty: Die Unhintergehbarkeit der Wahrnehmung. In: Philosophie der Wahrnehmung, Modelle und Reflexionen. Hrsg. von Lambert Wiesing. Frankfurt a.M. 2002, S. 248–292, hier S. 255. 63 Ebd., S. 264.
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der Phänomene“64 (i.e. Blautöne) für das Bewusstsein bestimmen – eine Konfiguration, die als „Konstruktion einer ‚geistigen Einsicht‘“65 (sic!) wirksam wird und somit zu einer „sinnlichen Erkenntnis“66 beiträgt. Darüber hinaus wird in Grünbeins sensibel voranschreitender Beobachtung eine Wahrnehmungshaltung sichtbar, die stark an die Konzeption des Sehens erinnert, wie MerleauPonty sie in seinem späten Essay Das Auge und der Geist (1961) beschrieben hat. Das Sehen, bemerkt er dort, sei nur mehr das „Heranreifen eines Sehens“,67 währenddessen das Auge aus einem „Meer rohen Sinnes“68 schöpfe. Weiter heißt es: „Dieses verschlingende Sehen öffnet sich über die ‚visuellen Gegebenheiten‘ hinaus auf ein Gewebe des Seins, dessen vereinzelte sensorische Botschaften nur die Zeichensetzungen […] sind“.69 Nach dem bisher Gesagten fällt es nicht schwer, Grünbeins Gedicht mit Merleau-Pontys Konzept des ‚verschlingenden Sehens‘, das über das bloß Sichtbare hinausreicht, zusammenzubringen: Aus einem „Meer rohen Sinnes“ schöpfend – das heißt aus dem essentiellen, ‚widerständigen‘ und ‚schwer analysierbaren‘, resp. ‚rohen‘ Weiß des Meeres – ist das Sehen hier keineswegs ein passives Empfangen real gegebener Gegenstände, sondern im wahrsten Sinne des Wortes eine Bild-Produktion, ein konstruktiver Akt, der ein realiter Abwesendes (Blau) auf ein Anwesendes (Weiß) zaubert, der durch die Aufladung des Sinnesreizes mit epistemischen Retentionen von Blauton zu Blauton voranschreitende Strukturen ausbildet und dabei Innen und Außen in lebendiger Interaktion zusammenschießen lässt.
3.2 Meerestiere als Sinnbilder für geschichtliches Wissen Unser bisheriger Rundgang hat uns gelehrt, die bedeutendste Erkenntnisdimension von Grünbeins phänomenologischer Welterkundung in einer implizi-
|| 64 Ebd., S. 265. 65 Ebd. 66 Maurice Merleau-Ponty: Arbeitsentwurf über die Natur der Wahrnehmung (1933). In: ders.: Das Primat der Wahrnehmung. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Lambert Wiesing, aus dem Französischen von Jürgen Schröder. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2012, S. 7–9, hier S. 7. 67 Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist (1961). In: ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Auf der Grundlage der Übersetzungen von Hans Werner Arndt u.a. neu bearbeitet, kommentiert und mit einer Einleitung hrsg. von Christian Bermes. Hamburg 2003, S. 275–317, hier S. 279. 68 Ebd., S. 277. 69 Ebd., S. 284.
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ten Poetik zu veranschlagen: das Wahrnehmungsphänomen Blau als selbstreflexiver Spiegel des Gedichts – passend zu einem Blick auf die spiegelartige Oberfläche des Meeres, der von Grünbein ja in der Tat vorgenommen wird. Nimmt man andere Teile des Zyklus hinzu, wird aber noch ein anderes Wissen thematisiert. Als eine eher philosophische, dezidiert ins Anthropologische ausgreifende Bildepistemologie prägt sich das poetische Bild in jenem Gedicht aus, das den Zyklus eröffnet. Dieser bietet zugleich die Probe aufs Exempel für Grünbeins eingangs zitiertes Statement, wonach das Tauchen „der perfekte Modus der Wahrnehmung“ sei. Denn Grünbein figuriert eine Wahrnehmungssituation als lyrischen Tauchgang, ist „inmitten einer sonst unzugänglichen Umwelt unterwegs […], vom Druck der Realwelt entlastet, in einer stabilen Beobachterposition, und alles Wissenswerte flutet auf [ihn] zu“.70 Die anthropologische Erkenntnisdimension wird gleich im ersten Vers evoziert, wo Grünbein den Aspekt der Wohnlichkeit hervorhebt und damit eine anthropomorphisierende Lesart nahelegt: „Bewohnt, sie sind alle bewohnt, die Amphoren/ Des Mittelmeeres, löchrige Henkelamphoren,/ Von Fischen aller Couleur, launischen Clowns.“ (SiA 102) Anders als die Menschenwelt in T.S. Eliots Waste Land, dessen fünf Teile auch für diesen fünfteiligen Zyklus Grünbeins Modell gestanden haben mögen und in dem der Metaphorik „des Abtauchens und Untergehens“ ebenfalls eine wichtige Funktion zukommt (welche Grünbein in Die Bars von Atlantis selbst erläuterte!71), ist das Meer bei Grünbein keine Wüste. Es geht um Anwesenheit des Lebendigen, um Präsenz „[v]on Fischen aller Couleur“ (SiA 102), die zu „launischen Clowns“ (SiA 102) vermenschlicht werden. Das Verwischen der Grenze zwischen Tier und Mensch wird in Strophe 2 noch deutlicher, die die bunten Fische historisierend als burschenschaftliche Archäologiestudenten präsentiert (erkennbar an den „bunten Mützenbändern“; SiA 102) und den Umgang mit historischem Wissen vorbereitet, den die folgenden Verse in metaphorisch verkleideter Form dann auf- bzw. in extenso vornehmen. Ähnlich wie schon in dem bereits erwähnten Gedicht Nautilus und die Seinen, das in die Beschreibung des Meerestieres Historisches einfließen ließ, nur diesmal in noch größerer Vielfalt, werden in die maritime Tierwelt anschließend Aspekte der Menschheitsgeschichte eingeblendet, wird etwas Abwesendes als etwas Gegenwärtiges suggeriert, werden sinnlicher Augenschein und abstraktes Wissen um die conditio humana zu einer Einheit verschmolzen. Dies enthüllt uns – nach dem eher deiktischen, einen Wahrnehmungstatbestand konstatie-
|| 70 Grünbein; Eskin, Tauchen mit Descartes, S. 402. 71 Grünbein, Die Bars von Atlantis, S. 56, hier auch das Zitat.
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renden Einstieg – die Schlussstrophe, die auf etwas Geschichtsphilosophisches abhebt und dabei einen uralten Topos bedient. Denn, wie Alexander Demandt gezeigt hat, als Geschichtsmetapher erfreut sich das Meer in der abendländischen Tradition einer veritablen Beliebtheit.72 So schon bei Heinrich Heine, der das z.B. im Romanzero (1851) lyrisch entfaltete zyklische Geschichtsdenken im 2. Buch seiner Denkschrift über Ludwig Börne (1837/39) als ewigen Wechsel von Ebbe und Flut metaphorisiert hatte.73 Das Zyklische in der Geschichte wird auch von Grünbein hervorgehoben: „Das ist die See, wie sie lebt. Sie feiert/ Ende und Anfang einer jeden Geschichte, macht/ Aus jeder Moderne eine Antike der Zukunft,/ Aus jeder Antike die versunkenste aller Modernen.“ (SiA 103) Die von fern an Gryphius erinnernde, rhythmisierende Antimetabole der Schlusszeilen, in denen man eine sprachliche Entsprechung des Wellenschlags bzw. des rhythmischen Wechsels von Ebbe und Flut erkennen mag, untermalt das Verständnis der Geschichte als wellenförmig-zyklischer Wechsel von Antike und Moderne – eine Sichtweise, die Grünbein schon vor Jahren im Gespräch mit Heinz Norbert Jocks verraten hatte: „Moderne hat es zu allen Zeiten gegeben“ und: Modern sei das „zyklische[.] Auftauchen des Neuen“, behauptete er damals.74 Man kann den Bogen aber noch weiter zurückverfolgen. Auf das EwigGleiche in der Geschichte hob schon der desillusionierte Eingangszyklus von Nach den Satiren (In der Provinz 1–5) ab, der das Tier als emblematisches Sinnbild für einen anthropologischen Typus erstmalig einführte: nämlich für den
|| 72 Zum Meer bzw. Wasser/Gewässer als Geschichtsmetapher vgl. den literaturgeschichtlichen Überblick bei Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken. München 1978, S. 166–198. 73 „Ach! wenn man dieser Naturerscheinung länger zuschaut, so bemerkt man, daß das vorwärtsgeschrittene Meer, nach einem gewissen Zeitlauf, sich wieder in sein voriges Bett zurückzieht, später aufs neue daraus hervortritt, mit derselben Heftigkeit das verlassene Terrain wieder zu gewinnen sucht, endlich kleinmüthig wie vorher die Flucht ergreift, und dieses Spiel beständig wiederholend, dennoch niemals weiter kommt … Auch die Menschheit bewegt sich nach den Gesetzen von Ebb und Fluth“ (Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf. Bd. 11: Ludwig Börne. Eine Denkschrift und Kleinere politische Schriften. Bearbeitet von Helmut Koopmann. Hamburg 1978, S. 47). Hier tritt ein Geschichtsverständnis zum Vorschein, das Heine in dem zwischen 1830 und 1833 verfassten, zu seinen Lebzeiten jedoch nicht publizierten Kurzessay Verschiedenartige Geschichtsauffassung als das ‚zirkuläre und organische‘ bezeichnete. Vgl. dazu Nicole Calian: Geschichtsphilosophie aus der Sicht eines Dichters. Zu Heinrich Heines Verschiedenartige Geschichtsauffassung. In: Heine-Jahrbuch 44 (2005) S. 26–41, bes. S. 28ff.; auch Helmut Koopmann: Heines Geschichtsauffassung. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), S. 453–476, bes. S. 458f. 74 Grünbein; Jocks, Durs Grünbein im Gespräch, S. 16f.
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Menschen in seiner verletzlichen Singularität und als Opfer der „Haupt- und Staats-Aktionen“ (Goethe) in der Geschichte.75 Diese düstere Sichtweise hat sich hier freilich aufgehellt. Die Akzentuierung des ‚Lebens‘, des ‚Feierns‘ und des ‚Clownhaften‘ impliziert einen wesentlich freundlicheren Blick als die Baudelaire abgelauschte Perspektive auf verwesende Tierkadaver. Formale Spielfreude wie menschheitstypologische Vielfalt sind insgesamt größer. Die im Mittelteil katalogartig aufgelisteten Meerestiere stehen nicht mehr für einen anthropologischen Typus (das im Namen der Geschichte hingemordete Einzelwesen), sondern für verschiedene Typen: der Treppen steigende „Lippfisch“ (SiA 102) etwa für den chronisch Fortschrittsgläubigen als Don Juan der Historia, die „Meerjunker“ für die „[D]iensteifrige[n]“ und Angepassten (sie „prüfen die Strömung“ (SiA 102), d.h. hängen ihr Mäntelchen nach dem Winde), die die „Neptunschleier“ abweidenden „Gespensterkrabben“ (SiA 102) für die Beutemacher und Kriegsgewinnler, und die „Glasgarnele“, die „sich an der Steilwand hoch[tastet]“ und „vor dem durchsonnten Bereich“ (SiA 102) zurückzuckt, ließe sich als eine den Mythos von Sisyphos aktualisierende Ironisierung des geschichtlichen Utopisten auffassen, dem Utopia mangels Verwirklichung ewig ein U-Topos bleiben muss. Wollte man ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit bemühen, könnte man etwa an das Schicksal des real existierenden Sozialismus denken, dem das politische Endziel Kommunismus versagt blieb und mit dessen utopischem Geschichtsdenken schon der junge Grünbein in seiner Büchner-Preis-Rede abrechnete. Dies alles sind Haltungen, die, wie Grünbein suggeriert, die Historie zudem in nicht zu unterdrückender Vitalität durchziehen: „Das ist die See, wie sie lebt.“ (SiA 103) Dieser Satz steht nicht zufällig im Präsens: Es ist das gnomische Präsens, das das Behauptete mit der Sicherheit einer Naturgesetzlichkeit verkündet. Denn genau darum geht es hier (wie schon in In der Provinz 1–5): um die Offenlegung von so etwas wie essentiellen Grundstrukturen der Geschichte. Und zur Repräsentation derselben bieten sich, hier wie im genannten früheren Zyklus, Tiere besonders gut an, denn da das Tier seit Jahrhunderten gleich aussieht, ist es für Grünbein der „Bote aus einem […] transhistorischen Intermundium“.76 In der unveränderlichen Gestalt des Tieres erscheint der Fluss der Zeit gewissermaßen stillgestellt; dieser Umstand überträgt sich auch auf die || 75 Zu diesem Zyklus vgl. Manfred Fuhrmann: Nekrolog auf eine Amsel. In: Frankfurter Anthologie. Vierundzwanzigster Band. Gedichte und Interpretationen. Hrsg. von Marcel ReichRanicki. Frankfurt a.M., Leipzig 2001, S. 240–242; Alexander Joist: Auf der Suche nach dem Sinn des Todes. Todesdeutungen in der Lyrik der Gegenwart. Mainz 2004, S. 193–199; Ahrend, „Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“, S. 281–288. 76 Durs Grünbein: Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen. Frankfurt a.M. 2001, S. 84.
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anthropologische Aussagedimension in Grünbeins metahistorischem Gedicht.77 Nicht – wie oftmals in den früheren Büchern, am Markantesten in Schädelbasislektion und Falten und Fallen – als sterbliches Wesen wird der (geschichtliche bzw. geschichtsverhaftete78) Mensch hier präsentiert, sondern – kühn, das zu sagen – als quasi unsterbliches Geschichtswesen, als Typus, der immer da ist, nicht totzukriegen gewissermaßen. Das Meer als Daseins-Metapher, deren Wirkungsgeschichte Hans Blumenberg so eindrucksvoll aufgezeigt hat,79 scheint hier eine Neuauflage zu erleben. Und zwar im Wortsinn: als Metapher des DaSeins, der Präsenz, die uns in anschaulichen Gestalten einen Einblick in die ‚Wesensform‘ historischen Lebens verschafft. Deswegen sei zur Aufschlüsselung dieser Art von Bildlichkeit ein husserlianischer Ansatz gewählt – nicht zuletzt auch deshalb, weil durch die lebensweltliche Sphärendifferenz zwischen Taucher und Meerestier80 die Grenze zwischen einem beobachtenden Bewusstsein und einer beobachteten Gegenständlichkeit mit einer Schärfe markiert ist, die stark an Husserls bereits erwähnte rigide Trennung zwischen Bewusstsein und Objektwelt erinnert und die daher einen Zugriff via Merleau-Ponty ausschließt. Betrachtet man die Metaphorik des Gedichts durch eine Husserl’sche Brille, so erinnert der Meeresboden an den transzendentalen Grund, um den sich Husserl in seiner transzendentalen Phänomenologie als Urschicht des Bewusstseins bemühte.81 Diese Assoziation erhärtet sich dadurch, dass die historische Welt bei Grünbein nicht als Lebenswelt markiert, sondern („vom Druck der Realwelt entlastet“) in den Exotismus des Fernen und Fremden entrückt ist – auch wenn es sich genau genommen um ein seiner Fremdheit entfremdetes, d.h. vermenschlichtes Fremdes handelt, das daher die Funktion als Spiegel des Eigenen übernehmen kann: „Inmitten einer sonst unzugänglichen Umwelt un-
|| 77 Zur metahistorischen bzw. reflektierenden „Bauform“ historischer Dichtung vgl. Peer Trilcke: Geschichtslyrik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. Stuttgart, Weimar 2011, S. 153–157, hier S. 154. 78 Man beachte die Metaphorik des Meeresbodens, auf dem die Meerestiere zwar in freier Bewegung, aber doch sesshaft in ihren Amphoren leben – ihnen also gewissermaßen ‚verhaftet‘ sind! 79 Vgl. hierzu Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a.M. 1997. 80 Diese Differenz wird von Grünbein auch an anderem Ort betont: „Der Mensch gehört dort [ins Meer, H.A.] nicht hin, und das spürt er mit jeder Muskelfaser.“ (Grünbein, Die Bars von Atlantis, S. 27) 81 Dazu ausführlich und klassisch Elisabeth Ströker: Husserls transzendentale Phänomenologie. Frankfurt a.M. 1987, zum reinen Bewusstsein im Fokus transzendentalphänomenologischer Forschung vgl. bes. S. 95–106.
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terwegs [ist der Taucher, H.A.] vom Druck der Realwelt entlastet, in einer stabilen Beobachterposition, und alles Wissenswerte flutet auf [ihn] zu“.82 Husserlianisch gesehen kann der archäologische Blick, der hier die Sprecherperspektive bestimmt und der dieses Gedicht als ein Atlantis-Gedicht ausweist,83 das von der Wiederentdeckung von etwas Versunkenem bzw. von der Sichtbarmachung von etwas Verborgenem handelt, für den Akt der eidetischen Reduktion genommen werden, wie Husserl ihn sich in etwa dachte: als einen Akt der Epoché, der Ausklammerung der existenten Gegebenheitsweisen eines Gegenstandes. Denn auch bei Grünbein wird etwas ausgeklammert, das eben aufgrund dieser Ausklammerung das Erkennen des eigentlichen Aussagegehalts bedeutend erschwert: die natürliche Einstellung. Die Historie ist ja nicht in ihrer Existenz, d.h. in ihrer wirklichen Gegebenheitsweise als Teil der menschlichen Lebenswelt und in ihrer unübersehbaren gestalterischen und wandelhaften Fülle präsent, sondern lediglich typologisch verkürzt in einer nicht-natürlichen, biologisch verfremdenden Einstellung auf das historisch invariante Tier – durch die Grünbein der Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes ‚auf den Grund‘ geht. Unterstützt durch die Lesart des Meeresbodens als Urschicht lässt sich dieser Akt der typologischen Reduzierung hervorragend mit Husserls transzendentaler Einstellung zusammenbringen: Husserls Epoché auf den historischanthropologischen Bereich übertragend, richtet Grünbein den Blick auf den prähistorischen, ‚thalassalen‘ Ursprungszustand, aus dem sich das spätere Leben auf dem Land (die ‚Lebenswelt‘) in seiner reichhaltigen Fülle allererst entwickelt hat.84 Allerdings darf auch ein bedeutender Unterschied nicht übersehen werden, der deutlich macht, wie spielerisch und eigenwillig Grünbein mit seinem philosophischen Vorbild umgeht: Bedingt durch die historische ‚Einstellung‘ und den biologischen Zugriff kann die eidetische Reduktion des Tauchers in seiner „stabilen Beobachterposition“ bzw. seiner ‚reinen‘ Beobachterperspektive keineswegs wie bei Husserl auf ein reines Bewusstsein gerichtet sein, son-
|| 82 Eskin, Tauchen mit Descartes, S. 402. 83 Dank an Eva Koczisky für diesen Hinweis. 84 Diesen evolutionsbiologischen Forschungsbefund kennt heutzutage – meist in populärwissenschaftlicher Fassung – buchstäblich jedes Kind. Grünbein hätte ihn aber auch bei Michelet finden können, der in dem Kapitel Die Weltenmacher die Entwicklung des Lebens von den Riffkorallen bis zu den Landsäugetieren, zu denen ja auch der Mensch gehört, nachzeichnet: „In dem finsteren unteren Saal [eines Naturgeschichtsmuseums, H.A.] legen die Riffkorallen schweigend den Grund zu der immer belebter werdenden Welt, die sich über ihnen erhebt. Weiter oben das Volk der Meere, das in seinen höchststehenden Tieren sein äußerstes Maß an Schöpfungsenergie erreicht hat und die verschiedenen Lebensformen auf der Erde vorbereitet. An höchster Stelle die Säugetiere.“ (Michelet, Das Meer, S. 119)
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dern nur auf ein Eidos, das immer noch auf der Ebene von Lebens-Formen – oder, in der Sprache der Büchner-Preis-Rede: von Körpern – situiert ist. Die essentiellen Grundtypen liegen, wie bereits oben gesagt, als anschauliche Gestalten vor. Im vorliegenden Fragehorizont einer Bildepistemologie sollen sie nun entsprechend gedeutet werden. Auch wenn die historischen Meerestiere als Wahrnehmungen in Szene gesetzt sind, so ist es doch wichtig zu beachten, dass es sich bei ihnen – selbst innerhalb der Bildlogik der Inszenierung – nicht um einfache Perzeptionen handelt. Aufgrund der in ihnen chiffrierten historischen Sinnhaftigkeit, die das Wahrgenommene einer Tendenz zur Stilisierung und Abstraktion unterwirft, handelt es sich bei ihnen um Bildobjekte, die die Funktion von Signifikanten haben. Während Husserl dem Bildobjekt lediglich die Funktion eines Repräsentanten des Bildsujets zusprach,85 wird bei Grünbein nicht allein das Bildsujet (hier das real existierende Meerestier) repräsentiert, sondern vielmehr etwas, was man mit Jörn Rüsen die „exemplarische Sinnbildung“86 in der Geschichte nennen könnte. Weit mehr als ein schlichtes Bildobjekt, handelt es sich bei dem Grünbein’schen Meerestier um eine sinnhafte Anschauung, die man fast schon als eine Allegorie bezeichnen könnte, da die Zeichenfunktion dieser Anschauung ganz in der Vermittlung der in ihr chiffrierten historischen Sinnhaftigkeit aufgeht. Husserlianisch gesprochen: Die Bildobjekte, wie Grünbein sie einsetzt, gewinnen die Funktion von Symbolen, entsprechen einem Akt, den Husserl das „sich äusserlich Vorstelligmachen durch Bilder, Symbole“87 nannte. In diesen Bildobjekten spricht sich eine Wahrnehmungshaltung aus, die die Gegebenheitsweise der Dinge in einem „intentionale[n] Horizont“88 verortet, der das Ganze historischen Lebens in der „Wesensintuition“89 aufhebt und die lebensweltliche Fülle durch eidetische Reduktion bzw. Epoché abschneidet, um den
|| 85 So schreibt Husserl über das Bildobjekt: „Darunter verstehen wir nicht das abgebildete Objekt, das Bildsujet, sondern das genaue Analogon des Phantasiebildes, nämlich das erscheinende Objekt, das für das Bildsujet Repräsentant ist.“ (Husserl, Phantasie und Bildbewußtsein, S. 21, Hervorhebung im Original) 86 Jörn Rüsen: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen 1989, S. 45. 87 Husserl, Phantasie und Bildbewußtsein, S. 37f. 88 Edmund Husserl: Die Prätention der Wahrnehmung. In: Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen. Hrsg. von Lambert Wiesing. Frankfurt a.M. 2002, S. 203–222, hier S. 206. 89 Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. 2, S. 25.
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Blick auf einen – mit Novalisʼ Worten – „allegorischen Sinn im großen“90 freizugeben. Dieser ‚allegorische Sinn‘ weist Grünbeins Anschauungen, mögen sie noch so sehr als Wahrnehmungen inszeniert werden, als metahistorische „Erinnerungsbilder[.]“91 aus, d.h. als sprachliche Bilder, die eine Gedächtnisfunktion erfüllen – als handele es sich bei ihnen um eine metaphorische Version jener Unterwassermuseen, von denen Grünbein im Schlussabschnitt von Die Bars von Atlantis selbst gesprochen hat.92 Oder wie sein Gewährsmann Michelet sich in seinem „Hymnus auf die Korallenbänke des Indischen Ozeans“93 ausdrückte: „als könnten sie uns das Geheimnis dieser kleinen Völker enthüllen, deren Monumente sie darstellen.“94 Aber dieses Wissen liegt, wie könnte es anders sein, ausschließlich im Auge des Betrachters.
Literaturverzeichnis Ahrend, Hinrich: „Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“. Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins. Würzburg 2010. Ahrend, Hinrich: Verschlungene Lineaturen. Die Poetik der Arabeske in Ludwig Tiecks Erzählwerk. Würzburg 2012. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. Übers. von Kurt Leonhard. München 1960. Benn, Gottfried: Epilog und Lyrisches Ich. In: ders.: Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke. Hrsg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt a.M. 2006, S. 269–275. Bernet, Rudolf; Kern, Iso; Marbach, Eduard: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens. Hamburg 1989. Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a.M. 1997. Calian, Nicole: Geschichtsphilosophie aus der Sicht eines Dichters. Zu Heinrich Heines Verschiedenartige Geschichtsauffassung. In: Heine-Jahrbuch 44 (2005), S. 26–41. Decker, Gunnar: Gottfried Benn. Genie und Barbar. Biographie. Berlin 2006. Demandt, Alexander: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historischpolitischen Denken. München 1978. Eskin, Michael: „Risse, die durch die Zeiten führen“. Zu Durs Grünbeins Historien. In: Durs Grünbein: Der Misanthrop auf Capri. Historien, Gedichte. Frankfurt a.M. 2005, S. 107–121. Eskin, Michael: „Stimmengewirr vieler Zeiten“. Grünbein’s Dialogue with Dante, Baudelaire, and Mandelʼshtam. In: The Germanic Review 77 (2002) H. 1, S. 34–50.
|| 90 Novalis, Werke, S. 535; Hervorhebung im Original. 91 Grünbein, Die Bars von Atlantis, S. 27. 92 Vgl. ebd., S. 58–61. 93 Ebd., S. 27. 94 Michelet, Das Meer, S. 115.
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„Aqua alta“. Das Meer als Ort phänomenologischer Erkenntnis | 139
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Michael Eskin
Denkbilder Zu einem Motiv bei Durs Grünbein
1 „Kunst heißt Denken in Bildern ... ohne Bilder gibt es keine Kunst – und mithin keine Dichtung“.1 Mit diesem Satz des russischen Ästhetikers Aleksandr Potebnja – oder besser gesagt: mit der strikten Absetzung von diesem Satz – beginnt eine Poetologie der Moderne, wie sie sich über den russischen Formalismus, den Strukturalismus (in all seinen Ausrichtungen), sowie – genealogisch verschoben – den New Criticism und die werkimmanente Interpretation zurückverfolgen lässt. Viktor Schklovskijs berühmte, stellvertretend für die Avantgarde im Allgemeinen zu lesende Absage an Potebnjas subjektivistisch-psychologistisch-kognitivistischen Zugang zur Dichtung im Besonderen im Namen eines neuen, konkret-anschauenden (statt abstrakt-denkend-bildlichen) Wahrnehmens der Wirklichkeit als durch die „Verfahren“ der Kunst „verfremdeter“ leitet eine neue, phänomenologisch geschulte Epoche in der europäischen Literaturästhetik ein, die ihren Widerhall in einem ähnlichen Bemühen um die Wiedergewinnung der „Sachen selbst“ durch eine von jeglicher symbolistisch-romantisierenden Schlacke gesäuberten Dichtung im anglo-amerikanischen Raum findet – so z.B. im Werk T. E. Hulmes und Ezra Pounds.2 Mag auch die Kritik an
|| 1 „Искусство – это мышление образами … без образа нет искусства, в частности поэзии …“ (Aleksandr Afanasevich Potebnja: Из записок по теории словесности: Поэзия и проза. Тропы и фигуры. Мышление поэтическое и мифическое. Приложения [Aufzeichnungen zur Theorie der Wortkunst: Poesie und Prosa. Poetisches und mythisches Denken. Zusätze]. Charkov 1905, S. 83; zitiert in Viktor Borisovich Schklovskij: Искусство как прием [Kunst als Verfahren] (1917). In: Поэтика: Труды русских и советских поэтических школ [Poetik: Arbeiten russischer und sowjetischer Dichtungstheoretiker]. Hrsg. von Ljuda KiraijArpad Kovacz. Budapest 1982, S. 79–87, hier S. 79). 2 Vgl. z.B. Juri Tynjanow: Das literarische Faktum (1924). Übers. von Brigitta Schröder. In: Die Erweckung des Wortes: Essays der russischen Formalen Schule. Hrsg. von Fritz Mierau. Übers. von Michael Dewey u.a. Leipzig 1987, S. 361–383, hier S. 361, und insbes. Schklovskij, Искусство как прием [Kunst als Verfahren], S. 82: И вот для того, чтобы вернуть ощущение жизни, почувствовать вещи, для того чтобы делать камень камнем, существует то, что называется искусством. Целью искусства является дать ощущение вещи, как видение, а не как узнавания; приемом искусства является прием [‚Verfahren‘] ‚остранения‘ [‚Ver-
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einem Verständnis von Kunst, wie es sich in Potebnjas aus Romantik und Symbolismus sich speisenden Definition kristallisiert, dem futuristisch-materialistisch-technologisch orientierten Zeitgeist des frühen zwanzigsten Jahrhunderts das Wort reden, so erweist sie sich doch von Anfang an als polemisch überzogen und in sich widersprüchlich: Nicht nur hebt Schklovskij selbst im Zuge seiner Herabwürdigung der Bildlichkeit der Kunst gerade das erneute „Sehen“ – und somit die Bilddimension des Kunst-Wirklichkeit-Nexus – als Ziel artistischer Betätigung hervor, sondern sowohl Denken als auch Bild stehen im Zentrum der poetologischen Überlegungen von Autoren wie Ezra Pound, Paul Valéry, Wallace Stevens und Ossip Mandelstam – um nur einige Klassiker der
|| fremdung‘] вещей …“ („[...] um das Leben wieder spürbar bzw. fühlbar zu machen, um die Dinge zu spüren bzw. zu fühlen, um den Stein zum Stein zu machen, dafür gibt es das, was man Kunst nennt. Das Ziel der Kunst ist es, die Dinge wieder spürbar bzw. fühlbar zu machen, als Sehen und nicht als Erkennen; das Verfahren hierfür heißt ‚Verfremdung‘ der Dinge [...]“). Die von Schklovskij betonte Notwendigkeit, sich sehend der konkreten Wirklichkeit selbst zuzuwenden – eines der Markenzeichen des Russischen Formalismus –, ist mit Sicherheit von Edmund Husserls phänomenologischer Methode inspiriert (vgl. Husserls Maxime „Wir wollen auf die ,Sachen selbst‘ zurückgehen“, in: Logische Untersuchungen II/1: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Tübingen 1900, S. 6; ders.: Logische Untersuchungen I: Prolegomena zur reinen Logik. Tübingen 1900, S. x, S. 155, S. 236), die vor allem durch Gustav Schpet nach Russland gebracht worden war (vgl. Alexander Haardt: Husserl in Rußland: Phänomenologie der Sprache bei Gustav Spet und Aleksej Losev. München 1993). Etwa zeitgleich mit den Russischen Formalisten strengte Ezra Pound – ausgehend von der philosophischen Ästhetik T. E. Hulmes – eine Dichtung an, die sich der „direkten Behandlung der Sache“ („Direct treatment of the ‚thing‘[...]“) widmen und die „Wahrnehmung nicht beeinträchtigen“ solle („D[oesn’t] mess up perception [...]“) (Ezra Pound: Literary Essays of Ezra Pound. Hrsg. von T. S. Eliot. New York 1935, S. 3, S. 5). Ob Pound sich mit der Husserl’schen, sich den „Sachen selbst“ zuwendenden Phänomenologie aktiv beschäftigt hat, muss Spekulation bleiben; es ist jedoch anzunehmen, dass er ihrem Einfluss während seines Aufenthaltes an der Universität Freiburg im Jahr 1911 kaum ganz entgangen sein konnte (vgl. Ezra Pound: The Cantos. London 1960, S. 93; James J. Wilhelm: Ezra Pound in London and Paris 1908–1925. College Park 1990, S. 72f.). Da hier nicht weiter im Detail auf die oben genannten literaturkritischen Richtungen und ihre Primärtexte eingegangen werden kann, verweise ich den Leser auf folgende einschlägige Untersuchungen: John Crowe Ransom: The New Criticism. Norfolk 1941; Douglas Day: The Background of the New Criticism. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 24 (1966), H. 3, S. 439–440; Victor Erlich: Russian Formalism: History, Doctrine. New Haven 1965; Frederic Jameson: The Prison-House of Language: A Critical Account of Structuralism and Russian Formalism. Princeton 1972; Vincent B. Leitch: American Literary Criticism from the Thirties to the Eighties. New York, NY 1988 (zu Formalismus, Strukturalismus und New Criticism); Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk: Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern 1948 (zu werkimmanenter Interpretation).
Denkbilder | 143
literarischen Moderne zu nennen.3 Mit anderen Worten, zu behaupten, dass „Denken in Bildern“ als eines der Markenzeichen von Poesie ad acta gelegt sei, heißt noch lange nicht, dass dem auch so ist. Diese, spätestens seit Aristoteles vertraute Konzeption der Dichtung als einer auf Denken und Bildlichkeit aufbauenden Form, auf die übrigens auch Potebnja implizit rekurriert, lebt fort ungeachtet jeglicher kritischen Versuche, sich ihrer zu entledigen.4 Und es mag deswegen kaum verwundern, wenn sie sich auch in der zeitgenössischen Poetik wiederfindet – so z.B. im Werk Durs Grünbeins, das sich ganz und gar einem Verständnis von Dichtung als besonderer, bildlich-bildender Form des Denkens bzw. denkender Bildlichkeit verschreibt, wie die folgenden Zitate belegen: Verszeilen erweisen sich als Kapseln [voller] Denkbilder.5 Das Gedicht ist der Korridor, durch den das Denken [...] zurückschleicht zum Ort des Verbrechens, der Reue, des Begehrens, der Angst und Bewunderung, der ersten und letzten Sensation.6 Zu jeder Logik, scheint mir, gibt es eine Gedicht-Logik, zu jedem Satz einer Erkenntnislehre einen Gedicht-Satz. Nur die Unbeweisbarkeit katapultiert das Gedicht aus den vernunftkritischen Zusammenhängen heraus. Bedeutsam als kognitiver Akt muß es schon
|| 3 Ich denke hier insbesondere an Pounds sich von T. E. Hulmes Betonung der Rolle von „image“ und „analogy“ im dichterischen Prozess herschreibenden Begriff der „Phanopoeia, which is a casting of images upon the visual imagination“ (Thomas Ernest Hulme: Speculations. Hrsg. von Herbert Read, London 1924, S. 4–12; Pound, Literary Essays, S. 25), Valérys Überlegungen zur Verquickung von Poesie und abstraktem Denken (Paul Valéry: The Art of Poetry. Mit einer Einleitung von T. S. Eliot. Übers. von Denise Folliot. In: The Collected Works of Paul Valéry. Hrsg. von Jackson Mathews. Bd. 7. London 1958, S. 52–81, hier S. 78), Stevens’ auf Abstraktion basierenden Begriff der Dichtung als „supreme fiction“ (Wallace Stevens: The Collected Poems. New York 1982, S. 380) und Mandelstams indirekte Selbststilisierung als „Descartes der Metapher“ (Osip Mandelstam: Razgovor o Dante [Gespräch über Dante]. Moscow 1967, S. 83). Vgl. Day, The Background of the New Criticism, S. 33, zu Pounds Hulme-Rezeption; sowie Michael Eskin: Descartes of Metaphor: On Durs Grünbein’s Vom Schnee. In: Schaltstelle: Neue deutsche Lyrik im Dialog. Hrsg. von Karen Leeder. Amsterdam 2007, S. 163–179, hier S. 174, und ders.: Poetic Affairs: Celan, Grünbein, Brodsky. Stanford 2008, S. 142–147, zu Mandelstams Selbststilisierung über den Umweg Dantes. 4 Bekanntlich charakterisiert Aristoteles die Dichtung als eine „philosophische“, d.h. dem Denken verpflichtete, Diskursform, deren Hauptbestandteil die „Metapher“, d.h. das poetische Bild, ist (Aristoteles: Poetik. Hrsg. u. übers. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, 1451b, 1458a). 5 Durs Grünbein: Vulkan und Gedicht. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen: Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 34–39, hier S. 39. 6 Durs Grünbein; Brigitte Oleschinski; Peter Waterhouse: Die Schweizer Korrektur. Hrsg. von Urs Engler. Basel 1995, S. 44.
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deshalb sein, weil es als eine unter mehreren anderen symbolischen Formen gleichberechtigt aufs Ganze geht. Nur was aufs Ganze der Erkenntnis geht, läßt sich zu allem anderen in Beziehung setzen.7 Man stelle sich vor, es gäbe ein Denken, das an bestimmte, sonst nur sehr schwer zugängliche Stellen kommt, wie Zahnseide zwischen die hinteren Backenzähne oder ein Endoskop in den Magen. Gewisse Stellen wird es überhaupt zum erstenmal anschaulich machen, einzelne Nebengänge des unüberschaubaren seelischen Höhlensystems, das sich durch die Körper aller Menschen zieht und nur durch findige, kühn in die noch ungesicherten Stollen vorstoßende Phantasie entdeckt werden kann. Dieses Denken ist das poetische Denken [...].89
Im Folgenden möchte ich Durs Grünbeins Begriff des poetischen Denkens als eines in Denkbildern nachdenken und versuchen zu beschreiben, wie es sich konkret in seinen Texten artikuliert.
2 Bekanntlich ist das deutsche Wort ‚Denkbild‘ dem Niederländischen entlehnt, wo ,Denkbeelden‘ nichts anderes als das einheimische Wort für ‚Idee‘ ist. Und obwohl es im Laufe seiner Aneignung und Verwendung im Deutschen seit Filip von Zesens Übersetzung von Willem Goerees Anweisung zur allgemeinen Reisund Zeichenkunst (Inleydinge Tot de Al-gehmeene Teycken-konst) im Jahre 1669 Bedeutungsfacetten angenommen hat, die seine ursprüngliche, im Begriff ‚Idee‘ noch klar bezeugte strukturell-semantische Einheit im Namen einer analytischen Trennung und Ins-Verhältnis-Setzung seiner nominalen Bestandteile (‚Denken‘ und ‚Bild‘) aufbrechen, so lässt es sich doch seiner einstmaligen semantischen Homogenität eingedenk nach wie vor auch als einheitliches (wenn auch nicht unbedingt ‚Idee‘ bezeichnendes) Wort lesen – d.h. nicht als ein emblematisch-allegorisches Phänomen, zusammengesetzt aus einem etwaigen bilderlosen Denken bzw. einem Gedanken zu dem dann noch eine Bildebene hin-
|| 7 Ebd., S. 33. 8 Durs Grünbein: Das Gedicht und sein Geheimnis. In: ders.: Gedicht und Geheimnis. Aufsätze 1990–2006. Frankfurt a.M. 2007, S. 84–94, hier S. 93 („Man stelle …“). 9 Ebenso wie Grünbein betont z.B. Brigitte Oleschinski, dass „Gedichte eine Denkweise“ seien (zitiert in: Grünbein u.a., Schweizer Korrektur, S. 33). Vgl. auch Durs Grünbein, Michael Eskin: Tauchen mit Descartes: Gespräch mit Durs Grünbein. In: Sinn und Form 63 (2011), H. 3, S. 389– 402, wo Grünbein sich ebenfalls explizit mit dem „poetische[n] Denken“ auseinandersetzt (insbes. S. 398).
Denkbilder | 145
zukäme, bzw. umgekehrt aus einer Bildebene, der dann noch der Gedanke zuwüchse, sondern als eines, das sich organisch eben als einheitliches Denkbild darstellt.10 Dies ist umso relevanter, als es hier weniger um das Denken in Bildern bzw. das Denkbild als psychologisch-kognitives Moment gehen soll, sondern vielmehr um das Denkbild als integrales Struktur- bzw. Organisationsprinzip ästhetischer Artikulation und seine tatsächlichen Ausformungen in konkreten Texten. Die Leitfrage der anstehenden Überlegungen ist somit nicht: Was ist ein Denkbild bzw. was bedeutet Denken in Bildern und wie stellt es sich in menschlichen Lebensäußerungen dar, sondern: Wie sieht ein sich poetisch manifestierendes Denken konkret aus, dessen ästhetische Grammatik und Syntax sich über Denkbilder entfalten bzw. vom Prinzip Denkbild her rezipiert und verstanden werden sollen?11 || 10 „Aber wie Bücher“, schreibt Adorno, „so haben auch die Worte, aus denen jene gefügt sind ihr Schicksal. Während die Verdeutschung der Idee ohnmächtig blieb gegenüber der Tradition der Sprache, hat der Impuls, der nach dem neuen Wort griff, weiter gewirkt“ (Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur. Frankfurt a.M. 1981, S. 680). Zur Geschichte und Etymologie von ,Denkbild‘ sowie seiner Verwendung im Sinne von ,Emblem‘, ,Standbild‘, ‚Denkmal‘, ‚Allegorie’ bzw. als Bezeichnung der von der Frankfurter Schule praktizierten Kurzprosaform z.B. bei Winckelmann, Herder, Goethe, George, Rilke, Loerke, Benjamin, Adorno u.a. vgl. Eberhard Wilhelm Schulz: Zum Wort ‚Denkbild‘. In: ders.: Wort und Zeit: Aufsätze und Vorträge zur Literaturgeschichte. Neumünster 1968, S. 218–252; Karoline Kirst: Walter Benjamin’s Denkbild: Emblematic Historiography of the Recent Past. In: Monatshefte 86 (1994), H. 4, S. 514–524; Heinz Schlaffer: Denkbilder: Eine kleine Prosaform zwischen Dichtung und Gesellschaftstheorie. In: Poesie und Politik: Zur Situation der Literatur in Deutschland. Hrsg. von Wolfgang Kuttenkeuler. Stuttgart 1973, S. 137–154; Gerhard Richter: Thought-Images: Frankfurt School Writers’ Reflections from Damaged Life. Stanford 2007, insbes. S. 10–13; Adorno, Noten zur Literatur, S. 680–685. 11 D.h. ich gehe in meinen Überlegungen weder auf die psychologischen Voraussetzungen und Bedingungen poetischen Denkens ein – etwa auf die von Aristoteles veranschlagte angeborene „Begabung ... Metaphern zu finden“ (Aristoteles, Poetik, 1459a) bzw. Kants korrespondierenden Begriff des „Verähnlichungsvermögens“ (Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik II. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977, S. 538) –, noch auf die von Philosophen, Hirnforschern, Psychologen, Kognitionswissenschaftlern und Linguisten vieldiskutierte Frage, ob das menschliche Denken bildlich ablaufe oder nicht und, wenn ja, welcher Art die Bilder seien, die das Denken konstituieren (Stichwort: „Imagery Debate“; vgl. hierzu insbes. Colin McGinn: Mindsight: Image, Dream, Meaning. Cambridge 2004, S. 1–41, S. 61–73, S. 28–139; Stephen Kosslyn: Image and Brain. Cambridge 1996; Zenon W. Pylyshyn: The Imagery Debate: Analogue Media Versus Tacit Knowledge. In: Psychological Review 88 (1981), H. 1, S. 16–45; Wendy Smith u.a.: Imagery Debate. http://users.ecs.soton.ac.uk/harnad/Hypermail/ Foundations.Cognition/0091.html [23.01.1996]; Wolf Singer: Das Bild in uns – Vom Bild zur Wahrnehmung. In: Iconic Turn: Die neue Macht der Bilder. Hrsg. von Christa Maar und Hubert Burda. Köln 2004, S. 56–76; Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bil-
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Dieses deskriptiv-hermeneutische Unterfangen möchte ich anhand von drei Gedichttexten Grünbeins entfalten – einer kurzen Passage aus Vom Schnee, Julia Livilla und Aporie Augustinus (Über die Zeit) –, die, wie mir scheint, sein poetisches Denken auf exemplarische Weise in Szene setzen und somit auch im Hinblick auf seine dichterische Praxis im Allgemeinen aufschlussreich sein mögen. Als exemplarisch sind diese Texte, wie sich noch zeigen soll, insofern anzusehen, als sie nicht nur auf thematischer Ebene zentrale Fragen der abendländischen Denktradition explizit aufnehmen und poetisch transponieren, sondern auch weil sie sowohl auf histoire- wie auf discours-Ebene gleichsam der Konzeption der Dichtung als eines integralen Denkens-in-Bildern performativ Rechnung tragen. In meinen Überlegungen werde ich mich ausgehend von Descartes und Kant thematisch auf drei zentrale Denkmomente der Moderne konzentrieren: die Frage nach der Konstitution des Subjekts,die Frage nach der Verortung des Subjekts im Raum sowie die Frage nach der Ausdehnung des Subjekts in der Zeit.
3 Ich beginne mit einer Passage aus dem letzten Gesang aus Vom Schnee oder Descartes in Deutschland, in dem das Sterben des Philosophen am schwedischen Hof am 11. Februar 1650 imaginiert wird. Der Erzähler bzw. implizite Autor des Versepos stellt sich den letzten Tag im Leben des Philosophen vor („Ein Tag voll Gram – und wär es auch der allerletzte“), wie er „hohlwangig mit verklebtem Haar“ auf seinem „Sterbelager“ „Blut und Rotz“ auswirft, bis „[k]ein
|| der. In: Iconic Turn: Die neue Macht der Bilder. Hrsg. von Christa Maar und Hubert Burda. Köln 2004, S. 28–43; Semir Zeki: Dante, Michelangelo und Wagner. Das Gehirn als Konstrukteur genialer Kunstwerke. In: Iconic Turn: Die neue Macht der Bilder. Hrsg. von Christa Maar und Hubert Burda. Köln 2004, S. 77–102), noch auch auf Grünbeins häufigen Rekurs auf die Malerei (vor allem auf Werke aus dem 17. Jahrhundert; vgl. hierzu insbes. Sonja Klein: „Denn alles, alles ist verlorne Zeit“: Fragment und Erinnerung im Werk von Durs Grünbein. Bielefeld 2008, S. 71–83, S. 109–168; Noël Reumkens: Concep(tion) versus Ekphrasis. Durs Grünbein’s Approach to the Pictorial Arts. In: Durs Grünbein: A Companion. Hrsg. von Michael Eskin, Karen Leeder und Christopher Young. Berlin, Boston 2013, S. 119–144). Ebenfalls gehe ich nicht auf die z.B. von Deleuze und Guattari extensiv behandelte Frage ein, ob dem poetischen Diskurs überhaupt ‚Denken‘ im streng konzeptuellen Sinn zugeschrieben werden kann oder nicht (vgl. ins. Gilles Deleuze; Félix Guattari: What is Philosophy? Übers. von Hugh Tomlinson und Graham Burchell. New York 1994, S. 66, S. 163–199). Zum Problem des Verhältnisses von Text und Bild im Allgemeinen vgl. insbes. William J. Thomas Mitchell: Picture Theory. Chicago, IL 1994.
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Pochen unterm Brustbein mehr“ zu spüren ist.12 Mehrmals redet der Erzähler seinen Protagonisten Descartes direkt an: „Ihr senkt den Kopf, starrt vor Euch hin.“, „Monsieur, man sagt, Ihr habt ihm lebenslang getrotzt,/ Dem schwarzen Gallenfluß [...].“,„Monsieur, wacht auf. Was faselt Ihr von Sakramenten?/ Denkt nach. Bei zehn Grad minus trübt sich der Verstand.“13 Inmitten nun dieser situativen, bildlich-konkreten Beschwörung der Agonie des Philosophen wird in der fünften Strophe des Gesangs folgende Reflexion aufgeführt: So wahr ich sitz hier, träumend, wie ich krank darniederlieg … Nein, umgekehrt: so wahr ich lieg und träum, ich sitze dort Im Winterrock beim Feuer, und die Hand da auf dem Tisch Fühlt das Papier … so weiß ich: dies hier ist mein Leib. Hoc corpus meum. Wo ich bin, wird nie ein andrer sein. Auf engstem Raum, gottlob, bin ich nicht kleinzukriegen, Solang ich denke. ‚Vorsicht Freund, wer sagt dir denn, Daß dies kein Traum, kein Nachbild ist aus andern Zeiten? Vom Schnee verwirrt, wer weiß, bildst du dir ein im Schlaf Du sitzt am Tisch.‘ ‚Und lieg im Bett, mein eigner Biograph?‘14
Dem philosophisch versierten Leser wird sofort klar, dass es sich bei diesen Zeilen um eine Transponierung bzw. Neuschreibung zentraler Passagen aus Descartes’ erster und zweiter Meditation handelt, wo es heißt: Indessen, wenn uns auch die Sinne zuweilen über kleine und ferner liegende Gegenstände täuschen, so ist doch an den meisten anderen zu zweifeln gar nicht möglich, ungeachtet ihres sinnlichen Ursprungs; so z.B., daß ich hier bin, am Ofen sitze, meinen Winterrock anhabe, dieses Papier hier mit meinen Händen berühre und dergleichen. Mit welchem
|| 12 Durs Grünbein: Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. Frankfurt a.M., S. 139–141, V. 1, V. 11, V. 19, V. 39, V. 70. Ich gehe hier nicht im Einzelnen auf die narrative mise-en-abîme, die Grünbein dem Leser in Vom Schnee vorführt, ein. Angemerkt sei lediglich, dass die Erzählstruktur von Vom Schnee es dem Leser nicht erlaubt, mit Sicherheit zu unterscheiden, wer wann im Text eigentlich spricht – der Erzähler bzw. implizite Autor, der fiktive Descartes, sein Diener Gillot oder der Dichter selbst (vgl. hierzu insbes. Eskin, Descartes of Metaphor; ders.: Wake-Up Call: Durs Grünbein with Rilke, Descartes, and Pushkin. In: Poetica 50 (2009), H. 1–2, S. 177–205, hier S. 202–208; Tilo Renz: Traum der Erkenntnis. New Historicism, Diskursarchäologie und Durs Grünbeins Descartes. In: Zeitschrift für Germanistik 22 (2011), H. 2, S. 321–334, hier S. 331f.). Was die hier zitierten Stellen angeht, so soll der Einfachheit und argumentativen Klarheit halber das nicht in Anführungszeichen Gesprochene dem Erzähler bzw. impliziten Autor, das innerhalb des Gesangs als Zitat bzw. direkte Rede Ausgewiesene dem Gegenüber, d.h. dem fiktiven Descartes bzw. Gillot, zugeschrieben sein. 13 Grünbein, Vom Schnee, S. 139–141, V. 6, V. 17f., V. 51f. 14 Ebd., S. 140.
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Recht könnte ich leugnen, daß diese Hände, dieser ganze Körper mein sind [hoc corpus meum esse] [...] Gut so! aber bin ich denn nicht ein Mensch, der nachts zu schlafen pflegt und dann alles das [...] im Traum erlebt […]? [...] ich glaube hier zu sein, den Rock anzuhaben, am Ofen zu sitzen – und dabei liege ich entkleidet im Bett!15
Und etwas weiter, nachdem die Gegenargumente des Traums sowie des trügerischen genius malignus durchgespielt sind und das fundamentum certum et inconcussum des eigenen Ichs erreicht worden ist, schreibt Descartes: mag er [d.h. der genius malignus, M.E.] mich nun täuschen, soviel er kann, so wird er doch nie bewirken können, dass ich nicht sei, solange ich denke, ich sei etwas. Nachdem ich so alles genug und übergenug erwogen habe, muß ich schließlich festhalten, daß der Satz „Ich bin, ich existiere“ [Ego sum, ego cogito, M.E.], sooft ich ihn ausspreche oder im Geiste auffasse, notwendig wahr sei.16
Was genau macht Grünbein mit Descartes’ Fundamentalbetrachtung? Zunächst lässt sich sagen, dass er das existentielle Denkproblem Descartes’ neu aufrollt und die Gewissheit, die der Philosoph im Cogito gefunden zu haben glaubte, destabilisiert: Denn im Gegensatz zu Descartes’ monolithischem Ego, dass sich seiner eigenen Wahrheit als Einheitliches und Unverbrüchliches stets bewusst ist, jedes Mal wenn es sich denkend artikuliert – und zwar unabhängig davon, ob im Traum oder im Wachzustand –, erweist sich Grünbeins poetisches, sich metaphorisch in dasjenige Descartes’ verwandelnde bzw. sich dessen Maske aufsetzende Ich als alles andere als einheitlich, weiß es doch nicht einmal, ob es das sei, was es in seiner Gespaltenheit zu sein glaubt. In der doppelt, unter umgekehrten Vorzeichen gesetzten und sich somit selbst aufhebenden Beteuerung der vermeintlichen Wahrheit des eigenen Seins („So wahr ich .../ Nein, umgekehrt: so wahr ich ...“) wird jegliche kognitiv-mentale Gewissheit à la Descartes aufgebrochen und des Aporetischen überführt. Die einzige Gewissheit, die Grünbeins cartesischem Ich bleibt, ist die Gewissheit des eigenen Leibes sowie des Raumes, den dieser einnimmt. Nur als Leib sei das Ich, solange es denke, in seiner Selbstgewissheit „nicht kleinzukriegen“. Dies wiederum bedeutet, dass Grünbein Descartes’ Cogito nicht einfach nur aus den Angeln hebt, sondern dass er das gesamte philosophische Projekt Descartes’ regelrecht auf den Kopf stellt, indem er, seinem poetologisch-existentiellen, sich u.a. von Büchner herschreibenden Credo des Primats des Körpers getreu, die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung von Gewissheit von der res cogitans in die res
|| 15 René Descartes: Meditationes de prima philosophia / Meditationen über die erste Philosophie. Übers. und hrsg. von Gerhart Schmidt. Stuttgart 1986, S. 65. 16 Ebd., S. 79.
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extensa verlegt, die ja laut Descartes gerade nicht als Gewissheitsgarant fungieren kann, weil sie konstitutiv eine Angriffsfläche z.B. für die Gegenargumente des Traums sowie des genius malignus bietet.17 Nicht von ungefähr erscheint das von Grünbein als apodiktische Feststellung irreführend als Aussagesatz verwandte Descartes-Zitat „Hoc corpus meum“ im Original lediglich als Teil einer (beinahe schon rhetorisch anmutenden) Frage („Mit welchem Recht könnte ich leugnen, daß diese Hände, dieser ganze Körper mein sind?“), deren Beantwortung sich über das Traum- sowie das Betrügergottargument entfaltet und erst in der Einsicht in die unerschütterliche Gewissheit des Cogito zur Ruhe kommt. Im intratextuellen fiktiven Dialog des Sprechers mit sich selbst wird diese Problematik dann metathematisch noch einmal reflektiert und explizit gemacht.18 Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass Grünbein in diesen Versen die Konstitution des Subjekts, wie sie von Descartes für die Neuzeit geltend gemacht wurde, radikal umschreibt und sich im gleichen Atemzug emphatisch in die neuzeitliche Denktradition einschreibt. Was jedoch diesen Text zu einem exemplarischen Beispiel genuin poetischen Denkens im Sinne Grünbeins macht – und d.h. zu einem genuin poetischen Denkbild, in dem sich, um mit Adorno zu sprechen, „Geist, Bild und Sprache“ organisch „verbinden“ –, ist nicht so sehr die Behandlung eines der zentralen Themen des philosophischen Diskurses der Moderne in prosodisch markierter Form, sondern die Tatsache, dass der Denkgehalt bzw. die ‚philosophische Aussage‘ der Günbein’schen Verse aus ihrer poetischen Textur selbst hervorgeht, nämlich aus der Prädikationsstruktur || 17 Zu Grünbeins Poetik der Körperlichkeit vgl. insbes. Michael Eskin: Body Language. Durs Grünbein’s Aesthetics. In: arcadia 37 (2002), H. 1, S. 42–66. Es sei an dieser Stelle lediglich daran erinnert, dass „das Gedicht“, laut Grünbein, „Vexierbild physiologischen Ursprungs“ sei, das „das Denken in einer Folge physiologischer Kurzschlüsse“ vorführe (Durs Grünbein: Mein babylonisches Hirn. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 18–34, hier S. 18, S. 33), und dass gerade die Dichtung Georg Büchners die physiologische Verankerung der Dichtung exemplarisch artikuliere: „[N]icht daß er sich forschend einläßt auf die Naturphilosophie seiner Zeit, macht [seine Dichtung] bedeutsam, sondern daß er dem Nerv das Primat zuspricht, den Körper zur letzten Instanz erklärt. Hier ist ein Dichter, der seine Prinzipien der Physiologie abgewinnt wie andere vor ihm der Religion oder der Ethik.“ (Durs Grünbein: Den Körper zerbrechen. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 75–86, hier S. 79) 18 Die Anrede „Freund“ in Vers 56 legt nahe, dass sich Grünbeins lyrisches Ich hier selbst apostrophiert, denn Descartes wird durchweg in der zweiten Person Plural (‚Ihr‘) bzw. als ‚Monsieur‘ angesprochen. Zu Grünbeins Penchant für die Apostrophe ‚Freund‘ vgl. insbes. Michael Eskin: Durs Grünbein and the European Tradition. In: Durs Grünbein: A Companion. Hrsg. von Michael Eskin, Karen Leeder und Christopher Young. Berlin, Boston 2013, S. 23–38; hier S. 37 Anm. 36.
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ihrer zentralen Metapher, welche Grünbein und Descartes in eins setzt.19 Mit anderen Worten: Das in diesen Versen tatsächlich Gedachte wird dem Poetischen nicht einfach nur aufgepfropft, sondern geht logisch – ganz im Sinne der von Grünbein veranschlagten „Gedicht-Logik“, die es zu „jeder Logik“ gibt – aus dessen rhetorischer Struktur selbst hervor. Dass Grünbeins poetischem Ich dann nur noch der Leib als letzte Instanz der Gewissheit bleibt, erweist sich als gedicht-logische Konsequenz seiner metaphorischen Selbstprädikation qua Descartes: Denn während das Ich ganz offensichtlich gespalten und seiner selbst ungewiss sein kann, gibt es, was die eigene Körperlichkeit angeht – so zumindest suggeriert dies Grünbeins Text – keinen Zweifel an seiner Gewissheit bzw. Eindeutigkeit, und zwar aufgrund dessen, was mit Bachtin das Gesetz der unhintergehbaren Ortsgebundenheit genannt werden kann, sprich: der konkreten und einmaligen Verortung des Leibes im Raum:20 „Wo ich bin, wird nie ein andrer sein.“ Was mich zum nächsten Grünbein-Text bringt, den ich hier behandeln möchte: Julia Livilla Mein lieber, einzig treuer Freund, es ist soweit. Ich bin, Wie Du vor Jahren schon befürchtet hast, verbannt. Mein neuer Wohnsitz heißt nun Korsika. Das graue Kinn Rom zugewandt, steh ich am schroffen Felsenrand. Verzeih den Stolz, doch ein Exil auf kargen Inseln Ist, wie Du weißt, das Schicksal aller Querulanten – Des Philosophen Ziel. Denn wenn ein Blutgerinnsel Dir deine Sterblichkeit beweist, hast du verstanden: Fortuna läßt nur, was du selbst gewollt, geschehn. Kein Grund zur Klage, schaut man von der üblen Seite Aufs Leben, als es sorglos war, kaum abzusehn. So spielt im Atrium, beschützt, das unbewußte Kind. Auch wenn das einzig Feuchte (nimm das Meer beiseite) Hier weit und breit, das Peinlichste, die Tränen sind –
|| 19 Adorno, Noten zur Literatur, S. 681. Den Begriff der Metapher verwende ich nicht im aristotelischen Sinne als Substitutionstrope, sondern im Sinne Harald Weinrichs als Figur bzw. Struktur semantischer Prädikation. Vgl. Aristoteles, Poetik, 1457b; Harald Weinrich: Semantik der Metapher. In: Folia Linguistica: Acta Societatis Linguisticae Europaeae 1 (1967), S. 3–17, hier S. 15; ders.: Semantik der kühnen Metapher. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37 (1963), H. 28, S. 325–344, hier S. 337. 20 Vgl. Mikhail Bachtin: Работы 1920–х годов [Arbeiten aus den 1920er Jahren]. Hrsg. von D. A. Tatarnikov. Kiev 1994, S. 97f.; Katerina Clark, Michael Holquist: Mikhail Bakhtin. Cambridge 1984, S. 70.
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Du hattest recht mit deiner Warnung. Eine Frau, So schön, so ungewöhnlich, muß Verderben bringen. Doch wenn die Grazie deinen Weg kreuzt, himmelblau Dich Klugheit streift mit manikürten Schwingen, Bist du bereit zu manchem Risiko. Denn so ist Liebe – Sie übersteigt, was immer du an Argumenten hast. Nicht daß ich einsam wär, allein mit meinen Diatriben. Mir scheint nur, Freund, wir hätten zuviel Zeit verpaßt, Indem wir das Intime mieden. Weiß ich, was du weißt? Und weißt du, was ich wirklich denke, wenn der Husten Spätnachts zurückkehrt und mein Schmerz mich beißt? Nennst du das Ehebruch: wir beide taten, was wir mußten.21
Ohne dass ich hier auf alle Details dieses hochkomplexen Gedichts, das ich an anderer Stelle ausführlich erläutert habe, eingehen könnte, sei Folgendes um eines angemessen Verständnisses willen festgehalten:22 Der sich hier aus der Verbannung an einen fernen Freund richtende Philosoph soll kein anderer sein als der stilisierte Stoiker Seneca, der ja bekanntlich wegen einer (niemals nachgewiesenen) außerehelichen Affäre mit Julia Livilla, der Nichte des Kaisers Claudius, tatsächlich zu acht Jahren Exil auf Korsika verurteilt worden war (41– 49 n.Chr.). Indem Grünbein seinen Seneca sich der Worte, Bilder und Themen des historischen Seneca bedienen lässt – von der Anredestruktur und dem anfangs erwähnten „Felsenrand“ (V. 4) und den „kargen Inseln“ (V. 5) über die Behandlung der Topoi des Schicksalswollens und des Exils als „[d]es Philosophen Ziel“ (V. 7) bis hin zum „Husten“ (V. 24) und dem darauf folgenden Schmerz – suggeriert er, dass der Philosoph per impossibile selbst (zu uns) rede.23 Doch kann der Stoiker ganz so wohl kaum gesprochen haben: Steht doch sein von Grünbein inszeniertes Bekenntnis zur Macht der Leidenschaft und der Liebe (auch der außerehelichen), die alles „übersteigt, was [...] du an Argumenten hast“ (V. 20) und derentwegen er gegen den Rat des Freundes „zu manchem || 21 Durs Grünbein: Julia Livilla. In: ders.: Erklärte Nacht. Gedichte. Frankfurt a.M. 2002, S. 70. 22 Vgl. insbes. Michael Eskin: „Bridge to Antiquity“ – Nostalgia, Exile, and Stoicism in the Poetry of Durs Grünbein. In: arcadia 39 (2004), H. 2, S. 356–381, hier S. 367f.; ders., Poetic Affairs, S. 72–87; ders.: „Risse, die durch die Zeiten führen“. Zu Durs Grünbeins Historien. In: Durs Grünbein: Der Misanthrop auf Capri. Frankfurt a.M. 2005, S. 107–121, hier S. 115–119. 23 Beschreibungen der „rauhen“, „felsigen“ und „kargen“ Insel Korsika gepaart mit Überlegungen zum Exil als conditio humana finden sich zum Beispiel in Senecas aus der Verbannung geschriebenem Brief an seine Mutter Helvia (Lucius Annaeus Seneca: Moral Essays. Übers. von John Basore. Bd. 2. Cambridge, Mass. 2001, S. 416–488); sein Atemleiden wiederum, an dem er seit seiner Kindheit litt und dessentwegen er viele Jahre in Ägypten verbrachte, beschreibt der Philosoph detailliert in seinen Briefen an Lucilius (Lucius Annaeus Seneca: Epistles. Übers. von Richard Gummere. 3 Bde. Cambridge 1996). Vgl. hierzu auch die in Anm. 22 angeführten Texte.
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Risiko“ (V. 19) bereit gewesen sei, Senecas tatsächlicher Verurteilung aller Leidenschaft im Namen eines ruhigen, auf Vernunft gründenden Lebens diametral entgegen. Deutlich wird so eine zweite, gänzlich unstoische Stimme im Gedicht hörbar. Der so spricht – das verrät uns Grünbein auf subtile, doch unmissverständliche Weise –, ist einer, dem „ein Blutgerinnsel/ [seine] Sterblichkeit beweist“ (V. 7f.) und der „von der üblen Seite/ Aufs Leben“ (V. 10f.) schaut. Und das ist kein anderer als der Dichter selbst, der in manchem Gedicht „[d]iese Scheiß Sterblichkeit“ besingt und der 1991 in einem Interview Folgendes zu sagen hatte: „Einmal fragte mich ein Amerikaner, als ich ihm sagte, ich käme aus Berlin: ‚Free side or bad side?‘ Seither weiß ich, daß alles, was ich bisher getrieben habe, Poetry from the bad side ist“24 – Von der üblen Seite, so auch der Titel eines der Gedichtbände Grünbeins. Im Zuge seiner metaphorischen Gleichsetzung von Senecas Verbannungsort mit der DDR (beides Satelliten zweier Imperien), verwischt Grünbein die Bedeutungsgrenze zwischen dem insularen Exil-Gefängnis des Philosophen und seinem eigenen einstmaligen ‚Gefängnis‘ „im Schatten der [...] Mauer“, und folglich auch die personale Grenze zwischen Seneca und sich selbst. Diese Selbstidentifikation des Dichters mit dem Philosophen kulminiert im finalen Rekurs auf Senecas Atemleiden: Verbirgt sich doch hinter dem schmerzvollen Husten des Philosophen kein anderer als Grünbein selbst, der die Sprache – mithin das poetische Sprechen – in einem seiner frühen Texte programmatisch als „Rache des Fleischs// Durch den Kehlkopf“, somit als eine Art „Husten“, bestimmt.25 Im dichterischen „Husten“ Grünbeins wird der antike Philosoph leibhaftig gegenwärtig; umgekehrt ermöglicht es die Metapher des Hustens dem Dichter, sich ganz körperlich in den Philosophen zu imaginieren. Auch hier also wieder – ebenso wie im oben zitierten Exzerpt aus Vom Schnee – eine Identitätsscharade, die über den Körper läuft – nur das in Julia Livilla das poetische Durchdenken der Konstitution des Ichs zugunsten einer emphatischen Ausleuchtung des Problems seiner leibhaftigen Verortung im Raum in den Hintergrund tritt. Denn während Grünbeins Vexierspiel mit dem Subjekt sich in Julia Livilla relativ verdeckt hält und seine Geheimnisse erst nach eingehender Recherche und langwieriger Interpretationsarbeit preisgibt, wird der Leser regelrecht überhäuft mit der Nennung ortsrelevanter Lexeme und Phrasen: „verbannt“ (V. 2), „Mein neuer Wohnsitz heißt nun Korsika“ (V. 3),
|| 24 „Poetry from the bad side“: Gespräch mit Thomas Neumann. In: Sprache im technischen Zeitalter (1992), H. 124, S. 442–449, hier S. 449. 25 Durs Grünbein: Ultra Null. In: ders.: Schädelbasislektion. Gedichte. Frankfurt a.M. 1991, S. 139.
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„Rom zugewandt, steh ich am [...] Felsenrand“ (V. 4), „Exil auf kargen Inseln“ (V. 5), „von der üblen Seite“ (V. 10), „im Atrium“ (V. 12), „(nimm das Meer beiseite)/ Hier weit und breit“ (V. 13f.). Beinahe scheint es, als wolle der Dichter sichergehen, dass der Leser auch ja nicht vergesse, dass jede Erfahrung, jedes Denken und Fühlen, jede Überlegung und Spekulation – seien sie politischer, epistemologischer oder (wie in Julia Livilla vor allem) ethischer Natur – notwendigerweise immer schon in konkreten Räumen und Orten verwurzelt sein müssen. Der „engste Raum“, in dem der Sprecher von Vom Schnee „nicht kleinzukriegen“ war, hat sich in Julia Livilla zu einer Landkarte ausgeweitet, zu einem Ortsnetz, in dem der Sprecher nolens volens von Kindheit an hängt. Wie Brodsky einmal sagte, wir sind immer schon „Opfer der Geographie“.26 Im zentralen Bild des unbewusst im Atrium spielenden Kindes (V. 12) verdichtet sich die im Gedicht inszenierte poetische Reflexion zu einer sinnfälligen Umkehrung jener „Revolution“ im Denken der Moderne, die Kant u.a. in seiner Neukonzipierung des Raumes als einer „subjektive[n] Bedingung“ der Möglichkeit von „Sinnlichkeit“ und „Erfahrung“, ohne die es keine „Verstandesbegriffe“ und somit auch kein Denken geben könne, herbeigeführt zu haben wähnte.27 Mittels des eindeutig situierten, selbstvergessen spielenden Kindes, das innerhalb einer klar benannten, konkret objektiven Räumlichkeit überhaupt erst zu Bewusstsein gelangen wird, wird jeglichem Idealismus im Denken eine radikale Absage erteilt im Namen dessen, was Grünbein programmatisch „anthropologischen Realismus“ nennt:28 Wir sind auf Gedeih und Verderb den sich ständig verändernden Bedingungen unserer (Um-)Welt ausgeliefert, was natürlich nicht heißen soll, dass wir sie nicht mitbestimmen oder mitgestalten können. Unsere Existenz ist fundamental von dem Faktum bestimmt, dass wir immer schon irgendwo sind. „Um Opfer zu werden, muss man nur dort sein, wo das Verbrechen begangen wird – so einfach ist es“, schreibt Brodsky.29 In einem doppelten Sinn also inszeniert Julia Livilla Grünbeins Bestimmung des Gedichts als „Korridor, durch den das Denken [...] zurückschleicht zum Ort des Verbrechens, der Reue, des Begehrens, der Angst und Bewunderung, der ersten und letzten Sensation.“30 Einerseits thematisch, indem es seinen Protagonisten ethisch reflektierend den Weg zum faktischen Ursprung seiner gegenwärtigen Lage zurückgehen lässt, andererseits metaphorisch, indem es sinnfäl|| 26 Joseph Brodsky: Less Than One: Selected Essays. New York 1986, S. 443. 27 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. 2 Bde. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M., Bd. I, S. 28, S. 30, S. 49, S. 75. 28 Grünbein, Den Körper zerbrechen, S. 83. 29 Joseph Brodsky: On Grief and Reason: Selected Essays. New York 1995, S. 129. 30 Grünbein u.a., Schweizer Korrektur, S. 44.
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lig unsere unhintergehbare, präreflexive Verhaftetheit in unserem jeweiligen Hier in seiner Bildlichkeit denkend einholt. Zum Abschluss möchte ich mein Augenmerk noch kurz auf Aporie Augustinus (Über die Zeit) richten, das sich, wie der Titel schon sagt, dem poetischen Durchdenken der Frage nach der Zeit widmet – der Frage also nach der, Kant zufolge, den Raum komplementierenden, zweiten subjektiven „Bedingung a priori“31 aller Erfahrung und allen Denkens und einer der zentralen, die beiden bereits untersuchten Texte implizit beschäftigenden Fragen der Grünbein’schen Poetik, insofern sie dezidiert das Erlebnis der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“32 im „Stimmengewirr vieler Zeiten“33 einzuholen und zu artikulieren sucht. Wie dem in der abendländischen Denktradition bewanderten Leser sogleich auffallen mag, entfaltet sich dieses Gedicht, in dem ein stilisierter Augustinus sich an seinen langjährigen Freund Alypius wendet, z.T. wörtlich am Text des elften, sich mit der Erfahrung und dem Wesen der Zeit beschäftigenden Buches der Bekenntnisse des Augustinus entlang:34
Aporie Augustinus (Über die Zeit) Die brennende Hornhaut im Salzschaum, Im Tuffstein die Augenhöhlen, Alypius, Das Meer das dein Wort schluckt – Nichts was du kennst, ist die Zeit. Die Wölbung des Himmels, den Schädel Umfassend, die Hände in Hohlform Über der kreisenden Töpferscheibe35 – Nichts was du siehst, ist die Zeit.
|| 31 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. I, S. 81. 32 Durs Grünbein; Heinz-Norbert Jocks: Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. Köln 2001, S. 45. 33 Grünbein, Mein babylonisches Hirn, S. 21. 34 Alle im Folgenden angeführten Passagen aus dem elften Buch der Bekenntnisse des Augustinus werden zitiert nach: Augustinus: Confessions. 2 Bde. Übers. von William Watts. Cambridge 2000, Bd. 2, S. 208–285 (mit Kapitelangabe). Bekanntlich war Alypius ein enger Freund und Zeuge des Bekehrungserlebnisses Augustinus’ in Mailand. Beide wurden am 24. April 387 von Bischof Ambrosius getauft und beide brachten es zum Bischof: Alypius in Thagaste, Augustinus in Hippo. Vgl. auch Augustinus’ Briefe an Alypius in: Augustinus: Select Letters. Übers. von James Houston Baxter. London 1930, S. 68–91, S. 135–145. 35 „[...] moveretur rota figuli [...]“ (Kap. 23).
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Die Stimmen längst Toter, im Herdloch Das Rascheln der Knöchel, Alypius, In den Schläfen dein Blut – Nichts was du hörst, ist die Zeit. Nichts was du fassen kannst, ist sie. Kein Brusthaar, Das nach dem Baden gezupft wird, und keine Tafel, Die in den Stadien die Runden anzeigt beim Wagenrennen. Weder die Greisenstirn noch die rosa Fingerbeeren des Kindes.36 Nichts was sich messen läßt, ist die Zeit.37 Weder der Staub Im Tiegel der Goldwaage noch der gestiegene Kaufpreis für Fische. Auch nicht der wandernde Schatten am Gnomon Oder die Zahl der Regierungen in einem Leben, der Kriege. Nichts was sich regt, ist die Zeit. (Vergiß den Skorpion …). Doch auch kein Sternbild, nach dem sich die Seeleute richten. Keine der Routen nach Troja38, kein Heimweg von dort Durch Familien und Länder ans bittere Ende – Erinnerung. Keine der Krankheiten ist sie, nichts was zerstört. Sie ist kein Gigant, der die Steine zermalmt in der Brandung, Keiner der Erdrutsche, Wirbelstürme, keiner der Götter. Noch das Gestöhn der Helden in den welken Ohren Homers. Gestern habe ich angefangen mir zuzuhören, Alypius. Aus jedem Satz sprang ein Wort, das mich älter zurückließ. Irgendein Bald, ein Nicht mehr, ein Von altersher. Als wäre da immer nur Richtung im Sprechen, kein Stillstand. Da war dieses Noch … Dieses Schon … Dieses Einst … Und nichts davon ist die Zeit. Was aber ist sie? 39
|| 36 „[…] pueritia quippe mea, quae iam non est, in tempore praeterito est, quod iam non est;“ (Kap. 18) 37 „[…] in quo ergo spatio metimur tempus praeteriens? utrum in futuro, unde praeterit? sed quod nondum est, non metimur. an in praesenti, qua praeterit? sed nullum spatium non metimur. an in praeterito quo praeterit? Sed quod iam non est, non metimur.“ (Kap. 21) Augustinus setzt sich eindeutig ab von der aristotelischen Konzeption der Zeit als „Maß bzw. Dimension der Bewegung im Hinblick auf ein Vorher und ein Nachher“ (vgl. Aristoteles: Physics. 2 Bde, Übers. von P. H. Wicksteed und F. M. Cornford. Cambridge 2005, 219b; Martin Heidegger: Was heißt Denken? Stuttgart 1992, S. 61f.). 38 „sed unde et qua et quo praeterit cum metitur?“ (Kap. 21) 39 „[…] quid est enim tempus? […] quid est ergo tempus?“ (Kap. 14)
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Die kleine Enttäuschung, wenn ein Kind sich davonstiehlt, Weil es weitersieht als Dein zweifelndes Wort? Ein Gedicht aus den Tagen des Plinius, in falschen Metren, Das vom Verliebtsein handelt, und die zwei sind längst tot, Und es kommt dennoch ein Lied an, ein Herzton, ein Schauder? Ist sie das Wiedersehn, wenn der Pfirsich erkannt wird, Weil es das Wissen vom Pfirsichkern gibt? Ist sie der Fluch, Der auf allem, was schlachtet und Dämme baut, liegt? Ist sie der stetige Herzschlag, der sich in Sicherheit wiegt: Daß jemand lacht und weiß nichts vom Treppensturz morgen? Daß wir uns selbst kaum kennen, den Blick zur Erde gerichtet, Über uns Sirius, im Rücken Ödipus … ist sie das? Ist sie die Maus, die im Kornspeicher raschelt, das Rieseln, Wenn durch ein ganz kleines Loch die üppige Ernte, Die Arbeit so vieler Wochen, verschwindet? Ist sie ein Kind, ahnungslos, das mit Glimmstäbchen spielend Bibliotheken in Brand setzt,40 und Tempel, und Gärten? Ein Kind, das noch nie was gehört hat von Herostrat … Ist sie die Panik, die zu erwachen scheint überall, Seit der Große Pan tot ist, das Scheusal, der stinkende Tiergott. Seit er die Landschaften räumte wie Städte nach einer Epidemie, Grund, daß sich jeder beeilt mit dem Sterben, die Paare Wie gehetzt kopulieren und alles beschleunigt geht und ins Leere? Fragen, Alypius, die ich mir selbst oft gestellt hab, Betäubt von Veränderung, seekrank vom dauernden Wechsel. Ach, und wenn ich der Mutter zusah beim Beten, befremdet. Drei Arten Gegenwart sind in dir aufgespart. Die eine heißt Gestern, die andere Heute und Morgen die dritte. Sie alle sind rege in dir, nur in dir, nirgendwo sonst.41
|| 40 „Exarsit animus meus [...]“ (Kap. 22). 41 „[…] dies tuus non cotidie, sed hodie, quia hodiernus tuus non cedit crastino; neque enim succedit hersterno.“ (Kap. 13); „[…] nec futura sunt nec praeterita […] tempora sunt tria, praeteritum, praesens et futurum, sed fortasse proprie diceretur: tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. sunt enim haec in anima tria quaedam, et alibi ea non video: praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris expectatio. si haec permittimur dicere, tria tempora video […] praeteritum, praesens, et futurum, sicut abutitur consuetudo;“ (Kap. 20)
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Und laß dich nicht täuschen von sterblichen Astrologen. Daß die Zeit nur Bewegung sei, sichtbar am Himmel. Was messen sie, wenn sie die Phasen des Mondes vermessen?42 Oder Gedichte mit wechselndem Versfuß, zum Beispiel Horaz. Zwischen ‚Lydia, schläfst du?‘ und ‚… Erz überdauernd‘43 Eilt sein Vers hin und her, die geschäftige Zunge – Zwischen Schamhaar und Ewigkeit. Einmal kurz, einmal lang sind die Silben, und der sie spricht, Dehnt die Zeit und wird selbst gedehnt, rafft sie und wird gerafft.44 Oder der Mörder, todgeweiht längst bevor ihn die Strafe ereilt – An jedem Grenzstein schätzt er den Weg ab zum Tatort. Terminus wird ihm zum Quälgeist. Er läuft im Kreis. Denn wie sonst soll er laufen, wenn Schuld immer vorn liegt? In jede Richtung reicht Raum, aber Zeit ist die Klammer, Die nach vorn spannt die Stirnen, die Deichseln und jedes Lied, Das in Strophen zerfällt wie ein Menschenleben in Anekdoten.
|| 42 „Audir a quodam homini docto, quod solis et lunae ac siderum motus ipsa sint tempora […]“ (Kap. 23). 43 Vgl. Horaz: Odes and Epodes. Übers. von C. E. Bennet. Cambridge 1999, Buch I, 25 („Lydia, dormis?“), Buch III, 30 („aere perennius“). 44 „[…] aut cum haec diceremus, non et nos in tempore loqueremur, aut essent in verbis nostris aliae longae syllabae, aliae breves, nisis quia illae longiore tempore sonuissent, istae breviore?“ (Kap. 23). „ipsum ergo tempus unde metior? an tempore breviore metimur longius […]? sic enim videmus spatio brevis syllabae metiri spatium longae syllabae atque id duplum dicere. ita metimur spatia carminum spatiis versuum, et spatia versuum spatiis pedum, et spatia pedum spatiis syllabarum, et spatia longarum spatiis brevium: non in paginis – nam eo modo loca metimur, non tempora – sed cum voces pronuntiando transeunt, et dicimus: longum carmen est, nam tot versibus contexitur; longi versus, nam tot pedibus constant; […] ‚longa syllaba est, nam dupla est ad brevem.‘ sed neque ita comprehenditur certa mensura temporis, quandoquidem fieri potest, ut ampliore spatio temporis personet versus brevior, si productius pronuntietur, quam longior, si correptius. ita carmen, ita pes, ita syllaba. inde mihi visum est nihil esse aliud tempus quam distentionem: sed cuius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi.“ (Kap. 26). „[…] sicut nota cantantis notumve canticum audientis expectatione vocum futurarum et memoria praeteritarum variatur affectus sensusque distenditur […]“ (Kap. 31).
158 | Michael Eskin Augenschein erst, bald schon Erinnern, genährt von Erwartung:45 So hält uns hin, was sich Zeit nennt. Seltsam, Alypius, Wenn niemand fragt, weiß ich genau, was es ist. Aber fragst du, Fällt mir nur Unsinn ein. Zeit, eine Krankheit zum Tode. Oder im leeren Amphitheater ein stummer Chor Mit den Mundhöhlen schwarz vor Empörung und Schmerz. Sind hundert Jahre Gegenwart eine lange Zeit?46 Schläfrig bin ich, Alypius. Was hast du gesagt? Zeit ist das Seil, das ein Esel frißt und herausscheißt, verknotet? Und der Esel gehört einem Mann, der die Knoten löst Und dem Tier von neuem das Seil hinhält, mangels Futter. Und der Esel macht statt zu rülpsen den Laut, Den nur Esel beherrschen, vollendet. Zeit ist kein Rätsel, Alypius. Vergiß es.47
Ein weiteres Mal sind wir Zeugen einer konkreten Situation, in der ein lyrischer Sprecher im Akt des Denkens vorgeführt wird. In einer Kette von elaborierten Metaphern – die als Musterbeispiel für Potebnjas Definition der Kunst als „Denken in Bildern“ fungieren kann – versucht der stilisierte Augustinus sich darüber klar zu werden, was die Zeit sei, ohne jedoch zu einem eindeutigen Ergebnis zu gelangen: Wissen wir doch am Ende immer noch nicht, was die Zeit denn nun ist. Was auch diesen, durchgehend in Bildern denkenden Text zu einem exemplarischen Denkbild in dem von mir verwandten Sinne macht, ist nicht so sehr seine thematisch-metaphorische Auseinandersetzung mit der philosophischen Frage nach der Zeit, sondern die Tatsache, das er es in seinem poetischen Denken schafft, die histoire-und discours-Ebenen derart engzuführen bzw. in eins zu bringen, dass das, was in der Reflexion unbeantwortbar zu bleiben scheint,
|| 45 „Sed quomodo minuitur aut consumitur futurum, quod nondum est, aut quomodo crescit praeteritum, quod iam non est, nisi quia in animo, qui illud agit, tria sunt? nam et expectat et adtendit et meminit, ut id quod expectat per id quod adtendit transeat in id quod meminerit. quis igitur negat futura nondum esse? sed tamen iam est in animo expectatio futurorum. et quis negat praeterita iam non esse? sed tamen est adhuc in animo memoria praeteritorum. et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? sed tamen perdurat attentio, per quam pergat abesse quod aderit.“ (Kap. 28) 46 „praeteritum tempus longum, verbi gratia, vocamus ante centum annos, futurum itidem longum post centum annos […] an centum anni praesentes longum tempus est?“ (Kap. 15) 47 Durs Grünbein: Aporie Augustinus (Über die Zeit). In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 33–36.
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nämlich was Zeit sei, sich in der Zeitstruktur dichterischen Sprechens selbst als immer schon beantwortet offenbart. Auch hier also – ebenso wie in Vom Schnee – erweist sich die ‚Denkaussage‘ des Gedichts als gedicht-logische Konsequenz der Textstruktur selbst: Denn wenn der stilisierte Augustinus – seinen historischen Vorgänger zitierend – in Vers 74f. schreibt: Einmal kurz, einmal lang sind die Silben, und der sie spricht, Dehnt die Zeit und wird selbst gedehnt, rafft sie und wird gerafft
dann inszeniert er genau das, wessen er dem Was der Zeit nachdenkend nicht habhaft werden kann, und lässt uns körperlich spüren, wie Zeit sich konkret anfühlt. Indem wir diese Verse (und implizit Dichtung im Allgemeinen) lesen, werden wir Zeit schon immer gelebt und auch zutiefst – poetisch mitdenkend – ‚verstanden‘ haben. Das im Text Gedachte wird erst im Textbild selbst einsichtig.
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Urs Büttner
Erkenntnisse des Schnees Grünbeins cartesische Anthropologie und Ästhetik Seit Mitte der 1990er-Jahre ist in Durs Grünbeins Poetik eine Abwendung vom Prinzip des Physischen und eine Hinwendung zum Metaphysischen zu bemerken. Nicht mehr die Naturwissenschaft, sondern die Philosophie stellt zunehmend die Bezugsdisziplin seines Dichtens dar. Grünbeins intensivere Beschäftigung mit Descartes macht diese Entwicklung deutlich.1 Descartes hat zunächst nur ‚Gastauftritte‘ in einzelnen Gedichten, 2003 dann wird er zur Hauptfigur in Vom Schnee oder Descartes in Deutschland, danach entwickeln verschiedene Gedichte und poetologische Äußerungen bestimmte Aspekte des Langgedichts weiter, nehmen Umakzentuierungen vor und tragen Ergänzungen bei.2 Mit der neueren Descartes-Forschung teilt Grünbein dabei das Interesse, Korrekturen am Bild des Rationalisten vorzunehmen und in dem französischen Philosophen einen frühen Ästhetiker sehen zu wollen.3 Es ist Grünbein aber weniger darum zu tun, Descartes’ Lehre in ihrem philosophiehistorischen Kontext akkurat zu rekonstruieren, als vielmehr ein Spiel mit Versatzstücken des Lebens und Denkens des Barockphilosophen zu treiben und sie zu überformen. Grünbein steht dabei deutlich in der phänomenologischen Tradition, die ihre Erkenntnistheorie vielfach in Auseinandersetzung mit Descartes formuliert hat.4 Husserl, Heideg|| 1 Vgl. Alexander Regier: Philosophy and Poetry in Durs Grünbein’s Prose. In: Durs Grünbein. A Companion. Hrsg. von Michael Eskin u.a. Berlin, Boston 2013, S. 95–117. 2 Zu dem Themenkomplex gehören Durs Grünbein: Schädelbasislektion. Gedichte. Frankfurt a.M. 1991, S. 16–20 (Posthume Innenstimmen), S. 91 (Der Cartesische Hund); Durs Grünbein: Falten und Fallen. Gedichte. Frankfurt a.M. 1994, S. 78f. (Meditation nach Descartes); Durs Grünbein: Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. Frankfurt a.M. 2003 (im Folgenden zitiert mit der Sigle VS und Angabe der Seitenzahl im Text); Durs Grünbein: Vom Schnee. Vorrede, Vorstudien, Nachträge. In: Sinn und Form 65 (2004), H. 1, S. 100–107; Durs Grünbein: Der cartesische Taucher. Drei Meditationen. Frankfurt a.M. 2008 (im Folgenden zitiert mit der Sigle CT und Angabe der Seitenzahl im Text); Durs Grünbein: Adresse an Carel Fabritius, Fröhliche Eiszeit, Stockholm – Ein Abschiedsblick. In: Zeitschrift für Germanistik 21 (2011), H. 2, S. 240, 259–262, 335f.; Durs Grünbein: Koloß im Nebel. Gedichte. Berlin 2012, S. 202–206 (Die weiße Schürze); Durs Grünbein, Michael Eskin: Tauchen mit Descartes. In: Sinn und Form 64 (2011), H. 3, S. 389–402. 3 Vgl. Claus Zittel: Theatrum philosophicum: Descartes und die Rolle ästhetischer Formen in der Wissenschaft. Berlin 2009. 4 Die Bedeutung der Phänomenologie für seine Dichtkunst erwähnt Grünbein in einem Interview. Vgl. Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. Köln 2001, S. 10.
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ger und Merleau-Ponty überbietet Grünbein aber darin, dass er Descartes nicht hochachtungsvoll kritisiert, sondern einen anderen Descartes entdeckt zu haben glaubt, dem er seine eigenen Vorstellungen unterschiebt. Als Dichter entwickelt er kein sauber in Paragraphen geordnetes System, von daher stellt eine Strukturierung seiner Poetik entlang cartesischer Denkfiguren notwendig eine Interpretation dar. Die Forschung hat sich bereits ausführlich mit Grünbeins Beschäftigung mit Descartes befasst. Dagegen hat dessen Widerpart, der Schnee, bisher wenig Aufmerksamkeit gefunden.5 Schuld daran ist zum Teil sicherlich die Kontinuität, mit der Grünbeins Interesse an Descartes festhält, während dasjenige am Schnee recht plötzlich einsetzt und langsam wieder schmilzt. In den früheren Gedichtbänden jedenfalls schneit es nur sehr vereinzelt, in dem Langgedicht dann spielt der Schnee überraschend die zweite ‚Hauptrolle‘, noch der Züricher Poetikvorlesung von 2006 gibt er den Titel Fröhliche Eiszeit, ihre Endgestalt erscheint aber zwei Jahre später als Der cartesische Taucher. Die neueste Dichtung bleibt schneefrei. Wie kommt das? In Vom Schnee unternimmt Grünbein den ersten umfassenden Versuch, die Grundthemen seines früheren Schaffens in einem metaphysischen Horizont zu reformulieren. Der Schnee bildet dabei die materielle Voraussetzung für die Einsichten zur Anthropologie und Ästhetik, die Grünbein seinen Descartes machen lässt. Schnee eröffnet in seinen vielfältigen Erscheinungsformen Möglichkeiten für eine Fülle sinnlicher Erfahrungen. Diese Erfahrungen können solche Intensität gewinnen, dass sie Körper und Geist dabei an ihre Grenzen treiben. Wo Schnee als hinderlich, widerständig und sinnabweisend erfahren wird, lässt er diese Grenzen selbst erkennen. Der eine Teil meiner
|| 5 Vgl. die punktuellen Einlassungen bei Wilhelm Große: Descartes/Grünbein oder Das Dreieck aus Philosophie, naturwissenschaftlichem Denken und Literaturpoesie. Anmerkungen zu Durs Grünbeins Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. In: Literatur im Unterricht. Texte der Gegenwartsliteratur für die Schule 6 (2005), H. 3, S. 219–227, hier S. 223ff.; Bernadette Malinowski; Gert-Ludwig Ingold: „... im andern dupliziert“. Zur Rezeption cartesischer Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft in Durs Grünbeins Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 271–306, hier S. 292–298; Carlos Spoerhase: Über die Grenzen der Geschichtslyrik. Historischer Anachronismus und ästhetische Anachronie in Durs Grünbeins Werk, am Beispiel seiner Arbeiten über Descartes. In: Zeitschrift für Germanistik 21 (2011), H. 2, S. 263–283, hier S. 264 und 278f.; Tanja van Hoorn: Keine Tiergeister im Schnee. Grünbeins Descartes-Ideen. In: Zeitschrift für Germanistik 21 (2011), H. 2, S. 284–295, hier S. 288f.; Ramona Weiershausen: Strategien der Vergegenwärtigung. Das Paradigma der ‚Spur‘, am Beispiel von Durs Grünbeins Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. In: Zeitschrift für Germanistik 21 (2011), H. 2, S. 296–307, hier S. 304.
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Untersuchung vollzieht nach, wie Vom Schnee diese Grenzwerte erkundet. Der andere Teil widmet sich Grünbeins Poetikvorlesung Der cartesische Taucher. Anthropologie und Ästhetik, denen Grünbein sich im Langgedicht ex negativo angenähert hat, versucht er in der Poetikvorlesung eine positive Fassung zu geben. Seine poetologische Reflexion, so wird zu zeigen sein, stellt aber keine bloße Erläuterung des Gedichts dar, sondern verschiebt thematische Akzente und geht oftmals über die Erkenntnisse der Lyrik hinaus. Lyrik und Prosa verhalten sich mithin in mehrfacher Hinsicht komplementär zueinander. In dem Maße, in dem die Neugestaltung der Poetik ihre Form gewinnt, gelingt es ihr, den Schnee immer besser und zuletzt gänzlich zu bewältigen. Dadurch verliert der Schnee für Grünbein allmählich seinen epistemischen Reiz.
Vom Schnee oder Descartes in Deutschland Im Winter des Jahres 1619/20 herrscht bittere Kälte, Mitteleuropa liegt unter einer dicken Schneedecke, der Dreißigjährige Krieg pausiert und der Soldat Descartes und sein Diener Gillot befinden sich im Winterlager in der Nähe von Ulm. Es handelt sich um jenen Winter, in dem Descartes zu seiner grundlegenden Einsicht gelangen wird. In seinem Gedichtzyklus Vom Schnee oder Descartes in Deutschland sucht Grünbein die beiden dort auf und zeichnet Descartes’ mühsamen Erkenntnisweg nach. Zu Beginn gibt es noch „[k]ein Cogito, kein ergo und kein sum.“ (VS 58) Descartes erwacht an einem Wintermorgen und öffnet seine Augen: […] und aus den Augen wächst die Welt. Sie geht dem Sehstrahl auf den Leim und folgt dem Bild, Das längst bereit liegt hier und sie auf Abstand hält. Imaginiert, ist sie der Brei, der zum Phantasma quillt. Im Brennpunkt sammelt sich, was dem Betrachter paßt, Was auf dem Blickfeld bleibt vom Fechtkampf mit dem Licht: Bald schon Tableau – in Öl ein Tafelbild, noch naß. (VS 58f.)
Historisch korrekt schildert Grünbein den Sehakt gemäß den Vorstellungen der frühneuzeitlichen Erkenntnistheorie. Bemerkenswert ist dabei, dass er das lebensweltliche Sehen so deutlich mit der Darstellungsweise der Malerei parallelisiert. Die Schneewelt draußen schafft ungewöhnlich starke, bereits künstlich wirkende Farbkontraste. So begeistert sich Descartes einmal mit Blick in die Landschaft draußen für deren ‚glühendes Eis‘ und deren ‚flambierte[n] Schnee‘, worauf Gillot nachfragt: „Was soll das sein – flambierter Schnee?“ (VS 41)
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Descartes antwortet ihm bezeichnenderweise mit dem Hinweis auf gemalte ‚Vorbilder‘: ‚Man sieht ihn manchmal auf Gemälden. Flammend kocht Dir vorm Gesicht ein Wintertag. Das tut so höllisch weh, Daß du die Augen schließt. Fast brennt das Weiß ein Loch, Ins Leinwandblau, so intensiv glühn Schnee und Eis. [...]‘ (VS 41)
Umgekehrt verleiht der einheitliche Weißhintergrund den einzelnen Menschen etwas Typenhaftes. Im hohen Schnee wird alles Bild. Als Winterlandschaft Gerahmt, kehrt jede Szene wieder, die einst war. Wie im Museum schließt das Auge schnell Bekanntschaft Mit den Figuren, die in Öl – im Schnee – posieren. (VS 40)
Ausgehend von der lebensweltlichen Bildlichkeit vollzieht Grünbeins Gedicht Descartes’ Erkenntniswege und -irrwege nach. Das Verfahren ähnelt dabei dem der phänomenologischen Einklammerung der natürlichen Einstellung. Descartes grundlegende Einsicht des ‚Cogito ergo sum‘ bedingt zwei komplementäre Ergänzungen. Die res cogitans unterscheidet sich von der res extensa. Das sum etabliert die Unterscheidung zwischen dem Selbstbezug eines Für-sich und der Fremdzurechnung als An-sich. Beide Unterscheidungen sind unabhängig voneinander und liegen quer zueinander. Am Schnee exerziert Grünbeins Gedicht alle möglichen Konzeptionen durch, die sich aus den vier möglichen Paarungen ergeben. Dabei führt das Gedicht jeweils vor, wie jeder der Grenzwerte erst mühsam seiner Gegenunterscheidung abgerungen werden muss. Zunächst werde ich zeigen, wie der Schnee die Vorstellung einer wesenseigenen geometrischen Ordnung der res extensa begünstigt. Anschließend wende ich mich dem komplementären Fall zu, der Abkehr von der Wahrnehmung aufgrund der Sinnesüberreizung durch den Schnee und dem Rückzug des reinen ,Ich‘ auf sich selbst. Danach führe ich vor, wie Grünbeins Gedicht diese beiden Positionen im Angesicht des winterlichen Naturlaufs wieder dekonstruiert. Descartes kommen Zweifel, ob es sich bei dem Anschein einer geometrischen Ordnung der res extensa nicht bloß um eine subjektive Projektion von Zweckmäßigkeit handelt. Und umgekehrt fragt er sich, ob die Subjektivität der res cogitans sich nicht im Sinne eines Epiphänomenalismus materialistisch auf ein Naturgeschehen reduzieren lässt. Dass es die Welt der res extensa bewusstseinsunabhängig an-sich gibt, soll durch den Nachweis ihrer Ordnung demonstriert werden. Das „Hexagon des Eiskristalls“ (VS 17) stellt in diesem Sinne den geometrischen Bau der Schöp-
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fung in seinen kleinsten Teilen par excellence dar. Aber auch im Großen hilft der Schnee, von der Buntheit der Erscheinungen abzusehen, und zeigt den reinen, überzeitlichen Raum. Für diese Sichtweise steht Gillots6 Weckruf im ersten Canto. Sehr Ihr, es tagt. Spurlose Frühe, geometrisch klar. Kühl wie am Morgen nach der Schöpfung, formenstreng, Zeigt sich die Erde nun, berechenbar. [...] Besänftigt lädt, was irgend denkbar ist, zum Studium ein. Schnee hat den Bann gebrochen. Das Diktat der Zeit – Habt Ihr bemerkt, ist aufgehoben. Unter frischen Wehen Kroch eine Gleichung in die Hügel. Rein als Raum, Dreht sich die Landschaft auf den Rücken wie im Traum. (VS 13)
Für den erkenntnistheoretischen Nutzen der Schneelandschaft wirbt Gillot eindringlich: Schnee abstrahiert. Nehmt an, er hat das Bett gemacht Für die Vernunft. Er hat die Wege eingeschläfert, Auf denen der Gedankengang sich sonst verirrte. […] Vom Frost geputzt der Zeichentisch – ein idealer Boden Für den Discours, Monsieur. Allez! Für die Methode. (VS 14f.)
Den Lobpreis der verschneiten Landschaft draußen in der anfänglichen Weckszene amplifiziert Gillot, wenn er sie metaphorisch bis in Descartes’ Bett verfolgt: Wacht auf, Monsieur. Auch wenn es scheint, ein Federbett Sei wie die Wunderwelt dort draußen – nur im Kleinen. Zum Greifen nah, leicht überschaubar. Eine Projektion Im Maßstab Eins zu Tausend, nimmt man die Region, In der Euch Winter traf und einspann wie die Raupe. Heraus aus dem Kokon! Kommt, werft die Decken ab, Wenn auch ihr Faltenwurf an Berg und Tal erinnert – Dazwischen Gänsepfade, überm Knie ein ferner Hügel …(VS 13)
|| 6 Ausgeblendet bleibt hier die Doppelbödigkeit, mit der Grünbeins Text die Figur Gillots unterlegt. Verschiedentlich, am deutlichsten VS 73, behauptet Descartes, den ganzen Winter über allein gewesen zu sein. Wenn das stimmt, dann wäre Gillot als die Personifikation der Sicht der res extensa zu deuten, wäre also nur eine Imagination in Descartes’ Cogito – dadurch allerdings wäre die Unterscheidung von res extensa und res cogitans selbst unterlaufen. – Vgl. dazu Michael Eskin: Wake-up Call. Durs Grünbein with Rilke, Descartes, and Pushkin. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 41 (2009), S. 190–217, hier S. 214f.
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Gillot gelingt es zwar seinen Herrn zu wecken, doch Descartes überzeugen kann er nicht. Mit Descartes setzt Grünbeins Text eine andere Perspektive auf den Schnee dagegen. Der Schnee kann nämlich auch für das reine Nichts stehen, dessen grenzenlose Weiße die Wahrnehmung in das Raum- und Zeitlose leerlaufen lässt. Wenn das Weiß die Außenwelt auslöscht, arbeitet es dem Rückzug des Denkens auf sich selber vor, bahnt mithin den Weg zum Selbstbezug des reinen Cogito. Man kann diesen Weg am Text nur indirekt nachvollziehen, nämlich als Abkehr von der Wahrnehmung überhaupt. Descartes erklärt seinem Diener, unter Schnee werde „die ganze Welt ein blinder Fleck“ (VS 16). Deshalb sei der Schnee keineswegs in seiner sinnlichen Erscheinung erkenntnisförderlich. „Merk dir, Gillot: nichts stört so sehr beim Meditieren/ Wie Helligkeit, die ungebrochen in die Augen sticht.“ (VS 16) Descartes bleibt folglich lieber drinnen und greift ironisch Gillots Metapher auf: „Mein Ort, die Wiege der Erkenntnis, ist das Bett,/ Die Miniatur der Welt da draußen.“ (VS 18) Ironisch deshalb, weil die Metapher zum bloßen Zitat verkommt und er keinen epistemologischen Gewinn aus ihr schlägt, sondern vielmehr seinem Diener erklärt: „Entweder suchst du hier die Wahrheit, hier im Innern./ Oder du folgst dem Augenschein – und wer du bist,/ Bleibt unbestimmt wie das Ensemblespiel der Sinne.“ (VS 18) – In einem späteren Vers pointiert Descartes noch einmal die Gewissheit des Solipsismus des reinen Cogito, dessen Komplement, das andere ,Ich‘ oder das Wetter, die Kontingenz der Welt darstellt: ‚Kein Mensch weiß, was der andre denkt. Von wegen, Freund und Feind und Mensch und Wolf: was wahr, Was falsch ist, wird als Einsicht uns im Traum geschenkt. Man schließt die Augen, und die Welt scheint sehr bizarr. Ein weites Feld … von Gut und Böse gleich bestellt. Doch kein Mensch weiß, wann Schnee, wann Regen fällt.‘ (VS 45)
Das Ensemblespiel der Sinne droht das reine Cogito stets durch die Eindrücke der Außenwelt zu täuschen. Der gleißende Schnee überreizt leicht die Sinne und befeuert die Einbildungskraft, die Leere der Wahrnehmung zu kompensieren. Grünbeins Text vollzieht diese Wendung zum Widersinn, indem er nun verstärkt darauf setzt, Paradoxien und Aporien im Sprach- und Bildgebrauch des Schnees hervorzutreiben. Gegen Winterende gibt es eine weitere Weckszene, dieses Mal unter anderen Vorzeichen: „Monsieur, wacht auf. Er bringt Euch noch um den Verstand,/ Der Schnee. Er legt den stärksten Geist zuletzt aufs Eis./ Seit Tagen starrt Ihr auf den Fleck da an der Wand.“ (VS 97) Die Isolation fördert offenbar keineswegs automatisch die Konzentration, sondern führt vielmehr auf Dauer dazu, dass Descartes’ Gedanken sich im Kreise drehen und er sich das Hirn zermartert.
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Ein Weiß, das schmerzt. So frißt der Tag sich in die Haut. Jahrhundertwinter, melden später die Kalender. Es kann noch Wochen dauern, eh die Erde schließlich taut. Zurück in Platons Höhle kriecht, vom Schnee geblendet, Ein junger Philosoph. Er bleibt im Bett. […] Es schneit, es schneit. Und Flocken wirbeln um das Haus. (VS 60)
Und wenig später heißt es: „Der Schnee macht völlig stumpf./ Die Häuser rings verrammelt, alle Fensterläden zu./ Die Beine taub und leer der Kopf – bin nur noch Rumpf.“ (VS 79) In diesem Sinne wird die Metapher vom Bett als Schneelandschaft zuletzt diametral gewendet. Sie steht jetzt nicht mehr für die rational-geometrische Raumperspektive, vielmehr wird das Wirbeln der Federn schneesturmgleich zu einem Bild für Wahnsinn und Unordnung als Bedrohung des Subjektivismus. Sein [= Descartes’, U.B.] Schädel dröhnt. So dröhnen Kriegstrompeten, Glocken. Lawinen donnern. Er erschrickt. Und dann, erbost, Schlitzt er die Kissen auf. Im Zimmer tanzen Flocken. Es schneit – und Daunen wirbeln. An den Wänden, groß, Wird aus der Kissenschlacht ein Wintersturm. (VS 98)
Dieses Bild wird weitergeführt in ein Concetto. Descartes befindet sich jetzt am Stockholmer Hof und seine Gesundheit wird schwächer, da heißt es: „Ein Leben lang hielt ihn der Schnee/ Aus Federkissen, aus Batist und Daunen mollig warm.“ (VS 122) Als die Sterbestunde für Descartes naht und er das Bett gar nicht mehr verlässt, kann er nicht mehr zwischen Traumgespinsten und Wirklichkeit unterscheiden. Seinen Gestus der Selbstbehauptung verkehrt eine Kommentarstimme ins Gegenteil. So wahr ich sitz hier, träumend, wie ich krank darniederlieg ... Nein, umgekehrt: so wahr ich lieg und träum, ich sitze dort Im Winterrock beim Feuer, und die Hand da auf dem Tisch Fühlt das Papier … so weiß ich: dies hier ist mein Leib. Hoc corpus meum. Wo ich bin, wird nie ein andrer sein. Auf engstem Raum, gottlob, bin ich nicht kleinzukriegen, Solang ich denke. ‚Vorsicht Freund, wer sagt dir denn, Daß dies kein Traum, kein Nachbild ist aus andern Zeiten? Vom Schnee verwirrt, wer weiß, bildst du dir ein im Schlaf, Du sitzt am Tisch. […]‘ (VS 140)
Gillots Weckruf hatte mit einem Preis der geometrischen Erkenntnis Grünbeins Dichtung eröffnet. Dazu liefert Grünbein auch die gegenläufige Lesart. Das Gegenüber zur göttlichen Ordnung bildet der Zweifel an der Lesbarkeit der Welt.
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Im ganzen Buch taucht immer wieder die Erwägung auf, ob nicht alle Vorstellung von Ordnung bloß Einbildung oder subjektive Projektion sei, und nicht auch der Mensch keineswegs ausgezeichnet an den an sich sinnlosen Naturprozessen des Werdens und Vergehens partizipiert. Der Schnee macht die Macht der Natur augenfällig in ihrer Kontingenz und Zwecklosigkeit, der gegenüber die Kraft der Ratio machtlos, vergebens und befristet scheint. Der Schnee verweist auf Vergänglichkeit und Tod als definitives Ende der Vernunft. Eher humoresk wird die Thematik eingeführt, wenn die reine Physis der Sinnhaftigkeit der Naturzeichen entgegengesetzt wird, wo Descartes in den Schnee uriniert und sich daran erfreut, wie „der Harn […] Löcher in den Schnee“ brennt und „die kristalline Ordnung“ (VS 36) zerstört. Was als Spaß beginnt, gewinnt gleich doppelt eine tragische Tiefendimension, nämlich einmal, wenn Descartes den Urinstrahl zur „Piß-Artillerie“ (VS 36) metaphorisiert und damit die Ordnungszerstörung zum Gleichnis des Krieges erhebt. Weiter aber auch, wenn Descartes später Gillot erklärt, als dieser Wasser lassen muss: ‚Absurd, nicht wahr?‘ […] ,Banal ist dieser Leib. Das Hirn bleibt in der Deckung – doch die Notdurft ruft. Und kampflos geben wir uns preis. […]‘ […] ,Woran sich zeigt: der Mensch besteht aus Flüssigkeit. Er weint und schwitzt und pißt, und läuft doch niemals aus.‘ (VS 52)
Mit der Macht der Vernunft ist es offenbar nicht weit her, wenn die Physis ihren eigenen Gesetzen folgt. Beide Dimensionen verfolgt Grünbeins Text weiter. Ich möchte zunächst dem Zweifel an der sinnhaften Ordnung der Welt nachgehen. Die Sicht auf die Welt in ihrer Ordnung, die für Gillot im Eingangscanto wie „[e]in Foliant mit weißen Seiten, die nur er beschreibt“ daliegt, muss absehen von Störgrößen: „Was möglich ist,/ Nicht was durch Sintflut, Ackerbau und Kleinstaatkrieg/ Verheerend wirklich wurde, liegt nun ausgebreitet.“ (VS 13) Solche Einschränkungen gegenüber dem Totalitätsanspruch der göttlichen Ordnung legen bereits die Zersetzung des ganzen Anspruches nahe. Und genau diese Zersetzung führt Grünbeins Text vor. Die Annahme einer zweckmäßigen Ordnung der res extensa erscheint zunehmend als nichts dieser Wesenseigenes mehr, sondern wird als subjektive Projektion und trügerisches Vertrauen auf Gottes Vorsehung durchsichtig gemacht. In seiner ganzen Grausamkeit schildert das Gedicht die Kriegsgräuel. Angesichts derer verschwindet das Zutrauen in die Vorstellung von der Verwirklichung von Gottes Heilsplan in der Geschichte, Gott scheint ein „unsichtbare[r] Gott“ (VS 28) zu sein. Als Stichwortanknüpfung führt der Text den Gedanken an den „Deus absconditus“ (VS 43) weiter. Jede abstrakte Vorstellung von der Ordnung der Welt bleibt gegenstandslos, wenn nicht die Menschenwelt im Zentrum der natürlichen Theo-
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logie steht: „Die Welt, selbst menschenleer, bleibt menschliche Domäne. […]/ Es ist des Menschen Reich, das mit Vernichtung droht.“ (VS 43f.) Wenige Seiten später stellt der Text zusammenhanglos wichtige geschichtliche Ereignisse der Epoche nebeneinander. Keplers Berechnungen der kosmischen Harmonie erscheinen in der bunten Vielheit der Auflistung nur als einer der vielen Unterpunkte (vgl. VS 46f.). Dass die Mannigfaltigkeit des blinden Geschichtslaufs nun zur dominanten Vorstellung geworden ist, zeigt sich an einer Umakzentuierung des Schnees als Ordnungsmetapher. Gillot kritisiert seinen Herrn: „Tief in den Kammern Eures Riesenhirns gefriert/ Zu Regel, Gleichung und Figur, was je Verstand/ Und Scharfsinn fassen kann – wie unterm Frost das Land.“, wogegen sich Descartes sofort verteidigt: ‚Ein Zerrbild ist, was du da malst. Der Philosoph – Ein Eisblock, der das Pflänzchen Leben tiefgefriert. So sieht man ihn: streng logisch, schroff, selbst unbetroffen – Ein Werkzeug, das die Vielfalt der Natur planiert. […]‘ (VS 48)
Auch wenn Descartes beansprucht, der Vielfalt der Natur mit seiner Philosophie durchaus gerecht werden zu können, so erscheint dem entgegengesetzt das Buch der Welt zunehmend unlesbar als ein Bilderbuch, dessen Zusammenhang sich auflöst. „Im Buch der Welt zu blättern, heißt: du suchst dort draußen,/ Was größer ist als du.“ (VS 50) Was aber größer ist als du, verschwimmt unter den Erscheinungen. Am Ende gilt, Was dir vom Studium bleibt nach Abzug der Erfahrung. Man kommt herum, begreift bald: Wissen ist kein Schild. Die Wahrheit hilft dir selten, das Gesicht zu wahren. Verrückte Welt – unüberschaubar sind sie, die Nuancen Im selben Wort, in einer Geste, einem Augenblick. Und erst der Traum, ein Orbis pictus, bringt sie in Balance. Im Schnee die Spur … abstraktes Weiß … man geht ein Stück Und sieht die Lichtung, fern dort, zwischen Tag und Tag. Wie einfach alles ist, wie klar, solang dich keiner fragt. (VS 51)
Die Auflösung des Sinnzusammenhangs der Welt treibt die Dichtung noch ein Stück weiter. Wenn die bunte Vielheit den Deutungshorizont bildet, dann sind Descartes’ Überlegungen ähnlich wie vorher schon Keplers Planetenberechnungen kein zentrales Ereignis in der Geistesgeschichte, sondern nichts als Grübeleien eines unbekannten Soldaten im Winterlager in der Provinz, von denen keiner Kenntnis hat.
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Niemand zeugt Für all die Vielfalt, die vor Tag im Schnee verschwand. […] In dieser Ödnis, ahnen sie, wird jeder Satz absurd. Vor ihnen liegt – wofür der Winter nur Verachtung hat, Der größte Teil des Lebens. Sie sind weit entfernt Von Ruhm und Liebesglück und Niedergang und Tod. […] Der Raum verschweigt, Was in dir vorging dort in deinem kurzen Leben. Nimms nicht persönlich: du wirst sein wie nie gewesen. Der Winter fegt uns fort mit seinem Eisenbesen. (VS 52f.)
Der Schnee hat sich nun verändert von einem Bild der Ordnung zu einem für die sinnlose Gewalt der Naturmächte. Im Zeichen von Vergänglichkeit, für die der Schnee jetzt auch steht, wird zuletzt die Geschichte reine Naturgeschichte, blinder Gang des Physischen. Als Gillot Descartes zum zweiten Mal weckt, formuliert er sein Eingangsversprechen nur noch als Frage: „Die Welt bleibt unerkannt und unbegründet./ Ist es nicht seine Handschrift, die dort lesbar wird?“ (VS 97) Obwohl Gillot vorderhand weiter Descartes mit der günstigen Erkenntnissituation locken will, endlich aufzustehen, schiebt er einen zweiten, den wohl eigentlichen Grund nach: „Nun rafft Euch auf. Demnächst ist Krieg. Kein zweites Mal/ Herrscht solche Ruhe weit und breit.“ (VS 98) Der Winter hatte das Naturgeschehen eingefroren. Zu Ende des Winters wird selbst der Schnee in die Werdens- und Vergehensdynamik der Natur hineingezogen: „Der Winter selbst beißt sich am Krieg die Zähne aus.“ (VS 115) Die Suche nach einer Ordnung erscheint als reine Gedankenspielerei von Philosophen; Gott, so es ihn gibt, ist gänzlich ohnmächtig angesichts des Krieges, der von Neuem aufflammt. Apropos Schnee. War da nicht irgendein Indiz Für eine Ordnung jenseits des Humanen, wie sie seit Pythagoras die Philosophen suchten? […] Geschichte droht. [...] Ein Krieg zieht auf. Im Erdreich, bald, wird frisches Menschenfleisch verdaut. Dann werden Gier und Blutrausch durch die Lande toben. Was unterm Schnee hervorsprießt, wird vom Zeitenlauf Hinweggemäht. Die Städte brennen, Zivilisten baumeln Am Ast im Frühlingswind. Kein Gott hat das gewollt … Landsknechte, die von einer Schlacht zur nächsten taumeln, Sind zu Verrat und Niedertracht bereit, stimmt nur der Sold. Sie ist vorbei. Sieur du Perron, die schöne Zeit, sie wird Nie wiederkehren. (VS 98f.)
Man kann den Zweifel an der Lesbarkeit der Welt nicht nur von der Welt ausgehend rekonstruieren, wie gerade geschehen, sondern auch vom Subjekt her. In
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dieser Sichtweise erweisen sich die Leistungen des Cogito als bloße Machtphantasien, die objektiv von außen betrachtet auf physische Prozesse zurückgeführt werden können. – Im ganzen Buch beklagen sich Descartes und Gillot, dass sie frieren (vgl. VS 17, 30, 47, 121f., 124). Dieses Motiv präludiert, dass auch der menschliche Leib am Ende erkalten wird. Es taucht in verschiedenen Variationen auf. Bereits am Anfang, als Gillot noch den Winter preist, bekennt Descartes: „Der Schnee, das Leichentuch dort, macht mir angst“ (VS 16). Das Motiv wird fortgeführt, wenn es wenig später heißt: Frostluft verstärkt im Dunkeln die Konturen, Spitzt Kinn und Nase, färbt die Lippen morgens blau. Im Winter gleicht der Mensch dem eigenen Kadaver. Steif liegt er da, wie aufgebahrt – das Bett ein Sarkophag. (VS 34)
Hatten Descartes und Gillot im ersten Teil der Dichtung bereits verschiedene Gebrechen gequält, so befällt den Philosophen in Stockholm zu Ende des zweiten Teils seine Krankheit zum Tode. Reine Physis wird als der Grund von Descartes’ Denken erkenntlich, und mit dem Verfall des Körpers verfällt auch sein System. Nicht nur kann er der Königin Christine keine überzeugende Lösung für den Leib-Seele-Dualismus präsentieren, sein maschinistisches Menschenbild erscheint auch als zu einfach (vgl. VS 121f.). Eine Szene im Schnee besiegelt den Zerfall seines Weltbildes. „Schnee staut, Schnee dämpft, was da an Widersprüchen gärt.“ (VS 134) Das wird Descartes in seiner Sterbestunde klar, und er murmelt, im ersten Moment unverständlich, rückblickend auf den Moment seiner zentralen Einsicht: „Ich war zu jung, die Ignoranz zu sehn, im eignen Auge/ Das Körnchen Dreck. Nicht ahnend, was da wiederkehrt.“ (VS 136) Was Descartes in diesem Moment vor Augen getreten ist, trägt der Text wenig später nach: „Auf seinem Sterbelager, schwarz auf weiß,/ Da plötzlich stand – im Schnee ein Haufen Pferdemist,/ Das Nonsenswort: du bist ein Nichts.“ (VS 139) Ihm wird klar, dass die rationale Ordnung der Welt, die seine Philosophie annimmt, allein geboren ist aus der Abstraktion der Schneewelt und dem Rückzug auf das reine Denken. Die res extensa taucht in diesem Denken nur als geometrische Körper und in den sauberen Erscheinungsformen des Physischen auf. Ausscheidungen und Verfall blieben in seiner zeitlosen Perspektive ausgeschlossen, das pointiert der Text nochmals, wenn es eindringlich heißt: „Nun löst sich auf – ein Schneekristall – in Blut und Rotz“ (VS 139). Mit der Reduktion des Cogito auf die sterbliche Physis zerbricht auch der Sinnzusammenhang der Welt. Descartes’ Angst erweist sich als berechtigt,
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[…] – die Angst, Was, wenn da keinerlei Verbindung war von Ding zu Ding, Und alles fiel vorbei an allem? Gott, wie war man fremd Im Universum, ganz auf sich gestellt. Nichts fängt uns auf, Sobald wir stürzen und herausfalln aus der Ordnung. (VS 136)
Auf Descartes’ Totenschein schreibt Grünbeins Dichtung zwei Diagnosen, die Lungenentzündung, von der auch die Biographien des historischen Vorbilds wissen, und noch eine zweite Krankheit, ebenfalls eine Kältekrankheit, die in der Abkühlung der Körpersäfte ihre Ursache hat, die Schwarzgalligkeit. Von daher führt der Text den Nihilismus, den Descartes’ Melancholie begründet, letztlich auf die Wirkungen der Schneekälte, auf die Physis zurück. Es ging wahrhaftig schnell Bergab mit ihm. Er war verstockt, kein guter Kranker. Der Tod – undenkbar … unvorstellbar … unerkannt, Sprang über Logik und Kalkül hinweg. (VS 137)
Wie lässt sich Vom Schnee nun im Kontext der Entwicklung von Grünbeins Poetik lesen? Mit dem Rationalisten Descartes hat sich Grünbein einen ‚Helden‘ gewählt, der vorderhand eine Gegenposition zur starken Körperorientierung seines eigenen Frühwerks vertritt. Tatsächlich wechselt Grünbein aber nicht einfach zur Gegenposition, sondern präsentiert diese Position als gleichartige Vereinseitigung. Grünbeins Poetik will den Ausgleich. Die Einteilung der Welt in res cogitans und res extensa hat ihre metaphysischen Stärken da, wo die res cogitans subjektivistisch als Selbstbezug des reinen Denkens und die res extensa objektivistisch als wesensmäßig geometrischer Bau der Schöpfung verstanden werden kann. Die Grundkategorien lassen jedoch immer auch die komplementäre Sichtweise zu. Daraus ergibt sich zum einen die Gefahr des Skeptizismus, weil der Subjektivismus stets durch die Täuschungen der res extensa bedroht gilt. Zum anderen lauert die Gefahr des Nihilismus durch materialistische Reduktion des Cogito. Die Zirbeldrüse und der Gottesbeweis, mit denen Descartes diesen Gefahren Abhilfe schaffen will, zeichnet Grünbein als wenig tragfähige Konstruktionen. Von daher zielt seine Untersuchung auf eine Position, die den Unterscheidungen von res cogitans und res extensa, genauso wie Selbstbezug und Fremdzurechnung voraus geht. Vor Descartes zurück! – so lautet in diesem Sinne das Fazit von Grünbeins erkenntniskritischer Studie. Als Bezugspunkt bietet sich insofern die lebensweltliche Bildlichkeit an, bei der meine Ausführungen ihren Anfang nahmen. In Vom Schnee gewinnt sie jedoch ihr Profil vor allem als ex-negativo-Bestimmung im Kontrast zu den Einklammerungsprozessen der philosophischen Erkenntnis.
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Sie verheißt, den Fragmentierungen des Wissens ohne gemeinsamen Bezugspunkt zu entgehen, die am Beispiel des Schnees vorgeführt wurden. Daher stellt sie große Anschlussfähigkeit der Dichtung mit Spezialdiskursen her und kann selbst mit Positionen lange vergangener Zeiten ins Gespräch kommen.
Der cartesische Taucher In seiner Studie zum Verhältnis von Lyrik und Essayistik bei Grünbein hat Hinrich Ahrend gezeigt, dass kein schlichtes Entsprechungsverhältnis zwischen beiden Gattungen besteht. Es gibt vielmehr eine Tendenz, Impulse der Lyrik im Essay weiterzuentwickeln und zu systematisieren.7 Diese Tendenz des frühen Schaffens trifft auch auf das Verhältnis von Vom Schnee oder Descartes in Deutschland und die poetologischen Reflexionen in Der cartesische Taucher zu. Der Essay steht dabei keineswegs in bruchloser Kontinuität zu den Überlegungen des Gedichts. Auch wenn zentrale Themenkomplexe beide Texte verbinden, gibt es doch eine Reihe von Umakzentuierungen, Widersprüchlichkeiten und Inkongruenzen. Während das Langgedicht Extrempositionen der Erkenntniskritik ausprobierte, sucht die als Essay publizierte Poetikvorlesung den Ausgleich. Dort führt Grünbein Überlegungen zu drei zentralen Themenkomplexen seiner Poetik näher aus: zur Geschichtlichkeit von Dichtung, zum Leib-Seele-Dualismus und zur Rolle von Bildlichkeit. Grünbein entwirft in der Poetikvorlesung im Einklang mit seinem Langgedicht die Moderne als „überzeitliche Sphäre“ (CT 11), in der Menschen aus verschiedenen Zeiten in Zeitgenossenschaft treten können. Von daher begreift Grünbein Descartes als einen Gesprächspartner für aktuelle Fragestellungen: „So lange ist das alles noch gar nicht her. Was sind schon dreihundertfünfzig Jahre?“ (CT 94) Einen Bezugspunkt seiner Beschäftigung mit Descartes stellt die von der Hirnforschung angestoßene Diskussion über Determinismus und Willensfreiheit des Menschen dar. Nur scheinbar nämlich beseitigen die neurophysiologischen Erklärungsansätze den Substanzdualismus, denn sie liefern nach Grünbeins Einschätzung keine überzeugende Rekonstruktion der 1. PersonPerspektive. Damit hängt ein weiterer Kontext zusammen. Galt Descartes als Gründerfigur des Glaubens an die rationale Durchdringbarkeit und Beherrschbarkeit der Natur, interessiert sich Grünbein für deren Grenzen und fragt sich, ob die Sonderstellung des Menschen nicht bloß auf Größenwahn und All|| 7 Vgl. Hinrich Ahrend: „Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“. Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins. Würzburg 2010, S. 372.
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machtsphantasien gründet (vgl. CT 69–73 und 98–106). Im Horizont der Klimageschichte relativiert Grünbein dazu die Dauer der menschlichen Geschichte, macht Descartes zum Zeitgenossen und marginalisiert zugleich die Macht des „denkende[n] Subjekt[s] in Gestalt seines Begründers.“ (CT 94) Er rückt seine Anthropologie in naturgeschichtliche Zeitdimensionen ein. Das Zeitalter des Rationalismus stellt sich „meteorologisch betrachtet“ als eine „Zeit des Ausnahmezustands“ dar. „Ein Kälteeinbruch von fürchterlicher Brutalität, gleichgültig gegen Mensch und Tier und Pflanze“, treibt auf verschiedenste Weise eine „verzweifelte[.] Suche nach Ordnung“ (CT 121) hervor, deren Ordnungskonstruktionen oftmals prekär bleiben. Während Vom Schnee diese verzweifelte Suche vorführt, bilanziert Der cartesische Taucher im Rückblick nüchtern: Die moderne Klimaforschung hat diese Tatsache anerkannt und deutliche Worte für sie gefunden. Man spricht heute allgemein von der Kleinen Eiszeit, und gemeint ist damit jener furchtbare Temperatursturz um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, wie er den Raum zwischen dem siebzigsten und fünfzigsten Breitengrad zum letzten Mal vor zehntausend Jahren heimgesucht hatte. (CT 122)
Grünbein knüpft hinsichtlich der Frage nach dem Leib-Seele-Dualismus nicht an Descartes’ Lösung an, sondern macht dessen Suchbewegung zum Bezugspunkt eigener Überlegungen. In dem Essay kürt er den französischen Philosophen zum „Wegbereiter“ seiner eigenen „anthropologisch fundierten Poetik“ (CT 12). Mit dem Ziel, im Namen des ‚ganzen Menschen‘ zu sprechen, strebt er einen Ausgleich gegenüber den Vereinseitigungen des Leib-Seele-Dualismus an. Dazu nimmt er tiefgreifende Korrekturen am überlieferten Descartes-Bild als ‚reinem Geist‘ in Person vor. Hinter diesem von Descartes’ Selbstinszenierung vorgeprägten Bild entdeckt Grünbein in Descartes’ Leben vielfältige Einlassungen mit dem Sinnlichen und betont daher: „Man darf nicht vergessen, daß die ganze sogenannte cartesische Rationalität dem allerkindlichsten Staunen abgerungen war.“ (CT 54)8 Grünbeins Descartes ist ein Denker, „der um die Grenzen seines Philosophierens jederzeit weiß. Sein Gespür für das Machbare, das allein von ihm zu Leistende, verdankt sich gerade solcher Wahrnehmung für das schlechthin Andere, das sich ihm entzog.“ (CT 26) Diesem ‚schlechthin Anderen‘ der rationalistischen Philosophie spürt Grünbein nach. Er sucht nach den Verunreinigungen, die die „Destillation eines hundertprozentig reinen Ichs“ (CT 30) trüben. In phänomenologischer Tradition geht er davon aus, dass Bewusstsein immer Bewusstsein von … ist. Insofern steht die res cogitans „in einem fortwährenden Austausch [...] mit allem, was nicht Geist ist, allem, was
|| 8 Vgl. dazu auch CT 32ff.
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nicht das Eigene ist“ (CT 101). Dieses Nicht-Eigene kann von innen kommen als Erinnerungen, Träumereien, Abschweifungen, Phantasien, aber auch als Sinneseindrücke von außen. Hier kommt der Schnee ins Spiel. Der Schnee erweist sich deshalb für Grünbein als reizvoller Wahrnehmungsgegenstand, weil er nicht nur vom Kristall bis zur geschlossenen Schneedecke eine große Vielgestalt an Schauwerten bietet, sondern als gleißendes Weiß und Raumauslöschung auch die Sinneswahrnehmung überreizen und dadurch auf die Reflexion ihrer Erkenntnismöglichkeiten zurückwerfen kann. Weil dem Cogito sein Anderes aber immer nur als Bewusstseinsinhalt gegeben ist, ähneln sich Hirngespinste, Täuschungen und Wahrnehmungen bis zur Ununterscheidbarkeit. Diesen Subjektivismus der Erkenntnis streicht Grünbein nun als Descartes’ eigentliche Einsicht heraus. Konsequenterweise ringt der Descartes in Vom Schnee noch mit dem Subjektivismus und will sich einer objektiven Realität versichern, bleibt in diesem Sinne hinter der Einsicht des cartesischen Tauchers zurück. Die Anfechtungen aber nobilitiert Grünbein nachträglich. Descartes wird für ihn dadurch nämlich zum Entdecker des Schattenreichs des Cogitos, jenes Reichs, in dem sich die „Abenteuer[.] eines realen Geistes“ (CT 101) abspielen. Um die Unterscheidung des Substanzdualismus zu dekonstruieren, muss Grünbeins Langgedicht notwendig eine Darstellungsform wählen, die dieser Unterscheidung vorausliegt. Deshalb hat er bewusst keine Lehrdichtung oder so genannte Gedankenlyrik geschrieben,9 sondern geht mit seinem AlexandrinerEpos auf einen vorcartesianischen Dichtungsbegriff zurück, in dem res extensa und res cogitans, sinnliche Erfahrung und Denken, noch nicht getrennt waren.10 Dieses Zwischenreich nennt Grünbein das Gebiet der Ästhetik (vgl. CT 23). Ästhetische Erkenntnis ist durch ihre ‚Bildlichkeit‘11 gekennzeichnet und wird
|| 9 Vgl. Barbara Naumann: Gewalt der Sprache. Nietzsches Descartes-Kritik, Grünbeins Descartes. In: Die Literatur der Literaturtheorie. Hrsg. von Boris Previšić. Bern u.a. 2010, S. 133–144, hier S. 141. 10 Vgl. Hans Huch: „Ich schätze die Beredsamkeit sehr, und ich war in die Poesie verliebt ...“. Durs Grünbeins Epos Vom Schnee ‒ ein historischer Roman? In: Literatur im Spiel der Zeichen. Festschrift für Hans Vilmar Geppert. Hrsg. von Werner Frick u.a. Tübingen 2006, S. 313–328; Walter Erhard: Literaturwissenschaft und Physik. Aus Anlass von Durs Grünbeins Vom Schnee oder Descartes in Deutschland (2003), In: Literaturwissenschaft – interdisziplinär. Hrsg. von Lothar van Laak und Katja Malsch. Heidelberg 2010, S. 115–126, hier S. 117ff. 11 Was Grünbein ‚Bildlichkeit‘ nennt, wird in der philosophischen Tradition meist unter dem Schlagwort ‚Anschaulichkeit‘ verhandelt. Vgl. dazu Olav Krämer: Bildliches Denken als Erkenntnismodus zwischen Poesie und Wissenschaft. Grünbein über Dante, Darwin, Hopkins und Goethe. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 241–257 und kritisch Tilmann Köppe: Grünbeins Idee
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üblicherweise gegen die Abstraktionsprozesse theoretischer Erkenntnis profiliert. Grünbein geht es nun darum, diese strikte Unterscheidung in ‚zwei Kulturen‘ einzureißen, indem er zeigt, dass auch in den zur Abstraktion neigenden Wissenschaften anschauliche Darstellungsweisen eine wichtige Funktion haben, und umgekehrt in der Anschaulichkeit der Kunst Abstraktionsprozesse stattfinden. Letztlich zielt diese Argumentation durch Kritik der Wissenschaft und epistemische Aufwertung der Kunst auf eine Gleichberechtigung beider Erkenntnisformen (vgl. CT 113f.).12 Diese Ebenbürtigkeit fordert Grünbein nicht zuletzt für das Wissen seiner eigenen Dichtung ein. Wie bereits bei den vorigen Prämissen seiner Poetik geht er für deren Rechtfertigung vor die Etablierung der Differenz zwischen den ‚zwei Kulturen‘ durch den neuzeitlichen Rationalismus in das Barock zurück. Die Dekonstruktion der Unterscheidung betreibt er von beiden Seiten. Zum einen berichtet er von einer Stelle aus Descartes’ Schrift über die Himmelserscheinungen mit dem Titel Les Météores im Kapitel Über den Schnee, den Regen und den Hagel.13 Dort beglaubigt Descartes seine geometrisierenden Beschreibungen mit Beobachtungen, die er selbst im Winter 1635 in Amsterdam gemacht hat. Grünbein begeistert sich dafür, wie es Descartes gelingt, die „knochentrockenste Materie“ durch „seine erstaunliche Bildlichkeit (eines Lukrez und Ovid würdig)“ aufzulockern (CT 50). Ein aufmerksamer Exeget hat bemerkt, der Verfasser habe anstelle von Naturbeobachtungen lieber Bildbeschreibungen geliefert, wobei den Illustrationen in seinen Büchern eine Hauptrolle zukam. Man muß sie gesehen haben, diese Schneeflockenmusterbögen in den Holzschnitten der Originaledition, kaum größer als die Flügeldecken eines Marienkäfers. Bei näherer Betrachtung lassen sich darin Zahnräder erkennen, Blütenblätter, selbst Geißeltierchen und Fußnotenzeichen, schwarze Asterisken. (CT 50f.)
Das biographische Zeugnis zeigt, welchen lebensweltlichen Erfahrungen die sich abstrakt und überzeitlich gebende Geometrie des Rationalismus abgewonnen ist. || von der Erkenntnis des Dichters. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 259–270. 12 Vgl. dazu auch Florian Berg: Die Kunst im Zeitalter der Wissenschaft. Über René Descartes bei Durs Grünbein. In: Sprache im technischen Zeitalter 183 (2007), S. 364–381; Lothar van Laak: Die Bilder der Wissenschaft – die Bilder der Literatur. Das interdisziplinäre Potential der Einbildungskraft im Blick auf Eichendorff und Grünbein. In: Literaturwissenschaft – interdisziplinär. Hrsg. von Lothar van Laak und Katja Malsch. Heidelberg 2010, S. 131–142, hier S. 139ff. 13 René Descartes: Die Meteore. In: ders.: Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie. Übers. und hrsg. von Christian Wohlers. Hamburg 2013, S.197–311, hier S. 254ff.
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Grünbein führt aber auch den umgekehrten Nachweis, indem er die geschilderte Szene rahmt. Rembrandt hätte Descartes dabei beobachtet, phantasiert der Dichter – eine Phantasie, die aber im Amsterdam des Jahres 1629 durchaus möglich gewesen wäre, über die aber nichts berichtet ist. Der kleine Mann unter den sturmgebeugten Linden könnte ihn interessiert haben, schon darum, weil jener von untersetzter Statur war (Rembrandts Abneigung gegen alles Hochaufgereckte ist bekannt) und weil er so herzergreifend eingekrümmt dastand in Abwehr der Hagelkörner. Darüber hinaus scheint er, als Motiv, kaum weiter in Frage gekommen zu sein. Hätten wir sonst nicht eine Zeichnung von ihm, die den Moment in gewohnter Lebendigkeit festhält, ein kleines Blatt mit dem Titel Mann im Hagelsturm? So kann es gewesen sein, so oder ganz anders. Strengen wir unsere Phantasie ein wenig an: Was wir haben, ist Descartes’ eigener Erlebnisbericht, zu dem man sich die Rembrandtsche Radierung nur hinzudenken muß. (CT 80f)14
Das Blatt Mann im Hagelsturm wäre deshalb interessant, weil es genau die Ergänzung zu Descartes’ Theorieperspektive lieferte. Es brächte jene ästhetische Anschauung der Lebenswelt in seiner ganzen Fülle zu Papier. Grünbein hält nämlich die Malerei des ‚Goldenen Zeitalters‘ für eine geeignete Quellen für die Sichtweisen des „Alltagsleben[s] ihrer Zeit“ (CT 95) und behauptet sogar, dass sich deshalb Descartes’ „Biographie [...] mühelos durchillustrieren ließe anhand des umfangreichen Korpus zeitgenössischer Malerei“ (CT 123). Dazu wäre sie deshalb fähig, weil die Überfülle der Anschaulichkeit immer bereits die Abstraktionen enthält. Grünbein macht das vor allem an zwei Kennzeichen fest, nämlich an dem, was er ihre ‚Emblematik‘ und ihren ‚optischen Charakter‘ nennt.15 Bei ‚Emblematik‘ denkt Grünbein daran, dass die Bildkunst des ‚Goldenen Zeitalters‘ in ihrer Konkretheit immer am Exemplarischen und Typischen interessiert ist. Das ist auch der Grund, warum Grünbein vermeintliche Darstellungen Descartes’ auf einer Vielzahl von niederländischen Gemälden zu finden glaubt (vgl. CT 123). Der Schneehintergrund verbindet dabei die verschiedenen Gemälde zu einem einzigen kontinuierlichen Bildraum, der hinter den Ausschnitten der Bilderrahmen weiterführt (vgl. CT 129). Der ‚optische Charakter‘ bezeichnet „die nahezu wissenschaftliche Präzision, mit der in den Ateliers Fragen der Linear- und Zentralperspektive behandelt wurden, der experimentelle Geist, der sich in immer neuen Versuchen Problemen der Beleuchtung, der Farbwertigkeit und der Licht-und-Schatten-Relation widmete“ (CT 124). Grundlegend dafür ist die Annahme, dass Farbe keine Eigenschaft der Gegenstände ist, sondern erst durch die Brechung und Widerspiegelung des Lichts als Sinneseindruck beim || 14 Vgl. auch CT 45. 15 Grünbein verwendet beide Begriffe nicht ganz konventionell.
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Betrachter entstehe, eine Annahme, die ihre Parallele in Descartes Dioptrik16 hat, ohne dass sich wechselseitige Kenntnisnahme nachweisen ließe. Der Schnee dient hierbei für den Weißabgleich der Farben. Bei diesem dritten großen Themenkomplex, der Bildlichkeit von Grünbeins Poetik, zeigen sich die deutlichsten Unterschiede zwischen Dichtung und Poetikvorlesung. Das zeigt sich vor allem an zwei Komplexen. – Vom Schnee beschäftigt sich sehr viel ausführlicher und differenzierter mit Descartes’ wissenschaftlichen Einlassungen mit der Anschaulichkeit als die kurzen Andeutungen in der Vorlesung sie später kenntlich machen (vgl. CT 79–81). Dagegen behauptet die Vorlesung über die Malerei einiges mehr, als die Lyrik vorher vorgeführt hat. Die Cantos Winterspaziergang, Jäger im Schnee, Mensch und Wolf und Landschaft mit Zeichner entdecken Descartes in bekannten Bildern der niederländischen Malerei. Grünbeins Dichtung greift also das typisierende Moment der Gemälde auf. Wenn die Gedichte aber, wie Sonja Klein gezeigt hat,17 weniger Bildbeschreibungen liefern als durch sprachliche Nachschöpfung die Erinnerung und Einbildungskraft der Leser anregen wollen, kann man darin zwar eine Ähnlichkeit der dichterischen Darstellungsweise mit dem ‚optischen Charakter‘ der Gemälde finden, jedoch scheint das Verfahren kaum dem methodischen Vorgehen der niederländischen Maler zu folgen. Durchgängig scheint dem Schnee in den gedichteten Bildern nicht die grundlegende Funktion zuzukommen, die ihm Grünbein später zuspricht. Der zweite Komplex hat mit zweierlei Art von Bildlichkeit zu tun. Indem es verschiedene Abstraktionsbewegungen von der Empirie nachvollzieht, arbeitet sich das Langgedicht an der Bildgewaltigkeit des Schnees ab. Jede der vier Richtungen der Einklammerung stellt prinzipiell eine Art von Abstraktion dar. In der Poetikvorlesung greift sich Grünbein die, nach cartesischen Maßstäben, wissenschaftlichste dieser Abstraktionsbewegungen heraus, um dadurch eine bestimmte Art von Bildlichkeit zu kennzeichnen. Die geometrisierende Betrachtungsweise Descartes’ bringt Grünbein mit der Entwicklung der Integralrechnung zusammen. Sie bietet die Möglichkeit, sich der Formvielfalt der Wirklichkeit durch Funktionen anzunähern und sie durch wenige Parameter zu beschreiben. Zur gleichen Zeit, in der die Integralrechnung entwickelt wurde, brei|| 16 René Descartes: Die Dioptrik. In: ders.: Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie. Übers. und hrsg. von Christian Wohlers. Hamburg 2013, S. 71–193, hier S. 74. 17 Vgl. Sonja Klein: „Denn alles, alles ist verlorne Zeit“. Fragment und Erinnerung im Werk von Durs Grünbein. Bielefeld 2008, S. 152–156; Sonja Klein: „Imago für Imago von der Schöpferwelt dort draußen“. Durs Grünbeins Vom Schnee oder die Melancholie der Sprache. In: Symposium. A Quarterly Journal in Modern Literature 63 (2009), H. 3, S. 207–219, hier S. 206–212.
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tete sich in der Barockliteratur die Allegorie aus. Auch die Allegorie erlaubt es, die Fülle der Wirklichkeit prägnant auf den Punkt zu bringen. Der Fächer der Wissensformen öffnete sich, und Poesie suchte nach Ausdrucksmitteln, die imstande waren, das Auseinanderstrahlen qualitativer Informationen über die Welt zu integrieren. Die Allegorie ist das Gegenstück zum Integral der neuen Mathematik. Ihr folgte die Kultivierung der Metapher als frei bewegliche Bildvariable zum Erfassen von Konstellationen und Korrespondenzen in Zeit und Raum. (CT 114)
Das bildgebende Verfahren der Allegorese und Metaphorisierung unterscheidet sich aber von dem der Integration. Die empirische Überfülle wird nicht abstrakt stilisiert, sondern durch ein vereinfachtes Modell vertreten. Der über weite Strecken genuin stilisierenden Bildlichkeit des Langgedichts will die Poetikvorlesung zusätzlich allegorische Bildlichkeit beilegen, indem sie Descartes’ Erkenntnisprozesse im Schnee zum Gleichnis neuzeitlicher Wissenschaft zu erhöhen versucht. Grünbein bezieht sich dazu auf ein Frontispitz mit einer SchneeAllegorie, das er in einer Ausstellung barocker Folianten entdeckt hat. Der Stich stammte aus der Werkstatt eines gewissen Wolfgang Kilian, er war das Titelblatt zu einer Verssammlung Jakob Baldes, eines Jesuitenpaters und Zeitgenossen von Descartes, den Andreas Gryphius als den Teutschen Horaz rühmte, ein neulateinisch schreibender Satirendichter, der in Neuburg an der Donau wirkte, zufällig an dem Ort also, an den es im Winter 1619/20 den späteren Verfasser des Discours de la méthode verschlagen hat. Je länger ich diese seltene Phantasmagorie betrachte, um so klarer wird sie mir zum Symbol für jene neue Ungewißheit, die sich am besten wohl mit der Formel Descartes und die Folgen umschreiben ließe. Etwas Unheimliches, Mensch und Landschaft Bedrohendes und doch Namenloses war hier dargestellt, etwas, wovon der Supernaturalist Descartes sich nichts hatte träumen lassen. In all seiner Rätselhaftigkeit wäre es das ideale Titelbild zu einer Gesamtausgabe seiner Werke gewesen, ein Gedenkblatt für den Siegeszug, die Irrtümer und die Schrecken cartesischer Philosophie. (CT 121)
Der Versuch, beide Arten von Bildlichkeit zusammenzuführen, führt aber in eine Paradoxie hinein. Während der Schnee im Gedicht tatsächlich einen unbewältigten Sinneseindruck darstellt, muss der Schnee in der Poetikvorlesung, um als Metapher für einen unbewältigten Sinneseindruck stehen zu können, sinnlich bereits bewältigt sein.
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Abb. 1: Der Stich entstammt Jakob Balde: Poema de Vanitate Mundi. München 1638.
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Christoph auf der Horst
Durs Grünbein, Descartes und die Neurologie: Kennt Grünbeins Psychopoetik einen embodied cognition-Ansatz? Die Lyrik und Prosa Durs Grünbeins imponiert mit der in ihr verwandten Begrifflichkeit, die eine intime Vertrautheit des Dichters mit ausgewählten Gegenständen der Neurowissenschaften, der Neurophilosophie, der Medizin oder auch der Naturwissenschaften erkennen lässt. Grünbein kommentiert seinen „gleichsam extremistischen Gebrauch“ fachterminologischen Vokabulars im Schlußwort zur ‚Schädelbasislektion‘ von 2006: „Es wimmelt nur so von Vektoren, Lakunen, kortikalen Flecken, von Fachwörtern wie Liquor, Aphasie, Hologramm.“1 Die Fachsprache bleibt dem Werk des Sprachkünstlers keineswegs äußerlich, sondern Medizinisch-Neurologisches im weiteren Sinne ist ebenso Gegenstand und Thema seiner Dichtung. Denn ebenfalls im Schlußwort zur ‚Schädelbasislektion‘ erklärt Grünbein, dass er „damals in einem fort Bücher über Probleme der Hirnforschung und der Quantenphysik verschlang“.2 Die intime Vertrautheit folgt offensichtlich einem sachbezogenen Interesse und einer fachlichen Kennerschaft.3 Unklar bleibt, welchem Problem, welcher Fragestellung Grünbein „damals“ im Rahmen seiner extensiven Lektüren nachging. Ging es ihm um Bewusstseinsforschung – denn hier zitiert Grünbein Poppers und Eccles’ Das Ich und sein Gehirn4 –, oder verfolgte er systematisch Ergebnisse der jüngeren Neuroforschung – hier verweist er auf die problematisch gewordene Willensfreiheit des Menschen in Folge der ‚Libet-Experimente‘ –, oder waren ihm als Kind der DDR materialistisch-reduktionistische Positionen problematisch geworden – denn diese Zeit markierte für ihn den Beginn der Beschäftigung mit der cartesischen Vorstellungswelt eines Substanzdualismus, die in res cogitans und res extensa unterscheidet und beide Bereiche voneinander trennt?5 So vordergründig Grünbeins Hinweis auch sein mag, dass er nach der „Hebung des Eisernen Vorhangs“ eine „andere Sachlichkeit“ suchte, ein Hinweis,
|| 1 Durs Grünbein: Schlußwort zur Schädelbasislektion. In: ders.: Gedichte. Bücher I–III. Frankfurt a.M. 2006, S. 385–395, hier S. 387. 2 Ebd., S. 389. 3 Von daher auch das Grünbein stets begleitende Epitheton ornans ‚poeta doctus‘. 4 Karl R. Popper; John C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn. München 1997. 5 Grünbein, Schlußwort zur Schädelbasislektion, S. 389–394.
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mit dem er auf die „Grunderschütterung“ der späten 1980er-Jahre hinweist, die für ihn auch eine „neue Ästhetik“6 erzwang, so macht Grünbein doch deutlich, dass es ihm um sich als Autor und seine Dichtung geht, dass er sein dichterisches Selbstverständnis unter den Vorzeichen jüngerer naturwissenschaftlicher Forschung profilieren will. Denn er fragt: Wer erkennt sich schon freiwillig in einem Tier wieder? Wer wäre bereit, die Selbsterkenntnis bis zum Punkt der Verwandlung voranzutreiben? Es entsprach einer tief empfundenen Wahrheit, wenn der Autor sich selber in einem Sonett-Zyklus als jungen Grenzhund portraitierte.7
Damit klingt der basso continuo seiner Schriften an, seine poetologischen Selbsterkundungen, wie das Verhältnis des Dichters zu seiner Dichtung zu bestimmen oder auf welche Weisen es zu denken sei. In der 1995 gehaltenen Büchner-Preis-Rede hatte Grünbein sich noch dezidiert in die Nachfolge des Dichters gestellt, der „dem Nerv das Primat zuspricht, den Körper zur letzten Instanz erklärt [...], der seine Prinzipien der Physiologie abgewinnt“ und dem etwas gelungen war, was „nichts Geringeres als eine vollständige Transformation [war]: Physiologie aufgegangen in Dichtung“.8 Das Gedicht sei – so Grünbein in dem ebenfalls 1995 entstandenem Text Mein babylonisches Hirn ‒ „irreduzibel [...] ein Vexierbild physiologischen Ursprungs, ähnlich dem Nervensystem, der Anatomie und dem Knochenbau“.9 In dem 1990 erschienenen Aufsatz Ameisenhafte Größe behauptete Grünbein, dass in der „Neurologie die Poetik der Zukunft“10 versteckt sei. Diese wenigen Textbeispiele ließen sich mit weiteren Gedichten, Essays, poetologischen Selbstbesinnungen ergänzen, sollen hier aber ausreichen, um zu belegen, dass Durs Grünbein zu bestimmten Zeiten erstens Naturwissenschaften und die Medizin zu einem Thema seiner Dichtung gemacht und zweitens im Prinzip zumindest eine reduktionistische Haltung vertreten hat, in der die mentale Aktivität des Dichtens mit der physiologischen Aktivität des Gehirns zusammenfallen. Dazu will allerdings nicht der Befund passen, dass Grünbein auch eine heftige Kritik an diesem Reduktionismus for-
|| 6 Ebd., S. 385ff. 7 Ebd., S. 393. 8 Durs Grünbein: Den Körper zerbrechen. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 75–86, hier S. 79, 76. 9 Durs Grünbein: Mein babylonisches Hirn. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989‒1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 18–33, hier S. 18. 10 Durs Grünbein: Ameisenhafte Größe. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989‒1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 13–17 und Grünbein, Mein babylonisches Hirn.
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muliert – wie in einem Begleitbuch zu der Ausstellung Kosmos im Kopf aus dem Jahr 2000: Aber die Weichen waren nun einmal auf Reduktionismus gestellt, jenes Grundübel aller Naturwissenschaften, hinter dem sich selten etwas anderes verbarg als Simplifizierung und theoretisch begründete Ignoranz.11
Wie kann dieser Widerspruch erklärt werden? In seiner Poetikvorlesung von 2009, die nachmalig unter dem Titel Vom Stellenwert der Worte publiziert wurde, gibt Grünbein einen Hinweis auf Descartes, der ab der Entstehungszeit von Ostrakon Dresden – also um 1999 – sein Denken neu orientiert habe: Daneben war es, was allmählich zu einer Erkennungsmelodie dieser Arbeiten wurde, eine Fortsetzung jenes Gesprächs zwischen Seele und Körper – ‚A dialogue between the soul and body‘, wie es in Andrew Marvells gleichnamigen Gedicht heißt. [...] Die cartesische Spaltung, der wir die Erfindung des modernen Subjekts – des bewußtseinslastigen, Wissenschaft treibenden, mittels Technik sich umgestaltenden (auch des gedichteschreibenden) Subjekts von heute verdanken, ist mir in ihren Auswirkungen auf alle Lebensbereiche erst damals aufgegangen.12
Offenkundig ist hier von einem Gespräch, einer Interaktion von Seele/Geist und Körper die Rede, die mit einem strikten reduktionistischen Ansatz nicht kompatibel ist. Und diese Revision seiner früher geäußerten Überzeugungen geht mit einer Descartes-Rezeption einher und schlägt sich offenbar in späteren Gedichten und Prosaschriften nieder. Anna Alissa Ertel resümiert in ihrer GrünbeinStudie deshalb: Wiederholt macht Grünbein in seinen Texten darauf aufmerksam, dass die Wissenschaft den Menschen nie vollständig zu erfassen vermag und dass mit der szientistischen Durchleuchtung und Zerlegung des Körpers nicht nur die Möglichkeit der Befreiung, sondern auch die Gefahr der unangemessenen Reduktion und Missachtung des Menschen einhergeht.13
|| 11 Durs Grünbein: Klopfzeichen. In: Gehirn und Denken. Kosmos im Kopf. Begleitbuch zur Ausstellung: Kosmos im Kopf. Gehirn und Denken im Deutschen Hygiene-Museum vom 14. April bis 25. Oktober 2000. Hrsg. vom Deutschen Hygiene-Museum. Ostfildern-Ruit 2000, S. 201–218, hier S. 215. 12 Durs Grünbein: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Berlin 2010, S. 44. Grünbein zitiert mit Andrew Marvell einen sog. „metaphysischen Dichter“ des 17. Jahrhunderts. 13 Anna Alissa Ertel: Körper, Gehirne, Gene. Lyrik und Naturwissenschaft bei Ulrike Draesner und Durs Grünbein. Berlin, New York 2011, S. 301.
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An der Schaltstelle, wo die reduktionistische Position in eine dualistische umschlägt, steht nach des Dichters eigenen Angaben René Descartes, der von ihm dann auch zunehmend in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und Dichtungen gestellt wird.14 Die Grünbein-Philologie hat erst begonnen, die cartesianischen Schriften mit gebührender Aufmerksamkeit zur Kenntnis zu nehmen.15 Damit fehlt noch eine systematische Auseinandersetzung mit dem langsamen Abweichen von streng reduktionistischen oder materialistischen Positionen hin zu cartesischdualistischen Auffassungen, die gerade in den Gedichten nach der Gedichtsammlung Schädelbasislektion vertreten worden sind: „Von heute aus betrachtet ist René Descartes die Symbolfigur dieser neuen Gedichte [...].“16 In der Grünbein-Philologie ist auch ein systematisches Eingehen auf Fragen Grünbeins der Art desiderat, woher das Subjekt des Autors kommt, wie seine anthropologisch fundierte Poetik aussieht, oder mit Grünbeins Worten: „Geht von Descartes womöglich ein Impuls aus, ohne den auch das Ich des Dichters nicht mehr gedacht werden kann?“17 Auch wäre ein Erklärungsansatz wünschenswert, der seine Kraft aus der Binnenperspektive der Hirnforschung speist. Denn die Ernsthaftigkeit, mit der Grünbein sich in die moderne Hirnforschung eingearbeitet hat, kann an den Interviews und Gesprächen mit Neurologen und Neurophilosophen abgelesen werden,18 wie sein Gespräch und die Diskussion Sprache: grenzenlos im neuronalen Netz mit der Direktorin des MaxPlanck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften Angela D. Friederici im Literaturhaus Frankfurt am 19. Mai 2014. Dass dieses sein Interesse an den
|| 14 Vgl. Grünbein, Schlußwort zur Schädelbasislektion, S. 394; Michael Eskin: Tauchen mit Descartes. Gespräch mit Durs Grünbein. In: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur (2011), H. 3, S. 389–402. 15 Vgl. hierzu aber neben den Beiträgen von Michael Eskin und Urs Büttner in diesem Band u.a. Wilhelm Große: Descartes, Grünbein oder das Dreieck aus Philosophie, naturwissenschaftlichem Denken und Literaturpoesie. Anmerkungen zu Durs Grünbeins Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. In: Literatur im Unterricht 6 (2005) H. 3, S. 219–227; Hauke Kuhlmann; Christian Meierhofer: Descartes à la Grünbein. Philosophiegeschichtliche und erkenntnistheoretische Implikationen in Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. In: Zeitschrift für Germanistik 2 (2011), S. 308–320; Tanja van Hoorn: Keine Tiergeister im „Schnee“. Grünbeins Descartes-Ideen. In: Zeitschrift für Germanistik 2 (2011), S. 284–295. 16 Grünbein, Schlußwort zur Schädelbasislektion, S. 394. 17 Durs Grünbein: Der cartesische Taucher. Drei Meditationen. Frankfurt a.M. 2008, S. 21. 18 Vgl. hierzu: Vom Schauder des Schaffens. Der Lyriker Durs Grünbein und der Neurowissenschaftler Ernst Pöppel im Gespräch über die Kreativität des Dichters, den Geistesblitz des Wissenschaftlers und das Regime von sechs Milliarden Weltherrschern. In: Spiegel Special (2003), H. 4, S. 102–105.
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neuronalen Grundlagen von Sprache und Dichtung ein altes und langfristiges ist, zeigt sein Text Katze und Mond aus dem Jahr 1992, in dem er berichtet, wie im Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen sog. Ereigniskorrelierte Potentiale (EKP) im EEG gemessen und interpretiert wurden, die bei der semantischen Verarbeitung von schwierigen Sätzen wie „Die Katze fängt den Mond“ signifikant größer ausfallen als bei semantisch einfachen Sätzen, wie „Die Katze fängt die Maus“.19 Die einfache Frage, die sich für das Grünbein-Werk ab Ende der 1990er / Anfang der 2000er-Jahre also stellt, ist, „wie Gedichte eigentlich funktionieren“ und ob eine Antwort auf diese Frage erstens in Grünbeins Descartes-Rezeption und zweitens daraus folgend in Einsichten moderner Kognitionswissenschaften gefunden werden kann. Deshalb soll in einem ersten Abschnitt Grünbeins Descartes-Rezeption rekonstruiert werden, die eine Rehabilitierung des Philosophen unter Zuhilfenahme neuerer neurowissenschaftlicher Forschung ebenso ist, wie eine Kritik an monistischen Antworten auf das Leib-Seele-Problem. In einem daran anschließenden Abschnitt soll dann gezeigt werden, inwieweit es Grünbeins Poetologie erlaubt, Dichtung im Lichte moderner linguistischer und kognitionswissenschaftlicher Forschung – so wie sie sich im embodied cognition-Ansatz niederschlägt – zu verstehen.
1 Durs Grünbeins Rezeption René Descartes’ und der Philosophie des Geistes Auf Grund dieser Hinwendung Grünbeins zu Descartes, zur Descartes-Forschung und zur verstärkten Beschäftigung mit der Seele-Leib-Problematik soll hier ein Interpretationsansatz erwogen werden, der den jüngeren, gewissermaßen ‚cartesischen‘ Werkkomplex in die Diskussion, wie Dichtung entsteht, über welches Erkenntnisvermögen sie verfügt, wo das Dichter-Ich lokalisiert ist etc., mit einbezieht. Grünbein äußert sich über René Descartes und diskutiert seinen rationalistischen Philosophieansatz, wenn man einmal vom Cartesischen Hund in Schädelbasislektion absehen will,20 wo dieser „über das Weiß einer Buchseite (husch|| 19 Durs Grünbein: Katze und Mond. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989‒1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 55–60, hier S. 56f.; Angela D. Friederici war von 1979‒1989 Stipendiatin in diesem Max-Planck-Institut für Psycholinguistik. 20 Durs Grünbein: Der Cartesische Hund. In: ders.: Gedichte. Bücher I–III. Frankfurt a.M. 2006, S. 181.
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te), sechs Zeilen lang, dann machte er sich aus dem Staub“,21 und auch eine dazugehörige ebenso kurze, dabei nicht unwichtige Erwähnung im Schlußwort zur Schädelbasislektion von 2006 außer Acht lässt,22 vor allem ausführlich in einem viele Tausend Alexandriner umfassenden Versepos „Vom Schnee oder Descartes in Deutschland“ aus dem Jahr 2003. Als ein sehr ausführlicher Kommentar dazu sind die 2008 erschienenen Meditationen Der cartesische Taucher zu verstehen, und auch das Gespräch Michael Eskins mit Durs Grünbein Tauchen mit Descartes von 2011 muss als ein solcher auslegender Begleittext angesehen werden. Ein kleiner Hinweis findet sich noch – wie oben angeführt – in der Poetikvorlesung Vom Stellenwert der Worte von 2010. Die Beschäftigung Grünbeins mit dem Werk René Descartes’, vor allem den Meditationes de prima philosophia, wird als eine zweite und in Verlängerung bzw. Erweiterung seiner bisherigen gedanklichen Entwicklung stehende poetologische Reflexion zu verstehen sein. Es ist hier also nicht die Rede von Zäsur im Sinne einer Wende, oder einer Abkehr, oder eines grundsätzlichen Neubeginns. Sondern Grünbein – so vielmehr die Vermutung – findet in der Philosophie René Descartes’ eine neue Begrifflichkeit, um seiner Frage, wie Dichtung und Cortex funktionell zusammenhängen, nachzugehen, und ein philosophisches Instrumentarium, das seinen eigenen poetologischen Ansatz besser erklären kann als die Position einer ‚cerebralen Poesie‘, in der Dichtung mit neuronaler Tätigkeit reduktionistisch in eins zusammenfällt. Es soll hier versucht werden – um es vorwegzunehmen –, auf der Grundlage von Grünbeins kritischen Descartes-Lektüren und -Aneignungen und den darauf aufsetzenden poetologischen Selbsterkundungen Gründe in Grünbeins Werk zu finden, die es erlauben, mit Plausibilität von Dichtung als Ergebnis eines körperlichen Prozesses zu sprechen – so wie es im embodiment-Ansatz vertreten wird. Das wird nicht mit der Eleganz und Klarheit geschehen können, die für ein solches Unterfangen wünschenswert wäre, denn Grünbein hat im Verlaufe der Entwicklung seiner theoretischen Positionen viele kenntlich gemachte und unkenntliche Ansätze benutzt, um seinem dichterischen Ich auf die Spur zu kommen. Leider verwendet Grünbein auch die Redeweise von Cogito, Descartes’ ‚Ich denke‘, lyrisches Ich, Ich des Dichters usw. wenig trennscharf. In den Literaturwissenschaften und der Erkenntnistheorie sind damit fundamental unterschiedliche Dinge bezeichnet. Auch sind seine poetologischen Texte für die hier vorgelegte Untersuchung nicht von gewünschter analytischer Schärfe, sondern operieren – wie es Dich-
|| 21 Grünbein, Schlußwort zur Schädelbasislektion, S. 394. 22 Ebd.
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tung nun einmal macht – häufig ausgreifend mit Bildern, Anekdoten und Vergleichen. Der Text, der noch am ehesten Zeugnis ablegt von seinen theoretischen und intensiven Descartes-Studien und -Lektüren, sind die drei unter dem Titel Der cartesische Taucher veröffentlichten Meditationen. Dieses Bändchen erschien 2008, aber bereits im Wintersemester 2007/2008 hatte Grünbein diese zurecht Meditationen genannten Essays, denn sie wollen keine schulphilosophische Diskussion cartesischer Philosophie sein,23 als Heinrich-Heine-Gastprofessor an der Düsseldorfer Universität gelesen und vorgestellt. Von besonderem Interesse für die Rekonstruktion von Grünbeins Erkundung des Selbst, die ihren Ausgangspunkt bei Descartes nimmt, ist die dritte Meditation und darin der längere Exkurs, in dem Grünbein die initiale Frage der ersten Meditation aufgreift, wie das ego cogito und das lyrische Ich zusammenhängen, um dann daran eine kurze Geschichte des cartesianischen Dualismus und des Leib-Seele-Problems anzuschließen. Dieser Exkurs beginnt mit „An dieser Stelle ist ein Exkurs angebracht [...]“ und geht bis „Womit ich zurückkehre zum eigentlichen Bild dieses philosophierenden Vagabunden und Musketiers“.24 Grünbein unternimmt in diesem Exkurs folgende Denkbewegung: Zunächst kommt es ihm auf Gemeinsamkeiten an, die das ego cogito mit dem lyrischen Ich besitzt.25 Denn beide „Subjektformen“ existieren nicht in einer reinen oder transzendenten Form, was Grünbein für das cartesische ego bereits in der ersten Meditation in einer kleinen Seitenbemerkung zu Edmund Husserls Cartesianischen Meditationen und der hieran anschließenden Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys gezeigt hat. Weiterhin sind dem ego cogito und dem poetischen Ich gemeinsam, dass sie „imaginäre Größe(n)“ sind, die ihre Existenz der Sprache verdanken.26 Wie das cogito wegen seiner grammatischen Eigenschaft der Transitivität27 das bzw. sein ego hervorbringt, wird auch das poetische Ich von Sprache erzeugt: „Aus ihr geht es hervor, von ihr nährt es sich, in ihr bewegt es sich wie der Fisch im Wasser.“28 Mit dem Hinweis auf den rhetorischen Charakter der Ich-Konstituierung zitiert Grünbein einen Topos der Descartes-Kritik
|| 23 Grünbein sagt im Interview mit Michael Eskin über diesen Text, dass er eine „Expedition mit offenem Ausgang, kein Schaulaufen mit festen Begriffen“ sei (Eskin, Tauchen mit Descartes. Gespräch mit Durs Grünbein, S. 390). 24 Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 88–109. 25 Vgl. ebd., S. 88. 26 Ebd., S. 90 u. 88. 27 Die Valenz des Prädikats ‚denken‘ fordert mindestens ein Subjekt-Argument. 28 Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 89.
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bzw. der analytischen Philosophie, der vor allem seit Friedrich Nietzsche geläufig ist.29 Eine weitere Gemeinsamkeit bestimmt Grünbein dann darin, dass denkendes und poetisches Ich eine analog zueinander verlaufende Entwicklung und Geschichte besäßen. Grünbein rekapituliert diese gemeinsame Historie in einem kurzen Abriss und schließt dann: Sieht man genauer hin, so gleichen die Transformationen des lyrischen Ichs auffällig denen, die das Cogito-Ich durchmachen mußte in der Geschichte der Phänomenologie. Die Resultate ähneln sich auf erstaunliche Weise.30
Eine letzte Gemeinsamkeit behauptet Grünbein in dem Umstand, dass das erkennende und das dichtende Ich jeweils mit der Tätigkeit des Experimentierens und Dichtens zusammenhängen, „[...] mit dem Unterschied, daß im Falle des Wissenschaftlers die Tätigkeit der Intelligenz dem Ereignis vorangeht, während sie im Falle des Schriftstellers nachfolgt“.31 Grünbein erreicht mit dieser Aufzählung der Gemeinsamkeiten, die das denkende mit dem lyrischen Ich besitzt, dass eine Rekonstruktion des ego cogito durch die Geschichte des Dualismus hindurch in naheliegender Weise die des lyrischen Ichs nachzeichnen muss. Grünbein ist in einer gewissen Weise gezwungen, das ego cogito mit dem lyrischen Ich engzuführen, hatte er doch bereits in der ersten Meditation gefragt: „Geht von Descartes womöglich ein Impuls aus, ohne den auch das Ich des Dichters nicht mehr gedacht werden kann?“32
|| 29 So heißt es bei Friedrich Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse: „Was thut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? Seit Descartes – und zwar mehr aus Trotz gegen ihn, als auf Grund seines Vorgangs – macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten Seelen-Begriff, unter dem Anschein einer Kritik des Subjekt- und Prädikat-Begriffs – das heißt: ein Attentat auf die Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philosophie, als eine erkenntnistheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen, antichristlich: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs antireligiös. Ehemals nämlich glaubte man an ‚die Seele‘, wie man an die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte: man sagte, ‚Ich‘ ist Bedingung, ‚denke‘ ist Prädikat und bedingt – Denken ist eine Thätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache gedacht werden muss. Nun versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List, ob man nicht aus diesem Netze heraus könne, – ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei: ‚denke‘ Bedingung, ‚Ich‘ bedingt; ‚Ich‘ also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird.“ Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Hrsg. von Marcus Andreas Born. Berlin u.a. 2014, Kap. 5, Nr. 54. 30 Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 92. 31 Ebd., S. 93. 32 Ebd., S. 21.
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Nach einem Zwischenbild, in dem Grünbein mit seiner intimen Kenntnis der flämischen Malerei des 17. Jahrhunderts dem Leser die Person Descartes’ anschaulich und plastisch vor Augen führt, beginnt ein zweiter Argumentationsstrang innerhalb des Exkurses, der insbesondere der Rehabilitierung der Person des Philosophen dienen soll. Denn wenn auch der Cartesianismus „mausetot“ ist, heißt es doch, „sein Namensgeber aber bringt die Gemüter noch immer in Wallung“.33 Hinter aller kulturellen Entwicklung der letzten 350 Jahre erblickt man „klar konturiert, diesen einen tapferen Mann“, der aber nicht der „grabeskalte Methodiker“, nicht das „Schreckgespenst einer stets rechthaberischen Ratio“, nicht die „Vogelscheuche, von der das Reallexikon raunt“ ist, der nicht der „Leibhaftige“ noch der „elegante Sündenbock für alle wissenschaftlichen Katastrophen vom Tierversuch (Adornos verkanntes Kaninchen) bis zum Abwurf der Wasserstoffbombe“ ist, und der nicht als „Hauptverschwörer die Instrumente zur Weltbeherrschung bereitgestellt“ hat und so die „begehrteste persona non grata der Geistesgeschichte“ wurde.34 Denn obwohl in der Nachfolge von Descartes so eminent wichtige und wirkungsmächtige Denker wie Baruch de Spinoza, Blaise Pascal und Gottfried Wilhelm Leibniz35 gestanden und die rationalistische Philosophie weiterentwickelt haben, stehe alleine Descartes für den „Sündenfall“, der „den totalen Krieg gegen die Natur ausgelöst“ habe.36 Im Wesentlichen schließt Grünbein sich hier der populärphilosophischen Position an, dass das von Descartes inaugurierte mechanistische Weltbild eine zunehmende Zerstörung der Umwelt bewirkt hätte. An einer späteren Textstelle witzelt Grünbein gemeinsam mit Stanley Cavell, der in Der Anspruch der Vernunft37 behauptet hatte, dass es Descartes’ Texte – „so kurz wie dünne Bücher“ – gewesen seien, die den Widerspruch der Philosophen beschworen hätten, denn es „dürfe so wenig Argumentation einfach nicht unbeantwortet bleiben“.38 Mit einer Wende zum ontologischen Aspekt der Rationalismus-Kritik heißt es dann:
|| 33 Ebd., S. 98. 34 Ebd., S. 94f., 96, 97, 97f., 109, 107, 108. 35 Grünbein hat auch zentrale Descartes-Nachfolger wie Arnold Geulincx oder Nicolas Malebranche wahrgenommen (Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 101). 36 Ebd., S. 98. 37 Stanley Cavell: Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein. Skeptizismus, Moral und Tragödie. Frankfurt a.M. 2006. 38 Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 102; Cavell, Der Anspruch der Vernunft, S. 42 (Hervorhebung von Cavell).
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‚Aber wo bleibt‘, fragt mit Tremolostimme der Philosoph Heidegger, ‚wo bleibt bei den wissenschaftlich registrierbaren Gehirnströmen der blühende Baum? Wo bleibt die Wiese? Wo bleibt der Mensch?‘39
So „mausetot“, wie Grünbein behauptet, ist für ihn der Cartesianismus allerdings dann doch nicht. Denn nach der versuchten Rehabilitierung des Philosophen verlässt Grünbein die Bühne, auf der er Personen und Positionen der historischen Descartes-Rezeption und -Kritik gemustert hat, und wendet sich zeitgenössischen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgekommenen Fragen und Problemen zu, die allesamt auch als Reaktionen auf die cartesische Philosophie verstanden werden können. So geht Grünbein auf die antidualistischen Positionen der Hirnforscher Antonio Damasio und Gerald Edelmann ein. Von Antonio Damasio zitiert Grünbein den 1995 auch in deutscher Sprache erschienenen Titel Descartes’ Irrtum – Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn,40 in dem Damasio die Theorie der somatischen Marker aufstellt, nach der das Gehirn für seine mentalen Prozesse (Emotionen, Urteile, Entscheidungen usw.) Rückkopplungen von körperlichen Zuständen („body loops“ und „as-if body loops“) benötige.41 Damasio steht für Durs Grünbein dabei pars pro toto für die Kritik der Hirnforschung und Neuropsychologie an dem von Descartes inaugurierten Dualismus, der insbesondere eine Trennung von Denken und Fühlen/Empfinden und damit eine Behinderung der empirischen Erforschung der fühlenden und empfindenden Bewusstseinsprozesse nach sich gezogen habe.42 Gerald Edelman, der 1972 den Nobelpreis für immunbiologische Arbeiten erhalten hat, hat in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Theorie des Neuronalen Darwinismus entwickelt, nach der die darwinistischen Prinzipien der Selektion und Adaption auch auf neuronaler Ebene gelten können sollen.43
|| 39 Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 98; Grünbein zitiert hier aus Martin Heidegger: Was heißt Denken? In: ders.: Gesamtausgabe Bd. 8, 1. Abteilung. Veröffentlichte Schriften 1910‒1976. Frankfurt a.M. 2002. 40 Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum. München u.a. 1995. 41 „Von rückläufigen Schaltkreisen im Gehirn ist stattdessen die Rede, von Rückkopplungsschleifen chemischer Natur, so Damasio [...].“, Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 99. 42 Ebd. 43 Einschlägig ist hier die Trilogie Gerald Edelmans: Neural Darwinism. The theory of neuronal group selection. New York 1987 (deutsch 1993); Topobiology. New York 1988 sowie The Remembered Present. A biological theory of consciousness. New York 1989; vgl. auch das populärwissenschaftliche Buch Bright Air, Brilliant Fire. On the matter of the mind. New York 1992 (deutsch 1995) sowie Gerald Edelman; Giulio Tononi: A Universe of Consciousness. How matter becomes imagination. New York 2000.
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Grünbein zitiert weder einen konkreten Titel Edelmanns, noch aus einem seiner Werke, nennt ihn aber allgemein den „Begründer einer Denkrichtung, die sich neuronaler Darwinismus nennt“.44 Weil er aber auch von der „Selektion neuronaler Gruppen bei der Entstehung des Geistes“ spricht,45 ist zu vermuten, dass er zumindest Gehirn und Geist. Wie aus Materie Bewusstsein entsteht gelesen hat, wo Edelmann und Tononi erklären, wie es mit den drei Prinzipien der Entwicklungsselektion, der Erfahrungsselektion und reentranter Prozesse im Verlauf der Evolution und Höherentwicklung zur Entstehung von Geist gekommen ist.46 Diesen beiden in ihren Grundsätzen vorgestellten Positionen der Hirnforschung hält Grünbein bei dem ebenso grundsätzlichen Vorwurf, dass „die meisten Argumente der Fachleute an Descartes’ Meditationen vorbei (zielen)“,47 den Einwand entgegen, dass Descartes bis zuletzt sehr wohl an dem Problem der Gefühle und Passionen, eben an Les passions de l’âme von 1649 gearbeitet hätte, wo er das Zusammenwirken von Affekten, Erkenntnis und Handlung durchdacht habe, das gar das Hauptgesprächsthema zwischen ihm und der Königin Christine am schwedischen Hof gewesen wäre. Und die philosophischen Versuche, die Intentionalität (dass „der Geist immer schon auf etwas verweist“48) und Interaktionalität des Geistes („die ihn an Bedeutungen und Umwelten fesselt“49), so wie sie in späteren Versuchen von Franz Brentano oder Hilary Putnam eingeholt worden seien, wären in Descartes’ anthropologisch fundierter Philosophie sehr wohl bereits angelegt gewesen.50 Die Kritik an den Neurowissenschaften und der Neuropsychologie, die allzu schlicht und naiv von einem „Rationalismus in Kinderschuhen“ bei Descartes ausgegangen wären, formuliert Grünbein auch gegenüber den Vertretern einer Philosophie des Geistes. Hier zitiert Grünbein Gilbert Ryles Begriff des Geistes und führt den dort publizierten Aufsatz Descartes’ Mythos an, aus dem er dann Ryle zitiert, wie dieser von dem „Dogma vom Gespenst in der Maschine“ mit „absichtlicher Geringschätzung“ spreche.51 Ryle hält dort Descartes bekannterweise vor, insofern einen Kategorienfehler begangen zu haben, als dass Körper
|| 44 Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 99. 45 Ebd. 46 Gerald Edelman; Giulio Tononi: Gehirn und Geist. Wie aus Materie Bewusstsein entsteht. München 2004, S. 115ff. 47 Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 103. 48 Ebd., S. 100. 49 Ebd. 50 Vgl. ebd. 51 Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes. Stuttgart 1969, S. 13.
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und Geist nicht derselben Kategorie angehören und deshalb Descartes nicht neben dem Körper auch noch eine Erklärung für den Geist hätte suchen müssen.52 Denn wenn auch Körper oder die res extensa im Raum existierten, hieße das nicht, dass auch der Geist in einem Raum existieren müsse. Im Fortgang seines Gedankens kommt Grünbein dann auf John R. Searles Geist. Eine Einführung53 zu sprechen, aus dem er das Kapitel „Descartes und andere Katastrophen“ anführt, in dem der Philosoph das Körper-Geist-Problem und weitere im Cartesianismus diskutierte Probleme (des Fremdpsychischen, des Außenweltskeptizismus, der Wahrnehmung, des freien Willens etc.) rekapituliert.54 Dieser anti-dualistischen Kritik aus dem Lager der Hirnforschung und der Philosophie des Geistes hält Grünbein Argumente entgegen, die – wie bereits oben gezeigt – aus der Sicht der Sprachphilosophie gedacht sind, und die sich – wie jetzt dargelegt werden soll – aus Beständen jüngerer neurowissenschaftlicher Forschung speisen. Der für ihn vielleicht gewichtigste Gewährsmann jüngerer Neuroforschung ist Benjamin Libet und die von ihm 1979 durchgeführten Libet-Experimente, durch die er das Mind-Time-Effekt genannte Phänomen entdeckte.55 Mit dem Mind-Time-Effekt bezeichnet Libet die unerwartete und intuitiv schwer nachvollziehbare Beobachtung, dass neuronale Aktivitäten im Gehirn, die eine be-
|| 52 „Dennoch hört man immer wieder vom ‚Leib-Seele-Dualismus als der zentralen Denkschwierigkeit und ihrer langen gespenstischen Laufbahn durch die Geschichte‘. Descartes oder der Mythos vom Gespenst in der Maschine witzelt ein Vertreter der analytischen Philosophie.“ (Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 101) 53 John R. Searle: Geist. Eine Einführung. Frankfurt a. M. 2006. 54 Ebd., S. 19–34. 55 Grünbein hat sich offensichtlich mit dem 2005 in das Deutsche übersetzte Buch Libets Mind Time intensiv befasst, denn er zitiert den von Libet literarisch imaginierten Dialog Libets mit Descartes, in dem der Neurowissenschaftler den Rationalisten zu ausgewählten Problemen der Neurophilosophie befragt und diesen antworten lässt. Grünbein schließt sich eng den dort gemachten Überlegungen an und viele Gesprächsthemen des imaginierten Dialogs finden sich im Libet-Abschnitt von Grünbeins dritter Meditation wieder. In dem Dialog Libets wird bereits Descartes’ Irrtum von Antonio Damasio zitiert, auch die Bedeutung der Gefühle für das Werk Descartes’ hervorgehoben, die Intuition des Mathematikers wird angeführt, wie auch fehlende experimentelle Testverfahren der modernen Neurowissenschaften, bis hin zur unüberprüfbaren Axiomatik des ‚cogito ergo sum‘‚ usw. Alle diese Versatzstücke baut Grünbein in seine Argumentation mit ein, bis sich der Philosoph und der Neurowissenschaftler „schließlich beim Stand von 1:1, nicht ohne gegenseitige Verbeugungen über die letzten vierhundert Jahre hinweg“ trennen. Grünbein tritt wenig später nach dem Vorbild Libets selber in einen imaginären Dialog mit seinem Leser ein. Vgl. Benjamin Libet: Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert. Frankfurt a.M. 2005, S. 232–247 und Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 103–105 und 112–119.
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stimmte motorische Bewegung des Körpers einleiten sollen, bereits zu messen sind, bevor die dazu gehörende Entscheidung, beispielsweise die Hand zu heben, überhaupt bewusst war.56 Denn in seinen Experimenten liegt der Zeitpunkt, zu dem die Willensentscheidung bewusst wird, deutlich nach dem Zeitpunkt, zu dem der Motorcortex die für das Handheben charakteristische und induzierende Nervenaktion schon gestartet hatte. Die Konsequenzen der LibetExperimente haben dann für Diskussionen in der Philosophie des Geistes gesorgt, weil damit das Konzept einer freien menschlichen Willenshandlung problematisch wurde. Grünbein nutzt die durch Libet experimentell gewonnenen Einsichten nun so für sich, indem er den Mind-Time-Effekt mit dem künstlerischen – auch dem mathematischen – Schaffensprozess analogisiert: Wie das Gehirn vor einer Bewusstwerdung der Entscheidung, aktiv einen motorischen Handlungsablauf zu wollen und zu vollziehen, diesen vorbereitend in Gang setzt, so empfängt auch das Gehirn des Künstlers „in tiefer Versunkenheit“ und „doch ganz bei der Sache“, gewissermaßen „auf Autopilot“57, fliegend die Ergebnisse und Produktionen seines künstlerischen Wollens. Die Ausführung dieser eher nur angedeuteten Analogie bleibt Grünbein dem Leser schuldig und erklärt nicht weiter, wie denn ein schöpferischer Prozess mit dem Künstler-Ich zusammenhängt, wenn die Entscheidung des Ichs nicht kausaler Grund für die Anstrengung des schöpferischen Prozesses ist, denn diese Frage stellt sich ja nach dem Libet-Experiment. Die Hinweise auf die Intuition erklären das Problem nicht wirklich, sondern verlagern die Begründung nur in einen anderen Bereich. Grünbein scheint sich an dieser eher entscheidenden Stelle hinter Metaphern wie ‚Autopilot‘, ‚Versunkenheit‘ und ‚schöpferischer Prozess‘ zu verstecken und lässt seine Frage, was denn gemeint sei, „wenn man vom lyrischen Ich spricht?“,58 unbeantwortet. Die Analogie ist auch insofern mutig, als dass von Libet kein empirisches Indiz bzw. kein experimenteller Hinweis dafür angeführt wird, dass auch dem willentlichen Entscheid ein Gedicht zu verfassen, eine neuronale Aktivierung in einem entsprechenden Gehirnareal, wie womöglich dem Broca-Zentrum (denn Libets Experimente bezogen sich auf den Motorcortex), vorangeht. Jedoch hat Grünbein mit Libet und dem experimentell gestützten Hinweis darauf, dass offensichtlich neben dem Ich, das nur vermeintlich autonome Entscheidungen trifft, und dem physischen Gehirn, das, unabhängig vom Ich und im Cortex
|| 56 Vgl. ebd., S. 104 und Libet, Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, S. 232–247. 57 Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 104. 58 Ebd., S. 21.
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elektrisch nachprüfbar, noch nicht willentlich entschiedene Bewegungsabläufe vorbereitet, zwei getrennt voneinander zu denkende Einheiten oder Instanzen vorliegen, ein Beispiel gefunden, wie in der Gegenwartsphilosophie an dualistischen Positionen festgehalten werden kann. Somit hat Grünbein mit Benjamin Libet, seinen experimentell belegten Einsichten und darauf fußenden Folgerungen einen Zeugen gefunden, auf den er sich sehr gut berufen kann, wenn er zumindest an gemäßigt dualistischen Positionen festhalten will. So lässt Libet in seinem imaginierten Dialog René Descartes wegen der durch die Experimente gewonnenen Einsichten seinen ursprünglich strikten Dualismus moderater formulieren: Ich habe jedoch anerkannt, dass das Gehirn und der Geist eng interagieren; das Gehirn ist der Ort, an dem der Geist durch Wahrnehmungen informiert wird und wo der Geist seinerseits das Gehirn dazu veranlassen kann, Körperbewegungen zu steuern. Angesichts der gewaltigen Anhäufung von Daten in den letzten Jahrhunderten, die zeigen, dass der Geist zu seiner Manifestation vom Gehirn abhängt, könnte ich in Erwägung ziehen, das Bestehen darauf, dass die Substanzen von Geist und Körper jeweils für sich existieren können, aufzugeben. Das würde trotzdem meinen Vorschlag nicht ausschließen, dass Geist und Gehirn verschiedene Dinge oder Entitäten sind, d.h. meinen so genannten Dualismus.59
Grünbein kann also mit dieser Rückversicherung in experimenteller Kognitionswissenschaft und Philosophie frank und frei seine Überzeugung äußern, dass es menschliches Sein nur in Form einer „Wechselwirkung“ gibt, als „Doppelnatur von Psyche und Physis“, die „mit jedem Atemzug oszilliert“.60 Gerade mit der Begrifflichkeit von „Wechselwirkung“ gibt Grünbein einen deutlichen Hinweis darauf, dass Descartes nach seiner Überzeugung nicht als Anhänger eines strikten Dualismus gelesen werden muss. Seine Haltung lässt sich am ehesten als deutliche und empathisch vertretene Abgrenzung gegenüber reduktionistischen und/oder monistischen Positionen verstehen, ohne dass diesen positive, die Qualität des Dualismus von Leib-Geist näher bestimmende Erklärungen hinzugestellt würden. Schon der bereits in der ersten Meditation angeführte berühmte Briefwechsel Descartes’ mit der Pfalzgräfin von Böhmen61 hatte den Zweck, die in Descartes’ System noch offen gebliebene Frage, wie denn bei einer Trennung in eine denkende und eine ausgedehnte Substanz das eine auf das andere einwirken könne, zu thematisieren:
|| 59 Libet, Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, S. 242 (Hervorhebung Ch.adH.). 60 Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 102 und 106. 61 Ebd., S. 11–20.
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Und nun Elisabeths unschuldiger Einwand: Wie kann, fragt sie, die Seele, etwas Immaterielles auf einen Körper einwirken, der ausgedehnt ist und materiell?62
Beantwortet wird diese Frage – abgesehen von einem emphatischen Bekenntnis – allerdings auch dort nicht: Wer ich im Geiste bin, wird man nie wissen: Keiner kann in mich hineinsehen, nicht einmal ich selbst. Tief verborgen, wenn auch nicht eingemauert – auf die Formel würde ich mich in aller Zweideutigkeit einigen. [...] Unzertrennlich, das sind sie, doch niemals identisch, wie man es auch dreht und wendet. Muß man erst Künstler sein, um bei diesem Dualismus ganz auf seine Kosten zu kommen?63
Wie können Grünbeins Descartes-Lektüren abschließend bewertet werden? Offensichtlich sind diese Lektüren nicht in der Absicht vorgenommen worden, so tiefe oder detaillierte Kenntnisse im Cartesianismus zu erwerben, dass sie eine schulphilosophische Diskussion erlaubt hätten. Gleichwohl weisen seine Descartes-Lektüren ein breites Spektrum auf, das von den Hauptwerken64 bis hin zum Briefwechsel reicht und durch die Wahrnehmung einschlägiger und aktueller Forschungsliteratur ergänzt ist. Aus der Sicht einer Philosophie des Geistes kennt Grünbein die grundsätzlichen Positionen des interaktionistischen Substanzdualismus, monistische Reaktionen hierauf wie den Behaviorismus oder identitätstheoretische Ansätze und ist auch über weitere Antworten auf den Dualismus wie den nichtreduktiven Materialismus und die Emergenz kundig.65 Auch die im Bereich der Neuro- und Kognitionswissenschaften vorliegenden Kenntnisse sind durchaus beeindruckend, wenn sie auch nicht – jedenfalls nicht erkennbar – fachwissenschaftlich derart in die Tiefe gehen, dass Grünbein Forschungsergebnisse hätte systematisch referieren oder ihre methodischen
|| 62 Ebd., S. 19. Grünbein geht hier insofern klassisch vor, als dass die Frage nach der Qualität des Zusammenhangs von res extensa und res cogitans häufig an der Korrespondenz Descartes’ mit der Pfalzgräfin aufgehängt wird. So auch die von Grünbein zitierte Descartes-Studie Peter Machamer, J.E. McGuire: Descartes’s changing mind. Princeton u.a. 2009, S. 232 oder: Gábor Boros: René Descartes’ Werdegang. Der allgütige Gott und die wertfreie Natur. Würzburg 2001, S. 205–218. 63 Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 106f. 64 „Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung“ von 1637, „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“ von 1641, „Die Prinzipien der Philosophie“ von 1644, „Die Leidenschaften der Seele“ von 1649 und „Über den Menschen“ posthum 1692, alle in: René Descartes: Philosophische Schriften in einem Band. Hrsg. von Ernst Cassirer. Hamburg 1996. 65 Vgl. Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 71, 105.
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und gegebenenfalls experimentellen Ansätze wissenschaftlich auswerten wollen. Ein Motiv dieser Lektüren ist offensichtlich gewesen, jüngere Einsichten der kognitionswissenschaftlichen Forschung gegenüber seinen Fragen, wie das lyrische Ich zu denken sei, in Anschlag zu bringen. Auf der einen Seite kann also festgehalten werden, dass Grünbein sehr klar die Grenzen reduktionistischer und/oder monistischer Ansätze benennt und – durchaus auch methodologisch legitim, wie beispielsweise in klinischen Kontexten – seinen Dualismus aus der subjektiven phänomenalen Alltagserfahrung heraus ableitet. Mit Benjamin Libet und Karl Raimund Popper bzw. John C. Eccles, die er an anderer Stelle erwähnt, benennt er auch prominente Proponenten eines Dualismus; vor allem die experimentellen Belege Libets haben für Grünbein starke argumentative Überzeugungskraft. Grünbein verfolgt seine vielfältigen Anläufe, das ego cogito und das lyrische Ich im Verhältnis zum Körper und zur Außenwelt zu erklären und dieses Verhältnis beispielhaft an Positionen der jüngeren Entwicklungen der Leib-Seele-Problematik zu veranschaulichen, aber insofern nicht konsequent weiter, als dass er einmal nach aller Argumentation die prinzipielle Unerklärlichkeit des Phänomens eingestehen muss („Wer ich im Geiste bin, wird man nie wissen.“) und dann zweitens vor der „Zweideutigkeit“66 seines Erklärungsansatzes kapitulieren muss und seine Überzeugung hilfsweise mit einem Bild, dem Bild des Flaschenteufels, des cartesischen Tauchers67 wiedergibt, also auf eine analytische Erklärung verzichtet. Dieses einander Gegenüberstehen nicht unbedingt konzise abgesteckter nicht-reduktionistischer und nicht-dualistischer Positionen im Werk Grünbeins verlangt nach einer Erklärung. Diese ist in einem späteren poetologischen Text zu finden, in dem Grünbein das Gedicht Am Feldrain zum neuen gedanklichen Fluchtpunkt seiner Arbeit und Dichtung erklärt und von dem aus das Entstehen von Dichtung und das Ich verstanden werden müsse. Diese poetologische Neubesinnung in Vom Stellenwert der Worte kann vor dem Hintergrund von Grünbeins Versuch, den dualistischen Ansatz zu rehabilitieren, ohne den monistischen ganz aufgeben zu können, noch am ehesten mit dem embodiment-Ansatz erklärt werden. Deshalb soll im Folgenden einmal erläutert werden, was unter dem Ansatz der embodied cognition oder des embodiment zu verstehen ist. Dann soll zweitens gezeigt werden – eher kursorisch –, inwieweit der embodied cognitionAnsatz an Descartes’ Philosophie anschlussfähig ist – selbstverständlich nicht in dem trivialen Sinne, dass embodiment in der Geschichte des Leib-Seele-
|| 66 Ebd., S. 106f. 67 Ebd., S. 106.
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Problems einer von vielen Überwindungsversuchen des cartesischen Dualismus ist. Diese Anschlussfähigkeit vorab aufzuzeigen ist schon deshalb wichtig, da es ansonsten unsinnig wäre, späterhin in Grünbeins Descartes-Interpretation embodied cognition zu diskutieren, wenn sie schon bei Descartes nicht anschlussfähig ist. Dies könnte nur zum Preis der Behauptung geschehen, dass Grünbein Descartes fehlinterpretiert habe. Auf dieser Grundlage soll dann abschließend aufgezeigt werden, wie der „Psychopoetik“ Grünbeins – jedenfalls so, wie er sie in Vom Stellenwert der Worte formuliert – ein embodiment-Ansatz zugrunde liegt.
2 Was ist embodied cognition? Embodied cognition ist innerhalb der Kognitionswissenschaften eine Richtung neben weiteren wie extended mind, environmentalism, embedded cognition oder distributed cognition. Alle diese Richtungen lassen sich in das umfassendere Paradigma der situated cognition integrieren. Allen diesen Varianten der situated cognition ist gemeinsam, dass sie Kognition und mentale Aktivität als kontext- und situationsabhängig betrachten, ob dies im kleineren Maßstab der Körper ist, oder im größeren Maßstab die Umwelt.68 Der Ansatz der embodied cognition69 vertritt im Kern die Überzeugung, dass das menschliche Denken und insgesamt Kognition nur dann hinreichend erklärt ist, wenn zugestanden wird, dass es nicht nur in einem Körper – das wäre trivial –, sondern mit einem Körper stattfindet. Eine Erklärung dessen, was unter embodiment zu verstehen ist, geben Lakoff und Johnson in Philosophy in the Flesh von 1999: Reason is not disembodied, as the tradition has largely held, but arises from the nature of our brains, bodies, and bodily experience. This is not just the innocuous and obvious claim that we need a body to reason; rather, it is the striking claim that the very structure of reason itself comes from the details of our embodiment. The same neural and cognitive mechanisms that allow us to perceive and move around also create our conceptual sys|| 68 Vgl. hierzu The Cambridge handbook of situated cognition. Hrsg. von Philip Robbins und Murat Aydede. Cambridge u.a. 2009. 69 Der Redeweise von ‚Ansatz‘ wird sich hier deshalb angeschlossen, weil das embodiment keineswegs eine abgesicherte Theorie ist, sondern viel eher ein Forschungsprogramm beschreibt, das eine Fülle von neuen und durch „standard cognitive science“ – so wie Shapiro es nennt – nur schwer erklärbaren Beobachtungen untersucht, die in der Psychologie, in den Verhaltenswissenschaften oder in den Kognitionswissenschaften etc. gemacht werden und von denen die Entdeckung der Spiegelneuronen vielleicht noch die bekannteste ist (Lawrence Shapiro: Embodied cognition. London, New York 2011, S. 1f.).
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tems and modes of reason. Thus, to understand reason we must understand the details of our visual system, our motor system, and the general mechanisms of neural binding. In summary, reason is not, in any way, a transcendent feature of the universe or of disembodied mind. lnstead, it is shaped crucially by the peculiarities of our human bodies, by the remarkable details of the neural structure of our brains, and by the specifics of our everyday functioning in the world.70
Der menschliche Geist, der Körper und auch die Umwelt werden so als Komponenten eines dynamischen Gesamtsystems begriffen, in dem Kognition im Sinne eines wechselwirkenden Prozesses zwischen allen diesen Bereichen entsteht. Damit ist offenkundig der alte Dualismus vermieden, der Geist und Materie voneinander scheidet, Kognition und Leib voneinander trennt. Ebenfalls erklärt dieser Ansatz behavioristische und computationale Positionen für überholt, die mentale Zustände nur über ihre Effekte erklären wollen oder das Phänomen Geist im menschlichen Körper über die Computer-Analogie – Geist und Gehirn sind so zu verstehen wie Software in Hardware – verstehbar machen wollen.71 Weil der embodiment-Ansatz keine abgeschlossene Theorie ist, auch kein fest umrissenes Forschungsfeld markiert, können zur Vorstellung des Ansatzes nur unterschiedliche Forschungsprojekte, -richtungen oder -wege skizziert werden. Ein, oder „‚(p)erhaps the best example‘ of embodiment in a living system“,72 stammt aus den Forschungen zur Farbwahrnehmung, so wie sie Varela, Thompson und Rosch angestrengt haben.73 Bekanntlich ist die Retina mit unterschiedlichen Zapfentypen ausgestattet, die für die Wahrnehmung unterschiedlicher, der kurzen, der mittleren und der langen Wellenlängen zuständig sind, wobei die Wahrnehmungsspektren der Zapfen einander auch stark überlappen. Die Farbwahrnehmung ist also eine Funktion der von unterschiedlichen Wellenlängen erregten S-, M- und L-Zapfentypen,74 die nach ihrer Erregung Lichtsignale über eine photochemische Transduktion in neuronale Informationen umwandeln. Das Nervensystem kombiniert dann Signale der drei Zapfentypen, || 70 George Lakoff; Mark Johnson: Philosophy in the flesh. The embodied mind and its challenge to western thought. New York 1999, S. 4. 71 Sicherlich ist hiermit auch keine neue Ideenentwicklung bezeichnet, insofern neben anderen bspw. Martin Heidegger bereits die menschliche Aktivität als Kontextualisierungerfahrung des Systems Körper-Umwelt begriffen hat, und auch die Leibphilosophie Merleau-Pontys, in der Intentionalität auf den Körper zurückgeführt und nicht auf eine willentliche Entscheidung gegründet wird, als Vorläufer des embodied cognition-Ansatzes genannt werden muss. 72 Shapiro, Embodied cognition, S. 81. 73 Francisco J. Varela; Evan Thompson; Eleanor Rosch: The embodied mind. Cognitive science and human experience. Cambridge 1991. 74 Short wavelength receptor, Medium wavelength receptor, Long wavelength receptor; ihre Absorptionsmaxima liegen bei einer Wellenlänge von ca. 420, 534 bzw. 563 Nanometer.
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um Licht einer bestimmten spektralen Verteilung einer Farbe zuzuordnen. Weil letztlich aus einer unbegrenzt möglichen Anzahl unterschiedlicher physikalischer Lichtwellenkombinationen identische Erregungen der S-, M- und L-Zapfen folgen können, kann nicht von einer bestimmten Farbwahrnehmung „grün“ auch auf ein entsprechendes „Grün“ in der Wirklichkeit zurückgeschlossen werden. Denn so spezifisch arbeiten die Zapfen nicht, bzw. sie haben immer ein Wahrnehmungsspektrum. Anders herum: Licht kann in unterschiedlicher Zusammensetzung denselben Farbeindruck erwecken, weil der menschliche Wahrnehmungsapparat nicht in der Lage ist, Licht in seine Spektralfarben zu zerlegen. Das, was also der Mensch als Farbe wahrnimmt, bestimmt sein Körper und nicht etwa das Licht oder ein farbiger Gegenstand. Auch erklärt die bestimmte Art und Weise der anatomischen Verschaltung der Zapfen – so ein zweites Argument für embodiment, das Shapiro von Varela, Thompson und Rosch anführt –, warum kein rötliches Grün oder ein bläuliches Gelb – beides lichtphysikalisch sehr wohl mögliche Farben –, aber sehr wohl ein rötliches Gelb gesehen werden kann, das ein Orange ist. Deshalb folgert Shapiro ‒ und schließt sich damit Varela, Thompson und Rosch an – gibt es keine Farbe in der Welt: „‚Colors are not out there independent of our perceptual and cognitive capacities.‘“75 Vielmehr entstehe Farbe aus einer Ankopplung (coupling) des über spezialisierte Zellen (Zapfen) verfügenden visuellen Systems an bestimmte Eigenschaften (Wellenlängen) der äußeren Welt. Diese aus der Farbwahrnehmung gewonnenen Beispiele machen embodiment nicht nur anschaulich, sondern zeigen auch, wie triftig für embodied cognition argumentiert werden kann. Shapiro identifiziert nun in dem schwer überschaubaren und interdisziplinären Forschungsfeld drei Hauptthemen, die sich für die Diskussion des embodiment als sehr fruchtbar erwiesen hätten.76 Ein forschungsintensiver Themenbereich, der deshalb hier aufgegriffen werden soll, weil er später für die Diskussion, inwieweit im Werk Grünbeins von embodiment gesprochen werden kann, fruchtbar gemacht werden kann, ist das Feld der Konzeptualisierungen von Konzepten und Begriffen. Darunter versteht Shapiro, dass die individuellen organischen Eigenschaften eines Körpers diesem vorgeben, welche Begriffe oder Konzepte dieser überhaupt von der ihn umgebenden Umwelt erwerben kann. Die oben angeführte allgemein gehaltene und auf ein Kollektiv bezogene
|| 75 Shapiro, Embodied cognition, S. 82f. 76 Vgl. hierzu auch M. Six Wilson: Views of Embodied Cognition. In: Psychological Bulletin and Review 9 (2002), S. 625–636.
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Erklärung von Lakoff und Johnson wird in dieser auf den körperlich bedingten Erwerb von Konzepten und Begriffen gewissermaßen individualisiert: That is, the concepts on which an organism relies to understand its surrounding world depend on the kind of body that it has, so that were organisms to differ with respekt to their bodies, they would differ as well in how they understand the world.77
In besonderer Weise tauglich um zu zeigen, wie Grünbeins Lyrik und Poetologie ein embodiment-Ansatz unterlegt ist, ist innerhalb des Bereichs der Konzeptualisierung die kognitive Metapherntheorie Lakoffs und Johnsons. Mit Metaphern beziehen sie sich weniger auf die sprachliche Figur der Tropen; sie sind vielmehr der Überzeugung, dass die Metapher darüber hinaus das Alltagsleben, das menschliche Denken und Handeln – also sein gesamtes „conceptual system“ ‒ durchdringen: „Unser alltägliches Konzeptsystem, nach dem wir sowohl denken als auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich metaphorisch.“78 Konzepte wie Arbeit, Zeit, Liebe etc. lassen sich ohne Rückgriff auf Metaphern nicht oder nur schwerlich erklären. So sind Ideen nur über Metaphern zu verstehen, wie beispielsweise die des Gebäudes („Ist das das Fundament Ihrer Theorie?“), der Nahrung („Die Ideen, die er mir erzählte, hinterließen einen üblen Geschmack.“), der Pflanze („Seine Ideen haben schließlich Früchte getragen.“), des Produkts („Wir sind dabei, wirklich neue Ideen zu entwickeln.“), des Schneideinstruments („Das ist ein scharfsinniger Gedanke.“)79 etc. Der größte Teil des Konzeptsystems sei metaphorisch strukturiert insofern, als dass die meisten Konzepte in Teilen von anderen Konzepten her bzw. Konzepte in Begriffen vieler anderer Metaphern verstanden werden müssten. Das metaphorische Konzept „Zeit ist Geld“ kann das veranschaulichen: „Sie vergeuden meine Zeit“, „Dieses Gerät wird Ihnen viel Zeit ersparen“, „Ich habe keine Zeit zu verschenken“, „Dieser platte Reifen kostete mich eine Stunde“ etc.80 Aber es können eben nicht alle Konzepte immer nur unter Zuhilfenahme von Metaphern verstanden werden, was eine unendliche Iteration von metaphorischen Verweisen bedeuten würde. Von daher fordern Lakoff und Johnson, dass es Konzepte geben muss, die ohne Zuhilfenahme einer Metapher verstehbar sind.81 Die wichtigsten, direkt verstehbaren Konzepte, von denen her sich dann alle metaphorischen Konzepte verstehen lassen, sind die einfachen Raum-Konzepte, wie oben-unten, innen-
|| 77 Shapiro, Embodied cognition, S. 4. 78 Lakoff; Johnson, Philosophy in the flesh, S. 11. 79 Ebd., S. 59ff. (Hervorhebungen von Lakoff; Johnson). 80 Ebd., S. 15ff. 81 Ebd., S. 70.
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außen, vorne-hinten, dran-weg, tief-flach, zentral-peripher etc.82 Diese Raumorientierungen sind Folge des einfachen Umstands, dass der menschliche Körper jede Bewegung durch ein körpermotorisches Programm steuert, das die „Oben-unten-Orientierung entweder verändert, aufrechterhält, voraussetzt oder in einer anderen Weise berücksichtigt“.83 Die diesen Schlüssen trotz ihrer linguistischen Folgerichtigkeit fehlende empirische Evidenz kann durch Experimente zur räumlichen Orientierung des Zeit-Konzepts beigebracht werden. So hat Lera Boroditsky gezeigt, dass das Zeit-Konzept in der englischen Sprache in spatialer Begrifflichkeit beschrieben wird, die Horizontalität also Raumverhältnisse – ausdrückt, während das Zeit-Konzept im Mandarin Vertikalität zeigt. In den von ihr durchgeführten Experimenten antworteten Englisch-Muttersprachler signifikant schneller auf die Wahr-Falsch-Frage „Der März kommt früher als der April“, wenn sie zuvor über Hinweisreize auf Horizontalität geprimt worden waren. Dagegen reagierten Mandarin-Muttersprachler auf die gleiche Frage signifikant schneller, wenn sie auf Vertikalität geprimt worden waren.84 Die Versuchsergebnisse zeigten sich, obwohl beide Versuchsgruppen auf Englisch befragt worden waren. Boroditsky schließt also: „It appears that abstract domains such as time are indeed shaped by metaphorical mappings from more concrete and experimential domains such as space.“85
3 Descartes und embodiment. Oder: Wie strikt ist Descartes’ Dualismus? Nach diesen kurzen Hinweisen zur situated cognition, die dann vor allem den embodiment-Ansatz in den Blick genommen haben, weil dieser Ansatz am ehesten für die cartesischen Schriften Grünbeins fruchtbar gemacht werden kann, soll jetzt untersucht werden, ob und wie dieser Ansatz mit Descartes’ Werk und
|| 82 Vgl. ebd., S. 22. Dazu kommen ontologische Konzepte wie Entität und Gefäß, oder Erfahrungs-Konzepte wie Bewegung, die ebenfalls aus der physischen Erfahrung des Körpers gewonnen werden. 83 Ebd., S. 70. 84 Vgl. Lera Boroditsky: Does Language Shape Thought? Mandarin and English Speakers’ Conceptions of Time. In: Cognitive Psychology 43 (2001), S.1–22. In dem ersten Fall wurde ein Textbild gezeigt, wo ein schwarzer Wurm vor einem weißen Wurm ist; in dem anderen Fall wurde ein Textbild gezeigt, wo ein schwarzer Ball über einem weißen Ball liegt. 85 Lera Boroditsky: Metaphoric structuring. Understanding time through spatial metaphors. In: Cognition 75 (2000), S.1–28, hier S. 26.
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Philosophie kompatibel ist. Denn Grünbeins cartesische Schriften müssen als eine Auseinandersetzung mit der cartesischen Philosophie begriffen werden. Den Türöffner für die Diskussion der Frage innerhalb Descartes’ Werk, wie denn der Körper die Kognition beeinflussen könne und umgekehrt, wie die Seele auf den Körper wirken könne, hat Grünbein bereits mit dem Brief Elisabeths von der Pfalz an René Descartes, der bereits oben zitiert wurde, angeführt. Die Pfalzgräfin hatte zugegeben, Schwierigkeiten bei der Frage zu haben, wie: l’idée par laquelle nous devons juger comment l’âme (non étendue et immatérielle) peut mouvoir le corps, par celle que vous avez eu autrefois de la pesanteur; [...]. Et j’avoue qu’il me serait plus facile de concéder la matière et l’extension à l’âme, que la capacité de mou86 voir un corps et d’en être mu, à un être immatérielle.
Descartes bleibe ihr – so Grünbein – die Antwort schuldig,87 auch wenn aufgrund dieser von Elisabeth identifizierten Argumentationslücke im Werk Descartes’ das Traktat Les passions de l’âme von 1649 entstand. Auch in der VI. Meditation spricht Descartes davon, dass die Natur lehre, dass der Körper mit seinem Ich auf das engste verbunden und „quasi permixtum“, gewissermaßen vermischt sei. Damit bezieht Descartes eine Position, die eine andere Qualität von Dualismus behauptet, als die bis dahin in den „Meditationen“ von ihm verwandte Begrifflichkeit von zwei streng getrennt zu denkenden Substanzen vorgab. In der ‚Übersicht‘ der Meditationen hatte es noch geheißen: Daraus muss geschlossen werden, daß alle Substanzen, die klar und deutlich als verschieden begriffen werden – so wie zum Beispiel Geist und Körper begriffen werden – tatsächlich real voneinander unterschiedene Substanzen sind.88
Dieser Position setzt Descartes nämlich eine entgegengesetzte, zumindest aber relativierende entgegen, die es ihm über menschliche Empfindungen wie Hunger und Schmerz erlaubt, das Verhältnis der Substanzen res cogitans und res extensa wenigstens im Hinblick auf Empfindungen „quasi permixtum“ zu denken: Durch diese Empfindungen des Schmerzes, des Hungers, des Durstes usw. lehrt die Natur auch, daß ich zu meinem Körper nicht etwa nur so hinzugefügt bin, wie ein Seemann sich auf einem Schiff aufhält, sondern daß ich mit ihm auf engste verbunden und gewisser-
|| 86 René Descartes: Elisabeth à Descartes, 10/20 Juin 1643. In: Descartes. Correspondance publiée, avec une introduction et des notes par Ch. Adam et G. Milhaud. Paris 1947 Bd. 5, S. 316. 87 Vgl. Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 19. 88 René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg 1977. Übersicht, S. 14.
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maßen vermischt bin, so daß ich mit ihm zu einem einzigen Etwas zusammengesetzt bin. Andernfalls würde ich, der ich nichts anderes als ein denkendes Ding bin, auch dann keine Schmerzen empfinden, wenn der Körper verletzt wird, sondern ich würde die Verletzung durch den reinen Verstand erfassen, so wie der Seemann durch das Sehvermögen erfaßt, wenn am Schiff irgendein Schaden entsteht; und wenn der Körper nach Essen oder Trinken verlangt, würde ich dies ausdrücklich einsehen und nicht die verworrenen Empfindungen des Hungers und des Durstes haben. Denn sicherlich sind diese Empfindungen des Hungers, des Durstes, des Schmerzes usw. nichts anderes als gewisse verworrene gedankliche Zugriffe, die aus der Vereinigung und gewissermaßen der Vermischung des Geistes mit dem Körper herrühren.89
Grünbein hätte so auch den ihm sicherlich bekannten Briefwechsel Descartes’ mit Mersenne anführen bzw. seinen Brief an den Gelehrten vom 1. April 1640 zitieren können, in dem er ein Beispiel dafür gibt, wie das intrikate Verhältnis von Seele und Leib veranschaulicht werden kann. Denn nach seinem Dafürhalten sind alle Teile des organischen Gehirns daran beteiligt, die Kognition – hier exemplifiziert am menschlichen Erinnerungsvermögen ‒ zu unterstützen. Nicht alleine das Gehirn, auch alle Nerven und Muskeln machen das Gedächtnis aus. Descartes führt als Beispiel einen Lautenspieler an bzw. verweist auf die bekannte Erfahrung von Musikern, dass die Finger scheinbar auch ohne die aktive oder die bewusste Arbeit des Gedächtnisses oder des Gehirns gewissermaßen aus sich heraus wüssten, welche Noten sie zu spielen hätten: Mais je crois que c’est tout le reste du cerveau qui sert le plus à la mémoire, principalement ses parties intérieures, et même aussi que tous les nerfs et les muscles y peuvent servir; en sorte que, par exemple, un joueur de luth a une partie de sa mémoire en ses mains; car la facilité de plier et de disposer ses doigts en diverses façons, qu’il a acquise par habitude, aide à le faire souvenir des passages pour l’exécution desquels il les doit ainsi disposer.90
Diese Argumentation Descartes’ für eine Wirkung des Leibes auf den Geist kann nicht leichtfertig abgetan werden mit dem Hinweis, dass sie zeitgenössisch nicht verstanden oder ihr widersprochen wurde. Unabhängig von der empirischen Evidenz, die bereits oben gezeigt wurde, geht Daniel Garber der Frage philosophisch nach, ob Descartes eine Verursachung des Geistes durch den Leib in direkter oder in einer durch Gott vermittelten Weise durchdacht habe. Garber konzediert zwar, dass es keine eindeutigen Belege weder für die eine noch die andere Behauptung gibt. Aber sowohl in der VI. Meditation als auch in
|| 89 Ebd., VI. Meditation, S. 88. 90 René Descartes: Descartes à Mersenne, 1er Avril 1640. In: Descartes. Correspondance publiée, avec une introduction et des notes par Ch. Adam et G. Milhaud. Paris 1947, Bd. 4, S. 47.
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den Prinzipien der Philosophie argumentiere Descartes, dass alles das, was wir über die Sinne wahrnehmen, etwas anderes sei als unser Geist. In dieser Meditation unterscheide Descartes in leidende und tätige Vermögen für Sinneswahrnehmung und behaupte, dass das Ich mit dem leidenden Vermögen ausgestattet sei und dass das tätige Vermögen nur in der res extensa des Leibes gefunden werden könne. In den Prinzipien argumentiere Descartes zwar ähnlich, verzichte aber auf die Unterscheidung in leidende und tätige Vermögen. Descartes erkläre dort, dass es nicht in der Macht des Geistes liege, diese oder jene Wahrnehmung zu erhalten. Die Sinneswahrnehmung müsse also von etwas anderem verursacht werden als dem menschlichen Geist. Auf der Suche danach, wer (Gott) oder was diese Verursachung leiste, komme Descartes ebenfalls zu dem Schluss, dass es der Leib sein müsse: „And so Descartes concludes, the sensory idea proceeds from a body.“91 Dass Descartes in den Meditationen in leidende und tätige Vermögen der Sinneswahrnehmung unterscheide, auf diese Unterscheidung in den Prinzipien aber verzichte, erlaube – so Garber – letztlich eine starke und eine schwache Begründung der „body-mind-causation“. Während der argumentative Einbau von leidenden und tätigen Vermögen für den Leib als tätige Ursache von Sinneswahrnehmungen plädiere, erlaube der Verzicht auf diese Unterscheidung es, Gott als eine Art Agenten ins Spiel zu bringen, mit dessen Vermittlung die Sinneswahrnehmungen vom Leib in den Geist kämen.92 Mit diesen Hinweisen auf das Verhältnis „quasi permixtum“ von Körper und Geist in den Meditationen und im Briefwechsel und auf die zuletzt angeführten Begründungen für eine Körper-Geist-Wirkung ist für das vorliegende Vorhaben ausreichend dargelegt worden, dass im Werk Descartes’ auch Varianten oder Denkformen einer „body-mind-causation“ gefunden werden können. Dies herauszuarbeiten war eine Vorarbeit für die jetzt folgende Frage, ob auch in den cartesischen Schriften Grünbeins Indizien zu finden sind, die es erlauben, von einer „body-mind-causation“ zu sprechen.
4 Durs Grünbein und embodied cognition? An dieser Stelle scheint es angebracht, zunächst die Passagen aus dem Werk Grünbeins anzuführen, in denen er selber von einem strikt gedachten Dualismus, so wie er in der Geschichte des Cartesianismus Descartes oft genug zum Vorwurf gemacht wurde, abweicht. Einschlägig ist hier Vom Schnee oder Des|| 91 Daniel Garber: Descartes Embodied. Cambridge u.a. 2001, S. 215. 92 Ebd., S. 213–218.
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cartes in Deutschland, das Ergebnis seiner intensiven Descartes-Beschäftigung ist und immer wieder von einer aufgeweichten dualistischen Position insofern zeugt, als dass unbezweifelbares Wissen über den Körper vermittelt wird, als dass der methodische Zweifel auch das dadurch generierte ego cogito hinwegerklärt, oder als dass das ego cogito als Subjektgewissheit nicht isoliert, sondern neben weiteren Subjektgewissheiten steht. So beantwortet Descartes in „Ein Kaff bei Ulm“ die Frage nach dem „Ich bin – ja, was?“ mit: „Ich weiß nur, was mein Körper mir erzählt von ihr [der Welt, Ch.adH.],/ Was Nerv um Nerv mir übersetzt in Schrift. Zu Hause/ Bin ich nur hier: in meiner Haut.“93 In „Moral auf Zeit“ verlängert Grünbein diesen Gedanken. Denn über der Arbeit des methodischen Zweifels, die unbestreitbare Gewissheit des ego cogito zu gewinnen, geht Descartes das reine Ich verloren: „Nach aller Reflexion blieb von mir nur – mein Geist./ Der reine Spiritus, bis auch der noch verflog.“94 Wie unhaltbar die reine res cogitans sei, hatte Grünbein bereits durch Descartes’ Diener Gillot in „Solitude“ beantworten lassen: „Die Substanz,/ Von der Ihr schwärmt, bevorzugt den Gesang im Chor./ Sie mag es nicht, wenn sich da eins in sich verschanzt./ Das wahre Ich – in der Natur kommt es nur selten vor.“95 Auf die Frage des Zweiflers in „Moral auf Zeit“, wer denn dann derjenige sei, der nur mit sich selbst verkehrt, ließ sich dann „wie Noahs Taube“ der Gedanke nieder, dass er (die Figur Descartes; Ch.adH.) – so wie auch Narziss – einem Trugbild aufgesessen war, ein reines Ich gesucht hatte, das aber nicht zu erreichen gewesen war: Ich warwerweißwie froh, wenn ich am Tisch das Knie Mir blutig stieß, ein Tannenzweig mir auf die Schulter schlug. Einst biß mich eine Katze, und ich Mondkalb schrie Vor Freude auf. Du lebst, du lebst! Der Selbstbetrug Lag mir im Blut. Ich war – es stank aus allen Poren – In meiner faulen Haut versumpft über beide Ohren.96
Bezeichnenderweise ist es offenbar eine Empfindung, der Schmerz, die Grünbein wie Descartes in der VI. Meditation heranzieht, um ein Ich zu konstatieren, das kein reines, kein transzendentales Ich ist, sondern mit dem Körper notwendig verbunden ist. In „Aus zwei mach eins“ ist es der Zahnschmerz, der, nachdem er überwunden ist, deutlich macht, dass Körper und Geist zusammengehören: „Nun sind sie eins – sein Geist, sein Körper. Stumm vereint,/ Ruhn sie sich aus von der Distanz, von dem Dissens bei Tag./ Die Harmonie, nach außen || 93 Durs Grünbein: Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. Frankfurt a.M. 2003, S. 19. 94 Ebd., S. 74. 95 Ebd., S. 65. 96 Ebd., S. 74.
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scheint sie gewahrt –“97 In „Zwischen den Jahren“ – und das soll das letzte Beispiel für weniger strikt gedachte Formen des Dualismus sein – greift Grünbein den Briefwechsel Descartes’ mit Elisabeth auf und lässt dort die Prinzessin den Philosophen fragen: ‚Sagt mir nur eins: wie kann es sein, daß unsre Seele – Immateriell, der Stimme gleich – den rohen Körper lenkt, Der protzt mit Fleisch und steht im Fett und dehnt sich aus?‘98
Auch hier wird in der Antwort eine Empfindung, und zwar die Lust, angeführt, die belegen soll, wie Geist und Körper zusammengedacht werden können: Wie anima und corpus sich durchdringen, zeigt uns erst – (Wenn eins sich aufbäumt, Jungfrau, der Orgasmusbogen ...) Der Geist, der uns erfüllt und fortreißt himmelwärts.99
In Vom Schnee hat Grünbein das Feld offenbar zubereitet, das es ihm erlaubt, anti-dualistische und Körper und Kognition vermischende Positionen zu behaupten. So überrascht es nicht, dass Grünbein diese Überzeugung auch systematisch vertritt. In der Poetikvorlesung, die Grünbein 2009 in Frankfurt gehalten hat und die 2010 unter dem Titel Vom Stellenwert der Worte publiziert wurde, lassen sich sehr deutliche Hinweise finden, die klar zeigen, wie bei Grünbein aus rein physischen Erlebnissen eine entsprechende Kognition folgt bzw. wie der Dichter aus Körpererfahrungen zu seiner Dichtung findet. In dem Kapitel Skizze zu einer persönlichen Psychopoetik erinnert sich Grünbein und beschreibt, was bei ihm als jungem Erwachsenen damals und seitdem dann immer wieder den kreativen Schreibprozess ausgelöst habe. Es habe alles mit einer Sinneswahrnehmung, „mit einem Geräusch“ angefangen, als er sich in der Nähe seines Wohnortes Hellerau im so genannten „Russenwäldchen“ herumgetrieben habe, und als plötzlich „eine Taube aufschoß, in so unmittelbarer Nähe, daß mir das Geräusch ihrer Flügel förmlich ins Gesicht sprang“.100 Das, was Grünbein damit erlebt, ist zunächst ein singuläres körperbezogenes Ereignis, das von ihm aber gleichzeitig als typisch für weitere vergleichbare Ereignisse, ja „zum Modell für viele kommende, weit folgenreichere Momente“ erklärt wird.101 Grünbein meint damit die Geburtsstunde eines Gedichts, das
|| 97 Ebd., S. 63. 98 Ebd., S. 113. 99 Ebd. 100 Grünbein, Vom Stellenwert der Worte, S. 16. 101 Ebd.
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innere Empfangen eines Gedankens und die plötzliche mentale Präsenz eines gereimten Textes. Denn aus diesem körperbezogenen Erlebnis sei „ziemlich spontan“ ein Gedicht entstanden, dem er nachträglich den Titel Am Feldrain gegeben habe. Wiederholt verweist er im weiteren Textverlauf auf die körperliche Affizierung durch „das Geräusch ihrer Flügel“, das „Klappern“ der Flügel, oder darauf, dass der Schreibprozess „immer mit einer Klangfolge“ beginne.102 Diese Zusammenhänge expliziert Grünbein in seiner Psychopoetik auch in einem parallelen Gedankengang. So heißt es über die Entstehungsgeschichte seines kleinen Gedichtzyklus’ Trigeminus, dass der Raum „mit dem Körper, der da herumstolperte, kurzgeschlossen“ wurde. Aus Trigeminus selbst zitiert er dann, dass es der vom Regen erregte Gesichtsnerv gewesen sei, der einen Atlas der östlichen Sowjetunion vor das innere Auge des jungen Dichters gebracht habe.103 Und dann sehr deutlich: Der Gesichtsnerv des Sprechers, sein nervus trigeminus, hält als zentrales Sensorium die Verbindung zu dieser Landschaft; die Landschaft umgekehrt schreibt sich als Atlas subkutan ein.104
Gemeinsam ist diesen Belegstellen, dass sie einen Zusammenhang herstellen zwischen einem physikalischem Reiz (Geräusch, Regen) der dann physisch (tatsächlich empfängt die Wurzel des Nervus trigeminus allgemeine Somatoafferenzen von der Gesichtshaut) wahrgenommen und verarbeitet wird und zu einem bestimmten kognitiven Resultat führt, eben der inneren, bildhaften Evozierung einer Landkarte der östlichen Sowjetunion: Bis man das Rauschen von innen erkannte: den Osten, Die bleiernen Flüsse, die Ebenen, diese Erde im Dauerfrost, Alles was groß war, verloren und weit bis nach Wladiwostok.105
Interessant und als Beleg für die embodiment-These heranzuziehen ist nun, dass Grünbein in dieser poetologischen Textstelle nicht nur das Entstehen seiner Dichtung auf physische Ursachen, auf Körperstimuli zurückführt, sondern dass die vertikale Bewegung des initialen Reizes („daß vor mir […] eine Taube aufschoß“) auch eine ebensolche Vertikalität in Konzeption und Sprache des Gedichts nach sich zieht. Das kann ebenfalls an der Entstehungsgeschichte von Am Feldrain und auch am Gedicht selbst demonstriert werden. Denn Grünbein
|| 102 Ebd., S. 16, 19, 47. 103 Ebd., S. 22f. 104 Ebd. 105 Ebd., S. 23.
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benutzt in der Schilderung der Entstehungsgeschichte des Gedichts auffällig häufig Vertikalität indizierende Präpositionen, Präfixe, Bewegungsverben, Nomina etc.: Das Gedicht, das er schrieb, „endete mit einer Erhebung (einer kaum merklichen Elevation)“, die aufschießende Taube wurde „zum Modell für viele kommende, weit folgenreichere Momente von epiphanischer Qualität“.106 Die griechische Präposition epi meint unter anderem „auf“, „oben“, und Epiphanie bezeichnet im theologischen Kontext eine von oben in die Welt hineinkommende Erscheinung Gottes. Die Wirkung dieses Aufschießens der Taube ist das „jähe Emporgerissenwerden“, das „eine Draufsicht“, eine „Vogelperspektive“ auf das Maisfeld „von oben“ ermöglicht: „eine ganze Lebensepoche mit allen ihren Untiefen lag da in einem schlichten Landschaftsbild veranschaulicht vor mir.“ Und dieses Erlebnis ließ ihn „in den weltweiten Luftraum der Menschheitsdichtung“ eintreten.107 Auch das Gedicht, das nur zwei Strophen à vier Verse umfasst, besitzt diese Vertikalität, ja lebt von ihr. Ab dem dritten Vers besitzt Am Feldrain eine Perspektive des ‚Von-oben-nach-unten-Sehens‘. Denn das „Hoch steht seit jeher der Himmel“ verlängert sich bis in den letzten Vers, in dem ein Labyrinth genannt und seine Vorstellung evoziert wird. Ein Labyrinth ist als solches aber typischerweise nur in einer Draufsicht zu erkennen, und in den Versen zwischen Vers 3 der ersten Strophe und dem Abschluss der zweiten Strophe spricht das Gedicht noch von Tauben und einem Flugzeug und damit den Gegenständen, die „oben“ fliegen und im Zwischenraum von „oben“ und „unten“ anzusiedeln sind.108
5 Schluss Grünbeins Beschäftigung mit Neurologie, Medizin und Naturwissenschaften hat ausweislich seiner poetologischen Texte und seiner autobiographisch eingefärbten Kommentare wie beispielsweise Der cartesische Taucher zumindest ab Mitte der 2000er-Jahre einen handfesten Grund. Der Dichter ist auf der Suche nach einer Vergewisserung des Ichs, einer Ich-Gewissheit. Und er sucht früh danach, wie Dichtung funktioniert – von den Stationen Nijmegen ca. 1992 bis Frankfurt 2014 lässt sich eine Spur verfolgen, wie Grünbein das Gespräch mit Fachwissenschaftlern über Sprache und Kognition sucht und beginnt, sich in || 106 Ebd., S. 16. 107 Ebd., S. 21f., 17. 108 Ebd., S. 17.
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ausgewählte Fragestellungen der Philosophie des Geistes einzuarbeiten. Offenkundig ist Grünbein aber skeptisch gegenüber reduktionistischen, monistischen oder materialistischen Positionen (geworden) und so nähert er sich aufgrund seiner Alltagserfahrung als auch seiner Selbstwahrnehmung beim dichterischen Schaffensprozess einer dualistischen Option an. Pro-dualistische Positionen legen ihm auch Ergebnisse der Kognitionsforschung nahe, wie beispielsweise die Libet-Experimente. Seine Unentschiedenheit, sich nicht klar und dezidiert für die reduktionistische oder alternativ die Position des Dualismus entscheiden zu können, wird mit ein Grund für sein so intensives wie umfassendes Descartes-Studium gewesen sein. In der Descartes-Rezeption hat er sich jüngeren Ergebnissen der CartesiusForschung gegenüber aufgeschlossen gezeigt, die eine gewissermaßen monolithische und aufgezwungen konsistente Interpretation des cartesischen Gesamtwerks zugunsten einer sich über die vielen Jahre des Denkerlebens dynamisch entwickelnden Gedankenführung aufgibt.109 Einsichten, Reflexe und gedankliche Fortentwicklungen seiner Beschäftigung mit der jüngeren Descartes-Forschung, der Philosophie des Geistes und den Kognitionswissenschaften hat Grünbein dann in die ihm leicht zur Verfügung stehende Sprache der Dichtung umgesetzt und in das Versepos Vom Schnee oder Descartes in Deutschland eingearbeitet. Ausgewählte Textbeispiele zeigen, wie Grünbein hier für sich eine Form des Substanzdualismus reklamiert, so wie ihn auch Descartes als ‚quasi permixtum‘ gedacht hatte. In dem seine Descartes-Studien bilanzierenden Kommentar Der cartesische Taucher kleidet er seine Skepsis an sowohl dualistischen als auch monistischen Positionen in das Bild des Flaschenteufels, das es ihm erlaubt, die Bedeutung der Körper hervorzukehren, ohne eine pro-dualistische Position aufzugeben, noch einem reduktionistischen Standpunkt zu verfallen: Es ist dieser Flaschenteufel, der in mir Ich spielt und mein Gehirn für seine Einfälle benutzt. Doch werde ich ihn wohl niemals zu fassen bekommen, denn immer steht da bereits der Körper, der sich mit aller Macht in den Vordergrund drängt.110
|| 109 So erwähnt Grünbein im Interview mit Michael Eskin Tauchen mit Descartes Machamers und McGuires Descartes-Studie: „Bemerkenswert ist die Betonung des dynamischen Wandels im cartesischen Denken, den man erst heute deutlicher sieht, so etwa in Machamer und McGuires jüngst erschienener schöner Studie Descartes’ Changing Mind, die das lebendige Interesse an unserem Helden bezeugt.“ (Eskin, Tauchen mit Descartes. Gespräch mit Durs Grünbein, S. 392) Gemeint ist: Peter Machamer; J.E. McGuire, Descartes’s changing mind. Princeton 2004. 110 Grünbein, Der cartesische Taucher, S. 106f.
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2011 hat Grünbein dann einen poetologischen Text entwickelt, der der Entstehungsgeschichte seiner Dichtung und dem körperbasierten kognitiven Prozess, Verse zu dichten, versucht auf die Spur zu kommen. Diese Dichtungskonzeption lässt sich sehr gut mit dem embodiment-Ansatz der neueren Kognitionsforschung analysieren und beschreiben. Denn sein von ihm als modellhaft beschriebenes initiales „Dichtungserlebnis“ wird für ihn bis heute durch Körperwahrnehmung angestoßen und zieht entsprechende sprachliche und rhetorische Effekte nach sich. Der embodiment-Ansatz hat sich von daher für die Interpretation der Grünbein’schen Psychopoetik und Teile seiner Dichtung als fruchtbar erwiesen.
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| IV. Bildlichkeit in Nach den Satiren
Burkhard Meyer-Sickendiek
Nach den Satiren Bildtheoretische Überlegungen zu Grünbeins ‚Werkzäsur‘ Ich möchte in meinem Beitrag die Frage nach der Bildlichkeit im Werk Grünbeins mit derjenigen nach der für Grünbein so wichtigen Kategorie des Komischen verknüpfen. Dabei gehe ich nicht davon aus, dass Grünbein so komisch ist wie etwa Robert Gernhardt es war, dass er aber mindestens so komisch ist wie Hans Magnus Enzensberger, ab einem bestimmten Zeitpunkt vielleicht gar noch komischer. Mich interessiert die Frage, ab wann sich diese Komik beobachten, und wie sie sich bildtheoretisch erklären lässt. Dabei werde ich mich vor allem auf Grünbeins in der Forschung ausgesprochen kritisch wahrgenommenen Gedichtband Nach den Satiren konzentrieren, in welchem ich Grünbeins Komik auf sehr komplexe Art und Weise umgesetzt sehe. Es ist eine Komik, die jenseits dessen beginnt, was man normalerweise mit dem Begriff des furor satiricus bezeichnet, also jenseits einer bestimmten Form der satirischen Moralität, die sich vom Gestus der Empörung bzw. der Indignation herleitet.1 Diese Form der Empörung des strafenden Satirikers ist Grünbein fremd. In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen aus dem Jahre 2009 lieferte Grünbein selbst das entscheidende Stichwort, um seine ihm eigene Komik und Rhetorik zu illustrieren, die eben jenseits des Satirischen anzusiedeln ist: Eine „Poetik des Sarkasmus“ habe ihm „seit [s]einen frühsten Schreibversuchen den Ton diktiert“.2 Was damit gemeint ist, verdeutlicht der frühe Briefwechsel mit Marcel Beyer vom September 1991, abgedruckt erstmals in der Basler Zeitung: Im dritten dieser Briefe, dem Brief über den Sarkasmus und das Gedicht als Konzept ist eine poetische Haltung skizziert, die den Menschen „von der üblen Seite“ aus beleuchtet, die einem anthropologischen Reduktionismus das Wort redet, den Blick auf die „ameisenhafte Größe“ der menschlichen Spezies lenkt und an die Stelle der Psychoanalyse den Behaviorismus setzt:
|| 1 Vgl. dazu: Christoph Deupmann: Furor satiricus: Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2002. Deupmann bezieht sich dabei u.a. auf die alte Definition der Satire als einer „ästhetisch sozialisierten Aggression“, wie sie Jürgen Brummack entwickelte. Vgl. Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 275–377, hier S. 276. 2 Durs Grünbein: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Frankfurt a.M. 2010, S. 9.
220 | Burkhard Meyer-Sickendiek
Die Frage, ob der Mensch sich eher als Seelendarsteller seiner Mythen und Träume, Vollblutakteur seiner Wünsche und Obsessionen präsentierte oder sich einfach auflösen lasse in die Gesamtheit seiner angeborenen und bedingten Reflexe, war unter kollektivistischen Bedingungen völlig überflüssig. Der Mensch war die Summe seiner Pawlowschen Reflexe und fertig.3
Nun war diese für Grünbein sehr charakteristische Perspektive nicht immer schon komisch, wenn wir etwa an den Zyklus Portrait des Künstlers als junger Grenzhund aus der Schädelbasislektion denken, ein Selbstportrait, gewidmet Iwan Pawlow und allen Versuchshunden der Medizinischen Akademie der russischen Armee. Die Metapher des Hundelebens, die Grünbein in diesem Zyklus auf seine Existenz als junger Grenzsoldaten der Nationalen Volksarmee bezog, mochte zwar anschaulich gewesen sein, aber man lachte nicht wirklich beim Lesen, wenngleich es sicher sarkastisch gemeint war. Erst im Laufe der Jahre entwickelt Grünbeins schon in Grauzone morgens angelegter zynischer Blick seine komischen Effekte, was möglicherweise auch mit der zunehmenden Lösung von der DDR-Vergangenheit zusammenhängt, deren immanente Komik dem Leser nicht immer einleuchten mag. Es dürfte aber wohl auch daran liegen, dass Grünbein über lange Zeit – wenn wir den Brief an Beyer heranziehen – unter Sarkasmus einzig eine bestimmte Form von anthropologischem Reduktionismus verstand, also die Geste des Sezierens in den Vordergrund rückte: „Denn statt irgendwelcher Lyrismen gibt es mit einem Mal Fleisch, von den Knochen gelöst, Blöße … was unter den Griechen sarkazein hieß.“4 Was die „strengen Väter der literarischen Moderne“, also wohl Döblin oder Benn, nach Grünbein als eine spaßig-sarkastische Form der Reduktion begriffen – den höhnischen Blick auf den sich in seinen Reflexen verstrickenden Helden, denken wir an Benns Werf Rönne oder Döblins Butterblumen mordenden Michael Fischer –, wird auch für Grünbein zum sarkastischen „Entzücken am Unglück“, wie es im weiteren Verlauf des Briefes an Beyer heißt: Die scheinheilige Frage, ob es denn Halt im Sarkasmus gibt, kontert eine Logik, die derart danebenliegt, mit der noch scheinheiligeren Frage: Brauchen wir denn Halt? Genügt nicht das Entzücken am Unglück (‚rapture of distress‘), von dem W.H. Auden spricht? Gerade weil es das Unglück gibt, mit Katastrophen, die sich immer nur von der einen auf die andere Seite wälzen, und weil wir mittendrin sind in diesem unruhigen Schlaf der Vernunft, der die Ungeheuer gebiert, kann es für uns nur um Abführung gehen.5
|| 3 Durs Grünbein: Drei Briefe. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 40–54, hier S. 47f. 4 Ebd., S. 50. 5 Ebd., S. 50f.
Bildtheoretische Überlegungen zu Grünbeins ‚Werkzäsur‘ | 221
In Den Teuren Toten von 1994 liefert dann ein fiktiver Herausgeber in seinem mit Pseudonymus No. 13 überschriebenen Nachwort eine weitere Identifikation der sarkastischen Poetik: „Bezeichnend ist [des Verfassers, B.M.-S.] sarkastischer Bezug zu den Dingen, der distanzierte Blick für die archetypischen Gegenstände einer Zeit, den die Gedichte in ihrer kahlen Ausstattung bewahren.“6 Diese Dinge sind am jeweiligen Tatort vorgefundene Requisiten: „Die Kettensäge, der Haarfön, ein Fernseher.“7 Im Lyrikband Falten und Fallen aus demselben Jahr 1994 ist der Sarkasmus schließlich eine Form der kalten Verhaltenslehre im Sinne Helmut Lethens: Fröstelnd unter den Masken des Wissens, Von Unerhörtem verstört, Traumlos am Tag unter zynischen Uhren, Fahrplänen, Skalen, beraten Von fröhlichen Mördern, vorm Monitor, – So wird man Sarkast.8
In all diesen Fällen fehlt jedoch der Effekt des Komischen, der entsprechend in den zahlreichen Rezensionen zu Grünbeins Gedichtbänden nur sehr zögerlich bemerkt wurde: Grünbeins Sarkasmus wurde daher zwar seit Falten und Fallen und Den Teuren Toten mehrfach betont, erst seit Nach den Satiren ist in den Rezensionen jedoch von Grünbeins Komik die Rede: So etwa bezeichnet Eberhard Falcke in der Süddeutschen Zeitung Grünbein als „Clown und Chorknabe, scharf auf zynische Witze“.9 Meine erste Vermutung ist, dass sich diese Komik aus Grünbeins essayistischer Tätigkeit entwickelte, die schon im Titel des ersten Essaybandes anklingt: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Gemeint war damit bekanntlich jenes von dem 24-jährigen Galilei vor der Accademia Fiorentina gehaltene geometrisch-philologische Referat über die Topografie von Dantes Hölle (Due lezioni all’Accademia fiorentina circa la figura, sito e grandezza dell’Inferno di Dante, 1588), dessen Komik Grünbein in den Blick nimmt: Kennt doch der von Galilei entdeckte geometrische Raum aus Höhe, Läge und Breite
|| 6 Durs Grünbein: Den Teuren Toten. 33 Epitaphe. Frankfurt a.M. 1994, S. 44. 7 Ebd. 8 Durs Grünbein: Falten und Fallen. Gedichte. Frankfurt a.M. 1994, S. 42. 9 Von Grünbein als einem „Lyriker des Sarkasmus“ ist erstmals seit Michael Brauns Rezension von Falten und Fallen in der Zeitschrift Freitag die Rede. Vgl. Michael Braun: Fröstelnd unter den Masken des Wissens. Der Lyriker als Sarkast – Falten und Fallen von Durs Grünbein. In: Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 12 vom 18. März 1994, S. 19.
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nicht jene vierte bzw. – so Grünbein – „psychedelische“ Dimension der Tiefe,10 die eben für Dantes Hölle die entscheidende ist: Ein komischer Kontrast also. Dieser Kontrast ist nicht mehr makaber, also an jenem frühen „Entzücken am Unglück“ orientiert, wie es die Epitaphe aus dem Lyrikband Den Teuren Toten kennzeichnet. Vielmehr handelt es sich um eine Art anekdotischer Situationskomik, entwickelt an einem historischen Text. Ich gehe davon aus, dass es diese aus der Essayistik gewonnene Perspektive komischer Anekdoten und Situationen ist, die Grünbein auch in Nach den Satiren anlegt. Entscheidend ist jedoch, dass diese Perspektive aus der Dekonstruktion eines historischen Textes entwickelt worden ist, und zwar aus Galileis 1588 verfassten Due lezioni all’Accademia fiorentina circa la figura, sito e grandezza dell’Inferno di Dante. Dieses Verfahren spielt meines Erachtens in Nach den Satiren eine zentrale Rolle.
Die Kritik Hermann Kortes Die Werkzäsur, welche man in der Forschung an diesem Lyrikband festmacht, begreife ich also auch als Zugewinn an Komik, nicht nur als Zugewinn an historisch-philologischer Perspektive. Damit widerspreche ich der einflussreichen Kritik Hermann Kortes, der in seiner Studie zur Lyrik der 1990er-Jahre mit dem Titel Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte sowie in verschiedenen Artikeln erstmals von einer mit Nach den Satiren einsetzenden Werkzäsur Grünbeins sprach. Korte meinte damit den für Grünbein zentralen Konnex von Poesie und Wissen: Dieser Konnex unterliege einem Wandel, der sich vom Früh- zum mittleren Werk vollziehe. Was Korte in der dichterischen Entwicklung Grünbeins dabei bemängelte, war nicht der Gebrauch bestimmter neurologischer, biologischer oder historischer Wissensbestände. Es war vielmehr die Art und Weise, wie Grünbein über derlei Wissensbestände verfügt. Denn jener primär subversive Zugriff, wie er sich nach Korte im Frühwerk, also etwa im Gedichtband Schädelbasislektion zeige, weiche ab dem Band Nach den Satiren dem Kennergestus eines „mit Bildung prunkenden Weltläufigen“.11 Unter Berufung auf die Grünbein-Kritik Franz Josef Czernins hatte Korte diese These von der antikisierenden
|| 10 Durs Grünbein: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. In: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 89–104, hier S. 96f. 11 Hermann Korte: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte: Deutschsprachige Lyrik der 1990er Jahre, mit einer Auswahlbibliographie. Münster 2004, S. 114.
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Werkzäsur mehrfach wiederholt: So im Beitrag zum Kindler-Literatur-Lexikon,12 im erwähnten Aufsatzband Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte, oder in seinem Beitrag zum Grünbein-Sonderheft aus Text und Kritik vom Januar 2002.13 Das Argument liest sich in allen Fällen ähnlich, in Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte heißt es: Die in Nach den Satiren markante Werkzäsur zeigt sich nicht nur in der Dominantsetzung des Historischen gegenüber den früheren anthropologischen und biologischen Wissensparadigmen, sondern auch und vor allem in den veränderten Präsentationsmodi der Wissensrekurse. In der Schädelbasislektion und noch in Falten und Fallen hatte der poetische Blick auf „Darwins Schlußlicht am Ende des Stammbaums“ insofern etwas Herausforderndes, als er einen im literarischen Gegenwartsdiskurs kaum beachteten, teils sogar provozierend wirkenden Themenkomplex zur Sprache brachte. Der Titel der beiden Gedichtbände umriss gleichsam das Programm. Mit dem Gedichtbandtitel Nach den Satiren wird ein deutlich anderer Akzent gesetzt. Der Titel nimmt die Überschrift des zweiten Gedichtbuchteils auf, der Nach den Satiren […] heißt und vier auf die ersten vier Satiren des Juvenal sich beziehende Texte umfasst. Als Konzept gelesen, erscheint der gesamte Band als Buch, das seinen antikisierenden Bezug gleich im Titel aufruft und den auf Traditionen rekurrierenden Anspruch bekundet, ‚nach den Satiren‘ des Juvenal und anderer römischer Dichter geschrieben zu sein.14
Ich bin mit Kortes Deutung nicht einverstanden, denn wenn er von einem antikisierenden Gestus Grünbeins spricht, dann hat diese Deutung eine Lesart des Titels zur Voraussetzung, der ich nicht zustimme. Nach den Satiren liest Korte im Sinne des lateinischen Begriffes ‚secundum‘, und nicht im Sinne des lateinischen ‚post‘. Nach den Satiren hieße demnach ‚Im Stile der Satiren‘, und zwar derjenigen Juvenals. Aufgrund dieser Lektürevorgabe sei der Band „von antikisierendem Bildungswissen gesättigt, das auf allen Ebenen der Texte ausgebreitet“15 werde. Mit dieser Deutung steht Korte nicht allein: Auch Manfred Fuhrmann hatte in seinem Aufsatz Zeitdiagnose am Widerpart Rom auf die enorme Anzahl von „Repliken auf Alt-Römisches, auf Motive aus der Ära der Cäsaren und der Spätantike“16 verwiesen, die in Grünbeins Nach den Satiren verhandelt || 12 Hermann Korte: Durs Grünbein: Das lyrische Werk. In: Kindler Literatur Lexikon. Bd. 6. Hrsg. von Heinz-Ludwig Arnold. Stuttgart 2009, S. 661–664. 13 Hermann Korte: Habemus poetam. Zum Konnex von Poesie und Wissen in Durs Grünbeins Gedichtsammlung Nach den Satiren. In: Durs Grünbein. Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Bd. 153. München 2002, S. 19–33. 14 Korte, Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte, S. 113. 15 Ebd. 16 Manfred Fuhrmann: Juvenal – Barbier – Grünbein. Über den römischen Satiriker und zwei seiner tätigen Bewunderer. In: Durs Grünbein. Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Bd. 153. München 2002, S. 60–67, hier S. 60.
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werden. Aber damit wurde auch bei Fuhrmann jener Lesart nachgegeben, die den Titel dieser Sammlung eben als ein ‚gemäß der Satiren des Juvenal‘ versteht. Und schließlich betonte auch Stefan Matuschek in seinem Beitrag in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift: „das ‚nach‘ im Titel [weist] auf die Vorbildfunktion, ‚nach‘ heißt hier ‚gemäß‘ den Satiren Juvenals.“17 Mir scheint diese Lesart zweifelhaft. Sicherlich strotzt dieser Band vor Bildungszitaten, vor historischem Wissen: Wir finden in den den Gedichtband eröffnenden Historien die Klage eines Legionärs aus dem Feldzug des Germanicus an die Elbe, allerlei Kleinigkeiten nach Christus und Juvenalis, wir finden einen Bericht von der Ermordung des Heliogabal durch seine Leibgarde, einen Brief des Julianus an einen Freund, eine „Aporie des Augustus“, die Dichterkritik des Hadrian, eine Physiognomik nach Polemonius oder die als „Stele“, also als Grabmal bezeichnete Interpretation eines Griechischen Abschieds. Bildungswissen im Stile des Juvenal ließe sich also vor allem am Zyklus Historien nachvollziehen, der u.a. die Kleinigkeiten nach Christus und Juvenalis umfasst, eine Art römischer Alltags-Poesie, die mit den Themen Sexus, Trunkenheit, Prostitution, Tod, Familienschicksale, Tratsch und Gier Menschheitskonstanten porträtiert. Daneben stehen die für den kritischen Befund vor allem Matuscheks wichtigen, weil eigens mit Nach den Satiren betitelten vier Gedichte, die recht eindeutig auf die ersten vier Satiren des Juvenal bezogen sind, und die ein Zitat aus Juvenals dritter Satire zum Motto haben: „In der Stadt zu schlafen kostet viel Geld,/ Davon rühren alle Übel her“.18 Schon diese Texte sind jedoch keinesfalls antikisierend, sondern richten den Blick ganz eindeutig auf die Gegenwart: Während Teil I sich als Reportage eines langen Fußmarschs durch die Stadt bei Tag und Nacht, im Wechsel der Jahreszeiten, im Zeitraffer der Wahrnehmung, lesen lässt, offenbart sich Teil II als Selbstbefragung des Sprechers hinsichtlich seines Aufwachsens in der DDR, unter der antiken Maske des Orest. Aus Teil III mag man Echos des Weltkriegs heraushören; in einem gereimten Zwischenspiel wird vom Fund einer Leiche während der Bauarbeiten am Potsdamer Platz berichtet.
|| 17 Stefan Matuschek: Moralist und Flaneur oder: Hätte Baudelaire Grünbein für Barbier gehalten? Zu Durs Grünbein Nach den Satiren. In: Germanisch-romanische Monatsschrift N.F. 54 (2004), H. 1, S. 109–116. 18 Juvenalis, Dritte Satire. Zitiert nach: Durs Grünbein: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 93.
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Grünbeins postsatirischer Sarkasmus Freilich ist die Kritik an Grünbeins Werkzäsur nicht einheitlich: Korte sprach von einem antikisierenden, Matuschek hingegen von einem moralisierenden Tonfall, der mit Nach den Satiren im Œuvre Grünbeins vorherrsche. Nun scheint mir zunächst einmal unzweifelhaft, dass eine solche am Stil der Satiren des Juvenal orientierte moralische Empörung in den den Gedichtband eröffnenden Historien vollkommen fehlt. Hier haben wir es vielmehr mit einer noch zu präzisierenden Form von Grünbein’schem Sarkasmus zu tun, der wenig bis nichts gemein hat mit der satirischen Indignation Juvenals.19 Nach den Satiren meint daher meines Erachtens auch nicht im Sinne der satura juvenalis, sondern ganz im Gegenteil: postsatirisch. Der Titel bezeichnet ein Schreiben, welches da beginnt, wo die satirische Entrüstung endet, eine Komik, die dann einsetzt, wenn die satirische Komik nicht mehr greift, wenngleich sie deren Fährte zunächst einmal bis zu deren Ende verfolgt. Einen äußerst präzisen Hinweis auf diese Lesart liefert Grünbein selbst, der den Titel seines Werkes in den Anmerkungen unter Berufung auf Karl Kerényis Arbeit zur römischen satura folgendermaßen erläutert: Karl Kerényi zufolge war satura ein Kunstwort, das die Römer erfunden hatten zur Bezeichnung eines neuen Genres. Die Satire (im Namen verbirgt sich die Völle, die Sattheit, das Bild der gefüllten Schüssel) war sozusagen der Gesang der satten Leute. Wohl deshalb trugen sie ihn so gern während der Mahlzeiten vor. Nach den Satiren, das war, wenn alles gesagt und durchgekaut war, der Heimweg, der Katzenjammer, die Zeit der Gedankenspiele und der Verdauung. Während der Magen arbeitete, kehrten die mit vollem Mund verspotteten Dämonen langsam zurück. Die meisten Todesfälle unter den reichen Römern traten während der Nacht oder am Morgen nach solcher fetten Mahlzeit ein.20
Auch hier haben wir wieder den auf komische Kontraste fokussierten Blick auf das historische Genre – wie im Galilei-Essay –, denn Grünbein wählt eine Definition, welche sowohl die Satire im Sinne der menippeae als auch die Tradition der heiteren Satire im Sinne des Horaz bzw. der strafenden Satire im Sinne Juvenals ad absurdum führt. Es geht also gerade nicht um eine Imitation der griechischen bzw. der römischen Gattung, sondern im Gegenteil um deren Verfremdung. Was sowohl Korte als auch Matuschek zudem unterschätzen, das ist der
|| 19 Zu dieser Differenz zwischen Satire und Sarkasmus bzw. zum Begriff des „literarischen Sarkasmus“ vgl. generell: Burkhard Meyer-Sickendiek: Was ist literarischer Sarkasmus? Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Moderne. Paderborn 2009. 20 Grünbein, Nach den Satiren, S. 223.
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Stellenwert des neben Juvenal zweiten wichtigen Patrons dieser Sammlung, Charles Baudelaire, der in Nach den Satiren am Ende des mit Historien betitelten Teils mehrfach auftaucht, so in den Gedichten Memorandum, Daguerreotypie Baudelaire oder Nein verdammt, zudem spielt Baudelaire als Zitatgeber in den Variationen auf Juvenal eine wichtige Rolle. Es dürfte bekannt sein, dass schon Baudelaire in einer Weise über das Komische nachdachte, die konträr zur Tradition der römischen Satire stand, stammt doch von ihm der Begriff des Grotesken, also jene reine, absolute Ausprägung des Komischen, die eben nach der Satire einsetzt. In seinem bedeutendsten Aufsatz mit dem Titel De l’Essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques von 1855 wird das Lachen nicht als satirisch-moralisch, sondern als „satanisch, also […] zutiefst menschlich“21 begriffen. Juvenals aus der Entrüstung bzw. der indignatio hervorgehender Ton markiert also nicht nur den traditionellen Gegenpol zur humorvollen Satire des Horaz. Er macht ihn auch und gerade zum Gegenpol dessen, was man mit Baudelaire als das ‚absolut Komische‘ beschreiben kann. Die hoch empört vorgetragene satirische Kritik der römischen Städter – fokussiert auf sexuelle Ausschweifung, Diebstahl, Gefräßigkeit, Verschwendung und Geiz als Gegenstand der Juvenal’schen satura im Sinne des „Difficile est saturam non scribere“22 – mag zwar ab dem frühen Mittelalter Vorbild der strafenden Moralsatire gewesen sein,23 eben diese Tradition wird jedoch in Baudelaires Essay aufgekündigt: Ich will das Groteske von nun an das absolut Komische nennen, im Gegensatz zu dem gewöhnlichen Komischen, das ich das signifikant oder verweisend Komische nennen will. Das signifikant Komische ist eine für den gemeinen Mann sehr viel klarere, leichter verständliche und vor allem leichter zu durchschauende Sprache, da es offensichtlich zweierlei bietet: die Kunst und den moralischen Gedanken. Das absolut Komische hingegen, weil es der Natur sehr viel näher kommt, stellt sich als eines dar, das intuitiv erfaßt werden will. Es gibt nur eine Beglaubigung des Grotesken: das Lachen, und zwar das sofortige Lachen; angesichts der verweisenden Komik ist es nicht verboten, erst hinterher zu la-
|| 21 Charles Baudelaire: Vom Wesen des Lachens und allgemein von dem Komischen in der Bildenden Kunst. In: ders.: Sämtliche Werke/Briefe. In acht Bänden: Bd. 1: Juvenilia – Kunstkritik. 1832–1846. Hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. München 1977, S. 284–305, hier S. 292. 22 Joachim Adamietz: Juvenal. In: Die römische Satire. Hrsg. von Joachim Adamietz. Darmstadt 1986, S. 231–307; sowie: Ulrich Knoche: Juvenals Maßstäbe der Gesellschaftskritik (1966). In: Die römische Satire. Hrsg. von Dietmar Korzeniewski. Darmstadt 1970, S. 496–520. 23 Vgl. Udo Kindermann: Satyra. Die Theorie der Satire im Mittellateinischen. Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Nürnberg 1978, S. 47–82.
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chen; das schmälert ihren Wert nicht und hängt lediglich von der Geschwindigkeit des Begreifens ab.24
Nach Matuschek ist Grünbeins Gedichtband am Anspruch der Baudelaire-Nachfolge gescheitert: „Grünbein, der Gesellschaftschronist“ sei insgesamt „eher gestrenger Moralist als Flaneur“, bei ihm dominiere also die „Vogelperspektive des Verkommenheitsregistrators“ und nicht der Baudelaire’sche Blick dessen, „der sich mit der urbanen Verkommenheit auf Augenhöhe bewegt“.25 Dass dies zu bezweifeln ist, verdeutlicht eine genauere Ausdifferenzierung des mit dem Titel Nach den Satiren von Grünbein angedeuteten Spektrums des Komischen. Hier bedarf es der theoretischen Ergänzung: Mit Bernhard Greiner könnte man das signifikative Verhältnis der in Nach den Satiren verwendeten Bilder entweder im Sinne einer „Komik der Herabsetzung“ diskutieren, also einem Verlachen als genuin intellektuellem Phänomen, oder aber im Sinne einer „Komik der Heraufsetzung“, des Bejahens von Unterdrücktem und Verdrängtem und damit der Anerkennung des Lustprinzips.26 Greiners Differenzierung des Komischen geht auf Hans Robert Jauß zurück, der in seiner Frage nach dem Grund des Vergnügens am komischen Helden in ähnlicher Form ein Bachtin’sches ‚Lachen mit‘ dem Helden von einem satirischen ‚Lachen über‘ den komischen Helden unterschied.27 Greiner führte dies weiter aus: Die Komik der Herabsetzung habe demnach in Hobbes, Kant, Bergson und Hegel ihre wichtigsten Referenten und in der Satire ihre wichtigste Ausdrucksform. Die Komik der Heraufsetzung sei hingegen bei Nietzsche, Baudelaire und Bachtin zu finden, in ihr werde die Kreatürlichkeit des Menschen im Sinne der von Bachtin theoretisierten karnevalesken Groteske freigesetzt.28 Ent-
|| 24 Baudelaire, Vom Wesen des Lachens, S. 296. 25 Matuschek, Moralist und Flaneur, S. 115. 26 Bernhard Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen. Tübingen 1992, S. 97f. 27 Vgl. Hans Robert Jauß: Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden. In: Das Komische. Hrsg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976, S. 103–132, hier S. 107. 28 Zu Greiners Komik der Heraufsetzung vgl. vor allem Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. München 1969; zur Komik der Herabsetzung vgl. vor allem Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Zürich 1972 (Zuerst: Le Rire, erschienen 1900). Den Begriff der medialen Komik entwickelt Greiner vor allem anhand von Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). In: ders.: Studienausgabe. Bd. IV: Psychologische Schriften. Hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt a.M. 1970, S. 9–219; Karlheinz Stierle: Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie. In: Das Komische. Hrsg. von
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scheidendes Indiz ist der Aspekt der Bildlichkeit: In der herabsetzenden Komik im Sinne des ‚Lachens über etwas‘ dominiert das Prinzip der Gegenbildlichkeit, des Kontrastes bzw. der Inkongruenz, dessen lächerliche Wirkung auf vielerlei Art und Weise entstehen kann: „Erwartung und Erfüllung“, „Gegenstand und Begriff“, „Ansehen und Aussehen“, „Selbsteinschätzung und Sicht der anderen“29 sind mögliche Kontraste. Bei der heraufsetzenden oder grotesken Komik geht dagegen der Abstand zwischen Rezipient und Held im „lachenden Einvernehmen“30 unter. Als Lachen mit dem Helden umfasst die Komik der Heraufsetzung das Lustprinzip, die Befreiung des Sinnlichen und den Triumph über die normative Welt. Sie hat elementar unbewussten Charakter und hebt die Grenzen auf, manifestiert sich am Körper und seiner Entfesselung von der Sitte.31
Die (Gegen-)Bildlichkeit des ironischen Textes Die verschiedenen Formen des Komischen lassen sich freilich nur dann unterscheiden, wenn man sie vor dem Hintergrund einer Theorie der Bildlichkeit begreift, also im Sinne der antiken Rhetorik die grundsätzliche Nähe von Metapher und Ironie in den Blick nimmt. Zu den Tropen im Allgemeinen zählte Quintilian bekanntlich sowohl die Metapher als auch die Ironie,32 weshalb die Metapher insbesondere in der linguistischen Forschung als eine „Form der Ironie“ beschrieben bzw. von der ironischen Grundstruktur der Metapher gesprochen wird.33 Freilich hat sich gegenüber der antiken Rhetorik heute eine wichtige || Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976, S. 237–268; sowie Joachim Ritter: Über das Lachen (1940). In: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a.M. 1974, S. 62–92. 29 Greiner, Die Komödie, S. 99. 30 Ebd., S. 98. 31 Vgl. ebd. Der hierarchischen und normierenden Kultur der Herrschenden steht Bachtin zufolge eine Kultur des Lachens und der Polyphonie bzw. der Mehrstimmigkeit entgegen. Sie manifestiert sich in einer Kultur des Karnevals, in dem der exzentrische, groteske Körper zu seinem Recht kommt. Alle Formen von Mesalliance, also der Vermischung des NichtPassenden, der Aufhebung von Grenzen zwischen Mensch und Tier und den Geschlechtern, der Profanation, welche Heiliges erniedrigt und Hässliches erhöht, sowie der Verdoppelung kommen vor, mit ihnen wird der Tod und die Angst depotenziert. 32 Vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. und übers. von Helmut Rahn. Zweiter Teil. Buch VII–XII. 5. Aufl. Darmstadt 2011, Buch VIII, 6. 33 Vgl. Wilhelm Köller: Semiotik und Metapher. Untersuchungen zur grammatischen Struktur und kommunikativen Funktion von Metaphern. Stuttgart 1975, S. 298–300; Nelson Goodman: Metaphor as Moonlighting. In: Philosophical Perspectives on Metaphor. Hrsg. von Mark Johnson. Minneapolis 1981, S. 221–227, hier S. 222.
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Differenzierung zwischen Ironie und Metapher etabliert, die auf das Verhältnis von Sagen und Meinen bzw. von Gesagtem und Gemeintem bezogen ist. Während das Gesagte in der konventionellen Metapher Ähnlichkeit mit dem Gemeinten besitzt, ist in der Ironie – wenn man diesbezüglich ein sehr einfaches Konzept anlegt – das Gegenteil dessen gemeint, was gesagt wird.34 Konversationstheoretisch hat dies zur Folge, dass in der Kommunikation ein ironisches Verständnis des Gesagten auf ein metaphorisches Verständnis folgen kann, wie dies der englische Sprachphilosoph Herbert Paul Grice beschrieb: Metapher und Ironie lassen sich kombinieren, indem man den Hörer durch zwei Stadien der Interpretation schickt. Ich sage ‚Du bist die Sahne in meinem Kaffee‘ in der Absicht, daß die Hörerin zunächst zur Metapher-Interpretation ‚Du bist meine Zierde und Wonne‘ und dann zur Ironie-Interpretation ‚Du bist mein Verderben‘ gelangt.35
Natürlich ist eine solch pragmalinguistische Unterscheidung mit der ganzen Problematik behaftet, die auch dem Begriff der Intention innewohnt, wie man spätestens seit Monroe C. Beardsley36 oder den poststrukturalistischen Arbeiten de Mans und Derridas weiß. Aber es hilft nicht, diese Problematik schlichtweg auszublenden, um in einer etwas vereinfachenden Art und Weise dem Satiriker Grünbein eben jene Intention zu unterstellen, wie sie dem Satiriker Juvenal wohl zukam. Was in der zitierten Kritik an Grünbeins Werkzäsur bei Korte und Matuschek fehlt, ist eine der Grünbein’schen Poetik angemessene Untersuchung der je verschiedenen Intentionen seiner komisch-satirischen Textur, mit all den diesbezüglich gerade aus Sicht der Literaturwissenschaft zu erwartenden Problemen. Doch eben weil die Intention des Satirikers Grünbein kaum identisch sein dürfte mit derjenigen des Satirikers Juvenal, muss diese an sich fragwürdig hermeneutische Frage nach der Intention des komisch-satirischen Bildes gestellt werden.
|| 34 Zur Problematisierung dieser klassischen Unterscheidung von Metapher und Ironie siehe u.a.: Herbert L. Colston und Raymond W. Gibbs: A Brief History of Irony. In: Irony in Language and Thought. A Cognitive Science Reader. Hrsg. von Herbert L. Colston und Raymond W. Gibbs. New York 2007, S. 3–21, hier S. 4; Wolfgang G. Müller: Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der DFG. Würzburg 1986. Hrsg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989, S. 189–208, hier S. 190f. 35 Herbert Paul Grice: Logik und Konversation. In: Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Hrsg. von Georg Meggle. Frankfurt a.M. 1979, S. 243–265, hier S. 258. 36 Monroe C. Beardsley: Die metaphorische Verdrehung (1962). In: Theorie der Metapher. Hrsg. von Anselm Haverkamp. Darmstadt 1983, S. 120–141, hier S. 128.
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So viel scheint dabei zweifelsfrei: Während die Satire Juvenals gemäß der leitenden Idee der Indignation eine moralische Herabsetzung des jeweilig Beschriebenen durch die Verwendung des literarischen Bildes intendiert, findet sich bei Grünbeins Text eine gänzlich konträre Verwendung, d.h. eine Komik der Heraufsetzung, bei welcher die Bilder einer grotesk entstellten Kreatürlichkeit gerade keine kritische, sondern vielmehr eine affirmative Funktion innehaben. So bemüht etwa Juvenals berühmte Wendung aus der zweiten Satire, welche sich gegen die scheinheiligen Sünder richtet, das Bild vom Wasserprediger, der Wein trinkt – „qui Curios simulant et Bacchanalia vivunt“37 –, welches zweifellos als eine Herabwertung auf der moralischen Skala von Tugend- und Lasterhaftigkeit zu lesen ist. Dagegen bedient sich Grünbein weit eher einer Komik der Heraufsetzung des Lasterhaften: Grotesk-komisch in diesem Bachtin’schen bzw. – vereinfachend – ‚Baudelaire’schen‘ Sinne sind etwa der Monolog, den Ein Betrunkener nachts an der Via Appia hält, die Szene In enger Kammer, hastig und unbequem, der bedenkliche Gast an der Tafel bei Kaiser Nerva, der Misanthrop auf Capri, der Bericht von der Ermordung des Heliogabal durch seine Leibgarde, der Brief des Julianus an einen Freund oder die Berichte Von den Todesarten der Idioten. All diese Berichtenden werden keineswegs als lächerliche Figuren aufgeführt bzw. in ihrem Handeln verurteilt. Zwar handelt es sich etwa um einen Betrunkenen, um einen Leibwächter des römischen Kaisers Algabal, um einen römischen Geldwechsler oder um den historischen Polemon von Laodikeia, der seinen Widersacher, den Philosophen und Sophisten Favorinus als Eunuchen bzw. als „sine testiculis natus“38 bezeichnet, was Grünbein im entsprechenden Gedicht als „ein Mann ohne Eier“39 wiedergibt. Aber es dominiert die lustvolle Zote, die derbkomische Pointe, eine Komik des Freisetzens, eine Bejahung des Kreatürlichen, also im Ganzen jene von Grünbein sogenannte Komik der ‚Abführung‘, und nicht das implizite Plädoyer für den von Moral und Sitte gebändigten Körper. Hier gilt es, jenen Lustgewinn in den Blick zu nehmen, der in einer Komik der Abführung aus dem Bruch mit dem Zivilisationsprinzip gewonnen wird: Ein Bruch, der dem historischen Blick des Juvenal nicht zukam. Ein Beispiel aus Grünbeins Gedichten, dessen Komik etwa im Unterschied zur berühmten ‚Weibersatire‘ Juvenals keine Empörung über die Schandtaten und
|| 37 Die Satiren des D. Iunius Iuvenalis. Lateinischer Text mit metrischer Übersetzung und Erläuterungen. Hrsg. von Eduard Caspar Jakob von Siebold. Leipzig 1858, S. 26. 38 Scriptores Physiognomonici 1. Hrsg. von Richard Foerster. Leipzig 1893, S. 160. 39 Durs Grünbein: Physiognomik nach Polemonius. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 46.
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Laster der Ehefrauen, sondern eine grotesk überzeichnete weibliche Hässlichkeit artikuliert, mag dies verdeutlichen: Leg dich flach, Domitilla, ich hab gesagt, leg dich flach. Ich will deine Stirn nicht sehn mit dem Aussatz. Dein Grinsen macht impotent. Mit dir unter einem Dach Zu sein, hält nur aus wer sich wegdreht zur Wand. Zieh den Bauch ein und streck mir den Arsch entgegen, Domitilla oder wie immer du heißt. Stütz dich auf. Quatsch, ich bin nicht betrunken. Auch nicht verlegen. Beweg dich, Meduse, nimm dein Haar vors Gesicht. Und ich will, daß sie glänzen, du weißt ja. Schön naß Solln sie sein, beide Backen wie Spanferkelrücken. Komm leg los, Domitilla, und schiel nicht. Die beiden As Sind dir sicher. Mach schon, ich will mich verdrücken.40
Diese Komik ist zwar eng gebunden an Grünbeins Versuch, den Ton antiker Texte zu treffen. Aber dabei geht es um eine Verfremdung des Imitierten, etwa in dem Sinne, in dem einstmals H. C. Artmann im Zuge seiner Übersetzungen des schwedischen Naturforschers Carl von Linné den Versuch unternahm, den Tonfall des Lappländischen Tagebuchs von Linné komisch zu reproduzieren. In Artmanns von Linnés Lappländischer Reise inspiriertem Gedichtzyklus landschaften wird keinesfalls ein identischer Tagebuchton Linnés imitiert, sondern im Zuge der imitatio zugleich komisch verfremdet: In landschaft 8 etwa wird die Zeile „oho der schäfer in loden kratzt sich am glied es wird/ ein gewitter geben ich spür es ich hab noch vieles zu// tun“41 dreimal variierend wiederholt. Dass wir es bei einer derart kreatürlichen Verfremdung der historischen Vorlage mit einer Kunstform des Grotesken – und gerade nicht mit historisierender Satire im Stile Juvenals – zu tun haben, mag ein weiteres Textbeispiel aus Grünbeins Nach den Satiren verdeutlichen: „Merkt euch, wir waren zu fünft“, so endet der Bericht von der Ermordung des Heliogabal durch seine Leibgarde: „Der Tod des Tyrannen/ Ist unser Verdienst. Bevor die Menge ihn stückweis/ Verteilte in allen Gassen, standen wir lange/ Erleichtert über dem Leichnam./ Und ich, Pittakus, pißte am längsten.“42
|| 40 Durs Grünbein: Kleinigkeiten nach Christus und Juvenalis. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 16‒24, hier S. 18. 41 H.C. Artmann: landschaft 8. In: Das bleibt. Deutsche Gedichte 1945–1995. Hrsg. von Jörg Drews. Leipzig 1995, S. 19. 42 Durs Grünbein: Bericht von der Ermordung des Heliogabal durch seine Leibgarde. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 26‒29, hier S. 29.
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Mediale Komik Allerdings belässt es Grünbein nicht bei der derben Zote, das Spektrum Jenseits des Satirischen umfasst noch andere Komikformen: Liest man etwa Ein bedenklicher Gast an der Tafel bei Kaiser Nerva, dann greift die Kategorie des Grotesken ebenso wenig wie die des Satirischen im Sinne Juvenals. Denn in diesem Text geht es weder um die Juvenal’sche Kritik des kreatürlichen Fehlverhaltens noch um dessen Affirmation, sondern vielmehr um die komplexe Überblendung zwischen Gegenwart und Antike: Was den antiken Beobachter der Gladiatoren am meisten schockiert, ist nicht die Brutalität in der Arena, sondern die Teilnahmslosigkeit des dem Spektakel beiwohnenden Publikums: „Und was tut die Menge? Schaut gar nicht erst hin. Der blicklose Koloß,/ Der neronische Travertin hallte wider von Jux und Hallo./ Grüße flogen und Tücher …“43 Es ist schwer vorstellbar, dass sich ein römisches Publikum zur Zeit der Gladiatorenkämpfe so mit sich selbst beschäftigte, zumindest dürfte es schwer fallen, entsprechende Quellen zu finden. Es scheint sich eher um eine groteske Verfremdung der historischen Szene durch ein Detail des 20. bzw. 21. Jahrhunderts zu handeln: Die Pointe wirkt wie ein snap shot auf jenes Publikum, wie man es aus zeitgenössischen Leichtathletik-Festivals kennt, wenn etwa der Stabhochsprung am anderen Ende des Stadions stattfindet. Also weder Kritik noch Affirmation des Kreatürlichen, sondern eine auf Verfremdungseffekte setzende Überblendung und Gleichsetzung dieser beiden Bereiche. Eine ähnliche Pointe, wie sie sich in den Satiren des Juvenal wohl kaum finden lassen dürfte, markiert das Ende der Klage eines Legionärs aus dem Feldzug des Germanicus an die Elbe. Diese beschreibt zunächst im Duktus einer dem historischen Vorbild nachempfundenen Empörung die widrigen Umstände der römischen Invasion der rechtsrheinischen Gebiete unter dem römischen Kaiser Domitian, gegen dessen Herrschaft sich bekanntlich auch die Satiren des Juvenalis richteten. Während bei Juvenal jedoch erneut die Entrüstung im Medium der Figurenrede als identitätsbildendes Prinzip gelten dürfte, entwickelt Grünbein aus eben dieser Konstellation erneut eine den satirischen Gestus der indignatio sprengende Pointe. Zunächst schildert dieser Text im Tone einvernehmlicher Kritik die Phase einer erneuten römischen Expansion rechts des Rheins, die sich vermutlich auf den im Frühjahr 83 einsetzenden Krieg der römischen Truppen unter Domitian gegen den germanischen Volksstamm der Chatten richten dürfte.44 So deutlich hier die Geste der Entrüstung dem klagen|| 43 Grünbein, Kleinigkeiten nach Christus und Juvenalis, S. 20. 44 Zur Datierung vgl. Brian W. Jones: The Emperor Domitian. London 1992, S. 128f.
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den Legionär in den Mund gelegt wird – „Aussichtslos/ Ist der Krieg um Provinzen groß wie ein Erdteil,/ Um Gebiete, die nicht zu halten sind,/ Außer durch neuen Krieg.“ –, so deutlich wird eben diese Empörung am Ende durch eine komische Pointe gebrochen: Und kommst du endlich, um Jahre gealtert, nach Haus, Steht der Germane in deiner Tür, und es winkt dir Das strohblonde Kind deiner Frau.45
Dass Grünbein den Raum des Komischen jenseits der Satire nicht nur in Richtung der konträren Figur des Grotesken auslotet, verdeutlicht aber auch und vor allem der eben mit Nach den Satiren betitelte zweite Teil, dem sich die Kritik Matuscheks vor allem zuwendete. Speziell am zweiten Gedicht des Mittelteils – betitelt mit römisch „II“, einsetzend ab S. 101 – lässt sich das zeigen: Er liest sich als Reihung rhetorischer Fragen, die um den Komplex einer Urszene kreisen und stets mit „was hast du gedacht als“ einsetzen. So verknüpft das Gedicht die Geburtsszene im weißen Krankenzimmer, den „ersten Verrat“ beim Blindekuhspiel, die erste Verirrung im Wald, die Szene als ignorierter Auswechselspieler beim Fußball, die Todesnachrichten, wie sie ein Soldat „im Gleichschritt“ zu hören bekommt, der traurige Schulweg nach Haus, und endet schließlich im jähen Erwachen eines 30-Jährigen in fremden Hotels. Als Leser folgt man dabei zwangsläufig der Fährte einer biographischen Lektüre, vermutet also eine Art Selbstporträt des Lyrikers Grünbein, um dann im letzten Satz mit einer durchaus komischen Pointe konfrontiert zu werden: „Hast du gedacht, du entgehst dem, Orest?“46 Wenn wir diese Form der Komik mit der den Band eröffnenden Komik grotesker Heraufsetzung sowie der durch den Juvenalbezug aufgerufenen Komik satirischer Herabsetzung vergleichen, dann zeigt sich hier ein Drittes. Diese Art der Komik, die diverse Gedichte in Nach den Satiren prägt, ähnelt am ehesten jener von Greiner am Beispiel von Sigmund Freud, Joachim Ritter und Karlheinz Stierle geprägten Kategorie der „medialen Komik“, die Greiner vor allem mit Blick auf Ritters Theorie des Lachens entwickelte. Die Formel, die Ritter diesbezüglich prägte, hat inzwischen eine gewisse Bekanntheit erlangt:
|| 45 Durs Grünbein: Klage eines Legionärs aus dem Feldzug des Germanicus an die Elbe. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 14f., hier S. 15. 46 Durs Grünbein: Nach den Satiren II. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 101f., hier S. 102.
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Was mit dem Lachen ausgespielt und ergriffen wird, ist diese geheime Zugehörigkeit des Nichtigen zum Dasein; sie wird so ergriffen und ausgespielt, nicht in der Weise des ausgrenzenden Ernstes, der es nur als das Nichtige von sich weghalten kann, sondern so, daß es in der es ausgrenzenden Ordnung selbst gleichsam als zu ihr gehörig sichtbar und lautbar wird.47
Das Lachen geht also nicht unbedingt auf eine fröhliche Natur des Lachenden zurück, sondern ist immer durch die Begegnung mit dem Lächerlichen ausgelöst.48 Eben dies erklärt den zweideutigen Charakter des lächerlichen Moments: In einen als fraglos gegeben dargestellten Bedeutungsbereich wie etwa den in den drei Beispielen aufgerufenen Gladiatorenkampf, den römischen Feldzug gegen die Germanen oder die Vita eines Menschen des 20. Jahrhunderts wird ein Detail eingebracht, das den Kontext dieses Bedeutungsbereiches sprengt, ihm also entgegensteht. Dadurch entsteht eine Bewegung hinausgehend über die gegebene Ordnung, die in den zitierten Beispielen ein historisches Vorzeichen trägt, weshalb die komische Pointe nunmehr auf dem Prinzip des Anachronismus basiert. Innerhalb eines historischen Berichtes wird also eine dem historischen Kontext widersprechende, ihm entgegenstehende Bedeutung eingeführt, die als Pointe das historische Narrativ ad absurdum führt. So wird das Lachen aus der überraschenden Differenz zwischen der Lebensordnung und dem Entgegenstehenden entwickelt, d.h. die „geheime Zugehörigkeit des Nichtigen zum Dasein“49 ganz plötzlich offengelegt. Das Lächerliche ist das der ernsthaften Ordnung entgegenstehende Moment, das die Zugehörigkeit des Ausgegrenzten zur Lebenswelt sichtbar macht. Der für den Ablauf wichtigste Moment, der der ‚Offenbarung‘ vorausgeht, ist die Wende, welche den mit Recht empörten Legionär der römischen Armee zum gehörnten Ehemann werden
|| 47 Ritter, Über das Lachen, S. 76. 48 Mit dem Nachdenken über das Lächerliche, das, was im Lachen erscheint, entsteht ein ernster oder sogar melancholischer Moment – die Ecken und Kanten des Lebens, seine Widersprüche und Zweideutigkeiten treten hervor. Nach Ritter gibt es zwei mögliche Äußerungsformen des Lachens: Das grundlose Lachen als ein reflexartiger Zustand: Dieses sei ein Lachen aus Freude, Lust, Vergnügen und Heiterkeit, welches mit einer lächerlichen Handlung oder einem lächerlichen Vorkommnis unmittelbar verknüpft sei. Dagegen stehe das Lachen als Ausdrucksbewegung, welches nicht eindeutig einer inneren Stimmung zugeschrieben werden kann, da es sich immer um ein Lachen ‚über etwas‘ handelt, also unterschiedlichen Motivationen zuzuordnen ist: Die „Bestimmtheit“ unterscheidet das Lachen von allen anderen Ausdrucksformen. Das Lachen als Ausdrucksform zeichnet sich also durch Bestimmtheit, den momentanen Charakter und den gegenstandsgebundenen Sinn aus, daher sei es „welthaft“ (ebd., S. 65f.). 49 Ebd., S. 76.
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lässt, oder im letzten Beispiel Grünbeins eigene biographische Skizze durch den Hinweis auf den historischen Orest dekonstruiert. Im Zentrum eines derart zündenden Witzes steht nach Ritter der Moment des Verstehens der Anspielung, im Idealfall liegt dieser Moment am Ende einer Spannungskette in der Pointe.50 Der derart zündende Witz basiert im Falle Grünbeins nicht mehr auf dem gelehrsam historisierenden Zitat, sondern der Zuordnung des Nichtigen – Orest – zu dem im Moment der Lektüre Geltenden, also der Vita Durs Grünbeins oder zumindest derjenigen eines Menschen des späten 20. Jahrhunderts. Das Lachen resultiert also aus dem von Greiner bzw. Ritter beschriebenen Effekt, dass im Komischen „die Identität eines Entgegenstehenden und Ausgegrenzten mit dem Ausgrenzenden“51 hergestellt wird. Mit der Einsicht in die dialektische Einheit der ausgrenzenden Vernunft und der von dieser als fremd und nichtig ausgegrenzten Lebensbereiche tritt die Begrenztheit des vernunftgesteuerten Umgangs mit der Welt zu Tage. Das Lachen und das Komische machen also deutlich – so reformulierte Odo Marquart die Lachtheorie Ritters –, „daß das jeweils Geltende nicht unbedingt das Geltende und das jeweils Nichtige nicht unbedingt das Nichtige sein muß.“52 Eben diese Einsichten vermitteln auch die zitierten Gedichte: Im gehörnten Legionär erkennt sich der Leser des 20. Jahrhunderts, da der Text mit seinem historischen Narrativ bricht; und auch Orest wird weder verlacht noch in seiner kreatürlichen Lebensart emphatisiert, sondern überraschend zum Adressat einer Lebensgeschichte, die sich für den Leser zunächst als eine Lebensgeschichte des 20. Jahrhunderts liest.
Summa Herabsetzende Komik im Sinne einer etwas schlichten Idee von Sarkasmus findet sich meines Erachtens im Frühwerk Grünbeins, sie reicht bis hin zur Satire, und sie hat vor allem eine historische und soziale Funktion, indem sie veraltete Gesellschaftsordnungen der DDR der Lächerlichkeit überantwortet und damit verabschieden hilft: Eben dies verstand bereits der frühe Grünbein wohl unter seiner „Poetik des Sarkasmus“. Schon diese Poetik ist nicht genuin sati-
|| 50 Vgl. ebd., S. 73f. 51 Ebd., S. 78. 52 Odo Marquard: Exile der Heiterkeit. In: Das Komische. Hrsg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976, S. 133–151, hier S. 142. Vgl. auch Ritter, Über das Lachen, S. 73ff.
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risch-moralisch, sondern trägt spätestens ab Falten und Fallen sowie Den Teuren Toten primär makabre Züge. Den rhetorischen Ort jenseits des Satirischen vermisst dann aber vor allem der Band Nach den Satiren, dessen groteske Komik neben dem Makabren vor allem eine eigentümliche Form der Rollenlyrik bedient, die etwa im Bericht zum Ausdruck kommt. Sie impliziert neben der zotigen Pointe zugleich jene mediale Komik, die im Nichtigen das Geltende und im Geltenden das Nichtige erfasst. Der moralischen Brille eines Juvenal, so bleibt als Einwand gegenüber den referierten Kritiken an Grünbeins vermeintlich historisierender Wende festzuhalten, wäre diese Komik zweifellos entgangen.
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Anne-Rose Meyer
‚Fußspur‘ und ‚Röntgenbild‘ Bildwissenschaftliche Aspekte und intermediale Differenzen in einem Gedicht Durs Grünbeins Seitdem Durs Grünbein begonnen hat, Gedichte zu veröffentlichen, ist das Thema ‚Bild‘ von Kritikern wie Literaturwissenschaftlern mit Blick auf sein Werk häufig und zeitweise heftig diskutiert worden. Die einen – wie etwa Hermann Korte – erkennen, dass Grünbein in seinen Texten „ein breit gefächertes Bezugsfeld aus Namen, Anspielungen und Wissenskomplexen“ evoziert und dabei Chiffren, Denkfiguren, illustrative Modelle und Metaphern aus Kultur, Natur und diversen Wissenschaften produktiv und sinnvoll verwendet.1 Demgegenüber registrieren die anderen, wie Michael Politycki, einen nicht unbedingt nachahmenswerten „artifiziellen Prachtstil“.2 Und auch beispielsweise Michael Braun konstatiert, dass die „Bildersucht“ Grünbeins Gedichten „nicht selten zum Verhängnis“ werde. So ließe Grünbein etwa in dem Zyklus Niemands Land Stimmen „seinen poetischen Visionen und Assoziationen freien Lauf“. Die Folge sei „ein kryptisches, ja verworrenes Raunen“.3 Diesen kontroversen Bewertungen von Grünbeins Bildgebrauch stehen Überlegungen des Autors selbst gegenüber, für den Bilder nicht nur im Kontext literarischen Schreibens – als Sprachbilder und Illustrationen – relevant sind. Grünbein, der bislang keine kohärente ästhetische Theorie bzw. Selbstverortung vorlegte, beschäftigt sich in diversen essayistischen Schriften und in metapoetischen Gedichten mit der grundlegenden Frage, was ‚Bilder‘ sind.4 Zudem ver-
|| 1 Hermann Korte: Habemus poetam. Zum Konnex von Poesie und Wissen in Durs Grünbeins Gedichtsammlung Nach den Satiren. In: Durs Grünbein. Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Bd. 153. München 2002, S. 19–33, hier S. 19. Korte sieht die komplexe „Bildlichkeit moderner Poesie, die alle Substitution und Fundierung von Wissen und Erfahrung im Unbestimmtheitsrest metaphorischer Rede auflöst“, als bedeutend für die „Selbstdefinitionen des Ichs“ an (ebd., S. 21). 2 Michael Politicky: Im Irrgang der Zeichen. Durs Grünbeins Schädelbasislektion: exemplarische Poesie. In: Stuttgarter Zeitung Nr. 25 vom 31.01.1992, S. 30. 3 Michael Braun: Armer Hirnhund. Durs Grünbein Schädelbasislektion. In: Die Weltwoche Nr. 41 vom 10.10.1991, S. 90. 4 Vgl. z.B. Durs Grünbein: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a.M. 1996 sowie ders.: Warum schriftlos leben. Aufsätze. Frankfurt a.M. 2003. Zu metapoetischen Implikationen von Grünbeins Dichtung vgl. den immer noch grundlegenden Aufsatz von Wolfgang Riedel: Poetik der Präsenz. Idee der Dichtung bei Durs
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sucht er, Bedeutungen von Bildern sowie Aspekte ihrer spezifischen Beschaffenheit und Aussagekraft zu bestimmen. Dabei geht es ihm um ein breites Spektrum dessen, was unter ‚Bild‘ zu fassen ist, nämlich sowohl um sprachlich erzeugte Bilder als auch um innere Vorstellungsbilder sowie um flächige Ansichten auf materieller Basis – Fotos, Gemälde, Zeichnungen usw. Wichtige Gedanken zur Frage, was Bilder sind, wie deren Beziehung zu sprachlichem Ausdruck zu bestimmen ist und was Bilder im Kontext von Lyrik leisten können, finden sich exemplarisch in dem komplexen Gedicht Vor einem alten Röntgenbild aus der Sammlung Nach den Satiren, das von der Forschung bislang noch nicht in einem close reading auf seine bildwissenschaftliche, poetologische und intermediale Implikationen hin befragt worden ist. In diesem Gedicht thematisiert Grünbein technisch unterschiedlich erzeugte ikonische Repräsentationsformen – das titelspendende Röntgenbild, einen Fußabdruck, ein Wandgemälde, ein Foto – und sucht deren Wert für die Evokation und Problematisierung visueller Eindrücke im Gedicht zu ergründen. Zudem stellt Grünbein kognitive Operationen und sinnliche Eindrücke dar, die unseren Umgang mit inneren wie äußeren Bildern als Repräsentationen von ‚Welt‘ bedingen und steuern. Vor einem alten Röntgenbild hebt an mit der lapidar wirkenden Feststellung: So sind die Körper gegangen. In der verlassenen Wohnung Ist alles posthume Ordnung, von den Spiegeln bereinigt Bis zu den Flecken im Bad. Unten am Wannengrund Klebt ein einzelnes Haar […].5
Evoziert wird folglich Vergänglichkeit. Menschliche Spuren sind in einer nicht näher lokalisierten Wohnung weitestgehend getilgt. Nur ein Haar in der Badewanne weist auf die Bewohner, die gleichfalls nicht näher charakterisiert werden. Das konturlose lyrische ‚Ich‘, dessen Beziehung zu Bewohnern und Wohnung unscharf bleibt, ist als Beobachtungsinstanz gestaltet, die außer dem Haar in der Wanne auch andere kleinste Zeugnisse organischen Lebens wie „Hautschuppen“6 registriert. Der Blick ist gleichsam – wie es der Titel suggeriert – röntgenologisch, durchdringt selbst massive Barrieren und erkennt beispielsweise: „Unter den Dielen liegt Bauschutt“.7 || Grünbein. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24 (1999), H. 1, S. 82–105. 5 Durs Grünbein: Vor einem alten Röntgenbild. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 197–199, hier S. 197. 6 Ebd. 7 Ebd.
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Die auffällig anschaulichen Konkreta im Gedicht lassen sich mittels einer dingorientierten Poetik beschreiben.8 Diese erfasst literarisch evozierte Phänomene wie Haare, Badewanne und Bauschutt als Ausdruck einer alltags- und lebensweltlich interessierten dichterischen Kreativität, die darauf zielt, anhand von Gebrauchsgegenständen und organischen Spuren ein hohes Maß an Anschaulichkeit und Wirklichkeitsnähe zu erzeugen.9 Das Resultat dieses Schreibverfahrens besteht idealerweise in der Erzeugung innerer Bilder, die in ihrer Intensität dem sinnlichen Erleben nahekommen. Die durch die lyrische Sprecherinstanz evozierten, unmittelbar wirkenden Impressionen beim Betrachten der Wohnung kontrastieren dabei mit Reminiszenzen an die Bewohner und deren vergangenes Leben. Gleichzeitig gibt die dargestellte visuelle Erforschung der detailgenau registrierten Dinge und menschlichen Überbleibsel auch – wie zu zeigen ist – Auskunft über den Zusammenhang von Epistemologie und bildhaften Ausdrucksweisen. Dem Gedicht Vor einem alten Röntgenbild kommt deswegen im Kontext der Sammlung Nach den Satiren und im weiteren Kontext des Grünbein’schen Werks eine Schlüsselstellung zu. Methodisch nutzt Grünbein darin ‚Bilder‘ als Schnittstellen, an denen sich Aspekte von Erinnerung, Poesie und Speicherung überkreuzen. Dazu präsentiert er dem Leser im weiteren Verlauf des Gedichts diverse weitere Einzelimpressionen in sinnlichen Nahaufnahmen, durch die Beziehungen zwischen beobachtendem Ich und Bewohnern gestiftet werden, wie beispielsweise hier: Doch in den Abfalleimern keimt Leben. Und manchmal bricht Beim Durchwühlen der Tüten ein Fingernagel. Ein Mißgriff Zieht einen Splitter ins Fleisch. Eine Schublade klemmt, Weil ein Photo, das dich als Säugling zeigt, festhängt […].10
|| 8 Vgl. dazu die grundlegende Arbeit Gaston Bachelards La Poétique de l’éspace aus dem Jahr 1957. Dinge sind in einigen Gedichten der Sammlung Nach den Satiren ein zentrales Thema, so etwa in dem Trio für ein distanziertes Auge, dessen erstes Gedicht mit Dinge betitelt ist und dem das Motto voransteht: „res non verba“ (Durs Grünbein: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 209–212 , hier S. 209). Allerdings geht es in Trio für ein distanziertes Auge eher um die Allgegenwärtigkeit von Dingen, nicht um medientheoretische Gesichtspunkte. 9 Vgl. Olav Krämer: Bildliches Denken als Erkenntnismodus zwischen Poesie und Wissenschaft. Grünbein über Dante, Darwin, Hopkins und Goethe. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 241– 258, der die Verknüpfung von sinnlicher Wahrnehmung, Erkenntnis und dem äußerst komplexen bildhaften, poetischen Sprechen bei Grünbein positiv bewertet und mit Blick auf die philosophische Kategorie der Anschauung untersucht. 10 Grünbein, Vor einem alten Röntgenbild, S. 198.
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Abfalleimer und Schubladen enthalten Spuren menschlichen Lebens, die vom Betrachter untersucht werden. Wie in diversen anderen Gedichten und Prosatexten Grünbeins kommt dabei dem Müll eine semiotische Doppelfunktion zu: Die Abfalleimer sind Orte des Vergessens, sie enthalten Ausgesondertes, Kaputtes, Verdorbenes, Unbrauchbares. Gleichzeitig präsentiert Grünbein sie als Orte des Erinnerns: Die lyrische Sprecherinstanz spürt darin wie in einem Archiv der Vergangenheit der Wohnungsbewohner nach. Eine vergleichbare Funktion kommt dem Babybild zu, einem Ding von Erinnerungswert, das in der Schublade festhängend aber nicht der Betrachtung zugänglich war:11 Die Thematisierung von Mülltüten und Schubladeninhalten im Gedicht ist gegen das Vergessen gerichtet. Alltägliches soll – sprachlich anschaulich evoziert – dazu dienen, die Präsenz einer Person lyrisch zu vergegenwärtigen. In dem rhythmisch strukturierten, strophisch gegliederten lyrischen Text werden dazu gemeinhin als unbedeutend geltende Dinge auratisiert und gleichzeitig in ihrer jeweiligen Materialität erfasst. Trotz solcher und vieler anderer optischer Details, mittels derer Grünbein Werden und Vergehen verdeutlicht, handelt es sich nicht um die Wohnung eines Toten, sondern um die eines Aushäusigen, eines Menschen, der selten zu Hause ist, denn die lyrische Sprecherinstanz konstatiert: Dorthin zurück kehrt, manchmal nach Tagen, nach Wochen, Erstaunt, der hier wohnt. […] Gebannt steht er da, Für Augenblicke sich fremd wie vor den spurlosen Fugen Der Kaltwasserbecken Pompejis, vor der zerkratzten Wand Im Haus der Verkohlten Möbel, den Obszönitäten, Dunkel und fleischlos. So sind die Schatten verschwunden. Und vom Stein aufgesaugt Ist der schmale Schweißrand, den in der Julihitze am Mittag Der Fuß einer Römerin hinterließ.12
Die unbewohnte Heimstatt erhält in der Perspektive des lyrischen ‚Ich‘ den Charakter einer archäologischen Stätte. Um dort Spuren vergangenen Lebens zu deuten, bedarf es des forschenden Blickes, der Körperspuren ebenso wie Weggeworfenes und Unvertrautes erfasst und Allem sprachlich Wirkung verschafft.
|| 11 Vgl. Jörg Wesche: Biotopoi. Tiergarten, Müllberg und Tiefsee als Orte literarischer Regression. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer u.a. Freiburg i.Br. u.a. 2007, S. 213–239, bes. S. 229–234. 12 Grünbein, Vor einem alten Röntgenbild, S. 198.
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Doch obwohl die lyrische Sprecherinstanz passagenweise Details genau registriert und sinnlich Wahrnehmbares präzise benennt, werden anhand der Einzelimpressionen keine klaren, vollständigen Vorstellungsbilder hervorgerufen: Wie die ganze Wohnung aussieht, wie sie eingerichtet ist, wo sie liegt, wie das Baby auf dem Foto aussieht usw., bleibt für den Leser unklar. Die einzelnen visuellen Eindrücke, um die es im Gedicht primär geht und die durch das lyrische ‚Ich‘ vermittelt werden, fügen sich nicht zu einem Gesamteindruck, sondern sind darauf angelegt, Imaginationen des Lesers zu aktivieren. Es ist dabei auffällig, dass zwar optische und haptische Einzelheiten beim Durchwühlen des Abfalls evoziert werden, nicht aber beispielsweise olfaktorische. Gleiches gilt für die Beschreibung der Wohnungsbegehung. Sehen ist im Gedicht der vorherrschende Sinn, der zwar Einblicke und Detailansichten, nicht aber Überblick gewährt. Der Gedichttitel gibt Hinweise auf einen anderen, wichtigeren Aspekt als auf den der Vervollständigung sprachlich evozierter sinnlicher Impressionen: Grünbein zeigt in Vor einem alten Röntgenbild intermediale Differenzen zwischen verschiedenen Bildträgern und Repräsentationsformen auf und problematisiert Bilder und Bildlichkeit als dichterische Ausdrucksmittel und Erkenntnismedien. So ist die römische Antike in Form einer konkret benannten archäologischen Stätte präsent, der Casa del mobilio carbonizzato in Herculaneum. Bei der „Fußspur“ ist nicht klar, ob sie einer Zeitgenossin Grünbeins oder einer Frau aus dem alten Rom zugeschrieben ist. Mittels beider Vorstellungen aber spielt Grünbein mit der alten Horaz’schen Formel „ut pictura poiesis“ und betont die mimetischen Möglichkeiten speziell literarischer Darstellungen, indem er auf etwas zugleich Ab- und Anwesendes verweist; denn obwohl die Fußspur vom Stein aufgesogen ist und obwohl auf das „Haus der Verkohlten Möbel“ nur mittels eines Vergleichs rekurriert wird, werden doch beide im Bewusstsein des Lesers präsent.13 Grünbeins Schreibweise in diesem Gedicht kann als ‚malende Dichtkunst‘ charakterisiert werden, die allein mit sprachlichen Mitteln unterschiedliche optische Impressionen erzeugt und gleichzeitig medial unterschiedliche Bildformen thematisiert. So dient etwa der Vergleich mit den „Kaltwasserbecken Pompejis“ und dem „Haus der Verkohlten Möbel“ nicht nur dazu, das unvertraut-beziehungslose Gefühl des lyrischen ‚Ichs‘ angesichts einer verlassenen || 13 Sigrid Weigel weist darauf hin, dass in der Tradition der Ekphrasis Bild und Text immer schon vereint waren: Literatur malt mit Worten, Kunst erzählt mit Bildern (Sigrid Weigel: Bilder als Hauptakteure auf dem Schauplatz der Erkenntnis: Zur poiesis und episteme sprachlicher und visueller Bilder. In: Interventionen 13: Ästhetik. Erfahrung. Hrsg. von Jörg Huber. Wien u.a. 2004, S. 191–212, hier S. 206).
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Wohnung zu verdeutlichen, sondern er ist auch mit Blick auf andere Dichtungen Grünbeins interessant. Denn Fragen danach, ob und wie durch sprachlich evozierte Repräsentationen materieller Bilder und von Alltagsdingen ein Eindruck von Präsenz und Unmittelbarkeit erzeugt werden kann,14 sind bezogen auf das Werk Grünbeins immer verbunden mit dem Blick in eine Vergangenheit, die als Analogon und als Kontrast dient und ‚Gegenwart‘ in ihrer Besonderheit wie auch in ihrer Gewordenheit und historischen Prägung erkennbar macht.15 Verstreichende und verstrichene Zeit sind die vorherrschenden Themen in den folgenden Strophen: Grünbein lenkt darin den Blick zurück auf die verlassene Wohnung und evoziert weitere Alltagsobjekte, die auf Altern, Verfall und Vergänglichkeit weisen: Neben dem bereits zitierten Babybild sind dies etwa eine tickende Uhr, ein alter Kalender, vertrocknete Pflanzen, eine abgenutzte Zahnbürste und schließlich ein Röntgenbild, das durch den darauf festgehaltenen Schädel gleichfalls als vanitas-Motiv fungiert. Grünbein arbeitet mit der einfachen Form der – nicht hierarchisch geordneten – Aufzählung, durch welche Alltagsdinge in ihrer materiellen und funktionalen Heterogenität erfasst werden. Diese weisen in unterschiedlichem Maß Gebrauchsspuren auf, die auf die Präsenz der Wohnungsinhaber weisen. Es gilt auch dabei der Befund Gisela Eckers: „Die Inventarisierungsarbeit der Texte schreckt nicht vor dem Banalen zurück und erschafft ein Gedächtnis des Unbedeutenden.“16 So heißt es in Grünbeins Gedicht Vor einem alten Röntgenbild: Pflanzen, im Schrank vertrocknet, dementieren den Frieden Einer tickenden Wanduhr. Von überall höhnt es: ‚Sieh, was draus wird …‘. Das steife Handtuch, zum Beispiel, am Haken, und an der Tür Ein Paar Halbschuh, bis hierher getragen. Oder die Bürste, Grau mit dem Abdruck vom Zähneputzen – ein Nachlaß Zur Lebzeit, erspäht durch ein Schlüsselloch, Ein Archiv kleiner Tode, das jederzeit auflösbar ist. Bis etwas anfällt, das keiner vermißt hat, – ein Röntgenbild Zwischen gelben Rezepten in einer Krankenakte, Ein Negativ, das den eigenen Schädel zeigt, Im Knochen den Bruch.17
|| 14 Vgl. dazu Riedel, Poetik der Präsenz. 15 Vgl. Anne-Rose Meyer: Metropolenpoesie: Durs Grünbeins Berlin-Gedichte. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch/A German Studies Yearbook 4 (2005), S. 21–47. 16 Gisela Ecker: Literarische Kramschubladen. Portraits – Privatmuseen – Zwischenspeicher. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006), S. 19–31, hier S. 23. 17 Grünbein, Vor einem alten Röntgenbild, S. 198f.
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Die Thematisierung von Knochen und Kalzium ist verbunden mit der Klage über den Verlust individuellen Ausdrucks und erinnert an vergleichbare lyrischphysiologische Evokationen, die bereits den zweiten Gedichtband Grünbeins, Schädelbasislektion, prägen: Denn mit den Wimpern gestrichen, mit den geduldigen Lidern, Sind auch die Augen, Haut und Haar aufgebraucht Wie aus den Drüsen der Stoff für Romane, die Tränen, Und jede Falte. Auf die man so gerne gebissen hatte, Die Lippen sind fort. Und verschluckt ist die Zunge Hinterm Gebiß.18
Doch stehen in Vor einem alten Röntgenbild aus Nach den Satiren andere bildtheoretische Bezugspunkte im Fokus als noch in Schädelbasislektion, etwa die Frage nach dem spezifischen Sinnpotential von Bildern. Wie bedeuten Bilder etwas? Welche Formen von Wissen vermitteln sie? Und ganz grundsätzlich: Was sind Bilder?19 Es ist nicht unwichtig festzuhalten, dass Bilder in Nach den Satiren ausschließlich mittels sprachlicher Zeichen evoziert und nicht – wie in Schädelbasislektion – als medial eigenständige Ausdrucksformen zwischen lyrische Texte montiert werden. Gleichwohl sind Bilder nicht nur in Vor einem alten Röntgenbild in auffälliger Weise – wie es schon der Gedichttitel indiziert – präsent. Die mehrfache sprachliche Thematisierung unterschiedlich erzeugter Bilder lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Text und Bild, von Tropen und nicht-textuellen Bildern „als artifiziell herge-
|| 18 Ebd., S. 199. 19 Die meisten Definitionsversuche bleiben unbefriedigend, wie etwa der von William J. Thomas Mitchell: Iconology: Image, Text, Ideology. Chicago 1986. Er unterscheidet zwischen graphischen Bildern (Zeichnungen, Layouts), optischen (durch Spiegel oder andere Projektionsformen erzeugte Bilder), durch den optischen Sinn gegebenen, mentalen (Träume, Ideen, Phantasien) und verbalen Bildern (Metaphern, Beschreibungen). Die Herausforderung, die etwa neue Techniken der Medizin bieten, ignoriert er wie viele andere. Einen Überblick über derzeit gängige Ansätze in Kunstwissenschaft, Linguistik und Kommunikationswissenschaft gibt der Linguist Martin Steinseifer in seiner instruktiven Studie „Terrorismus“ zwischen Ereignis und Diskurs. Zur Pragmatik von Text-Bild-Zusammenstellungen in Printmedien der siebziger Jahre. Berlin, Boston 2011, S. 103–146. Vgl. auch Oliver R. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen: Philosophische Theorien bildhafter Darstellung. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2004.
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stellte oder bearbeitete, flächige und relativ dauerhafte Gegenstände“,20 die Grünbein dem Leser durch Sprache vor das innere Auge führt. Grünbein evoziert in seinem Gedicht vier unterschiedliche Formen materieller Bilder, zuerst ein konkretes Gemälde, nämlich die bereits erwähnten pompejanischen Wandmalereien; dann die optische Impression eines Fußabdrucks, ferner ein Foto und das titelspendende Röntgenbild. Der Fußabdruck der Römerin ist ein Körperzeichen, ein Index nach Peirce, bewahrt im Gedicht. Die pompejanischen Wandmalereien sind Artefakte, Ikonen, die ein verifizierbares Korrelat in der außersprachlichen Welt haben. Sie zeugen von einem bestimmten Lebensstil und sind – anders als ein Fußabdruck – ästhetische, geformte Gebilde. Photo und Röntgenbild sind vom Status her schwer zu bestimmen. Sie sind Körperzeichen, aber – wie das Röntgenbild – durch ein standardisiertes Verfahren technisch erzeugt, interpretationsbedürftig und nicht unmittelbar abbildend. Gleichwohl sind sowohl das Foto als auch das Röntgenbild Bilder mit einem besonderen Realitätsbezug: Zwischen Bild und Abgebildetem besteht eine physikalisch bestimmbare bzw. chemisch erzeugte Verbindung. Sie können als Beleg dafür dienen, dass ein Mensch existiert(e).21 Welche Erkenntnismöglichkeiten liefern diese unterschiedlichen Bildformen? Das lyrisch evozierte Röntgenbild steht für ein Verfahren, mittels dessen etwas sichtbar wird, das ansonsten unter Haut und Fleisch verborgen ist. Das Röntgenbild bietet dadurch andere Informationen als die anderen im Gedicht evozierten Abbildungsformen. Anhand der Knochen wird Vergessenes, Verdrängtes, Abwesendes für die lyrische Sprecherinstanz – und auch für den Leser – unmittelbar gegenwärtig:22 Ein Negativ, das den eigenen Schädel zeigt, Im Knochen den Bruch. Das Souvenir eines Unfalls,23
|| 20 Klaus Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln 2003, S. 75. 21 Laut Steinseifer lässt sich dieser Umstand als „technische oder indexikalische Evidenz bezeichnen“ (Steinseifer, „Terrorismus“, S. 205). 22 Zur literarischen Dimension von Röntgenbildern, durch die sich diverse Schriftsteller – u.a. Thomas Mann, Viriginia Woolf und A.S. Byatt – inspiriert fühlten, vgl. Paul Goetsch: Literarische Reaktionen auf die Röntgenstrahlung. Von Wells und Conrad zu Strindberg, Mann und Woolf. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 51 (2010), S. 225–253. 23 Grünbein, Vor einem alten Röntgenbild, S. 199.
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heißt es im Gedicht. Der Dichter legt – darin einem Pathologen oder Radiologen ähnlich – wie mit seinem Blick unter die Dielenbretter verborgene Schichten frei, die Fragen aufwerfen nach dem früheren Leben, nach dessen Bedeutung für die evozierte Jetzt-Zeit sowie nach der materiellen Basis menschlichen Lebens. Grünbein greift damit alte Bestimmungen von Dichtung auf: Dichtung als Erinnerung und Vergegenwärtigung, memoria und evidentia, als eine durch lyrisches Sprechen hergestellte Gegenwart qua Imagination.24 Wie in diversen anderen Gedichten sind auch in Vor einem alten Röntgenbild mehrere Zeitebenen präsent. Diese können, wie es Foto und Röntgenbild in Verbindung mit dem vanitas-Motiv nahelegen, die Spanne eines menschlichen Lebens umfassen, aber auch, wie dies die Rekurse auf Herculaneum zeigen, sehr viel weiter reichen. Unter anderem diesen Aspekt hat Michael von Albrecht als kennzeichnend für Grünbeins Dichtungen ausgemacht: Das Erstaunliche an der Welt, in der wir leben, ist die gleichzeitige Anwesenheit von Zeugnissen ganz verschiedener Zeiten in unserer Wahrnehmung, nicht die keimfreie Rekonstruktion eines Ausschnitts (etwa der ‚Antike‘). Was zählt, ist die Zusammenschau in der Perspektive des Individuums. […] Die Antike ist in diese umfassende Präsenz unterschiedlicher Zeiten, Räume, Kulturen eingebunden, sie kommt zur Sprache und zum Sprechen, indem sie im Bewußtsein des Sprechers präsent wird.25
Grünbeins „Wort stützt sich auf ein genaues Sehen und Hören der simultan in unserem Bewußtsein präsenten Zeugen unterschiedlicher Räume, Zeiten und Kulturen“.26 In dem Gedicht Vor einem alten Röntgenbild liegt der Fokus, wie es schon der Titel signalisiert, auf dem Röntgenbild – Fußabdruck und Wandmalereien werden deutlich kürzer, quasi beiläufig thematisiert. Jedoch lässt sich Folgendes feststellen: Ein gemeinsames Merkmal von lyrisch thematisierten bildlichen Repräsentationen bei Grünbein ist ihre – semiotische wie funktionale – Doppelstruktur. Dies gilt auch für diverse andere Werke. Ganz gleich, ob es sich
|| 24 Vgl. zu diesem Aspekt Riedel, Poetik der Präsenz, bes. S. 99ff. Der Titel des Aufsatzes beschreibt programmatisch Grünbeins Dichtungskonzept: „Grünbein […], so meine These, annulliert die poststrukturalistische Tilgung […] des ‚hors-texte‘. Was er zur Sprache und ins Gedicht bringen will, ist die von Mallarmé bis Derrida in die absolute Abwesenheit gerückte Wirklichkeit von Mensch und Welt. Seine Dichtung zielt also auf ‚Anwesenheit‘ dieser Wirklichkeit im poetischen Wort, und in diesem Sinne spreche ich hier von Poetik der Präsenz.“ (ebd., S. 90) 25 Michael von Albrecht: Nach den Satiren. Durs Grünbein und die Antike. In: Mythen in nachmythischer Zeit. Die Antike in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. Hrsg. von Bernd Seidensticker und Martin Vöhler. Berlin, New York 2002, S. 101–116, hier S. 114. 26 Ebd., S. 115.
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um Fotografien in „Fujicolor“ handelt wie in dem Zyklus Café Michelangelo27 in dem Gedichtband Erklärte Nacht, um ein Röntgenbild, wie in dem hier vorgestellten Gedicht, oder ob es um die Evokation „anatomischer Tafeln“ im ersten Gedicht des Bandes Schädelbasislektion28 geht: Materielle Bilder sind medientechnisch bedingt chiffriert und deswegen einerseits durch Momente von Verlust und Defizit gekennzeichnet, andererseits – da sie unsere Einbildungskraft stimulieren – für die lyrische Sprecherinstanz wie auch für den Leser höchst produktiv. So ist in Vor einem alten Röntgenbild eben dieses Röntgenbild Ausgangspunkt für eine Reihe von Assoziationen und Erinnerungen: Ein Negativ, das den eigenen Schädel zeigt, Im Knochen den Bruch. Das Souvenir eines Unfalls, – und durch Bestrahlung ist Alles Fleisch restlos beseitigt worden. Weiß auf dem Film Liegt ein Schleier, um leere Augenhöhlen der Zigarettenrauch Eines paffenden Engels. Ein Dreieck klafft Anstelle der Nase. Durch den verdunkelten Mund Schiebt sich das All. Und dieses Grinsen, in Kalzium gefaßt, Ist das erste Gesicht und das letzte, aus dem Nichts mehr zurückblickt. […] Die Lippen sind fort. Und verschluckt ist die Zunge Hinterm Gebiß.29
Grünbein thematisiert ein bildgebendes Verfahren, das Verborgenes sichtbar macht und präsentiert die Röntgenaufnahme – anders als den Fußabdruck und anders als die Wandmalereien – als Objekt der Wahrnehmung, das einer besonderen Deutungstechnik bedarf.30 Das lyrische ‚Ich‘ ist als Instanz konzipiert,
|| 27 Durs Grünbein: Café Michelangelo. In: ders.: Erklärte Nacht. Gedichte. Frankfurt a.M. 2002, S. 17–25, hier S. 20. 28 Durs Grünbein: Schädelbasislektion. In: ders.: Schädelbasislektion. Gedichte. 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1998, S. 9–15, hier S. 11. Vgl. auch die Evokation von Abbildern und Fotografien in Unten am Schlammgrund. In: ders.: Schädelbasislektion. Gedichte. 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1998, S. 28. 29 Grünbein, Vor einem alten Röntgenbild, S. 199. 30 Vgl. zusammenfassend Vera Dünkel: Das Auge der Radiographie. Zur Wahrnehmung einer neuen Art von Bildern. In: Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien. Hrsg. von Matthias Bruhn und Kai-Uwe Hemken. Bielefeld 2008, S. 207–220, hier S. 215f.: Das Röntgenbild sei ein „Schattenbild“, „welches nach vollkommen anderen Gesetzen als den optischen der Fotografie funktioniert. Die Strahlen werden dabei nämlich durch keine Linse gebrochen oder gebündelt; sie durchdringen die Objekte und projizieren je nach Durchlässig-
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die den durchleuchteten Kopf nicht nur hinsichtlich des optischen Eindrucks beschreibt. Vielmehr werden auch die medialen Besonderheiten der bildlichen Ausdrucksgestalt und die daraus resultierenden anderen Möglichkeiten, Bedeutungen auszudrücken, im Gedicht berücksichtigt. Und zwar beispielsweise dadurch, dass die Bilddeutung durch die Sprecherinstanz beschrieben wird. Davon zeugt die Textstelle „Weiß auf dem Film/ Liegt ein Schleier, um leere Augenhöhlen der Zigarettenrauch/ Eines paffenden Engels. Ein Dreieck klafft/ Anstelle der Nase.“ In diesen Zeilen sind optische Besonderheiten einer Röntgenaufnahme präsent: Knorpel, Haut und anderes weiches Gewebe erscheint darauf bekanntlich schwarz, Knochen erscheinen weiß. Der Blick des lyrischen ‚Ich‘ erfasst aber nicht nur das Schwarz und Weiß der Aufnahme. Hinzugefügt werden auch eigene Assoziationen. Das medizinische Bild ist dadurch nicht eindeutig, sondern eröffnet interpretatorisch-ästhetische Spielräume. Poiesis und episteme werden an Textstellen wie der eben zitierten miteinander verbunden. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die mittels einer technisch avancierten Forschung und mittels erprobter bildgebender Verfahren wie dem Röntgen gewonnen wurden, sind folglich auf der Grenze von Wahrnehmung und Versprachlichung, Sehen und Verstehen zu situieren. Darauf weisen auch die Lippen und die „verschluckte Zunge“ im Gedicht, die auf der Röntgenaufnahme nicht mehr zu sehen sind, an welche die lyrische Sprecherinstanz aber sprachlich erinnert und die sie dadurch ins Bewusstsein des Lesers rückt. Indem Grünbein darüber hinaus sehr persönlich wirkende Spuren eines Abwesenden evoziert und mit dem Röntgenbild verbindet, scheint er zudem die Vorstellung einer rein präsentischen – und folglich unvoreingenommenen, voraussetzungslosen – Wahrnehmung auszuschließen.31 Damit stellt sich Grünbein in diesem Gedicht in die Tradition des 20. Jahrhunderts, einer Zeit, in der es laut Wolfgang Kaschuba „vor allem um das Innen“ gehe, „um die individuelle Aneignung und den individuellen Konsum der Bilder. […] Durch den Umgang mit eigenen Fotoalben und Postkartensammlungen, mit eigenen Erinnerungen und Selbstbildern werden Lebensläufe, Lebensentwürfe, Utopien und Idole in Bildern ver-
|| keit deren Schatten auf die fotografische Schicht. Diese als halbtransparente Schatten sichtbar werdenden Durchlässigkeiten richten sich dabei nach der Dicke der Objekte und der völlig abstrakten physikalischen Größe der Dichte der Substanzen, aus denen die Objekte zusammengesetzt sind. Das Röntgenbild ist eine nicht-optische Aufnahme, die in dem, was sie abbildet, dem sehenden Auge diametral entgegensteht.“ 31 Selbst wenn man unterstellte, das Gedicht habe eigentlich eine monologische Struktur und das lyrische ‚Ich‘ spräche über sich selbst als Abwesenden.
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schmolzen, bei denen Imagination und Abbild, also vermeintlich ‚innere‘ und ‚äußere‘ Anteile, kaum mehr zu unterscheiden sind.“32 Die Lichtwerte des Röntgenbildes erscheinen durch die Verbindung von Bildbeschreibung, persönlich wirkender Erinnerung und Beschreibung des Beschreibungsvorgangs als Teil eines Prozesses kommunikativer Sinnkonstitution: Der abwesende Andere ist durch Spuren und Bilder allgegenwärtig. Zu diesem Eindruck trägt auch die Anrede eines nicht näher charakterisierten Adressaten bei,33 wobei die Widmung nahelegt, dass es sich um den schwedischsprachigen Schriftsteller und Übersetzer Aris Fioretos handeln könnte, der sich in seinem literarischen Werk mit Aufbruch und Exil sowie mit Alltagsdingen als Reflexionsobjekten Exilierter beschäftigt hat.34 Mit Blick auf diverse Artefakte, die in der Forschung als ‚Bilder‘ bezeichnet werden und mit Blick auf eine wissenschaftliche Diskussion, deren Teilnehmer immer noch um eine Schärfung des Bildbegriffs ringen, betont Kaschuba, wie wichtig es sei, nicht nur die Inhalte, sondern auch die Materialität von Bildern zu berücksichtigen. Deren spezifische „Formate und Stile“ erforderten je eigene Formen von Erinnerung.35 Grünbein scheint in seinem Gedicht zu dieser Debatte Stellung zu nehmen, indem er verschiedene Formen von ‚Bildern‘ sprachlich evoziert und alte und neue Paradigmen bildlicher Repräsentation menschlichen Lebens miteinander kontrastiert. Das Gedicht Vor einem alten Röntgenbild lässt sich als Beispiel dafür lesen, welche ästhetischen Erfahrungen unterschiedliche (Bild-)Medien ermöglichen. Mit Blick auf das titelspendende Medium lässt sich mit Sigrid Weigel sagen, dass die „ästhetische Gestalt“ von Röntgenbildern verdeckt […], dass es sich dabei nicht um Bilder im konventionellen Sinne handelt, sondern überwiegend um Verfahren zur Messung und zur Visualisierung von Daten. Was die bildgebenden Verfahren leisten, liegt nämlich jenseits von Abbild und Repräsentation, jenseits von Mimesis und Ähnlichkeit. […] Dennoch haben sie eine enorme Suggestivkraft,
|| 32 Wolfgang Kaschuba: Dinge in Bewegung. Über Bildkonsum. In: Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien. Hrsg. von Matthias Bruhn und Kai-Uwe Hemken. Bielefeld 2008, S. 55–65, hier S. 61. Auch Gudrun Schury identifiziert in ihrem Aufsatz Lichtanatomie. Thomas Mann und die Ästhetik der Röntgenbilder (in: Literatur und Ästhetik. Texte von und für Heinz Gockel. Würzburg 2008, S. 123–132, hier S. 128), das literarische Röntgenbild als etwas, bei dem sich „die Grenze von Außensicht und Innenschau“ auflöst. 33 Vgl. Strophe sechs: „ein Photo, das dich als Säugling zeigt“ (Grünbein, Vor einem alten Röntgenbild, S. 198). 34 Vgl. etwa die Romane Stockholm noir. Stockholm 2000, und Den siste greken. Stockholm 2009 sowie die Kurzgeschichte Habseligkeiten in: Süddeutsche Zeitung vom 06.08.2005. 35 Kaschuba, Dinge in Bewegung, S. 62.
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als ob uns mit ihnen das Innere oder die Geheimnisse der Natur direkt vor Augen stehen. Diese Wirkung ist dadurch begründet, dass sie wie Bilder wirken und damit auch am Wahrheitsanspruch von Bildern partizipieren. Wie gesehen, so geglaubt.36
Das Röntgenbild als Bildträger im Gedicht substituiert den Körper nicht, sondern führt den defizitären Charakter von Aufnahmen vor. Diese stehen zwar in einem nachvollziehbaren Verhältnis zum abgebildeten Objekt, sind aber nicht mit diesem identisch und auch nicht – wie der Fußabdruck – dessen unmittelbares Abbild, dessen gleichsam natürlich entstandene Spur. Das Röntgenbild erscheint bei Grünbein als erläuterungsbedürftiges, nicht voraussetzungslos verständliches Objekt der Wahrnehmung. Das Gedicht suggeriert, dass die Aufnahme durch die lyrische Sprecherinstanz im Akt des Sehens reproduziert und in einem weiteren Schritt sprachlich wieder hervorgebracht und dabei gestaltet werde. Der weiße Schädel auf schwarzem Grund steht dadurch dem Leser – gleichsam als Beobachter zweiter Ordnung – vor dem inneren Auge. Dabei werden Möglichkeiten und Unschärfen des Mediums ‚Röntgenbild‘ deutlich: Linien und Brüche im Schädel bedürfen einer Übersetzung in Sprache, um sich zu einem medizinischen Befund zu formieren und um auf eine individuelle Biographie bezogen zu werden. Ein Befund bzw. ein individueller Bezug entsteht nicht dadurch, dass eine Analogie zwischen einer zweidimensionalen Abbildung und einer dreidimensionalen Referenzrealität gebildet wird, sondern ist als ein Effekt „intermedialer Differenzbildung“ zu verstehen:37 Photo und Röntgenbild, Fußspur und Wandmalereien bieten je eigene, medienspezifische Inhalte und bedürfen deswegen unterschiedlicher Deutungsmethoden. Die besonderen Abbildungsmodi des Röntgenbildes müssen erkannt, in ihrer Besonderheit verstanden und interpretiert werden; denn Bilder sind nicht allein visuelle Phänomene: „Die so genannten Bilder im Kopf gehen nämlich den materiellen oder medialen Darstellungen voraus“,38 konstatiert Sigrid Weigel. Wenn wir uns „ein Bild machen“ oder uns „etwas vor-stellen“ oder „vor Augen führen“, dann verknüpfen sich Gedächtnis und Sprache, Erinnerungen und Wahrnehmungen, Weltwissen und Erfahrungen. Wie im Gedicht Grünbeins sind Bilder in diesem weiteren und grundsätzlicheren Sinne […] Verdichtungen, in denen vergangene und aktuelle Eindrücke zusammenschießen und zu einer bestimmten Figur komprimiert werden. […] Bilder sind Hauptakteure unseres Denkens, weil sie die ungeheure
|| 36 Weigel, Bilder als Hauptakteure auf dem Schauplatz der Erkenntnis, S. 195. 37 Ludwig Jäger: Editorial. Semantik der Medien. Anmerkungen zum Themenschwerpunkt des Heftes. In: Sprache und Literatur 33 (2002), H. 2, S. 3–6, hier S. 3. 38 Weigel, Bilder als Hauptakteure auf dem Schauplatz der Erkenntnis, S. 198.
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Leistung vollbringen, Dinge und Ereignisse der Außenwelt oder auch persönliche Erlebnisse mit dem Archiv unseres Wissens zu verknüpfen.39
Sie sind gleichsam Organon und Medium menschlicher Erkenntnis. Im Gedicht Grünbeins entsteht physiologisches Wissen um den Körper und um dessen Zeitlichkeit aus einer paradoxen Figur: Die Ekphrasis eines Röntgenbildes, welches das Körperinnere zeigt, wird im Gedicht zur Projektionsfläche eines ‚Ichs‘. Es räsoniert über Werden und Vergehen und identifiziert die Aufnahme als Zeichen, mittels dessen sich – wie anhand der anderen Artefakte, Reste und Gebrauchsspuren in und an der Wohnung – ein gelebtes Leben doch nicht rekonstruieren lässt. Ebenso wenig kann von der Fußspur auf die Person der Römerin geschlossen werden oder von den Wandmalereien zweifelsfrei auf das tatsächliche Leben in Pompeji. Und ebenso wenig kann das Gedicht als Ganzes voraussetzungslos – ohne Wissen um lyrische Ausdrucksformen, indexikalische und symbolische Zeichen und Lebensformen in westlichen, industrialisierten Gesellschaften – interpretiert werden.40 Damit übt Grünbein indirekt auch Bildkritik, denn – wie Johanna Schaffer richtig postuliert – ist das, was der Topos der Sichtbarkeit zuallererst aufruft […], die in den Gesellschaften des hochindustrialisierten Nordens nach wie vor herrschende moderne epistemologische Verbindung zwischen Sichtbarkeit, Erkenntnis und Wirklichkeit. […] Diese Verbindung zwischen Glauben und Sichtbarkeit lädt ‚Sichtbarkeit‘ mit immenser rhetorischer Kraft auf. Allerdings bleibt in der alltäglichen rhetorischen Praxis […] generell unbemerkt, dass Sichtbarkeit nie gegeben, sondern immer […] produziert ist.41
Die medial unterschiedlichen Bilder, die Grünbein in seinem Gedicht beschreibt, machen deutlich, dass unter ‚Bild‘ eine textuelle oder nicht-textuelle mentale, interreferentielle Repräsentation zu verstehen ist, die in einem bestimmten sozio-historischen Kontext entsteht. Die spezifische Materialität des Bildträgers
|| 39 Ebd. 40 Vgl. hierzu Korte, Habemus poetam, S. 19: „Durs Grünbeins Lyrik setzt Leser voraus, die bereit sind, sich auf distanzierte, (selbst-)reflexive Weise in Gedichte zu vertiefen. […] Dem poeta doctus der neunziger Jahre kommt ein Lesermilieu zu, das schwierige Sprach- und Textchiffrierungen als Prämisse aktueller Lyrik begreift und daher von vornherein Postulaten misstraut, die auf ein müheloses Verstehen und ein geheimes Einverständnis zwischen Dichter und Publikum rekurrieren. […] Poetische ‚Sprachsysteme‘ sind in einer sich als ‚Wissensgesellschaft‘ gerierenden Gegenwart von der Sprache der Wissenschaften, der Technologie und Medienkommunikation durchsetzt.“ 41 Johanna Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung. Bielefeld 2008, S. 13.
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bedingt bestimmte Formen der Annäherung und bestimmte Verstehensprozesse. Martin Steinseifer stellt deswegen fest: Der Betrachter eines Bildes unterstellt diesem immer schon einen Sinn, ja er muss bereits einen Sinn unterstellen, um überhaupt ein Bildobjekt als ein bestimmtes Objekt wahrzunehmen, um im Bild(-Träger) als Ganzem ein (Bild-)Objekt als einen Teil davon zu sehen.42
Lyrisches Sprechen erweist sich als Brücke zwischen diversen semantisch-interpretativen Aspekten der Bilddeutung, Besonderheiten mechanisch-technisch erzeugter Bilder und deren rhetorischer Funktion im gegebenen literarischen Kontext. Im Gedicht macht Grünbein auf unterschiedliche Formen und Funktionen von Sichtbarkeitsphänomenen aufmerksam. Diese sind an unterschiedliche Theorieansätze anschließbar. Zudem kann man feststellen: Bild ist nicht gleich Bild. Um etwas über Bildinhalte und Formen des Wissens, die diese Bildinhalte vermitteln, aussagen zu können, sind – im Sinne Gottfried Boehms43 – auch der thematisierte Bildträger und dessen Ausdrucksformen zu berücksichtigen bzw. ist zu klären, worin die mediale Besonderheit von Bildern im Vergleich mit der Sprache besteht. Auf der Grundlage Edmund Husserls44 ließe sich argumentieren, dass sowohl Bilder als auch Sprache eines Trägers bedürfen. Der ‚Sinn‘ oder die ‚Bedeutungen‘ von Bild und Sprache und ihre Träger sind nicht identisch. Was Bilder vermitteln und was Sprache vermittelt, ist ein Ergebnis komplexer mentaler Operationen. Mit Husserl gesprochen: Während der konkrete Bildträger – das Foto, das Röntgenbild – ein physisches Ding ist, sei das Bildobjekt „für den Betrachter im Moment der Betrachtung des Bildträgers ein intentionales Objekt, ein vermeintlich uns als gegenwärtig erscheinendes Unding“.45 Gleiches ließe sich auch über die sprachlich erzeugten Impressionen in Grünbeins Gedicht sagen. Bild- und Textsemantiken werden bei Grünbein folglich auch mit Blick auf ihre Bedeutungen im Gebrauch, mit Blick auf ihre Pragmatik, dargestellt.
|| 42 Steinseifer, „Terrorismus“, S. 111. 43 Gottfried Boehm prägt in der aktuellen Diskussion den Begriff „ikonische Differenz“, den er als Spezifikum des Bildlichen betrachtet: die wahrnehmbare materielle Gestalt und der ‚Sinn‘, das Dargestellte, unterscheiden sich. Bildliche Sinnkonstitution ist eine Form abduktiven Schließens. Vgl. etwa Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder. In: Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Hrsg. von Christa Maar und Hubert Burda. Köln 2004, S. 28–43. 44 Vgl. Edmund Husserl: Husserliana XXIII: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlaß (1898‒1925). Hrsg. von Eduard Marbach. Den Haag u.a. 1980, S. 1–108. 45 Ebd., S. 81.
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Bilder veranschaulichen reale oder fiktive Sachverhalte.46 Sie können Evidenz erzeugen.47 Dabei geschieht zweierlei: Bilder verleihen dem Thema des Textes Anschaulichkeit, binden es an bestimmte Orte, konkrete Dinge und Geschehnisse – wie Fußspur, Wandmalerei, Foto und Röntgenbild. Umgekehrt kann im Text – auch im Gedicht – erläutert werden, was ein Bild darstellt; denn dies ist nicht per se evident. Folglich können Texte und Bilder in Texten wechselseitig semantische Defizite kompensieren. Bildinhalte – wie der Schädel auf dem Röntgenbild und die obszönen Wandmalereien, Bildinhalte wie der verschwundene Fußabdruck – lassen sich zwar beispielsweise wie oben angeführt auf unterschiedliche Theorieansätze, auch unter anderem auf die Theorie der Semiose und Kommunikation des US-amerikanischen Pragmatismus nach Peirce beziehen,48 doch können wir allein daraus noch keine konkreten Erkenntnisse die Bildbedeutungen betreffend ableiten, höchstens die Erkenntnis gewinnen, dass unterschiedliche Bildträger unterschiedliche Spuren bewahren. Welche das sind und was wir daraus ablesen können, bleibt – nicht nur im hier besprochenen Gedicht – oftmals vage. Vor einem alten Röntgenbild problematisiert eher die Erzeugung von Bedeutungen anhand medial unterschiedlicher Bedeutungsträger sowie anhand der evozierten optischen Wahrnehmung einer Wohnung, menschlicher Spuren und unterschiedlicher Abbildungstechniken, als dass es konkrete Bedeutungen evozierte. In dem Gedicht Vor einem alten Röntgenbild wie auch in diversen anderen Poemen Grünbeins sind Rekurse auf Philosophie, Geschichte, Sinneswahrnehmung und Mediengeschichte damit Teil einer notwendigerweise unabschließbaren Suche: Das Spiel mit Leerstellen provoziert unsere Imagination. Die Bilder im Gedicht deuten auf bleibende und vergehende menschliche Spuren. Was lässt sich daraus lesen? Beispielsweise wie wichtig es ist, diese Spuren zu entdecken, Bilder deutend zu betrachten und der historischen Dimension unseres Bildverstehens, die mit der technischen Entwicklung der Bilderzeugung einhergeht und von Herculaneum in die stark visuell orientierte Gegenwart führt, eingedenk zu sein.
|| 46 Vgl. Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium, S. 75. 47 Vgl. hierzu den Befund Krämers: „Sprachliche Bilder sind ein ebenso legitimes Mittel des Ausdrucks und der Vermittlung von Erkenntnissen wie abstrakte Begriffe; sie vollbringen hierbei eine eigenständige kognitive Leistung, die nicht von Begriffen übernommen werden kann.“ (Krämer, Bildliches Denken als Erkenntnismodus zwischen Poesie und Wissenschaft, S. 242) 48 Vgl. Charles S. Peirce: Semiotische Schriften. 3 Bde. Hrsg. von Christian Kloesel und Helmut Pape. Frankfurt a.M. 2000.
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Miriam Seidler
Wahrnehmung, Sterblichkeit und das Werk Andrea Mantegnas in Grünbeins Zyklus Physiognomischer Rest Physiognomischer Rest – bereits der Titel des dritten Gedichtzyklus in Durs Grünbeins Gedichtband Nach den Satiren (1999) verweist auf das für Durs Grünbeins Lyrik zentrale Motiv des Körpers – allerdings deutet der Titel an, dass Grünbein einen neuen Weg in der Auseinandersetzung mit dem Körper einschlägt. Es ist nicht der Blick in den geöffneten Leib und die Reflexion auf dessen geheime Vorgänge,1 sondern seine Oberfläche wird zum Gegenstand der poetischen Analyse. Wie Durs Grünbein immer wieder Anregungen aus der Medizin bezieht, so sind auch die Ursprünge der Physiognomik im medizinischen Bereich zu suchen, wenn nämlich Physiognomik die Kunst ist, aus äußeren körperlichen Anzeichen auf das Innere eines Menschen zu schließen, sei dies nun seine Seele, sein Gemütszustand, sein Charakter, seine Krankheit oder Konstitution.2
Dass Durs Grünbein sich mit der Tradition der Physiognomik auseinandergesetzt hat, zeigt sein Bezug auf den als Begründer der Physiognomik in der Antike geltenden Polemon von Laodikeia (etwa 88–144 n.Chr.) im Gedicht Physiognomik nach Polemonius aus dem Zyklus Historien, der ebenfalls im Band Nach den Satiren enthalten ist. Hier offenbart sich die moralische Verkommenheit einer Figur auch an äußerlichen Merkmalen wie den „fleischigen Schenkeln“ und dem „breiten Mund“.3 Allerdings scheint der Titel des Zyklus Physiognomischer Rest nicht auf die Antike zu verweisen, sondern einen transtextuellen Bezug zu einem der zentralen Werke der Physiognomik der Aufklärung herzustellen: Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente. Dabei fällt bereits bei der Namensgebung die Differenz auf. Begründet Lavater die Wahl des Begriffs ‚Fragment‘ damit, dass er keine systematische Untersuchung, sondern lediglich unzusammenhängende
|| 1 Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Degen in diesem Band. 2 Gernot Böhme: Über die Physiognomie des Sokrates und Physiognomik überhaupt. In: ders.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt a.M. 1995, S. 101–126, hier S. 101. 3 Durs Grünbein: Physiognomik nach Polemonius. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 46.
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Überlegungen und Beobachtungen vorlegt,4 so verweist das Substantiv ‚Rest‘ auf etwas Übriggebliebenes und damit scheinbar Unnötiges. Eine Verkümmerung des Wissens um die Lehre von den „äußeren körperlichen Anzeichen“ kann hier ebenso angedeutet sein wie die Degeneration des Körpers zu einem ausdruckslosen Gegenstand. Dies lässt sich exemplarisch am titelgebenden Gedicht nachvollziehen, das einen Hinweis darauf gibt, wie der Titel verstanden werden kann: Physiognomischer Rest Auch dieses Kinn, das du manchmal im Spiegel siehst, Wird man irgendwann finden, den Kiefer dazu, Unter anderen Knochen. Heute noch unrasiert, Wird es schon morgen abstrakt sein, ein weißer Bügel, Rein wie ein Notenschlüssel aus Draht.5
Ein nicht genannter Reiz lenkt die Aufmerksamkeit des lyrischen Ichs auf das Kinn. Dieses nimmt insofern eine besondere Funktion im männlichen Gesicht ein, als die Rasur des Kinns besonderer Sorgfalt bedarf, um keine Verletzung der Haut nach sich zu ziehen. Es ist also eine Alltagsszene, die Durs Grünbein entwirft, die einerseits eng mit dem Blick in den Spiegel verbunden ist, die aber andererseits aufgrund der täglichen Wiederholung auch auf die Veränderung des Körpers verweist – es ist die Veränderung, der fortwährende Alterungsprozess, dem das Aussehen unterworfen ist, die durch den Bartwuchs erfahrbar wird. Dem durch die Haut symbolisierten, von Entwicklung und Veränderung geprägten Heute wird im Motiv des Kieferknochens das entwicklungslose Morgen gegenübergestellt. Ähnlich wie in Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus barockem Gedicht Vergänglichkeit der Schönheit wird bereits beim Blick auf den lebenden Körper dessen Tod imaginiert. Allerdings ist es nicht nur das von Hoffmannswaldau verwandte memento-mori-Motiv, das von Grünbein aufgerufen wird, sondern auch die melancholische Frage Hamlets nach dem Verhältnis von Sein und Schein. Der Vergleich mit einem Notenschlüssel aus Draht, der ohne die Notenlinien und die dazugehörigen Noten lediglich die Idee von Musik verkörpert, aber auf kein konkretes Musikstück verweist, negiert hier einerseits Lavaters Vorstel-
|| 4 Vgl. Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Gott schuf den Menschen sich zum Bilde! Erster Versuch. Mit vielen Kupfern. Leipzig, Winterthur 1775, o.S. [S. 19]. 5 Durs Grünbein: Physiognomischer Rest. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 201.
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lung, der Schattenriss und seine idealisierte Umrisslinie eines menschlichen Kopfes „offenbar[e], wie [er] eigentlich auszusehen hätte“6 und lasse damit eine getreuere Aussage über die „Würklichkeit des Charakters“7 zu, als der Blick in das Gesicht der silhouettierten Person. Andererseits steht dieser Vergleich aber hier auch exemplarisch für Grünbeins Vorstellung vom toten Körper, der zwar die Zugehörigkeit zur Gattung ‚Mensch‘ erkennen lässt, der aber nicht mehr mit der Individualität eines Subjekts in Verbindung gebracht werden kann. Den Versuch, dem Leib Bedeutung für seinen Träger zuzuweisen, beschreibt er am Beispiel der Herstellung von Totenmasken als ebenso vergebliches Bemühen wie die Idee, ein authentisches Abbild des ständiger Veränderung unterworfenen Menschen herstellen zu können: Von den vielen Gesichtern im Lauf eines Lebens hat dieses nur eines voraus – daß es das letzte ist. Die Totenmaske ist das finale Exemplar einer individuellen Typenreihe, deren Produktion mit diesem Endstück eingestellt wird. Denn bis dahin war alles Variation und fortwährende Transformation gewesen. Es gab die mimische Serie, die Gesamtheit der Ausdrucksfacetten, die immer wieder durchlaufen wurde wie die Teile eines Musikstücks.8
Mit dieser Vorstellung steht Grünbein im Gegensatz zu den Ideen der Physiognomen des 18. Jahrhunderts, die gerade in der Totenmaske den Charakter eines Menschen auf die beste Art und Weise festgehalten sehen.9 Dass die Entwicklung des Menschen ebenso wie die ihn auf charakteristische Weise kennzeichnende Einheit im Wandel aber mit dem Tod zum Ende kommt, verdeutlicht die Reduktion des Gesichts auf das Kinn und den im Körperinneren verborgenen Kieferknochen. Dieser lässt als ‚physiognomischer Rest‘ keine Rückschlüsse auf den ehemals zugehörigen Körper zu. Als Überbleibsel ist er entpersonalisiert und verweist nur noch auf ein vergangenes Leben. Das Spannungsfeld von auf den Bildträger oder die Maske gebannter Identität und der Unmöglichkeit, mehr als das (Gattungs-)Wesen mit dieser Form der Fixierung zu beschreiben, prägt das titelgebende Gedicht. Welche Bedeutung
|| 6 Ulrich Stadler: Der gedoppelte Blick und die Ambivalenz des Bildes in Lavaters Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. In: Der exzentrische Blick: Gespräch über Physiognomik. Hrsg. von Claudia Schmölders. Berlin 1996, S. 77–92, hier S. 87. 7 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Zweyter Versuch. Mit vielen Kupfern. Leipzig, Winterthur 1776, S. 98. 8 Durs Grünbein: Das aufgegebene Gesicht. In: ders.: Antike Dispositionen. Aufsätze. Frankfurt a.M. 2005, S. 171–180, hier S. 176f. 9 Vgl. Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik. Berlin 1995, S. 153ff.
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kann damit der Physiognomik und der Lehre, „aus äußeren körperlichen Anzeichen auf das Innere eines Menschen zu schließen“, für die Lyrik Grünbeins zugewiesen werden? Welche Neudefinition der umstrittenen Wissenschaft nimmt er vor, um sie für seine Lyrik als Denkfigur fruchtbar zu machen?
Der Zyklus Physiognomischer Rest Beim ersten Lesen scheint die Physiognomie des menschlichen Körpers keine Rolle für den Gedichtzyklus zu spielen, der aus insgesamt 25 Einzelgedichten und Gedichtgruppen besteht. Vielmehr nimmt das erste Gedicht Vita brevis einen völlig anderen Blickwinkel auf das menschliche Leben ein. Es evoziert einen Lebenslauf und nimmt damit ein ganzes Menschenleben in den Blick: Kurz und bös, ich bin großgeworden im öden Schlamassel, Der allem droht, was sich verkennt. Unter Spatzen und Spitzeln War ich auf leerem Appellplatz tollkühn, schweigsam in stummer Masse. Ein Clown, siebenzüngig, ein Chorknabe, scharf auf die zynischen Witze. Ungefragt sprechend wie andere spucken, beiseite Hab ich die Schocks der Ohnmacht verleugnet mit schwarzem Humor. Denn die Historie war mir von Nachteil, des Menschen Pleite. Dort wo ich aufwuchs, kam Größe nur in Legenden vor.10
Bereits die ersten zwei Verse deuten eine pessimistische Lebensbilanz des Sprecher-Ichs an, dem die „Historie […] von Nachteil war“. Das Leben in einer Gesellschaft bzw. Staatsform, die „sich verkennt“, damit ihre Bedeutung selbst in Frage stellt und daher durch die Anwendung verschiedener Formen von Gewalt ihre Legitimation immer wieder erzwingen muss, stellt eine Herausforderung für das Ich dar. Trotz der für Grünbeins Lyrik charakteristischen „pathetisch inszenierte[n] Selbstvergewisserung“11 des lyrischen Ichs bleibt diese Lebensbeschreibung sehr allgemein. Sie enthält kaum einmalige Erlebnisbeschreibungen, sondern gerade die Verortung des Ichs als Teil der „stummen Masse“ im dritten Vers und die immer wieder vorgenommenen Verallgemeinerungen verweisen auf die Kollektiverfahrungen von Kindern und Jugendlichen, die in einer Diktatur aufgewachsen sind. Im Gegensatz dazu steht aber der Selbstentwurf des Ichs, das das Schweigen der Masse „siebenzüngig“ unterläuft und damit
|| 10 Durs Grünbein: Vita brevis. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 117. 11 Franz Josef Czernin: Falten und Fallen. Zu einem Gedichtband von Durs Grünbein. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur (1995), H. 45, S. 179–188, hier S. 182.
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„ungefragt sprechend“ die „Schocks der Ohnmacht verleugnet mit schwarzem Humor“.12 Die Sprache ist es, die hier ebenso eine Fluchtmöglichkeit des Ichs ermöglicht wie eine Form der subversiven Kritik am bestehenden System, die aufgrund der Möglichkeiten uneindeutigen Sprechens eine so große Interpretationsvielfalt ermöglicht, dass das Ich nicht belangt werden kann. Dabei ist es – wie die zweite Strophe ausführt – die Einführung in die Sprache und Literatur, die mit dem Lesenlernen thematisiert wird, die zugleich eine innere Distanzierung erfordert, weil das Ich damit „Verstellung gelernt“13 hat. Schrift darf dem Ich nicht zur Selbstaussprache dienen, sondern muss so offen und flüchtig bleiben wie die gesprochene Sprache. Die schizophrenen Erfahrungen, denen das Ich sich ausgesetzt sah, wenn es z.B. Akten vor dem Reißwolf stempelte und damit einer völlig sinnfreien bürokratischen Tätigkeit nachging, waren nicht nur prägend, sie stellen zugleich die Wirksamkeit von Literatur in Frage, denn auch Utopia14 von Thomas Morus und damit die Literatur bietet weder eine Erklärung für die als paradox erfahrenen Wirklichkeit noch eine Fluchtmöglichkeit aus ihr. Die Indienstnahme der Kunst durch die Gesellschaft wird auch durch die Unmöglichkeit, an der „Schule der Schönen Künste“15 einen freien Umgang mit Sprache und Kunst zu erlernen, vorgeführt. Selbst hier herrscht die Lüge. Ist die Kunst somit ihres kritischen und subversiven Potentials enthoben, das die erste Strophe als Merkmal des Sprecher-Ichs entwirft? Nur auf den ersten Blick, wie in der dritten Strophe zum Ausdruck kommt: Eine Knastlitanei. Lang ists her, und sieh da, ich bin immer noch hier. Wo Staaten wie Sandburgen rutschten, die Illusion hoch im Kurs stand, War es Instinkt, die Musik lauter zu stellen und leise, Die zwei, drei Zeilen zu summen, die dieses Land Unter Wasser setzten. So ging ich allein auf die Reise, Zurück durch die Brennesselfelder, die Dörfer, entgegen den Trecks, Im Ohr noch den russischen Laut des Sergeanten: ›Dawai, dawai!‹. Nostalgie, eine fistelnde Stimme, empfahl mir Bevor du verreckst, Irgendwas Fernes. Die Brandung am Strand von Hawaii?16
|| 12 Der „schwarze Humor“ steht hier stellvertretend für die von Grünbein selbst für sein Frühwerk als wichtig herausgestellte sarkastische Schreibweise. Vgl. Michael Braun: „Hörreste, Sehreste“. Das literarische Fragment bei Büchner, Kafka, Benn und Celan. Köln u.a. 2002, S. 269. 13 Grünbein, Vita brevis, S. 117. 14 Thomas Morus: Utopia. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt von Gerhard Ritter. Mit einem Nachwort versehen von Eberhart Jäckl. Unter Mitarbeit von Gerhard Ritter. Stuttgart 2012. 15 Grünbein, Vita brevis, S. 117. 16 Ebd., S. 117f.
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Die Geschichte, die der Zyklus Physiognomischer Rest erzählt, ist die durch die neu gewonnene Freiheit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mögliche Reise und Erkundung der Welt. Die Kunst hat diesen neuen Erfahrungsraum eröffnet. In der Reflexion des lyrischen Ichs hat sie eine nicht eindeutig bestimmbare, aber scheinbar nicht unwichtige Rolle gespielt, denn das Summen der „zwei, drei Zeilen“ hat das „Land unter Wasser gesetzt“ und damit die „Sandburg“ zum Einsturz gebracht. Der im Kontext der „neuen Bibeln“ aus Politik und Kunst geübte und erfahrene „Verzicht“17 auf Kultur wird damit aufgehoben. Die Reise ist allerdings nicht zuerst eine Reise in die Ferne, sondern ein Zurück in die eigene, das Innere prägende Vergangenheit. Wie das Gedicht eine Selbstverortung und Selbstvergewisserung des lyrischen Ichs ermöglicht,18 so muss auch der bisherige Erfahrungsraum noch einmal durchschritten werden, um den Aufbruch in die Welt zu wagen. Erst der Raum, der nicht durch Sprache, sondern durch den „russischen Laut des Sergeanten“ markiert ist, öffnet dem Ich daher die Welt und bewegt ihn zum Aufbruch ins Ungewisse. Dabei löst der Weg zurück und die Begegnung mit dem Sergeanten oder die Erinnerung an ihn in dem unerwarteten Aufrufen einer emotionalen Verklärung der ehemaligen Erfahrungen eine Stimmung der Nostalgie aus, in der die häufig diskutierte ‚Ostalgie‘ der Bürger der ehemaligen DDR nach der Jahrtausendwende thematisiert wird. Darin klingt zugleich an, dass kein vollständiger Bruch mit der früheren Lebensphase möglich ist, sondern die Rückbesinnung auf die Prägung des Ichs durch erlebte Geschichte erst den Blick in die Zukunft möglich macht. Die Zeitebenen bedingen sich also gegenseitig. Die Reise ist somit immer auch von den Erfahrungen der Vergangenheit, dem Wissen um die Wirkmöglichkeit von Kultur und Phantasie sowie der historischen Realität geprägt. Die Schichtung der Zeitebenen ist das zentrale Thema des Bandes und verbindet das Gedicht mit den Zyklen Historien und Nach den Satiren.19 Die Reise nimmt ihren Anfang daher nicht mit der unbedarften Welterkundung des Flaneurs, wie sie so oft in der Forschungsliteratur zum Gedichtband Nach den Satiren beschrieben wird.20 Sie geht vielmehr von einer als existentielle Mangeler-
|| 17 Grünbein, Vita brevis, S. 117. 18 Für die Zyklen Historien und Nach den Satiren geht Stefan Matuschek noch davon aus, dass „Selbstbesinnung zum Selbstverlust“ führt. Stefan Matuschek: Moralist und Flaneur oder: Hätte Baudelaire Grünbein für Barbier gehalten? Zu Durs Grünbein Nach den Satiren. In: Germanisch-romanische Monatsschrift N.F. 54 (2004), H. 1, S. 109–116, hier S. 114. 19 Vgl. zum Verhältnis der Zeitebenen im Zyklus Nach den Satiren die Interpretation von Manfred Fuhrmann: Zeitdiagnose am Widerpart Rom. Zu Grünbeins Gedichtband Nach den Satiren. In: Sprache im technischen Zeitalter 37 (1999), S. 276–285. 20 Vgl. Matuschek, Moralist und Flaneur.
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fahrung erlebten Einschränkung der körperlichen wie intellektuellen Bewegungsfreiheit aus. Nicht zufällig wählt Grünbein den Begriff der „Knastlitanei“. Reisen als Erkundung der Welt war dem kollektiven Ich wie dem Individuum, das im Gedicht beschrieben ist, nicht möglich. Der Aufbruch aus der Unfreiheit wird im Gedicht Traum vom fliegenden Fisch parallelisiert mit der Entdeckung der ‚Neuen Welt‘ durch Columbus. Wie dieser nicht wusste, was in Indien auf ihn zukommen wird, so ist auch dem lyrischen Ich „[d]ieses Unbekannte […] unheimlich wie ein Fisch, der fliegt.“21 Vita brevis, ars longa – das geflügelte Wort, auf das Durs Grünbein mit dem Gedichttitel anspielt und das von Cosima Hohl als Bestätigung der Wirkmächtigkeit der Kunst interpretiert wird,22 die das kurze Leben überdauert, scheint mir in Grünbeins Gedicht verkehrt zu sein. Wenn Kunst und Literatur nicht fixiert werden können, sondern Sprache im Bereich der Mündlichkeit verharren muss, da Verstellung nötig ist, dann ist die Kunst nicht zwangsläufig auf Dauer gestellt und ihr Verständnis nicht notwendig gewährleistet. Es ist also die Frage nach der Bedeutung der Kunst, die Grünbein mit seinem Gedicht zur Diskussion stellt. Dabei ist sie nicht im Bereich des Eskapismus zu verorten, sondern vielmehr Ausdruck von Erfahrungshaftigkeit und als solche an die Lebensbedingungen des Künstlers rückgebunden. Im Reisemotiv und der Empfehlung „Bevor du verreckst,/ Irgendwas Fernes“ deutet sich daher eine andere, der Antike zugeschriebene Lebenshaltung an: carpe diem. Zugleich zeigt sich hier aber auch eine Verbindung zum Gedicht Physiognomischer Rest, die einen Zusammenhang zwischen den beiden Gedichten herstellt und damit die Bedeutung des Gedichts als Auftakt für den Zyklus erkennbar macht. Das „schiefe[.] Grinsen“23 des sich rasierenden jungen Mannes, das in der zweiten Strophe von Vita brevis noch eine gewisse Unbeholfenheit signalisiert, verweist auf den späteren reflektierenden Blick in den Spiegel, welcher den Alterungsprozess im Rahmen des Zyklus signalisiert. Dieser kommt mit dem
|| 21 Durs Grünbein: Traum vom fliegenden Fisch. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 119. 22 Vgl. Cosima Hohl: Endstation Weltflucht? Durs Grünbeins Gedicht VITA BREVIS. In: Verbalträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Interviews mit Friederike Mayröcker, Kerstin Hensel, Martin Walser, Bastian Böttcher und Tom Schulz. Hrsg. von Andrea Bartl. Augsburg 2005, S. 63–83. Der Versuch, Grünbeins Gedicht und die geschilderte Erfahrung der Diktatur mit Foucaults Machtanalyse zu beschreiben, wird dem Gedicht meiner Meinung nach nicht gerecht, da die Bedeutung von Kunst und Literatur für das Sprecher-Ich dadurch zugunsten der Analyse der angedeuteten Machtstrukturen aus dem Blick gerät. 23 Grünbein, Vita brevis, S. 117.
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Gedicht Gespräch mit dem Dämon auf halbem Wege, das die Symbolik wieder aufnimmt, zu einem vorläufigen Abschluss: Es ist Halbzeit, mein Lieber. Egal wo ich bin – Im Gedanken am Nordkap oder hier überm Kinn – Kommt der Schritt, den du vorlegst, immer schneller ans Ziel. Nicht der Tag wird jetzt kürzer, nur mein Schatten. Senil Ist vor Rückspiegeln Hadern. Denn was hinter mir liegt, Bleibt für immer gestohlen, und Langweile ist nur Der Phantomschmerz um Stunden, die der Alltag besiegt. Von der jüngsten Umarmung bis zur nächsten Rasur Ist die Wange schon kalt. Nein, es braucht nicht die Klinge, Vorzufühlen was kommt: Kühlhaus, Starre, ein Knistern Unempfindlicher Folien, – wird man, Ding unter Dingen, Im Container entsorgt. […].24
Im Unterschied zum auf einer Fläche fixierten Schattenriss, den Lavater seinen physiognomischen Reflexionen zugrunde legt, handelt es sich hier nicht um ein Bild, auf das Grünbein zurückgreift. Die Spiegelfläche zeigt jedem Betrachter von jedem möglichen Standpunkt aus eine individuell verschiedene Ansicht.25 Damit befreit der Spiegel den Betrachter nicht für einen Moment „von der Zumutung [s]eines räumlich einzigartigen In-der-Welt-Seins“,26 sondern verweist ihn gerade auf die Bedingungen dieses In-der-Welt-Seins, das immer von einem Veränderungs- bzw. Alterungsprozess begleitet ist. In der Kälte der Klinge wird die sinnliche Wahrnehmung mit dieser Erkenntnis verbunden. Das Reisemotiv, das im Zyklus Physiognomischer Rest eine zentrale Rolle spielt, symbolisiert somit ebenso wie der Blick in den Spiegel die Dauer im Wandel, die Flüchtigkeit im scheinbar Gleichen. Die Reise ist daher eine zweifache: einerseits eine Erkundung der Welt, andererseits die Lebensreise des lyrischen Ichs, die im Rahmen des Zyklus beschrieben wird. Die Reisestationen sind vielfältig und die mit ihnen verknüpften Erfahrungen und Erkenntnisse sind teilweise überraschend. Neben für Grünbeins Lyrik charakteristischen Orten und Erfahrungsräumen wie Dresden, Berlin und Venedig werden auch
|| 24 Durs Grünbein: Gespräch mit dem Dämon auf halbem Wege. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 214–216, hier S. 214. 25 Lambert Wiesing (Artifizielle Präsenz: Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M. 2005, S. 220) hebt als wichtiges Merkmal des Bildes hervor, dass es gerade „keine individuelle Sichtweise auf ein Bildobjekt“ gibt. 26 Ebd., S. 221.
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Reisen in die ‚Neue Welt‘ (Westindische Insel und Los Angeles als Hauptstadt des Vergessens) und eine Zugfahrt durch Polen (Transpolonaise) beschrieben. Oftmals sind es Landschaften und Stadtansichten, die die Reflexion des lyrischen Ichs anregen, aber auch Gemälde, Werke von Bildhauern und Alltagserfahrungen werden benannt. Steht zu Beginn des Zyklus die Reiseerfahrung im Fokus, so nehmen in der zweiten Hälfte zunehmend Erfahrungen der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens großen Raum in der lyrischen Beschreibung ein. Das Suchen nach Zugewinn an Erfahrung und Erkundung der Welt wandelt sich zur Frage, was das Wesen des Ichs ausmacht und wie es mit dem Vergehen der Zeit umgehen kann. Neben der Sexualität (z.B. in Erdenleicht oder Unbekümmert, anderntags, Verse) ist es vor allem die Beobachtung des eigenen Körpers und seiner altersbedingten Veränderung (z.B. in Mantegna vielleicht oder Denkmal für einen Fuß), die zur Reflexion über die Sterblichkeit anregt. Das mit Vita brevis angeklungene memento-mori-Motiv wird am Ende des Zyklus in Versen wie „Ach ja, wir sterben, wo wir gehen und stehn“27 (Kleine Litanei) und im bereits zitierten Gespräch mit dem Dämon auf halbem Wege noch einmal explizit aufgenommen. Dem Gedichtband Nach den Satiren wurde aufgrund der Anleihen bei antiken Autoren und Schreibweisen eine Neubestimmung der Lyrik Grünbeins zugeschrieben.28 Der umfangreiche Zyklus Physiognomischer Rest fand dabei wenig Beachtung.29 Es wurden in der Regel lediglich einzelne Gedichtgruppen wie die Berlin-, Dresden- oder Venedig-Gedichte im Kontext früherer Großstadtgedichte analysiert. Versteht man Gedichte im Sinne Grünbeins als „Romanvermeidung“, weil sie in der Lage sind, als „Resultat äußerster Konzentration […] auf eine Bild- und Bewegungsfolge, ein vielgliedriges Argument […] auf einen dramatischen Moment oder die Schlüsselszene einer ganzen Lebensphase“30 zu
|| 27 Durs Grünbein: Kleine Litanei. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 213. 28 Vgl. dazu die Diskussion der Forschung im Beitrag von Burkhard Meyer-Sickendiek in diesem Band. 29 Manfred Fuhrmanns Interpretation erweckt beispielsweise den Eindruck, dass sich die Gedichte aus Historien und Physiognomischer Rest um den zentralen Zyklus Nach den Satiren gruppieren und mehr oder weniger einen Appendix und eine lose Reihe von flankierenden Gedichten darstellen. Vgl. Fuhrmann, Zeitdiagnose am Widerpart Rom, S. 276. 30 Durs Grünbein: Warum schriftlos leben. In: ders.: Antike Dispositionen. Aufsätze. Frankfurt a.M. 2005, S. 32–57, hier S. 42. Grünbeins Vorstellung der „semantischen Reduktion“ kann dabei als zentrales Merkmal jeder Lyrik gelten. Seine konsequente Verweigerung einer an den Techniken der Prosa orientierten Narration wurde zwar in der Forschung beschrieben, aber nicht als Grundlage seines Lyrikverständnisses erkannt. Vgl. hierzu Anne-Rose Meyers Überlegungen zu den BerlinGedichten, anhand deren Versuch, Geschichte und Gegenwart zu verbinden, sie einen Hinweis
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verdichten, dann erzählt der Zyklus trotz der Reduktion eine eigene Geschichte, in die sich die einzelnen Teile einfügen lassen. Dabei zeigt die Verschiebung des Blicks von innen nach außen, die sowohl den menschlichen Körper als auch die Wahrnehmung von Städten und Landschaften betrifft, eine Abkehr von bisherigen Schreibweisen, eine Neudefinition bislang erprobter ästhetischer Erkenntnismodelle. Die Verbindung von Physiologie und Poesie und die damit einhergehende Vorstellung des Textes als Gewebe31 wird nun zugunsten eines Blicks auf die Rezeption von kulturellen Artefakten aufgegeben. Es sind nun nicht mehr die Naturwissenschaft und der Blick auf die Vorgänge im Gehirn und im menschlichen Körper,32 die im Fokus des dichterischen Interesses stehen. Es ist der reale und der ästhetische Körper in Raum und Zeit, dem seine Aufmerksamkeit gilt. Grünbeins dichterische Suchbewegung hat sich verschoben und nimmt nun die Erkenntnisprozesse in den Blick, die durch die Erkundung von menschlicher Erfahrung, der Wahrnehmung des menschlichen Körpers ebenso wie von Landschaften und Gegenständen ausgelöst werden. Dabei zeigt der Zyklus die im Essay Warum schriftlos leben formulierte „spezifische Form der Erkenntnis“,33 die im Schreibprozess zu beobachten ist, implizit auf. Diese ist eng verbunden mit der historischen Verortung des Ichs auf der einen Seite, andererseits aber auch mit der Reflexion auf die Vergänglichkeit des Menschen und verweist diesen so immer wieder auf seine Sterblichkeit zurück. Jene aus der Kürze des Lebens gewonnene Einsicht wird wiederholt als Auslöser für Erkenntnisprozesse gezeigt. Thema des Zyklus Physiognomischer Rest – so lassen sich die ersten Überlegungen zusammenfassen – ist also einerseits die poetologische Reflexion auf die Bedingungen künstlerischen Schaffens, aber diese steht immer in engem Zusammenhang mit der Frage nach der ästhetischen Bewertung und Rezeption von Kunst und Kultur. Es zeigt sich, dass Durs Grünbein mit seinem Zyklus || auf Grünbeins postmodernen Schreibansatz und die durch diesen bedingte „imaginären Konstruktionen von Stadt im Bewusstsein des Betrachters“ herausstellt. Anne-Rose Meyer: Metropolen-poesie: Durs Grünbeins Berlin-Gedichte. In: Gegenwartsliteratur: A German Studies Yearbook 4 (2005), S. 21–47. 31 Vgl. Anne-Rose Meyer: Physiologie und Poesie: Zu Körperdarstellungen in der Lyrik von Ulrike Draesner, Durs Grünbein und Thomas Kling. In: Gegenwartsliteratur: A German Studies Yearbook 1 (2002), S. 107–133, hier S. 110. 32 In Bezug auf Durs Grünbeins Büchner-Preis-Rede spricht Hinrich Ahrend von der Autopsie als „sezierender Innenschau, die die Oberfläche abträgt, um letzte Gewissheit zu erlangen oder, in Grünbeins Sprache ausgedrückt, um den menschlichen Verhältnissen sprichwörtlich auf den Nerv zu fühlen.“ (Hinrich Ahrend: „Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“. Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins. Würzburg 2010, S. 92) 33 Grünbein, Warum schriftlos leben, S. 36.
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Physiognomischer Rest eine sehr ungewöhnliche, aber gleichwohl systematisch angewandte Sichtweise auf die Physiognomik hat. Ihm geht es dabei nicht um die Frage, wie der Körper selbst das Wesen des Menschen prägt, sondern welchen Einfluss Umweltbedingungen allgemein auf das Wesen des Menschen haben, wie Erlebnisse sich auf das Ich, auf seinen Charakter, auf seine Identität auswirken. In der dichterischen Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung geht er insofern systematisch vor, als er ein umfangreiches Set an Erfahrungen thematisiert und verschiedene Formen der Einflussnahme analysiert. Dabei, so die These der folgenden Überlegungen, wendet sich Durs Grünbein von den im Zyklus Nach den Satiren entwickelten Modellen ‚Moralist‘ und ‚Flaneur‘ ab, die sich beide durch eine große emotionale Distanz des betrachtenden Ichs kennzeichnen lassen. Vielmehr gestaltet er eine Suchbewegung des lyrischen Ichs, das in einer intensiven Auseinandersetzung mit der Welt sich selbst erfahren und erkennen möchte. Wie im Motiv des Blicks in den Spiegel im Gedicht Physiognomischer Rest dienen die kulturellen Artefakte immer auch als metaphorische Spiegelfläche, die dem ständig in Veränderung begriffenen Ich zur Selbsterkenntnis dienen sollen. Dabei sind es vor allem die Oberflächen von Städten, die metaphorisch gelesenen Kriegsnarben von Landschaften, aber auch Kunstwerke, die einer Positionierung des betrachtenden Ichs zur Oberfläche bedürfen und daher die Selbstaussage und Reflexion der eigenen Identität ermöglichen. Da in der Physiognomik Bildern zur Veranschaulichung der Thesen eine große Aussagekraft zugestanden wurde und Lavater in ihnen das wirkliche Wesen eines Menschen besser abgebildet sah als im menschlichen Antlitz, werde ich im Folgenden analysieren, welchen Stellenwert Durs Grünbein den Bildern des menschlichen Körpers in seinen Gedichten zugesteht. Da im Zyklus Physiognomischer Rest auf unterschiedliche Bildformen – von der klassischen Malerei bis zum Röntgenbild – Bezug genommen wird, konzentriere ich mich auf das Zusammenspiel von Bezugnahmen auf Gemälde des italienischen Renaissancemalers Andrea Mantegna (1431–1506), dessen Werke mehrfach im Zyklus sowohl explizit als auch implizit benannt werden. Ausgehend vom expliziten Bildzitat im Gedicht Grauer Sebastian – das ungefähr in der Mitte des Zyklus angesiedelt ist – werde ich am Beispiel der Verwendung von Werken der bildenden Kunst die Bedeutung der Kunst allgemein für den Selbsterkenntnisprozess des lyrischen Ichs aufzeigen. Dabei gehe ich davon aus, dass der Zyklus von Grünbein bewusst konzipiert wurde und die einzelnen Gedichte in ihm zu verorten sind. Daher werden die Bildzitate und Anspielungen auf verschiedene Formen bildkünstlerischen Ausdrucks immer im Kontext des gesamten Zyklus Physiognomischer Rest gesehen.
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Das Gedicht Grauer Sebastian als Verweigerung einer Zeige-Sprech-Szene Das Gedicht Grauer Sebastian verweist im Rahmen des Zyklus Physiognomischer Rest am offensichtlichsten auf ein konkretes Gemälde und damit auf die Verbindung zweier unterschiedlicher Konzepte von Oberfläche. Zugleich ist es aber auch eine ‚Momentaufnahme‘, die das prägende Erlebnis für die Überlieferung einer Lebensgeschichte zeigt und damit die Einschreibung eines Ereignisses und vor allem des Wesens eines Menschen in das kulturelle Gedächtnis thematisiert: Grauer Sebastian Fünfzehn Pfeile trägt er im Leib bei Mantegna, Zwei in den Lenden, zwei um den Nabel, einen im Bauch, Sieben in Schienbein und Schenkel und Knie. »Nichts außer Gott ist von Dauer: der Rest ist Rauch.« Sagt ein Spruchband rechts unten, geschlungen Um eine Kerze, die eben verlischt. Fünfzehn Pfeile, – Zwischen den Rippen steckt einer, über der Brust, unterm Hals, Keiner im Herzen. Doch welcher war tödlich? Nichts verrät der geöffnete Mund, die Zunge, schon trocken, Entfärbt die Gesichtshaut, der Blick des Gefolterten, – Gott, Warum so viele der Schmerzen auf einmal? Seine Peiniger haben sich schlafen gelegt. Er allein Steigt aus den Himmeln, die bald schon herrenlos sind. So hat ihn der Meister gesehn, selbst friedlos im Alter, Wie nach durchwachter Nacht. So gehört er den Schatten, Frierend auf schwarzem Grund und im kalten Licht. Den Körper zum Vorwurf gekrümmt, im Rücken Gefesselt die Hände, Märtyrer – Betet er etwa nicht? Venedig Cà DʼOro34
Das Gedicht nimmt in der Unterschrift Bezug auf das im Renaissance-Palast Cà DʼOro in Venedig hängende Gemälde des Heiligen Sebastian von Andrea Mantegna aus dem Jahr 1490. Die Bezugnahme von literarischen Texten auf Bilder
|| 34 Durs Grünbein: Grauer Sebastian. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 196.
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ist nicht ungewöhnlich und wird in der Rhetorik der Neuzeit unter dem Gattungsbegriff Ekphrasis gefasst.35 In der Literaturwissenschaft ist die Unmöglichkeit der Übersetzung des auf reiner Sichtbarkeit beruhenden Bildes in Sprache bereits mehrfach diskutiert worden. So verweist Ernst Osterkamp 1991 in seiner Studie zu Bildbetrachtungen Goethes darauf, dass die Bildbetrachtung als literarische Gattung keine Aussagen über das Bild selbst trifft, sondern zwischen „der Bildauffassung eines das Bild beschreibenden Betrachters und dem Leser“36 vermittelt. Eine ähnliche, aber in der theoretischen Fundierung komplexere Überlegung stellt Ralf Simon an, wenn er davon ausgeht, dass die Kommunikation über ein reales Gemälde und damit über ein wahrgenommenes Bild immer in einer Zeige-Sprech-Szene vor sich geht.37 Damit sagt die Bildbeschreibung oder die Zeige-Sprech-Szene mehr über den Betrachter und seine kunsttheoretischen Einsichten als über das Gemälde selbst aus. Diese Differenz von Gemälde und der Aussage des über das Bild sprechenden Ichs lässt sich auch am Beispiel des Gedichts Grauer Sebastian beobachten. Das Gedicht besteht aus zwei unterschiedlich langen Strophen. Die erste umfasst dreizehn ungleiche Langverse, die ihren Ausgangspunkt von Mantegnas Gemälde des Heiligen Sebastian nehmen. In der kürzeren zweiten Strophe, die sechs Verse lang ist, steht der Maler selbst im Fokus. Bereits der Beginn der zweiten Strophe verweist auf die Tatsache, dass es sich sehr wahrscheinlich nicht um eine Bildbeschreibung handelt. Aber was zeigt das Gedicht dann bzw. warum setzt es mit einer Zeige-Sprech-Szene ein? In den ersten Versen des Gedichts Grauer Sebastian wird der vorikonographische Gehalt des Bildes bestimmt. Dabei wird mit der Bezugnahme auf den Maler Mantegna bereits hier akzentuiert, dass es sich um eine Aktualisierung des Bildmotivs des Märtyrers Sebastian durch einen Maler handelt. Die Pfeile werden als solche erkannt und die Verwundungen der Figur durch die Situierung der Pfeile am Leib der Figur vorgenommen. In Vers zwei und drei werden insgesamt sieben Pfeile genannt. Die Aufzählung wird in Vers sieben und acht
|| 35 Heiko Wandhoff weist darauf hin, dass in der antiken Rhetorik der Begriff der Ekphrasis allgemein für eine anschauliche Beschreibung verwandt wurde und damit auf die Darstellungstechnik selbst abzielte. Erst später verengte sich der Begriff dann auf die Beschreibung von bildkünstlerischen Objekten. Heiko Wandhoff: 4.1 Ekphrasis in der Literatur des Mittelalters. In: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Hrsg. von Claudia Benthien und Brigitte Weingart. Berlin, Boston 2014, S. 287‒303, hier S. 290. 36 Ernst Osterkamp: Im Buchstabenbilde: Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen. Stuttgart 1991, S. 2. 37 Ralf Simon: Die Bildlichkeit des lyrischen Textes. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke. München 2011, S. 11.
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fortgesetzt. Sind in den ersten beiden Versen die Pfeile, die Beine und Unterleib verletzen, beschrieben, so wird in den späteren Versen auf die Pfeile im Brustund Halsbereich fokussiert. Der Blick wandert von unten nach oben. Die Aufzählung der Pfeile rahmt ein weiteres Detail des Gemäldes. Unvermittelt zitiert das Gedicht in Vers vier das Spruchband, das sich in der rechten unteren Ecke des Gemäldes befindet und um eine verlöschende Kerze gewunden ist: „»Nichts außer Gott ist von Dauer: der Rest ist Rauch.«“ (V. 4) Die Rahmung macht auf die Bedeutung dieser Aussage aufmerksam. Die unscheinbare Bildaussage wird zur wesentlichen Botschaft der ersten Strophe, die durch die Kursivierung auch visuell im Schriftbild hervorgehoben ist. Damit verortet Durs Grünbein sein Gedicht einerseits in der barocken memento-mori-Tradition. Die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, die bereits im Gedicht Vita brevis angeklungen ist, wird auch hier zum Thema. Sie wird durch den Bezug zum Barock aber insofern anders perspektiviert, als Grünbein damit zugleich auf die Sterbeszenen in den barocken Märtyrerdramen verweist, in denen gerade das bewusste Erleben der grausamen, zum Tod führenden Marter das besondere Heilsbewusstsein des Helden in Anbetracht des deus absconditus zum Ausdruck bringt. Im Martyrium legt der Märtyrer Zeugnis ab von einem verborgenen, der menschlichen Erkenntnis unzugänglichen Gott, der allein geglaubt werden kann. Nach dieser Nennung wichtiger Bildinhalte erfolgt aber keine zu erwartende Auflösung des Bedeutungsgehalts durch das lyrische Ich, sondern ein Bruch in der Bildbeschreibung. Das lyrische Ich begegnet dem Gemälde in Vers acht mit einer naiven Frage, die den bildhaften Charakter negiert, indem es die verwundete Figur wie eine reale Person betrachtet und die rein an den Körpervorgängen interessierte Frage stellt: „Doch welcher [Pfeil] war tödlich?“ Die kriminalistische Spurensuche über Mund, Gesichtshaut und den toten Blick des Sterbenden gibt keine Antwort. Die ikonologische Bedeutung des Bildes wird mit dieser Betrachtung negiert, weil sein Inhalt ignoriert wird. Dieses Vorgehen trägt zur Irritation des Lesers bei, der die Differenz zwischen der Beschreibung des malerischen Bildinhalts und der Lesart als reale Sterbeszene nicht überbrücken kann. Der Körper, so lässt sich vermuten, wird im Sinne des Zyklus als ‚physiognomischer Rest‘ gesehen, der nicht auf ein Jenseits verweist, sondern als sterbender Körper betrachtet wird. Der deus absconditus bringt keine Rettung. Das Leib-Seele-Problem, auf das mit der verlöschenden Kerze angespielt wird, wird in seiner Bedeutungslosigkeit für den Betrachter dargestellt, der den sterbenden
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Märtyrer bereits als Leiche imaginiert.38 Gott wird zwar in Vers zehn benannt, aber eher wie in einem formelhaften Bekenntnis von Sprachlosigkeit – „Gott/ Warum so viele der Schmerzen auf einmal?“ (V. 11) – und ohne auf eine geglaubte göttliche Instanz zu verweisen. Die Absage an die Metaphysik, die für die Lyrik des ostdeutschen Autors Durs Grünbein zentral ist, findet sich somit auch in der Auseinandersetzung mit der von Mantegna vertretenen christlichen Bildtradition. Die Sichtweise des Bildes ist damit geprägt vom Blick der Gegenwart, der nicht mehr bereit ist, eine Jenseitshoffnung im Bild zu sehen. Dies zeigt sich auch im Umgang mit der dem Bild zugrunde liegenden Heiligenlegende. Der Heilige Sebastian, so berichtet die Legenda Aurea,39 war ein römischer Offizier im Dienst des Kaisers Diokletian. Als dessen Günstling nutzte er seine Macht, um verfolgten Christen beizustehen und Götzenbilder zu zerstören. Angeklagt wegen Untreue gegen die Staatsreligion und vom Kaiser verhört, wird Sebastian im Jahr 288 auf dessen Befehl an einen Pfahl (Baumstamm, Säule) gebunden und von numidischen Bogenschützen – nach anderer Version von seinen eigenen Soldaten – mit Pfeilen beschossen, doch stirbt der Schwerverwundete nicht. Die Witwe des ebenfalls gemarterten Hofkämmerers Kastulus, Irene, befreit Sebastian von den Fesseln, entfernt die Pfeile und pflegt ihn gesund.40
Neben der Heiligenlegende selbst werden mit dem Spruchband auf der Kerze das memento-mori-Motiv und der christliche Kontext des Bildes angedeutet. Der von der Kerze aufsteigende Rauch verweist auf die Vergänglichkeit des Lebens.41 Dem Betrachter, der die Heiligenlegende des Sebastian kennt, erwächst aus der Aussage des Bildes und des Spruchbandes die im Bild symbolisierte Spannung. Die Vergänglichkeit des Lebens wird im Falle Sebastians vorerst aufgehoben. Das Eingreifen Gottes lässt den menschlichen Körper gerade nicht wie Rauch vergehen. Sebastian stirbt nicht an seinen tödlichen Verletzungen und || 38 „Manchmal ist es besser, von Leib zu sprechen. Körper trägt schon den Leichenaspekt in sich, den toten Corpus aus dem Lateinischen, die leblose Fleischmasse. Heute kehrt das alte Leib-Seele-Problem wieder als das Verhältnis von Gehirn und Körper.“ (Durs Grünbein; HeinzNorbert Jocks: Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. Köln 2001, S. 30) 39 Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Die Heiligenlegenden des Mittelalters. Hrsg., neu übers. und mit einem ausführlichen Anhang vers. von Matthias Hackermann. Köln 2008, S. 58– 62. 40 Joachim Heusinger von Waldegg: Der Künstler als Märtyrer. Sankt Sebastian in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Worms 1989, S. 14. 41 Im Original ist der Text in lateinischer Sprache verfasst und lautet: „Nil nisi divinum stabile est: caetera fumus.“
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erst nachdem er sich dem Kaiser Diokletian, von seinen Wunden geheilt, zeigt, wird er von den Soldaten des Kaisers zu Tode gepeitscht und die Leiche in der Cloaca Maxima versenkt, damit eine nochmalige Rettung nicht möglich ist. Das Wirken Gottes wird somit im Überleben des Sebastian gezeigt, der damit dem Kaiser die Botschaft Gottes im Sinnbild seines Leibes überbringen kann. Dieses Spannungsverhältnis, das die Legende eröffnet und das sich um den Leib des Märtyrers dreht, wird von Grünbein nur implizit aufgegriffen. Lediglich der mit der Legende vertraute Bildbetrachter bzw. Leser kann die doppelte Botschaft der Kerze entschlüsseln. Auf dieses Sinnangebot des Bildes nimmt das Gedicht aber keine Rücksicht, denn es folgt in der lyrischen Auseinandersetzung mit dem Bild auch hier ein Bruch, der die Inhalte der Legende und ihre Handlungsabfolge ignoriert, wenn der Blick lediglich auf die reine Körperlichkeit des Märtyrers gerichtet wird. Dieser sterbende Körper verrät in seiner Sprachlosigkeit nichts über die Todesursache. Diese Sprachlosigkeit kann einerseits in der Unmöglichkeit, über Sprache oder Gestik zu kommunizieren, gesehen werden, sie kann aber auch auf eine göttliche Instanz bezogen werden, wenn man davon ausgeht, dass die Aufzählung in Vers neun auch nach dem Gedankenstrich in Vers zehn fortgesetzt wird: „nichts verrät der geöffnete Mund, die Zunge, schon trocken,/ Entfärbt die Gesichtshaut, der Blick des Gefolterten, – Gott“. Eine Bestätigung der Negation der christlichen Tradition lässt sich auch in der zweiten Strophe finden. Dort wird der Märtyrer nicht in einer Aufwärtsbewegung im Sinne einer Aufnahme in den Himmel als Lohn für seine Treue imaginiert, sondern in einer Abwärtsbewegung gezeigt, wenn der Heilige aus den „bald schon herrenlos[en]“ (V. 13) Himmeln herabsteigt. Die Absage an die christliche Tradition zeigt sich zudem in der Bezugnahme auf antike Vorstellungen des Todes, wenn in Vers fünfzehn und sechzehn darauf hingewiesen wird, dass die Abwärtsbewegung dazu führt, dass der Körper schon bald „den Schatten [gehört],/ Frierend auf schwarzem Grund und im kalten Licht“. Der Verweis auf die Schatten kann als Anspielung auf die antike Vorstellung der körperlosen Seelen im Hades verstanden werden. Damit wäre gerade keine Belohnung für den heldenhaften Tod in Aussicht gestellt, sondern ein Schicksal, das alltäglich ist und die Aussage der Heiligenlegende negiert. Nimmt das lyrische Ich wie im Gedicht Vita brevis die Rolle des Thomas ein und spielt den Ungläubigen? Oder gibt es eine andere Erklärung für den ungewöhnlichen Umgang mit der Heiligenlegende und ihrer bildlichen Repräsentation? Bezogen auf die Aussage des Gedichtes selbst zeigt sich, dass Durs Grünbein mit dem Aufgreifen der Heiligenlegende eine für die bildende Kunst charakteristische Arbeitsweise wählt. Indem in einem Gemälde eine bekannte Legende dargestellt wird, kann der Betrachter die Darstellung aufgrund seiner Kenntnisse in eine Geschichte integrieren. Das Bild ist dann reine Illustration.
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Diesen Prozess kehrt Durs Grünbein mit seinem Gedicht allerdings um. Er negiert einerseits die bekannte Ereignisabfolge und versprachlicht zugleich die Rezeption der Rezeption, indem er einen naiven, der Legende nicht kundigen Betrachter imaginiert.42 Ergebnis dieses doppelten Rezeptionsprozesses ist, dass das Gemälde, auf das er mit der Situierung in der Lebenswelt des betrachtenden lyrischen Ichs Bezug nimmt, keine Funktion mehr hat. Es dient als Projektionsfläche, als Formzitat, das den literarischen Prozess in Gang setzt und damit einen literarischen Raum eröffnet, in dem das lyrische Ich seine Reflexion entwickeln kann. Auch wenn hier keine Bildbeschreibung im eigentlichen Sinn vorliegt, trifft Ernst Osterkamps Aussage, dass die Bildbeschreibung mehr über den Betrachter als über das Bild selbst aussagt, auf die Gestaltung des Bildmotivs des Heiligen Sebastian zu. Das Nicht-Wissen des lyrischen Ichs verstört den Leser des Gedichts und spiegelt zugleich eine Zukunft, in der auf die christliche Tradition als Allgemeinwissen des Lesers nicht mehr vertraut werden kann. Im Kontext des Œuvres von Grünbein irritiert das Gedicht insofern, als der Lyriker hier nicht in der ihm häufig zugeschriebenen Rolle des belehrenden poeta doctus auftritt, der dem Leser die Lösung des kunsthistorischen Rätsels präsentiert, sondern vielmehr bewusst die Entschlüsselung der Legende verweigert. Ziel der lyrischen Auseinandersetzung mit dem Gemälde des Heiligen Sebastian von Mantegna ist es also nicht, „das Bild in seiner visuellen Präsenz von der ihm eingeschriebenen ikonischen Differenz her zu erfassen und als einen Wirkungskontrast festzuhalten“.43 Damit kann das Gedicht nicht als klassische Bildbeschreibung bewertet werden. Aufschluss über die Funktion des Bildzitates gibt vielmehr seine Verortung im Zyklus Physiognomischer Rest. Demzufolge dient das Bild dazu, ein zentrales Thema des Zyklus, nämlich das Verhältnis von der Vergänglichkeit des menschlichen Körper und dessen Bedeutung als Ausdrucksfläche für den Charakter des Menschen zu verdeutlichen. Dabei wird der Moment der Verwundung als Einschreibung der besonderen Auszeichnung des Wesens des standhaften Gläubigen gezeigt. Die Tatsache, dass das lyrische Ich den Märtyrer Sebastian als sterbenden Körper imaginiert, verweist darauf, dass es dem Körper bereits eine gewisse Ausdrucks- und Identitätslosigkeit zuweist. Grünbein spielt damit auf den Bildgebungsprozess selbst an. Der Körper, den der Maler malt, gehört gewissermaßen nicht mehr der realen Person, son|| 42 Im Kontext des Zyklus Physiognomischer Rest kann diese Unwissenheit aufgrund der Sozialisation in einer Gesellschaft, in der der Staat die Position der Religion einzunehmen versucht und daher auch die religiöse Bildung der Heranwachsenden unterbindet, gelesen werden. 43 Gottfried Boehm: Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache. In: Beschreibungskunst, Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer. München 1995, S. 23–40, hier S. 36.
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dern ist Teil der Legendenfigur Sebastian. Sein Wesen besteht nun nur noch in der durch die Pfeile eingeschriebenen Charaktereigenschaft der Aufopferung für seinen Glauben. Hinter diesen in der Überlieferung dominanten Wesenszug treten alle anderen Merkmale der Person zurück. Dennoch geht das Gedicht in dieser exemplum-Funktion nicht auf. Das Spannungsmoment, das es entwickelt, zeigt sich vielmehr im Abgleich mit der dem Bild zugrundeliegenden Heiligenlegende und damit dem Prätext, den das Gemälde ebenso wie das lyrische Ich verschweigt. Allerdings endet das Gedicht nicht mit einer solch kulturpessimistischen Lesart der Legende. Durs Grünbein führt neben der Figur des Heiligen Sebastian weitere Figuren ein. Er bezieht sich bereits am Ende der ersten Strophe mit dem Bezug auf die schlafenden Peiniger (V. 12) auf die Alltagswelt, vor deren Hintergrund die Folter der Ausnahmefigur stattfindet. Der Beginn der zweiten Strophe leitet mit der Fokussierung des ‚Meisters‘ selbst einen Perspektivwechsel ein. Mit dem Maler wird gewissermaßen eine zweite Ebene ins Gedicht eingezogen. Die Leinwand, die die Geschichte des Heiligen Sebastian erzählt, wird verlassen und vertauscht mit dem Raum vor der Leinwand, in der sich der Maler, die historische Person Mantegna, befindet. Mit der Literarisierung einer historischen Person und damit der Fiktionalisierung der Realität gewinnt das Gedicht eine neue Qualität.
Perspektivwechsel: Der Blick des Malers Der Perspektiv- und Sprecherwechsel in der zweiten Strophe lenkt den Blick von der Rezeption des Bildes auf die Produktion des Gemäldes. Grünbein entwickelt damit eine eigene Interpretation dessen, was die Produktion eines Gemäldes und den Blick des Malers auf ein Bildmotiv ausmachen: Es ist die Lebenssituation und die für den Zyklus wichtige Reflexion des eigenen Lebensalters des Künstlers. In der Lesart Grünbeins ist diese radikale, ganz auf den Körper konzentrierte Darstellung des Bildmotivs dem Alter des Malers geschuldet. Das Kunstwerk ist damit auch versinnbildlichte Lebenserfahrung des Künstlers, die den Blick auf die Heiligenlegende und das Bildmotiv bedingt. Auch das Gemälde stellt – wie das Gedicht – immer nur eine mögliche Aktualisierung eines Themas dar. Dies zeigt sich implizit an den drei unterschiedlichen Gemälden des Heiligen Sebastian, die Mantegna im Lauf seines Lebens
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gemalt hat.44 Andererseits verweist der Perspektivwechsel darauf, dass auch der Lyriker Durs Grünbein mit einer konkreten Fragestellung an das Bildmotiv herangeht. Die Besonderheit der gewählten Darstellung liegt nicht in der Konzentration auf den Körper des Heiligen Sebastian, sondern in dessen Vergänglichkeit, die durch das Motiv der verlöschenden Kerze ebenso wie durch die vielfachen Verwundungen angezeigt wird. Dabei wird vor allem auch darauf hingewiesen, dass die Figur nicht, wie in anderen Darstellungen des Bildmotivs, vor einem (städtischen) Hintergrund gezeigt wird, der weitere Kontextualisierungen zulässt. Sie ist ohne weitere Information vor einem grau-braunen Hintergrund zu sehen. Diesen Verzicht auf weitere Bildinformation greift auch Durs Grünbein in seinem Gedicht auf, wenn er den Körper in der zweiten, von Dunkelheit dominierten Strophe noch einmal in einer anderen Art und Weise in seiner Verletzlichkeit zeigt: „Frierend auf schwarzem Grund und im kalten Licht./ Den Körper zum Vorwurf gekrümmt, im Rücken/ Gefesselt die Hände“ (V. 16–18). Die Wiederholung des Adverbs „so“ (V. 14f.) verweist darauf, dass sich das Bildmotiv aufgrund der einzigartigen Aktualisierung, die der Maler gewählt hat, in das kulturelle Gedächtnis einschreibt. Daher eignet sich gerade dieses Bild, um eine Frage zu stellen, die Durs Grünbein immer wieder beschäftigt: die nach der Vergänglichkeit des menschlichen Körpers und dem von der Heiligenlegende implizierten Jenseitsglauben. „Was du bist“, so könnte man mit Bezug auf den Beginn des Gedichtzyklus Schädelbasislektion sagen, steht nicht nur „am Rand anatomischer Tafeln“,45 es ist nicht nur Thema der Wissenschaft, sondern auch die (bildenden) Künstler haben die Frage nach dem Wesen des Menschen immer wieder gestellt. Dabei gelingt es Grünbein in der Beschäftigung mit dem Bild nur annäherungsweise darzustellen, was im Gemälde selbst sichtbar wird. Die Entwicklung des Bildmotivs, die allmähliche Beschreibung der einzelnen Teile, verweist auf die der Literatur eigene Zeitlichkeit. Der Maler kann hingegen lediglich einen Augenblick gestalten, der vom Betrachter mit einem Blick erfasst werden kann, dessen Stärke gerade in der emotionalen Aussagekraft liegt. Die Plötzlichkeit, mit der das Ich die Bewusstheit der eigenen Sterblichkeit bei der Wahrnehmung des Bildes erfährt, kann in der Lyrik nur sukzessive dargestellt werden. Mantegna ist für Grünbein der Maler, der diese Erfahrung auf eindrucksvolle Weise || 44 Vgl. Fritz Knapp: Andrea Mantegna: des Meisters Gemälde und Kupferstiche. 2. verm. Aufl. Stuttgart u.a. 1920. Die Sebastiansdarstellungen finden sich im Bildteil auf den Tafeln 79, 92 und 127. 45 Durs Grünbein: Schädelbasislektion. In: ders.: Schädelbasislektion. Gedichte. Frankfurt a.M. 1991, S. 11.
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in einem eingefrorenen Augenblick festhalten kann.46 Muss der ‚dramatische Moment‘, der im Gedicht einem besonderen Erlebnis oder der Erfahrung einer Lebensphase zum Ausdruck verhilft, vom Lyriker immer in einem Nacheinander von Zeichen aufgelöst werden, so gelingt es dem Maler eindrucksvoll, diesen ‚dramatischen Moment‘ in einem Bild festzuhalten. Die Bildaussage, so die Vorstellung Grünbeins, ist mit einem Blick erfassbar. Diese Lesart bereitet das dem Gedicht Grauer Sebastian vorausgehende Poem bereits vor. Mantegna vielleicht Einmal im Halbschlaf … zwischen Nehmen und Geben Habe ich meine Hände gesehn, ihre gelbrote Haut Wie die eines Andern, einer Leiche im Schauhaus. Beim Essen hielten sie Messer und Gabel, das Werkzeug Des Kannibalen, mit dem die Jagd sich vergessen ließ Und das Getöse beim Schlachten. Leer wie der Teller Lag eine Handfläche vor mir, der fleischige Ballen Des letzten Affen, dem alles erreichbar geworden war In einer Welt von Primaten. Mantegna vielleicht Hätte sie unverklärt malen können in ihrer Grausamkeit, Diese fettigen Schwielen. Was war die Zukunft, Die aus den Handlinien folgte, Glück oder Unglück, Gegen den Terror der Poren, in denen der Schweiß stand Wie die Legende vom stillen Begreifen auf einer Stirn.47
Das Gedicht ist insofern für die hier untersuchte Fragestellung aufschlussreich, als die Kontextualisierung hier anders als im Gedicht Grauer Sebastian verläuft. Grünbein geht nicht von einem Gemälde aus, sondern wie im Gedicht Physiognomischer Rest von einem Sinneseindruck, an den sich eine Körperbeobachtung als Alltagserzählung und als Entwicklungsgeschichte der Menschheit zugleich anschließt, die von einer Beobachtung im Halbschlaf, also im Unbewussten, ausgelöst wird.48
|| 46 Mantegna ist hier nur ein Beispiel für einen Maler, der für Durs Grünbein für die Vermittlung einer bestimmten Aussage – hier die der Vergänglichkeit – steht. In dem Band Una Storia Vera verweist er hingegen auf den Niederländer Vermeer, der für ihn der Maler der weiblichen Schönheit ist. Vgl. Durs Grünbein: Una Storia Vera. Ein Kinderalbum in Versen. Frankfurt a.M. 2002, S. 40. 47 Durs Grünbein: Mantegna vielleicht. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 195. 48 „Das zufällig wahrgenommene Detail wird zum Anlass einer Kommentierung, die von Reflexionsstufe zu Reflexionsstufe tiefer ein Fundament komplexer Wissensdiskurse freilegt.
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Im Gegensatz zum Grauen Sebastian wird der Körper in diesem Gedicht auf die Hände reduziert. Im Halbschlaf geschaut – die Formulierung „zwischen Nehmen und Geben“ lässt auf einen vorausgehenden Geschlechtsakt und damit eine intensive Körpererfahrung schließen – wird der Sinneseindruck nicht sofort vergessen, sondern löst eine Assoziationskette aus: Die Hände werden als vom Körper getrennt wahrgenommen, verweisen auf die Vergänglichkeit des Körpers, da sie wie die Hände „einer Leiche im Schauhaus“ erscheinen. Gleichzeitig erinnern sie aber auch an alltägliche Verrichtungen – das Essen von Fleisch macht den Besitzer der Hände zum Kannibalen. Die Hände erscheinen als Werkzeug, das den Menschen vom Affen unterscheidet, weil man ihnen durch die Verwendung von Werkzeug die mit ihnen vollbrachten Taten nicht mehr ansieht. Die Individualität des lyrischen Ichs spielt auch hier keine Rolle. Der menschliche Körper verweist wie in dem Vergleich mit dem Notenschlüssel immer nur auf das Gattungswesen, nicht auf ein Individuum. So verwundert es nicht, dass das lyrische Ich daran zweifelt, dass die Handlinien die Zukunft und das „Glück oder Unglück“ eines Menschen beschreiben können. Auch hier wird wieder die Zeichenhaftigkeit des menschlichen Körpers negiert. Allerdings kann die dem Körper eingeschriebene Entwicklung des Gattungswesen Mensch, so der Gedankengang des lyrischen Ichs, im Bild zeitlos festgehalten werden. Wenn dies möglich ist, dann aber nur von einer Ausnahmegestalt. Er schreibt diese Fähigkeit dazu nicht dem literarischen Text, sondern – unter dem Vorbehalt des „vielleicht“ – einem Maler zu, nämlich dem bereits im Gedichttitel zitierten Mantegna. Die sprachliche Assoziationskette, so kann man aus diesem Verweis schließen, kann das nicht leisten, was der Maler in seinem Bild leisten kann.49 Die Unsagbarkeit der Erfahrung der mit der Wahrnehmung der Hand im Halbschlaf einhergehenden Empfindung und des daran anknüpfenden Erkenntnisprozesses negiert nicht nur den Dualismus von sinnlicher Erfahrung und Intellekt, wie er in der Ästhetik unter anderem bei Kant und Konrad Fiedler dis-
|| Der Grünbein’sche poeta doctus ist in der Aktualität und Gegenwart zivilisatorischer Welten zuhause: als beredte, zum Reden prädestinierte, wissensgesättigte Stimme.“ (Hermann Korte: Zivilisationsepisteln. Poetik und Rhetorik in Grünbeins Gedichten. In: Die eigene und die fremde Kultur. Exotismus und Tradition bei Durs Grünbein und Raoul Schrott. Hrsg. von Dieter Burdorf. Iserlohn 2004, S. 79–95, hier S. 84) 49 Die Erfahrung des lyrischen Ichs in der Bildbetrachtung ermöglicht es hier, eine Zuschreibung vorzunehmen, die den Eingeweihten sofort einsichtig ist. Durs Grünbein eröffnet damit einen Kontext, der ein Wissen voraussetzt, das die Rezeption des Gedichtes steuert.
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kutiert und abgelehnt wird,50 sie wird zugleich mit dem Wissen um die Unübersetzbarkeit der reinen Sichtbarkeit des gemalten Bildes in Sprache verknüpft.51 Anders als Lavaters Überlegungen zur Typisierung im Schattenriss ist es hier die Möglichkeit zur Verallgemeinerung von Erfahrungen, die Grünbein im Bild gegeben sieht. Die Literatur, die immer einen Einzelfall darstellt, kann diese Form der Verallgemeinerung scheinbar nicht leisten, sie kann aber den Erkenntnisprozess darstellen, der von der momenthaften, sinnlichen Wahrnehmung ausgelöst wird.
Veneziana: Das Paar und die Bilder in Venedig Der Renaissance-Maler Mantegna ist noch in einem anderen Gedicht des Zyklus präsent. In der Gedichtgruppe Veneziana, die die Flucht eines Liebespaares nach Venedig schildert, wird Teil V mit Camera degli sposi überschrieben. Hiermit verweist der Autor auf die von Mantegna in Mantua ausgemalte Brautkammer. Dabei handelt es sich um einen fensterlosen Raum, dem Mantegna durch die bildnerische Gestaltung Tiefe gibt, wodurch er den Eindruck eines offenen Blicks in die Landschaft vermittelt. In krassem Gegensatz zu diesem Raumzitat steht das Hotelzimmer, in dem sich das Liebespaar befindet und für dessen Inneneinrichtung stellvertretend auf das Porträt einer alten Frau von Giorgione (1478–1510), das im Hotelzimmer „in einem schlechte[n] Farbdruck von der Wand/ Aufs Bett herabsieht“ (S. 172), verwiesen wird. Nicht Offenheit, die Verbindung von Natur und Gesellschaft wird hier signalisiert, sondern Vergänglichkeit wird dem Paar vor Augen geführt. Hier ist es wieder, das Motiv der vergehenden Zeit, das mit dem als Dekoration verwendeten Kunstdruck aufgerufen wird. Seine billige Oberfläche wird dabei hervorgehoben und bestimmt den ersten Eindruck des Betrachters. Das Porträt der alten Frau auf dem Bild wird zudem parallelisiert mit der Stadt Venedig:
|| 50 Vgl. hierzu Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Reinbek b.H. 1997, S. 126–141. 51 Dieser Topos der Unsagbarkeit wird auch in anderen Kontexten aufgerufen. So in Durs Grünbeins Gedichtband Una Storia Vera, in dem er sich mit der Geburt und der Entwicklung seiner Tochter Vera auseinandersetzt. Die Literaturkritik hat den Band belächelt als die rührende Auseinandersetzung eines jungen Vaters mit seiner Tochter. Vgl. Hubert Spiegel: Sieh an, dein Kind. Affenliebe, Affenangst: Durs Grünbeins Album für seine Tochter. In: FAZ vom 28.12.2002.
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Giorgiones Alte, die in schlechtem Farbdruck von der Wand Aufs Bett herabsieht, warnt vergeblich vor dem Fluß der Zeiten. Venedig draußen zeigt, wie man auf morschen Bohlen Luftspiegelnd überdauert, trotz der Runzeln, fern vom Land Und doch col tempo mit den immer fluchtbereiten Gedanken, die den eignen brüchigen Kadaver überspringen.52
Es ist hier einerseits das Alter, das die gemalte Frau mit der gealterten Stadt in Verbindung bringt. Zugleich scheint die Alte aber auch vor der Stadt und ihrem Lebensgefühl zu warnen: Die Stadt Venedig wird mithin in ihrer Gestalt als räumlicher Kontext vieler RenaissanceKunstwerke selber zu einem Kunstwerk. Darin zeigt sich etwas von den verschwimmenden Grenzen zwischen den Kunstwerken und ihrem Kontext, ihrem erweiterten Rahmen. Die Bilder vermischen sich dabei im Gedicht. Das, was zeitlich nicht miteinander verwandt ist, wird gleichzeitig. Das Venedig von heute ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Bildschöpfungsprozesses. Man kann die Stadt weder isoliert sehen, noch sie getrennt von den herkömmlichen Bildern der Lagunenmetropole oder von den Bildern in ihren Museen wahrnehmen.53
Noël Reumkens entwickelt hier einen sehr traditionellen Blick auf die Lyrik Durs Grünbeins, wenn er davon ausgeht, dass sich Erinnerung im Gedicht schichtet.54 Dabei fällt auf, dass er eine höchst eingeschränkte Perspektive auf die in den Veneziana-Gedichten genannten Bilder hat und lediglich die Stellen bespricht, die gerade nicht auf ein konkretes Bild Bezug nehmen, sondern nur – wie im Gedicht Mantegna vielleicht – die Künstler benennen, um eine Stimmung zu erzeugen, die die Stadt charakterisieren soll. Das Zusammenspiel von VenedigVorstellungen und der Konfrontation mit der Stadt selbst kommt dabei zu kurz. Die Frage, wo das lyrische Ich bzw. das Venedig erkundende Paar tatsächlich von Kunst beeindruckt ist und wo ihnen diese begegnet, wird nicht gestellt. Wird mit dem Aufenthalt des Paares in einer ‚Brautkammer‘ auf den Beginn einer dauerhaften Beziehung verwiesen, so wird mit dem Spruchband, das die Alte auf dem Bild Giorgones trägt – col tempo – auf den damit beginnenden Prozess des gemeinsamen Alterns verwiesen. Vergänglichkeit wird auch hier impli|| 52 Durs Grünbein: Veneziana V (Camera degli sposi). In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 172f., hier S. 172. 53 Noël Reumkens: Kunst, Künstler, Konzept und Kontext. Intermediale und andersartige Bezugnahmen auf Visuell-Künstlerisches in der Lyrik Mayröckers, Klings, Grünbeins und Draesners. Würzburg 2013, S. 255. 54 Eventuell ist diese Interpretation auch dadurch beeinflusst, dass der Zyklus Nach den Satiren mit der Schichtung verschiedener Zeitebenen – das antike Rom und das gegenwärtige Berlin – arbeitet. Vgl. Fuhrmann, Zeitdiagnose am Widerpart Rom.
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zit zum Thema. Dass das Paar als Einheit nicht nur von außen erkennbar ist, sondern auch eine emotionale Gemeinsamkeit besteht, kommt im geschilderten Besuch des Renaissance-Palastes Cà d’Oro zum Ausdruck. Hier ist es nicht der ebenfalls in diesem Museum hängende Heilige Sebastian von Mantegna, der das Paar besonders beeindruckt, sondern ein Relief: Denn dort, lanciert für zwei wie uns, hing hinter gotischen Kulissen Zur Überraschung ein Relief. Wenn nicht im Marmor inhaftiert, Mit offnen Mündern dieses junge Paar, es hätte staunen müssen, Uns so erstaunt zu sehen. Warum? Nur weil da ungeniert Ein edles Fräulein seine Brüste zeigte? Weil die zwei galant Ein Halbjahrtausend in den Ausdruck eines letzten Zögerns faßten, Bevor sie schlafengingen, Mann und Frau? An die Museumswand Gefesselt, hielten sie den Atem an, wie nacheinander tastend. Doch ohne Finger, denn die Arme fehlten. Nur ihr Blick Kam uns bekannt vor wie die Heimlichkeit von Juvenalis’ Schülern, Die es sich gegenseitig machten unterm Pult. Bestand ihr Trick Nicht darin, jedes Augenflimmern zu vermeiden? Solche Kühle Ging vom frivolen Brustbild dieser beiden aus, daß uns die Stadt Unheimlich wurde. Für Momente glich der luxuriöse Ort, An dem einst glückliche Patrizier balzten, einem leeren Hallenbad. Und flüsternd, erstmals, wünschten wir uns von hier fort.55
Nach der bereits zuvor geschilderten irritierenden Venedig-Erfahrung ist es die gemeinsame Betrachtung der offen ausgestellten sexuellen Reize der Frau, die im Blick der Figuren keinen Widerhall findet, zugleich aber auf andere Geheimnisse verweist, die den Fluchtinstinkt des Paares bedingt. Dabei zeigt die in den Fragen vorgenommene Suchbewegung den Versuch, sich die Wirkung des Reliefs zu verdeutlichen und sich über dessen emotionale Wirkung zu verständigen. Dass das Erleben des Kunstwerkes nicht in Worte gefasst werden kann, zeigt der vage Vergleich mit der „Heimlichkeit von Juvenalis’ Schülern“, der hier darauf verweist, dass etwas Unaussprechbares und Tabuisiertes angedeutet ist, das für den heutigen Betrachter aber schwer in Worte zu fassen ist, weil es sich – wie das leere Hallenbad – in der Gegenwart des Paares durch Funktionslosigkeit auszeichnet. Venedig und die in seinen Kunstwerken zum Ausdruck kommenden Ideen bieten keine Basis für das Zusammenleben des Paares. Glücklich werden könnten sie in dieser Stadt nur – so entwickelt es ein utopisches Gedankenspiel, –
|| 55 Grünbein, Veneziana V (Camera degli sposi), S. 173.
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wenn diese untergehen würde und, statt Menschen und deren kultureller Spuren, Fische und andere Tiere die Herrschaft in der Stadt übernehmen würden.56 Bietet der gemeinsame Museumsbesuch dem Paar die Möglichkeit, sich über die Reflexion der Bildaussage zu finden und zu verständigen sowie sich als Paar zu erkennen, so zeigt sich hier auch, dass Kunst nicht immer gefällig sein muss. Es ist gerade das verstörende Moment des Reliefs (wie der Wahrnehmung im Halbschlaf), das die Verbindung zwischen dem Paar herstellt. Dabei sind es die für den Zyklus zentralen Momente der Kälte als Erfahrung der Endlichkeit menschlichen Lebens und die Spiegelfunktion, die das Relief für das betrachtende Paar hat, die das Gedicht auf die zentralen Themen des Zyklus hin fokussieren.
Zusammenfassung „Ach ja, wir sterben, wo wir gehen und stehn./ Hast du nicht selbst gesagt, daß es so sei?“57 – Die Sterblichkeit des menschlichen Körpers, die Zeichen des Todes in der Lebensmitte sind die zentralen Themen des Zyklus Physiognomischer Rest. Wie in einem Experiment beobachtet Durs Grünbein in diesem Zyklus Körperlichkeit auf eine für sein Werk bis dahin ungewöhnliche Weise. Es ist nicht der Blick ins Gehirn und ins Innere des Körpers, wie z.B. im Gedicht Farbenlehre,58 das durch eine Verletzung am Schienbein den Blick in den geöffneten Körper freigibt. Statt der Vivisektion ist es nun die Verortung des Körpers in Raum und Zeit und damit der Blick von außen, der schonungslos Momente des Alterns entdeckt und der sich wundert, dass der unversehrte Körper, die (scheinbar) heile Haut schon auf den Tod des Körpers verweist. Diesem Moment der Sterblichkeit und der Möglichkeit seiner Darstellbarkeit geht Durs Grünbein einerseits anhand seiner eigenen Gedichte nach. Er sucht aber auch in der Kunstgeschichte Anknüpfungspunkte für die Auseinandersetzung mit dem sterblichen Körper. Dabei interessiert ihn weniger der Aussagegehalt eines Bildes, sondern dessen sinnliche Wahrnehmung, die immer zugleich – so die Interpretation Grünbeins – eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Wahrgenommenen nach sich zieht.
|| 56 Durs Grünbein: IX (Aqua alta). In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 180–182. 57 Durs Grünbein: Kleine Litanei. In: ders.: Nach den Satiren. Frankfurt a.M. 1999, S. 213. 58 Durs Grünbein: Farbenlehre. In: ders.: Grauzone morgens. Gedichte. Frankfurt a.M. 1988, S. 75.
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Der bildenden Kunst kommt in diesem Kontext eine zweifache Funktion zu. Sie hat sich bereits seit jeher intensiv mit Grünbeins ‚Forschungsgegenstand‘, dem menschlichen Körper, auseinandergesetzt. Die gemeinsame Kunsterfahrung des Paares in Veneziana verweist dabei darauf, dass der Mensch nicht länger „als einsame Monade, seelisch-geistig präsent nur aufgrund seiner funktionierenden Nervenzellen“59 gedacht wird, sondern dass es Erfahrungen sind, die teilbar sind, die das Individuum ausmachen. Damit wird die bisherige Dominanz des Körpers als Erfahrungsinstanz des eigenen Selbst in der Lyrik Grünbeins zurückgenommen. Die Besonderheit des Ichs kommt in seiner Konfrontation mit der Welt und vor allem in der Zeit- und Geschichtsgebundenheit des Einzelnen in den Blick, die wiederum als Voraussetzungen seiner Wahrnehmungsfähigkeit angesehen werden. Insofern kann der Autor von der bildenden Kunst lernen – zumal gerade in der Auseinandersetzung mit der bildlichen Darstellung die besondere Leistung der Literatur im Erkenntnisprozess erkundet werden kann. Damit ist es nicht die Physiognomik an sich, die im Fokus dieses Zyklus steht, sondern die allgemeine Frage nach der Bedeutung der Körperlichkeit für Erkenntnisprozesse. Wenn dabei der Blick auf den fremden oder den eigenen Körper trifft, dann steht dieser nur als Motor des eigenen Erkenntnisinteresses im Zentrum. Insofern hat sich mit dem Zyklus Physiognomischer Rest der Blickwinkel Grünbeins verschoben, die zentralen Fragen seines lyrischen Schaffens aber haben sich nicht verändert.
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|| 59 Meyer, Physiologie und Poesie, S. 118.
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| V. Epilog
Durs Grünbein
Die Lehre der Photographie Die Stadt, in der ich aufwuchs, War keine westliche Stadt, Sie war keine östliche Stadt. Nördlich von Böhmen lag sie, südlich Von Grönland, unter der Sandsteinschweiz In einem Flußtal, von Wiesen grün. Sie war das Nest in der Mitte, der Rest Einer schönen steinernen Geste – Eine Suite im Hotel „Alteuropa“. Unter den Tapeten klebten noch immer Zeitungen aus der Welt von gestern Mit Berichten von Zeppelin-Flügen, Konferenzen des Völkerbundes, Vermischtes, gepaart mit Annoncen Für Büstenhalter und Bügeleisen. Doch war die Aussicht zum Fluß Mit grauen Baracken verbaut. Es war der südliche Flügel, Es war der nördliche Flügel Kaputt wie das Palais aus dem Barock, Beim Trödler gelandet das Mobiliar. Wie gestrandet sah alles dort aus: Die Dampfer, Kuppeln und Kirchen. Und es war nicht viel los an der Bar. Dann aber fand ich ihn dort am Ufer Einestags unter rostigen Nägeln, In Haufen von Schrauben und Muttern Demontierter Maschinen aus längst Enteigneten, abgerissenen Fabriken, Fand ihn zwischen den Knochen,
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Die Hunde ausgescharrt hatten, Rippenknochen, Wirbeln und Splittern Von Tier und Mensch, wie es schien – Den Schlüssel zu dieser Stadt. Und wurde mit einem Mal ruhig. Und wußte nun, wo ich bin Und woher ich kam – Bis ich die Photographien sah, Nicht im Familienalbum, sondern Am Stand bei den Flohmarkthändlern. Archivbilder waren das, Postkarten Von Straßenszenen, Stadtansichten Zwischen den Kriegen, Momente Verschwundenen Lebens, Manche noch mit dem Stempel „Originalabzug von Hand“. Vor den Häusern, noch alle intakt, Über die Brücken, die weiten Terrassen Entlang der Elbe am Königsufer Wandelten Menschen, nun alle tot – Bis auf die Jüngsten im Kinderwagen. Mütter in dunklen Mänteln und Hüten Blieben für alle Zeiten gekettet An einzelne Herren mit Aktentaschen. Auf einer Verkehrsinsel starrte Ein Junge in Lederhosen, der nie mehr Älter wurde auf die Reklameschrift Für „Kakao Riquet Schokolade“. Aus der Straßenbahn, Linie 11, stieg Die Schöne mit den Seidenstrümpfen, Auch sie vom Zufall herausgepickt, Von nun an auf der Stelle gebannt. Sie alle waren Passanten der Zeit – Die auf dem Altmarkt am Blumenstand, Die vor den gestreiften Markisen Auf der Prager Straße. Am Bahnhof Zeigte die Uhr für immer Halb Elf.
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Ein ewigwährender Vormittag – Meistens im Frühling, im Sommer In einer Stadt, die keine östliche war, Keine westliche. Kaum ein Photo, Das sie einmal im Tiefschnee zeigte. „Dresdner Neueste Nachrichten“ stand Am Geländer der Unterführung. Bald fehlte ein r, ein n, dann ein a. Stromausfall, das Benzin wurde knapp, Man fuhr wieder Fahrrad seit Stalingrad. Nicht mehr lange, dann war das meiste Ausgelöscht, eine bloße Phantasmagorie Wie die Wüstenfestung des Kublai Khan. Und vor und zurück sprang der Blick Auf der Suche nach einem Beginn. War es das Hochwasser? Mit ihm fingen Die schillernden zwanziger Jahre an. Menschen schauten über die Brüstung Der Brühlschen Terrasse, bestürzt Über die Inflationen der Elbe. Wie eine Trauergemeinde waren sie Alle in Schwarz gekleidet. Das ganze Volk trug damals Schwarz. Dabei Lag das Schlimmste doch hinter ihnen: Vier Jahre Krieg in Europa, Gemetzel. Alles Verlierer, Leute, die auf einmal Viel Zeit hatten sich zu versammeln In dunklen Haufen. Nur ein Mädchen Im Matrosenanzug spuckte belustigt Über das Gitter in den geschwollenen, Schlammbraunen, gruftkalten Fluß. Oder das Unwetter im Dreißiger Jahr, Das an der Vogelwiese die Buden Des Rummelplatzes zum Einsturz bringt. Ratlos betrachten Besucher das Chaos, Gäste der Geisterbahn. Hau den Lukas, Flucht der Herr mit dem Strohhut
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Und blinzelt verwegen hinüber Zu der Dame im weißen Hängekleid. Ein Sturm hat die Schiffsschaukeln, Die Zirkuszelte umgeblasen. Nun lag Die ganze Kartenhausherrlichkeit Durcheinandergewirbelt in Trümmern Wie die Scherben im Kaleidoskop. Immer war es die Sorge, Ein Pfeifton des Instabilen, der Ängste, Die im Kleinen den Alltag bestimmten Und die Schritte lenkten als Politik – Ein Zwang, der in alle Häuser kroch Und unsichtbar jedes Leben peitschte. Begeisterung weckte der Traum Von sozialer Sicherheit, der doch nie In Erfüllung ging auf den Plätzen, In den Straßen, an denen Wahlplakate In schreiendem Rot oder Schwarz Das Blaue vom Himmel versprachen. Daß aber Bilder Blickwinkel sind, In denen Historie sich auflöst In familiäre Geschichten, immer anders Verlaufend, momentlang fast aufzuhalten, Wie es schien und doch uneinholbar, War die Lehre der Photographie. Vor und zurück sprang der Blick. Fünf Jahre später bricht ein Spektakel Des Schreckens alle Besucherrekorde, Die Deutsche Volksschau „Der Rote Hahn“. Bei den Arkaden am Altmarkt geht Ein Großbrandlöschzug in Stellung, Eine Armada schwarzer Mercedeswagen. Als Höhepunkt wird in pechdunkler Nacht Ein Übungshaus künstlich abgefackelt. Lichter- und Schaumfontänen geben Einen Vorgeschmack auf die Zukunft.
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Eine Million Reichsmark kostet Den Staat der Verlust einer Kleinstadt, 40 000 ein einzelnes Bauernhaus. Lang vor den Bombern, dem Feuersturm, In dem die Stadt untergeht, werben Leuchtschriften für Feuerversicherung. Und wie fette Würgeschlangen liegen Die Schläuche auf dem Asphalt, Von Männern, die das Inferno Gebändigt haben, erschöpft eingerollt. Dresden, jubelt die Presse, hat nun Die modernste Feuerwehr in Europa. Da hatte der Tod, dies bittere Männlein Aus den altdeutschen Märchen Ein vergnügliches Stündchen. Noch einmal ist alles gut gegangen. Rechtsschutz und Rettungswesen Sind die staatlichen Mythen der Stunde. Bald gibt es das Kindergeld, Tierschutz Kommt Hunden und Katzen zugute. Schreibt das den Lieben daheim. Und bedenkt auch die neuen Tarife: „Luftpost bringt Zeitgewinn“. Stand Großmutter da in der Menge Am Straßenrand vor der Eingangshalle, Hinter den uniformierten Ordnern In der völkischen Warteschlange Am Blüherpark? Die kleine Frau, Die ihre Handtasche fest an sich preßt, Gleicht ihr von hinten aufs Haar. (Schon bald wird sie schwanger sein, Ein Mädchen von achtzehn Jahren. Und dann noch einmal, da ist der Mann, Ein gelernter Fleischer, längst Soldat Auf seinem Marsch durch Europa.)
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Wieder ein Frühling, Reichsgartenschau: Ein halbes Jahr lang hilft der Zauber Der Flora über die neuen Zwänge, Die neuen Gesetze hinweg. Eine Hymne ans Dasein, eine festliche Hymne an die Schönheit der Erde, Schreiben die Berichterstatter Im schwülstigen Stil der Zeit. Das war stärker als jede Olympiade, Dem weiblichen Schönheitssinn näher Wie Hitlers Hände, eunuchenweich. Abfahrt des Konzertdampfers „Leipzig“: Am Terrassenufer wehen am Anlegeplatz Hakenkreuzfahnen im Sommerwind. Ein Eisverkäufer hat seinen Palast Am Bordstein eröffnet und wartet, Daß Hitlerjugend herüberkommt. Die Stadt ist die Lichtung. Was ahnte sie Von den Luftaufnahmen, die ihre Wunde Zeigten lang vor dem Donnerschlag, Der immer den Blitzen folgt? Oftmals Stand dort ein Wald erhobener Arme. Dann wußte keiner mehr, was es war, Das den Schwindel erregte, den Kopf Verdrehte zwölf Jahre lang. Die Zeit War weitergerückt. Stumme Gewalt Tauchte alles in ein urtümliches Licht. Das Pflaster glänzte, und dunkle Wolken Rollten über die Brücken hinweg Mit dem Rattern der Flüchtlingsfuhren, Schützenpanzer und Leiterwagen. Und da wußte ich, die verfluchte, fatale Geschichte dieser Leute ließ sich, Seitdem sie das Zeichen trugen, Nur von ganz unten erzählen.
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Aus den Kellern herauf, den grauen Mauerecken der Luftschutzkeller, Wenn die Sirenen heulten, die Kinder In den Momenten finaler Hilflosigkeit. Geboren bin ich am Weißen Hirsch – Ein Villenviertel, vom Krieg verschont. Und es gibt mich, wie es die Bilder gibt, Die vom Leben zeugen und nichts Von den Toten sagen. Mutter War in Sicherheit, als der Angriff kam. „Wir sitzen in der Lößnitz beim Most“, Schrieb ein Unbekannter. Die Karte Zeigt einen strahlenden Sommertag.
Das Buch Plan für ein Prosawerk, das aus einer einzigen Gedichtzeile hervorgeht. Nicht realisiert.
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Fußnote zu mir selbst Ich habe die Straße der modernen Poesie an ihrem oberen Ende betreten, dort wo sie überging in die schmucklosen, tristen Vorstädte, bei den Endhaltestellen der Straßenbahnen, den Autobahnzufahrten. Was ich als erstes sah, waren graue Mauerstücke, Lücken zwischen den Häusern, Gräben entlang der Straße, das Erdreich aufgerissen, zerwühlt. Meine Heimatstadt war vom Krieg zerstört. Ich mußte feststellen, daß zuletzt beinah alles auf der Strecke geblieben war: die Versformen, der Grundrhythmus der Strophen, die großen balladenhaften Spannungsbögen, der Geheimnischarakter, die feine Lineatur der bedeutungsreichen Worte, schließlich die Poesie selbst. Wenn jemand erklärt hätte, sein Dichten verfolge die Absicht, dem Ausdruck Klarheit zu verschaffen, dem Versbau Bedeutung, dem Klang der Worte Anmut und Leben, man hätte ihn ausgelacht. Es galt als abgemacht, daß das meiste, was die konventionelle Lyrik bereithielt, nurmehr Plunder war, etwas Unbrauchbares, das dem direkten Ausdruck im Wege stand. Ich las Rimbauds Schilderungen von seiner Jahreszeit in der Hölle, und nahm es als realistischen Bericht, die Umwelt darin war mir vertraut. So fing mein Dichterleben an. Es war eine Befreiung, die den innersten Kern des Poetischen sprengte und dabei ungeahnte Kräfte freisetzte. Wer sich mit der Musik vieler Jahrhunderte angereichert fühlte, mochte getrost dem Lockruf ins Offene folgen, er würde sich in der nackten Gegenwart aufgehoben fühlen wie in Abrahams Schoß. Wer sein Vertrauen zum Wort behielt, dem kam nun die Komik, die allem Ausdruck innewohnt, von allen Seiten zu Hilfe, und das Absurde war ihm ein Trost. Es hatte sich erwiesen, daß Gedichte mehr sind als feststehende Rituale in lange befestigten Formen. Mochten sie auch ihre Würde dem uralten Status der Elegie verdanken, sie waren doch mehr als nur Verlust- und Vergänglichkeitsbilanzen, Feiertagsgeschenke oder Zutat auf Trauerannoncen. Seit den Tagen der frühen Moderne war jeder Stilbruch erlaubt – im Namen der Überraschung. Ausdruck war nun etwas Unmittelbares, man erzwang ihn durch Inkongruenz, Disharmonie, gewagte Sprünge, die Kombination des scheinbar Unvereinbaren. Damals hat das Gedicht, mit einem verführerisch jungen Lächeln, all seinen zeremoniellen Befangenheiten Adieu gesagt, Goodbye, до свида́ния! Damals hat es, neben den entlegeneren Nerven, auch seine Muskeln entdeckt, sein freches Grinsen, die Süße, die in der Zerstörung der Formen lag. Den Verlust seiner Schmuckfunktionen sollte, wie sich zeigte, ein Zuwachs an Mimik aufwiegen, eine erhöhte Alarmbereitschaft für die kleinen tragischen wie die großen komischen Dinge des Lebens. Der Augenblick zog in das Gedicht ein, sein
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Stilmerkmal war das scharf beobachtete Detail. Und wachsam hielt er von nun an dort die Stellung, im Zentrum des Gedichts, mißtrauisch gegen die dunklen Heere der hysterischen Ideen, mit ihrem Potenzial, alles ringsum zu verwüsten. Nach vielen Jahren ununterbrochener Praxis kann ich sagen: Das Gedichteschreiben ist wohl zuallererst eine Übung in radikaler Selbsterforschung. Es wendet sich gegen die Generalisierungen. Es unterläuft den Roman der Geschichte, die immer kollektiv voranschreitet, rechthaberisch in ihrem Anspruch, den Einzelnen mit seinen Eigenheiten zu vereinnahmen. Dagegen steht das Gedicht, das aus den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts gelernt hat. Ich erinnere mich, daß ich der großen Erzählungen sehr müde war, schon am Beginn, als ich anfing regelmäßig zu schreiben. Ich war siebzehn, als ich mit der modernen Poesie mein Glück versuchte. Es war wirklich nichts Besonderes. Man kratzte sein weniges Erspartes zusammen und setzte auf ein paar magere Zeilen. Ich begann mit einer einfachen Lektion. Sie betraf diesen Körper – das einzige, was der Staat, in den ich durch genetischen Loswurf hineingeraten war (der glorreiche Arbeiter-und-Bauern-Staat DDR), beschlagnahmen konnte, indem er mich zum Militär einberief und in die Großbetriebe zur Produktion. Dann fand ich bei dem jungen Ossip Mandelstam den Vers: „Man gab mir einen Körper – wer/ sagt mir, wozu? Er ist nur mein, nur er“ – und fortan war es um mich geschehen. Aus der Sicht dieses Körpers mußte etwas getan werden, wollte man nicht als Gefangener enden eines Regimes, das auf eben diesen Körper Anspruch erhob, indem es ihm geographische Grenzen setzte, ihn disziplinierte und als Geisel einbehielt für etwas, dessen es anders nicht habhaft wurde – nennen wir es Ich oder Seele oder Bewußtsein. Dafür, daß es dies Unfaßbare, stets Unzuverlässige nie ganz vereinnahmen konnte, rächte es sich mit der Beschlagnahmung jenes, der nur allzu sichtbar war, eine leichte Beute. Not macht erfinderisch: Das Schreiben war damals mein erster Schritt über die Grenzen des Körpers und der geschlossenen Gesellschaft hinaus. Jede Generation entwickelt ihre eigene Sensibilität, heißt es. Man versteht dies unmittelbar, wenn man eine Gruppe junger Menschen beobachtet, dem Krachen ihrer Surfbretter lauscht, ihren angesagten Songs zuhört, ihre Gesten studiert. Es ist eine neue Art, auf der Welt zu sein und auf diese zu reagieren. Die Landstraße mag noch dieselbe sein, aber die Kinder, die sich auf ihr zum Spiel verabreden, sind andere, sie sprechen andere Sätze, ihre Träume haben sich verändert – wohin, wird die Zukunft zeigen. Genauso verhält es sich mit der Poesie. Über diese schlichteste und zugleich rätselhafteste aller Künste hat Jean Cocteau gesagt: „Sie ist unerläßlich, aber ich weiß nicht genau, wofür.“ An dieser Unbegründbarkeit liegt sehr viel. Sie ist vermutlich sogar die Essenz der Sache, darum bleibt das Zitat auch über die erste Erheiterung hinaus gültig.
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Was ihre Gegenstände betrifft, so sind sie tatsächlich uralt und bei allem Variantenreichtum beinah stereotyp, wie es scheint. Es sind die Liebe, das Begehren, das Rätsel der Zeit, die Schocks der Erkenntnis, die einer am eigenen Leib macht – und der immer wiederkehrende Glücksmoment, sich als Teil des Universums lebendig zu fühlen. Dies drängt im Gedicht zur Sprache, koste es, was es wolle. Aber es ist das spezifische Erlebnis eines Einzelnen, das hier für Abwechslung sorgt und die Dinge von Zeit zu Zeit neu erstrahlen läßt – so noch nie zuvor angeschaut. Heute kann ich hinzufügen: Der Dichter ist wirklich das Wesen, das seinem Leitstern folgen muß, seinem Daimon, wie es in der Sprache des Sokrates hieß. Daß es ein Philosoph war, der mit dem Ausdruck auf der Rolle des Individuums beharrte, sagt uns, wie eng das Erwachen der Persönlichkeit im frühen Griechenland mit dem Erwachen des Geistes einherging. Niemand sollte sich von der später so bequemen Trennung in Dichten und Denken irre machen lassen. Besser, man geht von einer Arbeitsteilung aus, die am Ende allen zugute kommt. Der Dichter muß seiner eigenen Traumwirklichkeit folgen, nicht selten auch seiner abgründigen Psyche, wie es alle die Zerrissenen taten, die sich ins goldene Buch der Menschheit eintrugen – hier hat jeder seinen Favoriten parat. Der Dichter ist einer, der lernen mußte, allein zu sein, nonkonform, keinem verpflichtet – keiner äußeren Macht, keinem höheren (religiösen oder philosophischen) Prinzip, nicht einmal einer vorherrschenden literarischen Strömung. Er wird aber, bei aller sozialen Kontaktfreudigkeit, auch dann noch der Einsiedler inmitten der Gesellschaft sein, wenn alle Religionen, alle demokratischen Ideale zu kollektiver Routine verkommen sind. „Dichtung ist der Triumph der Kontemplation“, sagt Wallace Stevens, und er tat es mit herausforderndem Blick auf die Philosophie. Das erinnert an das platonische „Selbstgespräch der Seele“, das bei den Griechen begann, nein früher noch, im Alten Ägypten mit dem lyrischen Liebesgeflüster einiger Hofdamen, und im Grunde nie aufgehört hat. Dieses Selbstgespräch, unter Einbeziehung eines heimlichen Mitwissers, als welcher der Leser ins Spiel kommt, sobald das Gedicht das Licht einer Buchseite erblickt, ist die Grundbewegung, der innerste Antrieb der Poesie. Dabei gilt: Die poetische Wirklichkeit ist eine andere als jene, die uns unter dem Namen Realität immer neu verkauft werden soll. Sie ist zugleich flüchtiger und dauerhafter als diese. Sie legt sich nicht mit ihr an, warum auch? Sie sieht das Fadenscheinige jeder Realität, die menschlichen Konstruktionen dahinter und überwindet sie spielend mit Hilfe der Imagination. Sie erzieht den, in dem sie erwacht, zum permanenten Widerstand gegen den Fatalismus der Fakten und ist damit politischer als jede Politik. So ist die Unabhängigkeitserklärung der Poesie auch mehr als ein bloßer ästhetischer Akt. Sie verdeutlicht das Lebensprinzip, dem jeder Mensch, wie verstrickt und
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von den Umständen korrumpiert er auch immer sich durchwindet, in der Sehnsucht doch folgt, ob er nun schreibt oder nicht. Das Wagnis der Dichtung besteht nur darin, daß sie dies demonstrativ tut, für jeden nachprüfbar, der an der unvergeßlichen Wendung, der Aussagekraft von Metapher und Gleichnis einen Halt zu finden sucht, während Zeit ihn davonreißt. Dichtung ist die Garantie dafür, daß es sich gelohnt hat, die Muttersprache zu erlernen. Wenn es ihr gelingt, findet sie hin und wieder das schlagende Bild, das auf der inneren Retina bleibt und einen lebenslang schützt und begleitet. April 2012
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Hinrich Ahrend geb. 1977, Dr. phil., Promotion 2010 über den Zusammenhang von Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins, derzeit am Institut für Neuere deutsche Literatur der Universität Marburg; Arbeitsschwerpunkte u.a.: Gegenwartsliteratur, Romantik sowie Geschichte und Theorie der Lyrik. Urs Büttner geb. 1980, Dr. phil., Habilitationsprojekt: Eine Literatur- und Wissensgeschichte des Schnees, wiss. Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte: Literarische Meteorologie, Poetiken des ‚Sozialen‘, Mediengeschichte der Handschrift, (Post-)Romantiken. Andreas Degen geb. 1969, PD Dr. habil., Promotion an der FU Berlin 2002, Habilitation an der Universität Potsdam 2014, derzeit am Institut für Germanistik der Universität Potsdam tätig, Arbeitsschwerpunkte u.a.: Poetologie und Literaturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Begriffsgeschichte, literarische Beziehungen nach Osteuropa. Publikationen u.a.: Bildgedächtnis. Zur poetischen Funktion der Sinneswahrnehmung im Prosawerk Johannes Bobrowskis. Berlin 2004; Ästhetische Faszination nach Kant. In: Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit / As if Spellbound. Affective Attention Fixation in Aesthetic Practice. Hrsg. von Martin Baisch, Andreas Degen, Jana Lüdtke. Freiburg 2013, S. 271–308. Hrsg. gemeinsam mit Margrid Bircken: Reizland DDR. Deutungen und Selbstdeutungen literarischer West-OstMigration. Göttingen 2015. Michael Eskin geb. 1966, Ph. D., lehrte Komparatistik, Germanistik, Anglistik und Philosophie an der University of Cambridge und an der Columbia University. Derzeit Autor, Übersetzer und Verleger bei Upper West Side Philosophers, Inc. in New York. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte u.a.: Ethik und Literatur, Geistesgeschichte und Philosophie der Moderne und Gegenwart, Dichtung und Poetik der Moderne und Gegenwart, Übersetzungstheorie, Semiotik, Vorurteilsstudien. Neben zahlreichen Aufsätzen zur Literatur, Dichtung und Philosophie sind von Michael Eskin folgende Bücher erschienen: Nabokovs Version von Puŝkins Evgenij Onegin ‒ Zwischen Version und Fiktion: eine übersetzungs- und fiktions-
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theoretische Untersuchung (1994); Ethics and Dialogue in the Works of Levinas, Bakhtin, Mandel’shtam and Celan (2000); Poetic Affairs: Celan, Grünbein, Brodsky (2008); 17 Vorurteile, die wir Deutschen gegen Amerika und die Amerikaner haben und die so nicht ganz stimmen können (2008); The DNA of Prejudice: On the One and the Many (2010); The Wisdom of Parenthood: An Essay (2013); The Art of Durs Grünbein (2016). Christoph auf der Horst geb. 1961, Dr. phil., Habilitationsprojekt zur Methodologie der Pathographieschreibung, Leiter des Zentrum Studium Universale der Heinrich-Heine-Universität und Stellvertretender Leiter des Hauses der Universität Düsseldorf; Arbeitsschwerpunkte: Medizingeschichte der Frühen Neuzeit, Naturbegriff in Wissenschafts- und Ideengeschichte, Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts (insbesondere Heine). Christian Kohlross geb. 1963, Dr. phil., Habilitation 2004 mit einer Arbeit über die Gründe philologischen Wissens, Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, Psychoanalyse, Psychopolitik. Anne-Rose Meyer geb. 1972, PD Dr. phil., Habilitation 2009 über Homo dolorosus. Körper – Schmerz – Ästhetik, derzeit wiss. Mitarbeiterin am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn; Arbeitsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur des 18.‒21. Jahrhundert, Ästhetik, Gattungstheorie und -geschichte, Interkulturalität. Burkhard Meyer-Sickendiek geb. 1968, PD Dr., Promotion 2001 über Die Ästhetik der Epigonalität, Habilitation 2008 über den Literarischen Sarkasmus. Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Moderne, arbeitet derzeit als Heisenberg-Stipendiat an der Freien Universität Berlin; Arbeitsschwerpunkte u.a.: Empfindsamkeit, moderne Lyrik, deutschjüdische Moderne. Silvia Ruzzenenti geb. 1981, M. A., Ph.D., Promotion 2012 in Translationswissenschaft – Germanistik (Universität Bologna, Humboldt-Universität zu Berlin) über einen holistischen translatorischen Ansatz für essayistische Formen mit Fokus auf der Übersetzung von Durs Grünbeins poetischen Essays. Derzeit arbeitet S.R. an der italienischen Ausgabe von Durs Grünbeins Essays. Forschungsschwerpunkte
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sind u.a. Durs Grünbein, Bildlichkeit, Literatur des 20. Jahrhunderts, Kulturtransfer im 18. Jahrhundert. Miriam Seidler geb. 1975, Dr. phil., Dissertation 2010 zu Figurenmodellen des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur; Habilitationsprojekt zur Neugier als Rezeptionshaltung in der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts; derzeit Akademische Rätin auf Zeit am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Forschungsschwerpunkte: Literatur des 17. bis 20. Jahrhunderts, Geschichte weiblichen Schreibens um 1800, Curiositas, literaturwissenschaftliche Gerontologie. Ralf Simon geb. 1961, Prof. Dr. phil., Habilitation 1996 über Johann Gottfried Herder; derzeit am Deutschen Seminar der Universität Basel (Schweiz); Arbeitsschwerpunkte u.a.: 18. Jahrhundert (Jean Paul, Lessing, Goethe u.a.)., Romantik, Realismus (Raabe), Bildtheorie, Lyrik, Theorie der Prosa, Arno Schmidt u.v.a.