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German Pages 208 Year 2020
Gerhard Bauer Gesprächskünste
Lettre
Gerhard Bauer, geb. 1935, war Professor für Neuere deutsche Literatur am In stitut für Deutsche und Niederländische Literatur der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Aufklärung, soziale und sozialistische Lite ratur, Exilliteratur, Werke von Migranten sowie moderne Lyrik.
Gerhard Bauer
Gesprächskünste Goethes »Wahlverwandtschaften« neu erwogen
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Inhalt
Ein leuchtender Roman aus einer finsteren Zeit ..............................9 Menschen in ihren Redemanövern ............................................ 11 Konversation auf Französisch ................................................ 19 Die vier Hauptpersonen in den Eigentümlichkeiten ihres Austauschs miteinander ............................................. 23 Eduard...................................................................... 23 Charlotte ................................................................... 46 Otto, »der Hauptmann« ..................................................... 59 Ottilie....................................................................... 64 Was die vier miteinander anfangen ........................................... 77 Gleichberechtigte Frauen? .................................................. 78 Gäste und Nebenfiguren ..................................................... 81 (Der Gärtner) ................................................................. 81 Mittler ....................................................................... 81 (Der Geistliche).............................................................. 83 (Die Bauern) ................................................................ 84 (Das Gesinde) ............................................................... 84 Der Bettler .................................................................. 85 Der »Maurer« ............................................................... 85 Der Graf und die Baronesse.................................................. 89 (Der Kammerdiener).......................................................... 91 (Nachbarn und Anverwandte) ................................................ 92 Nanny ...................................................................... 92
(Der Advokat) ............................................................... Der Architekt ............................................................... Luciane ..................................................................... Der Gehülfe ................................................................. Der Lord und sein Begleiter..................................................
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Behandlung der Personen und wichtige Ereignisse ......................... 101 Zusammenfassung und Entgrenzung: »Man«................................. 101 Mancherlei Theater.......................................................... 104 Die handelnden Personen in ihrer »Selbstigkeit«............................. 105 Die »Seele«................................................................. 113 Ahnung, Prognose, Hoffnung, Vorwegnahme, Ungeduld, Enttäuschung ........ 115 Rätsel, Paradoxa, Widersprüche in sich selbst................................ 125 »Seine Majestät, der Tod« ................................................... 131 Einmünden in Frömmigkeit? ................................................139 Mitteilung und Innerlichkeit, »Intimität« ...................................143 Historischer Fortschritt in der Gesprächsführung? ........................... 144 Die kleine Welt mit Spuren der »großen« .................................... 147 ›Innere Zwischenmenschlichkeit‹ ........................................... 148 Vorsätze, (noch) fern von ihrer Verwirklichung ............................... 149 Töne und Untertöne des Gesprächs ......................................... 150 Rollenverdopplung, Rollentausch ............................................ 151 Differenz zwischen Absicht und Verlautbarung ............................... 152 Zuneigung, und ihre Abkühlung .............................................. 152 Viel Annäherung, weniger »Du« ............................................. 154 »Verzeihung!« .............................................................. 155 Geständnisse ............................................................... 156 Klatsch ..................................................................... 157 »Scherze« und ein »Verbrechen« ........................................... 157 Schriftliche, aber versteckte Angebote zur Kommunikation...................158 Ironische Unterfütterung des ernsten Romans ............................... 161 ›Sprache‹ der Gesten .......................................................163 Der Erzähler hat auch ein Wörtchen mitzureden ............................. 165 Die Rede wörtlich und Rede in etwa (»direkte« und »indirekte Rede«) ........ 167
Gesprächsdiplomatie ....................................................... 173 Belehrendes Gespräch ...................................................... 173 Verheißende und anheimstellende Rede...................................... 176 Das Innere der Gesprächspartner: gefasst oder zerfließend .................. 177 Beredt und stumm .......................................................... 179 Peinlich bedrängendes Gespräch ............................................ 182 Stockendes Gespräch ....................................................... 184 Verkehrung des Gesprächsziels ..............................................185 Duell in Worten? ............................................................ 187 Ausweichen und Täuschungsmanöver ....................................... 187 Sinn und »Gegensinn« ......................................................188 Befehlen statt bitten ........................................................ 191 Gegenseitiges Nachspionieren............................................... 191 Einbruch des Unheimlichen in den gewohnten Redeaustausch................193 Literaturverzeichnis........................................................ 195
»Die wirklichen Dichter begegnen ihren Figuren erst, nachdem sie sie geschaffen haben« (Elias Canetti)1
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E. Canetti, Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1985 (1972, 1987, 1993), S. 103 (notiert 1946).
Ein leuchtender Roman aus einer finsteren Zeit
Über den historischen Hintergrund des Romans, den Spätabsolutismus auf deutschem Boden und seine Auswirkungen bis in die Köpfe und Nerven der handelnden Figuren hinein, gäbe es viel zu nachzudenken und auszuführen.1 Hier soll ein kurzer, eindringlicher Blick auf die Zustände in den unterschiedlichen, doch auf gleiche Ansprüche ausgerichteten Ländern des Deutschen Reichs genügen. Die Härten dieses Absolutismus und trotzdem die Gewöhnung daran kommt, scheint mir, im historischen Abstand schärfer heraus, als sie sich den Zeitgenossen dargestellt haben. So z.B. in Heinz Pionteks luzidem Gedicht: Um 1800 Zierlich der Kratzfuß der Landeskinder, während wer fürstlich aufstampft. Gedichtzeilen. Stockschläge. 1
S. dazu u.a.: Blaschke, Borchmeyer 1, Fink, Gall, Gilli, Köhler, Krippendorf, Schlick, Sengle.
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Gesprächskünste. Goethes »Wahlverwandtschaften« neu erwogen
Viele träumen, daß man sie verkauft. Die Tinte leuchtet. Deutschlands klassische Zeit.2 Goethes Roman unter dem »klassisch« gewordenen Titel Die Wahlverwandtschaften3 spielt ziemlich weit weg von einer Residenz, die jenseits des Horizonts der handelnden Figuren liegt. Der Hauptmann könnte am ehesten noch ein wenig von ihr berichten; der Graf scheint direkt von Hofe zu kommen. Goethe war (1775), auf Einladung des regierenden Herzogs, nach Weimar gekommen, weil er sich etwas davon versprach: Wirksamkeit auf dem noch unerprobten ›politischen Parkett‹ und Einwirkung seiner humaneren Ideen auf den (so dachte er) noch bildsamen Herzog. Die Härten des absolutistischen Systems (die »Stockschläge«,
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H. Piontek (1965/66), in: Früh im September. Die Gedichte – Gedichte aus fremden Sprachen = Werke Bd. 1, 1982, S. 165. Ich zitiere mit Teil und Kapitel nach der dtv-Ausgabe mit dem Text der ArtemisGedenkausgabe (A.A.), Die Wahlverwandtschaften in Bd. 19, 1963, mit kleinen Korrekturen an dem nicht immer zuverlässigen Text, die ich aus anderen Ausgaben übernommen habe. Zusätzlich: H.A. für die Hamburger Ausgabe. Die heute gängigen Ausgaben unterscheiden sich von dem Text, den Goethe zum Druck befördert hat (dieser wird in der historisch-kritischen Ausgabe, der »Sophienausgabe« oder »Weimarer Ausgabe« [W.A.], reproduziert) dadurch, dass sie die Schreibpraktiken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugrunde legen. Das betrifft insbesondere: »t« statt »th« wie in »Muth« oder »Unmuth«, »unvermuthet« usw. / Verzicht auf die emphatische Großschreibung für das betonte »Ein« (»unter Einem Dache« usw.) / Verzicht auf die emphatische Verstärkung einzelner Konsonanten, etwa »ein gescheidter Einfall« / Verzicht auf emphatischen Auslaut in »dieß« u.a./Ersetzung eines alten »c« durch »k« oder »z« in »Caffee«, »Clavier«, »Cirkel« usw. / Verzicht auf Archaismen (die selbst zur Schreibzeit des Romans schon überholt waren) wie »Dintenklecks« oder das »Eilfte Kapitel« (in beiden Bänden). Goethes Maximen und Reflexionen nach der Ausgabe von Max Hecker, 1907.
Ein leuchtender Roman aus einer finsteren Zeit
von denen Pionteks Gedicht spricht) hat er nicht sogleich und nicht in ihrer vollen Schärfe wahrgenommen.4 Die über 30 Jahre Umgang mit dem Herzog, dem Hof und den System des Absolutismus schlagen sich aber unverkennbar in der Gestaltung seiner späten Werke, hier also der Wahlverwandtschaften, nieder. Ihr Abstand vom Hof nützt den Figuren wenig – sie haben die höfischen Werte verinnerlicht und ihr eigenes Selbstwertgefühl dort ausgebildet, das hängt ihnen ihr Lebtag an. Im unablegbaren Befehlston des reichen Barons ist es mit Händen zu greifen. Wenn im Gedicht von Piontek die kulturvolle und die brutale Seite des Absolutismus (der »klassischen Zeit« Deutschlands) dicht zusammenstoßen, so werden sie in Goethes Roman noch enger verquickt: Eben in der unerschöpflichen Liebe des Barons zu der Schönen und Zarten liegt der Ausgriff und Übergriff auf sie, dem sie sich schließlich nicht anderes entziehen kann als in den Tod. Statt mit allem Möglichen, was bei Hofe weiter passiert, beschäftigen sich die Figuren des hier versammelten Quartetts mit ihrem Innenleben und mit einander: mit allem, was sie einander unterstellen und voneinander erwarten. Als handelnde Personen treten sie nicht besonders hervor, unerschöpflich aber sind sie im Austausch von Worten.
Menschen in ihren Redemanövern Das meiste, was die Akteure und Aktricen dieses Romans sich und einander zufügen, stammt aus der leidenschaftlichen oder anders motivierten Tätigkeit ihrer Zungen. Gleich das erste große Gespräch zu dritt über die Affinitäten und Aversionen zwischen den Naturelementen (I,4) macht deutlich, wie sich diese eigentlich aufgeklärten Menschen in Vorstellungen verrennen können, die erst im Lauf der Handlung ihre dunkel-drohende prognostische Kraft entfalten. Es stimmt zwar, dass die
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Spätestens als er selber Truppen ausheben musste (März-Mai 1782, zu der Zeit, als er an seiner Iphigenie feilte), kam ihm dann doch einiges von der fatalen Kehrseite des höfischen Lebens zu Bewusstsein.
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Gesprächskünste. Goethes »Wahlverwandtschaften« neu erwogen
Hauptfigur dieses Romans (Ottilie) von dem wichtigsten Ereignis ihres Lebens an sich in Schweigen hüllt. Zuvor aber hat sie sich (obgleich sparsam, doch) so entschieden, so unnachahmlich geäußert, dass wir von ihrer Art zu reden sogar einen besonders deutlichen Eindruck gewinnen. Und diese Art müssen wir ihr unwillkürlich auch in der Phase ihrer bloß noch gestischen oder brieflichen Kommunikation zuschreiben. »Wer redet, ist nicht tot«, schrieb gut 130 Jahre später ein deutscher Ex-Expressionist.5 Mit dem Reden schafft der Dichter Leben, spezifisch menschliches Leben mit allen Äußerungen des Fühlens, Wollens, Denkens, des Mit- und des Gegeneinanderhandelns. So können die Figuren seines Romans sich selbst verwirklichen, ebenfalls mit- und gegeneinander sowie manchmal im Selbstgespräch, Ottilie besonders in ihrem fortlaufenden »Tagebuch«. Reden ist Leben, oder schafft die Illusion, dass es Leben hervorruft. »Dialogizität ist dem Roman vorbehalten«, schreibt Rainer Warnung, unter Berufung auf Bachtin.6 Das ist eine sehr weitreichende Behauptung. Trifft sie zu? Fürs Drama wird oft eine Zweistimmigkeit in besonderer Zuspitzung reklamiert. Es lebt ganz und gar vom Mit- und Gegeneinander von Äußerungen, genauer: vom Gegeneinander, das sich abhebt vom Miteinander und, wenigstens manchmal, einen Zug entwickelt, in ein Miteinander zurückzukehren. Wenn Iphigenie ihren Gast-Herrn Thoas anfleht: »Bedenke nicht; gewähre, wie du’s fühlst« (Iphigenie auf Tauris V,3), dann sucht sie (schließlich mit Erfolg) die Situation des Gegenüberstehens in eine des beiderseitigen Verstehens, der Anteilnahme des einen an der andern aufzulösen. Die Vorbehalte (das »Bedenken«) führen nur zur Abschirmung voneinander; das »Gefühl« weist den Weg, wie sie einander verstehen und dann miteinander auskommen können/könnten. Sie ist sich sicher, dass sie das Gefühl des Königs richtig erraten hat, denn alle ›guten Menschen‹, Skythen ebenso wie Griechen, fühlen
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Benn, »Kommt – «, in: Gottfried Benn, Gesammelte Werke, hg. D. Wellershoff, Bd. 3, 1960, S. 320. R. Warning (1984), Petrarkistische Dialogizität am Beispiel Ronsards, in: Die Pluralität der Welten, hg. W.-D. Stempel und K. Stierle, S. 327.
Ein leuchtender Roman aus einer finsteren Zeit
in Fragen von wesentlichem Belang das Gleiche. Thoas begreift ziemlich rasch, wie ihm hier mitgespielt werden soll: »Du forderst viel in einer kurzen Zeit«, aber er lässt sich immerhin, erst mal, auf den Streit ein. Die meiste Zeit reagiert er nur widerwillig, und dass sie ihn in seinen geheimen Gefühlen ertappt hat, macht ihn nicht williger. Erst am Schluss lässt er sich doch besänftigen, und damit ist plötzlich das Drama am Ende angelangt. Mehr braucht nicht gesagt, nicht ausgetauscht zu werden. Schillers Dramen sind anerkanntermaßen dramatischer als die seines späten Freundes Goethe. Schiller gestaltet aber kaum jemals Szenen der Übereinkunft, so gut wie keine der Umstimmung. »Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort«, lässt er seinen Feldherrn Wallenstein in dem berühmten Streitgespräch mit Max (Piccolomini) als dem reinen Idealisten, hier auch dem Vertreter des ›Guten‹, dozieren (Wallensteins Tod, II,2). Der »reine« jugendliche Held sträubt sich zu begreifen, dass hier gar nichts mehr zu argumentieren sein soll: Wallenstein hat schon »entschieden« und gehandelt. Umso reiner ist der Ertrag an Prinzipien, die die beiden austauschen. Wallenstein bemüht sich kaum, den jungen Heißsporn (bisher sein liebster Offizier) umzustimmen – immerhin sagt er in seiner letzten Replik einmal »Wir«.7 Max dagegen redet dem verehrten Feldherrn eindringlich ins Gewissen. Er sucht die rechte Sprache für den, dem er bisher blind folgen konnte, aber er kommt nicht umhin, wenn auch mit Skrupeln, Wallensteins Entscheidung als »Verrat« zu brandmarken. Die beiden Gesprächspartner bleiben getrennt. Der Redeaustausch aber macht immerhin hörbar, wie diametral verschieden sie denken und aus welchen Gründen.8 »Dialogizität« lässt sich dieser Stelle und dem ganzen Drama, ja gut gebauten 7
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Genauer, da Schiller die Worte an dieser Stelle sehr genau gesetzt hat: Er sagt »Wir« zunächst für sich und seine Gefolgsleute; erst im nächsten Satz wirbt er um Einstimmung mit seinem Gegenüber: »So laß uns …«. Die Crux der Stoffwahl zeigt sich an dieser Stelle in Reinform: Schiller sympathisiert bei weitem mehr mit Max’ Position, während für Wallensteins Entscheidung höchstens die Hochachtung vor einem geistigen Akt übrigbleibt, der moralisch gar nicht zu rechtfertigen, nur aus der komplexen Achtung vor dieser großen historischen Figur (aber auch eines Spielers) denn doch anzuerkennen sein soll.
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Gesprächskünste. Goethes »Wahlverwandtschaften« neu erwogen
Dramen überhaupt nicht absprechen. Es ist nur eine markant andere Dialogizität als die des Romans. In der lyrischen Dichtung sind Zwiegespräche selten. Wo sie vorkommen, dienen sie kaum der Einwirkung des einen auf einen andern, vielmehr der gegenseitigen Versicherung einer schon bestehenden Übereinstimmung. Shakespeare hat in dem zweistimmigen Preis der gelösten Stimmung im Eingang des Schlussakts seines Kaufmanns von Venedig (V,1), im Kontrast zum bedrohlichen Verhalten in der Handelsstadt Venedig mit ihren Fallen und Tücken, ein unübertroffenes Muster eines solchen Zwiegesangs gestaltet. Lorenzo und Jessica preisen die Nacht als die Zeit für Liebespaare und fügen sich selbst, nur um eine ganze Nummer leichtfertiger, in diese vornehme Reihe ein. Mörike bezeichnet in seinem »Gesang zu zweien in der Nacht« die Stimmen, die auch bei ihm »schwärmen«, nur mit »Sie« und »Er«, lässt aber durch den Gesang die beiden Stimmen geradezu eins werden.9 Brecht lässt einen seiner schwerblütigen und leichtfertigen »Männer von Mahagonny«, immerhin den besinnlichsten von allen: Paul, zusammen mit einem der Mädchen aus Begbicks Bordell, immerhin die aufgeschlossenste und entschieden »seine«: Jenny, den immer wieder bewunderten Zwiegesang von den Kranichen anstimmen.10 Albert Meier immerhin hat zusätzlich zu den reichlichen Dialogen in den Wahlverwandtschaften auch eine Reihe von »Korrespondenzen« (zwischen den eingebauten Motiven) ausgemacht und begründet damit seine These von einer »Lyrisierung des Erzählten«.11 In Balladen spielt das Aufeinandereinreden und z.T. auch Aufeinandereinwirken eine größere Rolle. In Bürgers unübertroffener »Lenore«12 löst sich die verzweifelte junge Frau erst von ihrer Mutter13 und folgt dann in voller, aber ganz und gar 9 10 11 12 13
Mörikes Werke Bd. 1, S. 458. Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Bild 14, Brecht Werke Bd. 2, S. 535f. A. Meier, S. 123-5. Bürgers Gedichte, hg. E. Consentius, o.J., S. 139-145. Die Mutter (typisch Mutter, sollen wohl die Leser denken) legt ihr mit ihrem dreimaligen »Hilf Gott, hilf« erst das Vaterunser und das »hochgelobte Sakrament« nahe und möchte dann wenigstens Gottes »Gericht« über diese strafwürdige Tochter aufhalten.
Ein leuchtender Roman aus einer finsteren Zeit
trügerischer Übereinstimmung ihrem Liebsten, bis sie realisiert, dass der tot ist – vor ihren Augen verwandelt er sich gar in den Tod selbst. Goethes nicht weniger berühmte Ballade »Erlkönig« gestaltet ein inniges Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn, das aber zunehmend vom Schrecken bis zu unerträglichem »Grausen« durchsetzt und ausgehöhlt wird.14 Die beruhigenden Worte des Vaters erreichen den Knaben immer weniger, statt dessen setzt ihm eine heimliche Stimme zu, die er mit dem (offenbar aus Kindermärchen bekannten) »Erlkönig« identifiziert und die ihm verführerische Spiele und Tänze vor Augen rückt. Als die Verführung nicht wirkt, droht »Erlkönig« ihm offen mit »Gewalt«, und damit ist es um den Jungen geschehen. Dramatisch sind die Balladen, gerade in ihrer »Dialogizität«, und sie gestalten auch eine auf den Angesprochenen einwirkende verführerische Kraft des Wortes. Aber die Verführung wie die Bedrohung wird mit sehr anderen Mitteln bewirkt als in der Prosa des Romans. Vergessen wir nicht die literarische Gattung, die direkt nach dem »Dialog« benannt ist und ganz und gar aus Wortaustausch besteht: »Göttergespräche«, »Totengespräche«, »Freimaurergespräche« u.a. Hier bekommen wir von den kaum handelnden, nur redenden Personen nur das zu sehen, also zu lesen, was sie miteinander austauschen, sei es kontrovers oder übereinstimmend. Das Hin- und Herreden dient hier aber einem deutlichen Zweck: Ein Gegenstand / eine Streitfrage / ein Problem soll geklärt werden, und beide Partner geben sich gemeinsam dem Gang der Untersuchung oder des Streits hin. Wegen der geringen Charaktergestaltung der mit- oder gegeneinander argumentierenden Stimmen wird der ›freie‹ Dialog häufig nicht oder nur halb zur »Literatur« gezählt. Das hat auch seine Berechtigung, aber gerade als Muster des Redeaustauschs hat er seinen eigenen Reiz, wie auch seine eigenen Tücken. So lässt sich nicht die Dialogizität schon als solche für den Roman reservieren. Vielmehr wird es darauf ankommen, die für den Roman, für den Roman der Goethezeit und dann für diesen Roman spezifische Form des in Worte gekleideten Mit- und Gegeneinanders genau14
Goethe Bd. 1, S. 100f.
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Gesprächskünste. Goethes »Wahlverwandtschaften« neu erwogen
er zu betrachten. Wie also legen in Goethes Wahlverwandtschaften die verschiedenen Charaktere sich selbst in ihre Worte? Wie und mit welchem Erfolg suchen sie beim Reden aufeinander einzuwirken? Wie viel an Welt, von der ›kleinen Welt‹ dieses einen ausgedehnten Guts und von der ›großen Welt‹ der Sitten und Gewohnheiten, dahinter auch der Gesetze, wird in dem Hin- und Herreden greifbar, womöglich überwältigend? Was für Redekünste bringen sie überhaupt zusammen, die vier so ungleichen Charaktere, die im Vordergrund stehen, und die sporadisch bei ihnen eintreffenden Gäste sowie Mittler? Es ist zu vermuten, dass es ein sehr aparter Redeaustausch ist – er soll hier näher betrachtet werden. In Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften begegnet uns das menschliche Leben in der Form von Leben-im-Roman: als in Wörtern errichtete Simulation von Existenz(en). Der Roman war im 18. Jahrhundert und ebenso noch danach eine beliebte Form, sich Menschenleben auszudenken, ja sich in sie hineinzudenken. Goethe griff mit besonderer Vorliebe auf Diderots philosophische Romane zurück, in denen die Helden völlig im Zwiegespräch präsent sind. Auch wenn dieses Gespräch wie in Rameaus Neffe ganz und gar zwischen zwei feststehenden Partnern verläuft, greift es doch durchgehend auf Verhältnisse »der Welt« (der Gesellschaft) und der Kunst, hier vor allem der Musik aus, dabei auch auf die Kunst der Erziehung und zudem auf die tägliche Übung, zur eingerissenen Malträtierung der Kunst gute Miene zu machen.15 Ebenso bezog er sich auf den unveralteten Don Quijote von Cervantes, in dem die gesamte zeitgenössische Wirklichkeit des 16. Jahrhunderts im Zwiegespräch zwischen dem Ritter und seinem getreuen Knappen präsent, aber von dauernden Digressionen in die Welt des damals noch lebendigen Aberglaubens durchzogen ist. Im Deutschen gab es ein halbes Jahrhundert vor Goethes Roman ein literaturtheoretisches Grundbuch, in dem der Roman zu neuen Ehren gebracht wurde, seine dialogische Lebhaftigkeit allerdings nur zaghaft 15
Nicht zuletzt deshalb hat Goethe diesen Dialog auch übersetzt – und ihn dadurch für ein Jahrhundert der interessierten Öffentlichkeit erhalten. Er pries ihn als ein »Juwel«.
Ein leuchtender Roman aus einer finsteren Zeit
auf die halbe Höhe der als Muster geltenden Spannung des Dramas gerückt wurde: Blanckenburgs Versuch über den Roman:16 »Die Äußerung der Leidenschaften fodert Worte, fodert Rede«; »Warum sollte, in heftigen Situationen, dem Romandichter der Dialog – wenigstens der Monolog verwehrt seyn?« So vorsichtig musste Goethe an seinen neuen Roman nicht herangehen. Er hatte bisher zwei große Romane der literarischen Öffentlichkeit präsentiert, von denen der eine von aller Welt verschlungen worden war, der andere von der Fachwelt hoch geschätzt wurde. Sein neuer Roman, eben die Wahlverwandtschaften, ist erfüllt von lebhaftem und tief engagiertem Redeaustausch. Von dem höflichen, in Restbeständen noch liebevollen Hin und Her zwischen den Ehegatten Eduard und Charlotte zieht sich das Gespräch über eine Reihe von kleinen Kontroversen zwischen ihnen, über die Einbeziehung der beiden Dauergäste Hauptmann und Ottilie, die die Gesprächskonstellationen vermannigfaltigt, über das werbende, ja vereinnahmende Sprechen des reifen Hausherrn mit der jungen Geliebten, über heftige Streitgespräche, in denen er seine Leidenschaft gegen die Einsprüche Charlottes, Mittlers und seines Freundes zu verteidigen sucht, bis zum Höhepunkt, den »entschiedenen freien Küssen« in der (äußerlich) idyllischen Landschaft am See, unmittelbar vor der Katastrophe, auf die viele Handlungs- und einige Redesequenzen hinauslaufen. Anschließend liefert Ottilie, jetzt die Hauptperson, ihrer Tante eine klar durchdachte Umorientierung ihres Lebens mit dem Versprechen, Eduard künftig zu meiden, das sie in der entscheidenden Situation nicht anders umzusetzen weiß als durch völliges Verstummen. Die letzten immer noch zahlreichen Gespräche drehen sich um den (vergeblichen) Versuch, dieses Schweigen aufzulösen, und um den Umgang mit der sich mehr und mehr entziehenden, schließlich der toten Ottilie. Viele Worte werden in allen Phasen dieses dramatischen Geschehens aufgeboten, aber das Leben dieser liebenswürdigsten von allen Romanfiguren Goethes lässt sich weder durch Reden noch durch sonstige Fürsorge retten.
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Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, 1774, Nachdruck 1965.
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Gesprächskünste. Goethes »Wahlverwandtschaften« neu erwogen
Längst nicht immer wird das Gesprochene so aufgenommen, wie es gemeint ist. Als Charlotte Eduard zusetzt, es sei jetzt (nach der Abreise des Hauptmanns) Zeit, »wieder völlig in den alten Zustand« zurückzukehren (I,16), weiß er erst gar nicht, was sie eigentlich von ihm verlangt. Der Erzähler liefert prompt die Erklärung dazu: Eduard »vernimmt« überhaupt nichts als nur das, was seiner Leidenschaft »schmeichelt«. Dieser Erzähler fährt hier richtig schweres Geschütz auf: »Ein ausgesprochnes Wort ist fürchterlich, wenn es das auf einmal ausspricht, was das Herz lange sich erlaubt hat«. Aber auch dieser furchtbaren Einsicht sucht Eduard »auszuweichen«. Er rettet sich in die Empörung über die lieblose, die »ausgedachte« Sprache seiner Frau. Als ihm allmählich die eingreifenden Pläne seiner Frau durchschimmern (jetzt schwant ihm gleich Fürchterliches), entschließt er sich, abzureisen und in den Krieg zu ziehn. Zusätzlich zum Redeangebot der beiden Gastgeber – der Hauptmann richtet kein Wort an Ottilie, die doch hier zu Gast ist wie er – und zu den meist sparsamen, doch durchweg einlässigen Erwiderungen Ottilies spielen Selbstgespräche, von ihr wie von Charlotte und Eduard, eine wichtige Rolle. Eine Fortsetzung finden sie in Ottilies »Tagebuch«: einem Sammelsurium aus Überlegungen, Einsichten, Vorsätzen und Vorschlägen, Lieblingsvorstellungen, Selbstbesinnungen, Erwägungen über das Reden selbst, über die Sinne, immer wieder über die »rechte Erziehung«, über die Kunst und die Künste, ab und zu Reaktionen auf das Verhalten ihrer Gastgeber und einzelner Gäste, auf den Gang der Natur von »unsren echten Kompatrioten« in der belebten Natur: bis zum »unvergleichlichen« Gesang der Nachtigall (II,9),17 vorgreifende Gedanken über den Tod, auch ihren eigenen. Immer wieder stoßen ihre Gedanken auf »die Freunde«, mit denen sie jetzt ihr Leben teilt. Sie schreibt auch manchmal Briefe, zumal seitdem sie verstummt ist, und sie nimmt sich vor, »originelle« und »geistreiche« Wendungen aus Briefen zusammenzutragen, um immer wieder darauf zurückgreifen 17
Es ist nicht wenig, was die Natur sie lehrt: die Natur als »Buch des Lebens« (eine Übertragung von der kanonischen Autorität: der Bibel, auf die Belehrungsinstanz der Aufklärung).
Ein leuchtender Roman aus einer finsteren Zeit
zu können (II,9). Wenn sie durch viele Kapitel hindurch (wenigstens im Vergleich zu den anderen) wortkarg erscheint, macht sie es respektive macht es der Erzähler wett durch ihre einfallsreiche, auf die Welt und ihre Umgebung ausgreifenden Bemerkungen in ihrem »Tagebuch«. Sie schreibt aufrichtig, was sie denkt und fühlt, während Charlotte ihre Briefe eher strategisch einsetzt und Eduard konziliant klingende Versprechungen aufschreibt, an die er schon im Moment des Schreibens nicht glaubt.18 Dass die Hörer aus einer Rede etwas anderes heraushören, als die Sprecher gemeint haben, wird an der Präsentation der Novelle »Die wunderlichen Nachbarskinder« durchgespielt (II,10, II,11). Der Begleiter des Lords wollte nach einem Kaleidoskop von »sonderbaren« bis »furchtbaren«, allerdings auch »rührenden« Geschichten mit einer »sanften Begebenheit« schließen, aber er »ahnete nicht«, dass er damit bei Charlotte in eine schmerzende Kerbe hieb. Sie ist denn auch »höchst bewegt« und verlässt die Erzählrunde »mit einer stummen Entschuldigung«. Wie sehr auch immer das Weitererzählen die Vorgänge entstellt hat, der Kern blieb unverkennbar. Es muss die Hörer, die einst (mindestens vom Hörensagen her) daran teilgenommen haben, tief betroffen machen, wenn sie hören, wie Fremde sich einen solchen Vorfall zurechtlegen, und zwar um eine ›Geschichte‹ zum Erzählen daraus zu gewinnen.
Konversation auf Französisch Die Sprache der Konversation war damals, wie schon weitgehend im 18. Jahrhundert, das Französische. Hier wird diese Mode ab und zu direkt benannt, und laufend wird das Bewusstsein dieses Umschaltens
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Er wolle »der Genesung« (nämlich von Ottilie abzulassen) »nicht widerstreben«, wenn sie sich ihm »anbietet« (I,16). Das schreibt er so hin, aber in seinem »Herzen«, von dem er sich hier einzig noch regieren lässt, dominiert der gegenteilige Wunsch.
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Gesprächskünste. Goethes »Wahlverwandtschaften« neu erwogen
wachgehalten, indem der Erzähler eine lange Kette von Fremdwörtern aus dem Französischen in die Konversation einfließen lässt. Ca. 140 solche Wendungen lassen sich zählen; einige wie »akkompagnieren«, »kollationieren« (in sehr anderer Bedeutung auch »Kollation«), »überparlieren«, »refraktär«, »Repositur«, »Apprehension«, »Deklamatorium« fallen besonders auf. Die weitaus meisten dieser französischen Vokabeln werden im persönlichen Gespräch, eben der »Konversation«, gebraucht. Der praktische Zweck dieses Umschaltens in eine fremde Sprache ist deutlich und wird (vermutlich wieder auf Französisch) klar benannt: Die Bedienten sollen nicht verstehen, was die Herrschaften untereinander auszutauschen haben (I,10). Aber auch wenn sie allein sind, z.B. Charlotte mit Ottilie, reden sie französisch, und Charlotte freut sich, dass Ottilie in der fremden Sprache »gesprächiger« ist als auf Deutsch. Sie sagt sogar »oft mehr, als sie zu wollen schien« (I,6 – was allerdings, wird nicht verraten). Französisch war halt die Sprache der feinen Welt, es wurde deshalb im deutschen Adel, auch im Landadel, mit Verve gepflegt. Außerdem ist Französisch gut auch zum Schäkern und Flirten. Keine Angst, sagt der junge Goethe (schon als Student in Leipzig): Wenn es ernst wird, geht es auf Deutsch weiter. Hier aber, in diesem Roman, scheint das Stocken ganz ans Deutsche gebunden und, nach dem wiederholten Verstummen Ottilies, das Wiederflottmachen, das gefällige »Parlieren« ans Französische, so dass wir allen Grund haben, dem Sprachengenie Goethe dankbar zu sein. Immerhin kommen auch ungewöhnliche Wendungen auf Deutsch vor, mit denen eine französische Vokabel vermieden werden soll, etwa »einerlei« statt egal (I,2 u. ö.), auch »Einung« (I,4), »Selbstler« statt Egoist19 (I,14), gesetzte Herren werden als »die Bedächtlichkeit« tituliert (II,4) und Ottilie freut sich schon auf die Händel der »jungen Aufschößlinge« (II,15) in ihrer »Pension« (die sie dann allerdings nie erreichen wird). Zum Charakter Mittlers passt es, dass er Fremdwörter jeglicher Herkunft meidet. Der Erzähler verfällt selbst in den etwas altertümlichen deutschen Jargon, sowie er den ständig beschäftigten Mittler auftreten lässt: 19
Auch »Selbstigkeit« kommt vor, in Charlottes nachträglichem Abwägen über das Wesen ihrer Tochter Luciane (II,6).
Ein leuchtender Roman aus einer finsteren Zeit
»spornstreichs«, er »sprengt« in den Schlosshof usw., oder wenn er gar seine Rede »losbrechen« lässt: »verdrießlich«, »Mord und Todschlag«, ein »heimliches Gericht« (II,18).20 Die Sprache des Romans wirkt durch diesen Unterstrom von Wendungen aus dem Französischen streckenweise betont altmodisch, wie vor der französischen Revolution, als das Französische auch in Deutschland noch die vorherrschende Sprache der guten Gesellschaft war. Immerhin hat auch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts die französische Besatzung, zumal die Anwesenheit des Empereurs Napoleon, einen mächtigen Druck zum Gebrauch dieser anerkannt eleganten Fremdsprache ausgeübt. Auch die beiden Engländer sprechen Französisch, nur ein »eigens akzentuiertes« (II,10).21 So müssen wir uns die berühmte Novelle (II,10) vermutlich auf Französisch vorgetragen vorstellen. Die zahlreichen französischen Vokabeln geben, ebenso wie die meisten Auftritte Ottilies, diesem Roman ein eigenes Flair. Der dies geschrieben hat, denkt über die engen Verhältnisse im damaligen Deutschland hinaus. Wer es liest, soll ebenfalls seinen Horizont ausweiten, auch sprachlich.
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Von diesen alt-deutschen Wendungen kommen allerdings die meisten in der Romanhandlung außerhalb des Gesprächs zwischen den Figuren vor. Englische Vokabeln und Fremdwörter aus dem Englischen spielen dagegen nur eine marginale Rolle – obgleich der Roman ein englisches Stilideal verwirklicht (schon der »Roman« als solcher ist eine englisch geprägte Gattung, zumal einer, der dem Muster des »novel of manners« folgt) und obgleich zwei Gäste aus England die Serie der wichtig genommenen Besucher schließen, vom englischen Ideal der Landschaftsgestaltung noch zu schweigen.
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Die vier Hauptpersonen in den Eigentümlichkeiten ihres Austauschs miteinander
Auffällig ist von Anfang an, dass die Rollen in diesem Roman nicht oder kaum ständisch bestimmt sind – eine Ausnahme macht nur Eduard in seinem Beharren auf seiner Befehlsgewalt gegenüber Bürgern wie Bauern. Die Gestalten stehen sich vielmehr durchweg so gegenüber, wie sie von Natur bestimmt sind, in erster Linie als Mann und Frau.
Eduard Halten wir uns an die Reihenfolge, in der Goethe seine Hauptpersonen auftreten lässt: Eduard schon gleich im ersten Satz. Eduard ist in der Art, wie er mit seiner Frau und seinen Gästen spricht (den ständigen Gästen Hauptmann und Ottilie und denen, die zu kürzeren Besuchen eingeladen sind oder sich von sich aus einstellen) der große »Selbstler«. »Der Mensch ist ein wahrer Narziß«, stellt er in dem naturkundlichen Gespräch fest, das sich sukzessive als tief bedrohlich-prognostisch erweisen wird (I,4): »er legt sich als Folie der ganzen Natur unter«. Da spricht er ganz und gar von sich selbst, wie er überhaupt sein Ego zum Maßstab für alles nimmt, was er »dem Menschen« zuschreibt. Wie er die eigene Person, insbesondere im Schlachtgetümmel, zum »Zeichen«
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einsetzt, auch aufs Spiel setzt, das verrät einen hochgradigen Fetischismus, ja pure Hybris.1 Er ist von Adel und er bemüht sich, edel zu denken. So umgibt er sich überwiegend mit Adligen. Dass seine kleine Welt auch nicht wenige Nichtadlige umfasst, kann er natürlich nicht übersehen, aber sie sind dazu da, ihm oder ihnen, dem bevorrechteten Kleeblatt, zu dienen – die Bauern: ihm seinen Lebensunterhalt zu verschaffen, das Gesinde: ihm diesen Unterhalt kau- und trinkfertig zu servieren, die Gäste: ihn und seine kleine Runde zu unterhalten und möglichst noch bei der Verschönerung von Garten und Park zu helfen. Usw. »Ich mag mit Bürgern und Bauern nichts zu tun haben, wenn ich ihnen nicht geradezu befehlen kann«, so bestimmt er sein Verhältnis zu den »Untergebenen«, und der Hauptmann stimmt ihm hier einmal voll zu, nur entschieden verklausulierter (I,6). Dass ein »Bettler« in seinem engen Gesichtsfeld auftaucht und ihm auch noch, »gegenscheltend«, Widerworte gibt, macht ihn völlig konfus. Er ruht nicht, bis er sich diese unerfreuliche Erscheinung gänzlich vom Hals organisiert hat. Freilich will es ihm nicht gelingen, diesen Bettler loszuwerden. Mindestens zweimal läuft der ihm noch über den Weg: wird in sein überschwängliches Glück einbezogen (I,15) und erinnert ihn »schmerzlich« an das gewesene Glück, als seine Stimmung schon umgeschlagen ist und er sich trübsinnig (für ein ganzes Jahr, auch wenn er das nicht von vornherein wissen kann) von seinem Gut entfernt (I,16). Der Guts- und Schlossherr dilettiert am liebsten in der Verbesserung des ausgedehnten Gebiets seines Gutes.2 Also bildet auch der Meinungsaustausch über die vorzunehmenden Verschönerungen, die anzubringenden Bequemlichkeiten die nächstliegende, gewissermaßen gediegenste Partie seiner Konversation, am meisten mit dem Hauptmann. Anfangs (I,3) treiben die beiden Freunde auch noch weitere »ritterliche Übungen« wie »Jagen, Pferdekaufen, -tauschen, -bereiten und -einfahren«; die treten dann zurück. Die Wegeführung 1 2
So Hartmut Böhme in: Greve (hg.), passim. Richard Faber hat diese adlige Vorliebe am Fall Eduards und seiner Gäste gründlich auseinandergepflückt, s. Literaturverzeichnis.
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soll übersichtlich und auf den maximalen Genuss ausgerichtet sein. Nach den Andeutungen des Hauptmanns sieht er rasch ein, dass dessen großzügigere Façon der Parkumgestaltung der zaghaften von Charlotte überlegen ist. Eduard kann nicht umhin, das seiner Frau alsbald zu stecken, und dann ist er höchlichst verwundert, als sein Freund das nicht gutheißt (I,7). Eduard ist auch die treibende Kraft und setzt es schließlich durch, dass das zu »enge« Gespann, das er mit Charlotte bildet, erweitert und die beiden Dauergäste eingeladen werden. Am Anfang (I,1) ist die Idee dazu, die Vorstellung, wie schön das werden müsste, so lebhaft in ihm, dass er sich beim Plädieren die Stirn reibt.3 Eduard gilt als ein tapferer, jedenfalls ein resoluter Mensch. Dass er sich in den Krieg stürzt, obgleich ihn nichts dazu zwingt, obgleich er auch kein Offizier ist wie der Hauptmann, wird ihm von allen, die es erfahren, hoch angerechnet. Er macht sich auch auf wie ein Dragoner: rasch weg von allen Lieben, und dann »schwang (er) sich aufs Pferd«. Aber: Der Kammerdiener hat schon einen Reisewagen gepackt, der ihm nachrollen wird. Er hat die erforderlichen Utensilien zusammengerafft und kommt nur wegen einiger Kleinigkeiten nochmals in den Salon. So leicht scheint es nicht zu sein, dem eigenen Stand und dessen Repräsentationspflichten (mit dem praktischen Sinn: Versorgung mit dem Nötigsten) zu entrinnen. Als das bedeutendste Erlebnis seines Lebens wird herausgestellt, dass er sich, obgleich schon beträchtlich in den Jahren, hemmungslos in die junge frische Ottilie verliebt. Diese Liebe und die Art, wie Ottilie sie ihrerseits erwidert, füllt den Roman bis an den Rand. Die Gespräche und Monologe darüber, die begleitenden Zeichen sowie Eduards Ausdeutung der »Zeichen« (er sucht sie von vornherein als »günstig« zu 3
Peter von Matt ((1), S. 266f.) sieht in dieser an sich harmlosen, unverdächtigen Geste eine Anspielung auf das große Hirschgeweih, das Ruprecht in Kleists Zerbrochenem Krug auf seiner Stirn wachsen fühlt (weil er im Verhältnis zwischen »seiner« Eve und dem Richter Adam etwas strikt Unerlaubtes argwöhnt). Matt verweist darauf, dass Goethe wenige Wochen vor Beginn seiner Arbeit am Roman diesen Zerbrochenen Krug in Weimar hat aufführen lassen. Die Anspielung aber ist wenig zwingend; auch ohne sie wirkt die Geste hinreichend markant.
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feiern) machen den zentralen Gegenstand der Handlung wie der darin eingebauten Reflexionen aus. Begonnen hat diese Liebe einigermaßen harmlos: Als »wahrer Augentrost« erscheint sie ihm ebenso wie seinem Freund (I,6), und noch im folgenden Kapitel wird lediglich »eine stille freundliche Neigung in seinem Herzen« konstatiert. Bald darauf aber, gleich nachdem er das störende Miniaturbild ihres Vaters, das sie ständig um den Hals hängen hatte, beseitigt hat (I,7, s.u.), kennt er keine Hemmung mehr. Erscheut selbst sophistischen Kniffe nicht, um diese ihn beseligende Liebe zu genießen und zu rechtfertigen. Selbst wenn er sie einen »Wahn« nennt, postuliert er im gleichen Atemzug sein Recht, in einer solchen Wahnwelt zu leben. Dabei kommt er in seiner ungewohnten Liebe nicht voran. Manchmal sucht er es durch Rhetorik zu überspielen, so wenn er sich nicht mit der »Geliebten« begnügt,4 sondern zum Ausdruck »Geliebteste« greift5 – ausgerechnet in seinem Brief im Wirtshaus (II,16), das ihm den totalen Tiefpunkt seiner Liebe beschert. Eine »Evangelische Kirchenzeitung« sieht diesen Gutsherrn, ein Dutzend Jahre nach Erscheinen des Romans, als »reichen, verzogenen und verwöhnten Sanguiniker, ja sogar ein sanguinischer Geck«.6 Um sein Begehren kreisen seine eigenen Gedanken und, notgedrungen, auch die aller Mitspieler. Bis er die »liebenswürdige« und noch reservierte Ottilie dazu gebracht hat, dass sie sich von dem (offenbar zum Schutz umgehängten) Porträtbild ihres Vaters trennt (I,7), braucht er ein paar Tage, und bis die beiden endlich die ersten »entschiedenen freien Küsse« wechseln (II,13), vergeht ein ganzes Jahr. In seiner Liebe wird dieser Eduard als Romantiker reinsten Wassers gezeichnet, nur dass er nie da ankommt, wo die Romantiker ihre großen Lieben lokalisieren: »Jeder geliebte Mensch ist der Mittelpunkt eines Paradieses«.7 Er will immer nur das eine: Ottilie, ihre Liebe, einen festen Bund mit
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Merkwürdigerweise hat er das Wort in seiner Grundform nie gebraucht, nur xoft gedacht und gefühlt. Der Erzähler sekundiert an dieser Stelle mit: »sein Höchstersehntes«. Rezension in der Evangelischen Kirchenzeitung, Juli 1831, zitiert bei Reiss, S. 371. Novalis, Aphorismen, hg. Michael Brucker, 1992, S. 51.
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ihr; das unerfüllte Begehren hat soviel Reiz für ihn, dass er es gern dabei belässt. Der Erzähler legt außerdem Wert darauf, dass das andere ›Paar‹ vorangegangen ist, Charlotte mit dem Hauptmann, und dass die beginnende »stille freundliche Neigung« in Eduards Herzen erst »die Folge« bildet (I,6, I,7). Aber bald hat er, er vorweg und in Reaktion auch Ottilie, die beiden Bedächtigen hinter sich gelassen. Schon in der verhängnisvollen Aussprache über die »Wahlverwandtschaften« in der Natur (die wechselwilligen Elemente) hatte er sich am entschiedensten für das Wagnis ausgesprochen, und auch weiterhin spielt er gern va banque, sieht die Ersehnte schon als sein Eigentum an. Eduard geht aufs Ganze, d.h. das möchte er gern. Die andern bemerken es ab und zu und sehen sich dann an, zunächst noch mit weise-abgeklärtem Lächeln (I,8 u. ö.). Ottilie hat sich gleich bei ihrem ersten Auftritt als die ganz und gar Schweigsame eingeführt. Eduard ist das zunächst gar nicht aufgefallen: Ihm reicht es schon zum »Gespräch«, wenn ein anderer ihm nur zuhört, aber »aufmerksam«. Als Charlotte ihn deshalb aufzieht, muss er sich einen Moment »besinnen«,8 dann hat er die rechte Antwort parat: »das wäre doch wunderbar.«9 Die Besinnung kann sich nur darauf richten, was er selbst am Abend zuvor (alles) gesagt hat.10 Wenn er sich das vergegenwärtigt, dann bleibt es für ihn erstaunlich, dass er das alles selber zum Besten gegeben haben soll, nur ermuntert oder geradezu angestachelt durch die aufmerksam zuhörende (ihm noch so gut wie unbekannte) junge Gesprächspartnerin. Mit dieser mittlerweile bleibenden jungen Frau sucht Eduard nun so ›verbindlich‹ wie möglich zu sprechen. Er bemüht sich um eine Verbindung mit ihr; im Kopf hat er schon bald eine ›Verbindung‹ für alle Zeit. Darum muss er alles durchprobieren, was die Verbundenheit zwischen ihnen stärken und überhaupt erst herstellen kann: von der Auslieferung des Porträtbilds ihres Vaters (I,7) über den Einklang beim Musizieren, beim Schreiben bis zu
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Sein »So?« markiert hier eine sehr offene Frage: Er wirkt total verdutzt. Doch nur für einen Moment, dann hat er sich wieder gefasst. Im damals vorherrschenden Sinne von ›sonderbar‹. Was es war, wird den Lesern vorenthalten.
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dem geheimen, aber ›natürlich‹ nicht geheim bleibenden Briefwechsel mit ihr, als er merkt, dass Charlotte dem mündlichen Austausch der beiden »Hindernisse«, und zwar »sehr hohe«, in den Weg legt (I,13). Zu Ottilies Geburtstag (I,15) findet er es an der Zeit, das so oft Versicherte und Beschworene öffentlich in die Tat umzusetzen. So brennt er sein Feuerwerk11 nur für sie ab, so hätte er das neue Haus am liebsten mit ihrem Namen (aus Blumengirlanden) geschmückt. ›Antwort‹ von Ottilie bekommt er eher durch ihr Verhalten als in ausgesprochenen Worten. Sie passt auf dem Klavier ihr Tempo seinem schwankenden Vortrag auf der Flöte so meisterhaft an, dass »der Komponist selbst« sich gefreut hätte (I,8). Sogar ihre eigene Handschrift gibt sie auf und schreibt ganz so, wie Eduard schreibt (I,12) – im Roman geht manches, was in der Wirklichkeit verteufelt schwer oder schlechterdings unmöglich wäre. Als er die Angleichung der Handschrift bemerkt, er findet darin ein weitgehendes Entgegenkommen von ihr, schwillt seine Leidenschaft so an, dass er die halbe Nacht nicht schlafen kann. Er ergeht sich draußen, in seinen Gärten (»zu eng«), in seinem Feld (»zu weit«), bis er, wen wundert es?, unter Ottilies Fenstern landet. »Eine Serenade ohne Musik«.12 Die ganze Nacht bleibt er draußen. Seine Stimmung setzt sich noch am anderen Morgen fort, aber jetzt verbindet sie sich mit seinem ungeduldigen Wesen als herrischer Gebieter. Sein ganzes Wesen »strömt gegen Ottilien«, haltlos, »maßlos«,13 und dementsprechend zieht der Erzähler die Schleusen seiner Prosa und lässt seine Sätze frei dahinfließen (allerdings nicht zerfließen). Eduard schwärmt von der stillen Schönen, verehrt und verherrlicht sie, er verzehrt sich in seiner Liebe – von der er nie sicher sein kann, ist es zugleich auch ihre oder ist es nur eine Einbildung von ihm? »Liebe« soll ja nicht nur eine Emotion, sondern eigentlich eine Tätigkeit sein. Beide aber lassen sich schwer steigern. Im Gespräch mit Mittler (I,18) versucht es Eduard: »– bis ich
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– unterfüttert durch sein Gefühl: »sein Busen brannte« (I,15). G. Neumann in: Erzählen und Wissen, S. 16. Kein Gedanke also an »das Maß«, das etwa Fritz Strich als ein oder das Hauptkriterium der »klassischen Dichtung und Ästhetik« definiert: F. Strich, S. 31 und passim.
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sie liebte und ganz und eigentlich liebte«. Er sucht alle geringeren Stufen zu überspringen und schreibt sich ein unübertreffbares »Talent des Liebens« zu. Der Erzähler stellt sich versuchsweise auf Eduards Standpunkt und schreibt: »– das Gefühl, sein Höchstersehntes nahe sich« (II,16). »L’amour est la seule passion qui se paye d’une monnaie qu’elle fabrique elle-même«.14 Das Liebesdrama innerhalb dieses bürgerlichen Romans hat seine Höhe- und seine Tiefpunkte. »Die Wege der Liebe sind selten die kürzesten Verbindungen zwischen zwei Punkten; die gehen hin und her, kreuz und quer, winden sich als Serpentinen, drehen sich wie Spiralen, führen über Berg und Tal, durch Lust und Qual, scheinen Labyrinthe – besonders dem, der sie geht oder kriecht oder fliegt«.15 Am meisten fühlt sich Eduard »von solchen Wahrheiten getroffen, die man sich selbst verheimlichen wollte«.16 Ganz unverfroren hat er schon im Gespräch über die »wahlverwandten« Naturstoffe seiner Charlotte ins Gesicht vertreten: »die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken« (I,4). Dann wieder ganz lebhaft, wenigstens in der Gestikulation, beteuert er seiner Frau seine Zuneigung: springt auf und drückt sie an seine Brust, indem er sie zu seinem A erklärt, zu dem er als ihr O immer wieder zurückkehren will. Das war, wohlgemerkt, bevor Ottilie die Szene betreten hat (I,5). Danach wird er harsch, unfreundlich, dann argwöhnisch, nämlich als er sich von ihr »verraten« fühlt. Da kommt ihm selbst ihre »liebevolle Sprache« »ausgedacht, künstlich und planmäßig« vor. Hätte er (oder hätte sein Autor) das ›freie‹ und so überaus nervöse 20. Jahrhundert noch erlebt, so hätte er mit Karl Kraus seufzen können: »Das Familienleben ist ein Eingriff in das Privatleben«.17 Er droht seiner Frau (allerdings unbestimmt) für den Fall, dass sie Ottilie wegschicken sollte, und jetzt wird er einmal aktiv und verdingt sich in einem der Kriegszüge gegen einen damals europaweit dominierenden Eroberer
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Stendhal, De l’amour. 3. Buch, Nr. 144. Günter de Bruyn, Buridans Esel, 1991 (1/1968), S. 47. Friedl Beutelrock, Am Rande vermerkt. Neue Aphorismen, 1955, S. 44. Karl Kraus, Schriften (1986), Bd. 8, S. 67.
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(i.e. Napoleon). In seinem Abschiedsbrief gibt er immerhin (in Worten) zu, dass seine Hoffnung auf Ottilie ein »Wahn« ist. Sogar einer »Genesung«, also Rückkehr zu seiner früheren Bindung (zu Charlotte), will er nicht widerstehn, wenn sie sich bietet. Aber er glaubt nicht daran, er bringt es nur aufs Papier, damit Charlotte es liest. Sein »Herz« denkt anders. Charlotte wollte nicht wahrhaben, was der Graf den Ehen (den meisten) nachsagt: »etwas Tölpelhaftes«: »– man scheint sich nur verbunden zu haben, damit eins wie das andre nunmehr seiner Wege gehe« (I,10).18 De facto aber bietet gerade ihre Ehe mit Eduard ein Beispiel dieser trüben Einschätzung, und das nicht erst, seitdem Eduard aus dem Haus ist. Eduard macht sich immer etwas vor. In seiner Liebe immerhin erscheint er gänzlich als er selbst. Auch in seiner Bereitschaft, selbst anzupacken, und vor allem in seiner Lust am Wechsel: einfach weggehen, einem beliebten Kriegsherrn dienen, müssen wir wohl etwas für ihn Spezifisches sehen. In der Ausführung aber kreist er dann dermaßen um sein Ego, dass er die andern und ihre Bedürfnisse einfach vergisst. Ohne Abschied verlässt er die junge Frau, die er am meisten liebt, und lässt sie etwa ein Jahr lang ohne eine einzige Nachricht – wieder mal folgt er dem Muster des Narziss. Als er schließlich nach Beendigung des Feldzugs (und nach der erschütternden Begegnung mit Ottilie in dem fatalen Wirtshaus, s.u.) einmal wieder Charlotte gegenübersteht, leistet er gestisch Abbitte. Er »wirft sich vor ihr nieder, badet ihre Hände in Tränen«.19 Jede Erklärung in Worten aber verweigert er, flieht vielmehr in sein Zimmer, lässt den Kammerdiener für ihn reden, der doch weder im Feldzug noch in jenem Wirtshaus dabei war. Bei dieser Begegnung fühlt Eduard wieder »den Wert, die Liebe, die Vernunft seiner Gattin« – aber er ist »ausschließlich« von seiner Neigung zu Ottilie beherrscht. Was auch Charlotte ver-
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Gerade an dieser Stelle hat sie mit einer ihrer »kühnen Wendungen« das Gespräch abgebrochen. Die eheliche Beziehung hat eben trotz seiner Abirrung nicht einfach aufgehört, aber sie ist dünner geworden. Nur stoßweise in solchen sporadischen Ausbrüchen, gestisch eher als in Worten, wird sie mal wieder lebhaft.
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spricht, er traut ihr nicht. An dem »Wahn als ob alles beim alten sei«, strickt er kräftig mit, ja er am leidenschaftlichsten, er hat noch jeden Wahn für Wirklichkeit genommen (II,17). Als er nach dem Verlust Ottilies ganz geknickt ist: matt, lustlos, ohne Lebensmut, wird Charlottes Sorge an erster Stelle vor der des Freundes und des Arztes verzeichnet, doch alle sind vergeblich. Er stirbt im Bewusstsein, seiner Geliebten nachzusterben, obgleich er ihr das Gegenteil versprochen hatte. Eine Rückkehr zu seiner Ehegattin ist mittlerweile für ihn ausgeschlossen. Ein paar Wochen zuvor hat Eduard in dem Wirtshaus, in dem er Ottilie erwartet, den Tiefpunkt für seine Person und seine Liebe erlebt (II,16).20 Seine Vorbereitungen, mit denen er sie überraschen will, schlagen alle fehl. Was er sich zur Einstimmung ausgedacht hat, verselbständigt sich. Da er sich aus Ungeschick selbst in dem Zimmer eingesperrt hat, das für Ottilie reserviert ist (und in dem er sie möglichst nicht antreffen will, jedenfalls nicht gleich), muss er nun doch, was er um alles vermeiden wollte, ihr seine Anwesenheit erklären. So wird er peinlicherweise das Erste, was ihr in die Augen fällt. Der Brief selbst, in dem er sie auf sich vorbereiten will, läuft hinaus auf »Handgreiflichkeiten«.21 Eduard ist es, der das »furchtbare Schweigen« brechen will, aber sie bringt er zu keinem einzigen Wort. Immerhin liest sie seinen Brief, aber sie liest ihn nur und legt ihn stumm beiseite. Noch einmal, hatte er geschrieben, wolle er ihr die »schöne Frage« stellen, mündlich; er bittet sie, mit ihrem »schönen Selbst« zu antworten. Indem sie realisiert, was er verlangt hat, reagiert sie mit der großen feierlichen Abwehrgeste, die der Gehülfe schon (in seinem Brief, I,5) dargestellt hat: »schonen [Sie] Ottilien«. Die Nacht verbringt er weinend auf ihrer Schwelle. Als er am andern Morgen seine Frage dann noch mal anbringt, mündlich, »liebevoll und dringend«, bewegt sie »lieblich« »mit niedergeschlagenen Augen, ihr Haupt zu einem sanften Nein«. Das letzte Mal »Nein«, dabei bleibt es. Das Einzige, was er aus ihr herausholen kann, ist, dass es
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E. Boa (S. 90) zählt diese verunglückte Begegnung deshalb konsequenterweise als Ottilies »zweiten Unfall« nach dem Unglück auf dem See. Den Ausdruck bevorzugt Friedrich A. Kittler (S. 106).
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zum Ausgangsort zurückgehen soll, zu Charlotte in ihr Schloss (das eigentlich auch sein Schloss ist). Getrennt bewegen sie sich dahin zurück. Danach verbringen sie noch Wochen zusammen und finden nur Ruhe, wenn sie dicht beieinandersitzen. Sie brauchen sich nicht anzusehen, nicht zu sprechen, sich nicht zu berühren, das »reine Zusammensein« ist alles, was sie noch nötig haben. Aus den zwei doch höchst unterschiedlichen Menschen wird »ein Mensch [zu betonen: ein Mensch] im bewußtlosen vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt«.22 Rätselhaft, weiß Gott. Mehr als das kann uns der Erzähler auch nicht verraten. »Das Leben war ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden« (II,17). Anfangs (I,6) hatte sich Ottilie stumm eingeführt, und jetzt schweigen beide und finden darin eine unaussprechliche Zufriedenheit. Eduard ist und bleibt der große »Selbstler«: der Mann, bei dem sich alles um ihn drehen muss. Alle Einrichtungen, alle Veränderungen und persönlichen Beziehungen sieht er daraufhin an, was sie für sein persönliches Wohl zu bieten versprechen.23 In dem Quartett, das auf sein Betreiben zusammengeladen wurde, führt er sich auf als der große Egoist. Er genießt sich selbst und sein Gefühl. Er monologisiert viel, auch wenn einzelne andere, oder alle, zugegen sind. Mit »ganz recht« quittiert er immer mal wieder die Äußerungen seiner Partner: macht sie sich zu eigen und lässt durchblicken, dass er selbst schon ›darauf gekommen‹ ist.24 Dieter Schiller nennt ihn »fahrig« in seinen Unterneh22
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Sie reagieren fast wörtlich so, wie die Günderode es in einem ihrer Gedichte (»Die erste Klage«) beschrieben hat: »– der Liebe ewig Sehnen / Eins in zwei zu sein«, in: Gesammelte Werke Bd. 2, 1922, S. 14f. Offenbar hat er schon in seiner Jugendzeit nach dem Prinzip des erhöhten Genusses resp. des verminderten Schmerzes gelebt. Er erinnert sich hier, fast beziehungslos (II,17), dass er sich Stunden oder Tage zu früh von Freunden losgerissen habe, nur um es nicht zum letzten Termin zu müssen. Er distanziert sich jetzt von diesem »albernen Dünkel«, und in der Tat reißt er sich weder vom Hauptmann noch gar von Ottilie vorzeitig los (mit seiner Frau ist das eine andere Sache). Aber genussbezogen lebt er weiterhin, besonders Ottilie gegenüber. Vielleicht hat es sich aus dieser Haltung entwickelt, dass er Ottilie als Tote nie mehr aufsuchen mag. Beobachtung und Deutung von Wolfgang Binder, S. 139.
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mungen, weil »ohne echte Konzentration«.25 Das Monopol aufs Vorlesen behält er sich vor. Zwar räsoniert er gern über seine Liebe, gegenüber der Geliebten selbst wie gegenüber den anderen und sogar Mittler, aber er will auch diesen Zustand für sich haben – keiner kann so lieben wie er. Laut Hörisch ist »der Wunsch selbst und nicht seine Erfüllung das, was wir eigentlich wünschen«.26 Von Kind an hält er große Stücke auf sich: »Was konnte in der Welt seinem Willen entgegenstehen!« (I,2). Eine Einstellung, der 100 Jahre später Kafka so schroff widersprochen hat wie selten: »Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt!«27 Immer hat er eine Mutter gebraucht. Als er verheiratet wurde,28 hat eben die Frau (beträchtlich älter) ihn weiter verhätschelt wie eine Mutter. Von seiner jetzigen Frau, als er die konkurrierende noch nicht kennengelernt hat, hängt er ab wie das O vom A, so sagt er selbst. Egozentrisch wie er ist, kann er sich andere Menschen gar nicht anders denken als ebenso. Indem er »den Menschen«, d.h. bei ihm: sich selbst, zum »Narziß« stilisiert, bestimmt er zugleich Ottilie zu seinem (seiner) Echo; sie antwortet ihm ja auch in Tönen (I,8), in ihrer Schrift (I,9), in der Übereinstimmung ihres Gefühls mit dem seinen. Dass bei Ovid Narziss die nach ihm schmachtende Nymphe Echo gerade nicht liebt, braucht ihn nicht zu irritieren: Die beiden werden schon in der antiken Mythologie vielfältig aufeinander bezogen. Helmut Pfotenhauer bringt in Anschlag, dass die Echo des Narziss keine eigene Sprache hat als nur »das« Echo seiner Rede.29 Das wird aber für die Ottilie des Romans zunehmend aufgehoben; am Schluss ist eher Eduard von ihr abhängig. Dass die Hauptpersonen in der Reihenfolge ihres Auftretens gerade ein ECHO bilden, ist eine aufschlussreiche Beobachtung,30 es
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D. Schiller, S. 24. J. Hörisch (3), S. 84. Kafka, Historisch-kritische Ausgabe, hg. R. Reuß und P. Staengle, Frankfurt a.M. und Basel 1995ff., Oxforder Oktavheft 7, S. 25. Die Eltern hatten es arrangiert, er ließ es sich nur gefallen. H. Pfotenhauer, Zur Funktion des novellistischen Augenblicks in Goethes Romanen, in: Bildersturm und Bilderflut um 1800, 2001, vor allem S. 103f. S. W. Wiethölter in ihrem Kommentar zur Frankfurter Ausgabe Bd. 6, S. 996f., 1022f., 1028f.
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wirkt sich nur auf die Gesprächsführung nirgends aus. Dass Eduard Ottilie »unterhaltend« findet, obgleich sie noch kein Wort gesagt hat, ist typisch für ihn: Es muss nur jemand »aufmerksam« zuhören, das ist für ihn die beste »Unterhaltung« (I,6, s.o.),.31 Auf Ottilies Einfall, wo das neue Haus hingehört, ist er so stolz, als hätte er ihn selbst gehabt (I,7). Immerhin weiß er, dass in der Liebe die Person, das Wort, der Wille des Partners gelten sollte. »Er wolle allen ihren Willen«, versichert er ihr in dem ominösen Wirtshaus (II,16). Allerdings lässt er das nur kurzfristig gelten; bald danach spricht er wieder im eigenen Namen und mit neuen Versuchen, sie zu bedrängen. Mit dem Grafen versteht sich Eduard (u. a.) deshalb so gut, weil der auch ein entschiedener Egoist ist. Er empfiehlt z.B. den Hauptmann weiter »und« hofft dadurch »einen hohen Freund sich gewogen zu machen« (I,10). Auch wenn ihn, Eduard, ein Argwohn streift, dass Charlotte vielleicht die Hand im Spiel hatte, als der Hauptmann so plötzlich verschwunden ist, ist er doch »viel zu sehr mit sich und seinen Absichten beschäftigt, als daß er es hätte übel empfinden sollen« (I,15). Selbst seine »herzlichen« Äußerungen, als er Mittler gegenübersteht, diesem »Handlungsreisenden in Versöhnung«,32 haben nichts mit einem irgendwie herzlichen Verhältnis zu dem jeweiligen Partner zu tun (was in dieser Konstellation auch zuviel verlangt wäre). Sie kennzeichnen nur ihn als den ›Absender‹: Er legt sein ganzes Herz hinein, und er hat sich dadurch »erleichtert« (I,18). In den Krieg ist er gezogen, um Ottilie zu gewinnen – er scheint aus dem Krieg eine Art Glücksspiel zu machen. »Ottilie soll[te] der Preis sein, um den [er] kämpfte«. In jeder belagerten Festung33 hoffte er sie »zu gewinnen, zu erobern« (II,12). Um sie nicht »aufopfern« zu müssen (= hinausschicken in die kalte weite Welt), war er bereit, sich »aufzuopfern« – so schlimm kam es dann aber nicht. Als sein Sohn tot ist, den er gerade einmal wahrgenommen 31
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Für dieses eine Wort »unterhaltend« würde Wieland, wenn er der Herzog wäre (weiser Vorbehalt!), dem Verfasser »ein Rittergut schenken«, Abeken über Wieland, in H. A. Bd. 6, S. 652. So nennt ihn Carl Friedrich von Weizsäcker, S. 39, und fügt gleich hinzu: »der entsetzliche Mittler«. Mit militärischen Bildern kann er sich gar nicht genugtun.
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hat, schafft er es, seinen Freund noch an Herzlosigkeit zu überbieten: »anstatt das arme Geschöpf zu bedauern«, sah er »diesen Fall« (»Fall«!) »als eine Fügung an, wodurch jedes Hindernis an seinem Glück auf einmal beseitigt wäre« (II,14). »Ohne sich’s ganz gestehen zu wollen«, fügt zwar der Erzähler noch ein, doch diese Schizophrenie ist es gerade, was den Casus so arg macht. Der Sohn musste sterben, weil er sich durch seine bloße Existenz (!) zwischen den Vater und sein »Glück« (nämlich mit der jüngeren Frau) gedrängt hat.34 Noch als Eduard Ottilie tot daliegen sieht, besteht er darauf: »sie sei nicht tot, sie könne nicht tot sein«. Er trauert nicht um die tote Ottilie, er trauert um »das Glück seines Lebens« (II,18). Goethe weiß warum: »Man wird nie betrogen, man betrügt sich selbst«.35 Eine Ahnung von dem Eigenrecht und der eigenen Bewegungsrichtung der Partnerin Ottilie überkommt ihn, als er sie einmal, kurz vor dem Ende, aus ein wenig Distanz wahrnimmt. »Sie hat sich nicht von mir weg-, sie hat sich über mich weggehoben« (II,17). Als sie sich aber wirklich entfernt, endgültig: in den Tod, ist sein Schmerz so vorherrschend, dass er wieder die ganze Welt aus der Sicht seines Ego wahrnimmt. Immerhin hat er einmal mit ihr getanzt.36 Man kann aber kaum sagen, dass die beiden ›miteinander‹ getanzt hätten:
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Der eindringlichen Interpretation von Klaus Heinrich würde ich in allen Grundzügen und den meisten Schlussfolgerungen gern folgen. Nur wie er mit dem ertrinkenden Kind umgeht (»ein doppelter Wechselbalg«), das wirkt ähnlich herzlos wie die Äußerungen der beiden Männer des Romans. Er findet: Sein »Verschwinden« rührt uns nicht, lässt uns »eher aufatmen« – das läuft auf eine Absage statt auf Verständnis hinaus. Hätte er da nicht besser die Stelle herangezogen, als der Kleine noch am Leben war und »tief und freundlich«, »so verständig« in die Welt geschaut hat (II,13)? Maximen und Reflexionen, Nr. 681. Es war ein »Tanz des Volkes«, möglicherweise ein »Ländler« (I,15). Die »jüngere Gesellschaft« mischte sich gern hinein.
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Er »ergriff« sie und »machte mit ihr die Runde« (I,15).37 Dabei soll er früher, mit Charlotte, ein glänzender Tänzer gewesen sein (I,10). Eduard ist zwar die treibende Kraft bei der Erweiterung der Zweierbeziehung zu einer veritablen Runde von vieren, aber er separiert sich am deutlichsten von der Gemeinschaft mit den anderen (manchmal mit Ausnahme Ottilies). Selbst die Zweisamkeit mit ihr nutzt er allmählich (deutlich in I,13) nicht nur zur Wiederholung seiner Liebesschwüre, sondern auch dazu, sich über Charlotte und den Hauptmann zu »beschweren«. Als Ottilie ihm hinterbracht hat, was der Hauptmann von seinen Flötenkünsten hält, fühlt er sich »von allen Pflichten losgesprochen« (I,13). Abstoßungen voneinander und gegenseitige Vorwürfe sind offensichtlich nicht weniger sozial als innige Harmonie. In seltsamem, unaufgelöstem Kontrast zu seinem Egoismus steht der heimliche Wunsch Eduards, aus dem Leben zu scheiden, damit »seine Geliebten« (das ist immer die eine Geliebte) und seine Freunde glücklich würden, ja damit er sie »glücklich machen konnte« (I,18). Dazu vermacht er Ottilie sein ganzes ausgedehntes Gut,38 und gerade dazu stürzt er sich in den Krieg – »in den nächsten besten Krieg«, verdeutlicht Stefan Blessin.39 Hier hat er aber ein starkes selbstloses Motiv: Er glaubt, gehen zu müssen, damit Ottilie nicht das Gut verlassen muss. Später modifiziert er seine Teilnahme an dem Gemetzel 37
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Hinter Goethes Begriff vom Tanz, der »ein wechselseitiges Wohlwollen« erzeugt (I,6, s.o.), bleibt das weit zurück. Erst recht wird es überboten durch Kafkas, ausgerechnet Kafkas, Erfahrung mit dem Tanzen: »dieses Sichumarmen und Sichdabeidrehn«, das nach ihm »untrennbar zur Liebe gehört und ihr wahrer und verrückter Ausdruck ist« (23. 11. 1912 an Felice Bauer). In I,18 klingt es so, und zwar definitiv. In II,13 dagegen scheint er das Testament wieder umgestoßen zu haben: Hier verfügt er »unbeschränkte Vollmacht« über seinen ganzen Besitz für Charlotte und den Hauptmann, während er mit Ottilie offensichtlich auf Reisen gehen will. Denkbar ist aber auch, dass er nur eine vorübergehende Vollmacht ausgesprochen hat: »unterdessen«, also solange er mit Ottilie unterwegs ist. St. Blessin S. 215. Eduard selbst und seinen drei Mitbewohnern stellt sich das so dar. Der politisch beschlagene Autor hatte natürlich einen bestimmten Krieg gemeint, einen der traurigen Koalitionskriege gegen Napoleon, dessen Truppen so gut wie immer gesiegt haben.
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zu einer Art von Gottesurteil: Wenn er davonkommt, und jetzt will er davonkommen, dann soll (wieder einmal) Ottilie die Seine werden. Ottilie ihrerseits wünscht nichts als »das Wohl ihres Freundes«. Wenn sie ihn nur glücklich weiß, ist sie bereit, ihm zu entsagen, ja ihn nie wiederzusehn. Nur für sich selbst nimmt sie sich vor, »niemals einem andern anzugehören«. Das Fatale an dieser gegenseitigen Überbietung an Selbstlosigkeit ist nur, dass eben die Person, die sich da so bescheiden durchstreichen will, zugleich diejenige ist, die das »Glück« des andern ausmacht. Eduard ist fest davon überzeugt, dass sein Geschick, und wieder insbesondere das seiner Beziehung zu Ottilie, unabhängig von seinem Wollen und Wünschen feststeht. »Da du die Meinige sein wirst«, versichert er ihr in der heiklen Szene am See (II,13). Er spricht im Indikativ des Futurs – er erlangt damit aber gerade so viel oder wenig Sicherheit, wie sie der viel zitierte Schlusssatz des Romans seit jeher den Lesern beschert. Sonst sollen ihm »Zeichen« das Eintreffen des Gewünschten und Geglaubten versichern. Nur: Es sind recht gebrechliche Materien, auf die er sich da verlässt: sein eigener fragiler Leib im Krieg, das verheißungsvolle Glas, das bei der Grundsteinlegung des neuen Hauses aus einem sonderbaren Zufall erhalten geblieben ist. »An die Stützen, die wir wanken fühlen, klammern wir uns doppelt fest«, hat Marie von Ebner-Eschenbach beobachtet, oder wohl eher aus Anhaltspunkten in der äußeren Realität ›zurecht‹gedacht.40 Mit dem puren Narzissmus kann und will sich Eduard nicht begnügen. Er hat nicht bloß mit der eigenen Bewunderung für sich selbst, für seine äußere oder seine geistige Gestalt zu tun. Er streitet sich z.B. mit Mittler um das Recht des Leidenden, seinen Tränen freien Lauf zu lassen; dazu beruft er sich auf die alten Griechen. Bei ihnen galt es nicht als schimpflich zu weinen, auch nicht für Männer. Das Dasein eines »Gladiators« findet er nur abstoßend. »Es gibt Fälle, ja es gibt deren! wo jeder Trost niederträchtig und Verzweiflung Pflicht ist« (I,18). Selbst sein Unglück (natürlich geht es wieder um Ottilie) will er genießen, es
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M. v. Ebner-Eschenbach, Werke, 1956, Bd. 3, S. 892.
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in einer weichen Stimmung auskosten. Und noch mehr: Die Verzweiflung erhebt er zu einer »Pflicht«: für sich, für jeden, der in die Lage kommt, in der er selber steckt – das soll der leichtfertige Tröster Mittler respektieren. Hier fühlt er sich so weit auseinander mit Mittler, der nun nicht mal mehr zum ›Mittler‹ taugt, dass er ihn am liebsten wegschicken würde. Nur die Hoffnung, ihn doch noch für sein Herzensanliegen einspannen zu können, bringt ihn dazu, noch ein paar Takte auf ihn einzureden, ohne rechten Erfolg. Für den gewesenen Pfarrer, der immer noch als liebsten Gesprächsgegenstand über die Pflichten des Christenmenschen peroriert, ist es Blasphemie, wenn ein gutgestellter Nachbar sich herausnimmt, der Verzweiflung das Wort zu reden. Eduard aber weiß durch den spürbaren, auch hörbaren Widerstand seines Gesprächspartners (»den Schmerz mit Gleichmut und Anstand ertragen«) nun erst recht, was er zu fordern hat. Nicht Geduld und nicht Zähnezusammenbeißen, sondern offene Verzweiflung verlangt er von jedem rechtschaffenen, mit dem Leben vertrauten Menschen. Ottilie gegenüber, in dem einzigen nahezu intimen Gespräch, das hier dargestellt ist (II,13), malt sich dieser Genießer eine sehr aparte »Buße« aus. Was in jener Nacht mit Charlotte geschehen ist, kann er nicht mehr aus der Welt bringen, zumal das Produkt daliegt, beiden vor Augen. Aber nun: In Ottilies Armen will er seinen »Fehler«, ja sein »Verbrechen« abbüßen. Dem Lebemann muss selbst die Buße gehörig Spaß machen. Liebe, das A und O dieses Romans, ist damals schon, wie schon früher zur Zeit der Troubadours oder Dantes und wie noch im 20. Jahrhundert, »ein privates Weltereignis«.41 In der umfangreichen Literatur über gerade dieses Werk Goethes gibt es regelrechte Genießer, die sich für die »frische« Liebe zwischen Eduard und Ottilie begeistern und dabei das bisschen Ehebruch, oder auch den heftigen Bruch, ›billigend in Kauf nehmen‹.42 Sie berufen sich auf die Interessantheit dieses schon 41
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So Alfred Polgar, Im Lauf der Zeit, 1954, S. 60. Der österreichische Emigrant Felix Pollak spitzt die Formulierung noch ein wenig zu: »ein Weltereignis / unter vier Augen«: »Zum Thema Liebe«, in seinem Gedichtband Vom Nutzen des Zweifels, 1989, S. 81. Besonders haben sich darin Peter von Matt und Tony Tanner hervorgetan, andere wenigstens partienweise.
Die vier Hauptpersonen in den Eigentümlichkeiten ihres Austauschs miteinander
uralten und neuerdings besonders verbreiteten Phänomens, auch auf seine Ergiebigkeit für alle Literatur, für den Roman an erster Stelle. Die Ehe gilt als fad, besonders wenn sie so ›worn out‹ ist wie die bestehende Ehe für Eduard und zugleich so hartnäckig festgehalten wird wie diese von Charlottes Seite.43 Dagegen die neue Bindung! Das Verhältnis mit der frischen jungen, zur Hingabe bereiten Ottilie – eine Seligkeit! Aus Eduards Charakter versteht es sich wie von selbst, dass er nur noch schwärmen und nur noch von ihr schwärmen kann. Er sucht ›seiner‹ Ottilie zuzumuten, was Hebbel auf die Formel gebracht hat: »Der Mensch will Brutto geliebt werden, nicht Netto«.44 Der Erzähler immerhin sorgt vor, dass der Leser nicht einfach dieser Schwärmerei erliegt.45 Diese Liebe ist denkbar unproduktiv. Sie verträgt sich nicht mit dem Arbeitsethos der vier; die Verschönerungstätigkeit kommt denn auch sukzessive zum Erliegen. Nüchtern betrachtet kann man nur feststellen, dass Eduard heilfroh sein kann, dass ihm Ottilie erspart geblieben ist. Die Diskrepanz zwischen ihren Ansprüchen an das Leben, an andere Menschen und nicht zuletzt an sich selbst war und blieb so gravierend, dass nur ein unaufhörlicher Frust herausgekommen wäre. Wenn man genau hinsieht, möchte er sie auch gar nicht als bloßes Duplikat seiner selbst gewinnen. Sie hat sich große Mühe gegeben, ihm ähnlich zu werden, erst mal ähnlich zu schreiben. Er aber küsst gerade (»tausendmal«) die Partien ihrer Abschrift, die noch ihre eigene, ihre kindlich-schüchterne Handschrift zeigen (I,13). Von den andern wird diese Liebschaft des einst so geziemend lebenden, in seinen Liebesbekundungen zurückhaltenden Barons lange Zeit lächelnd, geradezu einvernehmlich hingenommen. Charlotte hält selbst noch nach der heftigen Auseinandersetzung mit Eduard (als der inzwischen das Gut verlassen 43
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Allerdings hat Charlotte ihrem Holden auch schon sarkastisch vorhergesagt (noch ehe Ottilie auf dem Gut eingetroffen war, I,4): »Gelegenheit macht Verhältnisse«. Für den Nebensatz freilich, »wie sie Diebe macht«, bietet der ganze weitere Roman keine Gelegenheit, auf die er zutreffen könnte. Hebbel, Sämtliche Werke, Hist.-krit. Ausgabe Abt. 2, Bd. 4, 1905, S. 333. Der Erzähler legt sogar seiner literarischen Figur auf die Zunge, was eigentlich ihm als Erzähler zustünde: die Charakterisierung seiner amour fou als »Wahn« (I,16 u. ö.), als »törige rasende Neigung« (I,18).
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hat) den »leidenschaftlichen Vorfall« (sic!) für »eine Art von glückhafter Schickung«, aber das nur aus ökonomischen Gründen: Dadurch verschwendet ihr allzu großzügiger Ehemann weniger für sein Hobby, die Umgestaltung seines geliebten Parks (I,17). Selbstverständlich ist diese Liebe, die Gedanken-Liebe Eduards zu Ottilie, hochgradig dezent, biblisch gesprochen ›keusch‹. Nur: Die Sprache und die Gedanken, die sprachlichen Bilder, ohne die er nicht auskommt, die sprechen eine andere Sprache. In der Konversation beteuert er das eine und in irgendwelchen versteckten Hirnwindungen zielt er auf das andere – eine Art unfreiwilliger Ironie.46 Er greift in Worten nach dem störenden Medaillon von Ottilies Vater und kommt dabei nicht umhin, von der Stelle »unter Ihrem Gewand, auf Ihrer Brust« zu sprechen, wohl auch an sie zu denken (I,7).47 Dass er in der ominösen Nacht (I,11) seine Frau umarmt48 und dabei an Ottilie denkt, kann er selbst nicht recht gehörig finden. Man kann es sich kaum vorstellen: Seine Frau hat er unter sich und dringt in sie ein – etwas der Art muss ja wohl stattgefunden haben, sonst träte nicht neun Monate später ihr Erbprinz ins Leben –, und in Gedanken versetzt er an die Stelle seiner Ehefrau, die er gar nicht mehr meint, die »frische« Geliebte. Man soll es sich nicht vorstellen, damit man nicht selbst in ›unkeusche‹ Gedanken verfällt, daher die verhüllende Ausdrucksweise Goethes hier wie an ähnlichen Stellen. Am nächsten Morgen ›muss‹ 46
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Auf noch galantere Weise löst der Graf das Problem, sein Verlangen nach ›seiner‹ Baronesse unmissverständlich auszusprechen und doch die Grenzen der höflichen, ja höfischen Sprache zu wahren (I,11). Und immerhin ist in der Ehe ›alles‹ »erlaubt« (I,11), während ein (noch) unverheiratetes Paar, wie man damals fand, sich alles versagen oder wenigstens alles Anstößige verbergen sollte. Wie ernst die »Gefahr« ist, die er von diesem Kleinod befürchtet (zu befürchten behauptet), soll nicht recht deutlich werden. In den Lehrjahren (III, 12 u.ff.) war es eine reale, wenn auch nur psychisch-reale Gefahr. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass der gebildete Baron auch mal einen Bildungsroman, und dann gerade diesen, gelesen hätte. Sie machen beide nur eben »Gebrauch« von den »Geschlechtseigentümlichkeiten« des anderen, wie Kant es in seiner Metaphysik der Sitten mit aller Drastik als erste (bei ihm auch einzige) Grundlage der Ehe vorgesehen hat.
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er deshalb Abbitte leisten, nur gerade nicht bei Charlotte, sondern, sowie er Ottilie unter die Augen tritt, bei ihr. Er findet es rührend, wenn er in seinem Exil nicht nur selbst Briefe an sie schreibt, sondern auch gleich ihre Antworten an ihn mit ausformuliert und er die Blätter dann friedlich Seite an Seite verwahrt (I,18). Als er abgeschieden von beiden Frauen in seinem »Vorwerk« lebt, auf Nachrichten von ihnen wartet, hält er es nicht aus, ohne sich Ottilie herbeizuwünschen, ja zu »locken«, wenn nicht in Wirklichkeit, dann im Traum, wo er seine Phantasie frei mit ihr / an ihr ergehen kann. »– und was [er] sich sonst noch Erlaubtes und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrt« (I,18). Ein starkes Stück seiner »Selbstverwöhnung« ist es, wenn er Ottilies Weg zu ihrer alten »Pension« auskundschaftet, das Wirtshaus zur Übernachtung sich denken kann und ihr dort auflauert. Nur durch ihre stärkste, unwiderstehliche Geste der Absage kann sie sich seiner erwehren. Umso empfindlicher trifft es ihn deshalb, wenn jemand anderes ihm etwas von diesem gedanklich-frivolen Begehren anmerkt. Die Wirtin ebenjenes Gasthofs, in dem er Ottilie trifft (II,16), eine wahre »Kuppelmutter«,49 findet das Rendezvous der beiden »geheimnisvoll«. Sie tritt zurück, als sie die beiden beieinander sieht. Sie zieht von außen den Schlüssel ab – wie das?? sie wird doch den geschätzten Gast nicht einsperren wollen? – und bietet ihn Eduard an, der ihn nur ablehnen kann. Als sie Ottilie schlafend findet, »winkt« sie Eduard »mit einem teilnehmenden Lächeln«. Es wirkt so plump, so dreist, wie hier eine Fremde Ottilie geradezu anbietet, da kann er nur davor zurückschaudern. Die »unerlaubte« Liebe soll sich in seinen Gedanken abspielen, allerdings doch nicht nur da. Sie soll sich nach seiner Manier auf das Objekt seiner Begierde richten. Von einer »Himmelfahrt der bösen Lust« zu sprechen, wie der einstige Freund Jacobi höhnte,50 ist gleichwohl unberechtigt: Eduard wird ja nicht wegen, allenfalls trotz dieser Anwandlungen (die er durchweg zu unterdrücken sucht) am Schluss »selig«gesprochen. Kister wird in diesem heiklen Gebiet einmal rücksichtslos grob und kann es auch durch einen Kalauer nicht 49 50
Das findet Friedrich A. Kittler, S. 264f. Jacobi an Köppen, 12. 1. 1810.
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retten. Er setzt Eduards Verhalten in Bezug zu Mozarts Don Giovanni und schreibt: »Der Zugang zur Scheide versperrt von der Scheidewand des väterlichen Grabes, der erotische Frevel im Gewand des nekronomen«.51 Eduard selbst übt sich, Ottilie gegenüber, in der Sprache der dezenten Verhüllung. Über »jene unglückselige Stunde, die diesem Wesen [seinem ersten und einzigen Sohn] das Dasein gab, möchte er, da er zu ihr spricht, »einen Schleier werfen«, fertig (II,13). Kurz vor Ende wird dann auch seine Liebe wieder ganz keusch, geradezu harmlos. In der nächsten Nähe der Geliebten zu sitzen reicht ihm schon. »Keiner Berührung« bedurfte er mehr (II,17). Von Ottilies Seite aus ist die Annäherung sowieso nur rein geistig.52 In den Ausdrücken muss die erlaubte wie die »unerlaubte« Liebe ohnehin so dezent wie möglich vorgebracht werden: Schließlich wurden Romane zu Goethes Zeiten meist noch laut gelesen, also zugleich vorgelesen.53 Eduard wünscht sich, als er eine Art von Rechenschaft vor dem eigens angereisten Mittler ablegt, dass Ottilies »Gestalt, ihr Geist, eine Ahnung von ihr« ihn umschwebt und bei ihm verweilt, ja ihn »ergreift« (I,18). Später noch, als er faktisch schon lange von ihr getrennt ist, aber nicht von ihr lassen kann (II,12), beruft er sich dem Freund gegenüber auf »so manche tröstliche Ahnung, so manches heitere Zeichen«. Da ist ihm aber schon klar, dass das, was er sich wünscht, ein »Wahn« ist. Er hält jedoch daran fest, dass das, was er sich gern so zurechtlegt, ihn »in dem Glauben, in dem Wahn bestärkt«. Das Ganze läuft ab unter der inzwischen immer mehr zutreffenden »Ahnung«, die Charlotte gleich zu Anfang »geweissagt« hat, dass aus der doppelten Einladung mit allen Folgen »nichts Gutes« herauskommen wird (I,1). Im Nachhinein, als Eduard unvermutet tot daliegt, wird Charlotte unter den intimen Briefschaften, die er vor seinem Abscheiden noch (sicher unabsichtlich) ausgebreitet hat, möglicherweise auch das eine Blättchen wieder-
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Kister S. 194. Das betont vor allem Cuonz: Ottilie »empfängt«, aber nur Worte: Erläuterungen, Direktiven. Ihre Jungfräulichkeit wird ohne jede Empfängnis erhöht zur »jungfräulichen Mütterlichkeit«, Cuonz S. 263 und passim. S. R. Zons, in: Bolz 1, S. 325.
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finden, das sie ihm »so zufällig ahnungsreich übergeben hatte«. Es war von Ottilies Hand, und die kann nun keiner mehr von Eduards Schrift unterscheiden (II,18). Schließlich ist es dem Baron egal, dass er überall nur »stümpert« (oder dass die andern ihm das nachsagen). Worauf er einzig bedacht ist: Das »Talent des Liebens« könne ihm keiner abstreiten, keiner ihn darin übertreffen.54 Aber diese Selbsteinschätzung wirft doch erst recht Fragen auf: Lieben als Talent? Wer am heftigsten liebt, leistet das meiste? Stolz auf sich ist er ja meistens, aber in der Begründung dieses Stolzes ›haut‹ er doch öfters ›daneben‹. Noch sein Sterben ist eine einzige Stümperei. Man kann nicht eigentlich sagen, dass er Ottilie nachstirbt: Er stirbt »den erbärmlichen Tod eines Einsamen inmitten von Fetischen, auf die er seine gesamte Lebenskraft übertragen hat«.55 Dass der Mensch »ein wahrer Narziß« sei, zieht sich vom ersten Dreiergespräch an durch den weiteren Roman. Eduard hat es immerhin erkannt (im ominösen Diskurs über die »Wahlverwandtschaften«, I,4). Indem er es ausspricht, bereut er diesen Tatbestand aber nicht, sondern lässt ihn als seine persönliche Entschuldigung gelten. Er bleibt ein solcher »Narziß« bis zu seinem Tod. Die andern gehen kritischer mit dem um, was ihnen an sich selbst missfällt (noch kritischer allerdings mit dem, was an den andern ihr Missfallen erregt). »Das Bewußtsein«, auf das er sich als Schutz vor den Turbulenzen im ganz behaglichen Zusammensein berufen hat (I,1), ist eine bedenkliche Potenz. 200 Jahre nach ihm macht ein moderner Romancier aus dieser Fehlhaltung eine gängige Eigenschaft eines jeden Menschen: »Jedes Leben wird nur zur Hälfte gelebt, höchstens zur Hälfte, das andere sind Wünsche und Träume und Spiegelungen«.56 Nach Ottilies Tod wird er einer Enttäuschung ausgesetzt, die sich ständig verstärkt. Weil sein Lieblingsglas mit den verheißungsvollen
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Im Gespräch mit Mittler (I,18). E. Osterkamp, Einsamkeit und Entsagung in Goethes Wahlverwandtschaften, in: H. Hühn, hg., S. 39. Kay Hoff, Ein ehrlicher Mensch, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 2, 2003, S. 29.
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Initialen E und O zerbrochen ist, den ›Ersatz‹ von dem fürsorglichen Kammerdiener kann er unmöglich anerkennen, muss er erdulden, was der Erzähler auf die Formel bringt: Entlegene Nebensachen begünstigen den »Glücklichen«, und »die kleinsten Vorfälle« tragen zur Kränkung, ja zum »Verderben« des »Unglücklichen« bei. Das scheint zwar nur so, aber aus diesem unheilvollen »Schein« kann er sich die letzten Tage seines Lebens nicht mehr freimachen. Das letzte intensive ›Zwiegespräch‹ führt er mit der toten Ottilie, nämlich mit den Andenken, die er von ihr verwahrt hat: einer abgeschnittenen Locke, von ihr gebrochenen Blumen und den erhaltenen Zettelchen von ihrer Hand. Soll das vielleicht ein Ersatz für seinen Besuch an ihrer Grabstätte sein? Ob aus Kummer, aus Protzerei oder aus Nachlässigkeit: der Herr dieses reichen Anwesens trinkt zu viel. Irvin Stock nennt ihn durchgehend »trunken« und fasst damit seine zweierlei Trunkenheiten in eins: die aus Schwärmerei und die aus Lust am Alkohol.57 Dass Männer unliebenswürdig werden, weil sie dem Wein zu sehr zusprechen, ist die einzige sachte Beschwerde, die Ottilie wagt, und das auch nur in Abwesenheit des so Gerügten. Bis zum Schluss pokuliert oder »schlürft« er den sicher kostbaren Saft aus dem fatalen Glas, das dann das falsche war. So wird ihm selbst »sein Trost im Trunk verleidet«.58 In seinem Redeverhalten und auch noch in den meisten seiner Selbstgespräche ist dieser Gutsherr Eduard also ein eher unangenehmer Patron. Woran liegt es, dass wir uns beim Lesen dennoch weitgehend auf seine Seite stellen? Zum einen könnte es mit seiner Stellung als Hausherr, als Schlossherr zusammenhängen. Das »Geschäftliche« zwar überlässt er weitgehend seiner Frau (s.u.), aber nach wie vor bleibt er der Mittelpunkt eines lebhaften Geschehens. Die Konstellation zu viert geht auf seine Initiative zurück. Dass die vier sich miteinander unterhalten, auch zu Instrumenten greifen, ergibt sich daraus; das abendliche Vorlesen ist sogar seine Domäne. Er gibt auch den Ton an, an welchen Stellen und in welche Richtung sein 57 58
I. Stock, S. 20. Laut Veblen (S. 70-72) war das Trinken über den Durst ein Vorrecht der höheren Klasse (bei ihm »leisure class«). I. Drewitz, S. 294.
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schöner Park noch verschönert werden soll. Auf den Urheber solcher Tätigkeit(en) fällt nun einmal mehr Beachtung, auch mehr Sympathie als auf die Ausführenden (von denen nur der Hauptmann und Charlotte als eigenständige Personen hervorgehoben werden; das Personal, das das meiste auszuführen hat, bleibt unbeleuchtet, wird meistens nicht mal erwähnt). Es könnte als etwas ungerecht erscheinen, dass eine Person, bloß weil sie in die Funktion eines Planers und Leiters versetzt ist, auch besondere Beachtung oder gar Sympathie gewinnt. So aber sind die Romane seit ihrem vermehrten Aufkommen im 18. Jahrhundert angelegt, und Goethe hatte seine Erfahrung mit derlei sympathieweckenden Akzentuierungen. Zum andern ist aber die so geliebte Ottilie wirklich eine liebens-würdige Person – der Autor hat seine ganze Kunst aufgeboten, sie so attraktiv wie möglich zu gestalten (s.u.). Selbst noch ihre anfängliche Schüchternheit in dieser Runde macht sie so bemerkenswert, dass einer, der täglich mit ihr umgeht, ›zu Recht‹ (so sollen die Leser denken) sich an ihr freuen und alsbald für sie schwärmen muss. Und wer liebt, so unbedingt wie dieser ältliche Baron, der erscheint auch seinerseits als liebens-wert. Das gilt noch über diese besondere Liebschaft und über die Person Ottilies hinaus: Die Liebe als solche macht interessant und versöhnt die Leser auch mit bestehenden Härten in der Figurenzeichnung. Liebe ist das erste und vornehmste Thema der Literatur, ein wahrhaft unerschöpfliches Thema. Wer liebt, gewinnt die Anteilnahme und Sympathie der Leser, ihre Parteilichkeit (eine Art von Daumendrücken), auch in prekären Wendungen des dargestellten Geschehens. Carmen gilt als eine so hinreißende Person, weil sie unbedingt liebt, natürlich auf ihre und nur ihre Art. Dasselbe gilt von Romeo und Julia und einer langen Reihe von erdichteten Liebespaaren. »Die Liebe hemmet nichts, sie kennt nicht Schloß noch Riegel«.59 Liebe macht Lust, ja sie verleitet zu einer eigentümlichen Ästhetik: »Die Liebe ist die singende, sich in der Luft tummelnde Lerche. In der Ehe muss der Vogel gebraten
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Matthias Claudius, »Die Liebe«, in: Matthias Claudius’ Werke, hg. G. Behrmann, Leipzig o. J., S. 467.
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auf der Schüssel liegen«.60 Weil Eduard an diesem gefälligen, in die Augen springenden, ihn selbst mitreißenden Lebensereignis teilhat, als Anführer sogar, kann man ihm auch die ›Fehler‹ und Ungeschicklichkeiten, die er begeht, nicht so übelnehmen, wie sie es ohne diese zentrale Entschuldigung verdient hätten.
Charlotte Eduards Ehefrau Charlotte, die den ganzen Roman hindurch trotz seiner anderweitigen Neigung seine Ehefrau bleibt, ist zuständig für die Aufrechterhaltung der Ordnung, d.h. für sie in erster Linie die ihrer Ehe (von der sie einen ziemlich konventionellen Begriff entwickelt und festhält), weiterhin für den Haushalt (zunehmend mit Hilfe Ottilies), für die Ökonomie der Einnahmen und Ausgaben und, makaber genug, schließlich für die standesgemäße Aufbewahrung der Leichen, die in der bewegten Romanhandlung anfallen. Sie dringt in allen ihren Gesprächen, den einvernehmlichen ebenso wie den kontroversen, auf Respektierung des Bestehenden und auf die Einhaltung von Grenzen. Den status quo macht sie so sehr zu ihrem Anliegen, dass ihr der Erzähler, der hier einmal die Partei der Neuerer nimmt, auf den Kopf zusagt, dass es ein »Wahn« sei, »in einen frühern beschränkteren Zustand könne man zurückkehren, ein gewaltsam Entbundenes lasse sich wieder ins Enge bringen« (I,13). Charlottes Charakter ist umstritten. Sie ist klug, aber verständnislos; manche ihrer Einschätzungen der Lage verraten deutlich einen Mangel an Empathie. Sie ist eng in ihren moralischen Ansichten. Insbesondere in ihrem Festhalten an ihrer Ehe, die sich immer weniger festhalten lässt, erweist sie sich als innerlich festgefahren. Dass sie begabt ist und sich auszudrücken versteht, besser als die beiden Männer, macht einen beim Lesen nicht wirklich froh, denn nicht wenige ihrer verbalen Einlassungen kommen befremdlich steif und gestelzt heraus. Züge von Selbstsicherheit, ja Zukunftssicherheit verbinden sich in 60
K. J. Weber, Demokritos. »Die Liebe«.
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ihr mit ausgemachter Angst vor dem, was kommen könnte. So sicher sie ihren Charakter durchhält, so fest sich andere auf sie verlassen können, so wenig erfreulich ist das, was sie festhält und durchhält. Wenn diese ›brave Ehefrau‹ gleich am zweiten Tag (I,2) das übermütige Gerede ihres Mannes kontert mit der (zunächst nur rhetorischen) Spaltung ihrer selbst: »Du willst gewiß, daß ich das, was ich dem Ehemann versagte, dem Liebhaber zugestehen soll«, so wirkt das zunächst wie eine harmlose Redefigur. Hält man es aber zusammen mit Goethes jüngster Lektüre, Kleists ›Komödie‹ Amphitryon,61 so bekommt die Stelle ihren eigenen Tiefgang. Zwar geht es in Goethes Roman nicht um einen Doppelgänger im Ehebett, aber hier wird dem Ehemann eine Aufspaltung in zwei Personen nahegebracht, die ihm später, wenn Ottilie eingetroffen ist, zupass kommt. Die Redefigur, eingesetzt gerade beim Streit über die vorgeschlagene Einladung des Hauptmanns, gibt eine Vorschau auf das ganze Geschehen zwischen den vier Mitgliedern dieser »Wahlverwandtschaft«. Im Rückblick auf das erste Jahr auf dem neuen Gut findet Charlotte, sie habe sich »den ersten fröhlichen Sommer« ihres Lebens »zusammengebaut« – als ob sich Glück und Behagen wie Puzzleteile zusammensetzen ließen. Eduards schriftliche Reiseberichte sind das Futter, von dem sie sich, mit ihm, die Welt »so bequem, so artig, so gemütlich und heimlich« wieder zusammensetzen möchte. Sie sollten es weiter »versuchen«, schlägt sie ihrem Gatten vor, »inwiefern« sie »miteinander ausreichen« – eine sehr karge Vorstellung von einer Ehe (alles I,1). Thorsten Valk findet ihr neues Lebensglück »konstruiert und artifiziell«.62 Eigentlich habe sie Angst vor der Zukunft, vor dem Leben, vor dem Tod, das hat Isabella Kuhn richtig beobachtet.63 Das wäre immerhin ein gut nachvollziehbarer Zug an der ebenso verschlossenen wie resoluten Hausherrin. Deshalb redet sie so hartnäckig auf die beiden anderen ein (auf den Hauptmann nie) und vertraut sich immer wieder
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Goethe hat sie zwar nicht gemocht, aber irgendwie muss sie ihn doch beeindruckt haben. Th. Valk, S. 254. I. Kuhn, S. 166f.
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dem eigenen Redefluss an. Vieles plant sie aber auch im Stillen, über den Kopf der Mitbetroffenen weg (Ottilie wie Eduard). Daher scheint sie die andern zu durchschauen, ja ein wenig ihnen ›in die Köpfe gucken‹ zu können. Gerade weil sie so ›aufgeklärt‹ ist, beurteilt sie die Wirkung von »Bewusstsein« und Aufklärung skeptisch.64 Obgleich sie die einzige ist, die von Anfang bis Ende in dem abgeschiedenen Adelssitz ausharrt,65 hat sie mehr Welt- und Menschenkenntnis als die anderen (ausgenommen den Hauptmann). Auch durch Briefe setzt sie sich laufend in Verbindung mit anderen (die bleiben durchweg ungenannt: »alle Welt« oder »die« Welt schlechthin). Sie muss (?) also (?) für Eduard mit denken und sprechen. Wenn kein Zeuge da ist, ihr ihre Überlegenheit zu attestieren, muss sie es halt selbst tun, was der Feststellung einen leicht komischen Anstrich gibt.66 Im Gegensatz zu Mittler (»…bin ich in der Welt, um Rat zu geben?«, I,2) sucht sie, wo sie nur kann, zu raten und zu helfen. Von den Vieren, die in dem langen Auftakt der Romanhandlung das Schloss bevölkern, ist sie sicherlich die sozialste. Sie greift rigoros, ja frevelhaft auf kirchlich geweihtes Gelände aus, widmet den Friedhof um zum »Auferstehungsfeld« und scheut, im Interesse einer ziemlich geschmäcklerischen Ästhetik, nicht davor zurück, die Gräber für aufgehoben zu erklären, allenfalls die Grabmonumente noch am Rand des Kirchhofs aufzustellen. Diesen Ausgriff krönt sie dann noch durch Pedanterie: Klee soll auf dem einstigen Totenacker wachsen, sogar »in Mustern«, der Geistliche soll ihn abernten dürfen (II,1). »An mich darf in diesem Augenblick nicht gedacht werden«. Das sagt sie (zum Hauptmann), als Ottilie ihr gerade ihren vielverheißenden Sohn tot ins Haus gebracht hat (II,15). Es klingt so selbstlos, als ob sie an Entsagung selbst Ottilie noch überbieten wollte. Dennoch ist
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Beobachtung von Norbert Bolz im Goethe- Handbuch. Nur einmal (II,15) eilt »auch sie« wenigstens »in Gedanken« aus »diesen Umgebungen« weg. Das bleibt aber ohne jede Folge. »Wirken und schaffen« muss »derjenige, der am klarsten sieht. Diesmal bin ich’s« (I,16).
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es verfehlt; den Ernst der Lage trifft es höchstens am Rand. Zur wahren Entsagung gehört, dass der Mensch sich ganz einsetzt und ganz preisgibt. Charlotte dagegen will von sich absehen, hier wie in anderen Situationen. Sie lässt einen Selbstlauf der Dinge über sich triumphieren, der kein Gefühl, kein Urteil, keinen Willen von ihr zulassen soll. Die passive und negative (privative) Form des Satzes »An mich darf (…) nicht gedacht werden« streicht die Person Charlotte durch, ehe sie noch das Ende des Satzes erreicht hat. Alles soll nach Plan laufen, wenn es nach Charlotte geht. Sie ist umsichtiger, vorausschauender als Eduard und als Ottilie; sie glaubt, ihren Lebensweg – und den der anderen, wie ausdrücklich betont wird (II,14) – fest in der Hand zu halten.67 Sie ist diejenige, die ihre Mitspieler am meisten durchschaut oder wenigstens glaubt zu durchschauen. Sie hätte zur »Psycholanalytikerin« getaugt, findet Klaus Heinrich.68 »Sie wird nie springen«, sagt Hermann Beland aus seiner psychologischen Kenntnis ihr voraus: Sie bleibt in ihrem Schutzraum von Sitte, schonungsvoller Gemeinschaft und finanzieller Sicherheit.69 So solide sie ist (eine erfreuliche Eigenschaft von Romanfiguren), so eng und pedantisch wirkt sie auch, jedenfalls im Vergleich mit Eduard (und Ottilie, hier ist wieder mal der Hauptmann ihr Gesinnungspartner). Vieles, auch persönliche Interessen, erklärt sie zur »Sache«70 ; was zu tun
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Esther Schelling-Schär nennt das (S. 62): »Sie fühlt das Unglück, moralisch sein zu müssen«. Kl. Heinrich in: Greve, hg., S. 22f. Beland in: Greve, hg., S. 76f. »Sache«: eine unscheinbare Vokabel, die aber der späte Goethe so zu lieben scheint, dass er sie in diesem Roman ca. 50mal gebraucht. Sie steht häufig (über 15mal) für die Hauptsache der Romanhandlung, die Liebe, die den »Baron im besten Mannesalter« ergriffen hat, dann für seine Ehe, an der er sich zunehmend reibt, für die Scheidung, zu der er auf zwei höchst unwillige Vermittler (eben »Mittler« und den Hauptmann) einredet. »Sache« kann weiterhin einen Plan, ein Anliegen oder Vorhaben bezeichnen (10mal), darüber hinaus können noch die Aufgabe, die Handlung, der Fall oder die Regel, die Situation, besonders die pädagogische, und mancherlei mehr als »Sache« erscheinen. Besonders in Charlottes Mund nimmt sich diese Bezeichnung (sie gebraucht sie häu-
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ist, sucht sie rasch »abzutun«;71 nur bei den notwendigen Schritten zur Auflösung ihrer Ehe will sie weder mitwirken noch beraten (II,14) – und tatsächlich wird auch nichts daraus. Welche Spannweite ihre intensive gedankliche Beschäftigung mit den anderen annimmt,72 können wir daraus ersehen, dass sie sich erst ganz altruistisch vornimmt, »jenen beiden auch zu Hilfe zu kommen« (I,13), und dass sie ein paar Tage später, Ottilie glänzender Geburtstag ist eben vorbei und der Hauptmann verschwunden, sich berechtigt glaubt, »die Gewalt, die sie über sich selbst ausgeübt (durch Verzicht auf ihre »reine Liebe«, zum Hauptmann), von andern »fordern zu können« (I,16). Mit welchem Recht? Sie sagt sich selbst: »Ihr war es nicht unmöglich gewesen, andern sollte das gleiche möglich sein«. Ihr »scharfer Blick« (I,17) ist einer ihrer positivsten Charakterzüge. Eduard kann froh sein, dass er eine so tüchtige, verständige, umsichtige Ehefrau hat; gerade er mit seiner raschen und unsteten Aufmerksamkeit hat (hätte) sie bitter nötig. Die Ehe ist für Charlotte vor allem zur Versorgung gut, d.h. zur Versorgung der Frau.73 Mit diesem ceterum censeo hört sie die Reden über die chemischen »Wahlverwandtschaften« (II,4) und greift ein: Kein Wesen, weder »die arme Luftsäure [Sauerstoff]« noch eine ihrer Bekannten, die sie darin erkennen will, soll sich »im Unendlichen herumtreiben müssen«. Mit dem gleichen Vorbehalt lässt sie sich die moquanten Reden des Grafen über neue Ehe»gesetze« gefallen (alle fünf Jahre neu; unauflöslich erst beim dritten Ver-
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figer als einer der andern, anstelle jeder persönlicheren oder gefühlvolleren) sonderbar ›sachlich‹, ja kalt aus. Freilich trifft sie sich mit ihrem Tick der raschen Erledigung auch mit anderen Familieangehörigen, aber bei denen steht dieser Drang noch in anderen Zusammenhängen. Eduard will die erhoffte Scheidung (aus der in der ganzen Spielzeit des Romans nichts wird) rasch hinter sich bringen – eben damit er für Ottilie und das Leben mit ihr freie Bahn bekommt. Luciane hat in wenigen Tagen das Haus und die Gegend abgegrast (»erschöpft«), aber sie ist hier (und nicht nur hier) auf immer wieder was Neues versessen. »Die anderen« sind immer die problematischen anderen, Eduard und Ottilie. »In der Liebe sind wir geborgen, in der Ehe sind wir versorgt«, stellt SchellingSchär (S. 52) einfühlsam, wenn auch ein wenig schematisch gegenüber.
Die vier Hauptpersonen in den Eigentümlichkeiten ihres Austauschs miteinander
such, I,10).74 Diese Vorschläge sind nicht nur für die leider gerade anwesende Ottilie, sondern auch für sie »allzufrei«. Die Ehe als Komödie, in der noch nach Beendigung des Stücks unaufhörlich »fortgespielt« wird, das kann sie sich eher gefallen lassen. Dass aber die Ehe gerade durch ihre prätendierte »ewige Dauer« »etwas Ungeschicktes« an sich trage, das ist ein unerhörter Gedanke, der sie, wenn sie ihn ernst zu nehmen sucht, verletzt. Bei der Grundsteinlegung, der sie beiwohnt, und der launigen Rede des »Maurers« kommt sie weit besser auf ihre Kosten. Wie der Kalk, das »Bindemittel« für Mauersteine, führt dieser Könner seiner Zunft aus, wirkt in der sittlichen Ordnung der Menschen »das Gesetz«: Es lässt die, »die einander von Natur geneigt sind«, noch besser zusammenhalten.75 Dass der Hauptmann sie beeindruckt hat, so sehr, dass sein Los ihr aufrichtig am Herzen liegt, bietet keinen ernsthaften Einwand, jedenfalls nicht für ihr praktisches Verhalten. Sowie sie wieder ganz ›bei sich‹ ist: in ihrem Schlafzimmer, »wiederholte sie den Schwur, den sie Eduarden vor dem Altar getan« (I,12) – damit ist diese Anfechtung abgetan. Als sie später mit dem Hauptmann über ihre »Scheidung« von Eduard verhandelt, ist keine Rede davon, dass sie den Hauptmann etwa lieber hätte als den lange vertrauten Ehemann. Die Ehe ist ein »Dienst«, in dem alle Verheirateten ständig auf die Aufrechterhaltung des ehelichen Verhältnisses bedacht sein sollen, wenn sie schon nicht immer dieses Verhältnis zur beiderseitigen Lust ausgestalten mögen. Vor allem ist die Ehe ein Feld des Wortwechsels und damit ein Gebiet, das die Redekünstlerin Charlotte von früh auf zu ihrem Tummelplatz gemacht hat: »Klare Gewandtheit« oder auch »scharfe Wahrnehmung«, wo Eduard mit seinem leicht entflammten 74
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Eduard hat sich diesen frivolen Vorschlag gut gemerkt, er gibt nur noch etwas hinzu: (im Gespräch mit seinem Freund, dem Hauptmann, II,12): »jedes Jahrzehnt des Menschen hat sein eigenes Glück«. Der Maurer, den wir uns allen Anzeichen nach als einen soliden Könner seines Handwerks vorstellen müssen, formuliert diesen Satz so, dass er damit bestehende, gesetzlich sanktionierte Ehen gutheißt. Das hindert aber nicht, dass wir uns diesen gleichen Satz in Eduards Ohren geradezu als Aufforderung vorstellen, für sich und für Ottilie, die ja gerade »einander von Herzen geneigt« sind, auch den Segen (den »Kitt«) der Gesellschaft zu erstreben.
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und schnell verglühenden Temperament vielerlei Konfusion anrichtet. Indem sie von ihrem Ehemann verlangt, dass er so denkt wie sie, macht sie das zunichte, was ihm noch helfen könnte. Sie will es rasch klären, es »ein für allemal abgetan« haben, und das ganz offen und zuversichtlich. Er dagegen kann ihr nicht folgen, findet aber auch keinen Boden, ihr zu widersprechen. Endlich und definitiv besinnt er sich darauf, dass Ottilie nicht »aus unserer Gesellschaft gerissen« werden dürfe (I,16). Eduard ist der große Verschwender. Er hat früher den Hauptmann mit »dem Notwendigen« versorgt und beruft sich darauf, dass sie beide ihr »Kredit und Debet« schon längst nicht mehr überblicken können (I,1 u.ff.). An Charlotte liegt es wieder mal, sich um die diversen Kassen, Ausgaben und hie und da auch Einnahmen zu kümmern, von der Aufbesserung des Gehalts des Pfarrers an (I,2/II,1) bis zu »ansehnlichen Stiftungen« für Kirche und Schule nach dem Tod der beiden Hauptakteure (II,18). In ihrer Rechnungsführung wird sie als zuverlässig und selbstlos hingestellt und schätzt sich auch selbst so ein. Sie ist die Sparkasse der wirtschaftlichen Einheit Gut, Haushalt und Park; dank ihrer umsichtigen Voraus- und Nachrechnung brauchen die beiden Besitzer keinen Verwalter. Bei näherem Zusehen jedoch erweist sich auch ihre ökonomische Kompetenz als ein Gebilde auf tönernen Füßen. Es ist eine Schuldenwirtschaft, in die ihr Haushalt verstrickt bleibt: Um ein Loch zu stopfen, muss immer ein anderes aufgerissen werden.76 Charlotte verteidigt aber nicht nur die äußeren Formen ihrer Ehe, sondern auch die Intimität der streng auf zwei Menschen begrenzten Beziehung. Nur macht sie aus der Zweisamkeit gleich wieder eine Aufgabe, zu der sie vor allem ihren Angetrauten wieder und wieder strikt vermahnt. Auch diese Zweisamkeit, von einem Partner aufrechterhalten und dem anderen unablässig vor Augen gerückt, erweist sich so als eine Bekundung und vergebliche Verarbeitung der Einsamkeit, an der Charlotte vermutlich stärker leidet als die übrigen Figuren des Romans. An ihrem allmählich dahinschwindenden ruhigen Familienleben wie bisher hat sie ein starkes Interesse und scheut nicht einmal vor 76
Hier (nicht zum ersten Mal) ist es Schlick, der genauer beobachtet hat, zentral S. 359, unter Berufung auf Vaget.
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Mitteln des psychischen Drucks gegen ihren Noch-Ehegatten zurück (vor allem I,16). Sie fragt sich unvermeidlich: Lässt sich eine Ehe kitten, wenn sie ›zerrüttet‹ ist? Charlotte versucht es lange. Erst als es zu spät ist, als ihr Kind ›in den Brunnen gefallen‹ ist, als Ottilie ihrerseits dem Geliebten »rein entsagt« hat (sie liebt ihn aber weiterhin), kommt sie davon ab und will in die Scheidung willigen. Sie bekennt ihre »Sünde«, so lange an ihrer Ehe festgehalten zu haben, ja sie nimmt sogar die Schuld am Tod ihres Kindes auf sich (II,14). Jetzt aber ist es auf mehrfache Weise zu spät: Jetzt denkt sie sich die beiden andern (Eduard und Ottilie) miteinander verbunden, ja als das »schicklichste Paar« (II,14) – aber jetzt lässt sich Ottilie auf keine Weise mehr in diese Verbindung, die sie inzwischen als fatal durchschaut hat, bitten oder nötigen. Widersprüchliche Charakterzüge häufen sich in Charlotte wie in keiner anderen Gestalt. In dieser Hinsicht ist sie sogar die interessanteste der vier Figuren. Charlotte bildet den Hort des Konservatismus in diesem Roman. Die Erinnerung an ihre frühere Zeit bei Hofe lebt in ihr noch am lebhaftesten nach. Manchmal (z.B. in II,1) denkt sie über ihre Inselexistenz hinaus und stellt sich und anderen (hier: dem Architekten) große Rollen von Kulturträgern in dieser Gesellschaft vor: die »Geistreichen«, »Gelehrten«, »Gereisten«, »Liebevollen«. Sie stellt sich auf ihre Seite und bedauert, wie wenig die Zeitgenossen ihnen gerecht werden, d.h. von ihnen »lernen« und freundlich auf sie eingehen. So achtlos betragen sich laut Charlotte auch »Völker gegen ihre trefflichsten Fürsten«. Da ist niemand, der sie an die weniger »trefflichen« Fürsten erinnert, von denen die Epoche des ausgehenden 18. Jahrhunderts sowie der Beginn des 19. (als Goethe die Wahlverwandtschaften geschrieben hat) nicht wenige aufweisen konnten. Da man den »Geistreichen«, den »Liebevollen« usw. (den Fürsten nun gerade nicht) mitunter zu Gast hat, konzentriert sich ihre vervielfachte Sorge um den rechten Umgang mit ihnen auf ihre Haupttugend: »die Gegenwart recht zu ehren« (II,1). Charlotte lebt in der Tat sehr gegenwartsbezogen. Denkmäler, auch Grabmäler liebt sie gar nicht – mit einer großen Ausnahme: als ihr Ehemann und seine heimlich-öffentliche Geliebte gestorben sind (II,18). Statt dessen liegt ihr daran, »die Verhältnisse gegen die Hinterbliebenen immer lebendig
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und tätig zu halten« (II,1). Kaum hat sie sich über die Vorfälle in jenem Wirtshaus (das Treffen Eduards mit Ottilie) notdürftig orientiert, geht sie »sogleich mit Entschlossenheit an das, was der Augenblick fordert« (II,17). Zur Marotte wird aber diese edle Maxime, wenn sie nichts Totes in ihrem Haushalt, nicht mal Grünspan auf ihrem Silberbesteck, dulden will. Den Tod kann sie auf den Tod nicht leiden, so ließe sich eine Eintragung aus Ottilies »Tagebuch« (II,5) weiterführen. Aus dem Friedhof der Gemeinde, früher hieß er sogar »Gottesacker«, sucht sie ein »Auferstehungsfeld« zu machen. Nur weil sie ihre Tochter Luciane so liebt, greift sie nicht ein, als dieses launische Geschöpf zur Belebung ihrer »lebenden Bilder« einen Trauermarsch spielen lässt (II,4). Indem so Charlotte den Haushalt führt, jeden Punkt der Versorgung bedenkt und über seine mögliche Verbesserung nachdenkt, indem sie ihre Ehe aufrecht hält und gegen die heimliche Aushöhlung durch den, der sich noch ihren Mann nennt, zur Wehr setzt, denkt und plant sie immer schon über die eigene Person hinaus, meistens für alle vier. Dass sie aber ausdrücklich sagt: »Ich fühle es wohl, daß das Los von mehreren jetzt in meinen Händen liegt« (II,14), das verschärft noch den faktischen Zustand. Es klingt ähnlich übergriffig wie Eduards Lust an der Herrschaft, am Befehlenkönnen über andere (I,6, s.o.). Sie macht auch umstandslos Gebrauch von ihrer Bestimmungsmacht. »– was ich zu tun habe ist bei mir außer Zweifel und bald ausgesprochen«. Hier will sie zum ersten Mal in die Scheidung einwilligen und dadurch das Verwechselspiel zwischen den vieren, die »Wahlverwandtschaft« im naturwissenschaftlichen Sinne, besiegeln. Daraus kann nur nichts werden, weil Ottilie unter Androhung ihres Selbstmords Widerstand leistet. Überhaupt folgt aus ihrer Entschlossenheit so gut wie nichts für die anderen und nicht einmal für sie selbst. Gleichwohl muss es eine tief befriedigende Genugtuung für sie sein, das »Los« der anderen in ihrer eigenen Hand zu wissen – auf die Leser muss es geradezu, wenigstens in erster Linie, als Befriedigung ihrer Selbstsucht wirken. Sie spinnt sogar Intrigen, aber nur ziemlich feine; in dieser Kunst wird sie von der Baronesse mühelos übertroffen.77 Charlotte wehrt sich entschieden dagegen, 77
S. u. unter: Graf und Baronesse.
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die vom Hauptmann hier hereingeschleppte Lehre von der Anziehung und Abstoßung auf ihre kleine Runde, also auch auf sich persönlich zu beziehen. Statt dessen denkt sie dabei an die sozialen Spannungen innerhalb der »Sozietäten«, in denen sie nicht leugnen kann zu leben: zwischen den »Massen«, die gegeneinander stehen, den »Ständen« und »Berufsbestimmungen«, dem »Adel« gegenüber dem »dritten Stand«, auch noch zwischen »Soldat« und »Zivilist«. Es wird nicht einmal deutlich, ob sie bewusst ausweicht oder nur den verführerisch-bedrohlichen Vergleich unwillkürlich von sich und den Ihren fernhalten will. Charlotte wird dargestellt als eine Frau, die »immer«, in welchen Gemütslagen und äußeren Umständen auch immer, »gewohnt« ist, »sich selbst zu gebieten« (I,12). Am Hauptmann schätzt sie besonders seine »Klarheit über den eigenen Zustand« (I,3).78 Sie muss viel bei sich behalten, statt es den anderen mitzuteilen – offenbar soll niemand ihre Gedanken erraten. Sie denkt sogar »bei sich selbst«79 : als wenn sie Angst hätte, jemand könne auf das antworten, was sie da denkt. Zumeist ist sie auch selbstzufrieden. Sie muss, da die beiden Herren so intensiv miteinander umgehen (etwa ab I,8), sich mit sich selbst beschäftigen und findet Genügen an sich selbst. Was der Hauptmann ihr nahelegt, leuchtet ihr sehr ein: lernen, »ihr eigener Fähr- und Steuermann zu sein« (I,12). Anscheinend ist es mit ihrer Selbsttätigkeit doch nicht so weit her. Die Verschönerung des Parks hat nicht nur ihre eigene Ästhetik, sondern auch eine gewisse Ethik. Der Hauptmann rührt daran, wenn er in Charlottes Art daranzugehen so etwas wie ihren Charakter widergespiegelt findet. Ihr sei mehr daran gelegen, »daß sie etwas tue, als daß etwas getan werde« (I,3). Da er den Auftrag zur Umgestaltung des Parks strikt als Auftrag nimmt, das ist schließlich der Grund, weshalb er hergekommen ist, ist es nur konsequent, wenn er alles, was getan wird, an der Erreichung eines gewissen Endresultats misst. Er
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Sie drückt es doppelt aus (»So viel Deutlichkeit über sich selbst, so viel Klarheit über seinen eigenen Zustand«), als wenn sie sich daran gar nicht genugtun könnte. I,12, gegenüber dem Grafen, danach noch öfter.
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geht aber nicht darauf ein, was das Tun in seiner aktiven Form für diejenigen bedeutet, die es ausführen. Charlotte lässt sich offensichtlich damit genügen, dass sie sich selbst, ihren Charakter in der Ausübung ihrer Liebhabereien ausprägt. Sie gewinnt ihre Motivation daraus, dass z.B. ihr Gartenhäuschen (die »Mooshütte«) »ihre« Kreation ist.80 Indem sie stolz darauf ist, gerade in den ›Werken‹ ihres Stils sich selbst wiedererkennt, gewinnt sie auch eine Schubkraft zur Weiterplanung und weiteren Ausführung, die sie der puren ›Werkethik‹ des Hauptmann wohl kaum abgewonnen hätte. Darüber dürfen wir aber auch die ökonomische Seite dieser Verschönerung nicht vergessen: Sie diente nicht zuletzt der ›Wertsteigerung‹ des Objekts.81 Wie sie ihren inzwischen vertrauten Gast Ottilie behandelt, als Eduard plötzlich verschwunden ist, das geht weit über das hinaus, was sonst an wohlmeinenden oder spitzen Neckereien üblich ist. Sie hungert sie förmlich geistig aus – hier lässt sich der Zusammenhang zwischen dem extremen Hunger nach Nachrichten und der selbst angetanen Verweigerung von Speisen einmal mit Händen greifen. Ottilie wird »unruhig« und »doppelt betroffen«, als sie den Tisch nur für sie beide gedeckt findet. Direkt »abgesetzt« kommt sie sich vor. Charlotte spricht absichtlich »ganz unbefangen« von allerlei anderem, für das Ottilie in der Situation einfach kein Ohr hat (I,17). Geradezu boshaft muss es auf sie wirken, wenn Charlotte ihren Zustand »mitfühlt« und sie nun erst recht »allein« lässt. Zur Ablenkung verschiebt sie das Gespräch auf Allgemeinplätze, »weise Betrachtung[en]« – Ottilie bleibt nichts übrig als darauf einzugehen, angeblich findet sie sogar »einen großen Trost« darin. Wie Charlotte aber wirklich zu Ottilie steht, mit der sie doch gut ein Jahr zusammengelebt hat, verrät sich an unwillkürlichen Zeichen der Expurgation: Kaum ist Ottilie abgereist (Reiseziel: ihre »Pension«),
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Und zwar vor allem der Plan und der zur Ausführung gewählte Platz. Für die Ausführung selbst zieht sie ›natürlich‹ ihr Personal heran (das bezeichnenderweise, wie meistens, nicht einmal genannt wird). Das ist das Argument Strobels (S. 96f.). Andererseits kritisiert er wieder Schlick, der ihm zu ökonomisch (und zu kleinteilig) argumentiert.
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gibt sie Anweisung, das Zimmer, das sie bis jetzt bewohnt hat, zu räumen, und zwar vollkommen, bis auf »die leeren Wände«. Sie schaudert selbst, als sie es wieder betritt (II,17). Wahrhaftig kann ein solches Verhältnis, das zentrale zwischen Charlotte und Ottilie, »nicht wohl« wieder zu einer »offenen Übereinstimmung« gebracht werden (I,17). So ist Charlotte, obwohl sie noch am ehesten für alle vier denkt und plant und obwohl sie ihrer aller ›Seelenheil‹ hütet, doch nur Partei und auf ihr eigenes Heil bedacht. Bevormundend wird diese sonst in sich ruhende Gutsherrin, wenn sie von sich auf andere schließt und einem anderen (es ist leider immer ihr Mann) dasselbe aufnötigen will, zu dem sie sich durchgerungen hat. Sie »beherrscht sich selbst« und ist stolz darauf – sie spürt gar nicht, wie diese Herrschsucht Besitz von ihr ergreift, da es doch nur eine Sicherungsmaßnahme innerhalb der eigenen Person ist, nichts ›über ihre Haut hinaus‹. Wie sie in diesem Sinne ihrem Mann zusetzt (I,16), das hält sie im Sinne einer ›bitteren Medizin‹ für unerlässlich, aber sie trifft und demütigt ihn damit aufs Peinlichste. Dass die Liebe zwischen zwei so »ernsten«, »selbstsicheren« Personen wie Charlotte und dem Hauptmann »gefährlicher« sei als die zwischen zwei Ungestümen, ›Frischlingen‹ gewissermaßen in der Verliebtheit (I,8), das leuchtet nicht recht ein, es wirkt sich auch auf die weitere Handlung nirgends aus. Immerhin ist Charlotte, als der Graf schon eine andere »Verwendung« ›ihres‹ Hauptmanns projektiert (,10), davon getroffen wie von einem »Donnerschlag«. Die Vorschläge selber ebenso wie ihre innere Reaktion kommen so überraschend, dass sie sich kaum vom Grafen verabschieden kann (sie entfernt sich »mit einer notdürftigen Verbeugung«) und nicht hindern kann, dass ihr die Tränen nur so »aus den Augen stürzen« (I,10). Einmal hätte sie sich beinahe ihrer neuen Liebe hingegeben. Wir bekommen es nur im Rückblick aus ihrer Sicht geboten: Es kam zu einem »lebhaften Kuß« von Seiten des Hauptmanns, und sie hätte ihm den »beinahe zurückgegeben«. Aber gerade der Kuss »brachte Charlotten wieder zu sich«. Sie missbraucht dann die Situation (man kann es kaum anders nennen) zu einer kleinen scharfen Moralpredigt. »Verzeihen« kann sie ihm und sich selbst (immerhin!) nur, »wenn wir den Mut haben, unsere Lage zu ändern«, da an ihren beiderseitigen »Gesinnungen«
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ihrer Auffassung nach (sie spricht diese ganze Partie für sie beide) doch nichts zu ändern ist (I,12). Ihre liebevolle Fürsorge für den Hauptmann verrät sich u.a. darin, dass sie die Rettung des Jungen aus dem Wasser (am lockeren Damm) für sich zusammenfasst: »wie der Freund sich aufopferte, wie er rettete und selbst gerettet wurde« (I,15). In der Romanwirklichkeit hat der Hauptmann zu keinem Zeitpunkt in Lebensgefahr geschwebt, aber von ihrem subjektiven Standpunkt aus sieht sie ihn entrissen und dann dem Leben wiedergeschenkt.82 Charlotte ist, wie »immer« (mit Ausnahmen, wie sich gezeigt hat), »gewohnt, ihrer selbst bewusst zu sein«. So »lächelt« sie über sich selbst im Rückblick auf den Besuch Eduards in ihrem Schlafzimmer. Das Lächeln allerdings vergeht ihr, als ihr die erste innere Regung (»ein freudig bängliches Erzittern«) sagt, dass ihr Zustand an einer beginnenden Schwangerschaft liegen könnte (I,12). So fest sie über ihr »Selbst« gebietet, die Erinnerung an das, was sie innerlich (nur in Gedanken) mit dem Hauptmann erlebt hat, steht ihr im Weg, wenn sie andere mahnen (»warnen«) will. Ottilie z.B., da wäre es gerade (denkt sie) noch Zeit und schon höchste Zeit. Aber: »die Erinnerung ihres eigenen Schwankens steht ihr im Wege«. Drei Anläufe nimmt sie in ihrem Vorsatz, alle drei deuten »zurück in ihr eigenes Herz«. Indem sie schweigt, sich nur leise (offenbar unverständliche) Andeutungen »entschlüpfen« lässt, indem alle vier Gefährten »mit oder ohne Nachdenken« ihr gewohntes Leben fortsetzen, wird alles noch schlimmer.83 So zeigt sich unübersehbar: Das »Selbst« verlangt von den Ansässigen wie von den Eingeladenen, dass sie sich von ihrer besten, ihrer entschiedensten, reflektiertesten Seite zeigen. 82
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Ihre Formulierung würde viel besser zu dem Verhalten des jugendlichen Helden der »Novelle« passen, aus dem später der Hauptmann wurde. Zwischen diesem wahrhaftig rettenden und sich selbst rettenden jungen Mann und der Zuhörerin Charlotte muss es in der Vergangenheit persönliche Verbindungen gegeben haben, die der Roman jedoch im Dunkeln lässt. Ein ganzes Jahr mit vielen Wendungen (vor allem in der inneren Einstellung zwischen den beiden Liebenden) muss vergehen, ehe Charlotte mit Ottilie relativ offen von ihren Sorgen und den Verhaltenregeln für sie sprechen kann. Der »Entschluss« muss aus ihr selbst, aus Ottilie nämlich, und »aus freiem wollendem Herzen« kommen (II,15).
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Und zugleich bietet es ihnen das Versteck: Was sie tun, tun sie ›nur‹ »für sich selbst«. An dieser Stelle84 greift der Erzähler zu einem übertrieben wirkenden Ausdruck: »in ungeheuren Fällen«. Vergegenwärtigt man sich aber, was auf dem Spiel steht: für den verliebten Eduard, für die sich »unschuldig« fühlende Ottilie (»in einem Himmel auf Erden«), für Charlotte selbst und den Hauptmann, die in ihrer wechselseitigen Zuneigung nicht vorrücken und nicht zurückweichen können, so mag das »ungeheuer« gerade die passendste Bezeichnung sein.
Otto, »der Hauptmann« Der Hauptmann,85 »ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle«,86 ist unentbehrlich als einer von den vieren, und zwar der Ernsteste, Strengste, in den täglichen Geschäften der Eifrigste. Für die innere Ökonomie des Romans gehört er aber doch nicht so ganz dazu. Es ist schon sonderbar, dass er als einziger von der Viererrunde permanent mit seiner Berufsbezeichnung vorgeführt wird, so wie der Gärtner oder der Kammerdiener. Er ist so tüchtig und resolut wie Charlotte, versteht sich ebenfalls aufs Rechnen und macht brauchbare Vorschläge, was sie verpachten oder verkaufen könnten, um zu dem nötigen Geld für die Parkumgestaltung zu kommen. Als Freund ist er unentbehrlich, geradezu ein ›Urfreund‹. Als Liebhaber dagegen ist er eine schwache Besetzung dieser Rolle – dabei wäre er doch, wie die Handlung läuft, prädestiniert dazu, Charlottes Liebhaber abzugeben. Einmal kommt es zu einem ersten Kuss – es wird der einzige bleiben –, und im Nu geht er zu Boden und bittet sie um Vergebung (I,12). Ihre Reaktion 84 85
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Im Schlusssatz des Kapitels I,13. Nur wie aus Versehen fällt einmal (I,3) sein Taufname, sonst wird er durchgehend mit seinem militärischen Rang bezeichnet. Im II. Buch, nach einem längeren Aufenthalt in der Residenz, kehrt der Hauptmann als »Major« zurück, ohne nähere Erklärung für diese Veränderung (die sich damals jeder leicht denken konnte). Um die Einheit der Person zu unterstreichen, soll hier durchgängig an der Bezeichnung »Hauptmann« festgehalten werden. Zu dieser etwas altmodischen Lobesformel greift Grete Schaeder, S. 308f.
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darauf, jedenfalls in dieser Szene: Sie redet nur noch in Ausdrücken der moralisch geläuterten Lebensführung mit ihm. Wenn er seine Werbung noch mal anzubringen sucht, »lispelt« er, dass sie ihn kaum versteht (II,14). Es ist nicht eigentlich das Militär, das ihn solchermaßen geprägt hat, es liegt eher an seiner persönlichen Vorstellung von Korrektheit. Für ihn ist Charlotte nach wie vor, so viel er auch von Eduards Sinneswandel mitbekommen hat, die Frau dieses seines Freundes und daher tabu. Im Zusammenwirken mit Eduard entwickelt er mancherlei Initiativen, gegenüber Charlotte ist er vorsichtiger und sucht möglichst nur zu reagieren.87 Charlotte entsagt ihm dann »rein und völlig«, noch bevor er das Schloss verlässt. So profitieren die andern88 von seinen Qualitäten als Planer und Explorateur, auch als menschenkundiger Zeitgenosse, und lassen ihn ansonsten seiner Wege gehn. Im Gespräch ist der Hauptmann in vielen Konstellationen das Echo Eduards. Aber ein reinigendes, besonneneres, auf Verantwortung pochendes Echo. Wenn es sich verzögert oder ausbleibt, kann es Eduard geschehen, dass er sich herausgefordert sieht, von sich aus so nobel und rücksichtsvoll zu denken, zu reden, ja zu sein, wie sein Freund ihm das nahelegt. Die einzige, aber bedeutende Ausnahme von dieser durchgehenden Zurückhaltung liefert das für den ganzen Roman prognostische Gespräch über die wechselseitige Anziehung und ›Abtrünnigkeit‹ der chemischen Elemente, I,4. Hier liefern sich Eduard, der aus einem naturkundlichen Buch vorliest, und der Hauptmann, der das Vorgetragene kommentiert und spezifiziert, geradezu ein Rededuell, vor den Ohren Charlottes, die ihr volles Interesse an den vorgetragenen Materien gleich zu Beginn kundtut (sie legt »ihre Arbeit [eine Hausarbeit wohl] beiseite«). Charlotte denkt an »ein paar Vettern« oder an eine liebe Freundin, denen eine solche »Scheidung« und ungewisse neue Verbindung wie hier geschildert zu schaffen gemacht hat oder
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Im Verkehr mit Eduard heißt es mal »Eduard und der Hauptmann«, mal »der Hauptmann und Eduard«. Sein Umgang mit Charlotte dagegen wird gewöhnlich notiert in der Form: »Charlotte mit dem Hauptmann«. Außer Ottilie: Sie kann gar nichts mit ihm anfangen.
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gerade bevorsteht. Eduard ›übersetzt‹ die Bestrebungen unter den Naturelementen in sein eigenes Verhalten, wobei die Charakterisierung des »Narziß« jetzt schon auf ihn zutrifft, die Rolle des Don Juan ihm noch bevorsteht. Der Hauptmann ist der einzige, der die natürlichen Elemente als Naturkörper agieren lässt, sowohl wenn sie sich auf sich selbst zurückziehen (wie die Quecksilberkügelchen) als auch wenn sie offen sind für Bindungen mit anderen, sogar ›gegensätzlichen‹. Als die »bedeutendsten und merkwürdigsten Fälle« hebt er die hervor, die ein »Vereinigen gleichsam über Kreuz« darstellen: bei denen »eine bisherige Verbindung« verlassen und eine neue eifrig gesucht wird. Hier kann er nicht umhin, von »höherer Bestimmung« und »Wahlverwandtschaften« zu reden, wenn auch mit einem Als-ob: Das traut man ihnen zu, sofern es Menschen sind, die sie betrachten. Er besteht auf der Anschauung der so ›lebendigen‹ Elemente als natürliche Elemente, aber wie er sie beschreibt, teilt er ihnen so viel menschliches, sehnsüchtiges, ja zupackendes Verhalten zu, als wären sie menschliche Liebesleute, nur eben in den gewohnten Grenzen der Naturkörper: »– wie sie einander suchen, sich anziehen, angreifen, zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten«. Er schwärmt für die Wechselwilligkeit der Elemente, er zieht dazu die Bildsprache menschlicher Beziehungen heran, pocht aber auf die ›reine‹ Natur. In der ausführlich wiedergegebenen Kontroverse zwischen Eduard und dem Hauptmann über Eduards Wunsch, sich scheiden zu lassen und das auch noch durch den Freund ins Werk zu setzen (II,12), beweist dieser von Anfang an »bedeutenden Ernst«. Eduard sieht sich, da er im Krieg einiges durchgemacht hat, vom ›Schicksal‹ berechtigt,89 die Scheidung und damit die Hand Ottilies zu fordern. »Ottilie ist mein«, jedes Hindernis dagegen kann er nur als »für nichts bedeutend« ansehen. Der Hauptmann appelliert an Eduards eigenes Bewusstsein vom
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Die Rede vom »Schicksal« und seinen »Zeichen« ist das, was der Autor seinem Protagonisten am meisten verübelt. In diesem Punkt gibt er sogar einmal Mittler (in I,18) voll Recht.
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»Wert« seiner bestehenden Ehe (und überdies auf den berechtigten Anspruch des kleinen Erben auf eine intakte Beziehung seiner Eltern). Aber Eduard setzt lieber sein Kind der fürsorglichen (und dabei doch manchmal im Stich lassenden) Natur aus: »Alles was lebt findet Nahrung und Beihülfe«, als dass er von seinem Ziel ablässt. Der Hauptmann redet ›mit Menschen- und Engelszungen‹ auf den Freund ein, aber der will (kann anscheinend) nicht hören. Dass er ihm das »Unerfreuliche, Beschwerliche, Unschickliche« einer solchen Trennung vor Augen rückt, kann Eduards Laune nur vorübergehend trüben: Er behandelt »die Sache« als gebongt und ist alsbald wieder zu »Scherzen« aufgelegt. Der Hauptmann wird sogar losgeschickt, um Charlottes Meinung zu diesem Anti-Antrag zu eruieren – bedenklich auch für ihn selbst, da dadurch seine Person wieder in diesen ›Handel‹ einbezogen wird. Er muss sich also nachdrücklich für etwas einsetzen, was er nicht richtig findet, und muss es gerade der am nächsten Betroffenen ins Gesicht sagen. Kein Wunder, dass er in der folgenden Aussprache mit Charlotte (II,14) sorgfältig zu trennen versucht: »den Zweck seiner Sendung, insofern Eduard ihn abgeschickt hatte«, und »den Zweck seines Kommens, insofern sein […] eigenes Interesse dabei war«. Lässt sich das aber wirklich trennen? Der Hauptmann ist es, der in allen Gesprächen, bei denen er zugegen ist, Vorsorge für bedenkliche Fälle trifft und sich, wenn ›es schiefgeht‹, wenigstens auf die Einordnung in den Lauf der Welt versteht. Seine Vorschläge und sonstigen Beiträge zum Gespräch sind durchweg human, moderat, mit einer gravierenden Ausnahme: Was ihm nach der Nachricht vom Exitus des kleinen Otto – immerhin sein Namensvetter – durch den Kopf geht, ist so grausam, dass der Erzähler es nur seinem Gedankegang, keiner Verlautbarung gegenüber anderen anvertraut: »Ein solches Opfer (sic!) schien ihm nötig zu ihrem allseitigen Glück (sic!)« (II,14). Trotzdem gelangt diese Einschätzung, wohl durch Gedankenübertragung (?) auch in Eduards Kopf, nur noch verschärft durch die Reduktion vom »allseitigen Glück« auf seinen persönlichen Nutzen: eine »Fügung«, »wodurch jedes Hindernis an seinem Glück auf einmal beseitigt wäre« (ebd., 12 Zeilen tiefer). Die vorherrschende Humanität des Hauptmanns kann also bedenkliche Lücken aufweisen; von
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der des Hausherrn Eduard sind wir sowie an dieser Stelle nicht mehr so recht überzeugt. Immerhin hat dieser Hauptmann, anders als Eduard, noch die ganze Konstellation der vier und nicht den persönlichen Nutzen für einen von ihnen im Kopf. Der Hauptmann bleibt länger weg als Eduard, was einzig Charlotte, nach einem »einsilbigen Abschied« (I,16), flüchtig bedauert. Während seiner (und Eduards) langen Abwesenheit wird eine ganze Reihe von Gästen willkommen geheißen und an neuen Gesprächen beteiligt. Sie sollen die Abwesenden (von denen man nur ganz selten etwas erfährt) ersetzen. Wie wenig Ersatz sie aber wirklich bieten, zeigt sich an dem Architekten, den der Hauptmann ausdrücklich als seinen Ersatzmann vorgeschlagen hat (I,14). In der Umgestaltung des Parks zwar setzt er ihn direkt und ganz in seinem Sinne fort. Er schafft es sogar, wie der Erzähler sich gravitätisch ausdrückt, »dem Werk Sicherheit und Dauer« zu verleihen (I,14). Aber wie hätte er in die Herzensbeziehung des Hauptmanns zur strengen Hausherrin einsteigen können? Er hätte es nicht mal gedurft, wenn er gewollt hätte. Hier zeigt sich, dass der Hauptmann, der unter den Vieren am wenigsten hervorgetreten ist, in deren Mitte doch eine unersetzbare Rolle gespielt hat. Als er sich wieder blicken lässt, ausgerechnet an dem Abend, an dem Eduard den Tod seines Sprösslings verarbeiten muss, läuft es auf den Abschied von Charlotte hinaus; später liefert er noch ab und zu nützliche Handreichungen oder Aufklärungen, zuletzt am Sterbebett Ottilies und bei den Anstalten zu ihrer Beerdigung. Im letzten Kapitel hat er sonst nichts mehr zu sagen, nur noch zuzuhören, was Eduard ihm in seinen letzten Worten zu sagen hat: »Es ist eine schreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen. Ich fühle wohl, Bester, es gehört Genie zu allem, auch zum Märtyrertum«. Dass er noch einmal angesprochen wird, und zwar mit der Anrede »Bester«, das ist das Letzte, was der Autor für diese noble und großzügige, im Zweifelsfall aber auch harte Figur seines Romans, die gewöhnlich am wenigsten bedachte aus dem beherrschenden Viererbund, veranstalten konnte.
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Ottilie Ottilie wird von ihrem ersten Auftreten an stark beachtet. Man kann wohl sagen, dass sie die kleine Runde erst wirklich ›rund‹ macht, Sie geht nicht mehr auf die andern ein als diese, aber sie sucht (meist mit wenigen Worten) genau zu verstehen, wovon jeweils die Rede ist. Diese Aufmerksamkeit teilt sich den andern mit, und mit dem gleichen Ton begegnet sie den Gästen: dem Architekten, dem Pädagogen (»Gehülfen«), sogar noch dem Begleiter des »Lords«. Wie sie früher war, was die anderen von ihr im Gedächtnis behalten haben, ist auf eben diesen Ton der naiven Direktheit gestimmt. »– weil er ihr gar so wohl gefallen«,90 damit begründet sie ihre frühe, fast noch kindliche Aufmerksamkeit auf Eduard (I,7).91 Von dem, was sie in ihrer Schulzeit gelernt hat, spricht sie nur einmal (I,6: die Episode von Karl I.), von ihrer Situation in jener »Pension« gar nicht. Ihre frühere Kindheit erwähnt sie häufiger. Die Rückhaltlosigkeit und den von Herzen kommenden, deshalb auch zu Herzen gehenden Klang hat Ottilie beibehalten. Sie ist und spricht arglos, vertrauensvoll, ja treuherzig, sie ist freudig dem Kommenden aufgeschlossen und vernünftelt nicht. Sie erscheint ›lieblich‹, und sie spricht in einer Art, die den Hörern angenehm erscheint. In ihrer ersten wörtlich wiedergegebenen Äußerung, nachdem sie sich in die neue Konstellation eingefühlt hat, reduziert sie einen bedeutenden historischen Vorgang (die Aburteilung mit folgender Hinrichtung Karls I. von England) auf ein geringfügiges menschlichen Geschehen, das vor allem dazu angetan ist, Mitleid mit ihm zu gewinnen. Von seinem Szepter (»Stöckchen«) fällt ihm ein goldener Knopf zu Boden, und jetzt findet sich keiner mehr, der es ihm aufgehoben hätte. Das kam ihr so »schmerzlich« vor, dass sie sich prompt aufgrund dieses Vorfalls angewöhnt hat, sich nach allem zu bücken, was herunterfällt (Männern
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Ganz ähnlich drückt sich später ihre Dienerin Nanny aus, »unschuldig«, wie der Erzähler hinzusetzt: »– weil es ihr gar so gut geschmeckt« (II,18). Genauer: Diesen Ausdruck hat ihr der Erzähler auf die Zunge gelegt (»sie hätte hinzusetzen können«). Er muss es wissen, denn er kennt sie am besten und weiß nicht nur, was sie sagen will, sondern auch, wie sie sich ausdrücken würde.
Die vier Hauptpersonen in den Eigentümlichkeiten ihres Austauschs miteinander
ebenso wie Frauen). Sie fügt sich aber dem Rat ihrer Tante: Es mag nicht »schicklich« aussehen, und sie wird es nicht immer erklären können, so will sie sich in Zukunft damit »zurückhalten« (I,6). Da sie sonst durchweg zurückhaltend, in manchen Situationen sogar »verschlossen« ist, fällt auf, dass sie Eduard gegenüber, wenn sie mit ihm allein ist, stärker aus sich herausgeht (sie wird »gesprächiger und offener«, I,7). Das wirkt wie die allmähliche Lösung einer inneren Sperre. Ab jetzt wollten die anderen sie stärker in die Unterhaltung der andern bei Tisch oder im Freien einbeziehen. Wie weit geht sie auf Eduards unaufhörliches und unüberhörbares Werben ein? Er wird, ziemlich bald, der Freund ihres Lebens, auch der »Geliebte«; sie kann sich keinen anderen Mann für sich vorstellen. Aber sie denkt in diesem Punkt realistischer als Eduard: Sie brauchen den Segen seiner (jetzigen) Frau, sonst kann aus einer Verbindung nichts werden. Als sie sich aus Andeutungen zusammenbuchstabiert hat, dass Charlotte definitiv Eduards Frau bleiben wird (I,17),92 beginnt ihre innere Umorientierung: Liebe ja, unverbrüchlich, aber eine Ehe mit Eduard kommt nicht in Frage. Sie erkennt, dass ihre Liebe nur »vollendet« werden kann, wenn sie »völlig uneigennützig« wurde (II,9). Der Erzähler resümiert die innere Veränderung als: »Ottilie war klug, scharfsinnig, argwöhnisch geworden«. Weil das aber zum bis dahin errichteten Bild dieser eigentlich mehr impulsiven als reflektierten jungen Frau nicht recht passen will, fügt er hinzu: »– ohne es zu wissen«. Ottilies erhöhte »Gesprächigkeit« hat aber auch einen Pferdefuß: Sie lässt sich verleiten, ihrem Freund zu hinterbringen, was der Hauptmann über seine Manier, sich auf der Flöte zu ergehen, gesagt hat: diese »Flötendudelei«, mit der er die Zuhörer besser »verschonen« sollte (I,13).93 Die Gesprächskonstellation wird an dieser Stelle ziemlich verwickelt, sie erweitert das Grundmuster des ›Klatsches‹: Der Hauptmann
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Dem Hauptmann scheint eine andere Ehe zu winken, sogar als eine »gewisse Sache«. Eine solche Indiskretion kann, gerade wenn sie zutrifft, ärger wirken als selbst eine Verleumdung.
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äußert sich ›hinter dem Rücken‹ Eduards, offensichtlich Charlotte gegenüber, und Ottilie bringt es »unbedachtsam« hinter dem Rücken des Hauptmann zu Eduards Ohren. Ihre erhöhte »Gesprächigkeit« findet offenbar im alltäglichen Liebesdiskurs nicht genügend Nahrung und greift auf heikle Gegenstände aus. Sie bereut es auch sofort; angeblich flüstert »der Geist«94 ihr zu, »daß sie hätte schweigen sollen« – »aber es war heraus«. Eduard wird »wütend«, wie zu erwarten, aber das hält nicht lange vor. Danach ist es von allen Seiten vergessen, es sollte nur an dieser Stelle zeigen, dass Ottilies gelöste Zunge dem geliebten Mann auch garstige Gegenstände zu Gehör bringen kann. Am liebsten emigriert Ottilie, in Gedanken und möglichst auch aktiv, aus der bekannten Welt in eine ganz andere, geheimnisvolle. Für das geplante neue Haus hat sie eine genaue Vorstellung, wohin es gehört: auf die höchste Stelle des Geländes. Diese verspricht ihr und den andern, wenn sie den Vorschlag aufnehmen, »eine andre und neue Welt« (I,7). Sucht sie aus der hiesigen, der einzig bekannten Welt in eine total fremde auszuwandern? Das Bauwerk in seiner stolzen Höhe wird dann zweimal gehörig gefeiert (Grundsteinlegung, Richtfest) – aber der Umzug dahin, das Wohnen dort oben wird kaum erwähnt, gar nicht untereinander besprochen. So geht es auch mit anderen Plänen und Hoffnungen: In der Verwirklichung ist kaum noch etwas von der früheren Verheißung zu spüren. Eine »andre und neue Welt« tut sich allenfalls im Jenseits auf, nicht in einer anderen irdischen Lokalität, die in ihrer Ausstattung denn doch von der vorhandenen abhängig bleibt. Eine ganze Ladung von »Bemerkungen, Betrachtungen, ausgezogenen Sinnsprüchen und, was sonst vorkommen mag« (II,2) fällt aus dem Handlungsablauf heraus und geht ein in ein Kontinuum der eigenständigen Reflexion aus mehr oder weniger Abstand: Maximen eben, in sechs Partien gesammelt, ab und zu durch zusätzliche Feststellungen des Erzählers unterstützt. Diese Gedankenschätze werden als Beiträge »Aus Ottiliens Tagebuche« an sechs Kapitel des zweiten Teils angehängt; nur selten (oder höchstens in dünnen Spuren) verraten sie einen Bezug zur fortlaufenden Handlung. Ottilie liest nie darin und liest 94
Nur an dieser Stelle tritt der ominöse, nirgends ausgewiesene »Geist« auf.
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nicht daraus vor. Sie zeigt sie keinem der Mitspieler, Eduard so wenig wie den übrigen; sie macht selbst keinerlei offenkundigen Gebrauch davon. Selbst dass sie sie zur Verfügung hat, bleibt ungesagt (es wird aber vorausgesetzt). Zum größeren Teil soll sie selbst darauf gekommen sein, »wahrscheinlich« ist aber auch (das gilt zumal für die Anhänge an II,4 und II,5), dass sie »irgendeinen Heft« ausgeschrieben und die passendsten Sprüche sich angeeignet hat.95 Der »rote Faden«, der sich hindurchzieht, ein »Faden der Neigung und Anhänglichkeit« (II,2), lässt sich mit Mühe (und nicht für alle diese Reflexionen) erkennen. Immerhin beziehen sie sich auf das Verhalten von Menschen gegeneinander. Anders als in der Benimm-Lehre von Knigge96 baut Ottilie keine allgemeingültigen Regeln auf, sondern freut sich selbst mit, wenn sie Ansätze von löblichem, vor allem aber einleuchtendem, belebendem Verhalten entdeckt. Mit welchem Faden diese Einsichten mit den Vorgängen der zweimal 18 Kapitel des Romans zusammenhängen, läuft auf ein Puzzle hinaus (das gleichwohl nicht wenige Forscher gelöst haben wollen). Am deutlichsten erkennbar wird die unterstützende Funktion für das Gedankenbild dieses »lieben Kindes«: den Freunden innig zugetan / sozial und mitfühlend mit allen irgendwo Ausgeschlossenen / dabei ungemein selbstkritisch im Singular wie im Plural (alle Menschen oder einen signifikanten Teil von ihnen betreffend) / aufmerksam auf verschiedene Künste und ihre Voraussetzungen97 / so anthropozentrisch,
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Huber hat im Kern Recht, wenn er die beiden mittleren Sektionen (abzüglich zwei Eintragungen, die direkt an eine Situation des Romans anknüpfen) unter Goethes Maximen verbucht. Bei ihm fehlen nur die beiden Erwägungen, woher Goethe selbst sie schon hat und welche der anderen sinnigen Sprüche ebenfalls Goethe direkt zuzuschreiben wären. Der gute alte Knigge mit seinem Grundbuch, das auch »der Knigge« hieß (von 1788, oft wieder aufgelegt), war bei weitem weniger gängelnd und zur Anpassung mahnend als ihm in späteren Zeiten nachgesagt wurde (obgleich er auch »Geschmeidigkeit« des Verhaltens und »Selbstverleugnung« empfiehlt). Er war ein Aufklärer mit einer eigenen Portion Kühnheit. Am ehesten würde er ins Kapitel der bürgerlichen Selbstbestimmung im Widerstreit mit der damals noch vorherrschenden höfischen Kultur passen. Z.B.: »Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren und Guten«, II,5.
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dass sie schon Affen und Papageien keinerlei Aufmerksamkeit zugesteht (II;7) / verbunden mit den Vorgängen der Natur/freudig im Gedanken an den Tod.98 – Mit den insgesamt sechs Abteilungen von »Ottiliens Tagebuch« hat der Verfasser eine gewisse Flaute überbrückt, die sich beim Lesen der Wahlverwandtschaften einstellen kann: Die Kapitel 1 bis 11 des II. Teils drohen zu zerlaufen. So interessant das ist, was der Gehülfe, der Lord mit Begleiter und die weiteren hier eingeschobenen Besucher, Luciane nicht zu vergessen, auf die Tagesordnung setzen, es kann die Abwesenheit Eduards, und des Hauptmanns, das Zurücktreten der Spannung zwischen den Ehepartnern nicht recht wettmachen. Zwar Charlotte ist es gewohnt, sich auf vielerlei Gäste immer neu einzustellen, aber Ottilie bleibt unterbeschäftigt – außer beim Architekten, der sie kurzerhand als Malgehilfin anstellt.99 Daraus ergibt sich ein Bedürfnis, sich Gedanken zu machen und sie zu Papier zu bringen. Aber: Was dieser jüngsten auf Dauer Eingeladenen in dieser Phase durch den Kopf gehen mag, sie behält es ganz für sich. Gegen beide, Eduard wie den Hauptmann, wendet sie sich, wenn sie sich in ihrem »Tagebuch« Gedanken über die Bettler macht (II,9). Eduard hatte, angeleitet vom Hauptmann, ein ausgetüfteltes Verfahren zum Umgang mit Bettlern, ja zur »Steuerung« (d.h. hier: Verringerung) der Bettelei ersonnen und sogleich in die Tat umgesetzt (s.o.). Ottilie denkt nicht an den vielleicht störenden Eindruck dieser Erscheinungen auf die feine Gesellschaft. Sie betrachtet die Bettelei von den Bettlern aus, die sie als Menschen wie andere auch wahrnimmt: Sie wollen gar nicht so herumlungern und betteln. Sowie es »was zu tun gibt«, werden sie selber »tätig« (II,9). Ottilie fällt zwar nicht viel ein, was sie tun könnten: vielleicht Blumen pflücken und feilbieten, und das sollten möglichst noch »die Kinder« tun. Wichtig ist ihr nur, dass die Natur 98
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Die bisher gründlichste Analyse dieser Aphorismen sowie einer ganzen Fülle von weiteren stammt von Gerhard Neumann: unter dem sehr passenden Titel Ideenparadiese. Als Luciane mit ihrem Gefolge in das Gut eingefallen ist, hat Ottilie zwar alle Hände voll zu tun. Aber was sie da leistet, ist Bedienung von fremden Interessen; sie selbst kommt dabei höchstens in einigen Hintergrundgesprächen auf ihre Kosten.
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selbst kooperiert, dass sie »ihre freundlichen Schätze« entfaltet. Schon das kärgliche Beispiel soll ausreichen, um die grundsätzliche Wendung des Blicks zustande zu bringen: Die Person sollen wir ansehn, ihre eigenen Rechte respektieren,100 dann hört das schiere Erbarmen auf und braucht keiner mehr »erbärmlich« auszusehen. Der Spaziergänger wird durch eine doppelte Gabe erfreut: »– das bettelnde [Kind] sieht dich so freundlich an wie die Gabe« (der Natur pur, der abgepflückten und dargebotenen Natur). Sicherlich hat Ottilie weniger Umgang mit Bettelleuten als die beiden Männer. Indem sie sich aber auf das Gedankenbild konzentriert, indem sie das Menschenantlitz solcher »Armen« und »Unmündigen« aufdeckt, wird ihre Sicht dieser Erscheinungen gerechter, ›menschlicher‹, also auch richtiger als die der abweisenden Herrscher über dieses Gut. Ottilie erwidert Eduards Liebe, aber sie tut es auf ihre Weise: still, innerlich, zurückhaltend – so wie sie eben ist. In Gedanken gibt sie ihn frei: »– sie glaubte sich fähig ihm zu entsagen, sogar ihn niemals wieder zu sehen, wenn sie ihn nur glücklich wisse« (II,9). Die Unbedingtheit aber, ja Unwandelbarkeit ihrer Liebe kommt in dem Nachsatz, schon in dem einleitenden »Aber«, zum Ausdruck: »Aber ganz entschieden war sie für sich, niemals einem andern anzugehören«. Mit Philine aus den Lehrjahren und ihren leichtfertigen Sprüchen hat sie denkbar wenig gemein, aber deren schnippische (und nachwirkende) Äußerung zu Wilhelm: »Wenn ich dich liebhabe, was geht es dich an?« scheint sie hier auf ihre Weise abzuwandeln. Während Ottilie in ihrem Umgang mit Eduard die Welt (oft) vergessen hat,101 scheint ihr in der Gegenwart des Grafen »die Welt erst recht wünschenswert« (II,7). Aber: Sie selbst ist draußen, sie hat seit Eduards Abreise keinen Zugang zu dieser »wünschenswerten« Welt. Ihr Leben kommt ihr ohne die gewohnte Resonanz ihres Denkens und Redens vor
100 Ähnlich wie der eine aufdringliche Bettler in Eduards Gut (I.6) das Recht zu fordern aus »dem Schutze Gottes und der Obrigkeit« abgeleitet hat. 101 Nur als er auf Reisen und im Krieg ist, kommt sie nicht umhin, sich ihn mit einem Hintergrund von wenigstens geographischen Bezügen zur Außenwelt vorzustellen.
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wie eine endlose »Komödie«, ja ein »Schubladenstück«, in dem nichts »Gutes und Bedeutendes« vorfällt, nur eine Schublade nach der andern herausgezogen und wieder hineingeschoben wird. »Man muß überall von vorn anfangen und möchte überall enden« (II,9, letzter Eintrag des Tagebuchs überhaupt). Von Anfang an wirkt Ottilie als eine stille Person, etwas gesprächiger nur im Umgang mit Eduard.102 Dem Totenreich dichtet sie ihre wortlose Kommunikation an: Da soll der Austausch ebenso feierlich wie stumm vonstatten gehn (II,3). Nach ihrem Unglück am See, nachdem sie Charlotte gegenüber noch einmal sehr grundsätzlich ihre doppelte Schuld umrissen und Folgerungen daraus für ihr weiteres Leben gezogen hat, verstummt sie völlig. Die unerwartete Begegnung mit Eduard in dem verwünschten Wirtshaus gibt den endgültigen Ausschlag. Hier schweigt sie geradezu demonstrativ. Die um Schonung flehende Geste wird nun sogar Eduard klar. Im letzten Beisammensein mit Eduard (das sich allerdings über Wochen hinzieht, II,17) kommen sie beide ohne Worte wie auch ohne Blicke, Gebärden und Berührungen aus. Nur als sie stirbt, als Eduard gerade rechtzeitig noch dazukommt, macht sie noch einmal den Mund auf (nicht ohne eine vorausgegangene »himmlische stumme Bewegung der Lippen«). Sie mahnt ihn, da sie seinen Wunsch, ihr nachzusterben, deutlich vernommen hat: »Versprich mir zu leben!« Diese Äußerung ist das einzige, was von ihr noch in den Kreis der Vertrauten dringt; sie nimmt dadurch den Charakter eines Vermächtnisses an. Eduard will es versprechen, aber während er seine vier Silben ausspricht, ist sie »schon abgeschieden«. Auf diesem ganz geäußerten, von ihr aber nur halb aufgenommenen Versprechen bleibt er nun sitzen. Folglich wird er sich in Zukunft daran halten und schließlich doch nicht daran halten. Ottilie hat sich definitiv aus dem Redeaustausch, dieser Lieblingsbeschäftigung ihrer täglichen Gefährten befreit. Kurze Zeit nach dem von ihr verschuldeten Tod des Kindes hört sie überhaupt auf zu reden, unwiderruflich bis zu ihrem Tod (II,16-18). Eine letzte große ›Re102 Auch ihr Seufzen angesichts des neugebackenen Glücks des Grafen mit seiner Baronesse müssen wir uns vermutlich als ungehört verhallt vorstellen.
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de‹, man kann es kaum anders nennen, eine Rede, in der sie ihren Zustand beschreibt, die Gründe dafür benennt, ihre Zukunft anvisiert (die dann so gerade nicht eintritt), hat sie noch vor Charlotte gehalten, die mit Erstaunen zugehört und sich kaum Einwände zu erheben getraut hat (II,15). In dieser auffällig langen Rede verbindet sie ihr Schicksal mit dem des von Lucianes Heilversuchen beschädigten »seelenkranken« Mädchens, zieht aber für sich ganz andere Schlüsse, geradezu entgegengesetzt. In keinerlei »Kloster« will sie sich verstecken, sondern »freudig« das tun, was sie als ihre Pflicht erkannt hat: Kinder erziehen, gerade als »Unglückliche« sich erheitern an deren »kindlichen Schmerzen«. Charlotte besteht nur darauf, dass sie dann aber auch Eduard ganz entsagen müsse, ihn möglichst gar nicht wiedersehen dürfe, und das verspricht Ottilie fast schneller als Charlotte es ausgesprochen hat. Dann folgt nur noch ein lapidar erklärender Brief mit ein bisschen Hoffnung auf die Regenerierungskraft ihrer »Jugend« und mit der Bitte um »Duldung«, »Liebe« und »Belehrung«. Danach verstummt sie völlig. Mit ihrem Drang zur Wortlosigkeit steckt sie nun auch die übrige kleine Gesellschaft an. Nach dem Unglück am See hat der Hauptmann Charlotte aufgesucht, aber sie können die ganze Nacht kein Wort sprechen: ›Totenstille‹ in einem Raum, den sonst durchaus gesprächige Menschen erfüllt haben. Ottilie hat schon bei ihrem Aufenthalt in der »Pension« nicht viel zu sich genommen, aber seit ihrem Unglück auf dem See verzichtet sie weitgehend auf Speise und Trank103 . Um es geheimzuhalten, hat sie durchgesetzt, allein in ihrem Zimmer zu speisen, nur Nanny ist dabei (und isst ihr das Beste oder alles weg, II,17). Die drei Gefährten, so sehr sie sie mag, täuscht sie doch über ihren wahren Zustand hinweg: Sie will nicht mehr Speise und Trank genießen, schreibt sie ihnen, »als ich höchstens bedarf« (II,17). So hat sie sich selbst zum Hungertod verurteilt, vermutlich noch als Sühne für ihr Missgeschick am See – und für ihr ebenso offenkundiges wie heimliches Verhältnis zu Eduard. Sie hungert nicht aus Widerwillen gegen die Speise, sondern gegen sich 103 »– schon lange so gut wie nichts genossen«, muss ihre Dienerin Nanny gestehen (II,8).
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selbst.104 Sie ist schon sehr schwach, erhebt sich nur »durch Geisteskraft« zu Begegnungen mit den anderen. Auch das sie nach ihrem unerwarteten ›Rückkehr ihr Zimmer vollständig leergeräumt findet (s.o.), bestärkt sie in ihrem Rückzug auf sich selbst. Die komplette Leere um sie her kommt ihrem Gemütszustand geradezu entgegen.105 Als Zuspitzung106 kommt noch Mittler mit seinem unpassenden Sermon über die Gebote hinzu, die eine fatale Schärfe gewinnen, wenn sie als Verbote formuliert werden. Gerade als Ottilie dazukommt, ist er beim sechsten Gebot angelangt. Still und mit »verwandelter« Gestalt (wie sollen wir 104 In Goethes Wahlverwandtschaften ist der Hunger der Romanheldin ein bedeutsamer, fast liebenswürdiger Vorgang. Eine »natürliche, ohne jede Willensanstrengung vollzogene Askese« findet Klaus Köhnke darin (in: E. Rösch, hg., S. 375). Von einem »Weg der Verklärung« spricht Danckert (S. 128). Höchstens die Magersucht (»Anorexie«) scheint noch durch, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geradezu Mode war (jedenfalls in den höheren Kreisen). Ottilie zieht damit die Konsequenz aus ihrer Existenz als leidenschaftlich Geliebte, die sich allmählich ihrer Schuld bewusst geworden ist. Die quälenden und unästhetischen Begleitumstände von wirklichem Hunger haben hier keinen Platz. Schlagen wir dagegen einen drastisch-materialistischen Autor auf, es muss nicht gleich Knut Hamsun mit seinem Roman Hunger sein, hinreichend deutlich ist auch Oskar Maria Graf, so wird der große Abstand der idealisierenden Darstellung von der Naturgrundlage deutlich. Graf kennt den Vorgang des Hungerns aus eigener Erfahrung: »Zuerst rumort der Magen, nach und nach ist’s, als verdorre er. Er fängt an, stechend wehzutun. Er schmerzt bei jeder Bewegung, als sei irgendetwas Hartgewordenes in unserem Körper. Dann kommt der penetrante Mundgeruch, vor dem jeder Mensch flieht, vor dem man sich aber am meisten selber ekelt. Der ganze Körper beginnt die Entkräftung zu spüren. Es überläuft einen dauernd ein fiebriges Gefühl. Es ist zuletzt, als kröchen fortwährend unsichtbare Käfer über die Haut. Dem körperlichen Zerfall folgt der seelische. Jede Widerstandskraft ist erstorben, eine unsagbare Gleichgültigkeit setzt ein und schließlich sinkt man herab bis zur rettungslos verlorenen Kreatur« (»Einführung von Ernst Toller«, in: O. M. Graf, Reden und Aufsätze aus dem Exil, 1989, S. 116f.). Canetti fasst es noch drastischer: »Askese ohne Gestank, was ist das für eine Askese?«, Canetti (s. S. 8, Anm. 1), S. 282. Offensichtlich hatte Goethe seine Gründe, wenigstens in diesem Roman (aber nicht nur hier), die leiblichen Vorgänge zu verhüllen. 105 S. dazu Schelling-Schär, S. 138. 106 Nicht als Ursache, wie es oft aufgefasst wird.
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uns das vorstellen?) verlässt sie das Zimmer. »Mit entsetzlichem Schrei« stürzt dann Nanny herein und ruft: »Sie stirbt!« Ottilie hat immerhin noch Zeit, regulär Abschied von ihren Lieben107 zu nehmen, wortlos, aber es kommt alles zum Ausdruck: »Liebe, Anhänglichkeit, Abbitte und das herzlichste Lebewohl«. Dann ist die Hauptfigur108 verschieden, da muss auch der Roman bald enden. Die anfangs ziemlich unscheinbare Nichte der Hausherrin hat im Laufe der Handlung immer mehr Beachtung auf sich gezogen, ja, es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Wahlverwandtschaften zunehmend zum Ottilien-Roman werden. Dadurch wird freilich die zarte Gestalt namens »Ottilie« nicht zur Retterin, zu einer ›Erlöserin‹ erst recht nicht. »Man soll Ottilie nicht verherrlichen, man darf sie lieben«, schreibt Weizsäcker.109 Dieser Empfehlung ist auch die hier vorgelegte Deutung weitgehend gefolgt, nur dass die Liebe hier nicht, hoffentlich, in blinde Gefolgschaft umschlagen durfte. Als höchst attraktiv an ihren Gesprächsbeiträgen empfinden es die Gefährten, dass sie so rund heraus sagt, was sie von den Vorgängen um sie herum hält. Treuherzig redet sie, manchmal geradezu ›herzig‹. Nicht ihr Interesse, wenn sie überhaupt Interessen hat, sucht sie durchzusetzen, sondern ist darauf erpicht, dass die schöne, allseits schonende, »bedeutende« Konversation zu dem Ziel gelangt, das sie darin angelegt findet. Als »freudig«, »unermüdet« im Dienst von anderen (hier: neu aufgenommenen Schülern ihrer alten »Pension«) kennzeichnet sie sich selbst (II,15). Statt aber in die Verherrlichung dieses »guten«, »herrlichen«, ja »himmlischen Kindes« einzustimmen, soll hier eine Gegenrechnung aufgemacht und nach den Mängeln und Fehlern dieser Romanheldin gefragt werden. Wenn sie sich ihren vielen (zumeist selbstgewählten) Aufgaben, in so schwierigen Situationen, gerade dank ihrer Spontaneität gewachsen zeigt, was fehlt ihr dennoch, was entgeht ihr oder
107 Jetzt gehört auch Mittler wieder dazu (!). 108 Wenigstens im II. Teil ist sie das unzweifelhaft geworden. 109 C. F. v. Weizsäcker, S. 39.
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was versäumt sie durch eben diese Spontaneität? Sie ist naiv.110 Sie tut, was sie tut, ›von Natur‹: aus dem Fundus ihrer Persönlichkeit, so wie es in ihr als ›richtige‹ Lösung einer noch so prekären Situation aufsteigt. Die ›Natur‹ umfasst nun, durchgängig bei Goethe, nicht nur alles Lebendige: alles was grünt, blüht, sich regt und schließlich abstirbt,111 sondern auch Natürlichkeit des Verhaltens, Einigkeit mit sich selbst in allem, was jemand darstellt und tut, wie er sich anderen gegenüber verhält. Menschen, die als Natur und aus ihrer Natur leben und handeln, hat Goethe schon seit seiner Sturm-und-Drang-Zeit (neben anderen oder im Gegensatz zu anderen) immer mal wieder gestaltet;112 Ottilie setzt diese Reihe würdig fort. Ohne lange zu diskutieren, ja ohne es überhaupt dem Hin-und-wider-Reden auszusetzen, übernimmt sie kleine und größere Aufgaben: Hilfe im Haushalt, im Garten, »Akkompagnieren« ihres Gastgebers auf dem Klavier, Abschreiben eines trockenen, aber wichtigen Textes, Ausschmückung der Kapelle unter Anleitung des Architekten, Versorgung des Kindes von Charlotte und Eduard mit Nahrung und frischer Luft113 – sie macht sich in ihrem Gebiet so nützlich wie der Hauptmann in seinem. Sie fragt aber weder nach Gründen noch gibt sie Rechenschaft oder auch nur Andeutungen: Sie tut es einfach, basta. Das hat beträchtliche Vorteile. Sie sieht selbst, wo etwas fehlt, sie greift von sich aus zu. Mit dem, was sie tut, ergänzt sie die Haushaltung und die kulturellen Darbietungen ihrer Hausgenossen. Aber wenn man ihr nichts sagen muss, ist das nur die Kehrseite davon, dass sie sich nichts sagen lässt. Später, als Charlotte sie am liebsten ›weghaben‹ würde, hinaus in die »verruchte kalte Welt« (so sieht es Eduard), ergibt sich ein (für Ottilie) unauflösliches Geflecht von Angebot, Furcht, Zögern, Zuversicht mit
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Zu denken, dass sie die Naive nur gespielt hätte, lässt der übrige Text nicht zu. Dass auch ›Fressen und Gefressenwerden‹ dazugehört, war ihm weniger lieb; das hat er wie die meisten Zeitgenossen kaum je betont. Er war ja kein Marquis de Sade. S. Götz, s. Werther, s. Egmont. Dazu wird sicher auch mündlicher Austausch mit seiner Mutter gehört haben, der wird nur nicht ausgeführt.
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Hartnäckigkeit, Halbherzigkeit114 und schließlich trister Rückkehr. Sie weiß, was wo zu tun ist, sie muss dazu nicht lange überlegen. Dadurch gibt sie den anderen Schlossbewohnern, auch Eduard, keine Gelegenheit, das Notwendige mit ihr zu beraten. Nicht mal einen Rat braucht sie.115 In ihre schwierigen Entscheidungen: zu verstummen, zu hungern bis zum Verhungern, lässt sie weder Eduard noch Charlotte116 hineinsehen, geschweige denn hineinreden. Ottilie überlegt nicht, oder nur flüchtig, das macht ihre Entscheidungen so schwer greifbar. Die andern wären bereit, mit ihr zu erwägen, was aus ihr werden soll oder wie ein Handlungsansatz zu ihr passend weitergeführt werden könnte, sie aber versteht gar nicht, was es da zu erwägen geben soll. Wie es ihr durch den Kopf geht (ohne länger als für einen Moment darin zu verweilen) oder wozu sie als die von Eduard (und überdies vom Architekten und dem Gehülfen) Angebetete, als Malereielevin, als Leserin von damals gängigem Schriftwerk gerade ›Lust hat‹, das tut sie und ist ganz erstaunt, dass ihr Tun hie und da Folgen hat. Sie lebt aus dem Moment und blickt kaum in die Zukunft.117 Ein wichtiger Teil ihrer Spontaneität ist auch, dass sie die Welt, in der sie ihre Wünsche verwirklichen will, sich ebenso zurechtdenkt wie ihr eigenes Geschick. Es ist ihr recht, wenn ihr alles entgegenkommt. Wenn nicht, so freut sie sich an denjenigen Zügen des Geschehens, die ihren Wünschen entsprechen, siehe ihre Fürsorge für den kleinen Otto. Wenn Eduard als der große Egoist nicht ganz in der Wirklichkeit ›geerdet‹ ist, so ist 114 115
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Ihr Köfferchen hat sie, das sieht aus wie eine Maßnahme der Voraussicht, gleich im Schloss zurückgelassen (II,15). Zweimal immerhin (II,14, II,15) gibt sie Charlotte ausgiebig Rechenschaft, was sie vorhat und warum sie es tun will. Charlotte aber kann das erste Mal nur »einige Worte« zur »Milderung« anbringen, das zweite Mal ein paar Fragen einwerfen, die Ottilies Vorsatz noch deutlicher machen, und wieder weiß sie selbst, Ottilie, am besten, was sie will – oder eher, was sie ›muss‹. Der Hauptmann kommt sowieso nicht in Frage. Wenn doch, wie in den beiden genannten Gesprächen mit Charlotte, sind es vage, träumerische Zukunftsvorstellungen, mehr Wünsche oder Träume als erfahrungsgestützte Pläne. So kann sie den Wunsch, eine sichere, von keinem angetastete Existenz in ihrer alten Schule zu führen, genauso gut wieder umstoßen und mit Eduard zu Charlotte zurückkehren.
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sie es noch weniger, da sie diese Wirklichkeit nur oder überwiegend als Raum der Traumverwirklichung innerlich zulässt. Das hat seinen eigenen Charme und ›passt‹ gut zu ihr. Aber es verrät doch, wie brüchig ihr Kontakt mit ihrer Umgebung, mit den Koordinaten von Raum und Zeit und mit den Planungen der drei Freunde ist. Ottilie also reflektiert kaum oder gar nicht, ausgenommen in manchen Eintragungen in ihrem »Tagebuch«. Sie verhält sich zu dem, was auf sie zukommt, wie ein Kind: arglos, vertrauensvoll, freudig dem noch Unerprobten aufgeschlossen. Wenn sie etwas abzuschreiben in die Finger bekommt, fragt sie nicht, was es ist oder wie lang es ist und was es ihr vielleicht abverlangt. Sie beugt sich darüber und stöhnt kein bisschen, wenn sie tagelang118 damit zu tun hat (I,9; I,12). Auf das, was sie für sich angemessen fühlt, lässt sie sich ein, ohne lange zu vernünfteln, ja oft ohne über das Dekorum oder die Folgen nachzudenken. Aus dem gleichen Grund lässt sie sich auch, sie als einzige der vier, in die Gefilde der Heiligenlegende entführen. Jeder der anderen würde sich sträuben, lebendig oder tot,119 sich für religiöse, christliche, gar kirchliche Propaganda einspannen zu lassen, Ottilie nicht. Es ›steht ihr‹, dass sie zur Wunderheilerin und zur Instanz der Vergebung avanciert, also wird sie die Verklärung zur »Heiligen« ebenfalls verkraften. Diese religiöse Überhöhung bildet eine verdiente Anerkennung für das, was sie bei Lebzeiten geleistet hat – aber sie führt auch dazu, dass sie unselbständig wird, Knetmasse in den Händen120 (den Köpfen) einer übergestülpten Glaubensregie. Goethe führt es gerührt und doch mit einiger Strenge vor. Ottilie hat keinen freien Willen gegenüber dieser Steuerung ihrer ›Legende‹. Bei Lebzeiten hat ihr freier Wille gerade ausgereicht für die gescheiten wie für die verfehlten Aktionen ihres Lebens, begleitet von
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Genauer: zwei Tage und die halben Nächte. Auch im Tod bleibt nämlich noch der Umriss, die Kohärenz einer gewesenen Person, also ebenso einer markanten Figur eines fiktionalen Textes, erhalten und weist unpassende Weiterführungen ab. 120 – wie bei jeder ›Manipulation‹ gläubiger Menschen, einen abgelebten Zeitgenossen zu verherrlichen.
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einer ganzen Reihe besinnlicher Sprüche, aber jetzt ist sie tot, dient allenfalls noch als Projektionsfläche für die Überlebenden. Mit ihrer letzten Sorge, dass Eduard ihr ja nicht nachfolgt (in den Tod nämlich), bietet sie der Wahrnehmung ihrer irdischen Existenz und ihrer aus Hingabe und Übereilung zusammengesetzten Erscheinung jede Handhabe.121 Sie gibt sich aus der Hand – das muss jeder, wenn er stirbt. Sie gibt sich aber in die Hand der christlichen Predigt und Mission, das bekommt ihrer Identität nicht so gut. Aus einem jungen, lernwilligen, hingabefähigen, mitunter allzu raschen Mädchen wird eine Figur des christlichen Heiligenhimmels. Ottilie wird zu einer neuen Odilia.
Was die vier miteinander anfangen Meistens ist es Eduard, manchmal auch Charlotte, der oder die ein Thema ›aufs Tapet‹ bringt. Die andern drei greifen es auf oder richten sich stillschweigend danach oder lassen es auch ungeprüft liegen. Eine gewisse Lebhaftigkeit gewinnt ihre Unterhaltung, wenn sie nicht nur unter sich sind, sondern Gäste haben. Es ist allerdings übertrieben zu sagen, dass alle einsam wären und kaum ernsthaft miteinander zu reden verstünden. Das strikte, pedantisch wirkende Zeremoniell: jeden Abend zur gleichen Zeit in der gleichen Sitzordnung um den gleichen Esstisch, sorgt nur für den äußerlichen Rahmen, aber in diesem Rahmen äußert sich sowohl die Lust am Austausch als auch eine Beharrlichkeit des Vorstoßes zu einem (zumeist einer) anderen. Die dialogischen Bezüge aufeinander sind sehr ungleichgewichtig verteilt. Eduard ist, wie in mancher anderen Hinsicht, der führende Initiator und Rhetor. Er kann mit allen dreien ›etwas anfangen‹, nur auf sehr verschiedenen Ebenen. Mit seiner Frau Charlotte hat er eine gute und persönliche, aber etwas oberflächliche und nicht sehr belastbare Beziehung aufgebaut; sie verringert sich, je entschiedener er sich der neu aufgehenden Sonne Ottilie zuwendet. Mit seinem Freund 121
»Die Konservierung bricht der Konserve Bahn«, schreibt Kister (S. 161), ziemlich respektlos.
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Otto, dem Hauptmann, versteht er sich vom ersten Tag an, da er hier auftaucht, allerdings mehr in praktischen Tätigkeiten als in persönlicher Hinsicht. Die Beziehung ist nicht frei von Irritationen, aber sie verträgt auch einen Stoß wie z.B. eine persönliche Beleidigung hinter seinem Rücken. Charlotte strengt sich bis kurz vor Schluss an, ihre Ehe mit Eduard zu retten oder wiederherzustellen. Sie ist vom Hauptmann sehr angetan, aber nie so, dass sie ihre weiter existierende Beziehung zu Eduard ernsthaft gefährden würde. Ihre Nichte Ottilie betrachtet sie erst als »Kind«, dann allmählich als Nebenbuhlerin, obgleich sie das eher ihrem Mann als der unerfahrenen Nichte anlastet. Der Hauptmann ist zwar ein sehr selbständiger Charakter, aber sowohl seinem Freund wie dessen Frau gegenüber reagiert er meistens nur. (Mit Ottilie hat er gar nichts zu tun). Ottilie ihrerseits muss sich an die ganze Runde und an jeden einzelnen in seiner Art (außer dem Hauptmann, wie gesagt) erst gewöhnen. Sie ›blüht auf‹ unter den unzähligen Liebesbeweisen des Barons, aber sie schrickt allmählich zurück vor der angetragenen Liebesbeziehung. Ihre Entwicklung zu einer selbständigen, selber nachdenkenden, selber entscheidenden Person ist die markanteste, auffälligste Entwicklung, die einer der vier Hauptcharaktere durchmacht. Sie entfernt sich durch diese Entwicklung von den anderen, zieht sich sogar zurück, aber sie bleibt in ihren Gedanken wie ihren Äußerungen auf ihre Gefährten bezogen.
Gleichberechtigte Frauen? Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern gestaltet Goethe strikt pari-pari. Das war in Romanen seit deren Aufkommen gang und gäbe, aber Goethe verleiht seinen Männern und Frauen auch in seiner dichterischen Gestaltung durchaus paritätische Stärke und Eindringlichkeit. Fast ein Jahr lang (I,17; II,1-11) stehen die beiden Frauen sogar allein da, und sie meistern alles, was in dieser Zeit anfällt. In ihrer Intelligenz und ihrer Ausdauer traut der Autor den Frauen nicht weniger zu als den Männern. Eduard muss (anfangs, I,1) den Frauen am Beispiel seiner Frau Charlotte zugestehen, dass sie »verständig«, »liebevoll«, »gefühl-
Die vier Hauptpersonen in den Eigentümlichkeiten ihres Austauschs miteinander
voll« und dann auch noch »ahnungsvoll« sind: einfach »unüberwindlich«. Erzogen allerdings werden Mädchen zu einer strikt traditionellen Rolle, zu »Müttern« – was aber immer noch günstiger ist als zu »Dienern«, die Bestimmung, die nach dem Willen des Gehülfen den Jungen blüht (II,7).122 Elizabeth Boa hat sicherlich Recht, wenn sie den feministischen Ertrag des Romans als »symbolträchtige Untersuchung geschlechtspsychologischen Leidens unter dem Druck kulturellen Wandels« zusammenfasst.123
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Bei einem so eindringlichen Plädoyer für die Gleichberechtigung wäre es eigentlich geboten, auch in der Beschreibung jeweils beide Geschlechter als Akteure hervortreten zu lassen. Das würde jedoch den Text bloß aufschwellen, ohne dass es einen wirklichen Erkenntnisgewinn ergäbe. E. Boa, S, 93.
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(Der Gärtner) Der Gärtner muss nur zu Anfang (I,1) dem Gutsherrn etwas zeigen sowie ihm erklären, wo seine Frau abgeblieben ist – da erweist er sich als geradezu beredt. Danach ist er nur noch für Ottilie da, aber er führt mit ihr nur ganz stille Gespräche, durchweg um die Natur kreisend. Ein bisschen Dringlichkeit und sogar Schmerzlichkeit bekommen sie dadurch, dass der Gärtner sich jedes Mal erkundigt, wann denn Eduard wiederkommt: Er kann es Ottilie zu ihrem Leidwesen nicht glauben, dass sie es auch nicht weiß.
Mittler Mittler, der meist nach Bedarf auftritt,1 stellt etwas dar wie einen »heruntergekommenen Nachkommen der [deutschen] Aufklärung«.2 Zugleich ist er ein »Vertreter von öffentlicher Meinung um 1800«.3 Aber: »Ihn plagt oder entzückt keinerlei Sympathie« (Schelling-Schär).4 Ihm obliegt es, nach der Geburt des kleinen Otto die »Meldungsschreiben und Gevatterbriefe« an die (weiteren) Angehörigen zu verfassen. Dabei
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Bedarf des Ehepaars oder auch Bedarf der Handlung. R. Zons in: N. Bolz, hg., S. 335f. Nicola Grochowina in: H. Hühn, hg., S. 318f. E. Schelling-Schär, S. 48.
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geht er mit »entschiedener Zudringlichkeit« auf die vielerlei »Bedenklichkeiten« mit ihrem »Meinen, Um- und Wiedermeinen« ein – offensichtlich mit Erfolg, denn der Knabe kann gar nicht anders heißen als »Otto« (II,8). Er hört sich gern reden, ergeht sich »mit Behaglichkeit« in einer »muntren Rede«, ohne Rücksicht auf die Hörer, auch wenn sein Adressat, der alte Geistliche, darüber wegstirbt (II,8). Vom Anfang bis zum Schluss vertritt Mittler die Auffassung, am Ehestand sei nicht zu rütteln. Er sieht in ihm den Grund der sittlichen Verhältnisse, den »Anfang und Gipfel aller Kultur«. Wenn dieser Stand einem der Partner oder auch beiden »unbequem« erscheint, so sei das nur »eben recht« (I,9). »Der menschliche Zustand«, dahin versteigt er sich, »ist so hoch in Leiden und Freuden gesetzt, dass gar nicht berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander schuldig werden« (I,9). Von jeher wurde ihm angekreidet, dass er gut reden habe, er sei schließlich unverheiratet (und wird das sicherlich bis an sein Lebensende bleiben). Er kann nun nicht gut auf den realen Stand der Beziehung zwischen den Herrschaften eingehen, die er oft genug besucht und auf seine Weise mag.5 So verlegt er sich auf eine Auslegung des fünften und sechsten Gebots – auf diesem Weg ins Grundsätzliche sollen sie ihm folgen. Als er gerade das fünfte Gebot traktiert (II,18), ist er so hingegeben an den Duktus seiner Rede: Es sollte positiv gebieten statt zu verbieten, dass ihm, dem sonst ganz friedfertigen Menschen und einstigen Pastor, herausrutscht: »– in Gefolg von dem und manchem andern kann es wohl kommen, daß man gelegentlich einen tot schlägt«.6 Das wird aber nicht als momentane Entgleisung behandelt, sondern es soll demonstrieren, bis zu welchen Kruditäten er sich vom blinden Eifer des Argumentierens führen lässt. Mit der imperativischen Formulierung »Du sollst nicht ehebrechen«7 trägt dieser Mittler zur Beschleunigung von 5 6 7
Vermutlich hat er nicht so genau gemerkt, was zwischen den beiden wirklich läuft. Der erste, durchaus prognostische Fauxpas von Grausamkeit, den aber Ottilie zu ihrem Glück nicht zu hören bekommt. Wie anders, wie human klingt da, zwei Jahrzehnte später, Goethes eigene, wenn auch in leise Ironie getauchte Meinung zu diesem Thema: Von Gott selbst sei dieses sechste Gebot »mit eigenem Finger in Granittafeln eingeschnitten«
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Ottilies Ableben bei (s.o.). An sich aber, so meint er es auch, läuft seine hier gar nicht passende Gebotsexegese auf eine Verfeinerung, eben eine Wendung des Gebots ins Positive hinaus. Nach wie vor passt das nicht recht zur Situation, in der er darüber räsoniert. Indem er aber diese allgemein-menschliche Dimension des Mit- und (dann schon nicht mehr) Gegeneinanders in Erinnerung ruft, lädt er ein zu einer Neubetrachtung der immer »verworrener« gewordenen Verhältnisse, zu einer Betrachtung also, in der das Ich eben so weit Ich ist, wie es sich als Du eines andern Du erkennt.
(Der Geistliche) Der Geistliche hat in der ganzen Romanhandlung kein Wort zu sagen und stirbt bei seinem ersten persönlichen Auftritt (II,8).8 Charlotte ist die einzige, die manchmal an ihn denkt und ihm auch etwas zukommen lässt (allerdings ist es nur abgemähter Klee). Mittler, der sich in seiner Suada nicht unterbrechen lässt, verursacht seinen Tod– freilich nicht durch den Inhalt seiner Rede, versteht sich, sondern dieser Gernund Vielredner hindert den alten Mann daran, sich hinzusetzen; das erträgt der nicht und ›kippt um‹. Mittlers Vorgehen hier wird meist etwas beschönigt: Dieser Geistliche war ja schon recht alt, »mit einem Fuß schon im Grabe«, heißt es. Hätte er aber nicht, wie jeder Mensch, ein Recht auf einen ruhigen Lebensabend gehabt? Einzig Ottilie wird eine innere Anteilnahme zugebilligt, aber eine perverse: Sie beneidet den Geistlichen um seinen Tod. Als Charlotte am Schluss »den Geistlichen« mit einer namhaften Stiftung bedenkt, ist es schon nicht mehr der gleiche Geistliche; der neue rückt nur in die gleiche Position ein wie der vorige (und ist ebenso wortlos).
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und werde auch in unseren »löschpapiernen Katechismen« immer noch aufrecht erhalten (Goethe an Zelter, 29. 1. 1830). Wer will, kann in dieser auffälligen Behandlung ein Zeichen für Goethes reservierte Haltung gegenüber der Kirche (jeder Konfession) sehen.
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(Die Bauern) Am Rande kommen hie und da auch die Abhängigen in den Blick (obgleich nicht zu Wort), das sind hier die Bauern. Die Bauern haben nichts zu sagen, sie haben die Anweisungen der Gutsherrschaft, personalisiert im Schlossherrn Eduard, entgegenzunehmen und auszuführen. Soweit der Roman seinen Fokus erstreckt, werden die Bauern auch nicht angeredet. Nur einzelne von ihnen, die sich zu Dienstboten qualifiziert haben, werden einer persönlichen Anrede gewürdigt, die aber ziemlich distanzierend klingt: »So zünde Sie das Nachtlicht an (…) und gehe Sie nur hin« (Charlotte, I,10). Eduard spricht direkt von »Befehlen« und kann sich keine andere Beziehung zu seinen Bauern (wie übrigens auch zu »Bürgern«) vorstellen (I,6). Sie sind hilfsbedürftig, intellektuell ebenso wie sozial: Nicht einmal der Flut, wenn der durchs Dorf rauschende Bach anschwillt, können sie sich alleine erwehren. Zu verschiedenen Bautätigkeiten, vor allem für das neue Gebäude auf der Höhe, werden sie herangezogen, dürfen aber auch an den Feiern der vollendeten Arbeit (Grundsteinlegung; Richtfest) teilnehmen.
(Das Gesinde) Das Gesinde, vor allem für drinnen zuständig, ist noch weniger sichtbar als die Bauern und kommt genauso wenig zu Wort. Charlotte hat mal eine Haushälterin gehabt, die wurde aber weggeheiratet. (Wenn Ottilie später an ihre Stelle tritt, wird diese Stelle gewissermaßen sozial aufgewertet). Ein alter Schreiber wird einmal erwähnt (I,4), weil er plötzlich, wenn man ihm alles der Reihe nach aufträgt, richtige Freude an seiner Arbeit gewinnt und sie deshalb zügig ausführt. Alle anderen sind nur für die Herrschaften und deren Bedürfnisse da: haben für sie einzukaufen, zu kochen, zu servieren und abzuwaschen, die Wohnung wie die Kleidung instand zu halten, normalerweise selbst für sie vorm Einschlafen die Kerze auszupusten – und kommen niemals zu Wort.
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Der Bettler Der Bettler, der unvermutet vor Eduard und dem Hauptmann auftaucht – sie sind auf einem Inspektions(spazier)gang durch das Gut –, ist der einzige, außer einmal Charlotte (I,16) und in vorsichtigen Ansätzen Mittler (I,18), der dem Herrn Widerworte zu geben wagt: »murrend, ja gegenscheltend« (I,6). Er sucht die Berechtigung seiner Art des Lebensunterhalts, ja seiner Existenz selbst zu untermauern, indem er sich auf den »Schutz Gottes und der Obrigkeit« beruft. Bei diesem schieren Gegeneinander bleibt es, aber hinter seinem Rücken verabreden die beiden gebietenden Herrn, wie sie derlei ›unerfreuliche‹ Begegnungen für künftig vereiteln können. Bei weiteren ›Auftritten‹ bleibt der Bettler stumm, mit anwachsender »Ehrerbietung«: Eduard hat ihn im Glück seiner Verliebtheit reich beschenkt (I,15), und der Bettler bedankt sich noch nachträglich, als er die Gabe vorm Wirtshaus verzehrt (I,16). Eduard wird direkt neidisch auf ihn und drückt seinen »Neid« laut aus, allerdings »ruft« er seinen Satz nur der äußeren Form nach dem Bettler zu, tatsächlich spricht er ihn nur zu sich selbst. Der Bettler ist ein irritierendes, provozierendes Element in der üppigen Schloss- und Gutswelt, in der jeder sein Auskommen ›verdient‹ und bekommt. Nur eine ›gute Seele‹ wie Ottilie lässt sich darauf ein, dass Bettler gar nicht betteln mögen, sondern viel lieber mit eigenen Gaben, der freigebigen Natur abgewonnen, zum Wohlbefinden, ja zum Behagen der Gesellschaft beitragen würden (s.o.).
Der »Maurer« Wie kommt ein »Maurer« in die sonst streng geschlossene adliggutsherrlich-bäuerliche Welt dieses Romans? Und zwar nur einmal, an dieser Stelle (I,9)? Wir erfahren es nicht; es bleibt ein Geheimnis.
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Er wird eingeführt als einer (und zwar der einzige) der Handwerker,9 die die Baulust der Herrschaften erfordert hat, Und er spricht aus der umfassenden Kenntnis seines »Gewerkes« heraus, also auch mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein.10 Ehe er sich seinem eigenen Handwerk zuwendet, richtet er noch einen Blick auf das, was vorausgeht und was folgt. Von dem »ernsten Geschäft« des Maurers spricht er »keck heraus«, und entsprechend keck gibt er sich auch in seiner Darstellung: Selbstbewusst auf der Basis gründlicher Sachkenntnis und soliden Könnens. Er ergeht sich sogar in der Philosophie seines »Gewerkes«, und zwar einer strikt moralischen Philosophie: Übel sind zu »fürchten«, und das »Gute« kommt, auch gegen den Willen des Täters, (irgendwann) ans Licht. Außerdem ist er ein guter Pädagoge. Er gibt dem Publikum (Charlottes Geburtstagsgästen und etlichen der Bauern) etwas zu tun, indem sie erst ein wenig Kalk nachfüllen,11 dann den »Grundstein« mit allerlei Utensilien und Preziosen anfüllen sollen. Mit einem abschließenden Gedanken lenkt er die Aufmerksamkeit auf »die Vergänglichkeit der menschlichen Dinge« in einer nahezu apokalyptischen Vision (»als wenn das alles wieder zerstört wäre«). Was hat ihn auf diese Gedankengänge gebracht? Das ist ein weiteres Geheimnis, und das lässt sich leicht lösen, es führt direkt auf die Quelle dieser Geheimniskrämerei. Schon die Berufsbezeichnung und dann vieles von dem, was er ausführt, hat einen deutlichen Bezug auf die Freimaurer. Die »Maurerei« aber war ein großes, viel hin- und hergewendetes Thema seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und noch z. Z. der Abfassung dieses Romans. »Ja, es gehörte zum guten Ton, Freimaurer zu sein«.12 Goethe war lebhaft an der »Maurerei« interessiert, 9
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Nur zu Ottilies Geburtstag (I,15) erscheint noch »ein schmucker Zimmergeselle«. Der aber wird gar nicht in seiner Qualität als handwerklicher Könner vorgestellt: Er muss sich nur auf den Tanz verstehen. Er spricht auch vom »Selbstbewusstsein«, nur nicht seinem persönlichen, sondern dem »des« Maurers überhaupt. Handwerklich nicht sehr plausibel, aber es passt ihm so gut in seine Rede von »bindenden Kräften« beim Bau wie in zwischenmenschlichen Beziehungen. Karl Wilhelm von Lyncker, Die Freimaurerloge (um 1780), in: Das klassische Weimar, hg. H. Pleticha, 1983, S. 108f.
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er hatte aber Grund, mit ihrer Erscheinungsform, auch im Herzogtum Sachsen-Weimar, entschieden unzufrieden zu sein.13 Vieles in der ›launigen‹ Rede dieses Maurer-Gesellen lässt sich auf die Freimaurerorden beziehen. Aus manchen Passagen lässt sich eine Art von Idealisierung, aus anderen offene Kritik herauslesen,. Die Bezeichnung seines Metiers als »geheimnisvolles Geschäft« und das ›Verstecken‹ von allerlei Habseligkeiten im Grundstein spielt an auf die Geheimniskrämerei, ohne die die Logen nicht auskamen. Dass die Arbeit des Maurers »ausgelöscht« wird: der Grund »verschüttet«, die Fugen geglättet und überstrichen, lässt sich als Kritik an dem Gehabe der Oberen verstehen: Alles sollte, nach der Meinung dieses energischen Gesellen wie nach der Überzeugung der Kritiker an den ›Missbräuchen‹ der Orden, auf das zu schaffende ›Werk‹ ankommen, die Täter mit ihren Allüren sollten ganz dahinter zurückstehen.14 Goethe schreibt, so sieht es aus, mit diesem Kapitel in den Roman hinein, wie er sich die Freimaurerei denkt, wenn sie so wäre, wie sie sein sollte. Der Erzähler nennt die Rede »anmutig«, und einen Teil ihrer Anmut verdankt sie den Reimen, in denen dieser Allround-Könner sie abgefasst hat. Nun hätten Reime in diesen Roman (anders als etwa in die Lehrjahre) überhaupt nicht gepasst, schon deshalb war es unerlässlich, dass sie in der Wiedergabe hier durch eine klare Prosa ersetzt wurden. Nicht 13
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Goethe selbst war gerade 1808, als der Roman sich seiner endgültigen Fassung näherte, wieder in die erneuerte »Anna-Amalie-Loge« eingetreten und war in der ersten Zeit sehr rührig mit »maurerischen Arbeiten«.1780 war er schon einmal der gleichen Loge beigetreten, war während deren Krise zur »Strikten Observanz« und (1783) zu den »Illuminaten« übergewechselt und hatte ein Vierteljahrhundert lang, aus innerer Distanz, alle solche »Arbeiten« ruhen lassen, s. Lennhoff-Posner, Freimaurer-Lexikon, 1932. Vgl. auch Reinhart Koselleck, Kritik und Krise, 1/1959, 12/2013. Reinhardt (S. 159-162) glaubt noch den alten Verdacht anführen zu müssen, dass Goethe bei den Illuminaten als »Spitzel« gedient habe, er sieht aber aus dem erhaltenen Material diesen Verdacht nicht erhärtet. Wilson sieht einen engen Zusammenhang zwischen Goethes (anfangs reger) Tätigkeit in seinem Orden und seiner Aufnahme in den Adel. Vgl. im übrigen noch R. Vierhaus, 1983. Darauf lief schon Lessings kritische Darstellung des Freimaurerwesens und unwesens hinaus: Ernst und Falk, 1778.
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ausgeschlossen ist aber, dass die Umformung auch eine Kritik an der Art einbringen soll, wie der Maurer seine Belehrungen und Erwägungen vorbringt. Wenn er nach der kurzen Pause, in der er die Mitwirkung der Gäste am Bestücken des Fundaments abgewartet hat, »seine Rednermiene wieder (annahm)«, könnte man darin eine leichte Distanzierung von seiner Art zu reden erblicken. Dagegen wird mit Anerkennung verzeichnet, dass er es schafft, seine Rede durch wiederholte Wendung an sein Publikum, ja durch Einbeziehung der Umstehenden als seine »Mitarbeiter«, zu einem echten Stück Dialog zu machen. Neben der Tat gehörte eine ausgemachte Gesprächskultur zu den Treffen der maurerischen Bünde. »Während der Speisung müssen gewöhnlich gute Gespräche untergemengt, oder mit einer erbaulichen und gewürzten Rede die Brüder aufgemuntert, hingegen aber alles überlaute Gelächter und Plaudern verbannt werden«.15 Wie steif aber, wie feierlich und abgehoben klingt das gegenüber dem umgänglichen Miteinander in der Tafelrunde bei Eduard und Charlotte! Keiner von den Vieren war eben Maurer oder hatte das würdige Bestreben, sich maurerisch aufzuführen. Von diesem Könner und Redner stammt auch das im Lauf der Romanhandlung so verhängnisvolle Glas. Er hat es ausgetrunken und in die Luft geworfen; der es aufgefangen hat, hat es danach dem Gutsherrn verschachert, so dass die weitere Karriere dieses Glases ins Kapitel »Eduard« gehört. Hier muss nur der Anfang dieser ›Karriere‹ noch kurz, und zwar kritisch, betrachtet werden: Es ist ein Fehlstart. Deutlich genug wird die entgegengesetzte Erwartung bezeichnet und ihr Recht festgehalten: »– denn es bezeichnet das Übermaß einer Freude, das Gefäß zu zerstören, dessen man sich in der Fröhlichkeit bedient [hat]«.In der Tat ›müssen‹ bei einem Richtfest, also auch bei einer Grundsteinlegung, Gläser oder was immer man an Gläsernem in die Luft wirft, zerschellen, das verlangt die Fröhlichkeit der Feier und
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Aus den Statuten der »Strikten Observanz« (für die VII. Provinz), zitiert nach: Klaus C. F. Feddersen, Constitutionen. Statuten und Ordensregeln der Freimaurer in England, Frankreich, Deutschland und Skandinavien, 1989, S. 325 (u.f.).
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der Übermut der (zumeist etwas angetrunkenen) Teilnehmer. ›Scherben bringen Glück‹ – das heißt im Umkehrschluss auch: Die Bewahrung dieses einen Kelches ist ein böses Omen. »Aber diesmal ereignete es sich anders«: De facto kann das Zerschmettern verhindert werden, aber lässt sich die unglückbringende Bedeutung eines nicht zerscherbten Glases ebenso einfach umkehren? Immerhin wird noch hinzugesetzt: »– und zwar ohne Wunder«. Eduard belädt ›sein‹ Glas später mit so viel »Zeichen«bedeutung, zu Deutsch soviel Aberglauben, als wollte er dieses »Ohne Wunder« wieder auslöschen. Als das Glas aber wirklich zerbricht (endlich!), ist es fürs Nachholen der anfangs versäumten Beschädigung längst zu spät. Er wird dadurch betrübt ›bis in den Tod‹, und das sogar wörtlich. Sein Schicksal ist besiegelt (II,18).
Der Graf und die Baronesse Der Graf und seine Baronesse16 werden, als erstes Besucherpaar (I,1011), in die Handlung und also auch in den Faden der Konversation eingefügt, um provokante Vorschläge zur Eheführung zu unterbreiten (er)17 und um die Zustände auf Eduards Gut und vor allem in Eduards Herz auszukundschaften (sie). Er spricht weltmännisch-heiter, rückt das Thema, die Ehe, ins Licht der allseits beliebten »Komödie«. Sie stellt beim ersten Nachbohren (in einem »tastenden Gespräch«) fest. dass sie nicht lange zu raten braucht: Eduards Gemütszustand liegt für jeden Beobachter, in Gesten und Mienen noch deutlicher als in seinen Worten, offen zu Tage. Sie zeigen sich unterschiedlich in ihren Gesprächsbeiträgen, wie auch ihre Charaktere deutliche Unterschiede aufweisen: Der Graf gibt sich als großzügiger, wohlwollender Teilnehmer an vielerlei Geschicken (wenn auch mitunter mit egoistischen
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Von ihrem zweiten Besuch an (als gerade Luciane dort ihren kleinen und doch beträchtlich aufwändigen Hof hält) ist sie wirklich ›die Seine‹. Vom kirchlichen Segen machen sie ihren Bund aber nicht abhängig. Der Graf stellt es so dar, als ob die Vorschläge von einem Dritten, einem Freund mit »guter Laune«, stammten und als ob er sie nur überbrächte.
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Hintergedanken). Die Baronesse dagegen misst alles daran, was den Frauen, dem Geschlecht als solchem und einzelnen Frauen, die sie kennt, zugute kommt. Mit diesem Interesse verfolgt sie die Gespräche, die zumeist ihr Partner, der Graf, in Gang gesetzt hat, und dazu nutzt sie Intrigen18 und Versprechungen, die sie dann nicht einzuhalten gedenkt.19 Die Baronesse tritt durchweg, selbst wenn sie von ihrem eigenen Gut herkommt, als Begleiterin des Grafen auf. Sie wird in der Regel mit ihm zusammen genannt, vertritt auch im Gespräch zumeist ergänzende (ein wenig elegische) Ansichten. Nur wo sie die Sache der Frauen und zwar der Ehefrauen vertritt: ziemlich hartnäckig, in Worten wie mit tätlichen Intrigen, spricht und handelt sie auf eigene Rechnung. Ottilie ist für sie nur »jener unbedeutende Neuling von Mädchen« (I,10); sie will sie durch Verheiratung möglichst »den Ehefrauen unschädlich« machen (!) (II,7), Das Gespräch der beiden untereinander mit allen Handlungen, die es bei einer gut eingespielten Liebesgemeinschaft untermalen mag, ist schonend hinter die Kulissen der Romanhandlung verlegt: Darauf soll es hier nicht ankommen, und das können sich sowieso alle Leser schon selber denken. Das Gespräch bei Tisch aber, das erste in einer größeren Runde, ist in beträchtlicher Ausführlichkeit wiedergegeben; nur auf das letzte Zwiegespräch zwischen Charlotte und Ottilie (II;15), entfällt ähnlich viel Raum. Die Runde unterhält sich auf Französisch, was hier ausdrücklich vermerkt wird. Die Stimmung wird als »mutwilliges Behagen« bezeichnet: Mit diesem mutwilligen Behagen schweifen die Gespräche über »hohe und mittlere Weltverhältnisse« hin. Nur an einem 18 19
W. Danckert (S. 101) nennt sie geradezu eine »Lebensschmarotzerin […] am fremden Dasein«. Den tölpischen Eduard (»in der Unschuld seines Herzens«) lässt sie geradezu auflaufen, indem sie nur die Möglichkeit einer Weinlese auf ihren Gütern in Aussicht stellt (es wird nichts daraus) und ihn durch pures Hinhalten sich in der Hoffnung wiegen lässt, er könne all diese Herrlichkeiten seiner Ottilie zeigen. Als er nun hier mit Ottilie vorausläuft und mit Blumenpflücken den perfekten Schäfer spielt, ist sie »fast erbittert« und beschließt, das Liebenswürdige und Angenehme dieser Neigung einem solchen »Neuling von Mädchen keineswegs [zu] gönnen«.
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Gegenstand haftet ihre Aufmerksamkeit (»länger als billig«): eben den Eheverhältnissen. Der Leuchtpunkt, auf den der Graf das Gespräch hinlenkt, ist das Bild von Charlotte und Eduard als dem »schönsten Paar bei Hofe«, besonders wenn sie miteinander tanzten.20 Freilich wäre das Idealbild nicht so ideal, wenn es nicht mit dem Ehealltag mit seinen »Tölpeleien« und seiner üblichen Abkühlung kontrastierte. »Alles versteht sich von selbst, und man scheint sich nur verbunden zu haben, damit eins wie das andre nunmehr seiner Wege gehe«.
(Der Kammerdiener) Der Kammerdiener teilt die Rolle des übrigen Personals: Er ist zumeist stumm, ein dienstbarer Geist eben. Weil er für das Wohl seines Herrn zu sorgen hat, ist er fast ständig um ihn: irritiert ihn (I,13), macht ihm aber auch Vorschläge und nutzt seine Verbindungen zu »Handelsleuten« (für das aufwändige Geschenk für Ottilie, I,14-15). Einmal (I,17) hat er selbst, doch wieder nur für seinen Herrn, etwas auf dem Herzen, möchte Ottilie etwas fragen oder ausrichten, kann es aber nicht anbringen, also erfahren wir auch nicht, was es war. Der Kammerdiener muss Eduard Bescheid sagen, wann und auf welchem Wege Ottilies Reise (ursprünglich zu ihrer »Pension«) vonstatten gehen soll; so muss Eduard ihn auch einweihen, dass er etwas mit ihr vorhat (II,16) – ein Kammerdiener darf nicht weitersagen, was er im Dienst erfahren hat. Die Ehefrau seines Herrn muss er »aufklären«, was sich zwischen Eduard und Ottilie abgespielt hat (II,17), eben nur »soweit er vermag« (II,17), denn bei der entscheidenden Begegnung war er nicht dabei. Schließlich muss er seinem Herrn »gestehen«, dass er für das inzwischen zerbrochene Wunderglas ein falsches – aber doch ein ganz ähnliches! – un20
Die Liebes›karriere‹ der beiden, wenn man so sagen darf, verlief offenbar strikt parallel zu der des Grafen und der Baronesse. Das eine wie das andere wird als ästhetisch unwiderstehliches Paar anerkannt, auch wenn die einen wie die andern noch anderweitig verheiratet waren. Gerade die Öffentlichkeit hat lebhaft zugestimmt und keinerlei Anstoß an diesem Verhältnis genommen (keinen jedenfalls, der der Erwähnung wert gewesen wäre).
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tergeschoben hat. Nach dieser Aufklärung will Eduard (eine ganze Zeit lang) nichts mehr schmecken, weder flüssig noch fest. Es ist ein Kammerdiener von hoher Disziplin: Er spricht nur, wenn er gefragt oder wohin geschickt wird. Falls er eigene Interessen hat, bietet ihm Goethe in seinem Roman dafür keinen Spielraum.
(Nachbarn und Anverwandte) Am Ende von Ottilies Geburtstag (I,15) wird einmal den Gästen pauschal ein ganzer Satz zugebilligt: Sie »zerstreuten sich« wieder, nahmen noch einen Blick auf das Feuerwerk mit, waren aber froh, »nach so verworrnen Szenen« wieder ruhig zuhause anzulangen. Mindestens zum Teil dürften diese Geburtstagsgäste auch persönlich Angehörige und damit die gleichen sein, die vor der Taufe allerlei »Bedenklichkeiten«: »Zaudern, Stocken, Besser- oder Anderswissen« und ein reges »Meinen, Umund Wiedermeinen« zumal gegen den bewährten Namen »Otto« vorgebracht haben. Mittler musste seine »entschiedene Zudringlichkeit« aufbieten, um klarzustellen, dass ein anderer Name als dieser gar nicht in Frage kam (II,8). Mittler zählt sie zu der »übrigen mitunter mißwollenden und mißredenden Welt« und schreibt ihnen die Überzeugung zu, »alles was geschieht, geschehe nur dazu, damit es [das Publikum] etwas zu reden habe«. Der Erzähler hält sich in der Regel mit Wertungen zurück, hier aber dürfte er eindeutig Mittlers eifriger Entschiedenheit Recht geben.
Nanny Nannys Geplapper im Dienst ihrer schönen, ihrerseits wenig beredten Herrin ist bloß für die Handlung (ab und zu) bedeutsam; als eigene Redeleistung kommt es kaum in Betracht. Anders erst in den beiden Schlussszenen. Hier wandelt sich das anfangs unscheinbare, mitunter ungeschickte Mädchen in eine beredte Zeugin einer Wunderheilung (an ihrer eigenen Person), dann in eine Trösterin und »schöne Freundin«
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für den Architekten, dem vor Trauer und Rührung die Tränen hervorquellen. Seit Ottilies Tod scheint eine vergleichbare Sicherheit, Ruhe und Trostwirkung auf die einstige Dienerin übergegangen zu sein, das Schweigen freilich nicht. Mit dem eifrigen Verfechten des an ihr bewirkten »Wunders« stiftet sie geradezu eine Wallfahrt vor allem für die Bauernmütter zu der Kapelle, in der Ottilie aufgebahrt ist. Mit ihren gut passenden Trostworten besiegelt sie ihre Initiation ins Leben einer Erwachsenen. Sie spricht mit dem Architekten »mit so viel Wahrheit und Kraft, mit so viel Wohlwollen und Sicherheit«, dass er sich wieder fasst und getrost davonreitet. Es sind zwar typisch ›weibliche‹ Fähigkeiten, die sie hier unversehens entwickelt. Aber gerade das Trösten und Aufrichten ist nicht auf Frauen beschränkt. Es stünde Männern nicht schlechter an; es ist ein allgemein-menschlicher Umgang mit denen, die Trost nötig haben.
(Der Advokat) Der Advokat taucht nur zu Beginn des II. Buches auf. Er entledigt sich resolut seiner Aufgabe, sich gegen Charlottes rigorose ›Einebnung‹ (in mehr als einem Sinne) der Gräber stark zu machen und dafür zu plädieren, dass die Begräbnisplätze dauerhaft mit den Namen der Verstorbenen bezeichnet blieben. Dabei redet er geradezu einen Kampf herbei zwischen den trauernden Angehörigen, die sich um diesen »Markstein« versammeln, und »Fremden« sowie »Mißwollenden«, die sie »abweisen und entfernen« müssten. Kann er es wirklich erlebt haben, dass feindlich gesinnte Menschen ihre Feindschaft am Grab einen solchen womöglich noch lauten Streit ausgetragen haben?? Oder meint er (verhüllt) seine Redegegnerin selbst, Charlotte, deren rigide Umbettungsmanie die Totenruhe zu stören droht? Genug, er hat sein Veto eingelegt – und damit entschwindet er aus diesem Rechtsstreit wie aus dem Roman. Charlotte ist nicht überzeugt. Sie findet »die Sache« (wieder mal
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»die Sache«!)21 »nicht von der Bedeutung« und hat hier Gelegenheit, sich einmal für die »allgemeine Gleichheit« der Menschen auszusprechen, »wenigstens nach dem Tode« (!). Sie wendet sich an den Architekten, der ihr dreimal antwortet, und ergeht sich dann in einem längeren Monolog, erwiderungsfrei, wieder einmal über den Umgang mit der Gegenwart, worin sie selbstverständlich das Leben (hier: der »Überbliebenen«) an die erste Stelle rückt.
Der Architekt Der Hauptmann hat ihn, offenbar im Namen der anderen drei, die bleiben, kommen lassen, um »Ersatz« für sich selbst zu schaffen, wenn er geht. Von einem vollgültigen Ersatz kann freilich nicht die Rede sein, dazu sind ihre Interessen zu ungleich (s.o.). Sowie dieser Stellvertreter eingetreten ist, erweist er sich als ein tüchtiger Restaurator, darüber hinaus als Sammler von »Gerätschaften«, die aus Gräbern stammen (offenbar hat er sie aufgebrochen). Soweit spielt er seine Rolle stumm, wie auch die eines »Modehändlers«, der »putzhaft«, seine Ware anpreist (II,2).22 Wichtiger aber ist seine Arbeit, die Auffrischung des Deckenschmucks der Kapelle, und zwar im Stil der »Nazarener«, so dass die Kirche »gleichsam der Vergangenheit entgegen« wuchs (II,2).23 . Auch was dieser Fachmann bei der Arbeit mit Ottilie spricht, wird nicht verzeichnet, aber man kann es sich denken: ein Hin und Her von Fachausdrücken (sie fragt, er antwortet) und Vokabeln der Anerkennung (nur von ihm zu ihr). Dass bei ihm »auf dem Wege vom Auge zur Hand« 21 22
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Hier bezeichnet die häufig wiederkehrende Vokabel (s.o.) nichts als den zur Verhandlung anstehenden Streitgegenstand. Aus diesen Ausdrücken kann und soll man offenbar heraushören, dass mindestens eine der verbliebenen Schlossbewohnerinnen (das muss wohl Charlotte sein) sie in einem offenbar mokanten Gespräch mit der anderen (dafür bleibt nur Ottilie) gebraucht haben dürfte. Der Ausdruck wirkt wie ein merklicher Stich gegen die Romantiker, die mit ihrem »Nazarenertum« die Kunst wie auch den religiösen Ritus in alte Gleise zu lenken suchten.
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»nichts verloren ging«, ist bei Lessings Maler Conti24 Teil seines Monologs im Angesicht des Prinzen. Hier wird es Teil der Lobesäußerung des Erzählers für den Maler, der zugleich sein Modell stark verehrt. Über sein Metier hinaus ermutigt dieser patente Architekt auch noch Ottilie, in einem eigenen Lebenden Bild als die »Himmelskönigin« zu posieren.25 Nach vollbrachter Arbeit wird der Architekt in aller Form verabschiedet, und zwar mit einem persönlichen Geschenk, das ihm warm, vor allem warm ums Herz machen soll. Ein komplexer Satz, mit dem er seine schließlich doch rasche Abreise motiviert, gibt noch Rätsel auf: » – was er sich nach seiner Entfernung26 musste gefallen lassen, das wollte er wenigstens gegenwärtig nicht erleben«. Ich würde es auf seine hier aufkommende Eifersucht beziehen, denn aus dem Platz in Ottilies Herzen (wenn es auch nur ein Seitenplatz sein konnte) verdrängt zu werden (durch den, wie er zu Unrecht argwöhnt, glücklicheren Gehülfen), ist zweifellos schmerzlich. Danach ist er irgendwo, jedenfalls noch in Verbindung mit den Herrschaften (die lange Zeit nur aus den übriggebliebenen Frauen bestehen): Jedenfalls taucht er plötzlich an Ottilies Sarg wieder auf, jetzt ganz »auf sich selbst zurückgewiesen«. Das Gedenken an die »stillen Tugenden« der Dahingeschiedenen: »seltene, schöne, liebenswürdige Tugenden«, findet er sehr nötig, das hält er noch einmal zusammenfassend in seinen Gedanken aufrecht.
Luciane Charlottes Tochter Luciane (Auftritt: II,4 und II,5 sowie am Anfang von II,6) schafft es, durch ihren wirbelnden Lebensstil wie ihre hüpfende Teilnahme an Gesprächen die Aufmerksamkeit aller anderen auf sich 24 25
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Emilia Galotti I,4. Der Gehülfe, der in sporadischen Besuchen an die Stelle des Architekten tritt, hat, als Erzieher, ganz andere Interessen. Er ist auch gegenüber der Religion anders, weltlicher, aktiver eingestellt. Die Vokabel hält eine für ihn offensichtlich schmerzliche Situation fest: als ob er sich auf die Seite der bisherigen Gastgeber stellte und sich nun von ihnen vertrieben fühlte.
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zu ziehen. Alles, was ihr vor Augen kommt, auf Eduards Gut wie in der Nachbarschaft, wird rasch »abgeurteilt«. Höchstens zum Durchhecheln der Nachbarn ist die Umgebung noch gut – hier kommt der Erzähler nicht umhin, ihr eine »böse Zunge« zu attestieren. Höchst inkonsequent ist sie, nur dass keiner ihrer Gefährten es ihr sagen mag. Als das seelenkranke Mädchen, das sie unbedingt in »die Gesellschaft« hat einführen wollen, endgültig jede Gesellschaft meidet, hält sie ihren Spießgesellen eine »starke Strafrede«.27 Neugierig ist sie und mischt sich ungefragt in die Gespräche anderer ein. Mit harschen, kein bisschen einladenden Worten bringt sie Ottilie dazu, sie auf ihren Ausflügen bei Wind und Wetter zu begleiten, »da ja so viel andre nicht davon stürben«.28 Von Luciane selbst könnte man sagen, dass sie derlei stürmische Witterung nicht nur mitgebracht hat, sondern sie in ihrer Person verkörpert Der Graf bringt sie und damit ihre ganze Gesellschaft, »glücklicher oder unglücklicher Weise« (als ob er es geahnt hätte), auf die Unterhaltung durch »lebende Bilder‹« – wenigstens dabei muss sie nun einmal den Mund halten.29 Wie ein Kobold oder »wie ein brennender Kometenkern«, so tritt sie hier auf und spielt den Einwohnern des Schlosses wie der Umgebung ihre Streiche. Für die poetische Ökonomie von Goethes Romans aber hat sie doch eine gewisse ausgleichende Funktion. Sie bringt einen Kontrast des Spiels, des Leichtsinns und der Unverantwortlichkeit in das Geschehen, das ohne dieses Gegensatz leicht bierernst, ja verbissen hätte ablaufen können.
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Als ähnlich inkonsequent hatte der Erzähler schon Eduard charakterisiert (I,13) und beide Mal hinzugefügt, dass er so wie sie das Gerügte selbst veranlasst hat. Hier hat sie zwar einmal Recht, aber eine mitleidlose Härte ist es gleichwohl. Das witzig angebrachte »tournez s’il vous plaît« (II,5) mag wohl auch heißen: Sprich wieder mit uns, auch wenn das ein Verstoß gegen die Spieleregeln der »lebenden Bilder« wäre.
Gäste und Nebenfiguren
Der Gehülfe In der gedrückten Zeit, die Ottilie in der Schulanstalt (ihre wie Lucianes »Pension«) zugebracht hat, war der Gehülfe der einzige und immer zuverlässige Erzieher, der zu ihr gehalten hat. Er scheute nicht einmal den Konflikt mit der Vorsteherin, und das hat ihm bei ihr nicht geschadet. Später soll er sogar Leiter der Anstalt werden. An ihm wird besonders die Gabe des verantwortlichen und gefälligen Gesprächs hervorgehoben (II,7). Er unterhält die beiden Frauen mit den damals neuesten Erkenntnissen der Pädagogik: Viel Abrichtung, für Knaben auch Uniformierung und militärischer Drill, aber wenigstens konzentriert und konsequent (II,7). Eigentlich kommt er so gern, mehrmals, weil er Ottilie für sich einnehmen und sie zu seiner Frau gewinnen will. Die Hürde des unterschiedlichen Standes hofft er rasch zu überwinden: Die »Sitten der Zeit« hatten die soziale Segregation einigermaßen durchlöchert. Damit ist ihm aber nur das zivile Recht zu werben und zu freien zugefallen – dass die Erkorene auch Gefallen an ihm als Person finden müsste, kommt ihm anscheinend gar nicht in den Sinn. Ottilie hat zwar in guter Erinnerung, was sie ihm verdankt, aber nur aus Dankbarkeit sich wegheiraten lassen, das kann und will sie nicht. Sie ist schließlich dafür, trotz seines persönlichen Interesses an ihr, zu seiner »Pension« aufzubrechen. Aber sie kehrt mit Erleichterung zurück, sowie sich die Gelegenheit dazu ergibt. Der Gehülfe wird unbeweibt bleiben oder wird sich anderweitig nach einer Frau umsehen müssen.
Der Lord und sein Begleiter Eine interessante Manier, die Welt draußen im Gespräch zu vergegenwärtigen, bringt der englische Lord ins Haus (II,10-11). Er war schon Gott weiß wo; Ottilie nimmt ihn als Auskunftsquelle: vor allem um bestimmte Berichte aufzufrischen, die ihr in früheren Erzählungen Eduards unvergesslich geblieben, sind. In ihren Ohren klingelt es nur so von »Ufern und Häfen, Bergen, Seen und Flüssen, Städten, Kastellen« – es bleiben aber lauter räumliche Bestimmungen für die Existenz einer
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Person, an der sie doch viel mehr angehen würde, wie er sich überall da gefühlt hat und was er im Herzen getragen hat (hoffentlich sie!). Der Lord hat die halbe Welt durchreist, wollte aber nirgends bleiben. Mit einen Anflug von Zynismus gibt er sein eigenes Verhalten mindestens dem Kopfschütteln preis: Wenn ihm das Haus überm Kopf brennt, packen seine Leute »gelassen« ein und fahren zur Stadt hinaus. Ein Globetrotter also,30 mit der Neugier, der Geduld und der Mitteilsamkeit, die man von solchen Gästen erwartet. Ob er dabei einen Odysseus, einen Äneas, einen Dante oder noch einen anderen berühmten Reisenden der Vorzeit nachahmt, bleibt offen. Ein Münchhausen scheint er nicht zu sein, jedenfalls nehmen ihm die beiden Zuhörerinnen alles ab, was er und wie er es erzählt. Gelogen wird in diesem Roman überhaupt nicht, nicht einmal geschwindelt.31 Einen Versuch, den Begleiter dem Lord gegenüberzustellen, und zwar als ähnlich der Charlotte: ebenso »verständig« und ebenso »ruhig«, unternimmt Jean-Marie Valentin.32 Dieser patente Lord nun versteht sich darauf, mit »heiterer Eigenheit und Bedächtlichkeit« von seinen Abenteuern zu erzählen. Er ahnt gar nicht (erst sein Begleiter bringt ihn darauf), was er mit seinen Berichten in den beiden Zuhörerinnen anrichtet. Charlotte ist genügend erfahren und hat die Kunst entwickelt, von einer »unerfreulichen Stelle« der in Worten berührten Verhältnisse einfach abzusehen. Ottilie dagegen sieht »den anmutigen Schleier« vor den Verhältnissen, zumal vor
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Es ist nur konsequent, dass Goethe für diese Rolle gerade einen Engländer gewählt hat. Oder doch? Im Nachhinein jedenfalls können die beiden Adressaten von Ottilies langem Brief (auch hier ist der Hauptmann wieder ausgeschlossen, schon durch die Anrede »meine Geliebten«) ihre Versicherung: »die Jugend stellt sich unversehens wieder her« sich kaum anders zurechtlegen. Auch die öfters eintretenden Täuschungen und Selbsttäuschungen (s.u.) kommen offensichtlich nicht ohne ein gewisses Quantum von Schwindel aus. In seinem Artikel : Le Lord et son compagnon. Recit et vision de la nature dans les »Affinités électives« in dem gleichen Forschungsband, aus dem ich den Beitrag von Albert Meier ins Literaturverzeichnis aufgenommen habe, dort auf S. 114.
Gäste und Nebenfiguren
denen, die sie angehen, »mit Gewalt zerrissen«. Der Lord hat einfach drauflos erzählt und hat nicht mal gemerkt, dass alles seinen Zuhörerinnen arg zusetzt. Noch ärger missrät seinem Begleiter sein Beitrag zur allgemeinen Geselligkeit: seine Erzählung der berühmten Novelle »Die wunderlichen Nachbarskinder«. Dieser Begleiter ist ein stiller, höchst aufmerksamer dienstbarer Geist, mit einem Faible für Naturexperimente, vor allem im damals noch jungen Mesmerismus oder »tierischen Magnetismus«. Den Vortrag der »Novelle« absolviert er mit Bravour, mit deutlicher Parteinahme für die beiden (namenlosen) jungen Leute, die sich, dazu ist der Boden der Novelle gut,33 am Schluss bekommen und den Segen der Eltern dazu. Dass er mit seiner Erzählung starke Missstimmung auslöst,34 konnte weder er noch sein Lord ahnen. Statt Wiedergutmachung plädiert der Lord für schleunige Abreise (wieder mal). Aber der Begleiter setzt sich durch: lieber den beiden Gastgeberinnen noch etwas Interessantes bieten und sie dadurch auf andere Gedanken bringen.
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Die begeisterte Zustimmung zu dieser Novelle, im Gegensatz zum sonstigen Roman, wie Benjamin sie ausgearbeitet und für die folgende Germanistik fast obligatorisch gemacht hat, wird doch, so Margarethe Beckurts, einigermaßen relativiert, wenn man berücksichtigt, dass das Geschehen dieser Novelle in den noch fast ungetrübten Zeiten vor der französischen Revolution spielt, dass auch ihre glückliche Lösung typisch ist für jene unbeschwerte Epoche. Charlotte überspielt sie höflich durch eine »stumme Entschuldigung«.
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Zusammenfassung und Entgrenzung: »Man« Neben, zwischen und hinter den acht mit Namen genannten Personen1 und 13 weiteren, die nur mit ihrer Berufs- oder Standesbezeichnung eingeführt werden (elf davon männlich), gibt es eine lange Reihe unscharfer Bezeichnungen von Personen oder Personengruppen, am häufigsten »man«. Hinter dem unpersönlichen Fürwort »man« und hinter vielen Passivkonstruktionen können sich noch uneingeführte Akteure des Geschehens, können sich aber auch Gruppen von Figuren der eigentlichen Geschichte verstecken. Je stärker man sich auf das häufige »Man« in den Wahlverwandtschaften konzentriert, umso schärfer kristallisiert sich heraus: ein Ausfluss oder ein Konzentrat der Uneigentlichkeit, vielleicht das Konzentrat der Uneigentlichkeit schlechthin. Nichts ist so gemeint, wie es gesagt wird. Eine ›unpersönlich‹ zu nennende Möglichkeit, sich auszudrücken, kommt im Roman ungemein häufig vor.2 »Man« heißt: Es geht in Ordnung, andere machen es auch, schon früher wurde es so gemacht. 1 2
Das sind neben den vier Schlossbewohnern: der Polterer Mittler, Charlottes Tochter Luciane, der Stammhalter Otto und Nanny, Ottilies Dienstmädchen. Über 30mal bezeichnet das »Man« Menschen überhaupt und etwa doppelt so oft Menschen in besonderen (traditionellen) Gruppierungen: andere adlige Familien (14mal), die Gemeinde überhaupt (11mal), die Gemeinde der Hinterbliebenen (achtmal), das Kunstpublikum (23mal), die Pädagogen (achtmal) usw. – Es scheint so, als ob Charlotte von unpersönlichen Sätzen häufiger Gebrach
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»Man« heißt: Es gibt vernünftige, anerkannte, vorbildliche Verfahren, Gewohnheiten auch, denen sollten wir uns anschließen. »Man« kann auch bestimmte, schon vorgestellte Personen bezeichnen (z.B. Graf und Baronesse, oder auch diese mit dem gastgebenden Paar zusammen), dann treten sie mit dieser Silbe in die Schar derer, die ihr Verhalten an dem von anderen messen, sich womöglich, instinktiv oder mit voller Absicht, unter das ›Normal‹verhalten beugen – hier liegt Heideggers »Man« als »Modus der Uneigentlichkeit« am nächsten. Der Graf flicht ein: »wenn man die Welt kennt«: Er meint eigentlich sich selbst mit, aber ihm ist bewusst, dass auch manch anderer die Welt kennt, vielleicht besser als er (I,10). Wenn »man sich zum Abendessen zusammengesetzt« hat (I,10), steht »Man« eindeutig für die vier plus die beiden Gäste, es signifiziert aber, dass es sich um einen festen Brauch handelt, der periodisch wiederkehrt. Charlottes Unart, ihrem Mann ins Buch zu schauen, wenn er vorliest, hat er ihr schon öfter mit »Ungeduld« und »gewissermaßen unfreundlich« verwiesen. Vielleicht sieht er eine Abmilderung darin, wenn er es per »Man« wiederholt. »Wollte man sich doch solche Unarten […] abgewöhnen« (ohne Ausrufungszeichen). Es kommt aber, wie er es sagt, erst recht unfreundlich heraus: Auf sie allein trifft es zu, und sie bekommt es nicht persönlich, sondern in einem Satz von Allgemeincharakter vorgesetzt (I,4). Als er sich in seinem Verkehr mit Ottilie unfair beeinträchtigt fühlt, lässt er eine Art von Ranküne in seinen Gedanken zu:3 Er fand »die Hindernisse sehr hoch, die man ihm in den Weg legte« (I,13). Er weist es scharf zurück, dass »man« Ottilie verstößt (»unter fremde Menschen hinunterstieße«, I,16): Was er sich vorstellt, ist so grausam, dass er weder sich noch seine Frau als Subjekt einsetzen mag – aber ausgesprochen werden muss es. Ein starkes, geradezu herrisches »Man« gebraucht Charlotte, als sie mit Ottilie allein ist. »Wollte man den Ort verändern«, d.h.: sie will (für Ottilie), Ottilie will eigentlich gar nicht. Mit der Zusammenfassung zu
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macht als die anderen. Sie sagt auch gern »man«, wo sie ihr Ich verstecken und doch durchschimmern lassen möchte. Dreimal »man« an dieser Stelle, sonst noch öfter.
Behandlung der Personen und wichtige Ereignisse
einem »Man« unterstellt Charlotte der Schutzbefohlenen ihren eigenen, Charlottes Willen und pflückt die beiden dann erst wieder bei der Erwägung Wohin? auseinander. In Ottilies guten Vorsätzen setzt sich auch ein »Man« durch, das ihre Handlungsweise betrachtet, bewertet und so durchdringt, dass es direkt zum Auge Gottes avancieren kann: »Findet man mich aber freudig bei der Arbeit, unermüdet in meiner Pflicht, dann kann ich die Blicke eines jeden aushalten, weil ich die göttlichen nicht zu scheuen brauche« (II,15). In ihren Aufzeichnungen macht Ottilie von dem »Man« einen wiederholten, anscheinend gut durchdachten Gebrauch. Es ist ihr eigenes Gefühl, das sie in diesem Modus ausdrückt, aber sie fände es offensichtlich outriert, wenn sie es in der Ich-Form vorbrächte. Wenn sie an den Winter denkt, erweitert sie ihre Empfindung auf alle Naturfreunde, auf alle, die mit wachen Sinnen auch noch den kargen Erscheinungen der winterlichen Vegetation etwas abgewinnen können. »Man lässt sich den Winter auch gefallen«. Das Gleiche wie das häufige »Man« drückt auch das pure Verb im Indikativ aus, zumal wenn es noch von einem »der Mensch« gefolgt wird. Üppigen Gebrauch macht erst recht der Erzähler der Novelle4 von dem »Man«.5 Er fasst damit die fürsorglichen Eltern, die anteilnehmende und die mitfahrende (jedoch nicht die erschrockene) Gesellschaft, die Bootsinsassen ohne den kühnen Schwimmer. Für die Fähigkeiten der psychischen Nuancierung hat dieser Erzähler keinen Sinn, oder bloß keine Gelegenheit. Fast das letzte »Man« wird gebraucht, um die Exequien6 Ottilies in die richtigen Hände zu legen. Nur drei Überlebende kommen noch in
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Der »Erzähler« ist hier eine identifizierbare Person der Handlung: der Begleiter des englischen Lords. Er ist weniger wendungsreich als »der Erzähler« des Romans, aber er begnügt sich auch damit, nur diese eine Novelle so eindringlich wie möglich zu Gehör zu bringen. 17mal auf sechs Seiten, dazu zweimal »jemand«, einmal »niemand«. Ein Ausdruck aus dem vorigen Roman, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Er passt auf die Behandlung der toten Ottilie noch mehr als auf die der zart-wilden Mignon.
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Frage, möglich ist auch, dass es Charlotte allein übernimmt,7 jedenfalls soll der, der es tut, in das »Man« des Totenritus zurücktreten. »Man« besagt: Einer muss es machen, sorgen, seinen Kopf hinhalten, und wer es wirklich tut, tritt dahinter zurück und lässt es sich gefallen. Noch makabrer ist die Verallgemeinerung der Nachricht von Eduards Tod. »Endlich fand man ihn tot« steht zunächst da, dabei verrät der nächste Satz, dass Mittler es war, der ihn gefunden hat. Das Faktum ist so bedeutend, geht alle drei an, die sich jetzt noch kümmern können, dass dieser ›Fund‹ nicht einem von ihnen (und zumal dem periphersten) zugeschrieben werden soll.
Mancherlei Theater Theater in vielerlei Form spielt in der Handlung der Wahlverwandtschaften eine bedeutende Rolle – kein Wunder bei einem Autor, der jahrzehntelang für die Theaterkultur des Hofs und des Landstädtchens Weimar zuständig war. Der Graf besteht in seiner provokanten Einlassung bei Tisch (I,10), einem längeren Beitrag zu diesem Tischgespräch, auf dem Unterschied zwischen der »Komödie«, in der die Heirat unbedingt den Schluss bildet, Vorhang zu, und dem wirklichen Leben, in dem »hinten immer fortgespielt« wird. Der Lord denkt gar an die »Oper«: Er hat sich an den ständigen Wechsel der Kulissen seines Lebens so gewöhnt, wie man in der Oper eine ständig neue Dekoration erwartet (II,10). Auch die »Lebenden Bilder«, die der Graf in diese Gesellschaft eingeführt hat, stellen eine Art von Theater dar. Explizit heißt es von Ottilie, als sie die Madonna mimt, dass sie sich in einer »halb theatralischen Lage« befindet oder sich wenigstens so fühlt (II,6). Schwer zu verstehen, vermutlich weil außer Gebrauch gekommen, ist das »schlechte (= schlichte) Schubladenstück«, das Ottilie so langweilt, dass sie darin das passende Bild für ihre Situation ohne Eduard findet (II,9). Als hätten die Personen dieser traurigen Geschichte gelernt, sich selber so wie Figuren aus einem 7
So wie sie auch, allein, den toten kleinen Otto »ganz in der Stille nach der Kapelle gesendet« hatte (II,15).
Behandlung der Personen und wichtige Ereignisse
Stück zu bewegen, gestalten sie ihren Abgang und Auftritt schließlich ›wie auf dem Theater‹: Kaum hat sich der Major nach einer langen stummen Nacht bei Charlotte verabschiedet, ist Ottilie wieder präsent und fängt an zu sprechen (II,14).
Die handelnden Personen in ihrer »Selbstigkeit« Im überaus häufig vorkommenden8 »Selbst« werden die Personen zu sich gebracht, nein, kommen sie zu sich selbst, denn es ist nur echt, wenn es aus ihnen selbst kommt. Ihr wahres oder eigentliches Sein hört auf die eine Silbe »selbst«. »Man selbst« wäre ein Unding, es kommt auch nicht vor. Die Person muss auch ihre Handlungen selbst vollführen und selbst verantworten – »machen lassen« wäre ebenso unmöglich. Das ist freilich in den Wahlverwandtschaften – wir haben es eben mit einem tief ironischen Roman zu tun – nur der Nennwert dieser vornehmen Vokabel. Das »Selbst« kann allerlei Verkleidungen durchlaufen, es kann gerade dort mit starken Worten herausgestellt werden, wo es die Menschen betrügt, verführt, herabzieht. Nicht einmal auf Ottilie angewandt, auch nicht auf das, was sie auf der Zunge oder unter der Feder hat, hält das faktisch ausgeführte »Selbst« immer, was der Ausdruck verspricht. Zudem ist es eine verräterische Vokabel: Sie zeigt offen oder versteckt an, wie intensiv und permanent diese sich selbst ausgelieferten Personen auch um sich selbst kreisen. Aber den Maßstab, an dem der stolzeste Gebrauch wie der kläglichste Missbrauch gemessen werden kann, ja muss, den liefert wiederum das, was das Wort selber anzeigt oder nahelegt.9 8 9
Gezählt (mit Zusammensetzungen): 234mal in den zweimal 18 Kapiteln des Romans. Eine gründliche philosophische Studie über das »Selbst«, heute wie in der Kantund Goethe-Zeit, hat Charles Larmore vorgelegt. Er arbeitet in Goethes Roman einen philosophischen Zusammenhang heraus, in dem die Aktivierung des Inneren, die Selbstreflexion, die Autonomie (und einige weitere Grundbestimmungen des menschlichen Inneren) zusammentreffen, und er scheut dazu nicht eine fundamentale Polemik mit Kant. – Die handelnden Figuren der
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Da sind zunächst einmal die »Selbstler«, die sich mit dem begnügen, was sie selbst zu bieten haben. Nur sich selbst zu kennen und gelten zu lassen macht den Eindruck eines primitiven Verhaltens, in mehrfacher Hinsicht eines oder einer gebildeten Adligen unwürdig. Luciane verhält sich über weite Strecken so selbstbezogen: eitel, gefallsüchtig, antreibend zu immer wiederholten, nur in sich selbst kreisenden Beschäftigungen (II,4, II,5). Ihre Mutter hofft darauf, dass durch das »Leben« selbst, durch bestimmte »Ereignisse«10 und durch ihre eigene Einwirkung diese »Selbstigkeit« allmählich »gemildert« wird (II,6). Der Hauptmann sorgt beizeiten, ehe er geht, für einen Ersatz: Er grenzt sich ab von »ungebildeten Selbstlern«, die die Lücke, die sie lassen, möglichst fühlbar machen wollen (I,14). Aber dieser so sorgsame Hauptmann ist, sowie ein Bettler auftritt, gleich einverstanden mit Eduard, dass man zwar, als adliger Herr, »Almosen« geben muss, aber »besser (…) nicht selbst« (I,9). Selbst die traditionelle Sorge von Hinterbliebenen für das Andenken abgeschiedener Angehöriger scheint Charlotte »nur ein selbstischer Scherz«, gemessen an dem, was das weitergehende Leben der Hinterbliebenen verlangt (s.u.). Sie setzt dagegen, und wird hier einmal richtig feierlich (»ein heiliger Ernst«): »seine Verhältnisse gegen die Überbliebenen immer lebendig und tätig zu erhalten«.11 Eduard weiß, nachdem die ersten frivolen Gäste (und einiger Alkohol) ihn aufgemöbelt haben, nicht recht vor noch zurück. Deshalb heißt es vor dem ominösen nächtlichen Besuch bei seiner Ehefrau, dass er im Dunkeln vor ihrer Tür, »ganz in sich selbst geengt« dahockt (I,11, s.o.). Als ›gar nichts mehr geht‹, als Ottilie sich von Eduard abgewandt hat (ohne ihn doch loslassen zu können), als er beim Aufbau der ›Falle‹ in jenem Wirtshaus selber schon merkt, dass er sie weder fassen noch
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Wahlverwandtschaften haben jedoch, gerade wenn sie sich auf »sich selbst« besinnen, viel mehr miteinander zu tun, als dass sie sich von der dinglichen und oft verwickelten Außenwelt (die im Denken und Sprechen der handelnden Figuren ihrem »Ich« oder »Selbst« gegenübergestellt wird) absetzen. Welche, führt sie nicht aus. II,1, markantes Ende des Kapitels.
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halten kann, erwartet er die erlösende Antwort12 von »deinem schönen Selbst« (II,16). Er will dringlich werden und muss doch respektieren, dass sie eine Person für sich selber ist. So spricht er ihr Selbst an: den Kern ihrer Person, das dirigierende Zentrum ihres Handelns. Ein Entschluss zu seinen Gunsten soll aus ihr selbst kommen, aus ihrem Wesen, wie es ohne allen Zwang existiert und ›sich gibt‹. Er fordert sie auf zu einem sehr weitreichenden Schritt, und er muss ihr doch zugestehen, dass sie weder auf Bitten noch auf Verführungen, sondern einzig aus ihrem »schönen Selbst« heraus sich bewegen kann und wird. Das Selbst kann sich aber auch vom eigenen Willen trennen, jedenfalls schreibt das Ottilie, zur Entschuldigung, ihrem Eduard zu: »er stand selbst gegen seinen eigenen Willen vor mir« (II,17, brieflich). – Schließlich liegt der Baron, der Herr dieser Güter, tot da. Dass er selbst Hand an sich gelegt hätte, können die Angehörigen ausschließen, aber tot bleibt tot. Charlotte ist durchgehend, streng und zuverlässig, sich ihrer selbst bewusst. Gerade ein unerwarteter (oder doch heimlich erwarteter?) Kuss von ihrem Freund, dem Hauptmann, bringt sie wieder zurück zu sich selbst (I,12). Dennoch kann sie auch »von sich selbst überrascht« werden, nämlich wenn die weitere Karriere dieses Freundes verlangt, dass er sie verlässt – da wusste sie vorher noch gar nicht, wie sehr sie das schmerzen würde (I,10). Bald darauf (I,13) möchte sie wieder »aus sich selbst herausgehen« und »sich zerstreuen« (durch Empfang neuer Gäste). Einmal muss sie auch »über sich selbst lächeln«, das macht sie sympathischer als die meisten der klugen Sprüche, die sie von sich gibt. Sie verweilt dabei in Gedanken bei dem »wunderlichen Nachtbesuch« ihres Ehemanns (I,12, mit Rückblick auf I,11). Als sie Ottilie »warnen« will, findet sie zu ihrer Überraschung, dass »sie wohl selbst noch einer Warnung bedürfen könnte« (I,13). Ihrer Tochter Luciane hält sie (oder soll das der Leser?) zugute, dass es nicht eigentlich »Bosheit« war, was sie antrieb, sondern nur (»nur«?) »selbstischer Mutwille« (II,5). Von
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Antwort nämlich auf die seit Beginn ihrer Bekanntschaft sich aufdrängende Frage, ob sie ›sein‹ werden will.
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ihrem Selbstbewusstsein, »aus sich selbst zu handeln«, rückt sie allmählich ab. Wir »glauben« nur, aus uns selbst zu handeln, dabei kann jedes neue Wiedersehn mit dem Vertrauten uns wieder der ganzen »Gewalt der Leidenschaft« unterwerfen (II,15). In den meisten Partien des II. Teils sucht Charlotte Ottilies »Entschluß«, Eduard zu entsagen, »so fest und unveränderlich« zu machen, dass alle sich darauf verlassen können. Indem sie ihr zuredet, wird sie richtig feierlich – es klingt nach Kant, so fern Charlotte auch diesem Philosophen und der Philosophie insgesamt stehen mag. Aber siehe da, kaum hat sie ausgeredet, gibt Ottilie ihr schon das verlangte Versprechen, »das sie sich schon selbst gegeben hatte« (II,15). Die »Gewalt über sich selbst«, die Charlotte dank ihrer Selbstbeherrschung von allen anderen zu fordern sich berechtigt fühlt, die braucht Ottilie gar nicht. Freiwilligkeit ist verlässlicher als jede Form von »Gewalt«. An dem nun wirklich zu »berufenden« (einzuladenden) Hauptmann gefällt Charlotte schon von vornherein (bevor er sich einstellt, I,3), dass er mit solcher »Deutlichkeit über sich selbst« geschrieben hat. Nur ein ungefähres »Selbst« gebraucht er, als er dann da ist, zu Beginn seiner Lektion13 über die »Wahlverwandtschaften« (I,4): »Alle Naturwesen haben einen Bezug auf sich selbst«. Er will nur sagen, dass sie sich mit weiteren Elementen der gleichen Art verbinden (also Quecksilber wieder mit Quecksilber). »Selbst« degradiert hier das einzelne Naturding zu einem Partikel einer jeweiligen Masse, in der alle Teile gleich und auf das Gleiche aus sind. Als er nach dem Dammbruch (I,15) sich als Retter hervortut, ist es wieder Charlotte, die ihm Lebensgefahr andichtet, aus der er dann von eigener Hand »gerettet« wurde. Für das persönliche »Selbst« scheint in erster Linie Ottilie zuständig. Den Zustand, immer »einig mit sich selbst« zu sein, preist sie regel-
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Der Disput über die »wahlverwandten« Elemente gibt sich als ein Gespräch zu dritt, sogar ein besonders lebhaftes. Wenn der Hauptmann aber sich zurückbezieht auf das, was »wir« »oben« schon »benannt und besprochen« haben, dann lässt sich das kaum anders verstehen, als dass da ein Aufsatz oder dgl. vorliegt, auf den er sich zurückbezieht und seine Zuhörer bittet, ebenfalls dahin zurückzukehren.
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recht (I,6). Sie befiehlt nicht, sie verrichtet das »Geschäft« lieber gleich selbst (I,6).14 Schmerzhaft wird diese Haltung,15 wenn Ottilie sich versucht fühlt, lieber »sich selbst« zu peinigen, »wenn man einmal dem Wege ist gepeinigt zu werden« (II,10).16 Karl I. tut ihr so leid, nicht etwa weil er hingerichtet wurde (davon spricht sie jedenfalls nicht), sondern weil er sich selbst nach dem heruntergefallenen Zierrat aus seinem Szepter »bücken« musste (I,6). Von ihrer Lektüre wird vermerkt, dass sie sich »versenkt in ihr Buch, in sich selbst« (II,13) – doch eben diese Versenkung raubt ihr einen Teil ihrer Aufmerksamkeit: Darum kann sie bei dem Unfall am See nicht schnell genug reagieren. Sie sucht Hilfe erst bei sich selbst: vergeblich, dann »beim Himmel«: mit einem tief ironischen Ergebnis (II,13, s.o.). Danach »schaudert« es sie, wie es in ihr aussieht (II,14). Sie »kann«, ja muss ihr Mitleiden jetzt von dem armen nervenkranken Mädchen abziehen und »gegen [sich] selbst wenden«: Sie braucht es jetzt selber (II,15). Eduard wird wohl Recht haben, wenn er sich in seinem Brief (im wohlbekannten Wirtshaus, II, 16) eine Antwort, die ›richtige‹ Antwort von ihrem »schönen Selbst« erhofft. Als sie bald darauf für immer verstummt, wendet sie sich noch einmal in einem Brief an ihre Freunde: liebevoll und Liebe heischend, um »Duldung« und »Unterhaltung« bittend – »aber mein Innres überlasst mir selbst« (II,17). In ihrem Rückzug auf ihr »Inneres« ist sie hier so weit fortgeschritten, dass sie sich unerreichbar gibt: nicht mehr anzusprechen und nicht mehr auskunftswillig. Mittler kommt in seiner eigentlich gut durchdachten, doch fatal angebrachten Exegese des fünften Gebots (II,18, kurz bevor Ottilie das Zimmer betritt) zu einer bemerkenswerten Formulierung: »wenn du ihn [den »andern«] beschädigst, denke daß du dich selbst beschädigst«. Erst wenn du dich selbst als verletzlich begreifst, als ausgesetzt vielerlei 14 15 16
Besonders häufig taucht das Wörtchen »selbst« im pädagogischen Diskurs (II,78) auf. Ihre »selbstquälerische Einbildungskraft«, die mit wachsendem zeitlichem Abstand immer noch angewachsen ist. Sie liefert sich dieser Qual aus, als die beiden »Fremden« (der Lord und sein Begleiter) vor ihr von fernen Weltgegenden erzählen und sie sich ausmalen muss, in welchem »jämmerlichen« Zustand Eduard dort leben mag.
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Einwirkungen des andern oder mehrerer andrer, Einwirkungen körperlicher wie geistiger Art, dann kannst du auf Aggressionen aller Art verzichten und im anderen etwas wie einen ›Bruder‹ erkennen. Diese Figur Mittler steht Kant wahrhaftig nicht nahe, aber hier ist er mit seinen eigenen Überlegungen zu einem Resultat gelangt, das sich als direkte Exegese von Kants ›Kategorischem Imperativ‹ sehen lassen kann. Der Maurer dagegen gibt sein Selbst preis an den usus seiner Zunft. »Wem muß also mehr daran gelegen sein, das was er tut sich selbst recht zu machen, indem er es recht macht, als dem Maurer?« (I,9). Der Gebrauch, den der Roman von den unscheinbaren Wörtchen »selbst« und »das Selbst« macht, ufert regelrecht aus.17 Dieses »Selbst« kann die Person als solche, ihre Personalität oder ihre Verantwortung betonen. Es kann den Blick in ihr Inneres lenken: Was denkt, was fühlt, was imaginiert sie und wie fühlt sie sich dabei? Wie wirkt das jeweilige »Selbstbewusstsein«, und was ist das überhaupt? Es kann den Aktivismus und den Rückstoß von der eigenen Tätigkeit unterstreichen: Selbsttätigkeit, Selbstverantwortung, gelegentlich reicht es bis zur Selbstrechenschaft. Es kann auch das Verhältnis zum »eigenen« Besitz und den Umgang damit hervorheben. Die Beziehung zum eigenen Selbst zeigt auch an, wie selbstisch oder (manchmal) »selbstlos« die einzelnen handelnden Figuren sind. Kritik kann sich an allen Stufen dieses Verhältnisses entzünden, an der Selbstsucht wie der flauen Selbstgenügsamkeit. Dass irgendetwas »von selbst geht«, also gerade ohne ihr Zutun, dass es sich von selbst in eine (und dann die gewünschte) Richtung bewegt, ist eine Hoffnung, die drei der Hauptakteure18 immer wieder bewegt, nicht selten auch narrt. Das »Selbst« ist ein (überwiegend oder ganz) individuelles Ding: eigenes Denken, Fühlen, Wollen, Tun. »Selbst« auf einen Plural bezogen bildet eigentlich einen Widerspruch in sich.19 Ein kollektives »Selbst« 17 18 19
Selbst die Selbstlosigkeit wird immer noch mit »selbst« ausgedrückt. Der Hauptmann teilt gar nicht erst diese Illusion. Wenn einmal von ferne »Waldhörner« zu hören sind und bei allen Hörern (bis jetzt sind drei beisammen) eine gemeinsame Reaktion auslösen, dann wird diese prompt wieder in drei einzelne, nur eben gleichgerichtete zerlegt: »indes jedes in sich selbst zurückkehrte« (I,3).
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würde noch Sinn machen, wenn es um gemeinsame Interessen etwa der Adligen als solcher geht – einen solchen Gruppenegoismus findet Eduard selbstkritisch bei dem Paar, das er mit Charlotte bildet, also dem zentralen Paar dieser Landadligen. Wie abwehrend sie sich zur bloßen Idee eines Besuchs von außen verhalten, das könnte, ja müsste »selbstsüchtig« genannt werden (I,2). Ein kollektives Selbst bildet sich noch aus, wenn es um kriegerische Ereignisse geht. Gerade zum und im Kriegsgeschehen aber verhält sich der Freiwillige Eduard strikt individuell. »Jeder – selbst« kann auch ausdrücken, dass es dem Sprecher (hier wieder mal Mittler) herzlich egal ist, wer für welche Lösung eintritt: »Rate sich jeder selbst und tue, was er nicht lassen kann« (I,2). Schließlich ist das »Selbst« auch noch in die »Novelle« (II,10) eingewandert, aber nur in einer Schwundstufe: als Einverständnis mit dem, was die andern so reden: »Sie war so oft Braut genannt worden, dass sie sich endlich selbst dafür hielt«. So markant, so kräftig und erfreulich dieses immer wiederkehrend gebrauchte »Selbst« ist, als Teil der Kommunikation markiert es einen Tiefpunkt, gibt einen Hinweis auf ein häufiges Fehlen oder Versagen. Jeder einzelne steht für sich, er handelt allein, und wenn es Charlotte ist, die ihre Kerze »selbst« ausbläst (I,11). Jeder denkt, spricht oder träumt nur vor sich hin. Ottilie vertieft sich in »sich selbst«, d.h. in ihr Buch (II,13). »Narziß«, der sich am liebsten um sich selbst (um seine wunderbare Gestalt) dreht, ist zwar nicht gerade Eduards Ideal, aber doch sein Bild für den Menschen als solchen (I,4). Ottilie hält etwas anderes vom Menschen und daher auch von sich selbst, aber sie verkörpert es nur, sie zeigt es vor; sie ist nicht so geschickt, es in ein Gespräch einzubringen. Charlotte etwa malt sich aus, dass ein anderer da wäre, der ihr (ihrem »Selbst«) die gleiche »Warnung« auf den Kopf zusagen würde, die sie sich für das andere Paar zurechtgedacht hat – aber da ist keiner (I,13). Sie denkt sogar »bei sich selbst« (I,12 und im Umkreis ähnliche Wendungen) – da ist das Ausweichen vom Miteinander in den Monolog mit Händen zu greifen. Dass Ottilie sich schon selbst das Versprechen gegeben hat, das Charlotte von ihr erwartet, nützt ihr nichts. Sie muss es laut vor Charlottes Ohren wiederholen (II,15). »Mitleid« ist eine durch und durch kommunikative Tugend. Wenn Ottilie Mitleid mit
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dem für dauernd erkrankten Mädchen entwickelt, ist sie ihm voll zugewandt – auch wenn es für seinen Teil diese Regung nicht (nicht mehr) beantworten kann. Merklich egoistisch klingt es deshalb, wenn Ottilie beschließt, dieses Mitleid künftig für sich selbst aufzubrauchen (II,15). Eduard hätte gern, als er ihr im Wirtshaus schreibt, eine Antwort von Ottilies wirklicher und gefasster Person: von der lebhaften, besonnenen, ihm zugewandten Partnerin, also ihrem »schönen Selbst«. Just die aber versagt sie ihm (auf dieser Stufen der Entwicklung, II,16). Der Mensch in den Kapiteln dieses Romans ist ein (zumeist) vernünftiges, selbstbewusstes, sich selbst gebietendes, aber auch selbstzentriertes und selbstzufriedenes Wesen. Einmal, im Beisein von Luciane (II,6), wird ihrer »Sozietät« als solcher ein eigenes »Selbst« angedichtet, aber gerade in dieser Form empfindet das nervenkranke Mädchen die Gesellschaft besonders unerträglich. Auch an anderen Stellen (wenigen) wird einem Plural von Menschen (durchweg »wir«) ein Selbst zuerkannt, aber es ist dann kein Selbst, das eine Kommunikation untereinander ermöglichen würde, sondern eines, das pure Gleichförmigkeit anzeigt. Charlotte glaubt, für Eduard mitzusprechen, wenn sie gleich zu Beginn (I,1) ihr Lebensideal formuliert als »uns selbst leben«. Sie ahnt nicht oder noch nicht, dass sie damit nur ihr Ideal, nicht das ihres Mannes benennt. Typisch Ottilie: »- aber mein Innres überlaßt mir selbst« (II,17, brieflich). Ottilie kann von innen heraus besonders oberflächlich oder besonders tiefsinnig (jedenfalls in der Ausdrucksweise des Erzählers) reagieren. Als sie in dem unbekannten Besucher während ihrer Performance als Madonna ihren einstigen Lehrer (den »Gehülfen«) vermutet (II,6), ruht sie nicht, bis sie wieder ihre gewohnten Kleider angezogen hat, nur so mag sie ihm entgegentreten. Vor ihrer Beerdigung hat sie sich selbst den geeigneten Schmuck – zum ersten Mal! – zurechtgelegt, also wird die Leiche mit den Kleinodien geziert daliegen, die die lebende Person dafür herausgesucht hat (II,18). Aber ihr »Selbst« ist nirgends eng, nicht auf ihre Person beschränkt, kein bisschen geizig. Als sie mit der fertigen Abschrift für Eduard auftaucht: »Endlich trat sie herein, glänzend von Liebenswürdigkeit«, da hat ihr »Gefühl, etwas für den Freund getan zu haben«, »ihr ganzes Wesen über sich selbst gehoben« (I,12). Denselben Ausdruck nimmt Eduard kurz vor ihrem Ende
Behandlung der Personen und wichtige Ereignisse
auf (II,17), als er anerkennen muss: »sie hat sich nicht von mir weg-, sie hat sich über mich weggehoben«. Das befördert zwar als solches noch nicht die Gesprächigkeit oder gar den Austausch mit den andern. Aber es verschafft ihr eine Position jenseits von Reden und Hören, und zwar oberhalb von beidem.
Die »Seele« Viel seltener20 besinnen sich die Charaktere der Wahlverwandtschaften darauf (oder erinnert sie der Erzähler daran), dass sie auch eine »Seele« haben. Charlotte macht selbst unter den »seelenlosen Wesen« im Naturreich (so hat sie sie selbst bezeichnet) »Seelenverwandte« aus. Wenn es zutrifft, dass das Wort »Seele« ursprünglich einen Hohlraum bezeichnet,21 dann wurde dieser Hohlraum allmählich (lange vor Goethes Zeit) mit der modernen Bedeutung von Gefühl, Wille und Verantwortung gefüllt. Ein wenig von der alten Vorstellung schimmert noch durch, wenn Zweifel und Sorgen »ihre [Ottilies] Seele umflüstern« (I,17). Ein wenig auch noch, wenn Eduard seine Skrupel äußert, »deine reine Seele« [wieder Ottilies] mit dem Gedanken zu »erschrecken«, dass das vor ihr liegende Kind seine auffallende außerehelichen Ähnlichkeiten einer »Entfremdung« der Ehegatten und »Entheiligung« ihres »gesetzlichen Bundes« entstammt (II,13). Ganz defätistisch konstatiert Ottilie beim Tod des alten Geistlichen: »Das Leben ihrer Seele war getötet«. Wenn sie den Schluss daraus zieht: »warum sollte der Körper noch erhalten werden?« (II,8), klingt das wie der Beginn ihrer Hungerdiät, die dann bis zu ihrem Tod führt. Die ›verkehrte Ordnung‹ ihrer Ehe malt sich in Eduards wie in Charlottes Vorstellung, aber spiegelbildlich (I,11). Sie bildet eine Versuchung für beide, macht sie aber nicht frei, sie führt eigentlich zu
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14mal im ganzen Roman, wenn man genau hinsieht (denn das »seelenkranke Mädchen«, II,6, gehört nicht hierher. Da bezeichnet das Wort nur einen medizinischen Befund). S. Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart.
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nichts, nichts außer Verwirrung und Beschämung. Eduard geht diese Verwirrung wieder und wieder durch die Seele. (Für Charlotte hat es mit dieser einmaligen Erwähnung sein Bewenden). Als er durch Charlottes Brief erfährt, dass jene verquere Liebesnacht ihnen beiden einen Nachwuchs beschert hat, steht er nicht nur betroffen, sondern geradezu »versteinert« da (I,18). Noch im »Gewühl der Schlacht« (II,12, zweimal) treten ihm »alle [seine] Verbindungen«22 an seiner Seele »vorbei«23 oder treten ihm »vor die Seele«. Der Architekt darf auch nicht vergessen werden, dem Ottilie beim Malen einen so lebhaften Eindruck (»in die Seele«) machte, dass seine Wandfresken immer mehr Ottilie glichen (II,3). Ottilies »Seele« scheint feiner organisiert zu sein. Es ist die Instanz, die ihr Rechenschaft abverlangt: in der Situation der wendungsreichen Verzeihung gegenüber dem Architekten und als vor ihr, als Madonna ›verkleidet‹, unvermutet der Gehülfe auftaucht. Er löst in ihr einen »zackigen Blitz« aus, in dem »die Reihe ihrer Freuden und Leiden« »an ihrer Seele vorbeifuhr« (wieder »vorbei«) und von ihr verlangte, sie ihm vorzulegen, wörtlich: »zu bekennen und gestehen« (II,6). Eduard respektiert die feine Organisation dieser überaus gewissenhaften, ja von Skrupeln verfolgten Seele, indem er es »deiner reinen Seele« (und damit auch sich selbst) ersparen will, sie mit dem Gedanken an den jetzt »unglücklich« genannten Vorgang bekannt zu machen, dem der vor ihnen liegende kleine Otto seine Existenz verdankt (II,13). Danach wird keine »Seele« mehr erwähnt. Gerade der Schluss, der auf Glauben und Wunder hinausläuft (wenn auch unsicheren Glauben und behauptete Wunder), kommt ohne die Instanz einer »Seele« aus – er bietet eine andere Bildlichkeit. Die Seele ist etwas strikt Individuelles und Innerliches, also ist sie kaum oder gar nicht an den Akten des Austauschs mit anderen betei-
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Es ist vorwiegend die eine Verbindung, die zu Ottilie, die aber bis jetzt nicht »Verbindung« heißen darf und nie auch im weiteren Roman zu einer solchen entwickelt wird. Seine Verbindung mit Charlotte braucht ihn nur negativ zu beschäftigen: Er möchte sie loswerden. Merkwürdiger Ausdruck: als ob seine Seele ruhig hätte zusehen können.
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ligt. Was Eduard und Charlotte in ihrem Schlafzimmer mit- und aneinander erleben, das muss strikt geheim bleiben; sie wagen es kaum sich selbst einzugestehen. Die »Beschämung« und »Reue« am anderen Morgen vor den beiden in der Wahrheit der Person gemeinten, also eigentlich ›richtigen‹, aber de facto falschen ›Partnern‹ können diese gar nicht verstehen, sie erreichen sie nicht einmal.24 Nachdem aber Eduard, besonders im Krieg, vieles mit sich selbst ›abgemacht‹ hat, überkommt ihn das Bedürfnis, wenigstens seinem Freund davon zu berichten. Eine besonders glückliche Lösung für den Kummer seiner unerwiderten Liebe findet der Architekt: Er malt die Züge der Angebeteten auf die Wände der Kapelle und ›veröffentlicht‹ sie damit, jedenfalls für die Besucher dieses Gotteshauses (II,3). Freilich wird am Schluss des Romans der Effekt dieser Veröffentlichung wieder eingezogen, weil jetzt eben diese Kapelle als Gruft zur Beerdigung benötigt wird.
Ahnung, Prognose, Hoffnung, Vorwegnahme, Ungeduld, Enttäuschung Der Sinn für offene Alternativen, das Spiel mit Prognosen mit durchweg bösem Ausgang gibt diesem Roman etwas Geheimnisvolles, passagenweise Unheimliches. Die Figuren erwarten nichts anderes als den allmählichen Fortgang der Zeit, aber nicht mal auf das, was der nächste Moment bringt, können sie sich verlassen. Das ist betrüblich bei allem, was sie Kleineres oder Größeres vorhaben. Aber es zwingt sie auch zur Tapferkeit und Abhärtung gegenüber Fehlschlägen, es nötigt sie zur Geistesgegenwart, macht sie offen für alles, was kommt, sogar zur Dankbarkeit. Denn die Zukunft bietet immer noch eine andere Lösung, als die Personen selbst in ihrer Hingabe an allerlei Projekte hatten kommen sehen. Die Zukunft ist gerade dadurch ›offene‹ Zukunft, dass sie sich den Lenkungsbemühungen der Menschen entzieht.
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»Gleichsam« setzt der Erzähler hinzu.
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Die Wörter »hoffen« und »Hoffnung«, etwa doppelt so oft im II. wie im I. Teil,25 stellen nur selten eine erfreuliche Zukunft in Aussicht. Wenn sie einen subjektiven Aufschwung auslösen, erweist er sich früher oder später als trügerisch.26 Immerhin: Hoffnung ist unausrottbar, auch wenn sie die Menschen zum Narren hält. »Die Hoffnung, ein altes Glück wieder herzustellen, flammt immer einmal wieder in dem Menschen auf« (II,15). Hier ist es einmal Charlotte, die ohne einen Funken Zukunftserwartung doch nicht leben kann. Und hier gibt ihr der Erzähler – wenigstens einmal – vollkommen recht: Sie war »zu solchen Hoffnungen abermals berechtigt, ja genötigt« (II,15). Bei der nächsten Besinnungspause aber (II,17) wird diese Hoffnung als »Wahn« abgetan, nur immerhin ein »verzeihlicher« Wahn. So sehr sich Charlotte gegen Anwandlungen von Aberglauben sträubt, nach dem Tod ihres Kindes muss sie doch einfach zugeben: »Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt. Vergebens, dass Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen; es soll etwas geschehen, was ihm [dem Schicksal] recht ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns gebärden wie wir wollen« (II,14). »Große Leidenschaften«, schreibt Ottilie in ihr »Tagebuch«, »sind Krankheiten ohne Hoffnung. Was sie heilen könnte, macht sie erst recht gefährlich« (II,4). Ein paar Wochen später notiert sie: »Wir sind nie entfernter von unsern Wünschen, als wenn wir uns einbilden das Gewünschte zu besitzen« (II,5). Diese Ausdünnung des Wunsches trifft doppelt zu: Der gewünschte Gegenstand verändert sich, wenn er Teil unseres ›Besitzes‹ wird, und die innere Anspannung des Wünschens lässt nach, wenn wir das, was wir einmal gewünscht und mit Hoffnungen besetzt haben, in Händen halten.
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Genauer: Teil I: 23mal, Teil II: 56mal. 13mal führt die Hoffnung zum Gegenteil des Erhofften, in die Enttäuschung, viermal zu Skrupeln und Unsicherheit, sechsmal beruht sie auf Missverständnissen oder Illusionen – eine große Gelegenheit, die Ironie der Schreibweise funkeln zu lassen –, achtmal geht sie nicht in Erfüllung, sechsmal wird »Hoffnung« direkt mit »Wahn« gleichgesetzt.
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Die verschiedenen Hoffnungen, die die Protagonisten unseres Romans hegen, erlauben es uns, ein Stück weit in ihr Inneres hineinzublicken. Als Erster, als Anführer der kleinen Crew steht da der Gutsherr Eduard mit seinen leichtfertigen, immer selbstgewissen Erwartungen, die alle nicht in Erfüllung gehen. Er wirkt dadurch optimistisch, draufgängerisch, Zustimmung heischend und verhält sich den anderen gegenüber durchweg offen.27 Er macht aber auch die größte Karriere der lange gehätschelten und dann Stück für Stück zerbrochenen Hoffnungen durch. An ihm wird der Vorgang der Ent-täuschung mit einer geradezu methodisch peinigenden Obsession durchexerziert. Manchmal (selten) verzichten die Protagonisten dieser Wahlverwandtschaft darauf, selber mit Voraussagen oder Spekulationen in die Zukunft vorzugreifen. So Eduard in dem Streitgespräch mit seiner Frau direkt vor seiner Abreise (I,16). Seine Einstellung zur verrinnenden Zeit wirkt geradezu tautologisch: »Wenn man gerade nicht sagen kann, was aus einer Sache werden soll«, dann muss man sich eben entscheiden, »abzuwarten, was uns die Zukunft lehren wird«.28 Doch in glücklichen Situationen und Entwicklungen kann der Ausblick in die Zukunft so verlockend sein, dass der eine oder die andere sich nicht enthalten kann, das gegenwärtige Ereignis bis in die Zukunft zu verlängern. Was der Hauptmann am See, bei der Rettung des fast ertrunkenen Jungen geleistet hat, findet Charlotte schlechterdings »wunderbar«. Natürlich wird er nicht immer Kinder aus dem Wasser zu ziehen finden, aber übertragen auf andere Vorfälle »scheint« ihr die Haltung, die der Hauptmann damit bewiesen hat, »eine bedeutende Zukunft«, und »keine unglückliche«, zu »weissagen« (I,15).29 Es ist ihr 27 28
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Dass er Mittler gegenüber deutlichere Worte findet als im Gespräch mit seiner Frau, ist ein kleiner Seitenhieb des Autors gegen die zwiespältige Figur Eduard. Charlotte sieht das viel resoluter. Sie findet »keine große Weisheit« nötig, um hier »vorauszusehen«. Unser moralischer Sinn sollte uns leiten, und was er uns sagt, müssen wir selbst herausfinden. »– wir müssen unsre eigenen Freunde sein, unsre eigenen Hausmeister«. Die letzten drei Kapitel des Romans bleiben dagegen ohne Aussichten in die Zukunft oder Anspielungen auf sie: Das ›Drama‹ hat nun begonnen und nimmt mit voller Wucht seinen Lauf.
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Pech oder das der ganzen kleinen Gruppe, dass er bald nach dieser Tat verschwindet (und nach seiner Rückkehr greift er nur noch sporadisch, nur als Berater, fast als Schiedsrichter ein). Als Eduard nach seinem Feldzug und langer Abwesenheit endlich wieder nach Hause kommt, als Erste auch noch Ottilie antrifft, glauben die beiden ihr gemeinsames Glück besiegelt, ja sehen es selbst im Leuchten der Sterne bekräftigt. Dabei narrt sie aber der Sternenhimmel mit einer leuchtenden Sternschnuppe: Sie flammt nur kurz auf und scheint damit Glück zu verheißen – in nicht wenigen Kulturen werden Sternschnuppen als Glücksbringer betrachtet. In Goethes Text aber steht: Der Stern fällt »vom Himmel«, so als bliebe sein Platz da oben in alle Zukunft leer. Benjamin insistiert außerdem darauf, dass die beiden den Lichtschein am Himmel gar nicht wahrnehmen. Die Illusion des Glücks ist eine Sache von Sekunden. Für Ottilie dauert das so verheißungsvolle Glück nur noch wenige Minuten, dann erreicht sie den Tiefpunkt ihrer Existenz unter ihren so unruhig-glücklichen Gefährten. Eduards Frau Charlotte denkt strenger über die Zukunft, hält abweichenden Wünschen (eigenen wie denen der andern) Sitte und Gesetz entgegen. Sie sträubt sich aber gegen jede Verhärmtheit, jeden Rückzug auf sich selbst. Sie lebt ganz in der Gegenwart und für die Gegenwart.30 »Lebendig und tätig« will sie auch noch die Verhältnisse von Überbliebenen zu ihren Toten erhalten; genauso lebendig und tätig sucht sie ihren Alltag in ihrem Schloss zu gestalten, sei es im Kreis der vier oder allein mit Ottilie.31 Der gute Freund, der Hauptmann, freut sich an allem, was er erst auf dem Gut, dann bei Hofe findet. Was er von Charlotte hoffen dürfe, fragt er erst zu spät und ein wenig zu zaghaft. Zwischen »nicht unglücklich« und »nicht glücklich«, so die Antwort Charlottes, bleibt sein Herzensanliegen bis zum Schluss unbeant-
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S.o. unter Charlotte. Nur als sie sich selbst »guter Hoffnung« fühlt (und bald darauf auch weiß), teilt sie den Wunsch aller Mütter nach einem gesunden Baby. Was auch zum Besten gelingt, nur dass dieses Kind durch einen gravierenden Fehler seiner Wartung, noch ehe es ein halbes Jahr geworden ist, stirbt (die Verursachung und der Ablauf dieses Fehlers werden eindringlich dargestellt, s. o.).
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wortet, unentschieden. Er wirkt nicht so, als ob er sich das groß zu Herzen nähme. Eduard kann von der Hoffnung nicht lassen. Selbst als Ottilie beerdigt ist (II,18), hofft er noch, mit dem Blick auf ›sein‹ Glas, auf eine »Vereinigung« – das kann jetzt nur noch eine Vereinigung im Tod sein, die er doch gerade der Sterbenden gegenüber ausgeschlossen hat. Ein »hoffnungsloser Zustand« ist das, worauf für ihn alles hinausläuft. Seine Frau, der eigens herbeigerufene »Freund« und jetzt noch der »Hausfreund«, der Arzt, bemühen sich vergebens um ihn. »Endlich«, heißt es – sollen wir aufatmen? – »Endlich fand man ihn tot«. Das unruhige, liebevolle, sich selbst einlullende, allen andern zusetzende Herz hat aufgehört zu schlagen. Und für nichts als seine Hoffnung auf sein nie erreichtes Glück mit der zarten jungen Frau (wofür denn auch sonst?) wird dieser Mensch am Ende »selig« gesprochen. Dem Autor liegt nichts daran, durch die eingestreuten Prognosen den Gang der Handlung zu beschleunigen oder zu verzögern. Er weiß nur schon im Voraus, was aus der Liebesgeschichte und was aus Ottilies Entsagung werden soll. Der vorausschauende Autor ist zugleich ein hinter-hältiger Erzähler: Er verfügt (natürlich, und immer wieder zum Staunen) über das Geschick der von ihm erfundenen Figuren. Der hier spricht, ist der reife, erfahrene, in den Künsten des Erzählens beschlagene Goethe, und hier hat er diese Künste, mit funkelnder Ironie, auf einen Höhepunkt getrieben. Benjamin treibt das Thema »Hoffnung« bis zu dem ebenso bitteren wie verheißungsvollen Schluss: »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben«.32 »Denn erstens kommt es anders / und zweitens als man denkt«. Dieser uralte Kalauer33 ist weniger banal, als man im ersten Moment denken mag. Die Verfehlung aller möglichen Erwartungen ist so markant, so überraschend, dass sie sich zu einem eigenen Ereignis auswächst (sogar »erstens«). Das »Denken« stellt sich erst danach ein. Die unterschiedlichen Modalitäten, eine Erwartung scheitern zu lassen und 32 33
In: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften Bd. I,1, S. 201, Schlusssatz seines langen Essays über die Wahlverwandtschaften. Er stammt in dieser Form von Wilhelm Busch.
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ein Versagen zu bereuen, müssen so sorgfältig, wie diesem intrikaten Roman angemessen ist, auseinandergehalten werden. Goethes Wahlverwandtschaften sind voll von Ereignissen, die anders ausgehen als der Akteur selbst oder seine Mitspieler »gedacht«: erwartet, gehofft oder (selten) befürchtet hätten. Ein Roman der unausgesetzten Enttäuschung, das wäre nicht zuviel gesagt. Eine kleine, aber groß ausgespielte Szene (I,15) zeigt bereits, wie diese Umkehrung einer Erwartung läuft: Eduard will Ottilie zu ihrem Geburtstag ›groß herausbringen‹. Charlotte ist dagegen (wie auch der Hauptmann), also verzögert sie die Ankunft ihrer Pflegetochter auf dem Bau- und Festplatz. Sie macht dadurch aber ›die Sache nicht besser‹, vielmehr schlimmer (in ihrem Sinne): Jetzt sind alle anderen schon oben, Ottilie erscheint als Letzte, so bekommt ihr Auftritt den Charakter, »als wenn Trompeten und Pauken nur auf sie gewartet hätten«.34 Was die vier hier für ein gutes Jahr zusammengebrachten Teilnehmer ihrer »kleinen Runde« einander zu sagen, z.T. auch wortlos (Ottilie) dem andern (Eduard) zu verstehen geben, das kann evtl. eine Weile halten, aber nichts davon hält auf Dauer. Ob sie die Enttäuschung in irgendeiner Weise verarbeiten, ob sie ihnen weiterhin zusetzt, ihrem Handeln oder ihrem Reden (also auch ihrem Denken), das bleibt zu untersuchen. »Nimm Ottilien, laß mir den Hauptmann, und in Gottes Namen sei der Versuch gemacht!« (I,4, s.o.). Das war die couragierte Aufforderung Eduards an seine Frau, bevor sie noch den ›Versuch‹ mit den beiden Dauergästen gestartet hatten. Beide können nicht ahnen, in welche Turbulenzen diese harmlose Einladung sie, ihre Ehe, ja schließlich ihr Leben bringen würde.35 Sehr konträr zu dem, was die Beteiligten ›eigentlich‹ wünschen, verläuft die Liebesbegegnung zwischen Eduard und Charlotte, als gerade das ›ehebrecherische Paar‹ Graf und Baronesse bei ihnen zu Besuch
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Dass Charlotte gleichzeitig mit Ottilie als Letzte erscheint, zählt nicht: Sie hat ihren Geburtstag ja schon gehabt. Charlotte hat immerhin ein ungutes Gefühl, aber sie unterdrückt es ihrem Ehemann zuliebe.
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weilt (I,11, s.o.). Eduard möchte gar nicht zu seiner Frau, und auch Charlotte rechnet bei seinem Klopfen mit einem anderen (der doch unmöglich in ihr Schlafgemach eindringen kann!). Eduard fühlt »unwiderstehliches Verlangen« nach Ottilies Nähe; nur durch eine »sonderbare Verwechslung« klopft er an der falschen Tür. Noch als er Charlotte in den Armen hält, ist es für ihn Ottilie, die er umarmt. Charlotte ihrerseits denkt – mehr aus textueller Symmetrie als aus irgendeiner psychologischen Wahrscheinlichkeit – im gleichen Augenblick an ›ihren‹ Hauptmann. Vom »doppelten Ehbruch« bis zum »Verbrechen« reichen danach die Verurteilungen dessen, was zwischen den beiden vorgegangen ist. Wieland spricht geradezu von einem »schauerlichen Werk« – obgleich er bekennen muss, dass er es »nicht ohne warmen Anteil« gelesen habe.36 Da eine Begegnung dieser Art extraordinär ist, wird auch das dort gezeugte Kind ein Ausnahmewesen, bis in die Gesichtsbildung und die Augenfarbe gezeichnet von den beiden abwesenden Geliebten. Mittler sucht es, bevor es noch geboren ist, als Instrument einzusetzen, um die Ehepartner wieder zusammenzuführen. Charlotte wartet ebenfalls darauf, dass Eduard sich als »glücklicher Vater« begreift und zurückkehrt (II,8). Eduard aber hat einen Widerwillen gegen das damals gezeugte Kind davongetragen. Noch als er den »Knaben«37 einmal, zum einzigen Mal, zu sehen bekommt (II,13), als der »so verständig« in die Welt blickt und ihn verständnisvoll ansieht, sagt er sich los von ihm wie von Charlotte. Ob die Existenz dieses Kindes irgendeinen Schritt auf seine Ehefrau zu bewirkt hätte, bleibt zu bezweifeln. Die Probe auf dieses Ansinnen bleibt aus, da der Kleine bald darauf (noch am gleichen Abend) ertrinkt. Was Eduard sich einmal in den Kopf gesetzt hat, das führt er auch aus, umso lieber und hartnäckiger, wenn es auf etwas Erfreuliches hin-
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Wieland an eine nicht mehr zu identifizierende Dame seiner Bekanntschaft, nach dem September 1809. »Knabe« galt zur Zeit der Klassik und noch danach für jedes Kind männlichen Geschlechts, gleich welchen Alters.
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auslaufen soll.38 Wenn er zur Feier von Ottilies Geburtstag ein Feuerwerk vorbereitet hat, dann muss das abgebrannt werden, was auch immer inzwischen mit den Leuten am Teich passiert ist. Der vermeintlich ertrunkene Knabe war eben nur scheintot, und der wackere Hauptmann mag sich nur wieder abtrocknen (I,15, s.o.). Ihm geht es einzig um die Lustbarkeit, die er mit Ottilie, zunächst noch im Kreis der Feiertagsgäste, am Schluss nur noch mit ihr allein, genießen will. Die Vorausdeutung auf das definitive Unglück, in dem sein Sohn und Erbe sein Leben verlieren wird (II,13), ist hier mit Händen zu greifen.39 Ottilies Tod, gestaltet wie ein aufregendes Drama, macht alles zunichte, was Eduard von ihr erhofft und was die ›besonnenen‹ Zuschauer Charlotte und der Hauptmann erwartet haben (II,18). Sie hatte Hoffnungen ausgestreut, hatte anfangs womöglich auch selbst gehofft, und alles endet in einem Sarg mit Glasdeckel. Eine stille Erwartung bleibt noch offen: Auferstehung, und zwar »zusammen«, und dann Reden »mit anderen Sprachen« (so Eduard). Nach der dichten Folge von Enttäuschungen ergibt sich daraus aber keine positive Prognose, dass just diese weit gespannte Hoffnung je in Erfüllung gehen werde. An »Zeichen« zu glauben, Vorgänge der Natur und des gesellschaftlichen Miteinander mit verheißungsvollen oder fatalen »Ahnungen« zu beladen, gilt als ein Missbrauch der Vorfreude wie der Sorge. Eduard ist es vor allem, der zu dieser Untugend neigt. Am Schluss scheint er ihr ganz zu erliegen. Auf einem sehr anderen Blatt steht das, was der Autor mit seinem Roman veranstaltet, was er seinen Erzähler ausführen lässt. Vom ersten Kapitel an unterfüttert er die Handlung mit Vorausdeutungen, die eine verlässliche Fortsetzung der (derzeitigen) Hauptbeschäftigung der zunächst beiden Schlossbewohner versprechen – und lässt sie zusammenstoßen mit Zeichen der Warnung. Aus dem Experiment,
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»Ich hatte beschlossen, mich zu freuen …«, schreibt ca. 30 Jahre später Georg Büchner dem steifen König Peter zur Vorbereitung des happy ends auf: Leonce und Lena, III,3. Adamzik (S. 162) geht so weit, dass sie schon in Eduards Verwünschung der »unseligen Stunde« seiner Zeugung einen ersten Tötungsakt an diesem nicht gewollten Erben sieht.
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dass die beiden noch einen Dritten, schließlich noch eine Vierte hinzuziehn, entsteht eine Gefahr, die schließlich ihr Miteinander an den Rand schiebt und nur noch als Fessel empfinden lässt. Mittler hat Recht, dass in derlei Situationen nichts übrigbleibt als Entscheidung nach Gutdünken, von »Blindekuh« hat er gesprochen (I,2). Wenn die Entscheidung aber wirklich »übel abgelaufen« ist, kann weder er noch irgendein anderer dagegen etwas ausrichten. Wie die »gelegentliche Zugesellung eines dritten« (die Vierte steht hier, I,4, noch aus) auf eine »innige unauflöslich scheinende Verbindung zweier Wesen« wirken könnte, ist vor allem die Sorge Charlottes. In der Beratung mit Eduard, ehe dieser Dritte eintrifft, wie auch bald darauf im gedanklichen Durchspielen des chemischen Experiments mit den beiden Männern40 äußert sie ihre Besorgnis, und immer klingt darin zugleich eine Warnung des Erzählers an: Eben das wird sich gerade so ergeben, freilich auf einem ganz anderen Terrain. Inkonsequent wirkt es deshalb, wenn sie eine ganze Weile (ebenso wie der Hauptmann, von I,6 bis I,12) dem Treiben der beiden andern einfach zusieht: »stillschweigend«, mit einer Empfindung wie für »kindische Handlungen« (I,6). Es bleibt aber nicht bei der ruhigen Duldung. In einer grundsätzlichen Aussprache (I,16) sucht sie zu eruieren, wie weit Eduard bereit sein könnte, wieder »völlig in den alten Zustand zurückzukehren«. Er ist keineswegs bereit, das hört sie aus allen seinen Ausflüchten heraus. Er ist es so wenig, dass er lieber ihr Schloss verlässt, in dem ihm dermaßen unziemlich (wie er findet) zugesetzt wird. In Ottilie »hofft« Charlotte anfangs (I,6) eine zuverlässige Freundin zu finden – zunehmend merkt sie, dass Ottilie an ihr eigenes Los denkt und für sie nichts als die gebührende Höflichkeit übrig hat.41 Am Hauptmann beobachtet sie mit Bewunderung einen »aufopfernden« Einsatz.42 »Diese wunderbaren Ereignisse schienen ihr eine bedeutende Zukunft, aber keine 40
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Das ausgeführte Experiment, das der Hauptmann verspricht, findet irgendwann später statt oder entfällt ganz. Es ist weniger interessant als das Durchspielen in Worten, seitdem die Umsetzung in menschlich-soziale Verhältnisse begonnen hat. Einmal auch (II,15): tief gegründeten Respekt vor der Älteren und Erfahreneren. Das gilt dem Knaben, der fast ertrunken wäre (I,15).
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unglückliche zu weissagen«. Das geht nur zum Teil in Erfüllung, und vorsichtshalber flicht der Erzähler sein zurückhaltendes »Schien« ein. Er scheint der Prognose, zumal von einer so parteiischen Position aus, nicht recht zu trauen. Gegen Ende, wenn der Leser schon mehr als ahnt, dass es »zu bösen Häusern hinausgehn muß«,43 werden die Verheißungen eines guten Endes geradezu tautologisch gehäuft. Charlotte freut sich (»stündlich«!) an der »viel versprechenden Gestalt« ihres Sohns (II,10) – was aber nützt ihm und ihr diese verheißungsvolle Würdigung, wenn er wenige Wochen darauf ertrunken ist? Höchst zweideutig ist, dass sie zusammen mit Ottilie das Kind auf einen Tisch in ihrer Mooshütte platziert und der Erzähler anklingen lässt: »als [= wie] auf einen häuslichen Altar« (II,10) – das haben schon manche Interpreten als fatal verheißungsvoll gewürdigt. Wem soll das unschuldige junge Wesen zum Opfer gebracht werden? Auf dem weiteren Weg in die Höhe zum jetzt fertigen »neuen Gebäude« knüpft Charlotte daran, still für sich, lauter »Betrachtungen«, wie diverse Unglücksfälle (die sie nicht leiden kann und dennoch zugestehen muss) zu lauter erfreulichen Folgen führen. Sie resümiert: »Das Schicksal gewährt uns unsere Wünsche, aber auf seine Weise, um uns etwas über unsere Wünsche geben zu können«. Das Schicksal springt aber noch ganz anders mit den bedürftigen und wünschenden Menschen um: so, dass sie am Ausgang nichts von dem wiedererkennen, was sie sich mit ihren Illusionen im Kopf versprochen haben. Diese Hoffnungen wie auch die selteneren Befürchtungen richten sich durchweg auf die Handlungszusammenhänge des Romans. Sie verleihen dem Gang des Geschehens (in feierlicher Zuspitzung auch: »des Schicksals«) eine verlockende oder täuschende bis tückische, jedenfalls tief ironische Betonung und Wertung. Sie zeigen die handelnden Personen tief involviert in den Gang der Ereignisse (das versteht sich von selbst) und in das Auf und Ab ihres Miteinanderlebens: Wie kommen sie miteinander aus als Hoffende, Sich-Täuschende,
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So Goethes Ausdruck (im Hause Frommann Anfang 1810, zitiert nach: H. A. Bd. 6, S. 623). Er denkt an die verpönte und gerade deshalb attraktive Astrologie.
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Enttäuschte? Viele der Gespräche, vor allem der Zwiegespräche, bekommen ihre Dringlichkeit wie ihre Aufrichtigkeit (oder ihre verdeckten ›Hintergedanken‹) erst durch den Schimmer der Verheißung / die Lockungen des Unerwarteten, Ungewollten, Fatalen. Gerade das Zusammenspiel von Handlung und Dialog wird durch die subjektiven Regungen der Erwartung / Befürchtung / Enttäuschung so deutlich unterstrichen wie nur möglich (und oft ist das nötig). Eduard legt sich mächtig ins Zeug (obzwar »mit einigem Zaudern«), um Ottilie das Medaillon mit dem Bild ihres Vaters abzuschmeicheln, das sie auf der Brust trägt (I,7). Er sucht ihre Furcht zu erregen, der harte Gegenstand könnte ihr physisch einen Schaden zufügen. Was er nicht sagt: Er will den Gedanken an ihren Vater aus ihrem Herzen verdrängen, sich selbst an dessen Stelle setzen. Sie gibt es her, »ohne Zaudern« (doch auch »ohne Übereilung«) und dankt ihm für seine »freundliche Sorgfalt«. Seine Reaktion verrät, dass (für ihn) mehr auf dem Spiel stand als ihre physische Unversehrtheit: »Ihm war, als wenn ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre, als wenn sich eine Scheidewand zwischen ihm und Ottilien niedergelegt hätte«. In ähnlicher, weit variierter Weise treiben Hoffnungen und Befürchtungen die Handlung, auch die Redebereitschaft, die Zuspitzung im Gespräch und die Bereitschaft zuzuhören, womöglich auch noch etwas anderes herauszuhören, als der gerade Sprechende betont.
Rätsel, Paradoxa, Widersprüche in sich selbst Der Autor ist eine wichtige Person: er schafft das, was dann schwarz auf Weiß dasteht. Was die Sänger von alten Epen und was die modernen Romanschreiber mit ihrem Wort hinstellen, das ist so und nicht anders. Was von jeher war, wird bestätigt, was sich daraus ergeben hat, das soll so sein, und auch was sie gerade erst erfunden haben, wird kraft ihres Wortes in die Wirklichkeit gerufen und lässt sich durch keine Kraft der Phantasie (oder der Anti-Phantasie) aus ihr wieder tilgen. Außer wenn der Autor es anders haben wollte oder wenn er es als ein So-oder-auchanders präsentiert. Das passiert, nein, das wird veranstaltet, wo im-
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mer sich zwischen der Bekundung der einen Person und dem, was die andere oder die anderen sich wünschen, eine Differenz auftut. Gleich im zweiten Kapitel sieht sich Eduard einem solchen Paradox ausgeliefert: »– unruhig wie er war, sollte er einen ruhigen Brief schreiben« – er findet es »unmöglich«. Tiefsinnige Erwägungen könnte, soll wohl auch Charlottes leicht dahingesagter Rat auslösen, besser als nicht zu schreiben sei es, »nichts zu schreiben« (I,2). Voller Selbstwidersprüche ist der nächtliche Besuch Eduards bei seiner Frau, die er in der Phantasie ständig lustvoll mit seiner Geliebten verwechselt (I,11). Von beiden Seiten aus sind die Ehepartner unfrei, verloren in Gedanken an den jeweils fehlenden Partner. Eduard »verwickelt den rätselhaften Besuch in rätselhafte Erklärungen«, z.B.: Er sei da, um ihren Schuh zu küssen. Charlotte stellt fest, dass er das schon lange nicht mehr getan habe, worauf er entgegnet: »desto schlimmer«, »und desto besser«. »Desto schlimmer« dürfte die Pflichtversäumnis des Ehemanns markieren, und »desto besser«? Vielleicht einen Ruck, den er sich gibt: Wenn schon lange nicht mehr, dann jetzt umso kräftiger, galanter, herzlicher als seit je. Als sie sich schließlich in den Armen halten, »behauptet die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche«: Jeder denkt eben an den anderen, den ›falschen‹ Partner. Aber nach einem Satz der Erklärung kommt das Dementi, das den Realitätsbezug wieder herstellt (erst draußen in ihrer Umwelt, doch schließlich auch in ihnen). Eduard ist so verstört, als wäre seine Anwesenheit in diesem Bett »ein Verbrechen« (wörtlich); er »schleicht sich« davon. Am Gehülfen, der aus der »Pension«, der ›Pädagogischen Provinz‹ dieses Romans, gekommen ist und vor allem Ottilies wegen so lange bleibt, erlebt Charlotte einige Überraschungen, vor allem an seinen weitreichenden Aussprüchen. Frauen als solche, alle Frauen, sagt er, stünden ihr Lebtag allein und müssten allein handeln (II,7). Charlotte findet das »paradox«; sie hat nicht den Eindruck, irgendwann und -wo allein zu sein. Nach der Erklärung des Gehülfen muss sie es immerhin gelten lassen und zieht für sich eine Summe aus der wechselseitigen Vertauschung von Absonderlichkeit und »Wahrheit« (s.u.). Es ist erstaunlich, mit welcher Bereitwilligkeit sie die Gewissheit des Sprechens, die außer-ordentliche, Erstaunen erregende Sicherheit als
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bestimmend für die Realität des Gesagten, der Verallgemeinerung, des Glaubens nimmt. Aber solange sie sich im Meinungsaustausch, sei es auch in einem Rede›gefecht‹, mit dem scharfen Beobachter (hier des Umgangs beider Geschlechter miteinander) befindet, sieht sie guten Grund, eben so zu verfahren. Als wirklich wahr kann sie das nicht annehmen, was dieser Gast ihr in seiner sonderbaren Wendung beizubringen sucht. Gleich im nächsten Satz konzipiert sie einen Wettstreit der Frauen mit »den Männern«, bei dem jene denn doch zusammenhalten und diese sich »auch nicht sonderlich vertragen«. In der Fremde, fern von seinem Schloss und vor allem von der gewohnten Gesellschaft, muss Eduard sich mit Mittler herumraufen (I,18). Er will in ihm zunächst den Abgesandten seiner Lieben sehen, aber zu seiner Enttäuschung vertritt Mittler nur seinen eigenen Kopf. Er legt ihm (nur vertretungsweise ihm) ein offenherziges Geständnis seines inneren Zustands ab (wieder geht es um Ottilie), aber er scheint wenig Respons bei ihm zu finden. Daher die schwankende Einstellung zu sich selbst: »Lächeln Sie nicht« und gleich nachgeschoben: »lächeln Sie auch«. Selbst wenn sein Zuhörer Mittler, der unermüdliche Ratgeber der Familie (der sich aber von Anfang an weigert, einen Rat zu geben), ein solches »Geständnis« unter die Torheiten der Welt, speziell der Adelswelt, verbucht, kann das ihn, Eduard, nicht vom Verfolg seiner unerschöpflichen Leidenschaft abbringen. Hinter der höflichen Wortwahl ist das ein recht brüsker Umgang mit diesem häufigsten Gast, aber das macht ihm nichts aus: Er bleibt bei seinem Lebensprojekt und lässt sich darin vom Mienenspiel dieses widerwilligen ›Vertrauten‹ nicht beirren. Als Kenner der Sitten, der Reisebedingungen, und da er seiner Frau obendrein verboten hat, Ottilie »wegzuschicken«, weiß er natürlich, dass das, was er sich wünscht, unerhört wäre; es kann gar nicht vorkommen. Er will aber nicht auf sich hören, will dieses sein eigenes Bescheidwissen nicht gelten lassen. Wie im Märchen soll sich die Tür auftun und die Ersehnte eintreten. Es würde ihm entgegenkommen, es wäre auch ihr (wie er sie sich zurechtdenkt) nur angemessen, wenn sie plötzlich dastünde. Lieber soll die Logik, und die Sprache gleich mit, in Stücke brechen als dass er weiterhin sie, die so innig Geliebte, entbehrt. Selbst mit dem Traumbild von ihr – »ihr
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Geist«, »eine Ahnung von ihr« – wäre er eher zufrieden als mit der brutalen Wirklichkeit einer Existenz ohne Ottilie. Was er sich ausmalt, sind »wonnevolle Gaukeleien der Phantasie«. Sie erscheint ihm im Traum und »quält« ihn, vor allem indem sie die Züge einer anderen annimmt.44 Nicht er ist es, der sich eine andere ausdenkt, sondern sie nimmt in seiner Traumvision eine andere Gestalt, eine andere Identität an. Zwischen dem einsamen Ich und dem ebenso beglückenden wie quälenden Miteinander vollzieht sich ein so reges Hin und Her, dass man sich fragen muss, wie der Baron überhaupt zum Schlafen kommt. Nachdem Eduard Ottilie einmal wiedergesehen hat (mit allem Glücksempfinden seinerseits und mit leisen Warnungen durch den Erzähler, II,13, s.o.), als er aber weiterhin zögert, in sein Schloss zurückzukehren (II,16), befindet er sich in seinem gewöhnlichen (vielleicht sogar seinem Lieblings-)Zustand, dass seine Verstandeskräfte von seinem Willen überspült werden. In dieser fahrlässigen mentalen Situation erfährt er (wieder von Mittler), dass Ottilie nun doch das Schloss verlassen soll (verbannt, vertrieben denkt er gleich) und welchen Weg sie nehmen wird. Was folgt, ist klar: »– er dachte, er überlegte« – offenbar wie er sie abfangen könnte. Nein, schreibt der besonnene Erzähler: »er dachte, er überlegte nicht; er wünschte, er wollte nur«. Seine Wünsche gehen mit ihm durch wie wild gewordene Pferde. Auf der Strecke bleibt das Selberdenken, dasjenige Vermögen, in das von Descartes, ja schon von der Antike an bis zu Kant (und weit über Kant hinaus) das eigentliche Kennzeichen des Menschen gesetzt wurde. Er verschwendet keinen Gedanken darauf, wie ein solcher Überfall auf die geliebte Ottilie wirken musste, von der er schon vorher erfahren hat, dass sie schreckhaft ist und sich dann leicht in sich selbst zurückzieht. Er hat eben nicht gedacht, nicht überlegt, er hat sich die Außenwelt zurechtgelegt, wie er sie gern hätte. »Er widerstand nicht,
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Hier liegt noch mal eine spürbare Reminiszenz an Silvie (von Ziegesar) zugrunde. In seinem Brief vom 12. 11. 1808 berichtet Goethe von einem Traum, in dem ihm das vertraute liebe »längliche« Gesicht »anmuthig« zugewendet war, während von dem »rundlichen« [scil. dem der Pauline (Gotter)] nichts zu spüren gewesen sei.
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er mußte«. Entsprechend kläglich geht dann die Begegnung aus, ja sie führt zum eigentlichen Tiefpunkt der Liebesgeschichte. Wozu schreibt aber dann der Autor zunächst, Eduard habe gedacht und überlegt? Immerhin schafft es Eduard, sich die Details zusammenzusetzen, die er in Erfahrung gebracht hat. Er malt sich aus: Ottilie allein, auf dem Weg, den er kennt, in dem Wirtshaus, in dem er schon öfters abgestiegen ist – diese malerische »Einbildungskraft« (das Wort fällt wörtlich) dient ihm anstelle von kühlen Gedanken. Er hat gedacht und nicht gedacht: Dieser Widerspruch, die offene Unordnung in seinem Geist ist wichtiger zum Verständnis des inzwischen gar nicht mehr heldischen ›Helden‹ des Romans, als eine ordentliche Verbuchung seiner mentalen Aktionen es sein könnte. Er sieht sich paradoxen Situationen wie auch dem Spuk der sich verselbständigenden Sprache ungeschützt ausgesetzt. Das Hin und Her frisst sich selbst in seine Denkakte ein. Im Feld z.B. hat er den Tod gesucht, aber »als einer, der zu leben hofft« (II,12, s.o.). Als er soeben seine geliebte Ottilie verloren hat und als handelnde Figur schon sehr angeschlagen ist (II,18), tröstet er sich wenigstens mit dem Glas, in dem die Initialen E und O kunstvoll verschlungen sind. Die letzte »Erquickung« »schlürft« er aus dem Glas – »Erquickung« dürfte sich hier kaum auf den Trank beziehen, den er daraus »schlürft«, vielmehr auf den Trost, den er so nötig hat. Sein »ernstheiterer Blick«45 ruht auf dem kunstvollen Spiel der ineinander verschlungenen Buchstaben: Hier können wir uns aussuchen, worauf der »Ernst« zielt, ein paar Tage nach Ottilies Begräbnis, und was daran ihn trotzdem »heiter« machen könnte – worüber denn? Ist es sein unbändig sanguinisches Temperament46 ? Ist es die Gewissheit, dass Ottilie auch im Grab noch »sein« ist, in welchem Sinne auch immer? Wenn ihm die Geliebte weggestorben ist, hält er sich doch noch an sie in ihrer »présence absente«? Die eine wie die andere Seite dieses Oxymorons lässt sich erklären.
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Goethe scheut sich nicht vor Neologismen, um eine Besonderheit, z.T. auch für ihn eine Überraschung, auszudrücken. S. abermals die Rezension in der Evangelischen Kirchenzeitung von 1831 (vgl. S. 26, Anm. 6).
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Ihre widersprüchliche Verbindung aber verlangt eine eigene Ausdeutung. Diese Verbindung erzeugt Reibung, sie markiert eine Bewegung des Hin und Zurück, ja produziert eine Bewegung auf der Stelle, eine Ruhigstellung, in der die eine Seite auf die andere ausgreift und sie sich zu eigen machen will. Emotionen, die nach beiden Seiten zugleich ausschlagen, bringen in die Welt des Gemütslebens einen Wirbel von Zuschreibungen und Absagen. Noch bei seiner eigenen Einschätzung dessen, was er mit diesem Roman geleistet hat, greift Goethe zu einem doppelten Oxymoron: »eine tief leidenschaftliche Wunde, die im Heilen sich zu schließen scheut«, und »ein Herz, das zu genesen fürchtet«.47 »Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir Pein; und doch, um dieser Seligkeit willen, bin ich genötigt diese Pein zu übernehmen« (II,18). Hier bleibt die Beseligung (durch Ottilie) von der Peinigung (durch ihn selbst) zunächst getrennt, doch aus dem Gegenüber gewinnt die Zusammenstellung erst ihren Stachel. Es ist die gleiche Einstellung zum Leben, die zunächst sein höchstes Glück, dann immer noch Glück, aber auf dem Grund tiefer Schmerzen gebracht hat. An dieser Stelle kann sich beides nur auf das konsequente Hungern, ein Hungern bis zum Tod beziehen. Es sagt viel, dass Eduard einen zerstörerischen Umgang mit seiner leiblichen Existenz als Seligkeit gelten lässt, also hat er in dieser Anerkennung mehr von Ottilie begriffen als in den meisten Begegnungen und Nötigungen bisher. Er kann es nur nicht auf sich nehmen, nicht ohne die äußersten Schmerzen. Er fühlt, dass er ihr folgen »muß«, aber er fühlt zugleich, dass seine »Natur«, wie dann auch sein Versprechen, ihn zurückhält. Ottilie ihrerseits, solang sie noch am Leben und aktiv war, hat versucht, sich in den abwesenden Geliebten zu versetzen, und das war eine einzige Qual (s.o.). Zu dem traurigen Vorsatz, sich »selbst [zu] peinigen«, wenn man gepeinigt wird (II,10), hat Goethe bald nach Vollendung der Wahlverwandtschaften ein Gegenstück formuliert: »Unser größtes Kunststück48 besteht darin, unsere Existenz aufzugeben um zu
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Tag- und Jahreshefte 1809, in: H. A. Bd. 6, S. 625. Hier ist schlicht Lebens›kunst‹ gemeint, fernab von explizit künstlerischer Kunst.
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existieren«.49 Mit »die Existenz aufgeben« muss schon ein sehr weitreichendes Lebensmanöver gemeint sein – es klingt nach Sterben, sei es durch Verhungern oder durch einen Rückzug aus allen Lebensinteressen. Indem aber das Ziel dazugesetzt wird: eben doch »Existieren«, irgendwie in einer gesteigerten Form am Leben Teilnehmen, wird dem lebensbedrohlichen Vordersatz die Spitze abgebrochen. Es klingt fast wie die Verheißung des Evangeliums: »Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren, und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden«.50 Aber auch nur fast; Goethe blieb bei aller Hochachtung vor dem biblischen Text doch reserviert gegenüber der eigentlichen Botschaft.
»Seine Majestät, der Tod« Wenn man die Zweiteilung des Romans nach ihrem Sinn, ihrer inneren Bezüglichkeit untersucht, dann entfällt auf das I. Buch alles, was mit dem Leben zu tun hat, auf das II. hingegen der Tod selbst und das Denken an den Tod, die Vorkehrungen gegen den Tod (der nach wie vor, heute wie zu Goethes Zeiten, alle irdischen Bemühungen mit seiner Unerbittlichkeit zu Schanden macht). Es ist und bleibt so, wie Wilhelm Raabe es auf den Punkt gebracht hat (nachdem schon zahlreiche Denker von der Antike auf den Sachverhalt aufmerksam geworden sind): »Es tödtet nichts so sicher, als das Leben«.51 Im I. Buch wird der Gedanke an den Tod durchgehend abgewehrt. Vor den Tod, die Trauer, den Friedhof der Gemeinde rückt Charlotte in allem Ernst die ästhetische Verhüllung: »Trauer schön ausgeschmückt« (I,2). Der Graf gratuliert den beiden Gastgebern gewissermaßen, dass bei ihnen »der Tod willig getan« habe, was »die Konsistorien« nur ungern tun (eine Scheidung nämlich), aber Charlotte antwortet: »Lassen wir die Toten ruhen«.52 Eduard sieht in dem gleichen zurückliegen49 50 51 52
Goethe zu Riemer 24. 5. 1811. Wörtlich ebenso in Maximen und Reflexionen Nr. 302. Mt. 10,39, fast identisch Mt. 16, 25, Luk. 17, 33 und Joh. 12,25. Raabe, Sämtliche Werke, Ergänzungsband 5, 1994, S. 365. Kein Ausrufungszeichen: Sie ist in einer Stimmung des »halben« Ernstes (I,10).
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den Todesfall53 einen Glücksfall für ihn: Er hat sie beerbt, er wurde »sein eigener Herr«, konnte sich »Abwechslungen« leisten, er hat überhaupt viel Freiraum zum Ausleben seines Willens gewonnen. Dass der Tod schon durch den nahen Bauernfriedhof ihnen immer wieder auf den Pelz rückt, suchen sie zu verdrängen oder zu übertünchen. Charlotte hat sich eine muntere Ordnung für diesen Friedhof ausgedacht, die »holprigen Grabstätten«54 eingeebnet, die Grabmale an die Mauer und die Kirche gelehnt – ein richtig »angenehmer Raum« (I,2 s.o.). Der Maurer (I,9) tut in seinen anspielungsreichen maurerischen Sprüchen alles, damit die von ihm freigelassene Lücke eher an ein »Schatzhaus« als an eine Grabstätte erinnert. Der neugewonnene große See gibt sein erstes Opfer noch mal frei, wenn auch zunächst ohnmächtig (»für tot«). Alsbald tut der Chirurgus, wozu er angeheuert ist: Er übt seine ärztliche Kunst an dem »totgeglaubten« Knaben aus und hat ihn bald wiederhergestellt (I,15). Das II. Buch akkumuliert die vier Todesfälle des Romans. Es beginnt gleich (II,1) mit einer Auseinandersetzung über den richtigen Umgang mit den Toten. Gegen Charlottes unbeschwerten, ja »heiteren«, dabei aber äußerst verletzenden und seinem Charakter nach blasphemischen Umgang mit »ihrem« Friedhof argumentiert jetzt ein Advokat.55 Er vergegenwärtigt ihr die verschiedenen Arten von Grabmälern, will aber gar nicht auf diese Differenzierung hinaus, sondern auf »das daneben der Erde Vertraute« (den Leichnam selbst). Er bleibt beim Neutrum: »ein geliebtes Abgeschiedenes«. Wieso »nicht von der Erinnerung, sondern von der Gegenwart« die Rede sein soll, vermag er nicht recht klarzumachen. Es sei denn, dass es auf eine Balgerei hinauslaufen soll: Den Überlebenden (Gatten, Verwandten, Freunden) spricht er das »Recht« zu, »Fremde und Mißwollende« von »der Seite [ihrer] geliebten Ruhenden« abzuweisen, ja zu »entfernen« – was für eine turbulente Fried-
53 54 55
Als ihm seine erste Ehefrau, eine ältere, sehr behütende Frau, gestorben ist. So nennt sie sie später (II,1) in ihrem Disput mit dem Advokaten. Nicht jedoch im Namen der dörflichen Gemeinde (die könnte einen Advokaten gar nicht bezahlen, falls denn einer auf die Idee käme, sich etwa mit der Gutsherrschaft anzulegen). Sondern für einen benachbarten Edelmann.
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hofsordnung! Charlotte hat er damit nicht überzeugt, und auch der dabei anwesende Architekt gibt mehr ihr Recht als ihrem Kontrahenten. Sie nutzt den Disput, um ihr ständiges Anliegen selbst bei Todesfällen zu unterstreichen: »die Gegenwart recht zu ehren« und »sein Verhältnis gegen die Überbliebenen immer lebendig und tätig zu erhalten«.56 Besonders einfühlsam von den Toten spricht der Architekt. Für ihn liegt der eigentliche Grund, die Gräber umgehend einzuebnen (zu »vergleichen«), darin, dass »so die Decke, indem alle sie tragen, einem jeden leichter gemacht werde« (II,1).57 Gleich anschließend (II,2) sucht der gleiche Architekt das Kircheninnere in Einklang mit dem davorliegenden »Auferstehungsfeld« zu gestalten. Ottilie dagegen stellt sich anscheinend ausgesprochen gern vor, schon im Hades58 zu sein und dort spätere Ankömmlinge willkommen zu heißen (II,2-3). Im gleichen Kapitel II,2 setzt »Ottiliens Tagebuch« ein, und zwar mit ihrer Vorstellung, wie »angenehm« es sein muss, neben den Geliebten zu ruhen. In den Eintragungen des folgenden Kapitels (II,3) wird diese Vorstellung fortgeführt. Der Mythos, in dem »alte Völker« sich ihr Verhältnis zu ihren Abgeschiedenen verbildlicht haben, scheint
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Goethe persönlich war hochgradig allergisch gegen den Tod und gegen Leichen. Selbst nahe Freunde, selbst Wieland, Schiller, selbst den Erzherzog hat er anderen zur Beerdigung überlassen. Als Autor der Wahlverwandtschaften dagegen erweist er sich tief vertraut mit dem Tod. Charlotte kommt in ihren diversen Einlassungen über die Ausgestaltung von Friedhöfen immerhin auf den Gedanken, dass die sozialen Schichten, die im Leben höchst unterschiedliche Positionen einnehmen, »wenigstens« im Tod gleich behandelt werden sollen (II,1). Der Architekt denkt weiter und sieht in der Bestattung nebeneinander eine erleichternde Kraft der Kollektivität (allerdings ebenfalls nur der Toten). Ihre Vorstellung vom Jenseits, wie sie sich vor allem in ihrem »Tagebuch« niedergeschlagen hat, hat tatsächlich viel mehr mit der (in diesem Punkt) freundlichen Mythologie der Griechen zu tun als mit der jüdisch-christlichen Ausmalung eines entweder in der Höllen schmorenden oder im Himmel Psalmen singenden Nachlebens nach dem Tod. Ihre besten Eigenschaften bleiben erhalten: Freundlichkeit, Zuvorkommenheit, Fürsorge für ihre »Lieben«, die nach ihr kommen (II,2, Schlusssatz der ersten Aufzeichnung von allen).
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zunächst »furchtbar«, dann aber »freundlich und anmutig«. Sie ordnet sich selbst in die vorgestellte Reihe der Abgeschiedenen ein und ist besonders froh, dass hier alles »stumm« vor sich geht. So wie sie auch die herabkommenden Freunde59 wortlos mit »freundlichem Neigen« begrüßt. Die in den folgenden Kapiteln ankommenden Besucher des Guts sollen frei bleiben von Anspielungen auf den Tod. Luciane »peitscht« im Gegenteil »den Lebensrausch« ständig vor sich her (II,5). Aber eben diese Luciane eröffnet die Reihe ihrer »lebenden Bilder«60 mit einer Darstellung der königlichen Witwe Artemisia mit ihrem Aschenkrug und zu einem Trauermarsch (II,4). In der »Novelle« (II,10) wird die tragische Lösung gerade vermieden, obgleich nur knapp. Die »schöne Feindin« hat nicht nur mit Selbstmord gedroht, sie ist wirklich ins Wasser gesprungen; offensichtlich kann sie nicht schwimmen. Nur durch einen beherzten Sprung ihres Jugendfreunds und seine Meisterschaft als Schwimmer wird die Handlung, unterstützt auch von einem hilfreichen jungen Paar, zu ihrem mustergültig glücklichen Ende gelenkt. Nie wieder gutzumachen ist dagegen Ottilies Versagen im Kahn, das dazu führt, dass der Stammhalter und Erbe des schönen Anwesens ertrinkt (II,13). Der Vorgang wird als Unfall gestaltet, ein Unfall aber, an dem sie mit schuld ist. Sie war erregt: die erste Begegnung mit Eduard nach so langer Zeit, die ersten »entschiedenen freien Küsse«, dazu die Aufregung, ob Charlotte ihrer Verbindung zustimmen würde.61 Sie hatte das Kind, für das sie die ganze Zeit fast allein gesorgt hat, zwar nicht vernachlässigt, aber doch beiseite gelegt, ihre Lektüre hat sie völlig absorbiert. Sie konnte, obgleich eine »gewandte« Schifferin« (II,11), mit ihren zwei Armen Kind, Buch und Ruder nicht zugleich regieren: alles drei fällt ins Wasser. Sie greift allein nach dem Kind (Buch und Ruder bleiben verloren), kann sich aber nicht gleich aufrichten. Als sie endlich das Kind aus dem Wasser zieht, ist und bleibt es tot. Der Kahn,
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Ihr ist es aus irgendeinem Grund klar, dass sie sich, obgleich die Jüngste, als Erste dort einfinden wird, und es ist ihr recht. »Lebende Bilder« sind überhaupt ein lucus a non lucendo: weil sie, wenn sie gelingen, ein Moment aus einer Handlung eben durch Erstarren festhalten. Ohne diese Zustimmung konnte nichts daraus werden, da war sie Realistin.
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der schon mehrfach erwähnte, zu verschiedenen Fahrten in Bewegung gesetzte, hat sich jetzt endgültig als Nachen Charons erwiesen. Durch die ganze Handlung hindurch meldet sich immer wieder seine Majestät der Tod; gegen Ende hält er reiche Ernte. Ottilie und (bald nach ihr) Eduard sind zunehmend dem Tod verfallen, sie leben faktisch auf ihren Tod hin. Besonders Ottilie bereitet sich sorgfältig, geradezu freudig auf ihren Tod vor. Sie lebt schon ihre letzte Lebensphase, als ob sie einem modernen Romancier ins Buch geschaut hätte: »Nirgends ist man so gut aufgehoben wie in einem Sarge«.62 Sie ergibt sich einer »heimlichen Geschäftigkeit«: lächelt wie jemand, »der Geliebten etwas Gutes und Erfreuliches verbirgt« (II,18). Die andern raten hin und her, was sie Schönes zu verbergen hat; sie können nicht ahnen, dass sie sich auf ihren Tod freut. Wenn man sich von der Kühnheit dieser Figur anstecken lässt, sich in freien Vermutungen zu ergehen, könnte man denken, dass sie im Jenseits wiederum Eduard erwartet und ihn dann, da im Jenseits die Zuordnungen nach »mein« und »dein«, ja schon diese Begriffe als solche aufgehoben sind, einen Anteil von seinem Leben erhofft. Ihr letzter imperativischer Satz an Eduards Adresse: »Versprich mir zu leben!« klingt wie eine Besiegelung dieser ihrer Hoffnung. Was immer seine Frau von ihm erwartet und ihm ggf. abnötigt, was immer auch er sich selbst schon vorgenommen haben mag, hier wird eine Verabredung aus spürbarer Vertraulichkeit getroffen (wenn auch mit einer gravierenden Lücke, s.u.), die die letzten Wochen von Eduards Leben unter eine besondere, eine geradezu feierliche Verpflichtung rücken. Eduard hat Ottilie versprochen zu leben, also auch leben zu wollen. Das beißt sich jedoch mit seiner inneren Verpflichtung, ihr nachzufolgen – diese gewinnt schließlich die Oberhand. Aus beidem resultiert, dass er ihre Leiche nicht besuchen kann (s.o.). Er versucht zu fasten wie sie, zu verstummen wie sie, aber eine innere »Unruhe« treibt ihn, beides wieder abzubrechen. Sie »nachzuahmen« gelingt ihm nicht – zum Märtyrertum würde »Genie« gehören und Genie jeglicher Art, das wissen wir inzwischen, ist nicht seine Sache.
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Claude Tiller, Mein Onkel Benjamin, xx.
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Ottilies Aufzeichnungen bei Lebzeiten, die sporadisch (in II,2 und II,3) um das Jenseits und ihren Platz darin kreisen, sind gerade in dieser Beziehung besonnener, dienender, wie es ihr ganzes vorausgegangenes Leben war. Den nach ihr kommenden »Freunden« will sie stumm ihre Plätze anweisen. Jetzt fühlt sie den Tod durch ihr eigenes Hungern dicht herbeigezwungen, da muss sie endlich mal, still für sich, sich zurechtdenken, wie es nach dem Tod mit ihr und dem Geliebten, den sie hier nicht haben durfte, weitergehen könnte. Im Leben wurde nichts aus einer Verbindung mit Eduard, den Tod okkupiert sie als ihre letzte Chance dafür. Aber auch die lebenszugewandten Charaktere müssen dem Lebensende so oder so ihren Tribut entrichten. Charlotte ist anfangs geradezu stolz darauf, wie schön sie den Friedhof umgeordnet, also »die Trauer ausgeschmückt« hat – nur unter reichlichem »Schmuck« erträgt sie den unziemlichen Gedanken an den Tod (I,2 u. ö.). Später muss sie drei Angehörige ›zu Grabe tragen‹ und kann sich mit keiner ästhetischen Veranstaltung mehr gegen die Gewalt des Todes zur Wehr setzen. Nanny war bis zu ihrem Unfall sprühend vor Leben, ein Gegenbild zu den ernsten Gestalten um sie her. Aber erst nachdem sie, »an allen Gliedern zerschmettert«, Ottilies Leichnam berührt hat – »zufällig«, betont der Erzähler –, gewinnt sie ein zweites Leben, anfangs ganz hysterisch, bald danach richtig normal, so dass sie auch in der Abschiedsszene (einem letzten »lebenden Bild«, wieder um einen Leichnam gruppiert, II,18) den gerührten Architekten »heiter und getrosten Mutes« trösten kann.63 Diese und die meisten anderen will der Tod jetzt noch nicht holen. Aber er merkt sie schon vor; sie bleiben Auserkorene (und damit Zeugen) seiner ebenso natürlichen wie unheimlichen Macht. Als Ottilie tot ist, wird sie geradezu – es bleibt zu prüfen, in welchem Sinne und mit welchem Grad von Gewissheit – zur Heiligen ver-
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Bei der Totenwache allerdings übertrifft sie der Architekt, der, unerklärt wie benachrichtigt, sich an dem Sarg einfindet und sich (und damit abschließend dem Lesepublikum) die »seltenen, schönen, liebenswürdigen Tugenden« der Dahingeschiedenen (ohne sie jedoch im Einzelnen zu benennen) sowie deren unentbehrliche Wirksamkeit vergegenwärtigt.
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klärt (II,18). Nanny, die durch ihre Berührung mit der Leiche wieder gehen (sogar »springen«) kann, ist nur zu bereit, ihr ein echtes »Wunder« zuzuschreiben. Sie posaunt es laut aus, und sie hat Grund dazu: Sie fühlte sich schuldig an Ottilies Tod, ja als ihre »Mörderin«. Sie brauchte also den »Blick«, die »Gebärde«, den »Mund« der Toten, um ihrer »Vergebung« gewiss zu sein. Wieder und wieder64 versichert sie (vor allem sich, am Rande auch den Umstehenden), dass Gott selbst, oder Ottilie für ihn, ihr »verziehen« habe. Mit einiger Ironie verzeichnet der Erzähler, dass beim Weitertragen der Leiche die Sonne, gerade im Aufgehen, noch einmal »das himmlische Gesicht« rotgefärbt habe. Oder er spielt mit psychokinetischen65 Vorstellungen: »Die Bahre bewegte sich weiter«. Mit dieser Einstellung wird aus dem »schönen« oder »herrlichen« Kind Ottilie ein »himmlisches« Kind, aber das muss uns nicht verführen, aus dem »Heiden« Goethe einen wackren Christen oder gar einen Katholiken zu machen.66 Am Ende ist sicher nur, dass die beiden Liebenden nun ihre Ruhe haben, und zwar »nebeneinander« in einer geschmückten Kapelle (von der Ottilie schon früher den Eindruck hatte, sie eigne sich zu nichts als zu einer »gemeinsamen Grabstätte«).67 Damit sind auch Ottilies Wünsche erfüllt: Sie wollte nicht nur selbst
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Sechsmal in fünf flehenden Sätzen (II,18). Auch noch dem Arzt gegenüber, am folgenden Morgen, besteht sie darauf. Noch treffender wäre: verbalkinetischen. »Kein Unkrist, aber doch ein dezidierter Nichtkrist«, so hat er sich schon ein Vierteljahrhundert früher charakterisiert (29. 7. 1782 an Lavater). Vgl. auch Friedenthal, Goethe, S. 491-503 (u. ö.). Balet (S. 174-177) fügt hinzu, dass die Kirche damals (das Geschichtsstudium lehrt uns, dass auch noch das »lange« 19. Jahrhundert hindurch) fest an der Seite der absoluten Herrschaften gestanden habe. Schon diese Beerdigung an einem bestimmten, nur für diese beiden bestimmten Platz ist ein beträchtliches Zugeständnis von Charlottes Seite, denn zu ihren Vorstellungen über die rechte Friedhofsordnung hat bisher gehört, dass nur die Namen der Toten festgehalten und die Liegestätten durch nichts mehr bezeichnet werden sollten. Noch wichtiger, aber nur noch ahnbar ist, dass sie mit dieser Beerdigung Seite an Seite schließlich doch ihren Frieden mit der Liebe zwischen Eduard und Ottilie macht, gegen die sie, solange die beiden am Leben waren, unnachsichtig zu Felde gezogen ist.
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hinwegsterben, sie wollte auch im Jenseits den Platz für ihre Lieben, faktisch ist das jetzt wieder nur Eduard, vorbereiten. Der Abschluss der Handlung verläuft ziemlich abrupt. Auf einmal liegt Eduard tot da – »endlich«, sagt der Erzähler. Er fügt aber hinzu: »– so lag denn auch dieses vor kurzem zu unendlicher Bewegung aufgeregte Herz in unstörbarer Ruhe«. Die Todesursache wird hin- und herdiskutiert: augenscheinlich kein Selbstmord, aber was kann ihn zu Tode gebracht haben? Einen Knacks hat ihm sicher schon seine maßlose Enttäuschung gegeben, dass das so hochgehaltene Glas schließlich das falsche war (s.o.). Als sicher rechnen die Angehörigen ihm nur zu, dass er in Gedanken an Ottilie (an die »Heilige«, schreibt hier der Erzähler) »eingeschlafen« ist. Der Tod, das gehört zu ihm mit ›Natur‹notwendigkeit, bricht jedes Gespräch ab. Dennoch sind die Zungen immer wieder versucht und ist auch die Feder der Tagebuchschreiberin Ottilie eifrig, den Tod zu bedenken. Bei den meisten ist das allerdings mehr der Tod im Allgemeinen als der eigene Tod, nur Ottilie scheut auch vor dem Gedanken an das eigene Totsein (nur nicht das Sterben) nicht zurück und malt es sich geradezu lustvoll aus. Die Kommunikation darüber ist freilich nicht frei. Schon im I. Buch hatte der Graf einen Versuch gemacht, den Tod zu loben, weil er den Scheidungsbehörden ihre Arbeit abnahm, aber Charlotte hatte diesen Gesprächsgegenstand insgesamt abgelehnt, mit einem halb ernsten Blick: »Lassen wir die Toten ruhen«. Die Scheu, sich über einen so erschreckenden Vorfall (obgleich er im Lebensgang eines jeden Menschen eintritt und ihn unausbleiblich abbricht) zu unterhalten, ist größer als die Lust am Unerhörten und Indezenten. So wird höchstens einem Fremden gegenüber (hier: dem Advokaten, der wer weiß woher hier angekommen ist) ein Ausblick in das Terrain gewagt, das allen lebenden Menschen unbekannt bleibt (II,1). Der Tod bringt die Gespräche der miteinander Lebenden durcheinander, geradezu erschreckend als Ottilie stirbt, den Hinterbliebenen ›weg‹stirbt. Im Totenreich selbst soll es stumm zugehen, sagt oder schreibt vielmehr wiederum Ottilie.
Behandlung der Personen und wichtige Ereignisse
Einmünden in Frömmigkeit? »Gott« wird in der Welt der »Wahlverwandten« recht stiefmütterlich behandelt; anscheinend wird er von dieser Schlossgesellschaft nicht recht benötigt. In gängigen Wendungen lebt er noch abgeblasst weiter: »um Gottes willen,«, »in Gottes Namen«, »gnade ihnen Gott«. Luciane ist schon als Schülerin für die Anstaltsleiterin »eine kleine Gottheit« (I,2). Der Bettler sieht sich »unter dem Schutze Gottes und der Obrigkeit« (I,6). Religiöse Ausdrücke, meist für periphere Weiterdeutungen, ziehen sich zwar durch die Handlung des Romans, sie sind aber gleichsam Fremdkörper, mehr für die Sonntage geeignet als für die alltägliche Beschäftigung. Sie sind überwiegend ästhetisch fundiert und gezielt.68 »Man ging zur Kirche«, heißt es einmal, reichlich distanziert,69 und dann folgt kein Wort über die Predigt, kein Wort über die innere Erbauung der zum »Man« zusammengezogenen Festgemeinde plus adligen Gesellschaft, sondern nur der »festliche Schmuck«, in dem »man« die Gemeinde antraf. Vielleicht »ging man« auch nur der reichlichen Gesellschaft wegen: Vor ihr suchte »man« gut dazustehen. Ebenso: »Das Gebet war verrichtet« (II,8) – diese Christen erfüllen nur gerade ihre kirchlichen ›Pflichten‹; mit dem Herzen oder mit irgendwelchen Emotionen scheinen sie kaum daran beteiligt. Der Architekt scheint überrascht von der Existenz der Kapelle, über die die dortige Kirche auch noch verfügt,70 und macht sich gleich daran, sie zu verschönern (II,2, II,3). Die Engel-Bilder, mit denen er die Decke verziert, klassifizieren seinen religiösen Sinn als romantisch oder ›nazarenisch‹. Ottilie, die
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Wie Goethe selbst sich zu den Erscheinungen des (christlichen) Glaubens verhalten hat, lässt sich schwer auf einen Nenner bringen. Canetti hat gut 1 ½ Jahrhunderte später eine treffende Formel dafür gefunden: »Ob Gott da ist oder nicht: es ist unmöglich, von ihm zu schweigen, der so lange da war«: Canetti (wie S. 8, Anm. 1), S. xx, notiert 1973. Es geht um Charlottes Geburtstag (I,9). Der Zugang zu der Seitenkapelle, der sich der Architekt vor allem zuwendet, wird so ausgedrückt, als ob er sie überhaupt erst entdeckt oder wiederentdeckt: Sie war »wenig bemerkt«, und sie »zeigte sich zum größten Erstaunen und Vergnügen des Architekten« (II,2).
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ihm dabei geholfen hat, erscheint als die einzige, die dieses religiös unterfütterte Kunstwerk ein paar Momente genießt: Vor ihrem Blick erscheint alles, und sie selbst mit, zu »verschwinden«. Die Malerei bleibt aber eine »Künstlergrille«, tauglich höchstens zu einer Grabstätte (und zwar einer »gemeinsamen«) – eine Vorausdeutung auf das Ende. Der Gehülfe hat einen anderen, einen weltlicheren Ton, von religiösen Festen und Bräuchen zu reden, d.h. er redet darüber, die andern mögen sie praktizieren (II,7; der Gegensatz zum Architekten wird in einem Absatz für sich herausgestellt). Die Räumlichkeiten für alltägliche Verrichtungen, selbst für »Spiel und Tanz«, sind ihm gerade die richtigen, um »Frömmigkeits«gefühle zu »hegen«, ja selbst das »Gefühl des Göttlichen« in sich auszubilden. Vor allem soll sich Religion in der Tätigkeit äußern – also haben wir jedes Wort, das er über die Erziehung, sein Spezialthema, von sich gibt, auch als Bekundung seines Ideals von Religion zu verstehen. Charlotte hört ihm aufmerksam zu; ihrer Gesinnung nach müsste sie zustimmen. Als Instanz des schlechten Gewissens taucht er vor Ottilie auf, als er sie in ihrem müßigen, ja blasphemischen71 ›Spiel‹ mit dem Gipfel der christlichen Heiligkeit, der Madonna mit ihrem Kind, erblickt (II,6). Die Auseinandersetzung zwischen den beiden ist hier gar nicht nötig: Sie vollzieht sich schon in ihr selbst, in ihrem schlechten Gewissen. Der »Gottesdienst« wird vor allem angesprochen, als der fromme Architekt die Umgebung verschönert. Aber immerhin auch: Einmal, als Ottilie unter Eduards Abwesenheit »unendlich« leidet, wendet sie sich an Gott, dass er ihr nur über den kommenden Tag weghilft (I,17). – Der Architekt lebt in einer Kunst-Religion, in der er ganz ohne »Gott« auskommt. Einen »hübschen erfreulichen Aufzug«, in dem die mit Spaten und Hacken bewaffneten Knaben vor ihm paradieren, merkt er sich vor als »eine artige Folge von Stellungen und Tätigkeiten für den Fries eines Gartenhauses« (I,14). Die Dauer und die ständige Steigerung der liebevollen Beziehung zwischen Eduard und Ottilie wirkt wie eine Bezauberung oder Verzü71
S. zu dieser Wertung die ausgiebige Auseinandersetzung. bei W. Schlick, S. 201227.
Behandlung der Personen und wichtige Ereignisse
ckung weltlicher Art. Wer nicht genau hinsieht, wie Ottilie tatsächlich zu Mute ist, wenn sie sich so erhöht fühlt, könnte wahrhaftig einen Zauber darin erkennen. So schon in dem üppigen, geradezu überquellenden Köfferchen mit feinen Tuchen und Preziosen, ihrem Geburtstagsgeschenk von Eduard. »Zauber« soll aber in diesem Roman nur im Konjunktiv vorkommen; der Erzähler stellt schon im Voraus klar: Eduard bereitet das Geschenk im Geheimen vor, alles sollte »wie von selbst entspringen, überraschen und natürlich erfreuen«.72 Später in ihrem Unglück, im Kahn mit dem toten Kind auf dem Schoß, erstarrt Ottilie zu einer Statue des Leids (II,13). Sie sieht sich in der Macht eines feindseligen Dämons, der ihr die »Einigkeit« mit sich selbst verwehrt. Schließlich ist sie tot, verhungert, aber noch ihre Leiche soll ein Wunder getan haben.73 Allerdings fügt der Autor (der Erzähler?) gleich hinzu, dass es »wenige« sind, die »sich glaubend dazu verhalten« (II,18).74 Die legendenhaften Züge bleiben Einsprengsel, Vorschläge, wie man den Roman und insbesondere sein Ende auch lesen kann. Dass die Liebenden »nebeneinander ruhen«, endlich, nach so viel verzehrender Sehnsucht, das ist das wirkliche Ende, im Indikativ Präsens. Da hat die liebe Seele Ruh. Auch der Schmuck ihrer Grabstätte ist real, Ottilie hat als Vorbild für die »heiter verwandten Engelbilder« gedient. Der »freundliche Augenblick« aber, in dem sie wieder erwachen sollen, bleibt an das »Wenn« gebunden, und das dürfte an dieser Stelle, im letzten Halbsatz des Romans, eher einen Konjunktiv als ein Futurum ankündigen.75 Wer glauben will, 72 73 74
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Von den beiden Bedeutungen von »natürlich« ist hier, wie meistens bei Goethe, gemeint: im Einklang mit der Natur (nicht: selbstverständlich). U. Hohendahl bringt es auf den Punkt: ein Selbstmord, in einen Akt der Heiligkeit transformiert (in: DVjS 77, 2003, S. 239f.). Die Heilige Odilia (Goethe hat ihren Wallfahrtsort in seiner Jugend besucht) heilte vor allem Augenkrankheiten und anscheinend mit dem Blick ihrer Augen. Das wird in Goethes Roman veräußerlicht: Ottilie schlägt ihre Augen auf, und die umgebenden Männer, außer Eduard noch der Architekt, der Gehülfe und der väterliche Graf, sind von ihr hingerissen. Für den Architekten wird eigens betont, dass es ihm »unmöglich« schien, »von Ottiliens Augen zu scheiden, von deren ruhig freundlich gewogenen Blicken er die letzte Zeit fast ganz allein gelebt hatte« (II,6). Das Futur ist eine seltene und immer heikle Figur in diesem Roman.
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der mag auch daran glauben, aber das sind in jenem aufgeklärten Zeitalter nur »wenige«76 . Börne hat es erfasst: »Nur die Glücklichen kommen ins Paradies. Die Unglücklichen sind verdammt, in jenem wie in diesem Leben«.77
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Nils Reschke (S. 142) sieht in dieser Schlusswendung nicht nur die Goethesche Ironie am Werk, sondern auch das »strukturell geforderte happy end«. Das mag schon so sein, aber würde sich dann die Ironie nicht erst recht auch darauf erstrecken? L. Börne, Das Staatspapier des Herzens. Fragmente und Aphorismen, 1987, S. 91.
Mitteilung und Innerlichkeit, »Intimität«
Die wichtigste Tätigkeit der vier Schlossbewohner, der Hauptpersonen dieses Romans, besteht nicht in der Erschließung des Geländes durch immer neue, immer bequemere Wege, auch nicht im Aufführen neuer Baulichkeiten, darunter ein zusätzliches »Lustgebäude«, oder im wiederholten Aufführen sattsam bekannter »lebender Bilder«. Am wichtigsten ist das fortlaufende Gespräch, in dem sie sich immer wieder ihrer Beziehungen versichern: eine unaufhörliche Veranstaltung, zwischen Ottilie und Eduard auch noch unterfütttert durch Blicke und Gesten. Sowie sie zusammentreffen, tauchen sie sich miteinander aus. Goethe hält auch hier an dem fest, was er der Schlange seines Märchens auf die Zunge gelegt hatte: »Was ist herrlicher als Gold? – Das Licht. – Was ist erquicklicher als Licht? – Das Gespräch«.1 Wie im Märchen wird auch hier die Herrlichkeit des Gesprächs in das Hin und Her der Reden überhaupt, nicht in einen besonderen Gesprächsgegenstand gesetzt. Konversation war damals, gerade in adligen Kreisen, ein wichtiges Mittel der Bildung. Es überdeckte die Dürftigkeit des praktischen Handelns – anderthalb Jahrhunderte später wurde es beschönigend »kommunikatives Handeln« genannt.2 Nicht wenige Historiker sehen im Redenstatt-Handeln eine typische Haltung des damaligen Bürgertums (wie auch des »kleinen Adels«) in der Zeit der Nachklassik und des »Biedermeier«, zumal in Deutschland.3 »Der Hund bellt, wenn ihn etwas
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Goethe Bd. 20, S. 88. S. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962, passim. S. z. B. Dieter Borchmeyer, Höfische Gesellschaft und französische Revolution, 1977.
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erregt. Der Mensch redet immer«.4 Auch in Goethes Roman wird erstaunlich viel geredet, zumeist auf Französisch (s.o.), praktische Abreden immerhin auch auf Deutsch. So »erquicklich« wie in Goethes Märchen ist es zwar längst nicht immer, aber belebend durchweg.
Historischer Fortschritt in der Gesprächsführung? Wie weit Goethes Roman die Stimmung und die Ausdrucksweise des »Sturm und Drang«, also auch seine eigenen Sturm-und-DrangDichtungen hinter sich gelassen hat – ob sie dadurch ›besser‹ geworden sind, wäre noch eine andere Frage –, das kann ein Vergleich der Texte im Einzelnen untermauern. Seinen Werther ließ er einst sich in langen begeisterten Tiraden ergehen. Berühmt wurde vor allem der Passus im Brief vom 10. Mai (im I. Teil), in dem Werther sich über seine Vertrautheit mit der Natur so begeistert auslässt, als wäre er eins mit ihr: von den »Gräschen« und »Mückchen« um ihn bis zur Gegenwart des Allerhöchsten«. 18 Zeilen braucht er für seinen Dithyrambus.5 Charlotte braucht ähnlich viele Teilsätze, um sich einen Hymnus auf ihre Tochter auf der Zunge zergehen zu lassen (I,2). Sie spricht ebenfalls begeistert, »dithyrambisch«, sehr anders, als es sonst ihre Art ist. (Vermutlich hat sie weite Passagen der Berichte der Vorseherin sich zu eigen gemacht, ja auswendig gelernt). Wie anders aber, ›weltlicher‹, charakterkundlicher klingt es bei ihr! Sie stützt sich auf die Berichte der Vorsteherin, sie übersetzt nur deren »Hymne« in ihre »Prosa«. In der Tat reduziert sie das überschwängliche Lob, das sie zitiert (die »Königin des kleinen Kreises«, eine »kleine Gottheit«) durch banale Ausdrücke, die sie danebensetzt: »was sonst von Kenntnissen« dort vermittelt wird / Noten spielt Luciane »vom Blatte weg« / »schickliche Bequemlichkeit des Gesprächs«. Der Inhalt hat sich gegenüber der
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Richard Schaukal, Aphorismen, in: R. Schaukal, Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser, 2/1907, S. 246. Dabei hat er zu diesem Zeitpunkt Lotte noch nicht einmal kennen gelernt.
Mitteilung und Innerlichkeit, »Intimität«
Werther-Periode völlig verschoben: Aus dem begeisterten Lob auf Gottes Natur ist ein Rechenschaftsbericht über eine gelungene Erziehung geworden, bezogen auf Schulfächer und gesellschaftliche Fertigkeiten, so dass die »Königin« oder »kleine Gottheit« geradezu komisch aufgesetzt erscheint. Der wirtschaftliche Zweck des Lobgesangs auf dies hervorragenden Schülerin schimmert nicht nur durch, sondern wird deutlich ausgesprochen: Eine Schülerin wie Luciane erhöht das Renommee der Lehranstalt und sichert den »Zufluß von andern jungen Personen«. Die Prosa der Erziehung, ja des Konkurrenzkampfes dieser Erziehungsanstalt mit ähnlichen macht einen unübersehbaren Kontrast zu dem hymnischen Ton des ewig jungen (und unerzogen bleibenden) Werther.6 Der lange Passus über die Vorzüge der Musterschülerin dient zugleich als Vorspann, im peinlichen Kontrast, zu den kargen Mitteilungen der Vorsteherin über ihr Sorgenkind Ottilie. Ottilie will sich gar nicht entwickeln, sie zeigt »keine Fähigkeiten und keine Fertigkeiten«. Hier setzt, in betontem Abstand, Charlottes pädagogischer Wille ein, denn sie kennt das »schön heranwachsende Mädchen« besser (meint es zu kennen). Sie würde sie »zu einem herrlichen Geschöpf heraufbilden«, wenn sie sie in die Hände bekäme. Das sagt sie jedenfalls, doch der Ernstfall, der bald eintritt, beweist das Gegenteil: Ottilie ist schon erzogen und hat sich selbst erzogen, da fallen die paar Zutaten der ›Erzieherin‹ Charlotte kaum ins Gewicht. Ottilie bereitet sich zudem auf einen Lebensinhalt als Erzieherin vor. Mit ihrem einstigen Lehrer tauscht sie sich aus über die vorteilhaftesten Erziehungsmaßnahmen. Als dann ihr tiefes Unglück sie betroffen hat, sieht sie sich nur noch bestärkt sie in ihrer Hinwendung zu »jungen Aufschößlingen«, denen sie sich zuwenden möchte. »Schmeichle ich mir nicht zu
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Werthers hymnisch fließender Erguss ist Teil eines Briefes – an einen Partner, der außer in Werthers Anreden nie in Erscheinung tritt. Charlottes Lobpreis ihrer eigenen Tochter beruht auf Stellen aus Briefen, die sie erhalten hat. Sie hat sie sich jedoch zu eigen gemacht (mit ein wenig Distanz gegenüber dem hymnischen Ton) und sucht selber (jedoch im Irrealis) die Erziehung der hintangestellten Ottilie fortzusetzen.
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sehr, so soll es mir glücken« (II,15). Auch in der Erziehung, die sie ausüben will, dominiert der pädagogische Grundsatz, alle so werden zu lassen, wie sie von Natur und aus Neigung werden. Das stellt nun eine schlichte Fortsetzung von Wilhelm Meisters Lehrjahren dar, in denen die Erziehung und das Gespräch über Erziehung so ausgiebig, streckenweise penetrant dominiert, vom Titel an bis zum geheimnisvollen Wirken einer »Pädagogischen Provinz«. Wilhelm Meister kommt immer wieder zu dem Schluss, seiner »verunglückten« Schauspielertruppe gegenüber, im Umgang mit Mignon, in den Ansätzen zur Erziehung seines Sohns Felix, dass die wahre Erziehung darin besteht, jeden das werden zu lassen, wozu er veranlagt ist. Ottilie muss auch das nicht erst lernen, ihr scheint ein Naturtalent eben diese Einsicht zu bescheren. Sich selbst entbehrlich zu machen, das ist ihr so ›in Fleisch und Blut übergegangen‹, dass sie schließlich auch froh ist, dass aus einer institutionalisierten Funktion als ›Lehrerin‹ gar nichts wird. Sie ist zwar kein ›Naturkind‹ wie Mignon, aber sie sucht ebenfalls weder mit klugen Einsichten (die Mignon ganz abgehen) noch mit ihrer unversehenen Schuld auf andere auszugreifen. Im Gespräch mit anderen äußert sie das nur selten, aber wie sie es ihrem geheimen »Tagebuch« anvertraut, das verrät schon eine solche Einstellung zur Frage der Erziehung, die bei ihr ganz ›natürlich‹ wirkt. Nach Claudia Schmölders’ historischen Studien war der familiäre Umgang nicht gerade günstig, um ein »konversationelles Ethos« auszubilden oder wenigstens zu erhalten. »Konzilianz, Respekt, zwanglose Assoziation und ›komische‹ recreatio« bilden ein eigenes »soziologisches Substrat« aus, anscheinend ohne auf sonderliche Raffinessen in der Gesprächsführung bedacht zu sein.7 Bei Wieland, vor allem in seinen Idyllen findet sie einen »regelrechten ›sermo amoenus‹, eine liebliche, aber widerspruchs- und witzlose Kommunikation«, vor allem für Kinder und Frauen gedacht.8
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S. Cl., Schmölders, S. 36. Ebd., S. 47.
Mitteilung und Innerlichkeit, »Intimität«
Die kleine Welt mit Spuren der »großen« Der »Welt«, das ist durchweg die soziale Welt, wird alles Mögliche nachgesagt, darunter nur wenig Gutes. »Die Welt« hebt sich deutlich ab von der kleinen oder engen Welt der freundschaftlichen Verbindung unter den vier Schlossbewohnern. ›Draußen‹ ist es »kalt« im übertragenen Sinne: unfreundlich, verschlossen, abweisend, desinteressiert. Eduard spricht von der »verruchten kalten Welt«, in der sich Ottilie, wenn sie aus dem Kreis der Freunde verstoßen wäre, »jämmerlich herumdrücken« müsste (II,12). Charlotte, in dieser Frage einmal gleichen Sinnes mit ihrem Mann (nur aus anderen Gründen), freut sich über die Teilnahme des Gehülfen an ihrem Mündel Ottilie, denn jede »wahre Neigung« ist hoch zu schätzen »in einer Welt, wo Gleichgültigkeit und Abneigung eigentlich recht zu Hause sind« (I,3). Die Gesellschaft, die die hier Zusammengekommenen (die sich auch noch ständig miteinander beschäftigen) der rauen und kalten »Welt« entgegensetzen, ist eine vertraute, z.T. verschworene Gemeinschaft, ein Freundesbund (auch wenn gerade das zentrale Paar sich immer weniger einig ist). Sie besteht aus dieser ebenso stabilen wie ausgeleierten Paarbeziehung und zwei freien Personen, die (zunächst) zu anderweitigen Paarbeziehungen bereitstehen.9 In der Vertrautheit, die das gut ein halbes Jahr lange Beisammensein geschaffen hat, wissen die vier ›einander zu nehmen‹. Sie lernen, Stärken und wunde Punkte der andern zu berücksichtigen, sich selbst zur Geltung zu bringen und die andern gelten zu lassen. Eduard, der Herr, getraut sich am ehesten, das auch auszusprechen, was ihm durch den Kopf und noch mehr (altmodisch gesprochen) durch das Herz, in der Sprache des Romans: »durch die Seele« geht. Wenn er allein ist, ›übt‹ er geradezu, was er anbringen will, wenn er wieder einen Gesprächspartner vor sich haben wird. Und wenn er dem ›falschen‹ Partner gegenübersteht (einmal Mittler, I,18, einmal dem Hauptmann. II,12), übt er das ›richtige‹ Gespräch mit dem ›richtigen‹ Partner – das
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Dass diese beiden, Ottilie und der Hauptmann, etwa auch miteinander etwas hätten anfangen können, ist nichts als eine Wunschvorstellung Charlottes.
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ist meistens Ottilie, nur aus ›strategischen‹ Gründen (Scheidungsvorbereitung) auch einmal Charlotte. Der Krieg, in den er freiwillig gezogen ist, war schon damals eine harte Schule, sich Gedanken zu machen und sie bei sich zu behalten, sie nur endlos, ohne eine Möglichkeit der Erprobung und zumeist ohne Aussprache darüber, hin- und herzuwälzen.
›Innere Zwischenmenschlichkeit‹ Von der wissenschaftlichen (linguistischen) Forschung, hier: Bin Kimura,10 wird die Latte für ein ›richtiges‹ Gespräch ausgesprochen hoch gelegt. Ein solches soll nicht irgendetwas nahebringen, sondern soll die beiden (oder auch mehrere) Partner innerlich füreinander aufschließen. Solche Gespräche kommen in den Wahlverwandtschaften in der Tat vor, aber selten, und immer durch die Situation oder von innen heraus gefährdet. Anfangs kommen Charlotte und Eduard noch gut miteinander aus, aber: Sie drücken sich beide so zeremoniell aus, dass von gelebter Intimität kaum die Rede sein kann.11 Viel deutlicher ist die Einstimmung zu einem harmonischen Gespräch gegeben, als Eduard, nach langer Abwesenheit, Ottilie allein antrifft und endlich mal mit ihr ›Süßholz raspeln‹ kann (II,13). Nein, nur könnte, denn er ist in Eile; er denkt vor allem an die Scheidung, die sein Freund gerade seiner Frau vorlegen soll. Sie ist in Eile, sie will rasch das Kind über den See nach Haus (in das jetzt fertige Berghaus) bringen. Die Konfrontation mit seinem Sprössling (den sie hergebracht hat, den er nun zum ersten Mal sieht) verlangt ihm mindestens eine Erklärung ab. Die umgebende Natur ist nur scheinbar lieblich, in Wahrheit ist sie trügerisch, schließlich verderblich – sogar der verheißungsvolle Stern am Himmel verglüht, kaum dass er aufgeleuchtet hat. »Sie wähnten, sie glaubten einander
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Kimura, Kim, 1982. Z.B.: »dieselben Sorgen in einem treuen freundschaftlichen Herzen« (Charlotte, I,2, s.u.). »Treue« und »Freundschaft« sind sicher in einer Ehe unentbehrlich, aber ohne Liebe – schon der Apostel Paulus schrieb (im 1. Korintherbrief 13): »…und hätte der Liebe nicht…« – wäre das nur ein lahmes Beisammensein.
Mitteilung und Innerlichkeit, »Intimität«
anzugehören«, erläutert der Erzähler. Als sie schließlich, Wochen später, nach allem Jagen und Treiben schlicht nebeneinandersitzen (II,17), wird das als »reines Beisammensein« gepriesen. Es soll die »Nähe« pur sein; sie brauchen weder Wort noch Gebärde oder Berührung. Aber deswegen gönnen sie einander auch weder Wort noch Gebärde oder Berührung: Es ist ein völlig abstraktes Beieinander. Das Leben wird ihnen zum »Rätsel«, und wenn es anschließend heißt, sie könnten die Auflösung »nur miteinander« finden, ist es dafür zu spät, denn sie haben und finden einander nicht mehr. In der Linguistik wird ja das Ideal gegenseitiger Aufgeschlossenheit vielleicht nur deshalb so vollkommen gemalt, weil sich die Verfasser nicht auf die Hemmnisse gewöhnlicher, im Leben vorkommender Gesprächssituationen einlassen müssen.
Vorsätze, (noch) fern von ihrer Verwirklichung Mit den Situationen werden im Lauf der Handlung alle Beteiligten mehr oder minder geschickt (oder zaghaft, oder staunend) fertig. Indem aber der Erzähler (er ist es zumeist, aufdringlich oder en passant) sie auf eine Formel bringt, erhöht er ihr Gewicht. Einen Moment oder auch länger lässt er die gegebene Konstellation innehalten und das Außerordentliche, Staunenswerte an ihr hervortreten. Das Leben besteht aus erstaunlich fruchtbaren oder auch versäumten Situationen, die Menschen finden sich dahinein gestellt und können/dürfen/wollen schließlich nicht darüber hinausschauen. – Kleine sprachliche Zeichen verraten, wie Eduard mit der Sprache fertig wird oder gerade nicht ›fertig‹ wird: Gerade wo er auf Eile drängt, bei seinem Herzensanliegen, Ottilie für sich zu gewinnen, da verrät sein Ausdruck, dass er sich in der Sprache verheddert und nicht zur Wirklichkeit vorstößt. »Du bist die Meine!« dekretiert er (mit Ausrufungszeichen). »Ich habe dir’s schon oft gesagt und geschworen; wir wollen es nicht mehr sagen und schwören, nun soll es werden.« (Punkt danach). Dass etwas werden »soll«, ist die klassische Form eines Wunsches, und der lebt in Gedanken und Herzen. Auch in Worten kann er sich äußern, ist aber noch fern von seiner Realisierung. Ein halbes oder ganzes Jahr später ist er noch kei-
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nen Schritt weitergekommen. Seine strategische Planung entwickelt er dem Hauptmann gegenüber (fern von Ottilie): »Das alles war bei Eduarden so fest geworden, dass er keinen Tag länger anstehen mochte, der Ausführung näher zu treten« – man hört ihn in diesem Satz richtig zaudern (II,13). Von dem Hauptmann allerdings kann er in dieser Frage keine Hilfe erwarten, denn für den ist eine Scheidung ein »Geschäftsgang«, ziemlich unerfreulich, beschwerlich, »unschicklich« (II,12).
Töne und Untertöne des Gesprächs Der ganze Roman wird grundiert von bedrohlichen Untertönen, die vor allem das strukturbestimmende ›wissenschaftliche‹ Rundgespräch fast am Anfang (I,4) aufgeworfen hat. Eduard allerdings hat nicht nur eine Bedrohung (für seine ›alte‹ Ehe), sondern auch eine Verheißung herausgehört. Aber der Erzähler lässt nicht mir sich spaßen: Was den Liebevollen so entzückt, wird ihn am Ende ins Grab bringen. – Materialisiert wird die Untergründigkeit des Redeaustauschs dann durch einen geheimen Briefwechsel zwischen Eduard und Ottilie (I,13). Der Inhalt versteht sich von selbst, braucht gar nicht erst angeführt zu werden (»Ich liebe dich.« – »Ich würde es gern erwidern, aber erst müssen wir deine Frau fragen«). In den offiziellen, vorzeigbaren Umgang miteinander ist diese Geheimtuerei ausgesprochen schlecht integriert: Gleich das erste Zettelchen mit Ottilies Antwort fällt in die falschen Hände. Nur ein Zufall, die vorangegangene Angleichung von Ottilies Handschrift an die Eduards, bewahrt die beiden davor, dass ihr Techtelmechtel entdeckt wird. Dabei war aber die Tatsache, Eduards faktische Untreue, schon längere Zeit offenkundig, Eduard hat nie ein Hehl daraus gemacht. Drei Kapitel später, nach dem pompös ausgerichteten Geburtstag Ottilies, wird sie zum Gegenstand einer heftigen Kontroverse. – Einen doppelten Boden gewinnt auch die Korrespondenz des Hauptmanns (mit dem Grafen und womöglich noch weiteren Förderern, I,14). Der beigeschlossene zweite Brief soll »noch geheimgehalten« werden. Bald danach (I,16) wird das Geheimnis gelüftet (ob vom Hauptmann selbst, bleibt offen): ein Vorschlag zu einer »vorteilhaften
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Heirat«. Das Projekt zerschlägt sich aber, also kann auch Charlotte ihre momentane Irritation bald überwinden. – Charlotte spricht durchweg zu vernünftig, zu planmäßig, als dass sie Lücken für heimliche Untertöne ließe. Eduard allerdings argwöhnt (in dem großen Streitgespräch der Ehepartner, I,16), dass die »liebevolle Sprache« seiner Frau gespickt ist von Verstellung, von Ränken, die ihn von seinem »Glück« trennen wollen. – Die sexuellen Untertöne in manchen Vorstellungen und sogar Äußerungen Eduards (s.o.) dürften eher unbewusst sein, aber in so heiklen Beziehungen kommt es nicht in erster Linie auf die Bewusstheit an.12 – Besonders grausam können Untertöne sein, die der Sprecher gar nicht ahnt, die aber der Hörer, hier Ottilie, nicht überhören kann. Der Lord erzählt von anderen Gegenden so munter und ein wenig selbstzufrieden, wie er es sich durch seine Existenz, die eines Globetrotters, angewöhnt hat, aber sie kann gar nicht anders, als Wort für Wort auf die »kümmerliche« Lage ihres Geliebten zu beziehen. Der Lord ist stolz darauf, wie er sich überall durchgeschlagen hat,13 und sie ist tief bedrückt, ohne dass sie dem Abwesenden irgendwie helfen könnte – sie weiß ja nicht einmal, wo sie ihn in Gedanken suchen soll.
Rollenverdopplung, Rollentausch Als die Gesprächsatmosphäre zwischen Charlotte und Eduard noch frei von den kommenden Störungen ist, noch reden sie nur über die Möglichkeit einer Erweiterung ihrer Zweisamkeit (I,2), bringt Eduard Charlotte so »aus der Fassung«, dass sie ihm auf den Kopf zusagt, er wolle bewirken, dass sie »dem Liebhaber« zugestehen soll, was sie »dem Ehemann« versagen zu müssen glaubt. Das sagt sie ihrerseits »in der heitersten Laune«, und Goethe unterstreicht das, indem er ihr eine spitz-
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Gleich im ersten Gespräch sagt ihm Charlotte auf den Kopf zu, dass Bewusstsein eine »manchmal gefährliche Waffe« sei – gerade für den, der sie führt (und sich womöglich noch etwas darauf zugute tut wie gerade eben ihr Ehemann). Er gibt mit dem gleichen Stolz auch zu, dass er überall auf Kosten der Gastgeber gelebt hat.
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findige Zweiteilung auf die Zunge legt, die er Kleists Amphitryon entnommen hat.14 Entgegen ihrer Absicht erweist sich die Gegenüberstellung aber als bedrohliche Prognose, denn um das Kommen der beiden Dauergäste geht es gerade. Dass dann der »Liebhabe« Eduard sich von dem »Ehemann« trennt und von diesem immer weniger wissen will, kann ihr nicht recht sein. Charlotte hat sich diese Liebesnacht und Eduards auffällige Aufführung so eingeprägt, dass sie noch Wochen später in ihrem Brief an ihn, ehe er in den Krieg zieht, ihn erinnert: wie er die Gattin als ein »Liebender« besuchte, sie »als eine Geliebte, eine Braut in die Arme schloß« (I,18).
Differenz zwischen Absicht und Verlautbarung Die Sprache verrät, wie wenig die handelnden Figuren mit sich einig sind. Sie greifen zu Ausdrücken, zur Klarstellung von Verhältnissen, die sie ›in der Wirklichkeit‹ dann doch nicht wahrhaben wollen – oder sie denken nur stumm vor sich hin. Charlotte will, anders als das andere ›Paar‹, ihre heimliche Neigung zu dem Hauptmann unterdrücken, weil sie ganz richtig spürt, dass diese Neigung mit ihrer Vorstellung von einer ›richtigen‹ Ehe in Konflikt geraten könnte. Gerade im Schillern zwischen affiziert und verpönt verrät sich der tatsächliche Zustand ihres Gemüts. Sie hat es gehört, das Klopfen an der Tür, »sie wünschte, sie fürchtete es gehört zu haben«. »Ihr stand des Hauptmanns Gestalt vor der Tür« – dann ist es ihr Ehemann (I,11, s.o.).
Zuneigung, und ihre Abkühlung Das Gespräch verlangt die volle Zweiseitigkeit der Beteiligung, aber bei großer Lebhaftigkeit des Sprechers kann der Beitrag des Partners auch
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Diese intrikate Komödie hatte er wenige Monate zuvor zur Kenntnis genommen (um sie nämlich auf ihre Aufführungschancen auf dem Weimarer Hoftheater zu prüfen).
Mitteilung und Innerlichkeit, »Intimität«
überspielt oder ganz ersetzt werden. Umso mehr fällt auf, dass Anreden durchweg fehlen.15 Auch »Ja« und »Nein« ist selten: Was der eine gesagt hat, soll für beide gelten. Als sie einmal Gäste gehabt hatten und verabschiedet haben, merkt Eduard an seinem eigenen Verhalten und spricht es »mit Feuer und herzlicher Überzeugung« aus: »Man muss nur ein Wesen recht von Grund aus lieben, da kommen einem die übrigen alle liebenswürdig vor« (I,12). Die Töne und Untertöne des Gesprächs werden mit Sorgfalt, geradezu diplomatisch verzeichnet; auf sie kommt es stärker an als auf das, was mitgeteilt werden soll. Geradezu zeremoniell ist die Kommunikation zwischen den Eheleuten gestaltet, solange sie noch unter sich und weitgehend einig sind (I,1-2): »Meine Ansichten bin ich bereit, dir mitzuteilen« (Eduard). »Erlaube mir, dich aufzufordern« (Charlotte). »Nun danke ich dir, daß du mich freundlich angehört hast, jetzt sprich aber auch recht frei und umständlich und sage mir alles, was du zu sagen hast« (Eduard). »Wir tragen beiderseits dieselben Sorgen in einem treuen freundschaftlichen Herzen« (Charlotte). »Eduard versicherte seine Gattin auf die anmutigste Weise der lebhaftesten Dankbarkeit«. Später drückt er sich schon reservierter aus: »Eduard hatte durch Charlottens Boten […] freundlich und teilnehmend, aber doch eher gefaßt und ernst als zutraulich und liebevoll geantwortet« (II,3). Als Grund dieser Abkühlung, die dem Betroffenen nur langsam dämmert, notiert der Erzähler: »die Beschränkung, in der man (»man«!) ihn zu halten schien«: sie wurde ihm »immer unangenehmer« (I,13). – Charlottes Stellungnahmen zu den Vorgängen in der Welt draußen oder in der pädagogischen Provinz der »Pension« werden durchgängig sorgfältig verklausuliert wiedergegeben: »[…] dabei konnte sie sich eines Lächelns nicht enthalten, indem der Anteil des Lehrers herzlicher zu sein schien, als ihn die Einsicht in die Tugenden eines Zöglings hervorzubringen pflegt« (I,3). Wenn man geläufig sagt: »Der Ton macht die Musik«, so gilt bei Goethe auch, in diesem so sorgfältig gestalteten Ro-
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Sehr anders als in Goethes eigenem persönlichen Verkehr insbesondere mit den zahlreichen Frauen seines langen Lebens.
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man noch überzeugender als in anderen Werken:16 Erst durch den Ton können wir den gemeinten Sinn präzis erfassen.
Viel Annäherung, weniger »Du« Der Graf braucht in Erinnerung an den früheren Umgang einmal spontan die alte »Du«form gegenüber Eduard (I,11),17 der erwidert sie aber nicht. Ottilie redet, als sie drangeht, ihre Lebensaufgabe neu zu entwerfen (nach ihrem Unglück am See, II,14), ihre Tante und Ziehmutter spontan mit »du« an wie nie davor, nie danach. Eduard sagt mindestens von dem Zeitpunkt an, als er zu seiner Überraschung festgestellt hat„ dass Ottilie seine Handschrift schreibt, »du« zu ihr. Sie hält zunächst am »Sie« fest (II,13); ob sie in ihrem geheimen Briefwechsel mit Eduard auf seine Anredeform eingegangen ist, sollen wir nicht wissen: Geheim ist geheim. An ihrem Geburtstag (I,15) duzt sie ihn stumm, wenn man die »schüchterne« Anlehnung an ihn so deuten darf. Als die beiden nach Jahresfrist wieder zusammenkommen und beiderseits »wähnten« und »glaubten«, einander anzugehören (II,13),18 sagt sie selbstverständlich auch »du«. Es klingt aber ungewohnt und so, als sei sie mit sich selbst uneins: von »Entferne dich, Eduard« bis zu »ich beschwöre dich, Geliebter«. Den einzigen letzten Satz, mit dem sie ihm das Weiterleben zur Pflicht machen will (II,18), kann sie natürlich nur per »du« ausdrücken. Charlotte und der Hauptmann bleiben beim »Sie«. Die einzige Intimität verheißende Situation zwischen ihnen, mit immerhin einem »lebhaften« Kuss seinerseits (I,12, s. o.), bleibt (in Charlottes Erinnerung) so dezent, ist so diplomatisch abgefasst, dass ein »Du« zwischen ihnen völlig deplatziert wäre. Wenn dagegen zwei schon seit langem Duzfreunde sind wie Eduard und der Hauptmann, bildet es doch noch
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Außer manchen Partien in Faust I und Faust II. Der Editor des Bandes in der W.A. sieht hier einen der (nicht seltenen) Fälle, in denen Goethe seinen eigenen Text nachlässig redigiert hat. Hier hat Ottilie sichtlich ihren Entschluss zum Verzicht vergessen – sie reagiert impulsiv auf die Drastik seines Auftauchens.
Mitteilung und Innerlichkeit, »Intimität«
eine besondere Stufe, dass der eine dem anderen »sein Herz ausschüttet« (vor allem II,12). Auf diese Weise erfährt es auch, in eben dieser Beleuchtung, Eduards Ehefrau, ohne dass er es ihr eigens erklären müsste.
»Verzeihung!« Ein strapaziöses Hin und Her von Misshelligkeiten kann Verzeihung verlangen und erreichen. Im Verhältnis zwischen dem Architekten und Ottilie steht ihre Verzeihung unauflöslich zwischen ihnen: Sie hatte ihm »schon lange« verziehen, offenbar des öfteren und nachdrücklich.19 Daraufhin nimmt er sich den faktisch schon aufgelösten »Vorwurf« so zu Herzen, dass er ebenso oft, ebenso nachdrücklich versichert, er strenge sich doch immer gern für Freunde an. Sie entnimmt dem, dass sie »sein zartes Gemüt« verletzt habe, und fühlt sich nun auf Dauer als »seine Schuldnerin«. Verkompliziert, ja vollends intrikat gemacht wird dieses Wechselspiel von Schon-verziehen-Haben und Es-nicht-glauben-Können durch das persönliche Verhältnis, in dem die beiden zueinander stehen. Der Architekt hat eine tiefe Neigung zu Ottilie gefasst, wird aber immer wieder gewahr, dass sie, obgleich sie ihn gern sieht und gern mit ihm arbeitet, innerlich anderweitig gebunden ist, und zwar völlig ausfüllend. Er hat diese Abfuhr, die nie ausgesprochen zu werden braucht, schon begriffen und verarbeitet. Aber seine Zuneigung färbt doch jedes Wort, das er mit Ottilie wechselt. Lange und immer wieder auf eine ›eigentlich‹ schon genug besprochene (›erledigte‹) Verzeihung zurückzukommen bietet immerhin die Gelegenheit, der abweisenden Angebeteten ›nahe‹ zu sein und zu bleiben. – Charlotte dagegen, die alles, also auch Entschuldigungen, mit Worten (meistens auch nur mit Worten) zu richten weiß, wird bei diesem mühseligen Geschäft regelrecht steif und förmlich. Zu 19
Es handelt sich um die »Unfreundlichkeit«, dass er Lucianes Bitte (der sich Ottilie angeschlossen hatte), seine Kunst-Sammlungen vorzuzeigen, nicht hatte nachkommen mögen. (Er hatte Gründe).
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Eduard, dem sie wieder mal ins Buch geschaut hat: »Du wirst mir meinen Fehler gewiß verzeihen, wenn ich bekenne [!], was mir diesen Augenblick begegnet ist« (sie musste beim Wort »Verwandtschaften« an ein paar Vettern denken, die …, I,4).
Geständnisse Anfangs wird nur ein kleines Versäumnis im Gesprächverlauf unter das feierliche Wort »Geständnis« gerückt: Charlotte hat mit dem Gedanken gespielt, auch ihre Nichte Ottilie kommen zu lassen, und hat das ihrem Eduard noch nicht unterbreitet (I,2). Gegen Ende des Romans aber häufen sich die Geständnisse. als ob jetzt ›die Stunde der Wahrheit‹ geschlagen hätte, und zwar für fast alle Mitspieler. Selbst in Kleinigkeiten beeifern sie sich, aufrichtig zu werden (nicht nur zu erscheinen). Schon bald (II,2) hatte der Architekt »gestanden«, dass er alte Gräber aufgebrochen hat, um »Waffen und alte Gerätschaften« herauszuholen. In der Rolle der Himmelskönigin (II,6) fragt sich Ottilie, ob sie dem Fremden, in dem sie richtig den Gehülfen aus ihrer Pension erkannt hat, alles »bekennen und gestehen« »dürfe«. Bald nach dem verunglückten Ausflug bis zum Wirtshaus stellt Ottilie Charlotte dar (schriftlich, II,17), was darin abgelaufen ist und was sie gerade noch abbiegen konnte. Nanny gesteht ihre Mitwirkung an der Täuschung über Ottilies Essen20 ; der Kammerdiener gesteht den Betrug, dass er statt des Glases, an dem der Herr so hängt, ein ›falsches‹ untergeschoben hat. Nur Eduard hält sich weiterhin am liebsten an das, was er hofft und wünscht, ohne an den Trug darin mehr als eine konziliante Floskel zu verschwenden.
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Mit der unwiderstehlichen Begründung: »weil es ihr gar so wohl geschmeckt« (II,18).
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Klatsch Klatsch darf im Ensemble der wohlwollenden bis boshaften Kommunikations›leistungen‹ nicht fehlen. Der Autor gibt sich keine besondere Eile, dieses doch eher fragwürdige Phänomen darzustellen, aber er kann es seinen Figuren ebenso wenig wie seinen Lesern erlassen. Wenn der Hauptmann hinter Eduards Rücken und anschließend Ottilie hinter dem Rücken des Hauptmanns eine kleine, von dem Betroffenen aber als saftig empfundene Bosheit kolportiert (I,13, s.o.), bildet das eine Art Grundmuster von Klatsch überhaupt, und zwar noch strikt personenbezogen. Später, als Luciane die Nachbarschaft in einem beträchtlichen Umkreis unsicher macht (II,5), hat sie ein richtiges Publikum: den ihr überallhin folgenden »Hofstaat«, vor dem ihre »spöttischen Bemerkungen« erst ihren eigentlichen Stachel gewinnen. Andere, Personen wie Sachen und Verhältnisse, ›durch den Kakao zu ziehen‹ macht erst richtig Spaß, wenn eine diffuse Menge von Zuhörern sich mit daran ergötzt.21 Eine ganze Runde klatschsüchtiger Zeitgenossen weiß Mittler zu bedienen (II,8, s.o.), und mit Hilfe seiner »entschiedenen Zudringlichkeit« nimmt er es mit ihnen auf.
»Scherze« und ein »Verbrechen« Nur einmal (I,11) wird die Ehe zwischen Eduard und Charlotte ›vollzogen‹, und das in aller Drastik, die Kant in seiner Metaphysik der Sitten vorgesehen hat.22 Beide Partner machen nur eben »Gebrauch« von den »Geschlechtseigentümlichkeiten« des anderen, während ihre Sinne, ihre Gefühle, ihre ›Herzen‹ um ihre Wunschpartner kreisen, die sie 21
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Der Erzähler gibt (u.a.) ein besonders süffisantes Beispiel: »Alte Gatten sollten sich nur schnell begraben lassen, damit doch wieder einmal jemand im Hause zum Lachen käme«. Der Nachsatz lässt die Bosheit der jüngeren Generation voll bestehen, fügt nur noch eine Pointe hinzu, die die Habgier zum treibenden Motiv erklärt: »da ihnen keine Noterben gegeben waren«. Bei Kant (in seiner Metaphysik der Sitten) ist diese Manier sogar die einzige, die vom Sittengesetz geboten ist.
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mittels ihrer Phantasie in dieses unschuldige Ehebett projizieren. Eduard, gut eingestimmt durch den Gang mit dem ganz legeren Grafen (den er gerade zu »seiner« Baronesse begleitet hat), begrüßt seine Frau gleich mit einem Scherz, und mit »Scherzen« verbringen sie den Rest der Nacht. Scherze, sagt der gestrenge Erzähler, »die umso freier waren, als das Herz leider keinen Anteil daran nahm«. Diese innere Verlogenheit ist schlimmer als alles, was die beiden einander zufügen. Am Morgen macht die aufgehende Sonne dem Ehemann klar, dass er »ein Verbrechen« begangen hat. Diesmal ist er heftiger sich selbst gegenüber als seine Frau. Sie findet es nur »seltsam«, dass er nicht mehr neben ihr liegt. Aber als die Sonne ganz aufgegangen ist, tritt sie ebenso »beschämt und reuig« dem Hauptmann gegenüber wie Eduard seiner Ottilie – statt dass die beiden sich voreinander entschuldigen (soweit sich so etwas überhaupt ›entschuldigen‹ lässt). Manchmal mag man sich auch fragen, worüber die vier aufeinander eingespielten Personen, und schließlich die beiden übrig gebliebenen Frauen, zu palavern haben, aber sie finden sichtlich immer noch etwas. »Übrigens waren diese Tage zwar nicht reich an Begebenheiten, doch voller Anlässe zu ernsthafter Unterhaltung« (II,2) – ja worüber denn, wenn nichts passiert? Da war es doch besser, als Charlotte schwieg und auch »das schweigende Kind gewähren« ließ (II,15). »Das Beste wird nicht deutlich durch Worte«, hieß es schon in Wilhelm Meisters »Lehrbrief«. Eine wohlgesetzte »kurze Rede«, ausgerechnet zu Ottilies Geburtstag, »verscholl zum größten Teil im Winde«, also braucht sie der Erzähler auch nicht wiederzugeben (I,15).
Schriftliche, aber versteckte Angebote zur Kommunikation Manchmal drängt es einzelne Teilnehmer der kleinen Runde, sich mit anderen auszutauschen, z.B. über ihre Erinnerungen aneinander. Eduard sucht den Hauptmann direkt anzusprechen auf einen Vorfall der Rettung aus dem Wasser, aber dieser schweigt und sucht dieser »traurigen Erinnerung auszuweichen« (I,4). Ottilies Eintragungen in ihr »Tagebuch« dagegen ähneln in manchen Beziehungen dem lebendigen Ge-
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spräch. Sie werden zwar nicht gesprochen, ja sogar geheimgehalten, also kann auch mit ihnen oder über sie kein Austausch mit den Mitbewohnern zustande kommen. Aber sie sind in sich stark dialogisch strukturiert und kreisen um viele Dialogsituationen. Sie bringen zur Anschauung und zur Einsicht, was zu einem (für Ottilie) ›richtigen‹ Gespräch gehören würde. Einfühlung in andere ist die wesentliche Gemütshaltung, mit der Ottilie sich zu ihren Mitmenschen in ein Verhältnis setzt. Den Künstler23 muss sie, ja müsste jeder, der sich dessen Situation klarmacht, bedauern, weil er sein Werk nur abzuliefern hat (II,3). Gleich greift sie zu einem belebenden Vergleich: »Seine Werke verlassen ihn, so wie die Vögel das Nest, worin sie ausgebrütet worden«. Sie verzeichnet aber auch, mit Freude, den Fortschritt der Kunst, durch den der Künstler nun nicht mehr für »königliche Säle«, für »Tempel« oder die »Paläste« der Reichen zu arbeiten hat, sondern überwiegend (»fast allein«) für die Öffentlichkeit, wodurch die Werke »allen und also auch dem Künstler« gehören. Ihr Leben nach dem Tod (sic!) stellt sie sich so vor, dass sie wartet (»lange, lange«), bis »die Freunde« kommen, dass sie dann vor ihnen aufsteht und »mit freundlichem Neigen« ihnen ihren Platz anweist (II,3). Selbst einsame Menschen24 kommen nicht umhin, am Austausch mit der Welt teilzunehmen (II,4).25 Mitgefühl äußert sie möglichst nahe an den betroffenen Mitmenschen. Aus ihrer ältesten Vorlage26 entnimmt sie einen Spruch, der besagt, dass »uns« bange wird, wenn in der Gesellschaft »etwas Ungeschicktes begegnet«, zumal wenn wir mit Mitmenschen zu tun haben, die sich durch »ein zartes Gefühl für das
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Da sie in dieser Phase vor allem mit dem Architekten zu tun hat, ist ihr zentrales Beispiel der »Baukünstler«. Durch ein »Man« verknüpft sie sich mit ihnen, ohne sich doch ganz mit ihnen zu identifizieren. Sie schreibt hier: »Schuldner oder (…) Gläubiger«, aber da es Ottilie ist, die es gedacht und geschrieben hat, können wir sicher sein, dass ein emotionaler, vielleicht auch geistiger Austausch mit der Welt gemeint ist und kein finanzieller. Aus den Vasconiana, einer französischen Spruchsammlung von 1730. Aus dieser Quelle stammen weitere 20 Aphorismen in »Ottiliens Tagebuch«, von den hier zitierten nur noch eine.
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Schickliche« auszeichnen (II,5). Sie macht sich diesen Spruch vollends zu eigen, indem sie hinzufügt, dass sie immer »für und mit« Charlotte fühlt, wenn jemand mit dem Stuhl schaukelt, weil sie das »in den Tod nicht leiden kann«. Luciane nennt sie nicht, aber sie erbost sich heftig gegen das »laute, geräuschvolle Leben«, gegen »Karikaturen und Zerrbilder«, gegen den Umgang mit (oder schon die Darstellung von) »Affen, Papageien und Mohren« (sic!), schließlich noch gegen »balsamierte (…) Tier- und Pflanzengötzen« (II,7). Auch ihre Überlegungen, dass man Nachbarn möglichst nicht zu sich einladen, sondern bei ihnen besuchen soll (II,5), sind sichtlich eine Reaktion auf Lucianes wildes Treiben auf Eduards/Charlottes Gut wie auf einigen benachbarten Gütern. Aus der gerade angeführten Quelle entnimmt sie: »Die angenehmsten Gesellschaften sind die, in welchen eine heitere Ehrerbietung der Glieder gegeneinander obwaltet« (II,4). Dagegen herrscht in gewöhnlichen Gesprächen nur das »Mißverständnis«. Selbst Vorwürfe sind nutzlos (II,4). Wieder und wieder kommt sie auf Eduard zu sprechen (seinen Namen nennt sie auch nicht), und in ihrem »Tagebuch« spricht/schreibt sie rückhaltloser von sich in Bezug auf ihn als in der Handlung des Romans. »Die Leidenschaft erhöht und mildert sich durchs Bekennen« (II,4).27 »Freiwillige Abhängigkeit« scheint ihr der schönste Zustand, »und wie wäre der möglich ohne Liebe« (II,5). »Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe« (II,5).28 Noch in der Schwundstufe ihrer Beziehung zu Eduard: nachdem er sie (fast ein Jahr) verlassen hat, kreisen ihre Gedanken um diese ihre Liebe. Ein »schlechtes (= schlichtes) Schubladenstück« findet sie jetzt darin (II,9). Auch ihr sonstiges Leben, ihr geistiges wie ihr moralisches Leben, verödet. Was »Gutes und Bedeutendes« in einem Lebenslauf vorkommt, 27
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»Erhöhen und mildern«: Auf den ersten Blick möchte man ein Auf und Ab in diesem Ausdruck vermuten; das liefe auf ein ›Nullsummenspiel‹ hinaus. Aber wie Ottilie denkt und fühlt, ist es wahrscheinlicher, dass sie meint: Die Leidenschaft nimmt zu, wenn der/die Liebende sie »bekennt«, und zugleich schmerzt sie weniger, wird also »milder«. In ihrer Liebegeschichte mit Eduard hat Ottilie ihm nie »große Vorzüge« angedichtet, aber in diesen ihren rückhaltloseren Aufschwüngen findet sie es mal an der Zeit.
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hängt nur kümmerlich zusammen. Es ist ein fader Ausklang, den sie ihren Tagebuchnotizen gibt. Dagegen hilft nur, ihr ganzes »Tagebuch« von Neuem aufzuschlagen. Da Eduard so lange weg ist, macht sich Ottilie Gedanken, wie sie seine Abwesenheit überbrücken kann. Von allen »Denkmalen und Merkzeichen«, die uns »Entfernte und (auch davor schreckt sie nicht zurück) Abgeschiedene« näher bringen, ist »das Bild« das bedeutendste. Mit ihm, also mit dem dargestellten Abwesenden, kann man sich gewissermaßen »unterhalten«. »Man fühlt auf eine angenehme Weise, daß man zu zweien ist und doch nicht auseinander kann« (II,2). Natürlich empfindet er nichts davon, er bleibt ein Bild, was sonst, aber eins, das zu dem, der es ansieht, ›spricht‹. Sehr genügsam, aber was bleibt ihr anderes übrig. Sie malt sich auch aus, »aus den Briefen unserer Freunde« herauszuziehen und aufzuheben, was sie daran »reizend« oder »geistreich« findet (II,9).29 Der »schönste unmittelbarste Lebenshauch« bliebe so erhalten. Am Rande lohnt sich noch zu verzeichnen, dass Ottilies pädagogischer Eifer einmal mit hineinspielt. Der pedantischen Auflistung »untergeordneter Naturbildungen« bis hinab auf ihre Namen zieht sie den Lehrer vor, der es versteht, das »Gefühl« zu wecken: an einer guten Tat oder einem guten Gedicht (II,7). Selbst in Bäumen, Stauden und Gräsern findet sie »unsre echten Kompatrioten«. Vollends aus der Nachtigall macht sie nicht nur eine Meisterin der Gesangskunst, sondern auch eine Lehrerin, die »jedem Gefiederten« andeutet, »was eigentlich singen heiße« (II,9).
Ironische Unterfütterung des ernsten Romans Gegen die üppige, verspielte, »bodenlose« Ironie der Romantiker hat sich Goethe wiederholt ausgesprochen. Mit einer durchgehenden fei-
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Zu ihrem Leidwesen hat Eduard während seiner ganzen Abwesenheit ihr nie geschrieben. Die vorher mit ihm getauschten »Zettelchen« waren wohl nicht geeignet, etwas »Geistreiches« zu transportieren; selbst ob etwas »Originelles«, kann bezweifelt werden.
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nen Ironie aber würzt er seinen Roman und macht ihn zusätzlich spannend. Er erweckt Sympathie mit seinen Figuren, vor allem den vier, die im Mittelpunkt der Handlung stehen, und er stellt diese Sympathie in Frage (außer die für Ottilie). Er schafft eine gewisse Nähe, hütet sich aber vor völliger Vereinnahmung, hält durchweg eine gewisse Distanz ein, nach den einzelnen Figuren gestaffelt. Die Handlungszüge und schon die Ausdrücke dafür bekommen einen doppelten Boden: Sie sind so gemeint und sind zugleich nicht, oder nicht ganz, nicht direkt so gemeint. Wolfgang Binder sieht vom Romananfang an alle positiven sprachlichen Setzungen immer wieder ironisch unterspült. Es gehört Freiheit dazu, über das Personal eines eigenen Romans ironisch ›herzuziehen‹, und Goethe nimmt sich diese Freiheit oder vielmehr erteilt sie dem Erzähler seines Romans. Der Erzähler spielt sie aus, gut dosiert, vor allem indem er auf der Differenz besteht zwischen dem, was er von den einzelnen Mitspielern weiß, und dem, was sie von sich selbst wissen oder zu wissen vermeinen. Nathalie Sarrautes »Zeitalter des Misstrauens« ist zwar noch nicht angebrochen.30 Aber die Figuren in ihren Interaktionen bewegen sich immerhin auf eine tiefgreifende Verunsicherung zu. Der Autor verständigt sich so mit seinem Lesepublikum auf Kosten der Romanfiguren. Indem er ihnen aber nur zarte Irrtümer, gut verständliche Hartnäckigkeit, naheliegende Einbildungen nachweist, schont er sie auch. Ein System und zugleich kein System zu haben, wie es Friedrich Schlegel in einem gewagten AthenäumsFragment vorschlägt,31 wäre nichts für ihn. Lieber weist er, nicht erst seit seiner Farbenlehre, jedes System zurück. Martin Kessel hätte er sicher zugestimmt: »Alle Systeme sind Käseglocken. Früher oder später beginnt es darunter von Maden zu wimmeln und sichtbar zu laufen«.32 »Und so widersprechend sind wir!« notiert Ottilie in ihr »Tagebuch« (II,2). Das klingt nach Kritik (am selbstwidersprüchlichen Verhalten
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L’ère du soupçon, Titel ihrer Essaysammlung von 1956. Friedrich Schlegel, Ideen, in: Athenäum 1800, S. 15. M. Kessel, Werke Bd. 2, S. 204. Zitiert in: Klaus von Welser, Der Aphorismus. Die Sprache der impliziten Argumentation, Diss. FU Berlin 1983, S. 9.
Mitteilung und Innerlichkeit, »Intimität«
des Architekten), enthält aber auch Selbstkritik, da sie sich selbst einbezieht und auf alle Menschen verallgemeinert. Kritik ist aber nur der Ausgangspunkt: Der Satz spricht eine überraschende Erkenntnis aus, unterstrichen durch das in diesen Notizen höchst seltene Ausrufungszeichen. Was Ottilie da aus dem Moment heraus entdeckt hat, ist eine (für sie) erstaunliche Feststellung über die Unfestgelegtheit und Unzuverlässigkeit des Menschen. Dass die Menschen, sie eingeschlossen, in ihrem Handeln nicht mit ihren Grundsätzen übereinstimmen, fällt ihr nicht nur auf, es verdient in ihrem Buch der Einsichten und Überraschungen einen Ehrenplatz. Gleichbleibendes Merkmal des Menschen: Er mag und kann immer auch anders. Gewisse Züge von Pedanterie, jedoch von verzeihlicher Pedanterie, werden deshalb, z.B. an dem Gehülfen, ganz andere wieder an dem Architekten und am Begleiter des Lords, ausgestellt. Der ironische Duktus des Textes macht aus den Wahlverwandtschaften ein funkelndes, manchmal geradezu sprühendes Textgebilde, ein Kunstwerk seiner eigenen, unnachahmlichen Art.
›Sprache‹ der Gesten Seitdem Ottilie, der Leser hat verstanden warum, aus dem Gespräch aussteigt und sich nur noch in der ›Sprache‹ der Gesten äußert, übt sie sich darin, in dieser Sprache der Stummheit doch genauso viel zu ›sagen‹ wie zuvor in ihren spärlichen, nur sporadisch beredten Äußerungen. Die besonders akzentuierte Geste, mit der sie etwas ablehnt, wird geradezu hörbar gemacht durch ›sprechende‹, genau aufeinander abgestimmte Bewegungen mit den Händen. Der Gehülfe hatte diese Geste, für den Notfall, in seinem Ankündigungsbrief beschrieben, und bis aufs Wort genauso ›formuliert‹ sie ihre Absage an Eduard. Hier, auf dem ›unpassenden‹ Boden des Gasthauses, beantwortet sie auch seine sanfte Frage, »ob sie ihm angehören wolle«, mit einer eigentlich gebräuchlichen Geste, die sie aber ganz ihrer inneren Gestimmtheit anpasst: »Wie lieblich bewegt sie, mit niedergeschlagenen Augen, ihr Haupt zu einem sanften Nein«. Wie bei vielen Gesten kommt es weniger auf das an, was sie hineinlegt, als auf das, was der Partner ›herausliest‹. Die Verschlie-
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ßung ihrer Person (ihres ›Inneren‹) macht sie mit der einen wie der anderen Geste unverkennbar – hier begreift auch Eduard, dass er diese Grenze nicht überschreiten darf. Im übrigen sind Gesten aller Beteiligten33 sparsam, aber je für sich bezeichnend über den Roman verteilt, von der unwillkürlichen Bewegung, mit der Eduard sich an den Kopf fasst (I,1, s.o.) über Ottilies Niederfallen vor Charlotte (I,6), über die vielen Tränen aller ineinander Verstrickten (s.u.) bis zu Ottilies Versuch, die Hände von Charlotte und Eduard wieder zusammenzufügen, und zwar mit »Eifer und Gewalt« (II,17),34 womit sie ihren Vorsatz zu verzichten unwiderruflich zu machen sucht. Kurz vor ihrem Tod drückt sie ohne Worte, also betont gestisch den um sie Versammelten (hier einmal ohne Eduard) noch einmal »die zarteste Anhänglichkeit« aus (II,18, s.o.). Mit ihrem Schweigen wie mit ihren sorgfältig gewählten Gesten trägt sie zur ernsthaften, problembewussten Behandlung der Frage(n) bei, die Eduard mit dem gleichen Ernst aufgeworfen hat.35 Ottilie braucht diese ›Sprache‹ der Gesten, denn sie fühlt sich den redegewandten gebildeten Partnern unterlegen.36 Manchmal fällt es ihr nicht leicht, aus den vielen gesprochenen Worten den Gesprächsfaden und den gemeinten Sinn herauszuhören. In ihrem »Tagebuch« verzeichnet sie einiges über Missverständnisse/über die Rückgabe einer falsch verstandenen Rede/eine Rede ohne Schmeichelei, die dann nur »widerwillig« gehört wird/ein »schlechtes Gespräch« aus Widersprechen und Schmeichelei.37 Sie hat anscheinend ein scharfes 33 34
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Wieder ohne den Hauptmann, dagegen am häufigsten, mit besonderer Intensität von Ottilie. Laut Esther Schelling-Schär (S. 138) muss diese Geste Goethe großen Eindruck gemacht haben. Er hat sie schon in seinem Jugenddrama Stella an einer entscheidenden Stelle gebraucht und kommt in den Lehrjahren wieder darauf zurück: Die »schöne Gräfin« ist es, die die Hände des prädestinierten Paars Wilhelm und Nathalie zusammendrückt. Laut Hans Lipps gibt es »nur wenige Gebärden, in die […] unsere Affekte ausschwingen«, H. Lipps, Die Verbindlichkeit der Sprache, 1944, S. 120. Nur einmal (II,15) hat sie sich auch gedanklich und stilistisch auf die ›Höhe‹ ihrer Gastgeberin Charlotte erhoben. II,4 – nicht zufällig in das Kapitel eingeordnet, in dem die Invasion der Cousine Luciane mit ihrem Tross begonnen hat.
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Bewusstsein von dem, was zu einem ›richtigen‹ Gespräch gehören würde. Aber sie fühlt sich zu schwach, nur geduldet in dieser Runde, als dass sie ihre zutreffenden Einsichten auch im Gespräch mit den andern durchsetzen könnte.
Der Erzähler hat auch ein Wörtchen mitzureden Der Erzähler ist die führende und dirigierende Instanz, für die Handlungen wie für die Reden seiner Figuren. Er schreibt in den Roman hinein, wie ein Sprecher etwas gemeint hat, und nicht selten, was die Leser davon halten sollen. Er hat schon die Bezeichnungen ausgesucht, mit denen die Personen einander beglücken oder einander zusetzen (in direkter Rede), und er bringt Zustimmung und Zweifel, Bewunderung oder Verurteilung zum Ausdruck, indem er ihre Äußerungen indirekt wiedergibt. Er kann sich regelrecht verstecken hinter der Art, wie etwa Ottilie oder Nanny ihre Worte setzen, er kann aber auch deutlich seinen Unwillen äußern, wenn er den Vielredner Mittler den Mund aufmachen lässt. Wie Goethe den Erzähler dieses Romans Regie führen lässt, kann man im Einzelnen wie im Großen-Ganzen verfolgen. Ein wenig verraten schon die Redeeinleitungen, die üppig variiert werden, wie die Sprecher zueinander stehen. Lassen wir die häufigsten, gewissermaßen ›banalen‹ beiseite, also »sagen« (überaus häufig) und »sprechen« sowie »bemerken«, »fragen« und »erwidern« (»antworten«), »(aus-)rufen«, »einfallen« und »fortfahren«. Etwa ein Dutzend mal ist auch die Redeeinleitung ausgelassen: Wer spricht, ergibt sich aus dem Zusammenhang. Der Erzähler verfügt über weitere etwa hundert unterschiedliche Wendungen,38 wie seine handelnden Personen sich zu Wort melden. Darunter sind geläufige wie »versichern«, »bitten« (auch »verlangen«, »zureden«), »merken lassen«; aparte wie »ermuntern«, »man hat geklagt«, »es hieß«, »hinschweifend über« (zu Be38
Schlick (S. 262) hat 91 verschiedene Einleitungsfloskeln gezählt. Dass er hinzufügt: »und noch eine Menge mehr«, kommt mir allerdings als eine Übertreibung vor.
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ginn des ersten Besuchs in I,10, als der Graf und seine Baronesse gekommen waren), ausgefallene wie »gegenscheltend« (der Bettler in I,6), »zuflüstern« (»der Geist« zu Ottilie, I,13), »sondieren«, »lispeln« (ausgerechnet der Hauptmann, II,14) und noch eine Reihe versichernde und skeptische, auffordernde, gewähren lassende usw. Der Erzähler setzt offensichtlich mit Lust die Fülle von immer neu variierten Einleitungsfloskeln ein. Wenn aber das Gespräch intensiv wird oder ›hart auf hart kommt‹, kann er auch stereotyp die gleiche Vokabel wiederholen oder zwei bis vier im Wechsel gebrauchen. Die häufigste (nach der blassen Wendung »sagte«) ist: »versetzte«.39 Man kann sich leicht ausmalen, welcher Ton des Widerspruchs, manchmal auch des Streits darin anklingen soll. Da geht es um Ablehnung, um Zweifel und Infragestellung, um Einwände und halbe Einwände; da wird eine Gegenposition aufrechterhalten und entschuldigend oder hartnäckig ins Feld geführt: ›Eigentlich nicht, jedoch…‹. ›Es will mir nicht in den Kopf‹, ›Ich hab mich bisher an die Gegenmeinung gewöhnt‹. Unglaube, Staunen, Bedenken dominieren das Gespräch, auch leiser Spott. Manchmal ist der Partner nur ›pikiert‹ und sagt es. Der angesprochene Partner besteht auf seiner Meinung und führt womöglich den gegenwärtigen Zustand dafür an. Selbstverständlichkeiten (für den einen Partner) werden so vorgebracht, als müssten sie dem andern genauso selbstverständlich einleuchten. Auch die Vertröstung auf später ist eine beliebte Figur des Nichteinverstandenseins. Und das alles kann beiläufig ausgespielt oder kann zur Frage des Prinzips erhoben, mit Protest vertreten werden: aus Gründen der Redlichkeit, der Moral, der Weltkenntnis, der Philosophie, vielleicht gar der Logik (obgleich Goethe kein Freund der abgetrennten Disziplin »Logik« war). Auch Ernst gegen Leichtfertigkeit ist eine beliebte Konfiguration. Merkwürdig ist aber:40 In der Hälfte der Fälle41
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Im ganzen Roman 112mal. Das Kaleidoskop der Einstellungen zum Gespräch soll deshalb stellvertretend an dieser einen Wendung aufgeblättert werden. Eine historische Differenz zwischen Goethes Sprachgebrauch und dem heutigen. An 65 von den gezählten 112 Stellen.
Mitteilung und Innerlichkeit, »Intimität«
drückt dieses »versetzte« gar keinen Widerspruch aus, sondern Zustimmung (Einstimmung) und Einverständnis. Der Antwortende gehorcht mit seiner Antwort (›Ja, gern‹), er folgt selbstverständlich der Aufforderung. Er erklärt, was der Partner ihn gefragt hat, und bittet seinerseits um (weitere) Erläuterungen. Er billigt ausdrücklich, was der andere gesagt/angeregt/vorgeschlagen hat; er sucht es mit seiner Antwort zum gemeinsamen Ziel zu erheben. Die Erinnerung wie die nächstbevorstehende Zukunft werden im Gleichklang der gemeinsamen Interessen herangezogen. Dass die beiden trotzdem zwei sind und nicht von vornherein der gleichen Meinung, verrät sich z.B. an Plädoyers für eine gütliche Einigung, am Versuch, den Partner für die eigene Meinung zu vereinnahmen, und an allerlei Mutwill außer der puren Bereitwilligkeit. Die niedrigste Stufe des Einverständnisses ist, dass der Angesprochene ›sich damit abfindet‹.
Die Rede wörtlich und Rede in etwa (»direkte« und »indirekte Rede«) Direkte Rede geht häufig in indirekte oder auch in Zusammenfassungen über und umgekehrt. Wörtliche Rede kommt ziemlich genau doppelt so häufig vor wie indirekt wiedergegebene.42 Für die erzählenden Partien nimmt das dramatisierende Präsens im II. Teil, und da wieder in dessen zweitem Teil, stark zu.43 Das allgemeine Präsens: für Feststellungen über die menschlichen Vermögen und ihr Verhältnis zueinander, über das behagliche (adlige) Leben und das Leben im Allgemeinen, taucht überhaupt erst im II. Teil auf (nur einmal schon im I.). Ein gutes Beispiel für die Lebhaftigkeit dieses Wechsels bietet der erste Besuch des Grafen und der Baronesse (I,10). Hier sind die Redenotierungen zwischen direkt und indirekt nahezu ausgewogen44 und der Wechsel zwischen beiden Notierungsarten sehr signifikant: eine allgemeine
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Im ganzen Roman: 370 : 182. Im Verhältnis von 50 : 16. Nämlich 26: 20.
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Charakterisierung der Vorlieben der Gesprächspartner, ein Ausblick auf die geradezu bombastischen Gesprächsinhalte: »über hohe und mittlere Weltverhältnisse«, und auf die Art der Behandlung, nämlich darüber »hinschweifend«. Zur Wiedergabe dessen bietet sich am überzeugendsten die indirekte Rede an. Daraus ›kristallisiert‹ sich dann ein Thema heraus, und zwar, wen könnte es wundern: Eheverhältnisse aller Art. Charlotte spricht einen ›Fall‹ geradewegs an, die schwankende oder schon zerbrochene Ehe einer Freundin, also in direkter Rede. In der geht es die nächsten vier längeren Repliken weiter. Der Graf schafft erst einmal Raum für das Kommende, indem er etwas distanziert, eher amüsiert als indigniert die gängige Vorstellung zurechtrückt: Mit der Eheschließung ist nichts abgeschlossen (»Vorhang zu«), sondern in den Kulissen wird »immer fortgespielt« – vermutlich will er sagen: Dann geht es erst richtig los. Danach kann er auf sein heimliches Ziel zusteuern: den eigentlich skandalösen, von ihm aber vor allem witzig gemeinten Vorschlag eines Freundes (so sagt er jedenfalls): heiraten immer nur auf fünf Jahre, dann prüfen, ob es sich weiterhin lohnen würde – also doch mit Verlängerungsmöglichkeit. Diesen Vorschlag gibt er zunächst in indirekter Rede wieder, sowie er sich aber dafür erwärmt und den angeblichen Freund langsam in Fahrt kommen sieht oder hört, billigt er ihm ebenfalls direkte Rede zu und macht sich somit zum Sprachrohr dieser (angeblich) humanen und glücklichen Lösung. »So artig und lustig dies klang«, das verlangt nun indirekte Rede, um die Wirkung auf die Hörerin (Charlotte) und auf die nicht so erwünschte Hörerin (Ottilie) zu erwägen. Charlottes Interesse »das Gespräch beenden« verlangt ebenfalls indirekte Rede.45 Der Graf spricht also weiter, und daran ist zunächst bemerkenswert, dass er sich so gar nicht unterbrechen lässt, ergo indirekte Rede. Sowie aber sein Redeinhalt vordringlich wird: zweiter Vorschlag jenes Freundes, gebraucht er wieder direkte Rede, diesmal aber nur für sich, nicht für den Freund, von dem er spricht. Der zweite Vorschlag (ein weiteres »neues Gesetz«) soll offenbar mit 45
So erfahren wir, dass sie an sich »gewandt« ist zu derlei Manövern, dass es ihr hier nur nicht glücken will, und zwar weil Ottilie, um die es ihr vor allem geht, unablenkbar am Tisch sitzen bleibt.
Mitteilung und Innerlichkeit, »Intimität«
dem ersten ein wenig versöhnen: Wenn welche zum dritten Mal geheiratet haben, soll das für dauernd gelten (»unwiderruflich«). Die Anwendung dieses Vorschlags wird nun wieder lebhaft, also auch in direkter Rede (12 Repliken lang) hin- und herdiskutiert, aber natürlich nur in der Möglichkeitsform, seine Anwendbarkeit also, und daran beteiligen sich beide Paare (das eine verheiratet, das andere aus zwei Heiratswilligen bestehend).46 Dem folgt kurz ein »dankbarer« Blick Eduards zur Baronesse, darauf noch sechs Repliken wörtlich, dann erst bringt es Charlotte »mit einer kühnen Wendung«47 zuwege, dass die Unterhaltung sich ins »Allgemeinere« bewegt. Jetzt können und sollen auch der Hauptmann und Ottilie sich daran beteiligen. Worauf sich jetzt aber das Gespräch erstreckt, erfahren wir wieder nicht mehr. Damit ist diese lange, wendungsreiche Unterhaltung beendet. Was noch folgt, passt gut zum »Nachtisch« und einem gleich anschließenden gemeinsamen Gang durch die Parkanlagen: Dafür reicht die indirekte Rede aus. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Als der Graf in zwei Repliken die unverkennbare Tüchtigkeit des Hauptmann lobt und sich eine lohnendere »Verwendung« für ihn zurechtdenkt, auch gleich eine »Empfehlung« an einen »hohen Freund« konzipiert, bringt der Erzähler ihn wieder in wörtlicher Rede.48 Wie beklommen, ja erschreckt Charlotte darauf reagiert und dass sie sich nicht nur freut (für den Hauptmann), sondern plötzlich merkt, wie bitter er ihr fehlen wird, verlangt die Wiedergabe in indirekter Rede, wie die meisten Darstellungen von heftigen Emotionen den Roman hindurch. »Es war Zeit«, dass der Hauptmann selbst auf den Grafen zutrat und »seine Rolle«49 vor ihm »entfaltete«. Dieses »Es war Zeit« bezieht sich hier ganz auf Charlottes Ungeduld: 46 47
48 49
Der Hauptmann und Ottilie haben bis hierher noch geschwiegen – offenbar weil sie keine einschlägige Erfahrung haben, also ›nicht mitreden können‹. Welche das gewesen sein mag, unterschlägt der Erzähler. Hier dient die zusammenfassende Darstellung sichtlich der Verhüllung, und eben sie soll die Neugier wecken und ›in suspense‹ halten. In der dritten Partie wörtlicher Rede erbittet er von der Hausherrin gleich einen »reitenden Boten«. Es ist der gezeichnete Plan des Grundstücks, nicht etwa eine schauspielerische »Rolle«.
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Nur dank des Auftauchens des Freundes, dessen also, über den sie gerade gesprochen haben, wird sie frei (von ihren Konversationspflichten) und kann sich entfernen, kann sich endlich ausweinen50 und sich »einem Schmerz, einer Leidenschaft, einer Verzweiflung« überlassen, die sie gar nicht in sich geahnt hätte. Auffällig ist in dieser Hinsicht noch die berühmte Novelle über das Geschick zweier »wunderliche(r) Nachbarskinder« (II,10). Sie kommt über weite Strecken mit indirekter Rede oder bloßen Zusammenfassungen aus. Die Eltern »hatten sich schon verständigt« (erst die beiden zusammenzugeben, dann sie zu trennen). Die beiden ergehen sich, nachdem sie wieder beisammen sind, »in längeren Unterhaltungen« und »scherzhaften Erinnerungen«. Selbst noch wo die Novelle dramatisch zugespitzt ist, wo die beiden, nachdem er sie aus dem Wasser gerettet hat, auch am Land Helfer finden, muss eine Zusammenfassung in indirekter Rede ausreichen. »Das Unglück, die Not sprach sich (sic!) geschwind aus«. Versteht sich, dass die Helfer nur in indirekter Rede »sich besprachen«. Die direkte Rede wird sparsam eingesetzt und wirkt ein wenig gnomenhaft, wie in Goethes »Märchen«. Als er auf ihre Frage »Willst du mich verlassen« zweimal ruft: »Niemals!«, setzt »der Erzählende« hinzu: »Er wusste nicht, was er sagte noch was er tat«. Bis auf wenige unbedeutende Äußerungen aus der Schifffahrtsgesellschaft und von den vier Eltern reden nur die beiden, aus denen ein Paar wird, miteinander und am Schluss mit ihren Eltern in direkter Rede. Die kontroverse Zuspitzung vor dem angedrohten Selbstmord des Mädchens bekommt drei Repliken. Die Wiederannäherung wird ausgelassen, sie soll sich von selbst verstehen. Das Beisammensein und Beisammenbleiben ist das Zentrale, worüber sie sich austauschen; selbst seine Mahnung, sie solle sich schonen, wird mit einer Formel der Übereinstimmung bestätigt: »um deinet- und um meinetwillen«. So ist ihre Entschlossenheit, ab jetzt »ein Paar« zu sein, das Wichtigste, was sie den Eltern mitzuteilen haben. Daraufhin versteht sich von selbst, dass der dreimal erbetene »Segen« der Eltern nicht ausbleiben wird. Zur Novelle gehört
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Stilvoll: in ihrer Mooshütte.
Mitteilung und Innerlichkeit, »Intimität«
(nach Goethes Verständnis), dass persönliche Verhältnisse auch im Reden miteinander ausgetragen werden, dass aber das Reden sich nicht vorzudrängen hat – ein paar Stichworte als Glanzlichter müssen genügen.51
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Zusatz zur Notierung: Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, mit Vorbereitung schon im 18., wurde es usus, wörtliche Rede in Anführungszeichen zu setzen. Die Übergangszeit war gekennzeichnet durch ein großes Durcheinander, obgleich in jedem Einzelfall gut überlegt: Lessing wie auch Lenz kamen ganz ohne Anführungszeichen aus, Wieland dagegen, Jean Paul und ETA Hoffmann setzten sie durchgängig. Am abenteuerlichsten handhabte Kleist diese (damals) neumodische Sitte. Manche seiner literarischen Personen kommen ganz oder fast ganz ohne aus, andere durchgehend mit. (Es könnte sein, dass die ersteren die sympathieweckenden sind – dann wäre der gerade durch seine Rechtschaffenheit »entsetzliche« Kohlhaas auch eine davon). Etwas später findet Büchner sie noch entbehrlich, Goethe, der sich doch in vieler Hinsicht, auch sprachlich, als Avantgardist bewiesen hat, verzichtet durchgängig auf diese neumodischen Partikel. (Umso irritierender, dass die sonst sehr brauchbare und historisch ›treue‹ Hamburger Ausgabe Goethes Texten durchgehend Anführungsstriche angedient hat.)
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Belehrendes Gespräch Ottilie ist zwar von Anfang an die faszinierende und liebens-würdige Person, als die sie sich den Lesern dieses Romans einprägt. Sie hat aber auch noch einiges zu lernen. Aus der »Pension«, in der die wesentlichen Grundlagen ihrer Bildung gelegt wurden, wird sie zu Charlotte geschickt, um ihre Weiterbildung zu einem Mitglied der guten Gesellschaft zu vollenden (I,5). Charlotte nimmt sich etwas vorher (I,2) vor, sie »zu einem herrlichen Geschöpf herauf[zu]bilden«.1 Als Ottilie dann eingetroffen ist, fängt Charlotte an, mit einer Reihe von kleinen oder grundsätzlichen Hinweisen auf ihr Verhalten einzuwirken (I,6 + ff). Die beiden Männer geben sich erst gar nicht die Mühe, sie zu irgendetwas zu erziehen. Aber vom Gärtner erfährt sie einiges, z. B. dass man mit dem Okulieren vorsichtig sein soll, vom Architekten, wie man mit Farben und Mustern umgeht, vom Gehülfen, worauf die Erziehung der Dorfjugend hinauslaufen soll und wie sie zu bewerkstelligen ist. Hier könnte sie merken, dass mit dem Erziehungsziel für Mädchen auch ihre eigene Zukunft berührt wird, aber das Ziel, Mutter zu werden, lehnt sie für ihre Person entschieden ab. Alle andern begegnen sich im Gespräch von gleich zu gleich, jedenfalls über weite Strecken. Die Konstellation zu dritt jedoch (I,4) wird
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Der damit verbundene Konjunktiv irrealis (»wenn ich Erzieherin oder ›Aufseherin wäre«) soll vermutlich keinen Zweifel an ihren Fähigkeiten ausdrücken, sondern nur den Mangel an Gelegenheit beklagen.
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zu einem regelrechten ›Lehrgespräch‹ ausgenützt. In seiner Substanz zehrt dieses Rundgespräch von der soliden naturwissenschaftlichen Bildung und Versiertheit Goethes selbst, von der in I,4 nur kleine Partikel, die aber ausgiebig, »durchgetandelt« werden. Auch die Kalamität, alle fünf oder zehn Jahre das ganze Gebiet von neuen Theorien aus wieder ganz anders begreifen zu müssen, stammt aus Goethes Erfahrung mit den gar nicht so fremden Naturwissenschaften. Das Grundsätzlichste und Weitreichendste zu den hier berührten Fragen hat, wenn auch ein wenig schematisch, der Philosoph Ernst Cassirer entwickelt, bereits 1932.2 Sein Thema ist: »Goethe und das 18. Jahrhundert«. Cassirer bewundert Goethes Sinn für Ganzheiten, und zwar für solche, die sich entwickeln. Jede »Zerlegung« und »Sonderung« habe er zurückgewiesen, womit er sich in Gegensatz zur Grundrichtung des 18. Jahrhunderts gesetzt habe. Linné und andere Erbauer von »Systemen«, die die Bewegungen in der Natur in »Gesetze« zu fassen suchten, wies er zurück, ebenso alle Materialisten und Mechanisten: weil sie die Körper und Wesen der Natur aus Teilen zusammensetzen wollten. Stattdessen hielt er sich an »die fließenden Übergänge« in der Natur. Die natürliche Welt lässt sich nach Goethe nicht als bloßes Produkt von Teilen verstehen, sondern nur in ihrer eigenen »Produktivität«, und zu dieser finden wir nur dadurch einen Zugang, dass wir von der uns gegebenen Produktivität ausgehen, also aus dem von uns zu erahnenden Mittelpunkt heraus die Fülle der natürlichen Gestaltungen und ihre Zusammenhänge gelten lassen. Wenn das für Goethe und diesen seinen Roman gilt, bleibt immer noch zu fragen, was von diesen Gedanken sich in den drei ungleichen Gesprächspartnern wiederfindet, die sich hier durchweg einvernehmlich über die Elemente der Natur unterhalten. Eduard und Charlotte werden von einem durchaus menschen-bezogenen Blickwinkel be-
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Dabei hat er sich gar nicht auf dieses Gespräch bezogen, sondern Ausführungen über Goethes Auffassung überhaupt von der Natur wie vom menschlichen Denken und der dichterischen Produktivität gemacht, dazu immerhin die Wahlverwandtschaften (neben zwei anderen Werken) herangezogen, E. Cassirer S. 70 und ff.
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stimmt, wenn auch mit gegensätzlichen Interessen, der eine mehr vom erhofften Wechsel, die andere von der Beharrlichkeit bestimmt. Der Hauptmann verharrt in seinen Gedanken noch am stärksten bei seinem Apparat (»chemisches Kabinett«), den er hier noch nicht zeigen kann. Weil er aber ohne die Unterstützung eines künstlichen Demonstrationsmittels auskommen muss, zeigt er sich am eifrigsten, das naturgerechte Verständnis durch lauter Bilder aus der menschlichen Gesellschaft zu erzielen (s.o. unter »Hauptmann«). Unter dieser Perspektive wird es sogar wahrscheinlich, dass die Rede vom »Narziß«, der sich »als Folie der ganzen Welt unterlegt«, nicht nur Eduards höchst fahrlässige Meinung wird, sondern auch Goethes Haltung gegenüber den Naturprozessen, wenn auch aus ironischem Abstand formuliert, ziemlich genau trifft. In anderer Hinsicht hat der Autor seine Romanfiguren durchaus kritisiert (und zwar jede wieder anders). In ihrem Meinungsaustausch über die Natur aber scheint er im Kern mit ihnen einverstanden. In diesem Austausch (der den Gang des ganzen Romans vorbereitet, wie hier noch keiner ahnt) ist Charlotte diejenige, die einen neuen Einblick in die Beschaffenheit der unbelebten Natur gewinnt, wozu die beiden Männer je auf ihre Weise beitragen. In ihrem Verhältnis zum Hauptmann dagegen ist Charlotte die Belehrende: Sie zeigt ihm die Grenzen auf, sie nötigt ihn sogar (nach seinem unangebrachten Kuss am See, I,12), das Gut zu verlassen. Die beiden weisen Aussprüche an die Adresse des Hauptmanns (I,12, II,14) sind zwar auf ein »Wir« gestimmt, sogar auf ein moralisches, aber sie ist da schon angekommen, wo sie ihn sachte hinlenken will. Mittler steckt voll von Belehrungen: religiösen, moralischen, lebenspraktischen. Einige davon hat er auch durch gründliches Nachdenken gewonnen, wobei er sein eigenes Verhalten nicht ausgespart hat. Sie kommen aber ›zur Unzeit‹ und keiner mag sie hören.3 Der Predigtton, mit dem er gerade seine Auslegung von zentralen Geboten des christlichen Katechismus vorbringt, bringt seine Adressaten (mehr Hörerinnen als Hörer) eher zum Schaudern als zu 3
Außer seinem ersten Rat: sich selber zu raten, was sich aber die so Beschiedenen auch schon selber hätten denken können (I,2).
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seiner Überzeugung. Der Advokat vertritt das Recht eines jeden Menschen auf sein eigenes Grab, aber er tut es, trotz einigen rhetorischen Geschicks, so wenig überzeugend, dass Charlotte ihren abweichenden (offenbar selbst erdachten) Umgang mit Toten (vorerst) beibehält. Der Architekt verzichtet auf jede Belehrung: Er will nur zeigen, und das macht er überzeugend. Dagegen strömt der Gehülfe über von Erziehungsmaximen jeder Couleur. Diese sind aber in seiner eigenen Praxis geprüft und bewährt, so dass sie den Hörerinnen einleuchten und keine solchen Abstoßungseffekte hervorrufen wie Mittlers ›Predigten‹. Von einem Erziehungsroman jedenfalls, wie es die Lehrjahre sind, sind die Wahlverwandtschaften weit entfernt. Ihr Charme liegt auf einem anderen Feld: dem der Konversation, nicht dem der Paränese.
Verheißende und anheimstellende Rede Miteinander Reden soll dem Anderen mitteilen, was und wie der Eine denkt, und dadurch auch die Erkenntnisse, Vorstellungen, Vorhaben des Anderen klären. Dazu müsste wenigstens der Redende seine eigene Position auf ein Ja oder Nein festlegen. Das aber macht der Autor diese Romans nicht mit, jedenfalls nicht immer. Als die Baronesse Eduard und die Seinen zur Weinlese auf ihre Güter eingeladen hat (I,10, s.o.) und er fragt, ob er auch Ottilie mitbringen darf, antwortet sie auf eine Weise, »die er beliebig zu seinen Gunsten auslegen konnte«. Die Szene bietet der Baronesse gute Gelegenheit, sich die »künftig überraschende Beschämung« des so leicht anbeißenden Eduard auszumalen. Als geschäftige Intrigantin weiß sie am gekonntesten mit ironischen Sprachformen umzugehen. – Etwas vornehmer drückt der Architekt Luciane gegenüber aus, dass er sich alles vorbehält. Als diese »Königin« ihm die sofortige Auslieferung seiner Mappe mit Zeichnungen erst befiehlt, dann »neckisch« zu erbitten sucht und diesmal auch Ottilie sich dafür ins Zeug legt, entfernt er sich »mit einer Bewegung, die weder bejahend noch verneinend« war (II,4). Die Verheißung tritt in Kraft, indem sie das Verheißene zugleich anheimstellt.
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Das Innere der Gesprächspartner: gefasst oder zerfließend Das Auf und Ab dieses Romans wird begossen mit einem erst lange zurückgehaltenen, dann aber frei sich ergießenden Strom von Tränen. Zunächst fällt auf, wie viele Gelegenheiten zum Weinen die Schlossbewohner (»unser kleiner Zirkel«, wie Charlotte sagt, I,16, sowie das ganze Gesinde) sich entgehen lassen (die Gäste weinen sowieso nicht). Charlotte ist eine, bei der die Zuflucht zu Tränen »selten stattfand«4 (I,11). In der Szene auf dem See mit dem Hauptmann fühlt sie sich zwar tief traurig, aber »sie konnte nicht weinen« (I,12). Auch der erste Todesfall bringt niemanden zum Weinen; der alte Geistliche war eben schon sehr alt. Ottilie beneidet ihn geradezu um seinen sanften Tod. Im Streit um die richtige Bestattungs- oder vielmehr Verwahrungsform wird von keiner Seite den Angehörigen zugemutet, über ihre teuren Verblichenen Tränen zu vergießen. Als der Hauptmann (der selber nie weint) sich von Charlotte verabschiedet, unterdrückt sie ihre Gefühle, also auch ihre eigentlich fälligen Tränen: Es gibt nur einen »halben und einsilbigen Abschied« (I,16). Eduard plädiert (gegenüber Mittler) für das Recht auf Tränen, nur selber weint er nicht, noch nicht (I,18). Ottilie »litt unendlich«, als sie realisiert hat, dass Eduard sich – ohne Abschied! – entfernt hat. Sie leidet so sehr, dass der Erzähler verstummt (weil er »nicht wagt ihren Schmerz, ihre Tränen zu schildern«, I,17). Als dieser Schmerzensquell versiegt ist, bleibt sie wieder ohne Tränen, jedenfalls findet es der Erzähler nicht der Rede wert, sie zu erwähnen. Ihr »Tagebuch« soll »einen Blick in ihr Inneres« gewähren. Aber auch das ist frei von Tränensspuren. Erst im zweiten Teil des II. Teils lassen die Figuren ihren Gefühlen und damit auch ihren Tränen freien Lauf. Diese Partie des Romans ist bei weitem dramatischer als der I. Teil, in dem der Knoten geschürzt wurde, und als die erste Hälfte des II., in der eine längere zeitliche Lücke, aus Verlegenheit und dennoch kunstvoll, durch abwechslungsreiche Besuche überbrückt wird. Als Ottilie die Madonna spielt und unter 4
Die unpassende Vokabel »stattfinden« für einen Tränenerguss drückt vermutlich eine heftige Distanzierung aus.
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den Gästen einen Fremden erkennt, vermutlich der Gehülfe aus ihrer »Pension«, füllen sich ihre Augen mit Tränen.5 Als die Schöne in der »Novelle« sieht, dass sie gerettet ist und von wem, ergießt sich ein »Tränenstrom« aus ihren Augen und – im zauberischen Genre einer Novelle ist manches möglich – »vollendet[e] ihre Genesung« (II,10). Das Unglück auf dem See entlockt Ottilie als der Urheberin und am stärksten Betroffenen6 »unendliche Tränen«, so dass sie noch beim schließlichen Aufblick zum Himmel (der nichts mehr retten kann) feuchte Augen hat. Charlotte hat sich am nächsten Tag schon wieder gefasst. Sie spricht nur (mit dem Hauptmann, jetzt Major) »mit ganz leiser Stimme«. Was sie aber sagt, ist nun wieder ganz Charlotte. Sie habe jetzt »das Los von mehreren« in ihren Händen, sie begnügt sich damit, ihren Part auszudenken und auszusprechen, und dennoch kommt sie zu dem großmütig klingenden, aber heimlich vergifteten Schluss: »An mich darf in diesem Augenblick nicht gedacht werden« (s.o.). Ottilie hat sich nach ihrem halb bewusstlosen Zustand nach dem Unfall am See schließlich (II,15) ›ausgeweint‹. Nachher an ihrem Sarg quellen dem Architekten »häufig« Tränen aus den Augen. Aber die patente Nanny tröstet ihn so, dass seine Augen doch wieder trocken werden. Eduard ist auch ›dicht am Wasser gebaut‹. Selbst sein »Talent des Liebens« ist »tränenreich«, und indem er darüber redet (mit Mittler), verfällt er wieder ins Weinen. Für die Griechen nimmt er schon deshalb Partei, weil sie weinende Männer gut fanden (I,18, s.o.). Eine Nacht durch benetzt er dann in der Wirtshausszene die Schwelle vor Ottilies Tür (II,16).7 Im dramatischen Schluss des Romans »zerfließt« er geradezu in Tränen: zweimal
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II,6 – hier ist nicht ganz klar, worüber sie weint. Die beiden Männer betrachten den Unglücksfall nur daraufhin, ob er den Weg zu ihren ziemlich egoistischen Zielen ›freizumachen‹ (!) verspricht. Charlotte, der ein Dienstmädchen die Nachricht »mit Geschrei und Weinen« überbracht hat, wahrt wenigstens den Anstand: Sie will das Kind noch einmal sehen – ob mit Tränen, bleibt offen. Dann hat sie für ihren Freund, den Hauptmann (zu diesem Zeitpunkt schon ihr Ex-Freund) nur ein »schmerzhaftes Lächeln«; die Nacht verbringen sie beide schweigend. Die muss man sich aber verschlossen denken.
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über Charlottes Händen, einmal über denen seiner Ottilie. Kein Wunder, dass er dann, bevor er selbst stirbt, »keine Träne« mehr hat.
Beredt und stumm In einer ihrer Tagebucheintragungen (II,3) malt Ottilie sich aus, wie ihre Vorfahren im Kreis ringsum thronen »in stummer Unterhaltung«. Wie sie ganz »unterhaltend« gefunden wurde, als sie doch kein Wort gesprochen hat (I,6, s.o.), so denkt sie sich, ja wünscht sie sich die Zustände in irgendeinem Dasein nach dem Tod. Sie findet in der Gesellschaft im Schloss, auch wenn sie nur zu viert sind, immer noch zu viel Palaver, zudringliches und zurückhaltendes, erforderliches und überflüssiges. Immer mal wieder zieht sie es vor zu schweigen. Der übrigen Gesellschaft liegt das fern, aber in manchen Gesprächssituationen bleiben auch manche der anderen stumm. Als Charlotte nach der Erzählung der »Novelle« sehr bewegt ist, verlässt sie »mit einer stummen Entschuldigung« das Zimmer (II,11). Wie Eduard sich die »anderen Sprachen« vorstellt, mit denen »wir« im Jenseits reden werden (II,18), bleibt unausgeführt, aber stummer Austausch dürfte der Vorstellung am nächsten kommen. Danach verstummt Ottilie völlig, äußert sich nur noch mit einer eindringlichen Geste der Abwehr (gegen den zudringlichen Eduard, II,16), sonst nur noch schriftlich. Sie möchte von den Großen, die mehr Lebenserfahrung haben als sie, »erfreut« und »belehrt« werden – nur in ihr Inneres hineinschauen lässt sie nicht (II,17). Mit Nanny kann sie sich blendend auch ohne Worte unterhalten, und mehr braucht sie nicht oder glaubt sie nicht zu brauchen. Ihre Verwandlung in eine »Heilige« (vermutlich mit einer feinen oder starken Portion Ironie zu lesen) braucht gar keine Worte – was Nanny in ihrer »heiligen Freude« darüber feststellt, ist nur ihre Sicht des Vorgangs (des »Wunders«) und braucht die Umstehenden, und die Leser, nicht zu betreffen. Die Grabesruhe dürfte ihr, auch ohne Auferstehung, nicht zuletzt deshalb so verlockend sein, weil sie sich da einmal richtig ausschweigen kann.
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Unterirdisch wird noch ein Netz von Briefen und »Zettelchen« gesponnen, jedes nur für jeweils einen Adressaten bestimmt. Wehe wenn sie in fremde Hände fallen: Sie produzieren mindestens so viel Missverständnis wie Verständigung. Die zufälligen Leser*innen, zumeist ist es Charlotte, lesen sie so »wie aus dem Kaffeesatz oder wie aus Eingeweiden«.8 Zwischen dem mündlichen Austausch und den vielerlei schriftlichen Bekundungen entwickelt sich ein lebhaftes Hin und Her. Alles Geschriebene hat seine Vorläufer in dem, was schon gedacht, geredet, einem andern werbend oder abmahnend an den Kopf geworfen wurde, und umgekehrt drängt ein Brief dazu, sofort gelesen, oft auch vorgelesen zu werden. Das Einladungsschreiben an den Hauptmann (I,2) verlangt danach, auch aus seiner Perspektive gelesen zu werden: Da steht am Rand oder mitten im Text ein dicker Tintenklecks, ein Zeichen mindestens des Unwillens, und dazu von Eduards Hand die entschuldigende Erläuterung, der Klecks lasse die »Ungeduld« (Charlottes) erkennen. Der Hauptmann kann das eine oder das andere gelten lassen; als Realist wird er der Aussage des dinglichen Zeichens mehr trauen.9 Zur Sicherheit schickt er noch einen Brief voraus, der so »verständig« ist, dass er Charlotte »völlig beruhigt«. Das ausgiebigste Echo liefert Charlotte in ihrem zweiten Gespräch mit Eduard. Die Lernfortschritte ihrer Tochter und ihrer Ziehtochter in der »wohlausgesuchten« Pension sowie deren Haltung zueinander legt sie sich so parat, als wäre sie das Sprachrohr der Vorsteherin. Von dieser werden zwei Briefe10 wiedergegeben, und weil Charlotte sie schon oft gelesen hat, weiß sie den Duktus fast auswendig und wiederholt die Berichte vollständiger und schöner, als sie gegeben wurden: über ihre Tochter Luciane eine schwingende, vibrierende Periode mit einem sechsmaligen »Wenn« und in 17 Zeilen, über Ottilie ganze vier Zeilen voller »Entschuldigungen«. Positiv an Ottilie bleibt nur (auch mit einer Redefigur der Vorsteherin): das »übrigens so schön heranwachsende
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R. Zons, S. 347. Er kommt aber trotzdem; ihm bleibt wahrscheinlich nicht viel anderes übrig. Beide Mal als Vorspann zu dem viel einsichtigeren Brief ihres »Gehülfen«, I,3 und I,5.
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Mädchen« (I,2). Ihre Tochter hat es nicht nötig, dass sie noch weiter erzogen wird – ein sehr anderes Bild von ihr gewinnen wir allerdings, wenn sie mit ihrem Anhang das Schloss heimsucht (II,4 + 5). Ottilie dagegen, beschließt ihre Tante und Ziehmutter, soll herbeigeholt und unter familiärer Aufsicht weitererzogen werden. Sie reagiert damit auf den zweiten Brief des Gehülfen (I,5). Sie sucht dann das auszuführen, was die Vorsteherin sich gewünscht hat, aber im Feld der Erziehung Ottilies schlägt das gründlich fehl. Mit dem »Übrigens« nimmt sie übrigens eine Formulierung der Vorsteherin wörtlich auf, die diese gerade passend gefunden hat. Sie sticht aus dem mündlichen Text noch schärfer heraus als aus dem Brief, in dem sie eher wie eine Verlegenheitsfloskel aussieht. Ottilies letzten Brief, in dem sie die andern drei um »Nachsicht«, »Liebe« und »Unterhaltung« bittet (II,17), kann der Erzähler nicht anders als höchst zeremoniell ankündigen: Sie »sendet an die Versammelten folgendes Schreiben…«. Damit hat nicht nur sie für ihren Teil entsagt, damit ist auch ein Urteil über das fortlaufende Reden, Planen, Zurechtrücken, Beschwören und Rechtfertigen gesprochen. Die lauterste Gestalt dieses Romans hat nach dem ausgiebigen Austausch von Erklärungen und Vorsätzen Charlotte gegenüber keine Sprache mehr nötig. Dass sie fastet, drückt freilich kein negatives Urteil über die (vermutlich leckeren) Gerichte dieses Schlosses aus, aber mit ihrem Schweigen zieht sie einen Schlussstrich. Jetzt, in der letzten Phase ihres Lebens, hat sie »nichts mehr zu sagen« (II,17): Die Dinge waren es nicht wert, darüber Worte zu verschwenden, und sie sah sich weder befugt noch genötigt, zu irgendetwas in diesem Schloss oder zu den übrigen drei Bewohnern noch irgendwie Stellung zu nehmen. Begleitend zum fortlaufenden realen Gespräch läuft noch ein innerer Monolog von »Vorsätzen, Plänen, Einrichtungen« ab, am kontinuierlichsten in Charlotte. Ihre »Betrachtungen und Sorgen«, die sie mit niemandem teilen kann (oder nicht teilen zu können glaubt oder sich sträubt zu teilen), arbeitet sie »für sich« durch II,3). Besonders was sie von Ottilie zu hören bekommt, nimmt sie »zur stillen Überlegung« (II,15). Nicht selten verstummen die handelnden, d.h. redenden Figuren mitten im Gespräch; sie tauchen gewissermaßen in sich zurück. Ottilie verstummt zwar in den letzten Wochen ihres Lebens ganz und gar,
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bleibt dabei jedoch in einem intensiven, nur eben stummen Dialog mit den anderen, vor allem natürlich mit Eduard. So wie sie sich in diesen Kreis eingeführt hat ohne Worte und von Eduard gleichwohl bei ihrem vollen Wert genommen wurde (I,6, s.o.), so und viel stärker ›äußert‹ sie sich weiterhin für die anderen, wieder vor allem für Eduard. Einen kräftigen, rundum befriedigenden Ausgleich für ihr Verstummen schafft sich Ottilie – oder müssen wir sagen: schafft uns der Organisator dieses Romans11 ? – durch ihr »Tagebuch«, in das sie Beobachtungen und Überlegungen, ab und zu auch Wünsche und Verbesserungsvorschläge einträgt (s.o.). In den meisten wissenschaftlichen Auslegungen wird der Charakter dieser Eintragungen als »Aphorismen« schon vorausgesetzt und vor allem untersucht, wie, durch welche persönliche Eigentümlichkeiten die Verfasserin als dieses ca. 18jährige Fräulein, arm, aber von Adel, sich in einer solchen Spruchform ausdrückt. Das wird auch hier nötig werden, doch zuvor soll erst eben die Allgemeinheit, die Allgemeingültigkeit dieser insgesamt 86 Eintragungen untersucht werden. Die meisten stammen von Ottilies Hand, sind denn auch von ihren Vorlieben wie ihrer Nachdenklichkeit geprägt. Schon in ihrer Diktion geben sich diese Erkenntnisse oder Funde wer weiß woher (jedenfalls die Mehrzahl von ihnen, s.o.) als ihr geistiges Eigentum zu erkennen, auch wenn Ottilie nur selten »Ich« sagt (d.h. schreibt).
Peinlich bedrängendes Gespräch Wenn Eduard mit Charlotte zu zweit ist, ist sie ihm offensichtlich überlegen in der Aussprache auch des Peinlichen, im Zureden zur Vernunft. Sie muss geradezu für sie beide denken und das Resultat in passende Worte bringen. Die Erhaltung ihrer Ehe ist bei ihr zu einer Art Mantra geworden: Sie kommt wieder und wieder darauf zurück. Dabei weiß sie eigentlich schon (könnte es wenigstens wissen), dass sie damit ihren Noch-Ehemann eher jagen als umstimmen kann. »Ein ausgesprochenes 11
Jedenfalls teilt er reichlich daraus mit.
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Wort ist fürchterlich«, denn: Es lässt das laut werden, was bisher nur »das Herz«, wortlos, sich herausgenommen hat. Eduard windet sich regelrecht unter Charlottes Worten. Ein ganzes Kapitel lang (I,16) nimmt seine Frau ihn ins Gebet. Sie nötigt ihn zur Klarheit über sich selbst, lässt ihn mitentscheiden zwischen den beiden Alternativen für Ottilie,12 die aber beide fatal sind: Sie würden sie so oder so aus dem Haus in »die verruchte kalte Welt« vertreiben. Er kann nicht recht antworten, weil sie ihn in seinen geheimsten Wünschen ertappt hat und er gleichwohl nicht davon lassen kann (= mag, aber d.h. für ihn: »kann«). »Fürchterlich« ist das einmal ausgesprochene Wort nur, weil die hier miteinander Lebenden, jetzt die beiden Ehegatten, sich auf die Geheimhaltung der Sphäre der Intimität eines jeden von ihnen verlassen hatten und dieser Schutz plötzlich brüchig wird. Seine ›geheimsten‹ Gedanken auf der Zunge des Partners zu entdecken, der immer noch, bis zum Schluss der Handlung, der angetraute Ehepartner bleibt, das ist eine empfindlichere Kränkung als es die Thematisierung irgendeiner ungeschickten oder ungehörigen Bewegung wäre. Charlotte weiß das, sucht es auch zu berücksichtigen, kann es aber ihrem Ehegemahl nicht auf Dauer ersparen. Später (II,7) veranstaltet Charlotte ein weiteres ›bedrängendes‹ Gespräch in einer geradezu perfiden Form, als der Gehülfe da ist. Er soll seine Werbung im Beisein Ottilies vorbringen – tief peinlich für sie wie für ihn. Er gibt sich dennoch einen Ruck und lässt sich unverdrossen darauf ein,13 spricht sogar »mit viel Einsicht und ruhigem Ausdruck«. Aber er kann im Grunde nur herausbringen, dass er eine Frau braucht, nicht dass er diese braucht. Ottilie muss ihm zugestehen, dass sie noch weiteren Unterricht gebrauchen könnte – mit einem Mal ist sie wieder Schülerin –, aber sie kann nur an ihr Verhältnis zu Eduard denken, das ihr durch seinen abrupten Weggang undurchsichtig geworden ist. Charlotte muss an ihrer Stelle den »Antrag« »beantworten« – es klingt fast so, als ob sie selbst gemeint wäre. So kommt Ottilies Rückkehr zur
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Lehrerin in ›ihrer‹ alten »Pension« oder Gouvernante in einem »reichen Haus«. In der »Pension«, haben wir vorher erfahren, war nur »etwas verlautet« von dem »Verhältnis« zu Eduard – »allein man nahm die Sache, wie ähnliche Vorfälle mehr, gleichgültig auf« (II,7).
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»Pension« ins Spiel, die sie beide angeblich »längst gewünscht« hatten. In dieser Konstellation aber ist Ottilie der Gedanke: noch mal in ihre alte »Pension«, so widerwärtig, dass ihr nur davor »schaudern« kann. In etwa ließe sich hierzu auch der abschätzige Umgang mit persönlichen Verhältnissen zählen, wie er sich besonders in Charlottes Behandlung ihres Mannes, ja selbst ihrer Ehe und natürlich seiner Liebschaft (s.o. unter »Charlotte«) gezeigt hat. Aber auch Eduard war nicht frei davon, ja er überbietet seine Frau sogar noch (wohl unbewusst), indem er nicht die Störung seiner Ehe, sondern diese seine Ehe selbst ein für allemal »abtun« will (II,12).
Stockendes Gespräch Als das lebhafte Gespräch mit den ersten feierlichen Gästen (Graf und Baronesse, I,10) vorbei ist und am Abend in veränderter Konstellation wieder aufgenommen werden soll, fällt es auf, dass Charlotte und die Baronesse sich abseits halten und kein lohnendes Gesprächsthema finden14 – und das Stocken wirkt sich prompt auf die übrige Gesellschaft aus: Sie geht daraufhin bald auseinander. – Wenn Eduard redet, noch viel zu sagen hat und also mit der Rede fortfährt, heißt es einmal: »Mittler stockte« (I,18). Offenbar ist das Zuhören eine genauso kontinuierliche und produktive Haltung wie das Sprechen, eins vom anderen nicht abzulösen. Wie eins ins andere eingreift, wird auch in der Beobachtung von Mittlers Benehmen deutlich, als er eine andere, »günstige« Unterbringung für Ottilie sucht: »– er horchte, er gab nach, er gab zu verstehen und führte sich nach seiner Weise klug genug auf« (II,18). Dabei ist er doch sonst ein unerschütterlicher Gern- und Vielredner – bald darauf »bricht« ja auch wieder seine Rede »los« (s.o.).
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Die Baronesse scheint über ein mögliches Eingreifen in die Familienbeziehungen der Gastgeber nachzudenken; sie wirkt einsilbiger als sonst. Charlotte hätte vielleicht etwas mit ihr zu reden, findet sie aber kaum ansprechbar. (Der Graf gibt sich inzwischen Mühe, den Hauptmann zu »ergründen«, und Eduard hat Ottilie wieder mal für sich).
Gesprächsdiplomatie
Verkehrung des Gesprächsziels Viele Gespräche führen geradewegs, oder auch auf Umwegen, zum erstrebten Ziel. Dagegen steht aber eine Reihe Begegnungen und Wortwechsel, die das Gegenteil dessen bewirken, was der Initiator sich vorgestellt / sich vorgenommen / gewünscht und gehofft hat. Gleich das zweite Gespräch (I,2) geht anders aus, als Charlotte beabsichtigt hat. Sie wollte Eduards Absicht, seinen Freund aus seiner bedrängten Lage herauszuholen und herkommen zu lassen, regelrecht »abstumpfen« durch mehrfache Wiederholung des Hin und Her, aber das Gespräch führt nur zu einem Patt, und nach der Unterbrechung durch Mittler zu einer aus Vorfreude und Ängstlichkeit gemischten Einladung. Generell, nur in (gespielte?) Geheimniskrämerei gehüllt warnt die Baronesse, nur ja nichts vorher zu verraten: »gewöhnlich geschehe das nicht, worauf man sich so lange voraus freue« (I,10). Die große Kontroverse zwischen Charlotte und Eduard endet unversehens damit, dass nicht Ottilie, sondern Eduard selbst das Gut verlässt. Sogar Mittler sieht sich ganz entgegen seiner Überzeugung eingespannt in Eduard Herzensanliegen. »Denn was wollte er überhaupt Eduarden in diesem Augenblick noch entgegensetzen?« (I,18). Der Erzähler der »Novelle« hatte mit einer »sanfteren Begebenheit« die erregten Gemüter seiner beiden Hörerinnen wieder beschwichtigen wollen, aber wie verhext vertreibt seine Erzählung die beiden nacheinander (II,10-11). Eduards dringliche, zu Herzen gehende Bitte an Ottilie (schriftlich wie mündlich), sie möge ihm antworten, und zwar eine aus ihrem »schönen Selbst« herrührende positive Antwort erteilen, löst bei ihr nur die Abwehrbewegung aus, und zwar buchstäblich eine Bewegung, da sie von dieser Begegnung an mit keinem mehr spricht (II,16). Selbst die Hauptsache des hier dargestellten Vorgangs mündet in eine doppelte Verkehrung: Charlotte sieht schließlich ein, dass sie besser in die Scheidung gewilligt hätte, aber nun ist es Ottilie, die sich durch kein Zureden und kein fait accompli mehr für eine Ehe mit Eduard gewinnen lässt (vor allem II,14-15). Und dass sie Charlotte sofort, ja freudig zugestimmt hat, sich in kein Gespräch mit Eduard mehr einzulassen, das macht sie in der Situation der großen ›Aussprache‹ im Wirtshaus (II,16) nur noch stumm. An
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der armen Nanny wird geradezu methodisch durchexerziert, dass das Ausagieren der Freude eben das vereitelt, worauf man sich gefreut hat: Sie will das Glück, dass sie mitfahren darf, überall verkünden, aber sie steckt sich mit Masern an und kann nicht mit (II,15). Es ist nicht der Drive des Gesprächs allein, der diese Verkehrung bewirkt. Es ist die Einstellung zueinander, die sich beim Sprechen ändert oder gerade unbeweglich bleibt.
Duell in Worten?
Ausweichen und Täuschungsmanöver Der bisher herausgearbeitete Befund, dass die Teilnehmer dieser Runde miteinander kommunizieren, sich über äußere Beobachtungen, dann auch über ihr Innenleben miteinander austauschen, lässt den Roman zunächst harmloser erscheinen als er tatsächlich ist. Elisabeth Herrmann hat eine finstere Rechnung aufgemacht, wie oft die Gespräche hier leerlaufen, die Redner vor dem versagen, was eigentlich die Situation oder ihre geheime oder offenkundige Emotion von ihnen verlangen würde. Sie bieten Vorwände statt der eigentlich von ihnen erwarteten Antwort oder Rechenschaft; sie lenken ab, täuschen den Partner, wie sie manchmal auch sich selbst täuschen.1 Werner Schwan sieht in den Wahlverwandtschaften schlechterdings einen »Roman der scheiternden Kommunikation«.2 Auch was Charlotte und der Hauptmann nicht sagen, was Eduard vor Ottilie verheimlicht (z.B. vor ihrem Geburtstag), was Ottilie vor den drei anderen verbirgt, die selbstverständlich auf ihre baldige Genesung hoffen, gehört in ein Kapitel der Täuschungsmanöver. Nach Hermann Behrends Untersuchung kann die Sprache im1 2
E. Herrmann, S. 201-4. Schlick (S. 424-427) fügt noch hinzu: Sie verfolgen ihre heimlichen Interessen. Deshalb auch sein Untertitel: »Das nicht erreichte Soziale«. Sein Hauptteil, »Roman einer scheiternden Kommunikation«, reicht von der »Eheproblematik« über das »Schicksalsthema«, das die Kommunikation »ins Stocken« bringe, über das »Dilettantismusproblem« und den Kontrast zur Novelle von den wunderlichen Nachbarskindern bis zu Ottilies »Entsagung« und ihrem Tod.
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mer auch »die gesellschaftliche Sprachlosigkeit ausdrücken«. Alles sei »verschwiegen, verunsichert, verhüllt, nur angedeutet oder vieldeutig gehalten«.3 Jede Deutung kann sich so auf die Angaben des Erzählers berufen und kann sich zugleich nicht auf sie berufen.4 Manchmal wird der Gesprächsgegenstand, der deutlich genug im Raum steht, bis zuletzt vermieden. Stattdessen dreht sich der Wortwechsel um alle möglichen, beliebigen Gegenstände. So zwischen Charlotte und Ottilie, als sie allein übriggeblieben sind und das Ergehen Eduards merkwürdig tabu ist. Man kann sich vorstellen, wie beide ›um den heißen Brei herumreden‹: »vermeidende Gespräche«. »Man fürchtete sich zu verletzen [gemeint ist: einander], und gerade die Furcht war [= machte] am ersten verletzbar und verletzte am ersten« (II,15). Hier sind die beiden Frauen unter sich, zusammengezwungen nur durch Eduards Drohung, Ottilie jederzeit zu ergreifen, wenn Charlotte es wagen sollte, sie irgendwoanders hinbringen zu lassen (I,16; II,15). Ob es diese »vermeidenden« Unterhaltungen sind oder das oben angeführte ›bedrängende‹ Gespräch, was Ottilie so zusetzt, lässt sich nur schwer entscheiden.
Sinn und »Gegensinn« »Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn« (II,4). Dieser Ausspruch aus Goethes geistigem Reservoir5 passt zu seiner Lebenserfahrung, denn auch er hat sich, jedenfalls wenn er ›gut drauf war‹, gern in das Getümmel von Wortgefechten geworfen. Zu Ottilie passt der Spruch weniger gut. Er wird also eine der »vom Leben abgezogenen Maximen und Sentenzen« sein, die sie (oder ihr Autor) aus »irgendeinem Heft« zusammengeschrieben hat, als dass er ihr »gemütlich«6 gewesen wäre (s. II,4). Auch dann aber muss man sich fragen, was sie an diesem feindseligen Wort gefunden hat, dass sie es in die Serie der zu 3 4 5 6
H. Behrend in: Greve, hg., S. 71. Ebd., S. 95. Er hat ihn sich aber nur angeeignet. Er stammt ebenfalls aus den Vasconiana (s. S. 158, Anm. 26). = zu ihrer Gemütslage passend.
Duell in Worten?
ihr passenden Erkenntnisse aufgenommen hat. Geht es ihr etwa Eduard gegenüber so, dass sie auf jeden Vorschlag von ihm mit einem Bedenken oder einer Ablehnung reagiert? Nein, das tut sie überhaupt nicht. Sind ihr die Erkenntnisse, die Bestrebungen, die Formulierungen ihres kleinen Zirkels, oder auch der dazukommenden Gäste, so zuwider, dass sie sich zum Widerspruch herausgefordert fühlt? Auch nicht – sie sucht eher daraus zu lernen als sich dagegen zu verhärten. Am ehesten trifft zu, dass sie in diesem gefundenen ›Mot‹7 den Progress der Wissenschaft wiedergegeben findet: Kaum ist eine These formuliert, so entzündet sich Streit, also kristallisiert sich eine Gegenthese heraus. Hinzu kommt, dass dieser Spruch im Zusammenhang mit anderen über die Schmeichelei steht: Wer lange redet, ohne seinen Zuhörern zu schmeicheln, der erregt deren Widerwillen, aber auch: Widerspruch und Schmeichelei machen beide8 »ein schlechtes Gespräch«. An naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ist sie nun, den ganzen Roman hindurch, mehr passiv (mitunter geradezu als ›Versuchskaninchen‹) als aktiv wie ein Forscher, wie auch Goethe selbst, beteiligt. Für die Konversation und ihre Regeln, ihren Ertrag hat sie viel mehr übrig. Noch stärker aber scheint mir der allgemein menschliche Sinn dieses Ausspruchs einschlägig zu sein. Der »Gegensinn« muss nicht einer sein, der das zuvor Gesprochene auslöschen oder es in sein Gegenteil verkehren will. Er kann sich zum »ausgesprochenen Wort« verhalten wie die rechte Hand zu ihrem ›Gegenstück‹, der Linken. Das einmal ausgesprochene Wort provoziert nicht den fraglichen »Gegensinn«, sondern es »erregt« ihn: weckt ihn, macht ihn überhaupt erst konzipierbar, lässt ihn entstehen an einer Stelle, wo bisher nichts war. Es ist eine fruchtbare Art des »Erregens«, nicht viel anders als das Wort des Schöpfergottes in der Genesis.9 Welche dieser Bedeutungen (oder welche Kombination von Bedeutungen) Ottilie im Sinn hatte, als ihr dieser Spruch auffiel und sie ihn notierte, lässt sich nicht genau ausmachen. Am meisten
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Französisch: ein besonders passendes, zugespitztes Wort, auch Wortfolge oder Spruch. Wohl nur beide zusammen, nicht jedes für sich. »Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht« (1. Mose 1,3).
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würde zu ihrer belebenden (also auch »erregenden«) Wesensart passen, wenn es eben diese ›belebende‹ Funktion des Sprechens wäre, die schon von sich aus auf Antwort wartet. Was Charlotte von den geheimnisvollen Ausführungen der beiden Männer zum Thema »Wahlverwandtschaften« (I,4) verstanden und für sich zurechtgelegt hat, verrät sie an einer Stelle, wo sie auf ihr eigentliches Hauptthema, die Anwendung dieses Gleichnisses auf die menschlichen Beziehungen, zu sprechen kommt: »Gelegenheit macht Verhältnisse, wie sie Diebe macht«. Bei den »Naturkörpern« könne man nicht wirklich von »Wahl« sprechen, sondern nur bei dem Chemiker, der »diese Wesen zusammenbringt«. Ebenso passend wie unpassend hat sie damit den Kern des chemischen Geschehens erfasst – und wehrt sich gegen die Macht des naturgestützten Räsonnements über menschliches Verhalten – sie denkt natürlich an ihre Beziehung zu Eduard. Überhaupt kann sie ziemlich sarkastisch reden. Da findet sie sich im Gespräch mit dem Gehülfen auf der Seite derer, die sich für die neumodische Niederreißung von trennenden Mauern einsetzen. Stadtwälle werden in dieser Epoche abgetragen, Gräben um Schlösser ausgefüllt – »man sollte glauben, der allgemeine Friede sei befestigt und das goldene Zeitalter vor der Tür« (II,8). Wie es zum sarkastischen Sprechen gehört, glaubt sie nicht etwa das, was sie da ausspricht, sondern gibt es einem milden Spott der Übertreibung preis. Der Sarkasmus ist in der Regel eine verschärfte Form von Ironie, er kann aber auch in die gleiche Kerbe hauen und die Vorstellungen (fast immer eines anderen) einem gutmütigen Spott aussetzen. Vollends fehl geht die Ehefrau Charlotte, wenn sie nach dem heftig zusetzenden Streitgespräch mit Eduard (I,16) »glaubt«, gewonnen zu haben. Sie kennt ihren Gatten doch nicht hinreichend, weiß hier nicht, was er noch im Schilde führt,10 und wenn sie im Wortgefecht irgendwie »gewonnen« hat, geht das nur auf Kosten ihrer Ehe. Schon dass sie den Disput mit ihrem Ehemann als ein Spiel von »Gewinnen/Verlieren« konzipiert, lässt sie als enger, als selbstsicherer erscheinen als es die Situation verlangen würde. Zuvor hatte sie,
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Letztlich ist es sein Kriegsdienst.
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in demselben Gespräch, Eduard versichert, sie wolle nicht länger in ihn »dringen«, und just das hat sie gerade getan.
Befehlen statt bitten Von Eduard wissen wir schon, dass er mit Untergebenen am liebsten in Befehlsform spricht (s.o.). Charlotte führt in ihrem Haushalt ein ähnlich striktes Regiment, aber gerade das Befehlen sucht sie tunlichst zu vermeiden. Wenn Gäste kommen, spricht sie lieber von »Anstalten«, die dadurch nötig werden. Wenn Ottilie sie fragt: »Wie befehlen Sie die Einrichtung?« (I,9). ist das eher als Spott, mindestens aber als übertriebene Dienstfertigkeit zu verstehen. An Ottilie ihrerseits wird lobend hervorgehoben, dass sie »anzuordnen« versteht, »ohne dass sie zu befehlen schien« (I.6).11 Wenn sie Eduard bittet und »beschwört« zu gehen, sagt er, wenn auch mit Bedauern: »Ich gehorche deinen Befehlen« (II,13). Der Hauptmann hat hier nichts zu befehlen und hütet sich, seine Vorschläge irgendwie dringlich zu machen.
Gegenseitiges Nachspionieren Die vier Protagonisten des »kleinen Zirkels« sind einander vielfältig zugetan und vertrauen einer dem andern. Einige ihrer Gäste, insbesondere Graf und Baronesse sowie den Gehülfen, beziehen sie zuverlässig in ihren familiären Umgang ein; der häufige Gast Mittler ist ihnen nicht ganz so lieb, aber sie dulden ihn ohne Protest. Unterhalb des bestehenden Vertrauens aber »forscht« häufig einer dem anderen nach, als ob er ihn ausspionieren (selbst aber nichts verraten) wollte. Eduard sieht eine »Unart« schon darin, dass ein anderer (hier ist es seine Frau,
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Allerdings ist »Anordnen« auch nicht frei von Befehls- und Unterordnungsverhältnissen, so wenn der Zug von der Kirche zum Festplatz in der Höhe gerade so verläuft, »wie es angeordnet war« (I,9).
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kein Zufall!) ihm ins Buch sieht, wenn er etwas vorliest (I,4). Wenn jemand »vorher weiß«, wohin es mit ihm oder erst einmal nur mit seinem Text »hinaus will«, dann ist ihm, als hätte er »ein Fensterchen vor [der] Stirn«, durch das der andere ihm seine Gedanken »einzeln zuzählen« könnte.12 Soweit Charlotte sich an diesem Spiel beteiligt, ist das oben schon angeführt; sie erweist sich als versierte Kennerin von Gemütslagen. Ottilie kann dieses leise »Anforschen« nur als »Verdacht« werten und von sich weisen (II,15). Die Baronesse zieht aus dem Ausholen ihrer Gesprächspartner, am liebsten und leichtesten Eduard, einen Genuss eigener Art (I,10, s.o.). Sie hat ihre eigene Art des »tastenden Gesprächs« entwickelt. Der Graf hat sich von dem Hauptmann schon ein Bild gemacht (ein sehr vorteilhaftes) und will ihn danach noch »recht ergründen« (dito). Die anderen aber beteiligen sich nicht minder an der permanenten Überwachung der übrigen. Eduard hat aus der Ferne die »Seinigen« »scharf beobachten lassen« (II,12) – meistens sind es die Aufpasser nicht selbst, die die Nachrichten über ihre Mitspieler einholen. In der Wiederannäherungsszene nach etwa einem Jahr Entfernung schleicht er sich buchstäblich aus einem »Hinterhalt« an und »bricht aus dem Gebüsch« hervor (II,13). Sein Kammerdiener hat für ihn Ottilies Reisezeit und -route »erforscht« (II,16). Charlotte hat sowohl die Szene vor dem Unglück am See als auch die Vorgänge in jenem Wirtshaus »herausgeforscht« (II,14; II,17), und dazwischen (II,15) sucht sie noch »anzuforschen«, ob nicht eine erneute »Annäherung« Ottilies an Eduard denkbar sei, was diese empört von sich weist. Der Arzt nimmt, stellvertretend für alle, Nanny heftig ins Gebet, wie viel oder wenig ihr Fräulein, Ottilie, gegessen habe (II,18). Selbst Mittler lässt sich ausschicken, Eduards »Gesinnungen«13 zu »erforschen«; dazu war er ihm schon »auf die Spur gekommen« – als ob er ein scheues Wild hätte jagen wollen (I,18). Dieses Wissenwollen ›hinter dem ›Rücken‹ der Betroffenen macht aus Goethes Roman noch keinen Krimi. Aber es unterstreicht
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Bemerkenswerterweise reagiert er gegenüber Ottilie völlig anders, ja lädt sie sogar ein, ihm ins Buch zu sehen. Natürlich nur in Bezug auf die Aufrechterhaltung seiner Ehe, alle seine sonstigen »Gesinnungen« haben ihn nichts anzugehen.
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die Hintergründigkeit und Doppelbödigkeit des höflich gefassten Austauschs. Nichts, außer den Liebesschwüren des entflammten Barons, ist einfach so gemeint, wie es sich anhört. Oder wenigstens wird alles unter den Verdacht gerückt, es könne ›nur strategisch‹, nur zur Ablenkung oder Beschwichtigung gesagt sein.
Einbruch des Unheimlichen in den gewohnten Redeaustausch Eduards letzter Dialog mit Ottilie ist äußerlich nur vom Missgeschick des zerrissenen Zusammenhangs gezeichnet. »Versprich mir zu leben!« war ihre letzte Aufforderung. »Ich versprech’ es!« sagt er. Er gedenkt ihr damit präzis zu antworten, aber, da wird die Redesituation regelrecht gespenstisch: Er glaubt noch mit der vertrauten Person zu reden, sie hört es aber nicht mehr, »sie war schon abgeschieden« (II,18, s.o.). Seine Replik ist ein kurzer, schlichter Satz, der seinen Sinn nur als genaue, gewissermaßen gehorsame und eigentlich selbstverständliche Reaktion auf ihre Aufforderung hat – und dieser Satz erreicht jetzt nur noch ihre Leiche, gerade nicht die Person, für die die Zustimmung gedacht war. Eigentlich war es ein Versprechen – wenn es nicht mehr gehört wurde, gilt es dann oder gilt es nicht? Wie Goethe hier mit wenigen Worten, gerade im Zusammenprall zwischen der Artikulation und dem Nichtmehrhören den Einbruch des Unheimlichen in das willfährigste Einverständnis gestaltet hat. das macht aus diesem schmerzlichen Werk ein Meisterstück. Selbst auf kleine Details verwendet er alle Sorgfalt. Trotz aller Irritationen aber, die sich aus dem Miteinandersprechen ergeben, zitiert Goethe ein paar Jahre später aus den Sprüchen Salomonis: »Eine richtige Antwort ist wie ein lieblicher Kuß«.14
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Maximen und Reflexionen Nr.888, aus Prov. 24, 26 (Luthers Übersetzung).
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Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)
Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne April 2020, 540 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-4789-1 E-Book: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4789-5
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Literaturwissenschaft Thorsten Carstensen (Hg.)
Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1
Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)
Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3
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