Wahlverwandtschaften: Kulturgeschichte der Freundschaft im deutschen Judentum, 1888-1938 9783161619755, 9783161619762, 3161619757

Philipp Lenhard widmet sich im vorliegenden Band der Kulturgeschichte der Freundschaft im deutschen Judentum vom wilhelm

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German Pages [369] Year 2023

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Table of contents :
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Titel
Inhalt
Umschriften und Schreibweisen
1. Einleitung
1.1. Historiographie der Freundschaft
1.2. Kulturgeschichte der Freundschaft
1.3. Ideologien der Freundschaft
1.4. Praktiken der Freundschaft
1.5. Kapitelüberblick und Zeitraum
2. Eine bürgerliche Gesellschaft
2.1. Juden als soziale Gruppe
2.2. Tradition und Religiosität
2.3. „Unsichtbares Judentum“
2.4. Freundschaften und Netzwerke
2.5. Jüdisches Milieu und kulturelle Renaissance
3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft
3.1. Krise der Ordnung
3.2. Verbürgerlichung und Konfessionalisierung
3.3. Krise des deutschen Judentums
3.4. Freud und die patriarchale Kleinfamilie
3.5. Generationenkonflikte
3.6. Antibürgerliche Rebellion
4. Die Zerstörung der alten Welt
4.1. Gemeinschaft versus Gesellschaft
4.2. Ludwig Klages und Theodor Lessing
4.3. Die Juden im Ersten Weltkrieg
4.4. Alfred Wolfensteins Messianismus der Freundschaft
5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel
5.1. Fraternitas und Fraternité
5.2. Juden im George-Kreis
5.3. Oskar Goldbergs „Philosophische Gruppe“
5.4. Nehemiah Anton Nobels Bund
6. Der Eros der Freundschaft
6.1. Freundschaft und Homosexualität
6.2. Die Reinheit der Freundschaft
6.3. Otto Weiningers Freundschaften
6.4. Benedict Friedlaenders Männerbund
6.5. Frauenfreundschaften
7. Aus der Bewegung
7.1. Eine neue Generation Blau-Weiß
7.2. Chaim Arlosoroffs „Tikwath Zion“
7.3. Die Brieffreundschaft Scholem-Benjamin
7.4. Antizipation der Erlösung
7.5. Fritz Heinle, der tote beste Freund
8. Seelenfreundschaft
8.1. Georg Simmels differenzierte Freundschaften
8.2. Margarete Susmans Sakralisierung der Freundschaft
8.3. Betty Heimanns Philosophie der Anerkennung
8.4. Dialogisches Prinzip
8.5. Siegfried Kracauers Seelenfreundschaft
9. Das richtige Leben
9.1. Eine glückliche Insel
9.2. Kein richtiges Leben im Falschen
9.3. Leo Strauss und Jacob Klein
9.4. Politik der Freundschaft
10. Der Freund als Mitmensch
10.1. Karl Löwith und das Judentum
10.2. Phänomenologie der Mitmenschlichkeit
10.3. Heideggers jüdische Kinder
10.4. Hannah Arendt und die Liebe
10.5. Die ewige Jugendfreundin Anne Mendelsohn
10.6. Philosophie der Nächstenliebe
11. Gegensätze ziehen sich an
11.1. Die wirklich beste Freundin
11.2. Erwin Loewensons Pathos der Freundschaft
11.3. Suchende Treue
11.4. Carmen Kahn-Wallersteins Antipoden
11.5. Heiden und Juden
12. Überleben
12.1. Freundschaft in finsteren Zeiten
12.2. Was war Freundschaft?
Quellen und Literatur
Archivalien
Literatur
Danksagung
Namensregister
Orts- und Sachregister
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Wahlverwandtschaften: Kulturgeschichte der Freundschaft im deutschen Judentum, 1888-1938
 9783161619755, 9783161619762, 3161619757

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Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 85 Unter Mitwirkung von

Michael Brenner · Astrid Deuber-Mankowsky · Sander Gilman Raphael Gross · Daniel Jütte · Miriam Rürup Stefanie Schüler-Springorum herausgegeben vom

Leo Baeck Institut London

Philipp Lenhard

Wahlverwandtschaften Kulturgeschichte der Freundschaft im deutschen Judentum, 1888–1938

Mohr Siebeck

Philipp Lenhard, geboren 1980; 2003–10 Studium der Judaistik, Philosophie und AngloAmerikanischen Geschichte; 2014 Promotion; 2022 Habilitation und Venia legendi; DAAD Associate Professor of History and German an der University of California, Berkeley. orcid.org/0000-0002-4294-8858

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung und der Stiftung Irene Bollag-­ Herzheimer. ISBN 978-3-16-161975-5 / eISBN 978-3-16-161976-2 DOI 10.1628/978-3-16-161976-2 ISSN 0459-097X / eISSN 2569-4383 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nati­onal­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. ©  2023 Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer aus der Minion gesetzt, von Druckerei Hubert & Co in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Den Umschlag entwarf Uli Gleis in Tübingen; Umschlagabbildung Archivzentrum der UB Frankfurt am Main, Na 2 Friedrich Pollock. Printed in Germany.

Inhalt Umschriften und Schreibweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1. Historiographie der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2. Kulturgeschichte der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.3. Ideologien der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.4. Praktiken der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.5. Kapitelüberblick und Zeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2. Eine bürgerliche Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1. Juden als soziale Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.2. Tradition und Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.3. „Unsichtbares Judentum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.4. Freundschaften und Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.5. Jüdisches Milieu und kulturelle Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.1. Krise der Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.2. Verbürgerlichung und Konfessionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.3. Krise des deutschen Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.4. Freud und die patriarchale Kleinfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.5. Generationenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.6. Antibürgerliche Rebellion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

4. Die Zerstörung der alten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4.1. Gemeinschaft versus Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 4.2. Ludwig Klages und Theodor Lessing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 4.3. Die Juden im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4.4. Alfred Wolfensteins Messianismus der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 72

5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel . . . . . . . . . . . . . 85 5.1. Fraternitas und Fraternité . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

VI

Inhalt

5.2. Juden im George-Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 5.3. Oskar Goldbergs „Philosophische Gruppe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 5.4. Nehemiah Anton Nobels Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

6. Der Eros der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6.1. Freundschaft und Homosexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6.2. Die Reinheit der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 6.3. Otto Weiningers Freundschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 6.4. Benedict Friedlaenders Männerbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 6.5. Frauenfreundschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

7. Aus der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 7.1. Eine neue Generation Blau-Weiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 7.2. Chaim Arlosoroffs „Tikwath Zion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 7.3. Die Brieffreundschaft Scholem-Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 7.4. Antizipation der Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 7.5. Fritz Heinle, der tote beste Freund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

8. Seelenfreundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 8.1. Georg Simmels differenzierte Freundschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 8.2. Margarete Susmans Sakralisierung der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 169 8.3. Betty Heimanns Philosophie der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 8.4. Dialogisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 8.5. Siegfried Kracauers Seelenfreundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

9. Das richtige Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 9.1. Eine glückliche Insel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 9.2. Kein richtiges Leben im Falschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 9.3. Leo Strauss und Jacob Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 9.4. Politik der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

10. Der Freund als Mitmensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 10.1. Karl Löwith und das Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 10.2. Phänomenologie der Mitmenschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 10.3. Heideggers jüdische Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 10.4. Hannah Arendt und die Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 10.5. Die ewige Jugendfreundin Anne Mendelsohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 10.6. Philosophie der Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

Inhalt

VII

11. Gegensätze ziehen sich an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 11.1. Die wirklich beste Freundin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 11.2. Erwin Loewensons Pathos der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 11.3. Suchende Treue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 11.4. Carmen Kahn-Wallersteins Antipoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 11.5. Heiden und Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

12. Überleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 12.1. Freundschaft in finsteren Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 12.2. Was war Freundschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Umschriften und Schreibweisen Grundsätzlich wurden alle nicht-deutschsprachigen Zitate vom Autor übersetzt. In einzelnen Fällen war es aber notwendig, den Originalausdruck in runden oder eckigen Klammern zusätzlich anzugeben. Bei jiddischen Ausdrücken wurde den Standardregeln des YIVO (Institute of Jewish Research, New York) gefolgt, obgleich diese sich an der Aussprache des Englischen orientieren. Bei der Umschrift hebräischer und aramäischer Begriffe wurde versucht, sowohl den Wortklang zu beachten als auch die originalsprachliche Schreibweise möglichst nachvollziehbar wiederzugeben. Das heißt konkret, dass beim Verschlusslaut zwischen ‫ א‬und ‫ ע‬unterschieden wird und das stumme ‫ ה‬am Wortende wiedergegeben wird (Ausnahme: Wörter, die im Deutschen allgemein geläufig sind und im Duden verzeichnet sind, wie zum Beispiel „Halacha“). Zwischen ‫ ט‬und ‫ ת‬sowie zwischen ‫ס‬, ‫ ז‬und ‫ שׂ‬wird dagegen nicht unterschieden. Der Doppelvokal ‫ י‬im Status constructus maskulinum-plural wird als ej dargestellt. ‫ א‬ a (Verschlusslaut: ’) ‫ ב‬ b, v ‫ ג‬g ‫ ד‬d ‫ ה‬h ‫ י‬ i, j ‫ ח‬ch ‫ ט‬t ‫ ו‬ w, o, u ‫ ז‬s ‫ ך‬,‫ כ‬ k, ch ‫ ל‬l ‫ ם‬,‫ מ‬m ‫ ן‬,‫ נ‬n ‫ ס‬s ‫ ע‬ a, e (Verschlusslaut: ‘) ‫ ץ‬,‫ צ‬ts ‫ ק‬k ‫ ר‬r ‫ שׁ‬sh ‫ שׂ‬s ‫ ת‬t

1. Einleitung .‫ מן–האחד‬,‫טובים השנים‬ Kohelet 4, 9

1

Um die Wende zum 20. Jahrhundert unterlag das deutsche Judentum tiefgreifenden Veränderungen.2 Das alte, konfessionell verstandene Modell des Judentums geriet mit der bürgerlichen Gesellschaft in eine Krise, von der es sich nicht erholen sollte.3 Hatte die seit dem Ende des Ancien Régime auf der Tagesordnung stehende und in Deutschland 1871 abgeschlossene Emanzipation auf einer radikalen Reform des Judentums als einer Glaubensgemeinschaft beruht, so büßte im Fin-de-siècle eben jene religiös-konfessionelle Zugehörigkeit immer mehr ihre Anziehungskraft ein.4 Doch mit Säkularisierung und Akkulturation löste sich das Judentum keineswegs auf, wie schon damals einige Zeitgenossen befürchteten. Vielmehr suchten Jüdinnen und Juden neue Formen des Jüdischen, mit denen sie sich identifizieren konnten und die zu ihren Lebensentwürfen  Hebräisch: „Zwei sind besser als einer allein.“ Begriff „deutsches Judentum“ werden in dieser Arbeit alle deutschsprachigen Juden zugeordnet. Der Fokus liegt allerdings auf denjenigen Juden, die für einen längeren Zeitraum auf dem Gebiet des Deutschen Reiches lebten und Deutsch als Muttersprache hatten. Anders als in dem vierbändigen Standardwerk von Michael A. Meyer (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. München 2000 wird die Entwicklung im Habsburger Reich und dessen Nachfolgestaaten – mit Ausnahme Wiens – hier nur am Rande gestreift. Dass die Selbst- und Fremdzuschreibungen, jüdisch oder nichtjüdisch zu sein, nicht immer kongruent sind, häufigem Wandel unterliegen und in ihren konkreten Bedeutungen überaus komplex sind, ist ein in den Jüdischen Studien altbekanntes Problem. Die meisten in dieser Arbeit vorkommenden Personen waren sowohl dem Religionsgesetz als auch dem eigenen Verständnis nach Juden. Wo dies vor allem aufgrund von Konversionen nicht der Fall war, wird das Verhältnis zum Judentum explizit thematisiert. 3 Vgl. Robert Weltsch: Die schleichende Krise der jüdischen Identität. In: Ders.: Die deutsche Judenfrage. Ein kritischer Rückblick. Königstein 1981, S. 11. Zum Beispiel Frankfurts siehe Andrea Hopp: Jüdisches Bürgertum in Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1997, besonders S. 244 f. Die Gemeindeaustritte am Beispiel Berlins untersucht Peter Honigmann: Die Austritte aus der Jüdischen Gemeinde Berlin, 1873–1941. Frankfurt am Main 1988. 4 Zum Wandel des Judentums vgl. unter anderem Philipp Lenhard: Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland, 1782–1848. Göttingen, Bristol 2014; Leora Batnitzky: How Judaism Became a Religion. An Introduction to Modern Jewish Thought. Princeton 2013; Michael A. Meyer: Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum. Wien u. a. 2000; Michael A. Meyer: Modernity as a Crisis for the Jews. In: Modern Judaism 9, 2 (1989), S. 151–164. 1

2 Dem

2

1. Einleitung

passten.5 Diese Neukonzeptionen des Jüdischen forderten in all ihrer Vielfalt das bürgerlich-konfessionelle Modell der Eltern- und Großelterngeneration heraus, teilweise im offenen Konflikt mit den überkommenen Werten und Normen der jüdischen Tradition. Im Zuge dieser Entwicklung, so die These dieses Buches, entwickelte sich die Freundschaft zwischen Juden zu einer eigenständigen jüdischen Sozialform – Jüdisch sein bedeutete für viele Zeitgenossen vor allem, mit anderen Juden zusammen zu sein. Wie Juden diese Freundschaften gepflegt haben, was Freundschaft für sie bedeutete und inwiefern diese Freundschaften „jüdisch“ waren, ist Thema der vorliegenden Untersuchung. Dabei stehen die vielfältigen Praktiken, Konzepte und Ideen der Freundschaft als neuartige Lebensentwürfe, die oftmals explizit gegen die bürgerlich-assimilierte Welt der Elterngeneration gerichtet waren, im Mittelpunkt des Interesses.

1.1. Historiographie der Freundschaft Das grundlegende Problem, dem sich jeder Historiker der Freundschaft stellen muss, ist die scheinbare Banalität der Freundschaft. Jeder meint zu wissen, was Freundschaft ist. Daraus leitet sich eine Skepsis gegenüber dem Forschungsfeld der Freundschaftsgeschichte ab, wie sie in der Vergangenheit auch schon gegenüber der inzwischen als Feld etablierten Emotionsgeschichte gepflegt wurde, die einige Schnittmengen mit der Freundschaftsgeschichte aufweist. Beide seien zu trivial, um bedeutsam, und zu unbestimmt, um wissenschaftlich greifbar zu sein.6 Entsprechend wurde das Thema Freundschaft in der Geschichtswissenschaft lange Zeit schlicht ignoriert.7 Der Historismus des 19. und frühen 5 Im weiteren Verlauf wird das generische Maskulinum verwendet, wenn nicht ausschließlich das (grammatische) weibliche Geschlecht gemeint ist. Dies dient einzig der besseren Lesbarkeit und ist nicht als identitätspolitisches Statement zu verstehen. 6 Die kritischen Einwürfe hinsichtlich der Emotionsgeschichte diskutiert Barbara H. Rosenwein: Problems and Methods in the History of Emotions. In: Passions in Context. Journal of the History and Philosophy of the Emotions 1, 1 (2002), online auf: https://tinyurl.com/4exwx9xf (letzter Zugriff: 10.12.22). 7 Einen Überblick der Geschichte der Freundschaft, aber ohne eine jüdische Perspektive, gibt Barbara Caine (Hg.): Friendship. A History. London 2014. In den Jüdischen Studien steht das Thema Freundschaft tatsächlich noch ganz am Anfang. Kurz vor der Fertigstellung dieser Arbeit ist erschienen: Lawrence Fine (Hg.): Friendship in Jewish History, Religion, and Culture. Philadelphia 2021. Die ersten, alltagsgeschichtlich ausgerichteten Beiträge stammen von Marion Kaplan: Friendship on the Margins: Jewish Social Relations in Imperial Germany. In: Central European History 34, 4 (2001), S. 471–501 sowie dies.: Unter Uns: Jews Socialising with other Jews in Imperial Germany. In: Leo Baeck Institute Year Book 48 (2003), S. 41–65. Vgl. auch Philipp Lenhard (Hg.): Lebensfreundschaften jüdischer Intellektueller im 20. Jahrhundert (= Themenheft der Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 9, 2). München 2015. Verschiedenartige essayistische Beiträge sind außerdem enthalten in: Gisela Dachs (Hg.): Jüdischer Almanach der Leo Baeck Institute. Freundschaften Feindschaften. Essays. Berlin 2020. Gedanken zu jüdischen Frauenfreundschaften enthält Marilyn Yalom, Theresa Donovan Brown: Freundin-

1.1. Historiographie der Freundschaft

3

20. Jahrhunderts war bekanntlich an Staaten und bedeutenden Einzelpersonen als wichtigsten Subjekten der Geschichte interessiert, „während die Wirtschaftsund Sozialgeschichte, deren Aufstieg in den 1960er Jahren begann, den Schwerpunkt auf gesellschaftliche Großgruppen mit ihren vielfältigen inneren und äußeren Konflikten legte“.8 Freundschaft als „Phänomen der gesellschaftlichen Mikroebene“, resümiert der Frühneuzeithistoriker Christian Kühner, „geriet angesichts dieser Paradigmen lange nicht in den Blick. Erst in den 1970er Jahren nahm sich die historische Netzwerkanalyse des Themas der interpersonalen Beziehungen an.“9 Aber auch diese Netzwerkanalysen hatten und haben häufig einen sehr eigentümlichen Blick auf das Phänomen der Freundschaft, wenn sie es denn überhaupt beachten. Sie orientieren sich häufig an frühneuzeitlichen Modellen, wie etwa an Norbert Elias’ klassischer Studie über die Hofkultur in Versailles, und interessieren sich folglich vor allem für funktionale Machtbeziehungen, Distributionsprozesse und Abhängigkeitsverhältnisse.10 Nicht zufällig heißt das entsprechende, 2005 ins Leben gerufene Exzellenzcluster in Mainz und Trier „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke“.11 Freundschaft wird also in den Geschichtswissenschaften analog zur soziologischen Forschung bislang vornehmlich als soziale Nutzenbeziehung beschrieben.12 Aspekte der Spontaneität, der Selbstlosigkeit und der Freiheit, die für die historischen Protagonisten von entscheidender Bedeutung waren, werden damit systematisch ausgeblendet.13 Die Geschichte der Freundschaft zu schreiben ist, wie so viele andere historische Gegenstände auch, mit der Gefahr der Rückprojektion behaftet. Was nen. Eine Kulturgeschichte. München 2017. Zur jüdisch-christlichen Freundschaft siehe Daniel Jütte: Interfaith Encounters between Jews and Christians in the Early Modern Period and Beyond: Toward a Framework. In: American Historical Review 118, 2 (2013), S. 378–400. Zu biblischen Freundschaftskonzeptionen siehe Saul M. Olyan: Friendship in the Hebrew Bible. New Haven 2017. Weitere Arbeiten, in denen das Thema Freundschaft breit oder zumindest am Rande diskutiert wird, finden sich in den folgenden Anmerkungen.  8 Christian Kühner: Geschichte der Freundschaft. In: Janosch Schobin u. a. (Hg.): Freundschaft heute. Eine Einführung in die Freundschaftssoziologie. Bielefeld 2016, S. 80.  9  Ebd. 10 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt am Main 2002. 11 Eine repräsentative Publikation des Clusters ist Curt W. Hergenröder (Hg.): Gläubiger, Schuldner, Arme. Netzwerke und die Rolle des Vertrauens. Wiesbaden 2010. 12 Ein besonders drastisches Beispiel ist Alois Hahn: Zur Soziologie der Freundschaft. In: Katharina Münchberg, Christian Reidenbach (Hg.): Freundschaft. Theorien und Poetiken. München 2012, S. 67–77. 13 Einige Monographien, die aus dem Freiburger Graduiertenkolleg „Freunde, Gönner, Getreue“ hervorgegangen sind, nehmen diese Aspekte von Freundschaft auf. Vgl. etwa Doris Danzer: Zwischen Vertrauen und Verrat. Deutschsprachige kommunistische Intellektuelle und ihre sozialen Beziehungen (1918–1960). Göttingen 2012 und Laura Polexe: Netzwerke und Freundschaft. Sozialdemokraten in Rumänien, Russland und der Schweiz an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Göttingen 2011.

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1. Einleitung

Freundschaft für die Menschen im 19. und 20. Jahrhundert war, ist nicht unbedingt identisch mit dem, was sie uns im 21. Jahrhundert bedeutet. Umso wichtiger ist es, sich vor Augen zu führen, dass nicht seriös über Freundschaft als überzeitliches und globales Phänomen geschrieben werden kann, sondern immer nur über eine spezifische historisch-kulturelle Ausprägung derselben. Wer über diese Geschichte schreibt, hat es immer mit einem sich wandelnden Konzept zu tun, mit historisch sich entwickelnden Semantiken, Ideen und Praktiken der Freundschaft.14 Deshalb hilft auch die vermeintlich aus eigener Erfahrung gewonnene Vertrautheit mit dem Gegenstand nicht, sondern wirkt eher störend, weil sich in der Betrachtung der Quellen unser postmodernes Verständnis von Freundschaft vor ein kritisches Analyseraster zu schieben droht. In meist eher populären philosophischen Büchern über die Freundschaft ist genau dies sehr häufig zu beobachten: Vermeintlich up to date beginnen die entsprechenden Aufsätze und Bücher dann mit den sozialen Medien Facebook, Instagram und Twitter, nur um im nächsten Moment ins Schloss Versailles oder in die Berliner Salons zu springen.15 Mit anderen Worten: Eine zentrale Aufgabe der historischen Freundschaftsforschung ist es, für die Geschichtlichkeit von Freundschaft zu sensibilisieren und vor vorschnellen Verallgemeinerungen zu warnen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass nicht in allen Gesellschaften und in allen geschichtlichen Epochen Freundschaft gleich wichtig war: „In bestimmten Völkern und Epochen“, so der Soziologe Friedrich Tenbruck bereits in den sechziger Jahren, „brechen Freundschaftsbeziehungen machtvoll hervor und werden zur normalen Lebensform, während bisweilen und anderswo Freundschaft völlig fehlt.“16 Die jüdische Tradition, so habe ich an anderer Stelle gezeigt, weist bis in die Neuzeit einen eher schwachen, wenngleich hochgradig komplexen Bezug zur Freundschaft auf.17 Inwiefern das mit den Eigenarten der jüdischen Religion und Kultur zu tun hat, deren textueller Kern vor allem auf Entitäten wie Volk, Stamm und Familie bezogen ist, kann an dieser Stelle nicht ausführlicher diskutiert werden. Fest steht allerdings, dass das Judentum in all seiner Vielfalt trotzdem zahlreiche Formen und Konzepte von Freundschaft herausgebildet hat, an die 14 Siehe

dazu analog auch die Erkenntnisse der neueren Emotionsforschung. Vgl. etwa Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012; Rob Boddice: The History of Emotions. Manchester 2018. 15 Vgl. besonders Alexander Nehamas: Über Freundschaft. München 2017 und Lorenz Jahn: Add me! – Vom Freundschaftsband zum Friendsrequest. Über die Entstehung von Freundschaft in Facebook. Hamburg 2015. Björn Vedder: Neue Freunde. Über Freundschaft in Zeiten von Facebook. Berlin 2017 dagegen verzichtet auf eine historische Herleitung und beschränkt sich auf eine Analyse des Facebook-Phänomens. 16 Friedrich Tenbruck: Freundschaft. Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 436. 17 Philipp Lenhard: Freundschaft in der jüdischen Tradition – ein Streifzug von der Bibel bis ins 20. Jahrhundert. In: Gisela Dachs (Hg.): Jüdischer Almanach der Leo Baeck Institute. Freundschaften Feindschaften. Essays. Berlin 2020, S. 13–25.

1.1. Historiographie der Freundschaft

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Juden in der Moderne anknüpfen konnten. Zugleich ist einer Geschichte der Freundschaft im deutschen Judentum des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wenig damit geholfen, „jüdische Freundschaft“ überhistorisch zu essentialisieren und von Bibel und Talmud unvermittelt in die Moderne zu springen. Rückgriffe auf die Tradition sind immer Aneignungen, Anverwandlungen – damit zugleich aber auch Modifizierungen. Dennoch erscheint es im Anschluss an Friedrich Tenbruck sinnvoll, nach spezifischen Freundschaftstraditionen in gesellschaftlichen Subsystemen zu fragen. Schließlich „wechseln die Arten und Formen der Freundschaft mit der Kultur und der sozialen Gruppe, so dass in der gleichen Kultur und Epoche in einem Stand diese, in einem anderen jene Art der Freundschaft herrscht.“18 Wie einschneidend die Akkulturations- und Säkularisierungsprozesse im deutschen Judentum des späten 19. Jahrhunderts auch gewesen sein mögen: Religiöse Symbole, Ideen und Metaphern haben sich in veränderter Gestalt in der Moderne erhalten oder sich gar in neue Lebensbereiche ausgebreitet und diversifiziert. Das bedeutet in der Folge, dass die unterschiedliche religiös-kulturelle Prägung von Individuen und deren Lebensformen auch in „gottlosen Jahren“ (Alfred Wolfenstein) weiterhin eine große Rolle für die Realgestalt von Freundschaften spielten. Die Moderne hat kulturelle und religiöse Differenzen nicht einfach aufgelöst, sondern diese transformiert und in eine neue Konstellation gestellt.19 Deshalb ist es plausibel, neben dem allgemeinen Epochenphänomen der Freundschaft auch nach spezifisch jüdischen Ausdrucksformen zu fragen, deren Analyse differenziertere Konturen eines ansonsten eher abstrakten Konzepts hervortreten lässt. Tenbrucks Definition folgend werden Freundschaften hier als persönliche Beziehungen verstanden, die Menschen „nicht vorwiegend oder ausschließlich in engen, zweckbestimmten und leistungsorientierten Rollen zusammenführen“.20 Anders als bei Familien- und Verwandtschaftszusammenhängen wählt man sich seinen Freund aus freien Stücken. Freundschaften sind Wahlverwandtschaften. 18 Tenbruck:

Freundschaft, S. 436. dazu besonders Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main 1991 und Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2007. Zum Stand der neueren Säkularisierungsforschung vgl. Detlef Pollack: Varieties of Secularization Theories and Their Indispensable Core. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 90, 1 (2015), S. 60–79. In den Jüdischen Studien ist größtenteils noch immer die alte Säkularisierungsthese verbreitet, die von einem kontinuierlichen Verschwinden der Religion ausgeht. Dies hat Gründe, die auch mit der „nachholenden Religionisierung“ des Judentums im 19. Jahrhundert zu tun haben. Vgl. dazu Batnitzky: How Judaism Became a Religion. Noch 2011 musste Shmuel Feiner: The Origins of Jewish Secularization in Eighteenth-Century Europe. Philadelphia, Oxford 2011 in seiner Pionierstudie über die Säkularisierung auf die Konzepte von Peter L. Berger und Hugh McLeod zurückgreifen, die sich nur bedingt auf die jüdische Entwicklung anwenden lassen. Vgl. ebd., S. xii f. Peter L. Berger: The Sacred Canopy. Elements of a Sociological Theory of Religion. Garden City 1967; Hugh McLeod: Secularization in Western Europe 1848–1914. New York 2000. 20 Tenbruck: Freundschaft, S. 431. 19 Vgl.

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1. Einleitung

Damit handelt es sich um „personale Beziehungen zwischen erst einmal zwei Menschen, sofern sie das Moment der wechselseitigen Wahl in der Gesellung enthalten“.21 Zugleich aber weist Tenbruck auch auf den ideologischen Charakter von Freundschaft hin, der darin besteht, dass der Schein der freien Wahl allzu oft die gesellschaftliche und kulturelle Prägung der Freundschaft überdeckt. Bei genauerer Betrachtung sind es häufig Individuen aus ähnlichen Milieus, die sich als Freunde zusammenschließen und damit gewissermaßen eine Subkultur en miniature bilden.22 Zugleich scheint der Aspekt der Generationalität große Bedeutung für das Zustandekommen von Freundschaften zu haben, impliziert doch dieselbe Altersstufe einen spezifischen Blickwinkel auf gemeinsame Probleme und Herausforderungen, zu deren Bewältigung die Freundschaft sich konstituiert. „Man muß im selben historisch-sozialen Raume – in derselben historischen Lebensgemeinschaft – zur selben Zeit geboren worden sein“, schreibt der Soziologe Karl Mannheim 1928, „um die Hemmungen und die Chancen jener Lagerung passiv ertragen, aber auch aktiv nützen zu können.“23 Solche „Lebensgemeinschaft“ ist aber nicht abstrakt als „Gesellschaft“ zu verflachen, sondern muss den Blick tatsächlich auf die Lebenswelt der historischen Akteure richten: Wer lebt mit wem, unter welchen Umständen und auf welche Weise?

1.2. Kulturgeschichte der Freundschaft Wissenschaftsdisziplinär handelt es sich bei dem vorliegenden Buch um eine „Kulturgeschichte“ der Freundschaft, die sich selbst in der Tradition der angelsächsischen New Cultural History verortet, wie sie beispielhaft von Lynn Hunt, Sander Gilman und Thomas Laqueur vertreten wird.24 Das bedeutet konkret, Sozial- und Alltagsgeschichte mit Ideen- und Diskursgeschichte zu verbinden. Anstelle neuer Masternarrative setzt die (gar nicht mehr so) neue Kulturgeschichte laut Hunt auf eine „genaue Untersuchung von Texten, Bildern und Handlungen“ sowie auf eine „Offenheit gegenüber dem, was diese Untersuchungen enthüllen“.25 Zugleich sind die historischen Quellen – „Texte, Bilder und Handlungen“  – Ausdruck einer durchaus widersprüchlichen Kultur, die 21 Ebd.

22 Den Begriff der Subkultur hat für die deutsch-jüdische Geschichte David Sorkin eingeführt. Siehe sein Buch The Transformation of German Jewry, 1780–1840. New York, Oxford 1987, besonders S. 5–9. 23 Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7, 3 (1928), S. 309. 24 Vgl. Lynn Hunt: The Family Romance of the French Revolution. Berkeley, Los Angeles 1992; Thomas W. Laqueur: Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge 1990; Ders.: The Work of the Dead: A Cultural History of Mortal Remains. Princeton 2015; Sander L. Gilman: The Jew’s Body. New York 1991. 25 Lynn Hunt: Introduction. In: Dies. (Hg.): The New Cultural History. Berkeley 1989, S. 22.

1.2. Kulturgeschichte der Freundschaft

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nicht nur als Summe ihrer Teile untersucht werden kann, sondern in Interaktion mit parallelen und gegenläufigen Prozessen außerhalb ihrer selbst steht. Ausgehend von einer skizzenhaft angelegten sozialgeschichtlichen Kontextualisierung konzentriert sich die Untersuchung daher auf jüdische Intellektuelle, insofern diese Freundschaft nicht nur gelebt, sondern auch konzeptionell gedacht haben. Obwohl mit diesem Ansatz keine strenge Repräsentativität und Verallgemeinerbarkeit beansprucht wird, müssen die untersuchten Diskussionen über Freundschaft, um sie angemessen zu verstehen, in den Kontext des allgemeinen Freundschaftsdiskurses der Zeit gesetzt werden.26 Darüber hinaus ist Freundschaft jedoch kein rein diskursives Konzept, sondern ein lebenspraktisches Modell, das sich erst in den Konflikten und Widersprüchen des Alltags bewährt. Um seiner historischen Wirklichkeit auf die Spur zu kommen, bedarf es deshalb genau jener Verschränkung von Sozial- und Ideengeschichte, wie sie in den neueren Ansätzen der Kulturgeschichte ihren Ausdruck findet. Erst in dieser kulturhistorischen Synthese ergibt sich ein differenziertes Bild der Freundschaftsgeschichte deutscher Juden in der Moderne. Zwei analytische Schlüsselkategorien, mit denen die Kulturgeschichte der Freundschaft im deutschen Judentum in dieser Arbeit rekonstruiert wird, sind Ideologie und Praxis. Auch wenn der Begriff der Ideologie heute, wie Ulrich Dierse schon in den achtziger Jahren schrieb, häufig eher diffus verwendet wird und „selbst in hohem Maße ideologisiert“ ist, erweist er sich für das Thema dieser Arbeit als äußerst fruchtbar.27 Im Unterschied zu „Theorie“, „Konzept“, „Modell“ oder auch „Idee“ verweist „Ideologie“ immer schon auf die Notwendigkeit einer praktischen Umsetzung in soziales oder politisches Handeln. „Ideologen“ machen keine Gedankenexperimente, sondern wollen die Welt, in der sie leben, tätig verändern. Dieser soziopolitische Charakter von „Ideologie“ ist fast allen untersuchten Freundschaftskonzeptionen zueigen. Da jedoch der Alltagsverstand heute mit „Ideologie“ vor allem die großen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts (Sozialismus, Faschismus, Liberalismus und so weiter) assoziiert, ist eine theoretische Abgrenzung des in diesem Buch verwendeten Ideologiebegriffs zwingend geboten.28 Zudem wurde mit Rücksicht auf die alltagssprachliche Bedeutung darauf verzichtet, den Begriff selbst durchgängig explizit zu nennen. Die folgenden Ausführungen sind daher als metho26 Quentin Skinner: Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte. In: Martin Mulsow, Andreas Mahler (Hg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Berlin 2010, S. 21–87. Die Grenzen der Kontextualisierung betont Martin Jay: Historical Explanation and the Event: Reflections on the Limits of Contextualization. In: New Literary History 42 (2011), S. 557–571. 27 Ulrich Dierse: Ideologie. In: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3: H–Me. Hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Stuttgart 1982, S. 131. 28 Einen Überblick über die Begriffsgeschichte gibt Kurt Lenk (Hg.): Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie. Frankfurt am Main, New York 91984. Siehe auch Hans Barth: Wahrheit und Ideologie. Frankfurt am Main 1974 sowie Karl-Heinz Rothers: Reflexionen über Ideologie und Ideologiekritik. Würzburg 1998.

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1. Einleitung

dische Reflexion über den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit Theorien, Modellen, Ideen oder Konzepten der Freundschaft zu verstehen, die allesamt Erscheinungsformen von Ideologie sein können. Ideologien der Freundschaft können sich insofern zwar sehr wohl in politischen Theorien, sozialen Modellen, philosophischen Ideen oder praxisorientierten Konzepten der Freundschaft verdichten, umgekehrt ist aber nicht jede Theorie, jedes Modell, jede Idee oder jedes Konzept „ideologisch“. Was also sind Ideologien der Freundschaft genau und wieso interessieren gerade sie uns so sehr?

1.3. Ideologien der Freundschaft Der Ideologiebegriff ist ein spezifisch neuzeitlicher Neologismus, der im Nachgang der Französischen Revolution als aufklärerische Wissenschaftsdisziplin entstand und im Vormärz zum politischen Kampfbegriff wurde.29 Als Antoine Destutt de Tracy 1796 den Begriff erstmals einführte, verstand er darunter eine „Wissenschaft der Ideen“, die als sensualistisch grundierte Bewusstseinsphilosophie gegen die klassische Metaphysik und nicht zuletzt gegen die Theologie gerichtet war.30 Es ging Destutt de Tracy aber nicht nur um die Etablierung einer neuen prima philosophia, sondern auch, aus ihr hervorgehend, um die rationale Umgestaltung der Gesellschaft. „Ideologie“ konnte in seiner Konzeption nicht unmittelbar in politisches Handeln umgesetzt werden, sehr wohl aber sollten die Resultate „ideologischer“ Forschung in eine bessere Einrichtung der Gesellschaft (art social) einmünden.31 Es war Napoleon, der, obwohl anfangs durchaus mit der Schule der „idéologues“ sympathisierend, maßgeblich dazu beitrug, dass Ideologie zum politischen Schlagwort wurde, das den politischen Gegner als wirklichkeitsfernen Träumer und Fantasten herabsetzen sollte. Weil die liberalen Forderungen der Ideologen, insbesondere im Bereich der Erziehung und Bildung, das Konkordat von 1804 infrage stellten, ging Napoleon dazu über, sie als weltfremde Schwätzer darzustellen, die sich mit ihren abstrakten Ideen unrechtmäßig in die Politik einmischten. In Deutschland griffen Gegenaufklärer wie Friedrich Heinrich Jacobi die Invektive vereinzelt auf, aber erst im Vormärz verbreitete sich im konservativen Milieu die Klassifizierung als „Ideologe“ für jene, „die auf die Verwirklichung der Prinzipien der Französischen Revolution, auf Liberalisierung, Volkssouveränität, Pressefreiheit, Emanzipation der Juden, Errichtung einer Ver29 Das griechische Substantiv idiologíā („Sondermeinung“, „privates Gespräch“) ist laut Dierse (Ideologie, Anm. 1) nicht mit „Ideologie“ verwandt. 30 Vgl. Ulrich Lorenz: Das Projekt der Ideologie. Studien zur Konzeption einer „Ersten Philosophie“ bei Destutt de Tracy. Stuttgart u. a. 1994. 31 A[ntoine] Destutt-Tracy: Élémens d’idéologie, Bd. 1. Paris 21804, S. 227.

1.3. Ideologien der Freundschaft

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fassung usw. dringen“.32 Der Begriff Ideologie war somit eindeutig progressiv konnotiert, und die hehren Ideale, denen die Ideologen anhingen, wurden als bloße Phrasen, Wahnbilder und Schwärmereien abgewertet. Erstaunlicherweise hat Karl Marx, der bekanntlich alles andere als ein Konservativer war, diesen gegenaufklärerischen Impuls aufgenommen, als er wie kein zweiter den modernen Ideologiebegriff prägte. In den innerlinken Parteikämpfen, die Marx und Engels ausfochten, richteten sie sich ebenfalls gegen die Schwärmer und Utopisten des sogenannten „deutschen Sozialismus“, den sie jedoch zugleich für rückwärtsgewandt und fortschrittsfeindlich hielten.33 Als Materialist witterte er in den politischen und moralischen Idealen seiner linken Rivalen bloße Illusionen, die im Widerspruch zur realen politischen und ökonomischen Entwicklung standen. Es gehe aber nicht darum, die Gedanken der Menschen zu verändern, sondern die Produktionsverhältnisse, die die Menschen erst auf solche Gedanken brächten. Dieses kritische Verständnis von Ideologie als „notwendig falsches Bewusstsein“ sollte die marxistische Theoriebildung bis ins 20. Jahrhundert hinein bestimmen.34 Ideologen  – das waren die anderen, während man selbst die unverfälschte Wahrheit erkannt hatte. Inwiefern eignet sich vor diesem begriffsgeschichtlichen Hintergrund der Ideologiebegriff, um die Geschichte der Freundschaft nachzuzeichnen? Wird die Idee der Freundschaft damit nicht a priori als Verschleierung sozialer Widersprüche abgestempelt? Bedeutet „Ideologie der Freundschaft“ nicht automatisch, dass es sich bei ihr um falsche Vorstellungen richtigen Lebens handelt? Diesen Eindruck gilt es in der Tat zu vermeiden, schließlich soll hier kein normatives Urteil über die einzelnen im Buch behandelten Freundschaftskonzeptionen gefällt werden, sondern vielmehr herausgearbeitet werden, was diese für die historischen Akteure konkret bedeuteten. Auf welche Fragen lieferte „Freundschaft“ Antworten? Inwiefern stellte „Freundschaft“ eine Alternative zur Welt der Elterngeneration dar? Wie ließ sich „Freundschaft“ konkret praktizieren? Welche Möglichkeiten und Potentiale bot „Freundschaft“ aus Sicht der Zeitgenossen? Welche Gefahr ging von ihr aus? Wie unterschied sie sich von anderen Sozialformen? Diese und andere Fragen können nur beantwortet werden, wenn Freundschaft als offenes Konzept verstanden wird, das äußerst vielfältig ist, aber immer die Notwendigkeit einer Praxis der Freundschaft einbegreift. Zugleich allerdings – und diesen Vorzug hat nur der Begriff der Ideologie – speisen 32 Dierse:

Ideologie, S. 141 f. insbesondere Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten [1845/46]. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 3. Berlin 1969, S. 5–530. 34 Vgl. insbesondere Georg Lukács: Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats. In: Ders.: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik [1923]. Neuwied 1968, S. 97–191 und Karl Korsch: Marxismus und Philosophie. Leipzig 1923. 33 Siehe

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1. Einleitung

sich die von den Intellektuellen entwickelten Ideen, Modelle, Theorien und Konzeptionen von Freundschaft aus den sozialen Verhältnissen, denen sie entstammen, und sind damit auch Ausdruck eines gruppenspezifischen Blickes auf die Welt. Ihre Ideologien der Freundschaft sind Antworten auf Fragen, die sich ihnen in einer bestimmten historischen Situation in einer besonderen sozialen und politischen Lage stellten. Deshalb meint Ideologie in dieser Arbeit im Anschluss an Karl Mannheims Buch Ideologie und Utopie von 1929 zunächst einmal ganz wertneutral geistige Formationen, die „seinsgebunden“, also in den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen der historischen Akteure verankert sind.35 Mannheim hatte erstmals den Ideologiebegriff aus dem marxistischen Korsett herauszulösen versucht und entgegen einer partikularen, lediglich bestimmte Bewusstseinsformen für „ideologisch“ haltenden Perspektive einen „totalen Ideologiebegriff “ vertreten: Man kann von der Ideologie eines Zeitalters oder einer historisch-sozial konkret bestimmten Gruppe – einer Klasse etwa – in dem Sinne reden, daß man dabei die Eigenart und die Beschaffenheit der totalen Bewußtseinsstruktur dieses Zeitalters beziehungsweise dieser Gruppen meint.36

Nach einem solchen Verständnis sind alle geistigen Formationen in gewisser Weise ideologisch, insofern sie einen gruppenspezifisch gefärbten Blick auf die Welt enthalten.37 Während der Marxismus den Ideologien noch objektive Wahrheit gegenübergestellt hatte, vertrat Mannheim einen erkenntnistheoretischen Relativismus.38 Allerdings behauptete er, die Intellektuellen seien heimatlose, frei über der Gesellschaft schwebende Wesen, denen somit das Privileg zukomme, „seinsungebunden“ die ideologischen Bewusstseinsstrukturen der sozialen Gruppen betrachten zu können.39 Mit dem angeblich wertneutralen totalen Ideologiebegriff wollte er sich dann auch nicht bescheiden, sondern führte die Kategorie der „Entsprechung“ ein. Ideologisch im strengen Sinne ist Mannheim zufolge ein Bewusstsein, das der konkreten Seinswirklichkeit nicht entspricht, sondern ihr gewissermaßen hinterherhinkt: Ideologisch sei, was nicht auf der Höhe der Zeit ist. 35 Karl

Mannheim: Ideologie und Utopie [1929]. Frankfurt am Main 41965. S. 53 f. 37 Vgl. ebd., S. 70. 38 Mannheim selbst unterschied den Relativismus terminologisch vom Relationismus, aber mit beidem ist in unterschiedlicher Weise die Relativierung absoluten Wissens gemeint. Vgl. ebd., S. 71–73. Siehe zu der Unterscheidung auch Theodor W. Adorno: Beitrag zur Ideologienlehre. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8: Soziologische Schriften I. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997, S. 472. 39 Vgl. ebd., S. 135–143. In genauer Umkehrung hatte Lukács: Verdinglichung, S. 146–191 behauptet, das Proletariat sei zu wahrhafter Erkenntnis fähig, weil es – um es mit Mannheim zu sagen – extrem seinsgebunden, das heißt in den Ausbeutungsprozess unmittelbar eingebunden sei. Vgl. dazu Joachim Wurst: Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. In: Samuel Salzborn (Hg.): Klassiker der Sozialwissenschaft. Wiesbaden 2016, S. 109 f. 36 Ebd.,

1.3. Ideologien der Freundschaft

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Realität im strengen Sinne kommt in seiner Konzeption – im Unterschied zur Relativität des Wissens – einzig dem „Sein“ zu, also der Gesellschaft und ihren wirtschaftlichen und politischen Strukturen. Ideologie hingegen entspringe zwar der Gebundenheit an dieses Sein, spiegele aber immer nur die partikulare Sicht einer gesellschaftlichen Gruppe, einer Generation und so weiter wider. Dass es innerhalb dieser Kollektive Unterschiede, Widersprüche, Streit und Gegenentwürfe geben könnte, ignorierte Mannheim, ging es ihm doch vor allem darum, den „Standpunkt des Proletariats“ (Lukács) als ebenso ideologisch abzutun wie konservative oder liberale politische Überzeugungen. Das einzige Kriterium, um Bewusstsein als „wahr“ oder „falsch“ zu bewerten, war seiner Ansicht nach, ob es im Einklang mit der Seinswirklichkeit stand oder nicht – wie diese Seinswirklichkeit aber zu bestimmen wahr, blieb seiner Ideologiekonzeption äußerlich.40 Um dieses Problem zu vermeiden, wird im zweiten Kapitel des vorliegenden Buches eine sozialhistorische Verortung des deutschen Judentums im Untersuchungszeitraum vorgelegt. Erst aus dieser Verortung heraus lässt sich ermessen, welche Bedeutung und Funktion Freundschaft für deutsche Juden gehabt hat. Entgegen Mannheims Behauptung bedeutet dies gerade nicht, dass „Ideologien der Freundschaft“ unzeitgemäße Bewusstseinsformen gewesen wären. Eher entsprachen sie dem, was Mannheim unter dem von Gustav Landauer geborgten Gegenbegriff der Utopie verstand.41 Diese sei ebenso „seinsgebunden“ und „realitätslos“ wie die Ideologie, so Mannheim, im Unterschied zu dieser aber weise die Utopie über die Seinswirklichkeit hinaus.42 In den von Mannheim verwendeten Richtungskategorien ließe sich der Unterschied von Ideologie und Utopie folgendermaßen formalisieren: Seinswirklichkeit Ideologie (falsch) →

Entsprechung (wahr)

→ Utopie (falsch)

Diese Unterscheidung vermag aus drei Gründen kaum zu überzeugen: Erstens setzt sie einen seinsungebundenen Standort des Intellektuellen voraus, zweitens 40 Nach dem Erscheinen von Mannheims Werk kam es zu einer breiten philosophischen Debatte über den Ideologiebegriff, an der auch manche der im vorliegenden Buch diskutierten jüdischen Intellektuellen teilnahmen. Vgl. etwa Hannah Arendt:  Philosophie und Soziologie. Anläßlich Karl Mannheim, Ideologie und Utopie. In: Die Gesellschaft 7/1, 2 (1930), S. 163–176; Günther Stern: Über die sog. „Seinsverbundenheit“ des Bewußtseins. Anlässlich Karl Mannheim „Ideologie und Utopie“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 64 (1930), S. 492– 509; Herbert Marcuse: Zur Wahrheitsproblematik der soziologischen Methode. Karl Mannheim: „Ideologie und Utopie“. In: Die Gesellschaft 6/2, 10 (1929), S. 356–369; Helmuth Plessner: Abwandlungen des Ideologiegedankens. In: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 10 (1931/32), S. 147–170; Max Horkheimer: Ein neuer Ideologiebegriff ? In: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 15 (1930), S. 33–56. 41 Vgl. Andreas Heyer: Ursprung und Gehalt des Utopiebegriffs bei Karl Mannheim. In: Utopie kreativ 197 (März 2007), S. 241–251, besonders S. 241–243. 42 Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 169.

12

1. Einleitung

nimmt sie die „Entsprechung“ vom Ideologieverdacht aus, und drittens attestiert sie aus einer eindimensionalen Sicht heraus nur der Utopie, die Wirklichkeit durch Handeln verändern zu können: „Nur jene ‚wirklichkeitstranszendente‘ Orientierung soll von uns als eine utopische angesprochen werden, die, in das Handeln übergehend, die jeweils bestehende Seinsordnung zugleich teilweise oder ganz sprengt.“43 Der Begriff der „Utopie“ aber würde Freundschaft als erst zu schaffendes Phänomen aus der Wirklichkeit herauskatapultieren, während für die untersuchten Personen gerade der tópos, also die diesseitige Aktualität der Freundschaft relevant war. Daher wird hier „Ideologie“ als Analyseinstrument dem Utopiebegriff vorgezogen. Der progressive, gewissermaßen überschießende Gehalt von „Ideologie“ ist in den Freundschaftskonzeptionen der jüdischen Intellektuellen, die im vorliegenden Buch zu Wort kommen, greifbar. Wenn sie aus ihrem bürgerlichen Horizont heraus über Freundschaft schrieben und nachdachten, ging es ihnen um Alternativen zur bestehenden Ordnung. Ideologie meint damit sowohl die Gebundenheit an die sozialen Verhältnisse – im deutsch-jüdischen Fall heißt das vor allem: bürgerliche Familienverhältnisse –, als auch eine Antwort auf die mit ihnen verbundenen Widersprüche und Erwartungen. In solchen ideologischen Entwürfen der Freundschaft wurden mithin größere gesellschaftliche Tendenzen zur Sprache gebracht, zugleich aber auch Neues gedacht. Der hier zugrunde gelegte Begriff der Ideologie beinhaltet somit im Anschluss an die skizzierten Debatten erstens die soziale „Seinsgebundenheit“ (Mannheim) der historischen Akteure, zweitens die „Seinstranszendenz“ beziehungsweise den emanzipatorischen Gehalt von Ideologien, und drittens die Praxisbezogenheit ideologischen Denkens. Die Kombination dieser drei für die Geschichte der Freundschaft wesentlichen Aspekte vermag nur der Ideologiebegriff zu umgreifen.

1.4. Praktiken der Freundschaft Ideologien der Freundschaft korrespondieren, wie wir gesehen haben, zugleich Praktiken der Freundschaft, allerdings nicht in einem exakten Entsprechungsverhältnis. Ideologien der Freundschaft praktisch im alltäglichen Leben zu realisieren, gestaltete sich häufig als schwierig oder sogar unmöglich, umgekehrt konnten Praktiken der Freundschaft Gefühle und Erfahrungen von Intimität, Nähe und Vertrauen hervorrufen, die sich sprachlich nicht fassen ließen.44 Daher wird unter Praxis in der vorliegenden Arbeit nicht nur die bewusste, intentionale Umsetzung von Ideologien verstanden, sondern im Einklang mit den Erkennt43 Ebd.

44 Siehe dazu Plamper: Geschichte und Gefühl, S. 313–318 sowie Daniela Saxer: Mit Gefühl handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte. In: Traverse 14, 2 (2007), S. 14–29.

1.4. Praktiken der Freundschaft

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nissen der Historischen Praxeologie auch die Routine des alltäglichen Handelns und der zwischenmenschlichen Kommunikation.45 Praktiken der Freundschaft basierten auf Wissen über die Mannigfaltigkeit sozialer Beziehungen und die mit ihnen jeweils verbundenen Umgangsformen, zugleich konnten die Praktiken selbst Anstoß zur Reflexion über das „eigentliche“ oder „wahre“ Wesen der Freundschaft sein. Auch dann also, wenn Freundschaften weitgehend gedankenlos im Sinne der überlieferten sozialen Ordnung praktiziert wurden, konnten sie sekundär, als Gegenstand kritischen Nachdenkens, einen subversiven Funken entzünden. Zunächst einmal stehen Praktiken der Freundschaft jedoch für sich selbst, denn Nichtintentionalität, Alltäglichkeit und Routine sind nicht mit Zufall und Willkür zu verwechseln. Als Praktiken gelten in der Geschichtswissenschaft einzig Handlungen, „die einem zeitgenössisch bekannten und verstehbaren Muster“ folgten, so Lucas Haasis und Constantin Rieske.46 Alltägliche Gesten wie das Händeschütteln, Knicksen oder Hutziehen konnten freilich mit dem bewussten Vorsatz vollzogen werden, dem Gegenüber zu schmeicheln oder sich ihm unterzuordnen, sie konnten aber auch unwillkürlich-routiniert, ja geradezu automatisch geschehen. Als Praktiken gelten sie, weil ihnen eine Bedeutung zukam, die die Zeitgenossen in einem spezifischen kulturellen und historischen Kontext zu verstehen und zu deuten wussten. Dasselbe gilt für Praktiken der Freundschaft, etwa die Umarmung, das Briefeschreiben, das Schulterklopfen, die vertrauliche Rede oder auch das Trinkgelage. Eine der wichtigsten, wenngleich unscheinbaren Praktiken der Freundschaft im Untersuchungszeitraum war die persönliche Anrede: Gerade der typische Übergang vom „Sie“/Herr zum „Sie“/Vorname und schließlich zum „Du“ waren essentielle rites de passages, deren Bedeutung für die Erfahrung der Freundschaft gar nicht hoch genug zu bewerten sind.47 Intentionale und nicht-intentionale Handlungen sind dabei nicht immer klar voneinander zu unterscheiden, weshalb die in der Soziologie klassisch gewordene Unterscheidung zwischen Tätigkeit (actio) und Handlung (actum), die zuerst Alfred Schütz vertreten hat, für die Geschichte der Freundschaft wenig sinnvoll erscheint.48 Vielmehr sind die Grenzen fließend, ja unbewusst 45 Vgl. die Pionierstudie von Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main 22009 sowie den Überblick bei Thomas Mergel, Sven Reichardt: Praxeologie in der Geschichtswissenschaft: Eine Zwischenbetrachtung. In: Gleb J. Albert, Daniel Siemens, Frank Wolff (Hg.): Entbehrung und Erfüllung. Praktiken von Arbeit, Körper und Konsum in der Geschichte moderner Gesellschaften. Für Thomas Welskopp 1961–2021. Bonn 2021, S. 79–102. 46 Lucas Haasis, Constantin Rieske: Historische Praxeologie. Zur Einführung. In: Dies. (Hg.): Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns. Paderborn 2015, S. 9. 47 Vgl. Werner Besch: Duzen, Siezen, Titulieren: Zur Anrede im Deutschen heute und gestern. Göttingen 1998, S. 97 f. 48 Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Wien 1932, S. 49.

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1. Einleitung

vollzogene Praktiken bringen nicht selten – vor allem Praktiken der Grenzüberschreitung – neue Bewusstseinsinhalte hervor.49 Diese Perspektive weist gewisse Ähnlichkeiten zur Diskurstheorie auf, die ja, zumindest in ihrer poststrukturalistischen Variante, genau wie die Praxeologie ein Primat beansprucht – sei es nun das Primat der Sprache oder das des Handelns.50 Solcherart Komplexitätsreduktion mag zwar attraktiv sein, aber sie führt in eine Sackgasse: Praktiken sind nur aus ihrem historischen, sozialen und kulturellen Kontext heraus zu verstehen, andererseits wird jener Kontext durch Praktiken auch mitkonstituiert und bisweilen transzendiert. Soziale Handlungen gehen nicht in der normativen oder symbolischen Ordnung ihrer Zeit auf, sondern vermögen sie auch zu überschreiten und damit Veränderungen herbeiführen. Genau wie Ideologien sind auch Praktiken einerseits ein integraler Bestandteil der Gesellschaften, in denen sie formuliert, gedacht, vollzogen werden, andererseits aber können sie auch Grenzen überschreiten und damit über das Bestehende hinausweisen. Damit erweisen sich beide Begriffe in der skizzierten Bedeutung als taugliche Instrumente, um der Geschichte der Freundschaft im deutschen Judentum auf die Spur zu kommen. Wie die Ideologien von konkreten historischen Akteuren entwickelt wurden, die sich mit der Welt, in der sie lebten, auseinandersetzen mussten, so fanden auch Praktiken nicht im luftleeren Raum statt, sondern waren einerseits sozial vermittelt, andererseits aber an individuelle Akteure gebunden.51 Der Soziologe Andreas Reckwitz hat vor einigen Jahren drei wesentliche Aspekte sozialer Praktiken herausgearbeitet, in denen diese Dimensionen der Praxis in den Blick geraten: Erstens eine „‚implizite‘, ‚informelle‘ Logik der Praxis und Verankerung des Sozialen im praktischen Wissen und ‚Können‘“, also die sozialen Voraussetzungen von Praktiken; zweitens „eine ‚Materialität‘ sozialer Praktiken in ihrer Abhängigkeit von Körpern und Artefakten“, das heißt die Gegenstandsbezogenheit sozialer Praktiken; drittens schließlich „ein Spannungsfeld von Routinisiertheit und systematisch begründbarer Unberechenbarkeit von Praktiken“, ergo eine Dialektik von Regelhaftigkeit und Offenheit sozialer Praktiken.52 Bezogen auf die Geschichte der Freundschaft heißt das, nicht nur Ideologien im oben ge-

49 Vgl. Theodore R. Schatzki: Social Practices: A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social. Cambridge 1996, S. 131 f. 50 Zum Verhältnis der beiden Ansätze siehe Andreas Reckwitz: Praktiken und Diskurse. Zur Logik von Praxis-/Diskursformationen. In: Ders.: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2016, S. 49–66. 51 Zum Status des Subjekts in der Praxistheorie vgl. Marian Füssel: Die Rückkehr des ‚Subjekts‘ in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive. In: Stefan Deines u. a. (Hg.): Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte. Berlin 2003, S. 141–159. 52 Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32, 4 (2003), S. 282.

1.5. Kapitelüberblick und Zeitraum

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nannten Sinne zu untersuchen, sondern auch die performative Herstellung von Freundschaft in Sprechakten, Verhaltensweisen und Ritualen nachzuverfolgen.53 Vor diesem theoretischen Hintergrund ist die Frage der Jüdischkeit von Freundschaften, Freundschaftspraktiken, Freundschaftsideologien zu diskutieren – und zwar ohne die Ergebnisse der Analyse der Quellen bereits vorwegzunehmen. Auswahlkriterium für das Quellenmaterial – das vor allem aus veröffentlichten und unveröffentlichten Ego-Dokumenten wie Memoiren, Tagebüchern und Briefen, darüber hinaus aber auch aus philosophischen, politischen und literarischen Werken besteht  – war weniger ein explizit „jüdischer Inhalt“ als vielmehr der biographische Hintergrund des Autors. Mit dieser forschungsstrategischen Entscheidung geht ohne Zweifel die Gefahr einer Essentialisierung einher, die nur dadurch entschärft werden kann, dass die Quellen selbst zum Sprechen gebracht werden. Selbstverständlich ist nicht alles, was Juden denken, sagen oder tun, automatisch „jüdisch“. Andererseits gehört die Totalität des Denkens, Handelns und Fühlens von Juden unabdingbar zur jüdischen Lebenswelt, die in all ihren Facetten das Thema der jüdischen Geschichtsschreibung ist. Wie bestimmte Berufs­zweige und Bildungsideale nicht „jüdisch“, aber für das deutsche Judentum des 19. und 20. Jahrhundert durchaus charakteristisch waren, so gilt auch für die in diesem Buch behandelten Freundschaften, dass sie einerseits ein allgemeines Epochenphänomen darstellten, andererseits aber bestimmte, für das deutsche Judentum kennzeichnende Züge aufwiesen. Was an diesen Freundschaften „jüdisch“ war, wird im Folgenden entfaltet. Vorläufig können wir in dieser Frage auf Karl Mannheims wissenssoziologischen Begriff der „Seinsgebundenheit“ zurückverweisen, der Ideologien und Praktiken mit der sozialen und kulturellen Herkunft der Akteure verbindet. „Jüdische Freundschaften“ sind diesem Verständnis zufolge zunächst nichts weiter als Freundschaften zwischen Juden – erst im zweiten Schritt stellt sich die Frage, inwiefern diesen Freundschaften, gewissermaßen subkutan, auch Bestandteile der religiösen und kulturellen Tradition des Judentums zueigen sind.

1.5. Kapitelüberblick und Zeitraum Auf die Einleitung (Kapitel 1) folgend wird zunächst das soziale Profil des deutschen Judentums am Beginn des Untersuchungszeitraums, also des Kaiserreiches Wilhelms II., nachgezeichnet und die zunehmende Bedeutung von 53 Zu Ritualen vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Rituale. Vom vormodernen Europa bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main, New York 2013. Haasis, Rieske: Historische Praxeologie, S. 33 schließen unverständlicherweise Rituale aus dem Praxisbegriff aus. Siehe die Kritik von Margareth Lanzinger: Historische Praxeologie. In: Werkstatt Geschichte 74 (2006), S. 109–112. Vgl. auch Karl Hörning, Julia Reuter: Doing Culture. Kultur der Praxis. In: Dies. (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld 2004, S. 9–18.

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1. Einleitung

Freundschaft für die jüdische Alltagsgeschichte herausgearbeitet (Kapitel 2). Anschließend wird die Entstehung eines neuen „Zeitalters der Freundschaft“ im Untersuchungszeitraum skizziert, die vor allem als Reaktion auf gesellschaftliche Krisenerfahrungen zu erklären ist (Kapitel 3). Das nächste Kapitel thematisiert den Kollaps der alten Ordnung im Ersten Weltkrieg aus der Perspektive der außergewöhnlichen Freundschaft zwischen Ludwig Klages und Theodor Lessing. Zudem wird anhand des Werkes von Alfred Wolfenstein untersucht, inwiefern sich die Freundschaftsidee durch die Katastrophe des Krieges in einen politischen Gegenentwurf verwandelte (Kapitel 4). Solche Modelle von Freundschaft fanden ihren Ausdruck in vielfältigen neuen Sozialformen, vor allem in Zirkeln, Bünden und Kreisen. Welchen Stellenwert Freundschaft in den Kreisen um Stefan George, Oskar Goldberg und Nehemiah Anton Nobel einnahm, arbeitet das fünfte Kapitel heraus (Kapitel 5). Zwar hatten auch Frauen Anteil an diesen Zusammenschlüssen, aber die meisten von ihnen waren vorwiegend männlich geprägt. Das hatte mit den bürgerlichen Geschlechternormen und Rollenverteilungen zu tun, fand aber seinen Ausdruck auch in einer breiten Debatte über das Verhältnis von Freundschaft und Geschlecht. Insbesondere die Idee des homosexuellen Männerbundes und die Frage nach dem Wesen der Frauenfreundschaft trieben die Zeitgenossen um (Kapitel 6). Die Sehnsucht nach einem Zusammensein mit Freunden außerhalb des engen Familienzusammenhangs fand seinen Ausdruck nicht zuletzt in der aufkommenden Jugendbewegung. In der jüdischen Jugendbewegung, die sich als Folge von Ausgrenzung und Diskriminierung, aber auch des Wunsches nach Gemeinschaft mit anderen Juden herausgebildet hatte, spielte das Bedürfnis nach Freundschaft eine herausragende Rolle. Viele Jugendbewegte verließen aber auch die großen Organisationen, weil sie im kleinen Freundeskreis viel eher fanden, was sie suchten, wie das Beispiel des Berliner Arlosoroff-Kreises und die Freundschaft zwischen Gershom Scholem und Walter Benjamin zeigen (Kapitel 7). Wie sehr die Praxis der Freundschaft mit dem Nachdenken über sie verbunden ist, zeigt der lebendige Freundschaftsdiskurs im Kreis um den Soziologen Georg Simmel. Besonders die Idee der Seelenfreundschaft hatte es jüdischen Intellektuellen wie Margarete Susman, Betty Heimann, Martin Buber und Siegfried Kracauer angetan, die allesamt zu seinen Schülern zählten (Kapitel 8). Umgekehrt neigten gerade die Intellektuellen aber auch dazu, ihre philosophischen Konzeptionen der Freundschaft als handlungsleitend zu verstehen. Wie anhand der Freundschaft zwischen Max Horkheimer und Friedrich Pollock sowie zwischen Leo Strauss und Jacob Klein gezeigt wird, ging es bei der Frage nach dem Wesen der Freundschaft immer auch darum, wie „richtig“ zu leben sei (Kapitel 9). Freundschaft hatte den Ruf, Grenzen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen zu überschreiten, auch die zwischen Juden und Christen. Deshalb wurde sie besonders zu einem Zeitpunkt, als die Freundschaft zwischen Juden und Christen immer heftigeren Angriffen ausgesetzt war, im Kontext einer Philosophie der Mitmenschlichkeit und

1.5. Kapitelüberblick und Zeitraum

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Nächstenliebe diskutiert, wofür die frühe Philosophie Hannah Arendts und Karl Löwiths Beispiele sind. Allerdings zerbrach spätestens mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten so manche Freundschaft am grassierenden Antisemitismus, der erklärte, mit Juden (beziehungsweise „Juden“, wie im Falle Löwiths) dürfe ein echter Deutscher nicht befreundet sein (Kapitel 10). Eine Antwort auf diese Entwicklung war es, Freundschaft als Einheit der Gegensätze zu verstehen. Anders als in der Idee der Seelenfreundschaft war etwa Arendts politische Philosophie nicht durch den Gleichklang, sondern durch die Dissonanz der Seelen gekennzeichnet. Auch im Denken der Literaturwissenschaftlerin Carmen KahnWallerstein wurde Freundschaft als symbiotische Differenz gedeutet. Explizit verstand sie Freundschaft im Angesicht des Nationalsozialismus als eine Sozialform, die zur Überwindung des Rassenhasses beitragen könnte (Kapitel 11). Ihre Vision hat sich nicht erfüllt. Sehr wohl aber haben Freundschaften in vielfältiger Hinsicht Verfolgten und Bedrängten geholfen, das Naziregime zu überleben. Diese existentielle Bedeutung der Freundschaft, die zwar auf den zuvor beschriebenen Formen aufbaute, aber sich in der besonderen Notsituation auch von ihnen unterschied, wird im abschließenden Ausblick zumindest angedeutet (Kapitel 12). Es wird zukünftigen Arbeiten vorbehalten bleiben, die Bedeutung der Freundschaft im Exil, im Lager oder auf der Flucht zu rekonstruieren. Einige Fundamente für solche und andere Freundschaftsstudien sind mit dieser Arbeit, so hofft der Autor, gelegt. Ein Wort zum Untersuchungszeitraum: Die Protagonisten dieser Studie sind hauptsächlich deutsche Juden, die nach der vollständigen rechtlichen Gleichstellung im Deutschen Kaiserreich im Jahr 1871 geboren wurden und somit einer postemanzipatorischen Generation angehörten.54 Der Fokus auf diese Generation liegt in der Annahme begründet, dass das klassische Zeitalter des bürgerlich-akkulturierten, konfessionell verstandenen Judentums, das im frühen 19. Jahrhundert begann, im späten Kaiserreich in eine neue Phase der deutschjüdischen Geschichte einmündete, die im vorliegenden Buch aus der Perspektive der Freundschaftsgeschichte erzählt wird. Wenn von „spätem Kaiserreich“ als Beginn der Darstellung die Rede ist, ist damit die „Wilhelminische Epoche“, also die Zeit ab dem Amtsantritt Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1888 beziehungsweise der Entlassung Bismarcks im Jahr 1890 gemeint, die mit tiefgreifenden politischen Umbrüchen verbunden war – nicht zuletzt mit einem Erstarken der antisemitischen Bewegung.55 54 Einzelne Protagonisten stammen aus dem Habsburger Reich, vor allem aus Wien, wo die Gleichstellung bereits 1867 verkündet wurde, und zählen somit ebenso zur „postemanzipatorischen Generation“. Ihre Erfahrungen waren aufs Engste mit denen der Juden im Kaiserreich verknüpft, wie allen voran das Beispiel Martin Bubers zeigt. Allerdings sollen die Spezifika der Situation im Habsburger Reich selbstverständlich keineswegs relativiert werden. 55 Bezeichnenderweise klingen im Leitartikel der Allgemeinen Zeitung des Judenthums zur Krönung Wilhelms II. Befürchtungen an, dass der neue Kaiser die Gleichberechtigung wieder

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1. Einleitung

Das Buch endet (nicht trennscharf, aber perspektivisch) mit der Reichspogromnacht im Jahr 1938, und damit mit einem Ereignis, das nicht nur mit antisemitischem Terror und willkürlichen Verhaftungen verknüpft ist, sondern auch die „Jahre der Ungewissheit“ beendet und zu einer massenhaften Emigration der Juden aus Deutschland geführt hat.56 Wie im letzten Kapitel ausführlich dargelegt wird, stellten die Exilerfahrung und vor allem der Holocaust die Freundschaften vor neue, unvorhergesehene Herausforderungen, die einzufangen im Rahmen dieser Studie zu weit führen würde. Der Autor hofft vielmehr, dass der hier entwickelte freundschaftsgeschichtliche Ansatz auch in den Holocaust Studies und in der Exilforschung weitere Verbreitung finden wird.57 Mit der Einsicht, dass der Holocaust einen Bruch darstellte – einen „Zivilisationsbruch“, wie Dan Diner das einst genannt hat –, verknüpft sich in dieser Arbeit auch der Verzicht auf eine durchgehend chronologische Darstellungsweise.58 Zwar behandeln die Kapitel 2 bis 4 größtenteils die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, und die Kapitel 10 und 11 weitgehend die dreißiger Jahre, aber immer wieder werden Entwicklungen in der Weimarer Republik mit solchen aus der Vorkriegszeit in Beziehung gesetzt. Deshalb ist die Arbeit nicht als fortschreitende Geschichte zu lesen. Verschiedene Kreise und Kontexte, die gleichzeitig existierten, werden analytisch voneinander getrennt und nacheinander erzählt. Damit ist jedoch keine lineare Entwicklung impliziert. Stattdessen wird eine kaleidoskopartige Momentaufnahme des neuen Zeitalters der Freundschaft im späten 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in seinen vielfältigen Ausdrucksformen präsentiert. Die verschiedenen Formen, Praktiken, Ideologien, die in diesem Buch rekonstruiert werden, stehen wohl in einer „Konstellation“ zueinander – aber nicht im Sinne eines zeitlichen Fortschreitens.59

zurückdrehen könnte. Vgl. Ludwig Philippson: Der Kaiser und König Wilhelm II. In: Allgemeine Zeitung des Judenthums 52, 27 (5. Juli 1888), S. 417. 56 Vgl. David Jünger: Jahre der Ungewissheit. Emigrationspläne deutscher Juden 1933–1938. Göttingen 2016. Siehe auch die jüngste lokalgeschichtliche Studie von Katharina Bergmann: Jüdische Emigration aus München. Entscheidungsfindung und Auswanderungswege (1933–1941). Berlin u. a. 2021. 57 In der neueren Forschung zum Alltag im Holocaust findet Freundschaft zunehmend Berücksichtigung. Siehe z. B. Carlos Alberto Haas: Das Private im Ghetto. Jüdisches Leben im deutsch besetzten Polen 1939 bis 1944. Göttingen 2020; Markus Roth, Andrea Löw: Das Warschauer Ghetto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung. München 2013. 58 Dan Diner: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main 1988, S. 8 und ders.: Epistemik des Holocaust. In: Ders.: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust. Göttingen 2007, S. 13–41. 59 Zu diesem Begriff siehe Walter Benjamins Erkenntniskritische Vorrede in: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 207–237, besonders S. 215.

2. Eine bürgerliche Gesellschaft .‫הנה מה טוב ומה נעים שבת אחים גם יחד‬ Tehilim 133, 1

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In einem biographisch gefärbten Essay erinnerte sich der 1897 in Berlin geborene Kabbalaforscher Gershom Scholem rückblickend, eines Tages sei ihm als junger Mann aufgefallen, „dass in unser Haus ausschließlich Juden zu Besuch und freundschaftlichem Verkehr kamen und dass meine Eltern ausschließlich zu Juden zu Besuch gingen.“2 Scholem traf diese Erkenntnis wie ein Blitz – plötzlich realisierte er, dass er nicht nur jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens, sondern Teil einer äußerst vitalen jüdischen Gemeinschaft war. Das Judentum war nicht nur Vergangenheit, ein blass gewordenes Erbe der Vorfahren, die einen altorientalischen Kultus gestiftet hatten, sondern es war lebendige Gegenwart: Judentum hieß für Scholem, als Jude unter Juden zu leben. Diese Einsicht bildete das Fundament seiner Hinwendung zum Zionismus, der es sich gerade in den frühen Jahren in Westeuropa zur Aufgabe gemacht hatte, das beschädigte jüdische Selbstbewusstsein gegen die scheinbar übermächtigen Tendenzen der Assimilation zu stärken. Diesen Tendenzen waren Scholems Eltern, so glaubte er, selbst vollkommen erlegen. Wo sie der Ansicht waren, nur gegenüber dem deutschen Vaterland habe sich ein jüdischer Deutscher loyal zu verhalten, da insistierte ihr aufmüpfiger Sohn, die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk mache jegliches patriotisches Bekenntnis obsolet.

2.1. Juden als soziale Gruppe Wer verstehen will, welche Rolle Freundschaft im jüdischen Alltagsleben der wilhelminischen Ära spielte, muss zunächst beachten, was für das Judentum als soziales Milieu charakteristisch war und inwiefern es sich von anderen Bevölkerungsgruppen unterschied. Erst aus dieser sozialgeschichtlichen Kontextualisierung heraus lässt sich die spezifische Bedeutung von Freundschaft als Alltagsphänomen im deutschen Judentum angemessen bestimmen. Denn tatsächlich 1 Hebräisch:

„Sieh, wie gut und angenehm, wenn Brüder zusammenwohnen!“ Scholem: Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900–1930 [1978]. In: Ders.: Judaica 4. Frankfurt am Main 1984, S. 242. 2 Gershom

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2. Eine bürgerliche Gesellschaft

stellten die deutschen Juden im Kaiserreich eine eigene soziale Gruppe dar, die zwar als Segment der Gesamtgesellschaft viele Erfahrungen mit nichtjüdischen Milieus teilte, aber auch einige Besonderheiten aufwies. Diese sind allerdings schwer zu fassen, weil in einer hochgradig individualisierten Gesellschaft wie der wilhelminischen keine soziale Formation mehr jenes Maß an Abgeschlossenheit und Isoliertheit aufwies, wie es noch zwei Generationen zuvor charakteristisch gewesen war. Trotz aller Integration in die wilhelminische Nationalkultur gab es im Wesentlichen drei Parameter, die die Juden als Gruppe soziologisch auszeichneten: Zum einen war das ihre geographische Verteilung  – mehr als ein Viertel (zum Vergleich: 12 % der Nichtjuden) lebten in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern, und jüdische Gemeinden gab es um die Jahrhundertwende überhaupt nur in 5 % aller Orte im Deutschen Reich. Zum zweiten betraf das die ausgesprochen hohe Konzentration im Handel, in akademischen und freien Berufen – 1895 waren 56 % aller jüdischen Erwerbstätigen (zum Vergleich: 10 % der Nichtjuden) in Deutschland im Handel tätig, wobei dies eine große Spannweite vom kleinen Vieh- und Pferdehandel über den Einzelhandel bis zum Fabrikanten umfasste. Zum dritten waren Juden im gesellschaftlichen Durchschnitt betrachtet wohlhabender als Nichtjuden  – charakteristisch war eine breite Mittelschicht mit einer kleinen reichen Oberschicht am einen Ende der wirtschaftlichen Hierarchie und einer kleinen Schicht von Armen am anderen Ende.3 Demgegenüber verdienten im Jahre 1896 rund drei Viertel der Deutschen weniger als 900 Mark pro Jahr und galten damit als arm.4 Charakteristisch mag die Geschichte der Familie Hess sein, die ursprünglich aus dem kleinen Ort Aufhausen in Württemberg stammte, aber nach Aufhebung der Wohnortbeschränkungen größtenteils nach Stuttgart gezogen war. Einige Familienmitglieder waren zudem nach Nordamerika ausgewandert. Die 1887 geborene Jenny Cramer, née Hess, hielt in ihrer in den zwanziger Jahren handschriftlich verfassten Familiengeschichte die wirtschaftliche Entwicklung im späten Kaiserreich fest: Betrachten wir das Leben der Söhne in den Städten, so ist die Einheitlichkeit ihrer Lebensgestaltung sehr auffällig. Ein Geschlecht von Handelsleuten ohne Ausnahme schon die ältere Generation, die in Aufhausen in jüngeren Jahren ein Handwerk getrieben hatte, hat sich später dem Handel wieder zugewandt. Die Söhne gründeten sich einer nach dem andern ihre Geschäfte. Das glückte ihnen auch meist sehr gut. Sie waren erfolgreich, heirateten, machten gute Partien, kamen Jahre und Jahrzehnte lang schön vorwärts, dann kam gewöhnlich ein Stillstand, Schwierigkeiten, die sie nicht überwinden konnten, stellten sich ein, sie kamen in ihren Vermögensverhältnissen zurück und endeten in Dürftigkeit, wenn nicht gar katastrophal.5 3 Siehe zu diesen Zahlen: Shulamit Volkov: Jüdische Assimilation und Eigenart im Kaiserreich. In: Dies.: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays. München 2000, S. 135 f. 4 Vgl. Karl Helfferich: Deutschlands Volkswohlstand 1888–1913. Berlin 51915, S. 129. 5 LBI New York, Memoir Collection, ME 290: Jenny Cramer: Geschichte der Familie Hess aus Aufhausen [1946], S. 125.

2.1. Juden als soziale Gruppe

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Der von Cramer beschriebene wirtschaftliche Einbruch war zweifellos der schweren Wirtschaftskrise der späten 1870er Jahre geschuldet, dem sogenannten „Gründerkrach“, der allerdings den Verbürgerlichungsprozess der deutschen Juden insgesamt nicht aufhalten konnte. Nicht alle Familienmitglieder waren gleichermaßen von dieser Krise betroffen: Solcher Lebensablauf hat sich mehrfach wiederholt. Bei andern trat die Kurve nach unten weniger in Erscheinung; ihr Leben klang aus auf der mittleren Linie. Weiter als bis zu mittlerem Wohlstand hats keiner gebracht, außer dem Pariser Seidenwaren-Fabrikanten Gustave Hess, der den damals noch in Aufhausen versammelten Hessen als ein Krösus erschien. Auch aus Amerika ist keine Kunde von besonderen Erfolgen gekommen. Es ging ihnen mehr oder weniger gut, wenn weniger, so brachten sie sich doch immer durch.6

Was für die Familie Hess gilt, lässt sich durchaus auf andere jüdische Familien übertragen: Mit der Emanzipation setzte eine starke Urbanisierungstendenz ein, die fortschreitende Industrialisierung und Kommerzialisierung ermöglichte vielen Juden durch die schon von den Großeltern überlieferte Konzentration im Handel einen wirtschaftlichen Aufstieg. Diese Entwicklung korrespondierte mit der starken Konjunkturphase in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Doch blieb der wirtschaftliche Wohlstand stets prekär und mit einigen wenigen Ausnahmen – hier der Seidenfabrikant Gustave Hess – auch äußerst begrenzt. Die Existenz schien zumeist gut gesichert, aber Geld für Luxusgüter oder ein ausschweifendes Leben war nicht vorhanden und wäre, im Einklang mit den bürgerlichen Werten der wilhelminischen Gesellschaft, auch sittlich nicht statthaft gewesen. Sogar in den wirklich wohlhabenden jüdischen Kreisen gab es eine gewisse Verachtung für Maßlosigkeit und Protz, die zum einen aus der Furcht resultierte, damit bestehende antijüdische Ressentiments zu bestätigen, zum anderen häufig aber auch eine Folge des mühsamen Aufstiegs aus sehr bescheidenen Verhältnissen war. Der Philosoph Ludwig Marcuse, 1894 in Berlin als Sohn eines Fabrikbesitzers geboren, schilderte seinen Vater in diesem Sinne als „arme[n] Junge[n], der sich mit Zähigkeit und strengster Selbstzucht zwischen 1871 und 1914 hochgearbeitet hatte. Er wurde vermögend – was sein Leben nicht änderte, aber meins bestimmte.“ Obwohl Marcuses Vater finanziell gut betucht war, schien er seinem Sohn als „nicht zum Genießen geschaffen; ich sollte sagen: es war bei ihm nie dazu gekommen, die frühen Pflichten hatten es gar nicht erst zugelassen. Man kann zu alt werden, um es noch zu lernen. Mein Vater lernte das Genießen nicht.“7 Trotzdem gehörten die deutschen Juden in ihrer großen Mehrheit eindeutig der Mittelschicht an und ihr Einkommen lag über dem gesellschaftlichen Durchschnitt. Sie waren, sozioökonomisch gesehen, zumeist Teil des urbanen, bürgerlichen Mittelstandes, bildeten aber nicht die gesellschaftliche 6 Ebd.,

S. 125 f. Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie. Frankfurt am Main, Hamburg 1968, S. 10 f. 7 Ludwig

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2. Eine bürgerliche Gesellschaft

Elite. Zum Einkommen, aber auch zum Lebensstil und zur Wohnsituation der städtischen Arbeiter bestand eine deutliche Differenz. Als der Sozialhistoriker Detlev Peukert Ende der achtziger Jahre systematisch die Lebenssituation von 180 Arbeiterfamilien in der Weimarer Republik auswertete, fand er, dass nur vier von ihnen über Schlaf- und Wohnstube hinaus noch ein drittes Zimmer besaßen, das als separate „gute Stube“ im deutschen Bürgertum „als Ausweis einiger Respektabilität und bescheidenen Wohlstands galt“.8 Oftmals lebten auch noch Untermieter oder eine andere Familie mit in derselben Wohnung. Aus den beengten Wohnverhältnissen folgte, dass gerade die Söhne aus Arbeiterfamilien einen Großteil des Tages außer Haus auf der Straße zubrachten. Noch 1927 lebten 88,5 % der erwerbstätigen Jugendlichen bei ihren Eltern, nicht einmal ein Drittel von ihnen besaß ein eigenes Schlafzimmer.9 Das war in den meisten jüdischen Familien anders.

2.2. Tradition und Religiosität Diese Statistiken und Zahlen sind das eine. Sie geben aber keinen Aufschluss darüber, wie sich die deutschen Juden selbst definierten, wie sie von den Nichtjuden betrachtet wurden, und inwiefern sie ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft waren. Das eigentümliche Gepräge des deutsch-jüdischen Bürgertums im späten Kaiserreich erläuterte Gershom Scholem in seiner Autobiographie am Beispiel seiner eigenen Familie folgendermaßen: Wir waren eine typische liberale bürgerliche Familie, in der die, wie man damals sagte, Assimilation ans Deutsche sehr weit fortgeschritten war. Bei uns zu Hause gab es nur wenige wahrnehmbare Relikte des Jüdischen, so etwa im Gebrauch jüdischer Redewendungen, die mein Vater zwar vermied und deren Gebrauch er uns verbot, meine Mutter aber, besonders wenn sie etwas sehr betonen wollte, ganz gern verwandte.10

Assimilation bedeutete, dass das Jüdische in den meisten Häusern weitgehend unsichtbar geworden war. Womöglich fand sich hier und dort noch ein Chanukkaleuchter auf der Kommode und ein Kidduschbecher im Schrank, aber einen koscheren Haushalt führten die wenigsten, und auch die Sabbatruhe wurde in der Regel nicht mehr eingehalten. Der zwei Jahre vor Scholem geborene Sozialphilosoph Max Horkheimer erinnert sich, dass seine Eltern zunächst noch einen koscheren Haushalt geführt hatten, bis ihr kleiner Max einmal krank wurde und der Hausarzt ein tägliches Schinkenbrot zur Stärkung empfahl. Nach Rücksprache mit dem Stuttgarter Rabbiner, der in dieser ‚Notsituation‘ grünes Licht  8 Detlev J. K. Peukert: Jugend zwischen Krieg und Krise. Lebenswelten von Arbeiterjungen in der Weimarer Republik. Köln 1987, S. 66.  9 Ebd., S. 65 f. 10 Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Frankfurt am Main 1977, S. 19.

2.2. Tradition und Religiosität

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gab, bedeutete dieser Zwischenfall das Ende der Einhaltung der Speiseregeln im Hause Horkheimer: „denn nachdem es einmal um meinetwillen durchbrochen war, ist es nicht mehr so weitergegangen, sondern es wurde dann einfach gekocht wie in einem anderen Hause – mit gewissen Hemmungen.“11 Auch die Synagogen waren, abgesehen von den hohen Feiertagen, zumeist nur spärlich besucht, ein Großteil der Besucher befand sich im fortgeschrittenen Alter.12 Horkheimers Freund und Kollege Friedrich Pollock, 1894 in Freiburg geboren, berichtet, seine Großeltern seien „zwar noch an Feiertagen in die Synagoge gegangen, aber sie waren ja auch schon liberale Juden und meine Mutter hat ja zugestimmt, dass sie nie in die Synagoge geht, sie war ja genauso wenig in der Synagoge wie ich“13. Im Hause Marcuse wurden die jüdischen Feste zwar noch gefeiert, so dass an Chanukka gewürfelt wurde und Vater und Sohn an Jom Kippur in seltener Eintracht nebeneinander im Gebetsmantel am Tisch saßen, aber die „festtäglichen Unternehmungen waren schon bei meinem Vater nicht mehr Glaube, Gebundenheit, nur noch Pietät – Anhänglichkeit an das Elternhaus, dem er mit Wiederholung des Rituals auch im hohen Alter noch kindlichen Respekt erwies.“14 Ludwig Marcuse selbst blieb diese Welt eigener Aussage nach fremd: „Schon meine Eltern fuhren am Sabbat, unser Haushalt war nur ein bisschen koscher, wir Kinder durften Schinken essen, ich fastete am Versöhnungstag nicht, mein Hebräisch war kaum der Rede wert.“15 Doch auch wenn Marcuse von sich selbst glaubte, nicht in der jüdischen Tradition aufgewachsen zu sein, erstaunt, wie genau er wusste, welche Gebote es gab, die er nicht beachtete. Die vielzitierte Säkularisierung brachte wie in Marcuses oder Horkheimers Fall ein sekundäres Judentum hervor, das sich der Verstöße gegen die Halacha und der Brüche mit der Tradition noch bewusst war und daraus die Illusion schöpfte, das Judentum hinter sich gelassen zu haben. In Wahrheit blieb das religiöse Erbe der Eltern und Großeltern auch in der bewussten Abkehr von der Tradition noch überaus präsent. Die Anzahl derer, die sich selbst dezidiert als nicht-religiös oder sogar atheistisch verstanden, dürfte dennoch größer gewesen sein als die der Orthodoxen, die etwa zehn bis zwanzig Prozent aller jüdischen Gemeindemitglieder ausmachten. Der Historiker Steven Lowenstein hat konstatiert, dass die städtische „jüdische Bevölkerung in eine Minderheit [zerfiel], die am religiösen Leben 11 Gerhard Rein: Das Schlimme erwarten und doch das Gute versuchen. Ein Gespräch mit Max Horkheimer. In: Gerhard Rein (Hg.): Dienstagsgespräche mit Zeitgenossen. Stuttgart, Berlin 1976, S. 152. 12 Marion Kaplan: Konsolidierung eines bürgerlichen Lebens im kaiserlichen Deutschland 1871–1918. In: Dies. (Hg.): Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945. München 2003, S. 305. Vgl. auch Hopp: Jüdisches Bürgertum. 13 Friedrich Pollock und Max Horkheimer im Gespräch mit Ernst von Schenck. Transkript des Tonbandes von 1965/66. Archivzentrum der UB Frankfurt am Main, Na 1, 864. S. 53. 14 Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert, S. 28. 15 Ebd.

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2. Eine bürgerliche Gesellschaft

starkes Interesse zeigte, und eine Mehrheit, die davon wenig oder gar keine Notiz nahm.“16 Wie religiös jemand war und auf welche Weise er sein Jüdischsein interpretierte, entzieht sich weitgehend soziologischer Einordnung. Eine soziale Klassifizierung, die wohlhabend mit säkular und kleinbürgerlich mit religiös gleichsetzt, geht jedenfalls an der Realität vorbei. Die 1907 in Berlin geborene Verkäuferin Eva Ronell beispielsweise, die aus sehr bescheidenen Verhältnissen stammte, erzählt in ihren Memoiren, ihr Vater sei zwar „ein großer Zionist“ gewesen, „aber völlig unreligiös, genau wie meine Mutter, und ich bin auf dieselbe Weise aufgewachsen“17. Seit sie dreizehn Jahre alt war, sei sie „Agnostikerin“ gewesen und es bis zum Ende ihres Lebens geblieben. Ihr soziales Umfeld aber blieb nahezu ausschließlich jüdisch. Sowohl die meisten ihrer Freunde als auch ihr späterer Ehemann waren jüdischer Herkunft. Ähnliches schildert der 1908 in Berlin geborene spätere Politikwissenschaftler Richard Löwenthal, der ebenfalls einen eher kleinbürgerlichen Hintergrund hatte – sein Vater Ernst Löwenthal war Handelsvertreter: Mein Elternhaus war ein sehr unjüdisches jüdisches Haus. Mein Vater war ungläubig, meine Mutter hatte eine ganz vage Allerweltsreligiosität, die nichts Spezifisches an sich hatte. Beide wußten sehr wenig vom Judentum. Ich auch nicht. Das erste, was ich davon bemerkt hatte, war  – ich hatte eine ganze Reihe jüdischer Mitschüler am MommsenGymnasium –, daß ich meine Freunde und meine ersten Lieben unter Juden wählte, ohne das bewußt zu wollen. Es muß Affinitäten gegeben haben.18

Jüdisch sein, das hieß also weder für Eva Ronell noch für Richard Löwenthal jüdische Religiosität, sondern vor allem, sich in einem jüdischen Personenkreis zu bewegen. Das war ein Phänomen, das nicht auf ein bestimmtes Milieu des deutschen Judentums begrenzt war, sondern sich quer durch alle Einkommensklassen zog. Lässt sich aus der wirtschaftlichen Stellung des Einzelnen nicht auf die religiöse Praxis schließen, so ist schon eher ein Zusammenhang zur Größe und Lage des Wohnortes zu erkennen. In Kleinstädten und Dörfern, in denen um die Jahrhundertwende immer noch etwa ein Fünftel der deutschen Juden lebten, war eine gewisse „Milieufrömmigkeit“ (Leo Baeck) deutlich stärker ausgeprägt, was sich im Alltag oft auch in der Aufrechterhaltung volksreligiöser Traditionen ausdrückte, die zum Teil nicht unbedingt im Einklang mit der Halacha standen.19 16 Steven M. Lowenstein: Das religiöse Leben. In: Michael A. Meyer (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3: 1871–1918. München 2000, S. 105. 17 LBI New York, Memoir Collection, ME 1235: Memoiren von Eva Ronell, S. 5. 18 Richard Löwenthal: „Meine Heimat ist – die deutsche Arbeiterbewegung“. In: Hajo Funke: Die andere Erinnerung. Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil. Frankfurt am Main 1989, S. 403. 19 Vgl. Steven M. Lowenstein: Jüdisches religiöses Leben in deutschen Dörfern. Regionale Unterschiede im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Monika Richarz, Reinhard Rürup (Hg.): Jüdisches Leben auf dem Lande. Tübingen 1997, S. 219–230.

2.3. „Unsichtbares Judentum“

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Waren die ländlichen Gemeinden, die zunehmend mit Überalterung zu kämpfen hatten und in der Folge konservativer wurden als noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts, stark auf die lokale Synagogengemeinde bezogen, so standen viele städtische Juden dem Gemeindeleben mit Apathie und Gleichgültigkeit gegenüber.

2.3. „Unsichtbares Judentum“ Das bedeutete allerdings nicht, dass die Juden in den Städten sich vom Judentum abwendeten, wie häufig behauptet wird. An die Stelle des „parochial“ ausgerichteten Milieus, wie es der Soziologe Rainer Lepsius bespielhaft für das „katholische Milieu“ des Kaiserreichs beschrieben hat, traten dezentrale Netzwerke, in denen vor allem Familien- und Freundschaftsbeziehungen die entscheidenden Bindeglieder waren.20 Marcuse erinnert sich (von sich selbst in der dritten Person sprechend) in seinem sogenannten „Auto-Nekrolog“ ironisch: „Wo, wie eingekreist lebte Er? Ursprünglich umfasste seine Verwandtschaft einen guten Teil der Kinder Israel; an den Geburtstagen seiner Mutter versammelte sich ein kleiner Volksstamm.“21 Und der aus einer orthodoxen Familie in einer Kleinstadt nahe Posen stammende Hermann Zondek, der seine Studienjahre kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Göttingen und Berlin zubrachte, berichtet über die akkulturierte bürgerliche Schicht der Westberliner Juden: Die Juden in Berlin-W waren […] von dem Bestreben der Assimilation bis zur Unkenntlichkeit erfüllt, zu einem beachtlichen Prozentsatz ließen sie sich sogar taufen. In einer großen Anzahl von Fällen fassten sie die Taufe als eine bloße Äußerlichkeit auf, zumal wenn sie meinten, sie ihrer Karriere schuldig zu sein. Vielen aber fiel der Austritt aus dem Bereiche ihrer angestammten Religion, die einem Gott angehörte, der bitter zu strafen verstand, doch nicht leicht. Sie legten sich dann eine Art unsichtbares Judentum zurecht. Hatten sie sich auch von den alten Formen des jüdischen Religionsritus weit entfernt, so bekannten sie sich doch, wenn es erforderlich wurde, in mehr oder weniger diskreter Weise zur jüdischen Gemeinschaft.22

Dieses Bekenntnis erfolgte in der Regel nicht in religiöser Hinsicht, sondern in Solidaritätsbekundungen gegenüber anderen Juden, die angefeindet wurden. Die 1898 geborene Lotte Magnus (Fairbrook) erinnert sich, ihr betont assimilierter Vater, der für die jüdische Orthodoxie eigentlich nur Verachtung übrighatte, habe ihr eingebläut, sie solle sich gefälligst bei ihrer orthodoxen Mitschülerin Luise 20 M. Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der Deutschen Gesellschaft. In: Gerhard A. Ritter (Hg.): Deutsche Parteien vor 1918. Köln 1973, S. 56–80. 21 Ludwig Marcuse: Nachruf auf Ludwig Marcuse. München 1969, S. 190. 22 Hermann Zondek: Auf festem Fuße. Erinnerungen eines jüdischen Klinikers. Stuttgart 1973, S. 34.

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2. Eine bürgerliche Gesellschaft

für ihr Schweigen entschuldigen, als diese in der Klasse gemobbt wurde. Lotte habe sich öffentlich hinter Luise stellen und diese als Zeichen der Solidarität von nun an jeden Tag auf dem Schulweg begleiten müssen.23 Das „unsichtbare Judentum“, das Zondek scharfsinnig beobachtete, war aber auch fest in den Freundes- und Verwandtschaftsnetzwerken der akkulturierten Juden verankert und reichte teilweise sogar bis in die Kreise jüdischer Konvertiten hinein.24 Die Solidarität in der Konfrontation mit Antisemiten war dabei ein sichtbarer Ausdruck des „unsichtbaren“ Bandes – mindestens genauso wirkmächtig aber blieb diese Form des Judentums auf einer weiteren „unsichtbaren“ Ebene: nämlich der des Heiratsverhaltens. Auch wenn die Zahl der christlichjüdischen Mischehen seit der Einführung der Zivilehe 1875 rasch anwuchs, so dass um die Jahrhundertwende etwa ein Fünftel aller Hochzeiten eines jüdischen Ehepartners mit einem Christen geschlossen wurde, blieb die Endogamie die Regel. Dafür waren nicht unbedingt religiöse Überzeugungen verantwortlich, sondern eher soziale Gepflogenheiten und ein Pflichtgefühl gegenüber der Elterngeneration, das in den Quellen immer wieder unter Begriffen wie „Pietät“ und „Stolz“ firmiert. Die jüdische Partnerwahl schien sich wie von selbst zu fügen und den Beteiligten war oftmals nicht einmal bewusst, dass sie sich privat in einem mehr oder weniger ausschließlich jüdischen Personenkreis bewegten. Wie im Heiratsverhalten so zeigt sich dieses „unsichtbare“ Band auch im Entstehen der Freundes- und Verwandtschaftsnetzwerke.25 Der im Jahr 1900 in Königsberg geborene Rechtsanwalt Erwin Lichtenstein, der später ein Aktivist der jüdischen Jugendbewegung werden sollte, erinnert sich, dass Freundschaften gewissermaßen vererbt wurden: „So wurde die Freundschaft, die meine Eltern mit den Familien Caspary, Brill und Bendix verband, in der dritten Generation fortgesetzt.“26 Auch die uns bereits bekannte Jenny Cramer aus Stuttgart erklärt sich die „Einheitlichkeit in der Lebensgestaltung“ mit „der Einheitlichkeit der 23 LBI New York, Memoir Collection, ME 974: Dear Family. Memoiren von Lotte Fairbrook [1976], S. 25 f. 24 Vgl. Todd M. Endelman: Leaving the Jewish Fold: Conversion and Radical Assimilation in Modern Jewish History. Princeton, Oxford 2015, besonders S. 101–189. Für das späte 18. Jahrhundert siehe auch Steven M. Lowenstein: The Berlin Jewish Community. Enlightenment, Family, and Crisis, 1770–1830. New York, Oxford 1994, S. 131 f. Für die Zeit des Nationalsozialismus siehe Anna Ullrich: Fading Friendships and the „Decent German“. Reflecting, Explaining and Enduring Estrangement in Nazi Germany, 1933–1938. In: Frank Bajohr, Andrea Löw (Hg.): The Holocaust and European Societies. Social Processes and Social Dynamics. London 2016, S. 17–31. Die Zeit nach dem Holocaust untersucht Angela Kuttner Botelho: German Jews and the Persistence of Jewish Identity in Conversion. Writing the Jewish Self. Berlin, Boston 2021. 25 Dies ist ein der Sozialforschung schon lange bekanntes Phänomen. Vgl. die einschlägige Studie von Paul F. Lazarsfeld und Robert K. Merton: Friendship as a Social Process: A Substantive and Methodological Analysis. In: Morroe Berger u. a. (Hg.): Freedom and Control in Modern Society. New York 1954, S. 18–66. 26 LBI New York, Memoir Collection, ME 779: Rückblick auf 80 Jahre. Memoiren von Erwin Lichtenstein [1981], S. 66.

2.3. „Unsichtbares Judentum“

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Charaktere, und diese wiederum mag begründet sein in der Gleichartigkeit der Geschlechter, woraus die Mütter stammten. Ohne Inzucht zu treiben, die nach religiösem Gesetz verboten war, hatten diese Menschen ihre Ehegatten durch Jahrhunderte aus Geschlechtern in gleichen Lebensverhältnissen gewählt.“27 Was Cramer über die Wahl der Ehepartner schreibt, galt auch für die Netzwerke an Freunden und Bekannten. Dass diese Netzwerke häufig stark jüdisch geprägt waren, galt als selbstverständlich und nicht der Rede wert, denn es war einfach die Lebenswelt, in der sich die deutschen Juden in ihrem Alltag bewegten. Der Literatursoziologe Leo Löwenthal, 1900 in Frankfurt am Main geboren, formulierte es so: Der gesellschaftliche Kreis meiner Eltern beschränkte sich im wesentlichen auf Juden. Ich kann mich kaum an einen nichtjüdischen Freund meines Vaters erinnern. Auch mein späterer enger Freundeskreis in der Schulzeit wie auch in der Studentenzeit bestand fast ausschließlich aus Juden.28

Das Bewusstsein, einer jüdischen Familie anzugehören, machte sich trotzdem nur situativ und eher subtil bemerkbar, etwa, wie von Scholem beschrieben, in der gelegentlichen Verwendung jiddischer oder auch hebräischer Ausdrücke. Die Generation der um 1900 geborenen deutschen Juden, um die es in diesem Buch vorwiegend geht, waren Enkel oft noch traditionell aufgewachsener Großeltern; ihre Eltern dagegen, die noch in der jüdischen Tradition erzogen, aber schon in den Genuss der Früchte der Emanzipation gekommen waren, entwickelten in Abgrenzung gegen ein ihnen archaisch vorkommendes Erbe eine eigene Form des Judentums, die die Historikerin Shulamit Volkov so beschreibt: Während die Juden […] im Hinblick auf einige wichtige Aspekte ein integraler Bestandteil der Wilhelminischen Gesellschaft und Kultur waren, entwickelten sie gleichzeitig eine neue, gemeinsame jüdische Identität, wobei sie allerdings die Eigenart der Entwicklung oft nicht verstanden und manchmal ausdrücklich verneinten. Während sie alte Merkmale traditioneller jüdischer Lebensart verloren und diese durch ein wahres ‚Deutschtum‘ zu ersetzen glaubten, nahmen sie in Wirklichkeit an einem Prozess teil, in dem sie eine andere, besondere soziokulturelle Existenz entwickelten, die modern, nicht traditionell, aber trotzdem jüdisch war.29

Statt Torah und Talmud las man Goethe und Graetz, statt Kippa und Haube trug man Zylinder und hochgesteckte Haare. Dadurch legte man aber die besondere sozioökonomische Prägung genauso wenig ab wie tradierte historische Erfahrungen, die sich, vermittelt über Erziehung und Kultur, im Unterbewusstsein der Einzelnen festsetzten. Das „unsicht27 Cramer:

Geschichte der Familie Hess, S. 126. Löwenthal: Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel. Frankfurt am Main 1980, S. 28. 29 Shulamit Volkov: Jüdische Assimilation. In: Dies.: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays. München 2000, S. 132. 28 Leo

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2. Eine bürgerliche Gesellschaft

bare“ oder „sekundäre Judentum“ war demnach bei der Mehrheit der deutschen Juden nicht mehr oder nur noch schwach religiös definiert, sondern soziokulturell. Die Zugehörigkeit zum Judentum vermittelte sich – so die im vorliegenden Buch vertretene These – vor allem über das Gefühl, unter und mit anderen Juden zu leben. Das Judentum war damit für viele weniger eine abstrakte Idee, das strikte Einhalten der Gebote oder ein religiöses Glaubenssystem als vielmehr eine performative Praxis, eine gelebte Realität: Jüdisch sein hieß, mit anderen Juden zusammen zu sein. Nicht permanent und ausschließlich, und keineswegs immer absichtsvoll und bewusst, aber doch so kontinuierlich, dass das Jüdischsein selbstverständlich mit der Zugehörigkeit zu einem diffusen, nicht immer klar definierten jüdischen Kollektiv verbunden war.

2.4. Freundschaften und Netzwerke Diese Entwicklung mag durch regelmäßig aufflammenden Antisemitismus und wiederkehrende Ausgrenzungserfahrungen verstärkt worden sein, der in der deutschen Gesellschaft grassierende Judenhass, der sich zum „kulturellen Code“ besonders des konservativen Milieus ausgewachsen hatte, war aber nicht der einzige Grund für die starke affektive Bindung unter den deutschen Juden. Vielmehr scheinen ähnliche Lebenswege und Wertvorstellungen zu einer ausgeprägten gegenseitigen Anziehungskraft geführt zu haben. Der Berliner Rechtsanwalt Curt Rosenberg formuliert es in seinen Erinnerungen so: „Eine grundsätzliche Judenfeindschaft im Nazisinne gab es nicht. Trotzdem verkehrten die Juden gern untereinander oder mit Halbjuden …, aber das machte sich wie von selbst und war sozusagen unbewusst …“30 Der spätere Historiker und Rabbiner Herbert A. Strauss, dessen Mutter ihrem Ehemann zuliebe vom Katholizismus zum Judentum übergetreten war, erinnert sich, dass ihm seine „Klassenkameraden nahezu alle sympathisch“ gewesen seien, „außer ein paar meist protestantischen Snobs, denen die Vorbehalte, die man in ihren Elternhäusern gegen ‚die Juden‘ haben mochte, ins Gesicht geschrieben standen“.31 Doch obwohl sein „Verhältnis zu den anderen, mit den genannten Ausnahmen, eng und herzlich“ gewesen sei, waren „meine beiden jüdischen Mitschüler“ die „besten Freunde im Gymnasium“.32 Auch die 1894 in Wien geborene Dora Amann, deren Familie aus Angst vor Antisemitismus 1897 nicht nur zum Protestantismus übergetreten war, sondern auch den eigentlichen Nachnamen „Israel“ abgelegt hatte, berichtet, sie 30 Curt

Rosenberg: Jugenderinnerungen 1876–1904. Glasgow 1947, S. 90. A. Strauss: Über dem Abgrund. Eine jüdische Jugend in Deutschland 1918–1943. Frankfurt am Main, New York 1997, S. 41. Zur Biographie siehe Werner Bergmann, Christhard Hoffmann: Herbert A. Strauss – eine wissenschaftliche Biographie. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 14 (2005), S. 17–38. 32 Strauss: Über dem Abgrund, S. 41. 31 Herbert

2.4. Freundschaften und Netzwerke

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habe sich weiterhin als Jüdin gefühlt und sich jüdische Freundinnen gesucht. Nachdem sie in ihrer ersten Schule gemobbt worden war, wechselte sie auf eine Schule im zweiten Bezirk, in dem ein großer Teil der Wiener Juden lebte: Ich fühlte mich in dieser neuen Schule viel besser. Zum ersten Mal hatte ich richtige Freunde. Vier von uns gründeten einen sogenannten ‚Zirkel‘, und jede Woche trafen wir uns in einem anderen Haus. Wir trugen alle kleine rote Schleifen; bald verbreitete sich dieses Emblem der Freundschaft und Schleifen in vielen Farben begannen bei allen Mädchen aufzutauchen.33

Doch auch wo der Antisemitismus weniger stark in Erscheinung trat als in Wien waren zwar „Freundschaften zwischen jüdischen und christlichen Schülern […] nicht selten, doch hielten sie sich meist voneinander gesondert“, wie sich Arnold Asch aus Posen erinnert.34 Der Eindruck, Juden und Christen hätten sich „voneinander gesondert“, sollte allerdings nicht mit der vollständigen Trennung beider Gruppen verwechselt werden.35 Nur noch wenige jüdische Kinder besuchten im Kaiserreich ausschließlich jüdische Schulen. Verbreitet war das Modell des „israelitischen“ Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen oder, wo das nicht möglich war, zusätzlicher außerschulischer Religionsunterricht am Nachmittag oder am Wochenende. Gerade in den kleineren Gemeinden waren die jüdischen Konfessionsschulen zu wenig frequentiert, um lebensfähig zu sein. Jüdische Kinder besuchten somit mehrheitlich gemischte Schulen und verbrachten folglich viel Zeit mit ihren christlichen Mitschülern, so dass es wenig verwunderlich ist, dass im Schulalltag das gemeinsame Lernen, Spielen, Scherzen, Lästern und Streiten die Regel waren – nicht der Antisemitismus oder religiöser Fanatismus. „Es wäre für das Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen von großer Bedeutung“, meinte der orthodoxe Lehrer einer jüdischen Volksschule im September 1913 in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums, wenn die Kinder aller Konfessionen von Jugend auf daran gewöhnt werden, zusammen zu verkehren, gemeinsam in der Schule zu arbeiten, zu singen und zu spielen. Eine in früher Jugend geschlossene Freundschaft hält oft fürs ganze Leben zusammen, und viele konfessionelle Vorurteile und Gegensätze, die im Leben so oft auftreten, würden nicht Platz greifen oder gemildert, wenn Charaktere von Jugend auf sich kennen und werten lernen.36 33 LBI New York, Memoir Collection, ME 1431: Autobiography. Memoiren von Dora Amann, S. 12 (meine Übersetzung – PL). 34 LBI New York, Memoir Collection, ME 18: Auszug aus den Memoiren von Dr. Adolf Asch [London, ca. 1957], S. 8. 35 Allerdings gibt es durchaus auch Beispiele dafür, dass sich manche Jüdinnen und Juden ihr gesamtes Leben lang  – zumindest der späteren Erinnerung nach  – fast ausschließlich in einem jüdischen Milieu bewegten. Siehe etwa LBI New York, Memoir Collection, ME 1650: My Childhood Memories. Memoiren von Margot Becher [1988]. 36  [J. C.]: Zur Frage der jüdischen Volksschule. In: Allgemeine Zeitung des Judenthums 36 (5.  9. ​ 1913), S. 424.

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2. Eine bürgerliche Gesellschaft

Selbstverständlich waren Freundschaften zwischen jüdischen und christlichen Schülern, wie es sich der Lehrer in der Allgemeinen gewünscht hatte, längst schon Realität. Doch glaubt man den erhalten gebliebenen persönlichen Erinnerungen, die aufgrund des zeitlichen Abstands von zum Teil mehreren Jahrzehnten zwar mit Vorsicht zu genießen, aber neben Briefen, Tage- und Freundschaftsbüchern immer noch die verlässlichste Quelle über Freundschaftsbeziehungen aus dieser Zeit sind, dann ergibt sich ein gewisses Muster, demzufolge die christlich-jüdischen Freundschaften mehrheitlich eindeutig ein Phänomen der Kindheit und frühen Jugend waren.37 Diesem verallgemeinerten Modell gemäß schwächten sich die gemischten Freundschaften im Verlauf der Adoleszenz häufig ab, so dass die langfristigen, über die Schulzeit hinaus bestehenden Beziehungen eher zwischen Juden und Juden sowie Christen und Christen bestanden.38 Arthur Czellitzer etwa schreibt in diesem Sinne: „Bis Tertia [8. Klasse] verkehrte ich auch mit christlichen Mitschülern. Dann hörte das auf. In Prima sogar das Duzen. Der Ton war nicht gerade antisemitisch. Man sah sich nur in der Schule und sprach nur über Schuldinge.“39 Bei Lisa Brauer verhielt es sich ähnlich: Meine Eltern hatten für mich eine der größten Privatschulen für Mädchen in Berlin ausgesucht. Weder in den Schulstunden noch in den Pausen wurden meine Gefühle als jüdisches Mädchen jemals verletzt, und alle meine nichtjüdischen Klassenkameraden waren ausnahmslos freundliche Kinder. Wir besuchten uns gegenseitig ohne jede Verstimmung in unserem Zuhause. Der Schuldirektor leitete die Schule bis zur Perfektion und ich kann mich nicht an eine einzige verächtliche Bemerkung über Juden von Seiten eines Lehrers erinnern. Nach einiger Zeit tendierte ich aber trotzdem dazu, die Gemeinschaft mit Jungen und Mädchen aus anderen jüdischen Familien zu suchen; das geschah nicht absichtlich oder aus einem besonderen Zweck heraus, sondern ich mochte sie zufällig einfach lieber, und so lud ich die nichtjüdischen Mädchen nicht mehr so oft in unser Haus ein. Nichtsdestotrotz war ich es, die die Bande unserer früheren Freundschaft löste, nicht sie.40 37 Ausgewertet wurden insgesamt 81, teils in der Memoir Collection des Leo Baeck Institut New York zugängliche, teils veröffentlichte Erinnerungen und biographische Aufzeichnungen von zwischen 1888 und 1910 geborenen deutschen Jüdinnen und Juden. Zum Nutzen und Nachteil autobiographischer Quellen siehe Marion A. Kaplan: Revealing and Concealing: Using Memoirs to Write German-Jewish History. In: Ismar Schorsch u. a. (Hg.): Text and Context. Essays in Modern Jewish History and Historiography in Honor of Ismar Schorsch. New York 2005, S. 383–410. Auch Philipp Nielsen: Between Heimat and Hatred. Jews and the Right in Germany, 1871–1935. Oxford 2019, S. 56 beobachtet in seiner Studie über Juden in der politischen Rechten in Deutschland, dass im Kaiserreich „‚gemischte‘ Freundschaften, vor allem wenn sie sich auf gegenseitige Besuche zu Hause ausweiteten, eher die Ausnahme als die Regel“ waren. 38 Leo Landau (1880–1960) etwa betont, er habe viele christliche Freunde gehabt, aber diese Bekanntschaften drangen offenbar nicht in den privaten Raum vor: „Nichtjüdischen gesellschaftlichen Verkehr hatten wir kaum.“ LBI New York, Memoir Collection, ME 1219: Rückschau auf mein Leben bis zu meiner Auswanderung aus Deutschland, 1880–1933. Memoiren von Leo Landau [1950], S. 16. 39 LBI New York, Memoir Collection, ME 97: Dr. med. Arthur Czellitzer: Aus meinem Leben. Erinnerungen 1921–1941, S. 42. 40 LBI New York, Memoir Collection, ME 69: Lisa Brauer: The Stone was Opal, S. 5 f. (meine Übersetzung – PL).

2.4. Freundschaften und Netzwerke

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Auch der aus einer konservativ-observanten Familie stammende Joseph Heimann, 1897 als Sohn eines Viehhändlers und rituellen Schlachters (Shochet) in der westfälischen Kleinstadt Werne geboren, berichtet, er habe als Kind vor allem mit dem christlichen Nachbarsjungen Theo gespielt. Im Alter von 17 Jahren begann er im nahe gelegenen Recklinghausen, wo es eine kleine jüdische Gemeinde mit etwas über 300 Mitgliedern gab, eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann bei dem jüdischen Textilhändler David Cossmann. „Das war die Zeit“, erinnert er sich, „als lebenslange Freundschaften ihren Anfang nahmen“.41 In der vergleichsweise urbanen Umgebung waren all seine neuen Freunde, mit denen er zum Teil jahrzehntelang eng verbunden sein sollte, jüdischer Herkunft. Als sich die Möglichkeit bot, jüdische Freunde zu gewinnen, ergriff Heimann sie. Der einzige jüdische Schüler der Klasse zu sein  – oder, in manchen ländlichen Gegenden, sogar der einzige Schüler des Ortes – war eine Erfahrung, die viele jüdische Kinder in Deutschland teilten. Und dies sogar in Städten, die jüdische Gemeinden mit einer gewissen Größe aufwiesen, schließlich war die Gesamtzahl noch immer verschwindend gering. In Leipzig beispielsweise stellten die etwa 10.000 Juden um die Jahrhunderthälfte nur 1,6 % der Gesamtbevölkerung. Obwohl es also eine große Gemeinde vor Ort gab, konnte es vorkommen, dass man als jüdischer Schüler eine Art Exot war. Alice Lieberg, geborene Halberstam, die aus einer galizischen Familie mit langer rabbinischer Tradition stammte, aber selbst 1904 in Leipzig geboren und aufgewachsen war, bemerkt, dass sie auf dem Gymnasium die einzige Jüdin in ihrer Klasse gewesen sei. Während ihr Vater viel in jüdischen Vereinen wie der B’nai B’rith-Loge oder der örtlichen „Gesellschaft der Freunde“ verkehrte und ihre Mutter als emanzipierte und gebildete Frau bewusst vor allem mit christlichen Freundinnen Umgang pflegte, blieb Alice selbst lange Einzelgängerin. Ein jüdischer Tennisclub wurde für sie zum wichtigen Bezugspunkt, aber sie litt noch immer unter der Isolation in der Schule. Erst als sie nach dem Krieg eine Berufsschule für junge Frauen besuchte, darunter auch solche aus jüdischen Familien, schloss sie langjährige Freundschaften. Im Anschluss an die Berufsschule, in der sie eine hauswirtschaftliche Ausbildung erhielt, ging sie zur Universität und erlebte ein Déja-vu. Wieder fühlte sie sich als Jüdin ganz alleine in den Seminaren. Ihre beste Freundin wurde Irma, „ein sehr kluges Mädchen und neben mir die einzige Jüdin in meiner Klasse“.42

41 LBI New York, Memoir Collection, ME 1100: Joseph and His Daughter: from 1890–1980. Memoiren von Joseph Heimann, S. 21 (meine Übersetzung – PL). 42 LBI New York, Memoir Collection, ME 1009: Remembrance of Things Past. Memoiren von Alice Lieberg. Desham 1993, S. 62 (meine Übersetzung – PL).

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2. Eine bürgerliche Gesellschaft

2.5. Jüdisches Milieu und kulturelle Renaissance Nimmt man die Bedeutung der Freundschaft für die Lebenswelt und das Zusammengehörigkeitsgefühl der um 1900 geborenen deutschen Juden ernst, stellt sich die Frage neu, wie das Judentum im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik am besten zu charakterisieren sei. Gilt für das Judentum dasselbe wie für den Katholizismus im Wilhelminismus? Greift auch für das Judentum die Definition als „Konfession“ zu kurz, wie Lepsius in den siebziger Jahren im Kontext der Etablierung der Sozialgeschichte erklärte? Das „katholische Milieu“ umfasse mehr als ein bloßes Glaubenssystem, so Lepsius, sondern eine parochial ausgerichtete, also stark lokal verankerte Gemeinschaft, die nicht nur durch eine „Ritualisierung des Alltags“ gekennzeichnet gewesen sei, sondern die sich ein eigenes soziales Netz an Vereinen und Verbänden, Schulen und Presseorganen geschaffen habe. Dieser gesellschaftlichen Subkultur mit ihrem holistischen Anspruch, jedes Mitglied „von der Wiege bis zur Bahre“ in seinem Lebensvollzug zu begleiten, sei ein bestimmter Lebensstil mit eigenen Norm- und Wertvorstellungen zueigen gewesen. Tendenziell habe sich das „katholische Milieu“ mit einer spezifischen, nämlich ländlichen und kleinbürgerlichen Sozialstruktur gedeckt, was wiederum seinen Niederschlag in den (sozial-)politischen Forderungen der katholischen Zentrumspartei gefunden habe. Mit anderen Worten: Das „katholische Milieu“ umgrenzt eine soziologisch klar identifizierbare Bevölkerungsgruppe mit klar zu benennenden politischen, sozialen und ethischen Wertvorstellungen und einem deutlich ausgeprägten sozioökonomischen Profil. Die Historikerin Shulamit Volkov hat zwanzig Jahre später diesen Impuls aufgegriffen und versucht, den Milieubegriff auf das Judentum des Kaiserreichs zu übertragen: „Am Ende des 19. Jahrhunderts […] waren die meisten Juden in Deutschland sicher nicht mehr Teil der alten jüdischen Welt; aber sie waren auch nicht so völlig mit ihrer neuen Umgebung verschmolzen, wie sie oft glauben wollten. Die meisten von ihnen lebten in einer dritten Sphäre, die sich während des Jahrhunderts lange entwickelte. Sie lebten in ihrem eigenen deutsch-jüdischen Kultursystem“, so Volkov.43 Dieses Kultursystem – ein Begriff, den Volkov von dem Ethnologen Clifford Geertz übernimmt – sei strukturell weitgehend kongruent mit dem „katholischen Milieu“ gewesen: Die deutschen Juden hätten „eine komplexe Struktur von öffentlichen und privaten Vereinen geschaffen und ein Netzwerk von Erziehungseinrichtungen. Sie unterhielten eine lebhafte Öffentlichkeit, vertraten eine Vielzahl widerstreitender ideologischer Positionen und versuchten, eine gemeinsame jüdische Tradition zu konstruieren.“44 43 Shulamit Volkov: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland [1991]. In: Dies.: Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays. München 2001, S. 123. 44 Ebd.

2.5. Jüdisches Milieu und kulturelle Renaissance

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Die jüdische Tradition, die im letzten Drittel des 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts neu konstruiert wurde, hat der Historiker Michael Brenner vor allem als kulturelle bestimmt.45 Damit reagierte er auf die verbreitete Vorstellung, in der Weimarer Republik habe es nur noch „Juden ohne Judentum“ gegeben – also ein Judentum, das sich bis zur Selbstauflösung assimiliert und angepasst habe. Brenner stellte diesem Eindruck die Vielfalt jüdischer Kultur gegenüber, wie sie seit dem späten Kaiserreich, häufig als Substitut für das in der Tat in die Krise geratene konfessionelle Judentum, entwickelt worden war. Jüdische Literatur, Kunst und Musik, neue Ansätze des Lernens und der Bildung, Zeitschriften und Verlage, Kultur-, Sport- und Wissenschaftsvereine bis hin zu politischen Parteien waren Ausdruck dieser sogenannten „Renaissance“. Mit dem Zionismus, der trotz seines anfänglichen Außenseiterdaseins gerade unter jungen Juden im Laufe der Jahre immer vernehmbarer wurde, wuchs dem etablierten, konfessionell definierten Judentum ein ernsthafter Herausforderer heran. Hatten die Eltern und Großeltern noch versucht, das Judentum auf ein privates Bekenntnis zu beschränken, die Religion in die Synagogen zu verbannen und sich kulturell in nichts mehr von den christlichen Deutschen zu unterscheiden, so drehte sich dieses Verhältnis nun bei vielen Juden um: Der Religion stand man nun genauso gleichgültig gegenüber wie die Christen dem Christentum, kulturell aber verortete man sich wieder in der dreitausend Jahre alten jüdischen Geschichte und grenzte sich damit bewusst von den Nichtjuden ab. Brenners Analyse ist ohne Zweifel bestechend, bezieht sich aber vor allem auf eine akademisch gebildete jüdische Elite. Über jene nicht eben kleine Zahl an Juden, die sich weder mit jüdischer Religion noch jüdischer Kultur identifizierten, aber dennoch – auf gewissermaßen „unsichtbare“ Weise – Teil der jüdischen Gemeinschaft blieben, vermag das Konzept der „Jüdischen Renaissance“ dagegen wenig auszusagen. Die Perspektive der Freundschaft hingegen ermöglicht es, das deutsche Judentum im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik unterhalb der ideologischen Differenzen zwischen Vertretern jüdischer Kultur, jüdischer Nationalität oder jüdischer Religion vor allem als soziales Phänomen zu identifizieren. Für manche Zeitgenossen mögen Freundschaften zwischen Juden ein Ausdruck tiefliegender religiöser oder kultureller Verwurzelung gewesen sein. Für viele andere aber ging das Jüdischsein nicht darüber hinaus, sich in nicht immer klar abgegrenzten jüdischen Zusammenhängen zu bewegen. Freundschaften mit Juden waren – abgesehen von antisemitischen Anfeindungen – in ihrer eigenen Wahrnehmung das einzige, was sie noch mit dem Judentum verband. Dass diese Freundschaften bisweilen auch Züge der jüdischen Tradition trugen, war manchen nicht bewusst, andere kehrten das Jüdische dieser Freundschaften explizit hervor. Das Alltagsphänomen der Freundschaft konnte sich so45 Michael

Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000.

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2. Eine bürgerliche Gesellschaft

mit von einem bloß sozialen Faktum in ein politisches Konzept verwandeln – in eine Lebensform par excellence. Ideologie und Praxis der Freundschaft standen in einer engen Beziehung zueinander und weder das eine noch das andere kann daher isoliert voneinander erklärt werden. Ideen, seien sie nun religiöser oder kultureller Natur, existieren nicht im platonischen Himmel, sondern manifestieren sich im Handeln derer, die diesen Ideen anhängen. Und umgekehrt sind es nicht die Ideen selbst, die als Abbilder auf die Menschen herniederpurzeln, sondern sie entstehen aus dem gesellschaftlichen Prozess, in dem wir Tag für Tag unser Leben zu bewältigen haben. Insofern kann die konkrete Gestalt, die die Freundschaft im deutschen Judentum in unserem Zeitraum annahm, nur verstanden werden, wenn sie mit den wichtigsten Entwicklungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Beziehung gesetzt wird. Mit anderen Worten: Wenn wir verstehen wollen, in welcher Weise Juden Freundschaften gepflegt haben, was Freundschaft für sie bedeutete und inwiefern diese Freundschaften „jüdisch“ waren, müssen wir uns den gesellschaftlichen Krisen- und Umwälzungsprozessen jener Epoche zuwenden.

3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft ,‫אמר רבי יוסי בר חנינא התוכחת מביאה לידי אהבה‬ 1 .‫ הוכח לחכם ויאהבך‬:‫שנאמר‬ Bereshit Rabbah 54, 3

Alltägliche, für selbstverständlich gehaltene Freundschaft wird in Krisenzeiten auf die Probe gestellt. Erst in Notsituationen nämlich erweist sich, wie fest die Freunde wirklich miteinander verbunden sind, wie tief das Vertrauen und die gegenseitige Loyalität ist. Deshalb ist es auch kaum verwunderlich, dass Zeiten, in denen das Hohelied der Freundschaft besonders laut gesungen wird, zugleich von gesellschaftlichen Krisen und Umbruchprozessen geprägt sind, die das Individuum aus der Verankerung in seinen überlieferten Lebensumständen herausreißen und in das Chaos der Welt schleudern. In solchen Krisenzeiten scheint die Freundschaft als alternatives Lebensmodell auf. Sie füllt das Vakuum, das die gesellschaftliche Umwälzung hinterlassen hat – zumindest bis sich eine neue Sozialform etabliert hat, in der die Grenzen wieder klar gezogen und die Hierarchien wohlgeordnet sind.

3.1. Krise der Ordnung Bevor wir uns im Folgenden dem „Zeitalter der Freundschaft“ zwischen 1888 und 1938 widmen, lohnt ein kurzer Rückblick auf den aufklärerischen und romantischen Freundschaftskult ein Jahrhundert zuvor. Die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen beiden Hochzeiten der Freundschaft sind frappierend und erhärten die These, dass Konjunkturen der Freundschaft mit sozialen Krisenund Umbruchsprozessen korrelieren. Wenn schon das 18. Jahrhundert bisweilen als „Zeitalter der Freundschaft“ apostrophiert wurde, dann verweist diese Einordnung auf eine Zwischenzeit, die die vormoderne von der modernen Welt trennt und beide zugleich als Gegenmodelle zur kurzen Epoche der Freundschaft verbindet.2 Erst in den krisenhaften Übergangsprozessen von der stän1 Hebräisch: „Rabbi Jossi bar Chanina sagte: ‚Tadel führt zu Liebe‘, denn es heißt: ‚Tadele einen weisen Mann und er wird Dich lieben.‘ [Sprüche 9, 8]“ 2 Zuerst hat diese These Wolfdietrich Rasch aufgestellt: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts: Vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock.

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3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft

disch-feudalen in die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts entstand das Ideal des modernen Individuums, das – als scheinbar autonomes Subjekt von allen äußerlichen Zwängen und Rücksichten befreit – erstmals seit der Antike wieder zu wahrer Freundschaft fähig sei.3 Die Allgegenwart der Freundschaftsideologie in der Literatur der Aufklärer und der Romantiker erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass Freundschaft als Kontrastfolie zu Familie und Tradition fungierte. In der geschützten Sozialform der Freundschaft konnte sich das emanzipierte Subjekt von allen tradierten Normen und Zwängen freimachen und nur noch seiner Vernunft beziehungsweise seinem Gefühl folgen. Wie prekär dieses Asyl freilich war, lässt sich leicht ermessen, wenn hinter die Fassade der „inszenierten Freundschaften“ der Aufklärer und Romantiker geschaut wird.4 Nur zeitwillig blitzte die emanzipatorische Funktion der Freundschaft auf. Die Übermacht der Tradition erdrückte nur allzu oft den freiheitlichen Impuls und drängte die Freunde in die neu formierten Bahnen von Familie, Stamm und Nation zurück. „Das Modell des aufsteigenden Individuums“, so Max Horkheimer in einem Resümee über die Aufklärung, „ist der griechische Held. Wagemutig und selbstvertrauend, triumphiert er im Kampf ums Überleben und emanzipiert sich ebenso von der Tradition wie von seinem Stamm.“5 Doch wie der griechische Held letztlich wieder der Tradition verfällt, indem er sich in sie einschreibt, wird auch das emanzipierte Subjekt der Aufklärung wieder Teil eines Sozialgefüges, das seine Individualität beschneidet und es in die festen Grenzen von Familie und Nation einzwängt. Das erste Zeitalter der Freundschaft war also nicht bloß höchst zerbrechlich, sondern auch nur von kurzer Dauer. Es fiel genau in die Zwischenphase nach dem Untergang der alten Ordnung und vor der endgültigen Durchsetzung der bürgerlichen Industriegesellschaft. Halle an der Saale 1936. Vgl. auch Michael Maurer: Freundschaftsbriefe – Brieffreundschaften. In: Klaus Manger, Ute Pott (Hg.): Rituale der Freundschaft. Heidelberg 2006, S. 69 sowie Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen. Hrsg. v. Ute Pott. Göttingen 2004. 3 Leider gilt die Feststellung Max Horkheimers, der sich aus philosophischer Perspektive mit der Entstehung des Individuums beschäftigt hat, noch immer, dass diese Geschichte bislang „weitgehend ungeschrieben“ ist. Max Horkheimer: Kritik der instrumentellen Vernunft [1947]. Frankfurt am Main 2007, S. 148. Eine der wenigen, allerdings recht oberflächlichen Studien aus jüngerer Zeit stammt von Max Fuchs: Persönlichkeit und Subjektivität. Historische und systematische Studien zu ihrer Genese. Wiesbaden 2001, S. 125–159. Auf die Ausbildung des Gewissens bezogen vgl. Heinz Dieter Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt am Main 1991. Zur Ideengeschichte vgl. Gerhard Stapelfeldt: Aufstieg und Fall des Individuums. Kritik der bürgerlichen Anthropologie. Freiburg im Breisgau 2014. Zur Historizität des Individuums siehe auch Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen [1939]. In: Ders.: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt am Main 1991, S. 15–98, besonders S. 43. 4 Vgl. Brigitte Schnegg: Gleichgestimmte Seelen. Empfindsame Inszenierung und intellektueller Wettstreit von Männern und Frauen in der Freundschaftskultur der Aufklärung. In: Werkstatt Geschichte 28 (2001), S. 23–43. 5 Horkheimer: Kritik, S. 148.

3.1. Krise der Ordnung

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Auch für die deutschen Juden war das ausgehende 18. Jahrhundert eine Zeit des dramatischen Wandels. Viele Veränderungen betrafen sie im gleichen Maße wie ihre christlichen Nachbarn, aber am einschneidendsten war wohl die Erfahrung, dass sich die traditionelle Gemeinschaft (kehillah) auflöste und die halachische Autorität der Rabbiner plötzlich nichts mehr zählte. Die jüdische Gemeinschaft, die sich nach der staatlich durchgesetzten Aufhebung der Gemeindeautonomie herausbildete, verstand sich nur noch als religiöse Vereinigung, wenngleich sie faktisch auch weiterhin eine soziale Gruppe bildete, die durch weit mehr als gemeinsame religiöse Anschauungen zusammengehalten wurde.6 Trotzdem ist die Auflösung der kehillah in ihren Auswirkungen kaum zu überschätzen. Wenn Juden nun nicht mehr der rabbinischen Gerichtsbarkeit unterlagen, dann setzte das eine nie zuvor gekannte individuelle Freiheit frei. Die neuen Chancen und Möglichkeiten hatten allerdings auch eine Schattenseite: den Verlust von Geborgenheit und Schutz, die Infragestellung der eigenen Identität. Auch im deutschen Judentum also, vor allem in der jungen Generation, begann im Ausgang des 18. Jahrhunderts die Suche nach einer neuen Identität, nach einem Ort, an dem sich der Einzelne aufgehoben fühlen konnte. Es war nicht zuletzt diese Dialektik der Emanzipation, die in der Haskalah als einer Jugendbewegung mündete. Noch immer fokussiert sich die Forschung sehr einseitig auf den ideengeschichtlichen Aspekt der jüdischen Aufklärung, dabei wäre sie doch zugleich als soziales Projekt zu verstehen – als ein Projekt, das dem traditionellen Judentum mit seinen eingeschliffenen, als überholt wahrgenommenen Strukturen neue Konzepte entgegenstellen wollte. Dazu gehörte nicht zuletzt die Emphase des freundschaftlichen Verkehrs. Die jungen Maskilim in Königsberg, Berlin und anderswo, viele von ihnen Junggesellen, trafen sich nicht mehr in der Jeschiwa, sondern im privaten Raum, um als Gleiche unbekümmert um soziale Restriktionen über „Gott und die Welt“ diskutieren zu können.7 Ihre Verbindung war keine familiäre, auch nicht in erster Linie die von Scholaren, sondern vielmehr eine freundschaftliche.8 Die Atmosphäre bei den Treffen der Maskilim in Königsberg, so Shmuel Feiner, war die „einer jüdischen Lesegesellschaft derer, die im Zusammensein mit anderen Maskilim Sicherheit und Trost“ suchten.9 Die gemeinsamen Ziele und Interessen wurden „gestützt von der innigen Freundschaft zwischen den Mitgliedern, und zwar in einer Zeit, als Freund6 Vgl.

Lenhard: Volk oder Religion?, S. 53–79. aufklärerische „Gesellschaft der Freunde“ wurde vor allem von Junggesellen getragen. Aaron Halle-Wolfssohn (1756–1835) etwa blieb zeitlebens ledig und kinderlos, Isaac Euchel (1756–1804) heiratete erst im Alter von 47 Jahren, Joel Brill Löwe (1762–1802) mit 30 Jahren. Vgl. Sebastian Panwitz: Die Gesellschaft der Freunde 1792–1935. Berliner Juden zwischen Aufklärung und Hochfinanz. Hildesheim 2007. 8 Vgl. Shmuel Feiner: The Jewish Enlightenment. Philadelphia 2002, S. 185–220. 9 Shmuel Feiner: Towards a Historical Definition of the Haskalah. In: Ders., David Sorkin: New Perspectives on the Haskalah. London, Portland 2001, S. 189. 7 Die

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schaft in Deutschland den Charakter eines Kults annahm“.10 Ähnlich wie viele christliche Aufklärungszirkel bildeten auch die Maskilim in erster Linie „eine geschlossene Gruppe guter Freunde, die ihre Gefühle wechselseitiger Zuneigung öffentlich zur Schau stellten“.11 Das Zusammengehörigkeitsgefühl als Gruppe erwies sich als wirksames Mittel für die Identitätskrise dieser Generation. Auch wenn die Breitenwirkung der Haskalah im deutschen Judentum sicher nicht überschätzt werden darf, so waren die elitären Zirkel der Maskilim dennoch unverkennbar das Signum einer neuen Ära.12 Das emanzipatorische Freundschaftsideal der Aufklärung – der jüdischen wie der christlichen – verdankte sich mithin nicht zuletzt einer Implosion des traditionellen Sozialgefüges im Ancien Régime, die den Einzelnen orientierungs- und haltlos dem Strom des Fortschritts aussetzte. „Die Auflösung der traditionellen Sozialbeziehungen“, so der Philosoph Harald Lemke, „ermöglicht eine Befreiung des Individuums aus festgefügten und auferlegten Lebensweisen.“13 Der Inbegriff dieser festgefügten und auferlegten Lebensweise der Vormoderne ist zweifellos die patriarchale Familie als Kerninstitution und Reproduktionsgemeinschaft der feudalen Gesellschaft gewesen.14 Oft wird übersehen, dass auch die Familie als Sozialform eine eigene Geschichte hat und in ihrer spezifisch historischen Ausformung keineswegs eine anthropologische Konstante darstellt.15 Die Familie kennt, wie die Freundschaft, Zeiten der Blüte und Zeiten des Niedergangs; sie verändert ihre Form und ihre Funktion; und sie ist mal mehr, mal weniger mit Zwang und Unterordnung des Einzelnen verbunden. Den Aufklärern erschien sie als Fessel, von der sich befreien musste, wer sich als vernunftbegabtes Individuum selbst Zwecke setzen wollte. Sie hatte ihren Nutzen, aber musste in ihrem Zugriff auf den Einzelnen beschränkt werden. In Diderots Encyclopédie heißt es dementsprechend zwar, Vater und Mutter seien mit natürlicher Autorität ausgestattet, um ihre Kinder zu erziehen und auszubilden, „bis diese das Alter der Vernunft erreichen“.16 Doch ab diesem Zeitpunkt müssten die Kinder den Schritt in die Freiheit gehen, weshalb alle 10 Feiner: 11 Ebd. 12 Vgl.

The Jewish Enlightenment, S. 195.

Sorkin: Transformation of German Jewry; Jacob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation von 1770–1870. Bodenheim 1986; Lowenstein: The Berlin Jewish Community. Von den deutschen Ländern ausgehend, verbreitete sich die Haskalah im Laufe des 19. Jahrhunderts in Osteuropa und forderte das dortige traditionelle Judentum auf mindestens ebenso radikale Weise heraus. Siehe etwa Raphael Mahler: Hasidism and the Jewish Enlightenment. Philadelphia 1985. 13 Harald Lemke: Freundschaft. Ein philosophischer Essay. Darmstadt 2000, S. 9. 14 Vgl. Agnes Heller: Vom Ende der Geschichte. Die parallele Geschichte von Tragödie und Philosophie. Hamburg, Wien 2020, S. 41. 15 Vgl. David I. Kertzer, Marzio Barbagli (Hg.): The History of the European Family. 2 Bde. New Haven, London 2001/2002. 16 Louis de Jaucourt: Pouvoir paternel. In: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 13. Neufchastel 1765, S. 255.

3.1. Krise der Ordnung

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Tyrannei des Vaters, die der Freiheit entgegenstehe, die ursprünglich rechtmäßige Autorität aufhebe. Familiale Herrschaft, die nicht der Befreiung der Kinder gelte, sei eine widernatürliche Usurpation der Macht. Elterliche Autorität sei „eher eine Verpflichtung als eine wirkliche Macht über die Kinder“.17 Amitié dagegen, Freundschaft, sei diejenige soziale Beziehung, in der sich die Einzelnen als Freie gleichberechtigt gegenüberstünden.18 Die Aufklärer stellten damit die unbeschränkte, geradezu willkürliche Verfügungsgewalt des Vaters infrage und rückten, nach dem Vorbild der griechischen Philosophie, die Sozialform der Freundschaft ins Zentrum. Der Individualisierungsschub, den die Auflösung und Entwertung der Ständeordnung und der damit verbundenen hierarchischen Sozialbeziehungen mit sich brachte, schlug sich im aufklärerischen und frühromantischen Diskurs in einem regelrechten Freundschaftskult nieder. Auch in den Zirkeln der jüdischen Aufklärer war Freundschaft ein zentrales Thema, was sich nicht zuletzt in den vielfältigen Zeitschriftenprojekten der Haskalah widerspiegelte.19 Und auch im ersten maskilischen Schullehrbuch, das 1778 von David Friedländer herausgegeben wurde, zählte die Freundschaft zu den zentralen Tugenden des aufgeklärten Bürgers.20 Doch die Voraussetzung und natürliche Grenze dieses Zeitalters der Freundschaft war und blieb die individuelle Freiheit. „Die Aufgabe, sein Zusammenleben mit Anderen zu gestalten, ist keine bloße Organisationsfrage“, so Harald Lemke. „Die alltäglichen und vermeintlich selbstverständlichen Lebensfragen, mit wem, wie, wofür, wie lange, unter welchen Bedingungen und warum wir mit Anderen zusammensein wollen, stehen im normativ relevanten Bezug zu persönlicher Freiheit und lebenspraktischer Selbstbestimmung.“21 Somit kann es wenig verwundern, dass das Zeitalter der Freundschaft in dem Maße an seine Grenzen stieß, wie das bürgerliche Familienleben sich als „Resultat tief greifender biopolitischer Disziplinierungsprozesse“ seit Ende des 18. Jahrhunderts sukzessive wieder als normative Lebensform durchsetzte.22 Freundschaft wurde zunehmend als „etwas ‚Zusätzliches‘ betrachtet, das nur außerhalb der Familie entstehen“ konnte.23

17 Ebd.

18 Vgl. Claude Yvon: Amitié. In: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une sociètè de gens de lettres, Bd. I. Paris 1751, S. 362. 19 Vgl. als Beispiel für die Freundschaftsidee der Maskilim Lippmann Moses Büschenthal: Lied der Freunde. In: Sulamith 5, 1 (1817), S. 210 f. 20 David Friedländer (Hg.): Lesebuch für Jüdische Kinder. Zum Besten der jüdischen Freyschule. Berlin 1779, S. 40. 21 Lemke: Freundschaft, S. 9. 22 Ebd., S. 19. 23 Maurice Aymard: Freundschaft und Geselligkeit. In: Philippe Ariès, Georges Duby (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung. Frankfurt am Main 1991, S. 461, hier zitiert nach Lemke: Freundschaft, S. 19.

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3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft

3.2. Verbürgerlichung und Konfessionalisierung Im deutschen Judentum lässt sich dieser stabilisierende Prozess am Übergang von der Haskalah zur jüdischen Konfessionalisierung gut nachvollziehen: Waren die Haskalah und auch noch die jüdische Romantik vornehmlich individualistische Ideologien, die folglich der Freundschaft einen herausgehobenen Stellenwert einräumten, so rückten die Vorkämpfer des Reformjudentums und der Neo-Orthodoxie wieder die Gemeindeinstitution und die Stärkung des jüdischen Familienverbands in den Vordergrund. Aus ihrer eigenen Sicht setzten sie sich für den Erhalt des Judentums im Angesicht der Bedrohung durch Säkularisierung und Assimilation ein, indem sie nach den Jahrzehnten des Niedergangs eine neue, modernisierte Ordnung einführten.24 Diese Ordnung war dezidiert bürgerlich, und so progressiv sie im Einzelnen auch gewesen sein mag, so konnte und wollte sie ihren konservativen Grundzug gar nicht verhehlen: Es ging den neuen Rabbinern und reformorientierten Aktivisten um eine Modernisierung des Judentums, um damit die Tradition gegen den Ansturm der Moderne zu retten. Was jeweils als „wesentlich“ für diese Tradition anerkannt und was als nebensächlich oder oberflächlich abgetan wurde, unterschied sich zwischen den einzelnen Gruppierungen zum Teil erheblich, aber einig waren sie sich darin, dass wieder Ordnung in das Chaos gebracht werden musste.25 Das Unterfangen, das Judentum zu retten und für die Gegenwart wieder attraktiv zu machen, duldete aus ihrer Sicht keine Unordnung, keine Abweichler, keine Eigenbrötelei. Das Judentum musste als Glaubensgemeinschaft reorganisiert werden und es fiel neben Rabbinern und Religionslehrern allen voran den Familien zu, die Kinder im Sinne der neuen Ideale heranzuziehen. Das konfessionell verstandene Judentum, das sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte und bis zum Ersten Weltkrieg die dominante Form des Judentums in Deutschland sein sollte, war durch und durch bürgerlich. Angefangen von den Bildungsidealen, über Kleidungsstil und Sitten, bis hin zum Normen- und Tugendkatalog ging es dem jüdischen Establishment darum, den bürgerlichen Lebensstil mit der jüdischen Tradition zu verbinden. Mit Erfolg: Weil der sozioökonomische Aufstieg der deutschen Juden ins Bürgertum sich binnen kürzester Zeit durchsetzte, hatte die Ideologie der Verbürgerlichung ein festes Fundament. Das Modell des bürgerlichen, konfessionell verstandenen Judentums war ein Erfolgsmodell. Freundschaft hatte in der bürgerlichen Moral, die die deutschen Juden verinnerlichten, durchaus einen Platz. Aber lediglich als etwas „Zusätzliches“, das 24 Vgl. Michael A. Meyer: Response to Modernity. A History of the Reform Movement in Judaism. New York, Oxford 1988. 25 Anschaulich wird das neben der Gründung neuer Ausbildungsstätten für Rabbiner auch an den Rabbinerkonferenzen der 1840er Jahre, auf denen Prinzipien des Reformjudentums festgelegt wurden – allerdings ohne Beteiligung der konservativen Fraktion, die die Konferenzen (mit Ausnahme Zacharias Frankels) boykottierte. Vgl. ebd., S. 132–142.

3.3. Krise des deutschen Judentums

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nützlich und angenehm war, nicht als eigenständige Lebensform. Es bedurfte nach dem Epochenumbruch im ausgehenden 18. Jahrhundert einer neuerlichen Krise der Ordnung, um ein neues Zeitalter der Freundschaft herbeizuführen: das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert. Doch inwiefern lässt sich für das späte Kaiserreich überhaupt von einer Krise der bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen und des deutschen Judentums im Speziellen sprechen? Oberflächlich betrachtet, sagen die Zahlen etwas ganz anderes: Vom Wirtschaftsboom der wilhelminischen Ära profitierten die meisten jüdischen Familien. Auch die Integration in die deutsche Gesellschaft schritt voran, wie sich etwa an Karrierewegen oder Mitgliederlisten deutscher Sport- und Kulturvereine ablesen lässt. Und im Bereich der Religion ist es wohl kaum ein Zufall, dass die größten Prachtsynagogen, die die deutsche Geschichte je gesehen hat, im Kaiserreich erbaut wurden. Wieso also „Krise“?

3.3. Krise des deutschen Judentums Gesellschaftliche Krisen lassen sich im Unterschied zu ökonomischen nicht nur an Zahlen abmessen, sondern sind auf einer emotionalen und seelischen Ebene angesiedelt.26 Sie entspringen einem Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Ideal und alltäglicher Erfahrung. Ein gesellschaftliches Krisenbewusstsein stellt sich somit dann ein, wenn die Menschen die Überzeugung verlieren, dass die Normen und Werte, die ihnen vermittelt wurden, richtig sind. Tiefe Verunsicherung macht sich breit, wenn die Realität zu stark von den Idealen abweicht und der Glaube, diesen Abstand mit den althergebrachten Instrumenten wieder schließen zu können, schwindet. In solchen Phasen, die zumeist ein längerfristiger Erosionsprozess sind, kommen neue Ideen und Konzepte ans Licht, die mehr oder weniger radikal auf einen Bruch mit der Vergangenheit setzen und einen Neuanfang propagieren.27 Krisenbewusstsein 26 Bereits Émile Durkheim geht es darum zu zeigen, wie der gesellschaftliche Zustand von den Individuen als „Anomie“ erfahren wird, also als Zerfall moralischer, religiöser und sozialer Normen. Die „Anomie“ löse beim Individuum Angst und Unruhe aus, ja resultiere im Extremfall sogar im Suizid. Vgl. Émile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften [1893]. Berlin 82019. Zum Suizid siehe ders.: Der Selbstmord [1897]. Frankfurt am Main 1983. In den Geschichts- und Kulturwissenschaften ist der Krisenbegriff zwar ubiquitär, bleibt aber häufig unterbestimmt. Neuere Ansätze finden sich in Thomas Mergel (Hg.): Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Frankfurt am Main, New York 2012. Mergel selbst versteht in seiner Einleitung Krisen als Wahrnehmungsphänomene die Moderne grundsätzlich als krisenhaft und zieht damit die Stabilität bestehender Ordnungen in Zweifel (vgl. ebd., S. 9–22). Er folgt darin der aufklärungskritischen Tradition des frühen Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt [1959]. Frankfurt am Main 1973. 27 Ausgehend vom Begriff der adoleszenten „Identitätskrise“ hat der Psychoanalytiker Erik H. Erikson „Krise“ allgemein definiert als „Bezeichnung für einen notwendigen Wendepunkt

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3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft

impliziert mithin die Geburt von Aufbruchsideologien, die das Versprechen beinhalten, durch den Abriss des Alten, Überkommenen Platz für eine neue, bessere Gesellschaft zu schaffen. Unter den Bedingungen der Krise des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts stellte das Konzept der Freundschaft – in all seinen Facetten – für die junge Generation ein solches Versprechen dar. Die Krise des deutschen Judentums, die im späten 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm und sich vor allem als Generationenkonflikt Geltung verschaffte, bestand darin, dass die religiösen, moralischen und sozialen Normen, für die das klassische bürgerlich-assimilierte Judentum stand, einen Gutteil ihrer sozialen Bindungskraft eingebüßt hatten. Diese Krise lässt sich im Wesentlichen an vier Faktoren festmachen: Erstens fühlten viele junge Juden, dass die im Prozess der Emanzipation erworbene Freiheit mit neuen Zwängen verbunden war, insbesondere den Vorgaben des auf wirtschaftlichen Erfolg und den Erhalt der Familie verpflichteten bürgerlichen Moralismus. Eine Familie zu gründen und diese zu ernähren, reichte vielen nicht mehr als Lebenszweck  – sie wollten ihre Freiheit nutzen, um „echte“ Erfahrungen zu machen, mit Neuem zu experimentieren und ihr individuelles Glück zu finden. Freiheit und Zwang standen also in einem spürbaren Widerspruch zueinander, und es war nicht zuletzt die patriarchale Form der Familie, die mit Zwang, Nötigung und Unterdrückung der persönlichen Freiheit verknüpft wurde. Zweitens, und damit eng verbunden, war der äußere Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der bürgerlichen Ideologie offensichtlich: Die sozialen Folgen des modernen Industriekapitalismus, der sich in Deutschland mit besonderer Rasanz durchgesetzt hatte, war vor allem in den Städten allgegenwärtig. Das stetig anwachsende Proletariat mit seinen von Elend und Ausbeutung geprägten Lebensformen stand den hehren Idealen des bürgerlichen Liberalismus in sichtbarem Kontrast gegenüber und widerlegte tagtäglich durch seine schiere Existenz die großen Versprechen der Väter, wonach jeder seines eigenen Glückes Schmied sei. Insofern ist es wohl kein Zufall, dass gerade die Söhne und Töchter aus besonders wohlhabenden jüdischen Familien, deren Väter nicht selten selbst „Kapitalisten“ waren, sich als Heranwachsende dem Sozialismus zuwenden sollten.28 In weniger wohlhabenden Familien hatten be[…], für den entscheidenden Moment, wenn die Entwicklung den einen oder den anderen Weg einschlagen muß, wo Hilfsquellen des Wachstums, der Wiederherstellung und weiteren Differenzierung sich eröffnen“. In entwicklungstheoretischer Hinsicht spricht Erikson auch von der Krise als einer „entscheidende[n] Periode vermehrter Verletzlichkeit und eines erhöhten Potentials“. Erik H. Erikson: Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel. Stuttgart 1970, S. 12 und 96. 28 Vgl. Hans Dieter Hellige: Generationskonflikt, Selbsthass und die Entstehung antikapitalistischer Positionen im Judentum. Der Einfluss des Antisemitismus auf das Sozialverhalten jüdischer Kaufmanns- und Unternehmersöhne im Deutschen Kaiserreich und in der k.u.k.-Monarchie. In: Geschichte und Gesellschaft 5, 4 (1979), S. 476–518.

3.3. Krise des deutschen Judentums

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sonders die Jüngsten  – Kinder und Jugendliche  – oft einen schweren Stand. Wie Claudia Prestel gezeigt hat, stieg auch in der jüdischen Gemeinschaft die Zahl der verwahrlosten Kinder und Jugendlichen um die Jahrhundertwende dramatisch an, wenn auch prozentual geringer als in christlichen Familien. Auch bürgerliche jüdische Eltern scheuten sich nicht, ihre Kinder in Fürsorgeanstalten abzuschieben, wo sie nicht selten harter Arbeit, Prügel und Drangsalisierung ausgesetzt waren.29 Unter ostjüdischen Mädchen, vor allem aus Galizien, waren Prostitution und Mädchenhandel durchaus verbreitet, wie die jüdische Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim 1923 auf einer Konferenz festhielt, die sich diesem Problem stellte: „Wir können keineswegs sagen, daß es sich um ein nur jüdisches Problem handelt“, erklärte sie, „aber bei geschlossenen Türen sage ich, daß es auch ein jüdisches ist.“30 Zwar waren solche Schicksale von jüdischen Kindern und Jugendlichen ein gut gehütetes Tabu, das nicht an die nichtjüdische Öffentlichkeit dringen sollte, um sich nicht antisemitischen Angriffen aussetzen zu müssen, aber man musste dennoch mit Blindheit geschlagen sein, wenn man die soziale Not um sich herum nicht wahrnahm. Drittens stand das Konzept des Judentums als einer „Glaubensgemeinschaft“ im Widerspruch zum sich ausbreitenden Säkularismus. Wenn es der religiöse Glaube war, der die Zugehörigkeit zum Judentum bestimmte, in welchem Sinne waren dann all jene Väter, deren Glaube in Wissenschaft, Fortschritt und Geldverdienen aus der Sicht der Jugend größer war als ihre Ehrfurcht vor Gott und Torah, überhaupt noch Juden? Für die junge Generation, die in eben diesem Geist aufgezogen war, vermochte die Rückkehr zum Glauben diese Identitätskrise in den meisten Fällen nicht mehr ausgleichen, denn vielen von ihnen war der spirituelle Bezug zur jüdischen Tradition gar nicht mehr  – oder nur unzureichend  – vermittelt worden. Auch wenn insbesondere im Kontext der „jüdischen Renaissance“ Versuche unternommen werden sollten, die religiöse Identität wieder zu stärken, so unterschieden sich die Formen und Inhalte dieser Religiosität doch erheblich von der des alten, konfessionell verstandenen Judentums. Das ist kein Zufall: Die alten Konzepte schienen auf die Gegenwart nicht mehr zu passen, denn diese stellte neue Fragen, auf die entsprechend auch neue Antworten gefunden werden mussten. Viertens schließlich nahm der Antisemitismus seit den 1880er Jahren immer mehr zu, paradoxerweise parallel zur fortschreitenden Akkulturation und Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft.31 Erfahrungen mit Antisemitismus waren im Alltag ganz unterschiedlich, wie die Memoirenliteratur zeigt. 29 Vgl. Claudia Prestel: Jugend in Not. Fürsorgeerziehung in deutsch-jüdischer Gesellschaft (1901–1933). Wien, Köln, Weimar 2003. 30 Bertha Pappenheim: Schutz der Frauen und Mädchen. Das Problem in allen Zeiten und Ländern [1923]. In: Dies.: Sisyphus. Gegen den Mädchenhandel. Galizien. Hrsg. v. Helga Heubach. Freiburg im Breisgau 1992, S. 253 (meine Hervorhebung – PL). 31 Vgl. Reinhard Rürup: Die „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft und die Entstehung

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3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft

Manche nahmen diese Erfahrungen als traumatisch und schockhaft wahr, andere berichteten, sie hätten in ihrer Jugend niemals oder kaum Judenfeindschaft erlebt. Dennoch war die antisemitische Bewegung im späten Kaiserreich zu einer lautstarken politischen Kraft geworden und antijüdische Vorurteile und Einstellungen waren ein integraler Bestandteil des „kulturellen Codes“ des konservativen Milieus.32 Die antisemitische Stimmung blieb nicht folgenlos für das jüdische Leben, schließlich war sie im Alltag mit dem Schikanieren jüdischer Schüler, mit Ausgrenzung in Vereinen und Burschenschaften, mit Diskriminierung im Geschäftsleben sowie bisweilen auch mit gewalttätigen Attacken verbunden. Der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ ging juristisch wie medial gegen den Antisemitismus vor, mit wechselndem Erfolg, aber bei vielen Juden stellte sich auch eine gewisse Resignation ein.33 Wenn die Nichtjuden die Juden so sehr hassten, fragten sich viele, warum sollte man dann nicht einfach unter sich bleiben? Diese vier Faktoren also  – die Enge der patriarchalen Familie, die sozialen Folgen des Kapitalismus, der sich ausbreitende Säkularismus sowie der vordringende Antisemitismus – stellten das Modell des assimilierten, bürgerlichen Judentums infrage. Sicherlich war diese Entwicklung Ausdruck einer Krise der bürgerliche Gesellschaft als Ganzes, wie sich nicht zuletzt an der Breite antibürgerlicher Bewegungen, Denkweisen und Protestformen zeigt, aber die deutschen Juden waren als mehr oder weniger ausschließlich bürgerliche Schicht besonders von dieser Krise betroffen. Zudem gab es einige Besonderheiten, die dazu führten, dass die Krise der bürgerlichen Gesellschaft sich für die Juden in verschärfter Form darstellte: Zum einen war ihre gesellschaftliche Stellung trotz der großen Erfolge noch immer prekär und wurde von den Antisemiten ständig infrage gestellt; zum zweiten basierte ihre Identität als Juden vor allem auf jenem konfessionellen Modell, das nun vielen als realitätsfern erschien, auch wenn soziale Faktoren, wie im letzten Kapitel dargestellt, faktisch viel entscheidender für den Zusammenhalt als Gruppe waren. Aus Angst davor, als partikularistischer „Staat im Staate“ wahrgenommen zu werden, wurde der jüdische Charakter vieler sozialer Bindungen – Ehe und Partnerschaft, Berufsgenossenschaft und Freundschaft  – öffentlich kaum thematisiert. Und wir haben bereits gesehen, dass vielen Juden diese persönlichen Bindungen auch viel zu selbstverständlich des modernen Antisemitismus. In: Ders.: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 21987, S. 93–119. 32 Vgl. Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code. München 22000. 33 Vgl. Avraham Barkai: Wehr Dich! Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1938. München 2002; Anna Ullrich: Von „jüdischem Optimismus“ und „unausbleiblicher Enttäuschung“. Erwartungsmanagement deutsch-jüdischer Vereine und gesellschaftlicher Antisemitismus 1914–1938. Berlin, Boston 2019; Bernd J. Hartmann, Daniel Siemens, Regina Grundmann (Hg.): „Was soll aus uns werden?“ Zur Geschichte des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im nationalsozialistischen Deutschland. Berlin 2020.

3.4. Freud und die patriarchale Kleinfamilie

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waren, als dass sie sie eigens hätten betonen müssen. Bei der jungen Generation, die Ende des 19. Jahrhunderts und dann vor allem um 1900 geboren wurde, war das anders: Hier stand nicht mehr der konfessionelle Aspekt im Vordergrund, sondern das Zusammensein mit anderen Juden. Und die Krise des alten Modells fand ihren Ausdruck in einem weit reichenden Generationenkonflikt.

3.4. Freud und die patriarchale Kleinfamilie Kaum ein Phänomen verleiht dieser neuerlichen Krise – und damit auch dem neuen Zeitalter der Freundschaft – so sehr Ausdruck wie Sigmund Freuds Psychoanalyse. Als „dunkler Aufklärer“ hatte Freud die Schwächen der Aufklärung scharfsinnig erkannt und ihr gleichzeitig die Treue gehalten, indem er das Irrationale, das die vermeintlich autonomen und aufgeklärten Subjekte antrieb, nicht etwa verleugnete, sondern rational aufzuhellen versuchte.34 Seine bekannte Feststellung, „daß das Ich nicht Herr sei im eigenen Haus“, knüpfte kritisch an Kants Emphase vom autonomen Individuum an und konstatierte, dass der moderne Mensch ein von seinen Neurosen Getriebener sei.35 Freuds Erklärung für die Misere, in der sich seine Zeitgenossen befanden, lag aber nicht nur im Mangel an psychoanalytischer Aufklärung, sondern vor allem in den realen Unterdrückungs- und Zwangsverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die das Triebleben der Einzelnen so stark reglementierten, dass diese an den an sie gerichteten Erwartungen schier zu ersticken drohten. Freud registrierte also mit feinem Gespür den repressiven Charakter der bürgerlichen Gesellschaft, dem das Individuum, das als Patient oder als Patientin in seine Praxis kam, zum Opfer fiel. Ungeachtet der kultur- und zivilisationsgeschichtlichen Prämissen seines Werks entwickelte Freud eine individualistische Philosophie. Nur wer seine Neurosen im Griff habe und sich in der Gesellschaft rational zu verhalten imstande sei, könne in ihr „funktionieren“. Freuds Konformismus hatte aber auch eine emanzipatorische Kehrseite: das rationale Verhältnis zu Tradition und Familie ermöglichte Distanz  – und diese Distanz gewann der Einzelne in der Freundschaft mit anderen Individuen. Freud selbst fand diese Distanz in der leidenschaftlichen Freundschaft zu Wilhelm Fließ, einem aus Westpommern stammenden, zwei Jahre jüngeren jüdischen Arzt, der kurz nach Freuds Vermählung mit Martha Bernays Ende des Jahres 1886 sein engster Vertrauter wurde.36 Da die „innere Unruhe“, seine Ängste 34 Zum „dunklen Aufklärer“ Freud siehe Yirmiyahu Yovel: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. München 1999, S. 474. 35 Sigmund Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse [1917]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Anna Freud u. a., Bd. 12: Werke aus den Jahren 1917–1920. London 1947, S. 11. 36 Sein ganzes Leben lang blieb Freundschaft ein zentrales Thema der Lebensführung für Freud. Vgl. etwa die Berichte von Ludwig Binswanger: Erinnerungen an Sigmund Freud. Tübin-

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3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft

und Zweifel, wider Erwarten nicht abgenommen hatten, nachdem er in den Bund der Ehe eingetreten war, sondern sich sogar verschlimmert hatten, begann Freud nach deren Ursachen zu forschen. Gemeinsam mit Fließ entwickelte er – gleichsam den Grundstein für die spätere Psychoanalyse legend – unmittelbar nach dem Tod des Vaters die Methode der „Selbstanalyse“, ein Verfahren zur Aufdeckung unbewusster Motive, das sich entgegen Freuds eigener Darstellung in der Traumdeutung nur zu zweit durchführen lässt.37 Gerade durch den Briefwechsel mit Fließ werde deutlich, so der Psychoanalytiker Heinrich Deserno, „daß genuine Selbstanalyse weitgehend nicht möglich ist. Auch die Selbstanalyse bedarf einer ihr günstigen Verankerung in unterstützenden Beziehungen wie Freundschaften, guten Arbeitsbeziehungen – und nicht zuletzt – in Liebesbeziehungen.“38 Die besondere Beziehung zu dem in Berlin lebenden Fließ, die sich in überschäumenden Liebesbriefen ausdrückte und ihren Ursprung im Unbehagen an der bürgerlichen Form der Ehe hatte, war eine vorwiegend brieflich vermittelte Sozialform, die eine gelungene Individualisierung ermöglichen sollte.39 „Man könnte sogar behaupten“, schreibt Freuds Biograph Joel Whitebook, dass die Psychoanalyse, wie wir sie kennen, ohne die schier wahnwitzige Beziehung zu dem Berliner Freund, die für Freud zum Medium seiner großen Entdeckungen wurde, gar nicht hätte entstehen können. Vielleicht wäre auch eine andere Entwicklung möglich gewesen. Tatsächlich aber erwarb sich Freud den Grad an Autonomie, den ihm seine Konstitution, sein familiärer und sein sozio-historischer Hintergrund zugestanden, indem er zunächst eine lange Phase extremer Fremdbestimmung durch Fließ durchlief.40

Die fast zwanzig Jahre dauernde Freundschaft mit Fließ, die 1903 sehr abrupt endete, war demnach nicht nur für Freuds persönliche Entwicklung von zentraler Bedeutung, sondern auch für die Entstehung der Psychoanalyse. Als Wissenschaft vom Seelenleben erforschte diese besonders, wie die patriarchale bürgerliche Kleinfamilie den Einzelnen im Laufe seiner Triebgeschichte formte und welche seelischen Schäden damit verbunden waren. Sie legte den Finger in die klaffende Wunde der bürgerlichen Gesellschaft und stellte fest, dass die europäische Kultur nicht nur Fortschritt und Glück hervorbrachte, sondern auch Schmerz und Leid. Damit verkündete Freud, ganz im Sinne der europäischen Kulturkritik, ein Ende des naiven Fortschrittsglaubens der Aufklärung und begen 2014 und Arnold Zweig: Freundschaft mit Freud. Ein Bericht (Berliner Ausgabe, Bd. III/5). Berlin 1996. 37 Sigmund Freud: Die Traumdeutung [1899]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Anna Freud u. a., Bd. 2/3: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. London 1942, S. X. 38 Heinrich Deserno: Schriften zur Traumdeutung. In: Hans-Martin Lohmann, Joachim Pfeiffer (Hg.): Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2013, S. 107. Siehe auch Peter Gay: Freud. A Life for Our Time. New York, London 1998, S. 55–61. 39 Siehe Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ, 1887–1904. Frankfurt am Main 21999. 40 Joel Whitebook: Freud. Sein Leben und Denken. Stuttgart 2018, S. 181.

3.4. Freud und die patriarchale Kleinfamilie

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reitete – wenn auch eher unwillentlich – einer Reform der Lebensgestaltung den Weg. Aus der Diagnose, die gesellschaftlichen Strukturen der bürgerlichen Welt führten zu Kummer und Pein, folgerte die nachwachsende, junge Generation sehr zu seinem Leidwesen, dass neue Formen des Sozialen gefunden werden mussten. Wie Freud selbst, der gesellschaftspolitisch jedoch weitgehend konservativen Vorstellungen folgte, fanden sie den Ausweg in der Freundschaft. Freud selbst wahrte den Schein als gestrenger Familienpatriarch, bewegte sich aber zugleich in Freundschafts- und Kollegennetzwerken, die mehr miteinander verband als nur das Interesse an derselben Disziplin. Die fünf Männer, die sich seit dem Herbst 1902 regelmäßig jeden Mittwochabend um halb neun in Freuds Wohnung in der Wiener Berggasse trafen  – neben Freud waren das Wilhelm Stekel, Max Kahane, Rudolf Reitler und Alfred Adler, später auch Paul Federn, Otto Rank, Isidor Sadger, Eduard Hitschmann, Fritz Wittels und einige andere – waren nicht nur allesamt Ärzte, sondern sie hatten auch, mit der einsamen Ausnahme Reitlers, einen jüdischen Familienhintergrund.41 Dass diese Tatsache für Freud keine Nebensächlichkeit war, hat Yosef Hayim Yerushalmi mit der Figur des „psychologischen Juden“ herausgearbeitet: „Wenn für alle weltlichen Juden das Judentum zum ‚Irgendwie-Jüdisch-Sein‘ geworden ist, so wirkt das ‚Jüdischsein‘ des psychologischen Juden zumindest auf den Außenstehenden nahezu völlig inhaltsleer; es ist fast reine Subjektivität geworden.“42 Statt einer Glaubensüberzeugung oder eines nationalen Bekenntnisses war für Freud das Jüdischsein vor allem eine Angelegenheit des Gefühls: „Was mich ans Judentum band“, so Freud 1926 in seinem berühmten Vortrag vor der Wiener B’nai B’rith-Loge, war nicht der Glaube, auch nicht der nationale Stolz […]. Aber es blieb genug anderes übrig, was die Anziehung des Judentums und der Juden unwiderstehlich machte, viele dunkle Gefühlsmächte, umso gewaltiger, je weniger sie sich in Worten erfassen liessen, ebenso wie das klare Bewußtsein der inneren Identität, die Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion.43

Diese angebliche Gleichheit der seelischen Konstruktion machte Freud dafür verantwortlich, dass er sich unter Juden wohler fühlte, aufgehoben, als Teil eines Ganzen. In der Rede vor der B’nai B’rith-Loge – einer jüdischen Bruderschaft  – brachte Freud auf den Punkt, inwiefern der jüdische Freundeskreis 41 Vgl. zur Mittwochsgesellschaft Vincent Brome: Sigmund Freud und sein Kreis. Wege und Irrwege der Psychoanalyse. München 1969, S. 26–40. Zur Frage des Jüdischen der Psychoanalyse siehe auch Peter Gay: „Ein gottloser Jude“. Sigmund Freuds Atheismus und die Entwicklung der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1988, S. 124–162. 42 Yosef Hayim Yerushalmi: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum. Berlin 1991, S. 27. 43 Sigmund Freud: Ansprache an die Mitglieder des Vereins B’nai B’rith [1926]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Anna Freud u. a., Bd. 17: Schriften aus dem Nachlass. London 1941, S.  51 f.

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3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft

der Psychoanalytiker ihm nach dem Tod seines Vaters und seiner Außenseiterstellung innerhalb der medizinischen Profession ein neues Zuhause gab: „In dieser Vereinsamung erwachte in mir die Sehnsucht nach einem Kreis von auserlesenen, hochgestimmten Männern, die mich ungeachtet meiner Verwegenheit freundschaftlich aufnehmen sollten. Ihre Vereinigung wurde mir als der Ort bezeichnet, wo solche Männer zu finden seien. Dass Sie Juden sind, konnte mir nur erwünscht sein, denn ich war selbst Jude, und es war mir immer nicht nur unwürdig, sondern direkt unsinnig erschienen, es zu verleugnen.“44 Der jüdische Freundeskreis – erst in der Mittwochsgesellschaft, dann ab 1908 in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung – wurde Freuds Lebensmittelpunkt. Der Kreis wurde seine Ersatzfamilie, ohne dass dies die bürgerliche Familie, der er als Familienoberhaupt vorstand, zerstört hätte. Doch die dauernde Spannung zwischen dem Familienvater und Ehemann auf der einen Seite und dem Zentrum der psychoanalytischen Bewegung auf der anderen Seite, die im Briefwechsel nicht nur mit Wilhelm Fließ immer wieder zur Sprache kommt, führt die Entwicklung, die das neue Zeitalter der Freundschaft kennzeichnete, vor Augen: Freundschaft forderte das überlieferte soziale Gefüge heraus.

3.5. Generationenkonflikte Wie im Hause Freud, so lässt sich auch im Hinblick auf das Judentum im Deutschen Reich zeigen, dass die Herausbildung einer neuen Konjunktur der Freundschaft mit den Konflikten innerhalb der bürgerlichen Familie einherging, allen voran mit dem sich im späten Kaiserreich verschärfenden Generationenkonflikt. Die beeindruckende Geschichte des sozialen Aufstiegs der deutschen Juden im Verlauf des 19. Jahrhunderts fußte auf der Überzeugung, dass nur wirtschaftlicher Erfolg und überdurchschnittliche Bildung die Integration in die deutsche Gesellschaft garantieren konnten. Der Erfolgsdruck, dem in der Folge auch die Kinder der emanzipierten Generation ausgesetzt wurden, schlug bereits vor dem Ersten Weltkrieg immer häufiger in sein Gegenteil um: Gerade in wohlhabenden Familien suchten die Kinder andere Wege als die ihnen von den Eltern vorgezeichneten. Dabei nutzten sie die von den Eltern erstrittenen Freiheiten – etwa die Zulassung zu Universitäten – und die ihnen als „kulturelles Kapital“ mitgegebene Bildung, um abseits der eingetrampelten Handelspfade gänzlich unbetretenes Terrain zu erkunden. Freuds Vater Jacob, ein Wollhändler, entstammte zwar noch einer chassidischen Familie aus Galizien, aber seinem Sohn vermittelte er nur noch einzelne Versatzstücke seiner religiösen Traditionen.45 44 Ebd.,

S. 51. Benjamin Goodnick: Jacob Freud’s Dedication to His Son: A Reevaluation. In: Jewish Quarterly Review 82, 3/4 (1992), S. 329–360. 45 Vgl.

3.5. Generationenkonflikte

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Stattdessen gab er seinem Sohn das Primat der Bildung mit auf den Weg  – und der nutzte die Möglichkeiten, die er hatte, indem er nicht etwa ‚nur‘ Arzt wurde, sondern auch eine bahnbrechende neue Anthropologie entwickelte. Nur zwei Generationen trennten den Erfinder der Psychoanalyse vom chassidischen Rabbiner Shlomo Freud aus dem galizischen Shtetl Tysmenyzja in der heutigen Ukraine. Der Übergang von der traditionellen Gemeinschaft zur Moderne vollzog sich in atemberaubendem Tempo, und der äußere Rahmen, der all diese Widersprüche und Entwicklungen zusammenhalten musste, war die Familie. Mehr als alles andere war es über Jahrhunderte die traditionelle Familie gewesen, die den Lebensalltag der deutschen Juden geprägt hatte. Was ‚Jüdischsein‘ für den Einzelnen bedeutete, wurde, vor allem auf einer emotionalen und affektiven Ebene, weniger von halachischen Diskussionen in den Jeschiwot bestimmt, als vielmehr vom Eingebundensein in das familiäre Netzwerk, das sich um einen patriarchal ausgerichteten Haushaltsvorstand gruppierte. Mit dem Zerfall dieser traditionellen Sozialform und dem Übergang zur bürgerlichen Kleinfamilie veränderte sich auch das Konzept der jüdischen Gemeinschaft. Während Säkularisierung und Akkulturation voranschritten, wurde die nun „israelitisch“ oder „mosaisch“ genannte Religionsgemeinde im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend zum Statthalter jüdischen Gemeinschaftsgefühls. Das Judentum wurde als bloß konfessionell verstandene Religion gewissermaßen in die Synagoge ausgelagert, während die Durchdringung des jüdischen Alltags durch Riten und Symbole abnahm. Die Synagogenordnungen wurden im gesamten Land grundlegend überarbeitet, Gebetbücher ins Deutsche übersetzt und in den liberalen Gemeinden sogar Orgelspiel und Chorgesänge eingeführt, um den Gottesdienst zu einem „erhabenen“ Erlebnis zu machen, das von einer sakralen Atmosphäre geprägt war.46 Auf der anderen Seite besuchten immer mehr Juden den Gottesdienst nur noch an den hohen Feiertagen. Die häusliche Sabbatruhe wurde zunehmend weniger streng beachtet und immer öfter auf religiöse Riten gänzlich verzichtet. Wenn der Begriff „Säkularisierung“ im Hinblick auf die deutsch-jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts einen Sinn haben soll, dann vor allem den, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen Synagoge und Lehrhaus auf der einen Seite und Haushalt und Geschäft auf der anderen Seite in eine strikte Sphärentrennung zwischen Religiösem und Profanem überführt wurde. Gegenläufige Momente wie die auf das frühe 19. Jahrhundert zurückgehende Aufwertung der Mutter als religiöser Erzieherin oder die ritualisierte Begehung jüdischer Feiertage wurden immer mehr zum Signum eines dezidiert religiösen Judentums, während viele deutsche Juden sich als säkular begriffen oder doch zumindest dem Religiösen nur einen kleinen, klar begrenzten Einfluss auf das Alltagsleben zugestanden. 46 Vgl.

Meyer: Response to Modernity, S. 184–187.

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3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft

Der 1880 in einer liberal-observanten Berliner Familie geborene Schriftsteller Moritz Goldstein, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit seiner Polemik gegen das Ideal der jüdischen Assimilation die berüchtigte Kunstwart-Debatte auslösen sollte, berichtete, wie schwer seinem noch orthodox erzogenen Vater der Abschied von der vertrauten Lebensweise gefallen sei:47 Die hohen Feiertage seien zwar noch eingehalten worden, aber „die Sitten des jüdischen Lebens“ seien ihm als Sohn schon nicht mehr vermittelt worden. „Ich hörte zwar davon und las auch darüber; aber das schafft nicht jene absichtlose Vertrautheit, die man offenbar nur erwirbt, wenn man das Ritual in der Kindheit um sich her mit angesehen und daran teilgenommen hat.“ Zugleich hielt Goldstein fest, dass er gleichwohl niemals „in dem Gefühl meiner Zugehörigkeit zum Judentum oder besser zu den Juden schwankend geworden“ sei.48 Doch wie sollte sich dieses Gefühl der Zugehörigkeit manifestieren, wenn nicht im religiösen Ritual oder in den „Sitten des jüdischen Lebens“? Das konfessionell verstandene Judentum seiner Eltern, die es gegen das traditionelle, gesetzestreue Leben ihrer Elternhäuser eingetauscht hatten, vermochte das Gefühl der Zugehörigkeit zum Judentum offenbar nicht mehr mit zu Leben füllen. Das Vakuum, das der jüdische Säkularismus zurückließ, konnte nun neu gefüllt werden. Es mussten Wege gefunden werden, das Judentum im Alltag wieder leb- und erfahrbar zu machen, die über das als steif und anachronistisch empfundene Modell des assimilierten, konfessionell verstandenen Judentums und die ihm korrespondierende patriarchale bürgerliche Kleinfamilie hinausging. Dieser Weg bestand nicht zuletzt in Praktiken der Freundschaft unter Juden, die im Generationenkonflikt mit den Eltern als Ersatz für die verlorengegangene Tradition fungierten. Franz Kafkas berühmter Brief an den Vater aus dem Jahr 1919 illustriert diesen Generationenkonflikt.49 Der aus einer nicht eben wohlhabenden Fleischerfamilie stammende Kaufmann Hermann Kafka repräsentiert in dem Brief ein leer gewordenes Judentum, das nur noch um des guten Rufes willen ganz oberflächlich und ohne jede innere Überzeugung gepflegt werde. Des Vaters Autorität basiere auf Drohgebärden und Einschüchterungen, die bei dem Sohn Furcht und Widerwillen erregten. Insbesondere der Versuch, dem Sohn den weiteren Lebensweg aufzuzwängen, führten den Sohn zum Konflikt mit dem Vater: 47 Zur Kunstwart-Debatte siehe Manfred Voigts: Die „Kunstwart-Debatte“ – Kontroversen um Assimilation und Kulturzionismus. In: Hans Otto Horch (Hg.): Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur. Berlin, Boston 2016, S. 122–134. 48 Moritz Goldstein: Berliner Jahre. Erinnerungen 1880–1933. München 1977, S. 101 f. 49 Die Forschung ist sich uneins darüber, inwiefern der Brief als biographische oder als literarische Quelle zu gelten hat. Für erstere Position steht Saul Friedländer: Franz Kafka. The Poet of Shame and Guilt. New Haven, London 2013, S. 23–29, die zweitere Position vertritt PeterAndré Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie. München 22008, S. 51 f. und S. 722, Anm. 3. Ritchie Robertson: Kafka. A Very Short Introduction. Oxford 2004, S. 5 liest den Brief vor allem als „self-analysis“.

3.5. Generationenkonflikte

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Dir hat sich die Sache immer sehr einfach dargestellt, wenigstens soweit Du vor mir und, ohne Auswahl, vor vielen andern davon gesprochen hast. Es schien Dir etwa so zu sein: Du hast Dein ganzes Leben lang schwer gearbeitet, alles für Deine Kinder, vor allem für mich geopfert, ich habe infolgedessen ‚in Saus und Braus‘ gelebt, habe vollständige Freiheit gehabt zu lernen was ich wollte, habe keinen Anlaß zu Nahrungssorgen, also zu Sorgen überhaupt gehabt; Du hast dafür keine Dankbarkeit verlangt, Du kennst ‚die Dankbarkeit der Kinder‘, aber doch wenigstens irgendein Entgegenkommen, Zeichen eines Mitgefühls; statt dessen habe ich mich seit jeher vor Dir verkrochen, in mein Zimmer, zu Büchern, zu verrückten Freunden, zu überspannten Ideen; offen gesprochen habe ich mit Dir niemals, in den Tempel bin ich nicht zu Dir gekommen, in Franzensbad habe ich Dich nie besucht, auch sonst nie Familiensinn gehabt, um das Geschäft und Deine sonstigen Angelegenheiten habe ich mich nicht gekümmert, die Fabrik habe ich Dir aufgehalst und Dich dann verlassen, Ottla habe ich in ihrem Eigensinn unterstützt und während ich für Dich keinen Finger rühre (nicht einmal eine Theaterkarte bringe ich Dir), tue ich für Freunde alles.50

Anstatt Dankbarkeit zu zeigen und sich unterwürfig in die bürgerliche Familientradition zu fügen, beschäftigte sich der Sohn mit „überspannten Ideen“ wie der, Schriftsteller zu werden; anstatt in den Tempel zu gehen, traf er sich lieber mit seinen Freunden. Auch die Töchter, von denen erwartet wurde, dass sie später als Mütter die Familientraditionen und bürgerlichen Werte an die nächste Generation weitergaben, stellten sich in zunehmendem Maße quer. In dem Beispiel von Kafkas Brief ist es seine kleine Schwester Ottilie Kafka (1892–1943), die – unterstützt von ihrem aufmüpfigen Bruder – eigene Wege ging. In ihrem Falle ist es die 1920 erst im Alter von 28 Jahren geschlossene Ehe mit Josef David, einem tschechischen Katholiken, die Vater und Mutter bestürzten und ihnen das Scheitern ihres Lebensmodells vor Augen führten. Dieser drastische Schritt, der „Ottla“ scheinbar ganz von der jüdischen Gemeinschaft entfernte, war aber nur eine besonders radikale Möglichkeit für junge Frauen, sich gegen die Erwartungen ihres Elternhauses zu stemmen.51 Andere suchten in den Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Boden schießenden antibürgerlichen, meist libertären Bewegungen einen Ausweg aus dem ihnen verheißenen Schicksal oder experimentierten mit neuen Form der Freundschaft und des Zusammenseins.

50 Franz Kafka: Brief an den Vater [1919]. In: Ders.: Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. v. KarlMaria Guth. Berlin 2015, S. 57. 51 Tatsächlich weigerte sich Ottilie Kafka nicht nur zu konvertieren, sondern bewegte sich nach wie vor hauptsächlich in einem jüdischen Milieu. Ihre Ehe mit David verlief unglücklich und es kam schließlich zum Bruch. 1942 wurde die Ehe geschieden, womit Ottilie auch ihren Schutz verlor. Ein Jahr später wurde sie im KZ Theresienstadt ermordet. Vgl. Petr Balajka: Ottla Kafka. Das tragische Schicksal der Lieblingsschwester Franz Kafkas. Hamburg 2019.

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3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft

3.6. Antibürgerliche Rebellion Antibürgerlich – das hieß zunächst einmal, sich gegen die Herrschaft des Vaters als Repräsentant der herrschenden Ordnung aufzulehnen. Es war der Vater, der als Vertreter der alten Ordnung plötzlich antastbar geworden war. Die einst so fraglose Herrschaft des Vaters geriet nun ins Wanken und damit auch das ödipale Modell, das Sigmund Freud nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Schrift Das Ich und das Es als Geheimnis der bürgerlichen Individuierung ausmachen sollte. Zwar hatte Freud schon 1913 mit seiner Untersuchung über den Totemismus die Grundlage für die Theorie des Ödipuskonflikts gelegt, indem er die ambivalenten Regungen des Kindes gegenüber den beiden Elternteilen als Folge des vermeintlichen archaischen Mordes am Urvater herausarbeitete, aber erst in der nach dem Weltkrieg entstandenen Schrift Das Ich und das Es zeigte er, wie die Lösung des ödipalen Konflikts zur Konstituierung des bürgerlichen Individuums führte.52 Literarisch spielte Walter Hasenclever (1890–1940) diesen Prozess in seinem Stück Der Sohn durch, einem Werk, das das literarische Drama in Deutschland geradezu begründen und zum Manifest einer ganzen Generation werden sollte. In einer großbürgerlichen Familie in Aachen aufgewachsen, in der die jüdische Herkunft der Mutter seinem Freund Kurt Pinthus (1886–1975) zufolge nicht allzu prägend gewesen sein soll, widersetzte sich Hasenclever selbst der elterlichen Autorität, als er sich statt des vom Vater gewünschten Jurastudiums lieber der Germanistik und Philosophie zuwandte.53 Schon in Leipzig freundete er sich mit Schlüsselfiguren des Expressionismus wie Kurt Wolff (1887–1963), Franz Werfel (1890–1945) und Kurt Pinthus an und betrachtete zunächst den Ausbruch des Ersten Weltkrieges als epochales Ereignis, das der alten Ordnung das Genick brechen werde.54 Er meldete sich freiwillig, musste aber schon bald einsehen, dass diesem schrecklichen Blutvergießen kein Sinn abzutrotzen war. Wie seine Freunde wurde auch Hasenclever zum glühenden Pazifisten, der davon überzeugt war, dass es ein „Weiter so“ nicht geben konnte. In diesem biographischen und zeitgeschichtlichen Kontext entstand am Vorabend des Ersten Weltkrieges das Drama Der Sohn, das 1916 erstmals in Prag aufgeführt wurde. Es steht exemplarisch für den beschriebenen Generationen52 Vgl. Sigmund Freud: Das Ich und das Es [1923]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Anna Freud u. a., Bd. 13: Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es. London 1940, S. 259–265. 53 Kurt Pinthus erinnert sich, er habe Hasenclever in den dreißig Jahren ihrer Freundschaft nur sehr selten über seine Mutter sprechen hören, die zeitlebens keine emotionale Beziehung zu ihrem Sohn habe aufbauen können. Zitiert nach Walter Hasenclever: Ich hänge, leider, noch am Leben. Briefwechsel mit dem Bruder. Hrsg. v. Bert Kasties. Göttingen 1997, S. 99. 54 Vgl. Bert Kasties: Walter Hasenclever. Eine Biografie der deutschen Moderne. Tübingen 1994, S. 141.

3.6. Antibürgerliche Rebellion

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konflikt, in dem der Vater als Repräsentant der alten, untergehenden Ordnung erscheint. Zugleich aber spielt die Figur des Freundes eine zentrale Rolle in dem Stück. Schon 1913 hatte Hasenclever in seinem Gedicht In der Bar Santa Mara Mercede die Thematik der Freundschaft behandelt und diese der Trostlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft gegenübergestellt: „Empfangt den Geist, ihr bürgerlichen Schreier“, heißt es dort, noch etwas hölzern, mit schrillem revolutionärem Pathos.55 Hasenclever beschwor die Diesseitigkeit der menschlichen Existenz, deren Erfüllung keinen Aufschub mehr dulde. Sein Freund Werfel selbst kommt im Gedicht zu Wort und fungiert als Stellvertreter eines solidarischen Miteinanders, das den „Eitelkeiten“ der Bürger kontrastiert wird. Auch in dem Gedichtband Der Jüngling, der ebenfalls 1913 erschien, findet sich diese Stilisierung der Freundschaft als Gegenprinzip: O meine Freunde, kommt! Wir wollen alle Uns lieben: Gleich, ob Mann, ob Weib, ob Kind; Daß keine Frage, keine Antwort falle: Wir tun es, weil wir auf der Erde sind! Wir lieben ohne Sinn für Zärtlichkeiten, Nur daß wir lieben ist uns schon Gewinn. Dem andern Freunde Freude zu bereiten, So tritt der Jüngling vor den Jüngling hin.56

Doch Freundschaft ist hier noch ganz unspezifisch als Prinzip der allgemeinen Menschenliebe gefasst, der „Freund“ noch kein sozialer oder literarischer Typus. In dem Drama Der Sohn ist das anders. Hier bestärkt der Freund den Protagonisten, sich gegen den Vater aufzulehnen und erfüllt damit eine wichtige Funktion für die Erlangung des Subjektstatus. Schon zu Beginn lässt der Sohn keinen Zweifel daran, dass der Vater keinen Freund dulden werde, später bestätigt der Vater diese Befürchtung, indem er den Sohn warnt, dessen Freunde genau zu beobachten.57 Als der Sohn seinen Vater bittet, ihn als Gleichen anzuerkennen, kleidet er sein Flehen in die Sprache der Freundschaft: Der Vater:

Hast du mich nicht verstanden? Was willst du denn noch von mir?

Der Sohn:

Das Höchste! Zerreiße die Fesseln zwischen Vater und Sohn – werde mein Freund! Gib mir dein ganzes Vertrauen, damit du endlich siehst, wer ich bin. Laß mich sein, was du nicht bist. Laß mich genießen, was du nicht genossen hast. Bin ich nicht jünger und mutiger als du? So laß mich leben! Ich will reich und gesegnet sein.58

55 Walter Hasenclever: In der Bar Santa Maria Mercede. In: Ders.: Das unendliche Gespräch. Eine nächtliche Szene. Leipzig 1913, S. 8. 56 Walter Hasenclever: Anweisung zum Lieben. In: Ders.: Der Jüngling. Leipzig 1913, S. 15. 57 Walter Hasenclever: Der Sohn. Leipzig 1917, S. 38. 58 Ebd., S. 44.

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3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft

Doch der Vater weist seinen Sohn zurück, demütigt ihn und schlägt ihn ins Gesicht. Der Konflikt spitzt sich zu, der Graben, der die Generationen voneinander trennt, scheint nun unüberwindlich. Der Vater:

Sind das deine letzten Worte im Hause, das dich genährt und beschützt hat viele Jahre? Wer bist du, wenn du die edelste Schranke, Vater und Mutter, in Unkeuschheit zerbrichst? Weißt du denn, w a s du verlässest, und wohin du gehst? Tor! Wer gibt dir morgen zu essen? Wer hilft dir in Trübsal und Unverstand? Bin ich denn schon tot, dass du so zu mir sprichst!

Der Sohn:

Ja, Vater, du bist mir gestorben. Dein Name zerrann. Ich kenne dich nicht mehr; du lebst nur noch im Gebot. Du hast mich verloren in den Schneefeldern der Brust. Ich wollte dich suchen im Wind, in der Wolke, ich fiel vor dir auf die Kniee, ich liebte dich. Da hast du in mein flammendes Antlitz geschlagen – da bist du in den Abgrund gestürzt. Ich halte dich nicht. Jetzt wirst du bald mein einziger, mein fürchterlicher Feind. Ich muß mich rüsten zu diesem Kampf: jetzt haben wir beide nur den Willen noch zur Macht über unser Blut. Einer wird siegen!59

Die Entscheidung, das Elternhaus auf immer zu verlassen, scheint gefallen zu sein, doch der Vater setzt abermals seine Macht durch und sperrt den Jungen ein. Er nimmt ihm all sein Geld ab und kündigt an, ein nützliches Glied der Gesellschaft aus ihm machen zu wollen. Verzweifelt vor Ohnmacht will der Sohn sich das Leben nehmen. Doch in der nächsten Szene erscheint erneut der Freund, der den Sohn bestärkt und ihm zur Flucht aus dem Haus verhilft. Er führt ihn in den Kreis einer revolutionären Gemeinschaft ein, die sich nächtlich in einem Klubraum trifft und sich selbst als Avantgarde der Jugend gegen die verkommene Welt der Väter versteht. In der Versammlung des Klubs steigt der Sohn zu einer messianischen Figur auf und wird von seinen Anhängern zu den Klängen der Marseillaise auf den Händen getragen. Am nächsten Morgen fühlt sich der Sohn, in den Armen einer Prostituierten liegend, befreit. Doch der Freund schärft ihm ein, dass er noch immer in der Hand seines Vaters sei und drängt ihn dazu, den Vatermord nicht nur symbolisch, sondern ganz real zu begehen: Der Freund: Denn bedenke, daß der Kampf gegen den Vater das gleiche ist, was vor hundert Jahren die Rache an den Fürsten war. Heute sind w i r im Recht! Damals haben gekrönte Häupter ihre Untertanen geschunden und geknechtet, ihr Geld gestohlen, ihren Geist in Kerker gesperrt. Heute singen wir die Marseillaise! Noch kann je der Vater ungestraft seinen Sohn hungern und schuften lassen und ihn hindern, große Werke zu vollenden. Es ist nur das alte Lied gegen Unrecht und Grausamkeit. Sie pochen auf die Privilegien des Staates und der Natur. Fort mit ihnen beiden! Seit hundert

59 Ebd.,

S. 49.

3.6. Antibürgerliche Rebellion

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Jahren ist die Tyrannis verschwunden – helfen wir denn wachsen einer neuen Natur!60

Am Ende bringt der Sohn zwar den Mut nicht auf, den Abzug des Revolvers zu betätigen, den ihm sein Freund besorgt hat, aber der Vater stirbt vor Schreck und Gram an einem Herzinfarkt. Die Revolution gegen den Vater scheint vollzogen, doch lässt sie den Sohn leer und trauernd zurück. Die Rolle des Freundes in Hasenclevers Stück, das mit zahlreichen biblischen Anspielungen versehen ist, erweist sich als zutiefst ambivalent: Auf der einen Seite trägt der Freund durchaus mephistophelische Charakterzüge, denn er manipuliert und intrigiert gegen seine Mitstreiter; auf der anderen Seite hilft er dem Sohn, sich dem Vater zu stellen und den Mut aufzubringen, den Anspruch auf Freiheit auch durchzusetzen. Weniger der Tod des Vaters als vielmehr der Prozess des Erwachsenwerdens geht auf den Einfluss des Freundes zurück. Der trauernde Sohn am Ende des Stückes ist zugleich ein freier Mann, der nun das Erbe des Vaters antreten kann. Hasenclevers Stück, Kafkas Brief an den Vater, Freuds Theorie des Ödipuskonflikts – alle drei entstanden ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als die bürgerliche Familie bereits beschädigt war. „Erst in den krisenhaften Zuspitzungen der bürgerlichen Kleinfamilie war das Erkennen des Ödipuskomplexes möglich“, schreibt der Literaturwissenschaftler Florian Müller.61 Denn auch wenn die väterliche Autorität in der frühkindlichen Phase noch wenig mit der tatsächlichen sozialen Stellung des Vaters zu tun hat (die Autorität speist sich zu diesem Zeitpunkt vielmehr aus Objektbesetzungen, die das Es vornimmt), so realisiert der Heranwachsende in späteren Jahren doch, wie wenig sein Bild vom Vater mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu tun hat: „Dem Kinde aber zeigen bald Grenzen, von der Wirklichkeit gezogen, wie beschränkt tatsächlich die Allmacht des Vaters ist“, schreibt der Freud-Schüler Paul Federn 1919 in seiner Abhandlung Zur Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft: Sobald das Kind andere erwachsene Männer zum Vergleich heranziehen kann, wird der Vater in Wirklichkeit mehr und mehr ein Mensch wie alle. […] Bald beginnt er den Vater kritisch zu beobachten mit dem Resultat wiederholter Enttäuschungen. Diese Enttäuschung ist ein Sturz aus geborgener Sicherheit und bleibt scheinbar dauernd vergessen, in Wirklichkeit aber, wie die Psychoanalyse nachweist, im Unbewußten erhalten […].62

Was Federn beschreibt, kann beispielhaft in den Memoiren Ludwig Marcuses studiert werden: Sein Vater, der „kein Kamerad [war], sondern unnahbar, fremd“, fühlte sich stets zum Schutz der Familie und seinen Angestellten verpflichtet „und deshalb zur Aufrechterhaltung der von ihm für selbstverständlich 60 Ebd.,

S. 104. Müller: Vom Trieb zum Begehren. Über das Verschwinden des Ödipus. In: Sans Phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik 14 (Frühjahr 2019), S. 121. 62 Paul Federn: Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft. Leipzig, Wien 1919, S. 8. 61 Florian

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3. Ein neues Zeitalter der Freundschaft

gehaltenen Ordnung“.63 Doch „Expressionismus und Inflation zerstörten die uns bekannte Welt“. Als sein Vater 1922, auf dem Höhepunkt der Inflation, starb, löste sich auch die Gold-Million, die er hinterlassen hatte, in Nichts auf. „Jetzt war ich ohne Geld und wurde von völlig unbekannten Mächten durchs Leben gemogelt.“64 Die Alltagserfahrung, dass der Vater keinen Schutz mehr bieten konnte – in Marcuses Fall durch die Kombination aus physischem und symbolischem Tod auf die Spitze getrieben –, führte zu einer seelischen Unsicherheit, die das Individuum entweder in die Arme der realen beziehungsweise angemaßten Autoritäten oder in radikale Opposition zu der Ordnung trieb, die für die Enttäuschung verantwortlich gemacht wurde. Während vor dem Ersten Weltkrieg „für das in dem bisherigen Staate erzogene Kind noch die Person des Kaisers […] die besondere Stellung in der Vaterreihe“65 eingenommen habe, so Marcuse, wurde diese „übermenschlich überhöhte“ Vatergestalt in der Revolution gestürzt – und dadurch eine ungeheure libidinöse Energie freigesetzt, die im einen Extrem in den Ruf nach einem starken Führer, im anderen Extrem in die Forderung nach einer anarchischen, also herrschaftsfreien Gesellschaft mündete. „Mit dem Krieg ging nicht nur Deutschland zugrunde, sondern eine ganze Welt änderte sich“, erinnert sich der aus Königsberg stammende Holzhändler Arthur Propp (1890–1965). „Ich hatte bis 1914 niemals an der Endgültigkeit der Monarchie, des Bürgertums und der Mark und der Unbesiegbarkeit des deutschen Heeres je einen Zweifel gehegt.“66 Doch mit der Niederlage im Krieg und dem Sturz der alten Ordnung verbindet sich eine tiefgreifende Desillusionierung. Propp und seine Zeitgenossen haben das Gefühl, dass alles, was sie bisher glaubten und dachten, nun fraglich geworden war. Sie suchten nach Orientierung, doch die Stützen der alten Gesellschaft – Familie, Religion, Klasse, Armee, Monarchie  – konnten diese nicht mehr bieten. Während Propp sich dem Zionismus anschloss, der ihm Halt bot und ihm zeigte, „wo ich hingehöre“, suchten andere ihr Heil in obskuren Bruderschaften, Zirkeln, Sekten und utopischen Gemeinschaften. Alle diese Gruppen verband die Idee des radikalen Neuanfangs. Die alte Gesellschaft hatte ausgedient und es mussten neue Lebensformen gefunden werden.

63 Ludwig

Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert, S. 12, 11. S. 64. 65 Ebd., S. 10. 66 LBI New York, Memoir Collection, ME 507: Arthur Propp, Biography Part I, S. 31. 64 Ebd.,

4. Die Zerstörung der alten Welt .‫ ובאשר תליני אלין‬,‫כי אל–אשר תלכי אלך‬ Megillat Rut 1, 16

1

Die Erosion der bürgerlichen Gesellschaft, die im Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt fand, hatte bereits in den 1880er Jahren begonnen. Es war die Zeit, als Friedrich Nietzsche seine wichtigsten kulturkritischen Werke verfasste, die sich großer Popularität erfreuten, weil sie in ungewöhnlicher Schärfe die gesellschaftlichen Konfliktlinien auf den Begriff brachten. Nietzsches polemischer Ausspruch „Gott ist tot!“ schockierte die bürgerliche Öffentlichkeit  – aber es war auch ein Satz, der im Hinblick auf die leeren Kirchen und Synagogen eine unbequeme Wahrheit aussprach. Auch jüdische Schriftsteller ließen sich vom antibürgerlichen Geist anstecken, wenngleich mit zeitlicher Verzögerung. Als der Philosoph Theodor Lessing (1872–1933) 1908 erstmals seine Zeitschrift Der Anti-Rüpel veröffentlichte, konnte er bereits auf eine breite potentielle Leserschaft rechnen. Lessing wandte sich in schrillen Tönen gegen „Lärm, Roheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsleben“ und glaubte damit eine Avantgardefunktion einzunehmen: Wir sind zunächst wenige. Die Menschen, deren Nerven zu fein geworden sind, um die alten Verkehrs- und Lebensformen noch länger aushalten zu können, sind die Ausläufer, der Gipfel, die Endprodukte der gegebenen Kulturform. Aber die Spätesten in der alten Kulturform sind die ersten Vorläufer einer neuen. Natürlich können es immer nur die Leidenden, die Verletzlichen, Verfeinerten sein, die um die Reform der Lebensbedingungen kämpfen. Denn wer nicht unter dem Leben leidet, wie sollte der wohl sich getrieben fühlen, es umändern zu wollen?2

Lessings Appell spiegelte den ungeheuren Eindruck, den die moderne Großstadt mit all ihren Lichtern, Geräuschen, Menschenmassen und Gebäuden auf den Einzelnen machte. Penibel listete er die akustischen Störgeräusche auf, die er registrierte oder die ihm von anderen gemeldet wurden, von „Telephonlärm“ 1 Hebräisch: „Denn wohin Du gehst, dahin gehe auch ich; und wo Du rastest, da raste ich auch.“ 2 Theodor Lessing: Kultur und Nerven. In: Der Anti-Rüpel. Monatsblätter zum Kampf gegen Lärm, Roheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsleben 1, 1 (November 1908), S. 3 f.

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4. Die Zerstörung der alten Welt

über die „Störung der Nachbarschaft durch industrielle Anlagen“ und „Trambahnfahren“ bis zu „nächtlichem Uhrenschlagen“. Dabei war die Nervosität, die Lessing zur Schau stellte, ein populärer antijüdischer Topos, der zugleich auch von vielen jüdischen Wissenschaftlern übernommen wurde.3 Die „grosse Veranlagung der Juden zu Nervosität und Neurosen“ sei allgemein bekannt, schrieb der italienisch-jüdische Arzt Cesare Lombroso 1894, und auch der Anthropologe Maurice Fishberg war 1913 noch der Meinung, die „häufigen Verwandtschaftsheiraten“ seien für die weite Verbreitung der Nervosität unter den Juden verantwortlich.4 Lessing bekannte sich zu dieser Nervosität und stellte sie als Reaktion auf die „Degeneration“ der modernen Kultur dar. Wie Nietzsche mit seinem Wort über den Tod Gottes hatte auch Lessing mit seiner Kritik des Lärms einen realen Zug der Zeit erfasst. Denn auch wenn die Nervosität den Juden als exklusive Eigenschaft zugeschrieben wurde, machte sich in Wirklichkeit um die Jahrhundertwende in der gesamten Gesellschaft eine Furcht vor der Zukunft breit. Die gewaltigen industriellen Kapazitäten, die Umwälzung des gesamten Agrarsektors, das Aussterben traditioneller Handwerksberufe und die Aufsprengung etablierter Sozialformen verunsicherten die Menschen und setzten Ängste in ihnen frei, die nicht nur der Sozialdemokratie Zulauf bescherten, sondern sich auch in irrationalistischen und antimodernen Ideologien Ausdruck verschafften, besonders in einem radikal xenophoben Nationalismus und im Antisemitismus.5

4.1. Gemeinschaft versus Gesellschaft Wie im Inneren der deutschen Gesellschaft die Juden als vermeintliche Verkörperung der abstrakten Moderne attackiert wurden, so wurden nach außen hin England, Frankreich und Nordamerika als unheilbringende Mächte wahrgenommen. Wahres Deutschtum sei erdverbunden, traditionell, authentisch und echt, während Juden und Engländer künstlich, wurzellos, hinterlistig und oberflächlich seien. Gegen die traditionszersetzende Zivilisation setzten die Nationalisten die traditionserhaltende Kultur, gegen die hochgradig vermittelte moderne Gesellschaft die authentische Gemeinschaft. 1887 veröffentlichte der Soziologe Ferdinand Tönnies sein berühmtes Buch Gemeinschaft und Gesellschaft, das diese Gegenüberstellung auf den Punkt brachte: Während die Ge3 Vgl.

Céline Kaiser, Marie-Luise Wünsche (Hg.): Die „Nervosität der Juden“ und andere Leiden an der Zivilisation. Konstruktionen des Kollektiven und Konzepte individueller Krankheit im psychiatrischen Diskurs um 1900. Paderborn u. a. 2003; John M. Efron: Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in Fin-de-Siècle Europe. New Haven, London 1994, S. 27. 4 Cesare Lombroso: Der Antisemitismus und die Juden im Lichte der modernen Wissenschaft. Leipzig 1894, S. 63; Maurice Fishberg: Die Rassenmerkmale der Juden. Eine Einführung in ihre Anthropologie. München 1913, S. 148. 5 Vgl. Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014, S. 55–67.

4.1. Gemeinschaft versus Gesellschaft

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meinschaft ein „lebendiger Organismus“ sei, handele es sich bei der Gesellschaft um „ein mechanisches Aggregat und Artefact“.6 Die semantischen Felder sind bei Tönnies klar abgesteckt: Leben, Wärme, Echtheit, Sinnlichkeit, Tradition auf der einen Seite, Künstlichkeit, Kälte, Oberflächlichkeit, Verstand, Moderne auf der anderen. Aus diesen Gegensätzen konstruierte er zwei radikal verschiedene und miteinander nicht kompatible Lebensformen. Diese führte er wiederum, von Schopenhauer inspiriert, auf entgegengesetzte Willenstypen zurück. Während der sogenannte „Wesenswille“ ein naturwüchsiges Handeln impliziere, das direkt der Tradition und den mit ihr verbundenen Emotionen und Gewohnheiten entspringe, resultiere der „Kürwille“ beziehungsweise die „Willkür“ in rein instrumentellen Praktiken.7 Wo in der durch den Wesenswillen konstituierten Gemeinschaft Mittel und Zweck zusammenfielen, ordne der Kürwille alle Mittel dem Zweck unter und unterwerfe damit die Menschen einer instrumentellen Vernunft. Traditionelle Gemeinschaftsformen basierten Tönnies zufolge auf der Gemeinsamkeit des Blutes, des Ortes oder des Geistes. Deren Grundformen seien Verwandtschaft, Nachbarschaft und – Freundschaft: Denn die Gemeinschaft des Blutes, als Einheit des Wesens, entwickelt und besondert sich zur Gemeinschaft des Ortes, als welche im Zusammen-Wohnen ihren Ausdruck hat, und diese wiederum zur Gemeinschaft des Geistes als dem blossen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen Richtung, im gleichen Sinne.8

Da aber die Freundschaft als Gemeinschaft des Geistes in vielem dem ähnelte, was Tönnies abschätzig der Gesellschaft als bloß zufälliger Ansammlung von Individuen zuschrieb, gab er sich größte Mühe, sie als „unsichtbaren Ort“ und Wesensgemeinschaft wieder in das Korsett der Naturwüchsigkeit zu zwingen: Freundschaft wird von Verwandtschaft und Nachbarschaft unabhängig als Bedingung und Wirkung einmüthiger Arbeit und Denkungsart; daher durch Gleichheit und Aehnlichkeit des Berufes oder der Kunst am ehesten gegeben. Solches Band muss aber doch durch leichte und häufige Vereinigung geknüpft und erhalten werden, wie solche innerhalb einer Stadt am meisten Wahrscheinlichkeit hat; und die so durch Gemeingeist gestiftete, gefeierte Gottheit hat hier eine ganz unmittelbare Bedeutung für die Erhaltung desselben, da sie allein oder doch vorzugsweise ihm eine lebendige und bleibende Gestalt gibt. Solcher guter Geist haftet darum auch nicht an einer Stelle, sondern wohnet im Gewissen seiner Verehrer und begleitet ihre Wanderung in fremde Lande. So empfinden sich, gleich Kunst- und Standesgenossen, einander kennenden, auch die in Wahrheit Glaubensgenossen sind, überall als durch ein geistiges Band verbunden, und an einem gemeinsamen Werke arbeitend. Daher: wenn das städtische Zusammenwohnen auch unter dem Begriff der Nachbarschaft gefasst werden kann; wie auch das häusliche, sofern nicht-verwandte oder dienende Glieder daran Theil nehmen: so bildet hingegen die geistige Freundschaft eine Art von unsichtbarer Ortschaft, eine mystische Stadt und Versammlung, welche nur 6 Ferdinand

Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Leipzig 1887, S. 5. ebd., S. 97–142. 8 Ebd., S. 16. 7 Vgl.

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4. Die Zerstörung der alten Welt

durch so etwas als eine künstlerische Intuition, durch einen schöpferischen Willen lebendig ist. Die Verhältnisse zwischen den Menschen selber als Freunden und Genossen haben hier am wenigsten einen organischen und insofern nothwendigen Charakter: sie sind am wenigsten instinctiv und weniger durch Gewohnheit bedingt als die nachbarlichen; sie sind mentaler Natur und scheinen daher, im Vergleiche mit den früheren, entweder auf Zufall oder auf freier Wahl zu beruhen.9

Freundschaft repräsentierte damit einen Grenzbegriff zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Durch die Einfügung essentialistischer Kategorien versuchte Tönnies sie der traditionellen Gemeinschaft zuzuschlagen, die er vor allem in Familie, Dorf- und Kirchengemeinschaft verkörpert sah. Aber schon die Verortung der Freundschaft in der Stadt bereitete dabei Probleme, weshalb er auf den Kniff der „unsichtbaren Ortschaft“ zurückgriff. Um keinen Preis durfte die Freundschaft der Gesellschaft und damit dem industriellen Kapitalismus zufallen, inkarniert in der modernen Großstadt und ihren vielfältigen individualistischen Konsum- und Kunstformen. Die von Tönnies ideologisch verarbeitete Konfrontation zwischen Tradition und Moderne war, aus heutiger Perspektive betrachtet, ein Vorbote der großen europäischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Denn mit der rapiden Industrialisierung Deutschlands und seinem Aufstieg zur europäischen Großmacht tat sich ein Widerspruch zwischen den Fliehkräften der Moderne und der von Tönnies beschriebenen Weltanschauung der abgehängten kleinbürgerlichen Schichten auf, der nur durch eine nationalistische und imperialistische Ideologie gekittet werden konnte. Zwar sind die Ursachen des Krieges vielfältig, aber die Begleitmusik, die die Soldaten in die Schlacht trieb und auch die Heimatfront stramm stehen ließ, tönte von Nationalchauvismus und Überlegenheitsdünkel. Während das Deutsche Kaiserreich binnen weniger Jahrzehnte zu einer der weltweit führenden Industrienationen aufgestiegen war, blieb das kulturelle Selbstverständnis weiter Schichten der deutschen Bevölkerung nach wie vor von jener Dichotomie zwischen Tradition und Moderne, Gemeinschaft und Gesellschaft, Kultur und Zivilisation bestimmt, wie sie Tönnies auf den Begriff gebracht hatte.

4.2. Ludwig Klages und Theodor Lessing In schrilleren Tönen als Tönnies verdammte auch Ludwig Klages, einer der berühmtesten Vertreter des völkischen Antimodernismus des späten Kaiserreichs, ein Jahr vor Ausbruch des Krieges in einer später als Aufsatz gedruckten Rede eine „Verwüstungsorgie ohnegleichen“, die die Menschheit ergriffen habe

9 Ebd., S. 18 (Wenn nicht anders angegeben, hier und im Folgenden alle Hervorhebungen im Original – PL).

4.2. Ludwig Klages und Theodor Lessing

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und Mensch, Tier und Natur zerstöre.10 „Vernichtung des Lebens“ und „Selbstzersetzung des Menschentums“ drohten.11 Die Welt liege noch in „dumpfstiller Erwartung“ und alles weise „auf ein großes, unvermeidliches Unglück hin“: Unsre Jugend erfreut kein sorglos leichtes Spiel, keine fröhliche Ruhe wie unsre Väter, uns hat frühe der Ernst des Lebens gefaßt. Im Kampfe sind wir geboren und im Kampfe werden wir, überwunden oder triumphierend, untergehn. – Denn aus dem Zauberrauche unsrer Bildung wird sich ein Kriegsgespenst gestalten, geharnischt, mit bleichem Totengesicht und blutigen Haaren […].12

Klages war ein Prophet des Untergangs. Die Verwüstung der Natur, die durch die Ausweitung des Industriekapitalismus ohne Zweifel voranschritt, klagte er mit großem Pathos an. Die Moderne sah er dabei ausschließlich als Bedrohung. An ihr gab es aus seiner Sicht nichts, das erhaltenswert gewesen wäre. Insofern hatte seine Beschwörung der Vernichtung auch eine affirmative Schlagseite: Wenn der Krieg helfen würde, die „Natur“ wieder zu ihrem Recht kommen zu lassen und das ins Ungleichgewicht geratene Leib-Seele-Verhältnis wieder zu stabilisieren, so konnte ihm ein kontinentales Blutbad eigentlich nur recht sein. Krieg und Mord waren seiner Meinung nach die Folgen einer zerstörerischen, todgeweihten Zivilisation. Die große Katastrophe, die sich in solchen Gedanken anbahnte, warf auch schon im Hinblick auf die deutsch-jüdischen Beziehungen ihren Schatten voraus. Klages selbst ist dafür das beste Beispiel. Als Jugendlicher hatte er sich mit dem gleichaltrigen Theodor Lessing angefreundet und fast 15 Jahre lang waren die beiden unzertrennlich. Elke-Vera Kotowski hat in ihrer brillanten Freundschaftsstudie nachgezeichnet, dass es besonders die bedrückenden Erfahrungen im Elternhaus waren, die den jungen Lessing in die Freundschaft mit dem gleichaltrigen Klages trieb.13 Er suchte „verzweifelt nach einem Gegengewicht zur familiären Situation“, konstatiert Kotowski. „Er wollte endlich ernst genommen werden, mehr noch, er suchte verzweifelt nach Vorbildern, an denen er sich messen konnte und die es wert waren, es ihnen gleich zu tun.“14 Lessings Lehrer in der Schule erschienen ihm nicht ganz zu Unrecht als ebenso autoritäre preußische „Zuchtmeister“ wie sein Vater. Auch zu den meisten seiner Mitschüler hatte er kein gutes Verhältnis, zumal sie ihn aufgrund seiner jüdischen Herkunft oft hänselten und ausgrenzten. Vorübergehend fand er Halt in der Religion – 10 Ludwig Klages: Mensch und Erde [1913]. In: Ders.: Mensch und Erde. Zehn Abhandlungen. Erweiterte Neuausgabe. Stuttgart 1956, S. 8. Zum deutschen Antimodernismus siehe Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995. 11 Klages: Mensch und Erde, S. 12. 12 Ebd., S. 24. 13 Elke-Vera Kotowski: Feindliche Dioskuren. Theodor Lessing und Ludwig Klages. Das Scheitern einer Jugendfreundschaft (1885–1899). Berlin 2000. 14 Ebd., S. 57.

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4. Die Zerstörung der alten Welt

wobei es sich nicht um das Judentum handelte, sondern um eine kindliche Fantasiereligion –, aber auch Gott antwortete ihm nicht. Kotowski resümiert: „Seine Sehnsucht galt einem Freunde, einem Leidensgenossen, dem er sich anvertrauen könnte und der ihm helfen würde, die Einsamkeit und die Leiden der Kindheit zu überstehen.“15 Dieser Freund wurde 1885, als die beiden 13 Jahre alt waren und Lessing ein Schuljahr wiederholen musste, sein neuer Mitschüler Ludwig Klages. Der gemeinsame Schulweg hatte die beiden einander nähergebracht und rasch „bildete sich zwischen beiden eine enge Freundschaft“.16 Was mit einer Klassenkameradschaft begann, entwickelte sich zu einem gemeinsamen, antibürgerlichen Lebensentwurf, der geradezu symbiotische Züge annahm: „Unsre Eltern, unsre Lehrer, die Meinungen der Menschen, die Versuchungen der Eitelkeit, die ganze Wüste der Erfahrungen, an uns Jünglingen wurden sie machtlos. Denn was Klages sagte, galt für Lessing, und was Lessing sagte, galt für Klages. Jeder hielt den andern für das richtende Gewissen seiner Seele und sich selbst dazu geboren, der Freund eines Großen zu sein“, erinnerte sich Lessing in seinen 1928 verfassten Lebenserinnerungen.17 „Wie oft die Gegensätze sich anziehen, so war das Freundespaar ungleich genug“, fasst Klages’ Biograph Hans Eggert Schröder zusammen. [G]egensätzlicher konnten kaum zwei Partner sein: der eine versonnen und kaum erwacht, der andere aufgeweckt und frühreif; der eine fremd und scheu gegen Menschen, der andere frühzeitig reich an Erfahrungen und auf dem Podium vorteilhafter Selbstdarstellung zuhause; der eine träumerisch und schüchtern, der andere keck und spottlustig; gegensätzlich auch in ihrer äußeren Erscheinung, blond der eine, schwarzhaarig der andere.18

Auch wenn gerade Klages’ Beschreibungen aus den vierziger Jahren, in denen eine antisemitische Kontrastierung durchscheint, mit Vorsicht zu genießen sind, so haben Zeitgenossen das Freundespaar ebenfalls bereits als komplementär wahrgenommen. In der Schule wurden sie von ihren Mitschülern spöttisch als „Schiller und Goethe“ bezeichnet, weil sie sich für große Dichter hielten.19 Mit Freude und Stolz übernahmen sie diese Zuschreibung, denn Goethe und Schiller seien „die beiden größten Freunde, welche die Weltgeschichte kennt“.20 Für die Umwelt galten sie „als zwei überdrehte, überspannte Jünglinge“, die Selbstwahrnehmung aber war die eines genialen Gespanns, das „eine gewaltige LebensSendung besitze: dem deutschen Volk seinen adeligsten Genius zu erläutern.“21 15 Ebd.,

S. 61.

16 Hans Eggert Schröder: Ludwig Klages. Die Geschichte seines Lebens. Erster Teil: Die Jugend.

Bonn 1966, S. 52. Die Biographie beruht zu erheblichen Teilen auf Klages’ autobiographischen Notizen der Jahre 1943 bis 1951. 17 Theodor Lessing: Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen [1935]. Gütersloh 1969, S. 174. 18 Eggert Schröder: Klages, S. 52 f. 19 Vgl. ebd., S. 54. 20 Ludwig Klages an Theodor Lessing, 1891, zit. n. ebd., S. 105. 21 Lessing: Einmal und nie wieder, S. 174.

4.2. Ludwig Klages und Theodor Lessing

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Zunächst hatten die beiden in der Klasse nur nebeneinander gesessen, dann teilten sie denselben Heimweg, und schließlich wurden sie unzertrennliche Freunde: Unsre Freundschaft blieb auf lange hinaus beschränkt auf fabelhafte Gespräche, und kein Erwachsener hätte begriffen, wovon wir mit hochglühenden Köpfen, laut und gestikulierend, beständig aufeinander einsprachen: von den Seelen der Sterne, vom Leben in der Sonne, vom Erdinnern, von den Bildungen im Bauch der Gebirge, kurz von Geschöpfen und Gebilden ganz jenseits unsrer täglichen Wirklichkeit, von lauter Geheimnissen, die in der Schule nie erwähnt werden. Und bald merkten wir, daß wir viel entbehrten, wenn wir nicht zusammen waren. Und so liefen wir über die Straße hinüber und herüber, bald um ein Buch zu holen, bald um eine Mathematikaufgabe zu erfragen, aber in Wahrheit doch nur, um bei einander zu sein und fabelhafte Gespräche zu führen. Wir standen abseits in den Pausen auf dem Schulhof, wir hockten in der Turnhalle an der Mischstraße auf Barren und Bock; wir paßten einander ab auf dem Hinwege zur Schule morgens und nachmittags. Da stand ich ungeduldig am Fenster und spähte, bis atemlos eifrig die blaue Mütze und der Schaffell-Tornister die Mauer von Hansteins Garten entlang jagten. Dann ging ich hinunter, und er stand am Torweg und paßte auf. Niemals aber in den ganzen langen Jahren unsrer Kameradschaft wurde je irgendetwas Sentimentales oder gar Zärtliches zwischen uns gesprochen. Wir nannten uns auch niemals je bei den Vornamen; das hätte uns geniert. In der Schule und vor den Leuten nannten wir uns, wie alle Jungens, bei den Familiennamen. Und waren wir unter uns, wie kann man sich da einfacher nennen als „Mensch“?22

Doch die schwärmerische Freundschaft hatte auch eine Schattenseite. Die schulischen Leistungen der beiden wurden immer schlechter, sodass besonders der Vater Ludwig Klages’ die Freunde voneinander zu isolieren versuchte. Fortan verliefen die Treffen heimlich, aber fanden auch nicht mehr täglich statt.23 Das Medium des Briefes wurde zum ungleichen Ersatz, veränderte aber auch den Charakter der Lebensfreundschaft. Einerseits hatte die Verbindung durch das väterliche Verbot etwas klandestines, verschwörerisches, andererseits schuf aber die zunehmend briefliche Vermittlung eine Distanz, die durch die gelegentlichen Geheimtreffen nicht mehr aufgefangen werden konnte.24 1888, drei Jahre nachdem sie sich angefreundet hatten, begann Lessing zwangsweise eine Lehre als Bankangestellter, nachdem der Schuldirektor seinem Vater unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er seinen Sohn nicht ins nächste Schuljahr versetzen würde. Doch auch die Banklehre scheiterte, sodass laut der Darstellung Lessings nur noch die Israelitische Gartenbauschule in Ahlem blieb, die der philanthropische Bankier Alexander Moritz Simon allerdings erst 1893 zur Integration osteuropäischer Juden in Hannover ins Leben gerufen hatte.25 Es 22 Ebd.,

S. 177. Kotowski: Feindliche Dioskuren, S. 111. 24 Vgl. Lessing: Einmal und nie wieder, S. 184 f. 25 Hans-Dieter Schmid hat gezeigt, dass Lessings Datierung nicht stimmt und auch die Details seiner Beschreibung nicht passen. Er folgert daraus, die Episode in der Gartenbauschule 23 Vgl.

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4. Die Zerstörung der alten Welt

spricht viel dafür, dass Lessing hier in der Rückschau zwei Einrichtungen vermischte: die genannte Gartenbauschule, in der er unmöglich Praktikant gewesen sein kann, und die bereits 1884 von Simon in der Ohestraße in Hannover gegründete Israelitische Berufsschule. Simon war mit Lessings Vater bekannt und hatte sich angeblich bereit erklärt, dessen nichtsnutzigen Sohn als Praktikanten aufzunehmen. Was auch immer die konkreten Tätigkeiten Lessings für die jüdische Erziehungsanstalt gewesen sein mögen  – das Gemüsezüchten war es sicher nicht –, jedenfalls scheint die Zeit nicht ohne Einfluss auf sein späteres Leben geblieben zu sein, denn es war hier, unter der Ägide Simons, dass Lessing sich erstmals seit Kindheitstagen wieder in einem rein jüdischen Kontext bewegte. 1891 wechselte Lessing, dessen Versetzung abermals gefährdet war, an ein als „Zuchtanstalt“ verschrienes Internat in Hameln, wo er ein Jahr später auch endlich sein Abitur machte. Zeitgleich nahm Klages, um sich dem väterlichen Zugriff zu entziehen, ein Studium in Leipzig auf, das er dann in München fortsetzte. Das Studentenleben wäre eine Möglichkeit gewesen, endlich wieder in Gemeinschaft zu leben, wie Klages seinem noch in der Ferne weilenden Freund vorträumte: „Und dann denke ich auch sehr an das nächste Semester. Ich habe mich so hineingelebt, in den Gedanken, dass wirs zusammen irgendwo verbringen werden, dass ich auch darüber von jedem Zweifelsrest erlöst zu werden lechze.“26 Doch zur großen Bestürzung Klages’ entschied sich Lessing ganz bewusst, seinem Freund nicht nach München zu folgen, sondern sein in Freiburg begonnenes Medizinstudium in Bonn fortzusetzen. In Gemeinschaft mit Klages, so meinte er, könne er sich nicht weiter entwickeln, daher sei Trennung der einzige Weg. Für Klages war damit eine Welt „zertrümmert“.27 Allerdings überdauerte die Freundschaft die Trennung letztlich doch, und zwar nun noch stärker als zuvor durch die briefliche Kommunikation. Intensiv dachten die beiden jetzt über Freundschaft nach, besonders natürlich über die Einzigartigkeit ihrer eigenen Beziehung. In einem Brief, den Klages im April 1893 aus München an Lessing richtete, heißt es: Die lieben Leute  – wie oft u. gemütlich sie das goldschwere, diamantenharte Wort „Freund“ in den Mund nehmen. Jeder gute Mensch, dem man mal die Hand gedrückt ist halt gleich ein Freund. Wer aber nicht weiß, dass keiner – u. wäre er der seelenvollste Mensch der Welt – mehr als einen wirklichen, ganzen, echten Freund haben kann, der hat eben noch keinen „Freund“ gehabt!28 sei eine nachträgliche Legendenbildung Lessings. Vgl. Hans-Dieter Schmid: Theodor Lessing und die israelitische Gartenbauschule Ahlem. Eine Legende. In: Hannoversche Geschichtsblätter 52 (1998), S. 289–295. 26 Ludwig Klages an Theodor Lessing, 30. Juli 1892. Zitiert nach Kotowski: Feindliche Dioskuren, S. 148. 27 Ludwig Klages an Theodor Lessing, September 1892. Zitiert nach Kotowski: Feindliche Dioskuren, S. 148. 28 Ludwig Klages an Theodor Lessing, 26. April 1893. Zitiert nach Kotowski: Feindliche Dioskuren, S. 114.

4.2. Ludwig Klages und Theodor Lessing

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Erst 1894 zog auch Lessing nach München, aber nun hatten sich die Vorzeichen ihrer Freundschaft geändert – es war jetzt Klages, der unter dem Einfluss seines neuen Freundes Alfred Schuler, eines neopaganischen Mystikers und rabiaten Antisemiten, immer stärker auf Distanz zu dem „Juden“ Lessing ging.29 Zunächst hatte Klages enthusiastisch auf Lessings Umzug nach München reagiert und ihn seinen neuen Freunden, die sich im Wesentlichen um den Dichterfürsten Stefan George gruppierten, schon im Vorhinein als großen Lyriker angekündigt. Aber Lessing wollte sich nicht unterordnen und reagierte mit Spott und Häme auf die Selbstinszenierung Georges als „Meister“ oder Schulers als „römischer Cäsar“.30 Er forderte selbstbewusst, aber auch eifersüchtig eine privilegierte Beziehung zu Klages ein, die dieser immer weniger einzuräumen bereit war. Klages war zwischen die Fronten geraten und auch wenn ihre Freundschaft weiterhin Bestand hatte, kühlte sie für beide Seiten merklich ab.31 Als 1896 Lessings Vater starb und er in Depressionen verfiel, „suchte er mehr denn je die geistige Zuwendung des Jugendfreundes“, doch Klages „begegnete ihm eisig und distanziert“.32 Halt fand Lessing nun bei anderen, zunächst bei Omar al Raschid Bey, einem aus St. Petersburg stammenden und zum Islam konvertierten jüdischen Schriftsteller namens Friedrich Arnd (1839–1911), seit 1899 dann bei seiner ersten großen Liebe Maria Stach von Goltzheim (1876–1948), deren adelige Familie aus dem Hause Hohenzollern stammte. Ein Jahr später heiratete das ungewöhnliche Paar, doch Lessing wurde von Goltzheims Familie aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht anerkannt und aufs heftigste antisemitisch verunglimpft.33 In einem Akt des selbstbewussten Trotzes trat er direkt nach der Heirat wieder zum Judentum über, das er 1893 als achtzehnjähriger verlassen hatte. Den beiden Töchtern Judith und Miriam gaben Maria und Theodor Lessing bewusst jüdische Namen und das junge Paar entdeckte den Zionismus für sich.34 Diese Rückwendung zum Judentum in einer lebensentscheidenden Phase muss vor allem als Reaktion auf den stärker werdenden Antisemitismus ver29  Da Lessing 1893 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten und zum Protestantismus übergetreten war, deutet sich Klages’ unter dem Einfluss Schulers entstandenes völkisch-mystisches Verständnis von Judentum als Rasse- und Blutseigenschaft hier bereits an. Allerdings bekannte sich Lessing selbst ebenfalls auch nach seinem Austritt zu seinem Judentum. Vgl. Theodor Lessing: Meine Beziehungen zu Ludwig Klages [1928]. In: Ders.: Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen [1935]. Gütersloh 1969, S. 422–425. 30 Vgl. Rainer Marwedel: Theodor Lessing 1872–1933. Eine Biographie. Darmstadt, Neuwied 1987, S. 43. 31 Vgl. Eggert Schröder: Klages, S. 201–204. 32 Kotowski: Feindliche Dioskuren, S. 241. 33 Vgl. Elke-Vera Kotowski (Hg.): „Ich warf eine einsame Flaschenpost in das unermessliche Dunkel“. Theodor Lessing 1872–1933. Hildesheim u. a. 2008, S. 54. 34 So zumindest behauptet Lessing in seinen keineswegs zuverlässigen Memoiren. Vgl. Lessing: Einmal und nie wieder, S. 397. Es fehlt, soweit ich sehe, eine unabhängige Quelle, die die Hinwendung zum Zionismus in diesem Zeitraum eindeutig belegt.

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4. Die Zerstörung der alten Welt

standen werden, wie er Lessing nicht nur von seinen Schwiegereltern, sondern auch von seinem ehemaligen besten Freund entgegenschallte.35 Zunehmend sah Klages, zumindest der Erinnerung Lessings nach, die jüdische Herkunft des Freundes als unüberwindliche Differenz, auch wenn dies in den Briefen lediglich angedeutet wird. Zum endgültigen Bruch kam es im Oktober 1899, nachdem Klages Lessing formal mit einem Abschiedsbrief die Freundschaft aufgekündigt hatte. In dem Brief heißt es: Wir wissen beide (seit langem) um die zunehmende Entfremdung unserer Seelen. Jeder von uns mag wohl seine besondere Formel und Begründung dafür haben, und es wäre vergeblich, darüber Einverständnis erzielen zu wollen. […] Wäre es nun nicht einsichtiger, weiser: wir sagen uns in Freiheit und Freundschaft Lebewohl  – ein jeder hütend und rettend, was er vom Bild des früheren Jugendfreundes in ungetrübter Schönheit noch in sich trägt!36

Der unmissverständliche, wenn auch im Tonfall versöhnliche Brief zeigt scheinbar nur die über Jahre gewachsene Entfremdung zwischen den Freunden, wie sie ganz üblich und vielfach zu beobachten ist. Wer genauer hinsieht, entdeckt allerdings, dass Klages’ Antisemitismus den entscheidenden Ausschlag für das Scheitern der Freundschaft gab. Der Judenhass Klages’ ist, nimmt man ihn ernst, nicht mit divergierenden Interessen oder Lebensentscheidungen zu verwechseln, die auch eine gewisse Rolle gespielt haben mögen, sondern impliziert eine grundlegende und kompromisslose Feindschaft.37 Dieser Hass enthüllte sich vollends, nachdem Lessing zunächst vergeblich per Brief um eine Aussprache gebeten hatte und ihn dann in aller Not zuhause aufsuchte. Was dann passierte, beschreibt Lessing in seinen Lebenserinnerungen: Ich kam in des Freundes Wohnung und traf ihn in Gesellschaft Friedrich Huchs. Er setzte eine hoheitsvolle Miene auf und begann, wohl in der Absicht, mich sogleich zum Gehen zu bewegen, von oben herab, mich mit „Sie“ anzusprechen. Huch, welcher Spannung und Bruch herausfühlte, ging sofort. Als wir allein waren, bat ich, dass wir nichts Unwürdiges tun möchten. Notwendigkeit der Trennung, die ich einsähe, sei noch kein Grund zur Feindschaft. Da aber brach aus Klages unbeherrscht heraus: „Du bist ein ekelhafter, zudringlicher Jude“.38 35 Vgl.

Jochen Hartwig: „Sei was immer du bist“. Theodor Lessings wendungsvolle Identitätsbildung als Deutscher und Jude. Oldenburg 1999, S. 126–128. 36 Ludwig Klages an Theodor Lessing, 1. Oktober 1899. Zitiert nach Kotowski: Feindliche Dioskuren, S. 248. 37 Auch mit Karl Wolfskehl kam es später zum Konflikt, weil Klages und Schuler ihn als „Agent Judas“ titulierten. Vgl. Kotowski: Feindliche Dioskuren, S. 246. Klages stellte es 1940 so dar, dass er 1904 endlich erkannt habe, dass Georges Bewegung „von einer jüdischen Zentrale“ gesteuert werde. Zitiert nach Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München 2007, S. 331. 38 Lessing: Einmal und nie wieder, S. 382 f. Den Vorfall bestätigt auch Klages, der allerdings nur vom „zudringlichen Juden“ spricht, nicht von „ekelhaft“. Ludwig Klages: Gedankenblätter. Hrsg. v. Heinz-Siegfried Strelow. Würzburg 2020, S. 102. In den nach 1945 entstandenen Gedankenblättern bestritt Klages vehement, Lessing wegen dessen jüdischer Herkunft zurückgewiesen

4.3. Die Juden im Ersten Weltkrieg

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Damit war das Tischtuch zerschnitten, eine lange, intensive Freundschaft endgültig zerbrochen.39 Klages sollte sich immer weiter radikalisieren – 1903 sprach er den Juden sogar das Menschsein ab40 –, Lessing besann sich nun zunehmend auf seine jüdische Herkunft.41 Auch wenn das Scheitern dieser exzeptionellen Freundschaft zwischen Klages und Lessing sicherlich nicht generalisiert und als das Ende deutsch-jüdischer Freundschaften per se missverstanden werden darf, so ist es doch auch kein bloßer Zufall, dass um die Jahrhundertwende diese sehr konkrete „deutsch-jüdische Symbiose“ am Gift des Antisemitismus zugrunde ging.42 Das „Blutleuchten“ Schulers und Klages’ war ein Wetterleuchten, das den Untergang der alten Welt auf den Schlachtfeldern Europas nur einige Jahre später ankündigte – einen Untergang, an dem sich die Blutsmystiker und Irrationalisten berauschten und den sie durch ihre hasserfüllte völkisch-nationalistische Propaganda mit vorbereiteten.

4.3. Die Juden im Ersten Weltkrieg Nun wäre es sicherlich verfehlt, den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nur auf einen übersteigerten deutschen Nationalismus und völkischen Irrationalismus oder gar auf den Antisemitismus zurückzuführen, schließlich lagen den suprematistischen Parolen imperiale Konkurrenz sowie handfeste politische und wirtschaftliche Krisenprozesse zugrunde.43 Andererseits kann die aufgeheizte geistige zu haben (ebd.), aber die Art und Weise, wie er über Lessing spricht, stellen diese Beteuerungen in ein anderes Licht. 39 Vollständig apologetisch ist die Darstellung in dem durch und durch antisemitischen Machwerk von Reinhard Falter: Ludwig Klages. Lebensphilosophie als Zivilisationskritik. München 2003, S. 76. 40 Ludwig Klages: Rhythmen und Runen. Nachlass. Leipzig 1944, S. 330. 41 Zu Klages’ Radikalisierung siehe Tobias Schneider: Der Philosoph Ludwig Klages und der Nationalsozialismus 1933–1938. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49, 2 (2001), S. 275–294. 42 Vgl. zum Scheitern der „deutsch-jüdischen Symbiose“ Hans Mayer: Der Widerruf. Über Deutsche und Juden. Frankfurt am Main 1996, der sich nicht zufällig auch ausführlich mit Lessing beschäftigt (S. 192–220). Siehe auch die literaturwissenschaftliche Habilitationsschrift von Andree Michaelis-König: Das Versprechen der Freundschaft. Politik und ästhetische Praxis jüdisch-nichtjüdischer Freundschaften in der deutschsprachigen Literaturgeschichte seit der Aufklärung. Heidelberg 2023. 43  Eine ausführliche Diskussion der Forschungsliteratur zu den Kriegsursachen kann hier nicht geleistet werden und ist für den im Folgenden behandelten Entwicklungsgang auch nicht erforderlich. Vgl. den Überblick bei Annika Mombauer: The Origins of the First World War. Controversies and Consensus. London 2002. Ausgehend von Fritz Fischers berühmtem Buch Griff nach der Weltmacht (1961) und der sich anschließenden „Fischer-Kontroverse“ hat sich die Forschung seither ausdifferenziert. Jüngst ist Fischers Position, die vor allem das imperialistische Weltmachtstreben des Deutschen Kaiserreiches verantwortlich macht, von Mark Hewitson: Germany and the Causes of the First World War. Oxford 2014 wieder stark gemacht worden. Eine Gegenposition vertritt etwa Oliver Janz: 14. Der große Krieg. Frankfurt am Main 2013. Da eine Tendenz zu beobachten ist, Militär-, Politik-, Wirtschafts-, Kultur- und

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4. Die Zerstörung der alten Welt

Stimmung am Vorabend des Ersten Weltkriegs kaum überschätzt werden, wenn die Ursachen für den Kriegsausbruch benannt werden sollen. Der deutsche Nationalismus hatte in der Wilhelminischen Ära seine liberalen und demokratischen Tendenzen abgelegt und sich immer mehr in eine völkische und aggressiv imperialistische Idee verwandelt.44 Was der Historiker Volker Ullrich über den rechtsextremen Alldeutschen Verband schreibt, gilt somit in Grundzügen auch für das rechtskonservative und reaktionäre Lager insgesamt: „Charakteristisch für die alldeutsche ‚Wahrnehmung‘ war eine radikal dualistische Teilung der Welt in gut und böse. Die Bösen – das waren die Feinde im Innern, Sozialdemokraten, Linksliberale, Juden, ethnische Minderheiten und die mißgünstigen Nachbarn, die sich den Expansionsbestrebungen des Reiches in den Weg stellten. Bedrohungsangst mischte sich auf merkwürdige Weise mit Aggressionslust.“45 Es war genau diese Weltanschauung, die – verkörpert nicht zuletzt im Wahnbild Kaiser Wilhelms II. selbst  – ein entscheidender Faktor für den Ausbruch des Krieges war. Nicht zufällig verwendet Ullrich in seiner abwägenden Schilderung der „Julikrise“, die der Kriegserklärung vorausging, dieselbe Formulierung wie im Hinblick auf die Alldeutschen: „Die hausgemachte Einkreisungs-Psychose“ habe „die deutsche Reichsleitung in eine hochgefährliche Konfliktstrategie mit den Ententemächten“ getrieben, die „mit innerer Folgerichtigkeit [–] zum Weltkrieg eskalierte. Bedrohungsangst und Aggressionslust waren auf eigentümliche Weise miteinander verknüpft.“46 Auch der Historiker Jürgen Angelow hebt hervor, dass zwar eigentlich unter den politisch Verantwortlichen der europäischen Mächte große Einigkeit geherrscht habe, dass ein europäischer Krieg unbeMentalitätsgeschichte stärker miteinander zu verbinden, ist in der Forschung in den letzten Jahren insgesamt der ideologische Faktor wieder etwas in den Hintergrund getreten. Vgl. etwa Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges. München 2014 und Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013. In der jüdischen Geschichte, die eine andere, häufig völlig ignorierte Perspektive einnimmt, wird die Bedeutung völkisch-nationalistischer und antisemitischer Einstellungen hingegen viel stärker akzentuiert. Siehe etwa den Sammelband von Werner E. Mosse (Hg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923. Tübingen 1971 oder neuerdings Gideon Reuveni, Edward Madigan: The First World War and the Jews. In: Dies. (Hg.): The Jewish Experience of the First World War. London 2019, S. 1–16. In etlichen Gesamtdarstellungen wird der Erste Weltkrieg sogar zusammen mit der Vorgeschichte des Holocaust abgehandelt. Vgl. dazu kritisch Marsha L. Rozenblit, Jonathan Karp: On the Significance of World War I and the Jews. In: Dies. (Hg.): World War I and the Jews. Conflict and Transformation in Europe, the Middle East, and America. New York, Oxford 2017, S. 2–4. 44 Hedwig Richters dualistische Analyse, die den progressiven Entwicklungen im Kaiserreich auch eine „dunkle Seite“ zur Seite stellt, ohne den Wandel des Nationalismus und die gesellschaftliche Polarisierung in den von ihr pauschal als „Reformzeitalter“ rubrizierten „Jahrzehnten um 1900“ (!) ausreichend zu berücksichtigen, vermag deshalb wenig zu überzeugen. Hedwig Richter: Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich. Berlin 2021. Das Zitat durchzieht das ganze Buch, etwa S. 7, 11 und 12. 45 Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht 1871–1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreiches. Frankfurt am Main 2013, S. 381. 46 Ebd., S. 263.

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dingt zu vermeiden sei. „Wenn aber der eigene Großmachtstatus oder der einer befreundeten Macht bedroht war, wenn Prestige, Ehre und ‚vitale Interessen‘ auf dem Spiel standen oder Regeln des Umgangs der Großmächte untereinander grob verletzt worden waren, dann konnte und musste der Herabgesetzte und Beleidigte ‚das Schwert ziehen‘.“47 Angelows Skizzierung der Situation, die letztendlich zur Katastrophe führte, klingt nicht zufällig nach einer mittelalterlichen Blutsfehde, wenn Begriffe wie „Ehre“, „Beleidigtsein“ und „Prestige“ darüber entscheiden sollten, ob Millionen Menschen in den Krieg geschickt werden. Ein solches Wertesystem lässt sich vom Glauben an völkische Überlegenheit und eine nationale Mission nicht trennen. Insofern müssen die Brutalisierung des Geistes und die um sich greifende Judenfeindschaft, die sich unter anderem in den Schriften Ludwig Klages’ Ausdruck verschafften, zweifellos zu den Ermöglichungsbedingungen der großen europäischen Katastrophe gezählt werden. Auf der anderen Seite ließen sich auch die meisten deutschen Juden vom deutschen Patriotismus anstecken.48 Auch wenn das Ausmaß der deutschen Kriegsbegeisterung lange übertrieben worden ist, lässt sich nicht bestreiten, dass Kriegsgegnerschaft und Pazifismus Minderheitenpositionen waren, auch in der jüdischen Gemeinschaft. Viele Juden sahen im patriotischen Bekenntnis einen Weg, gerade angesichts der sich verschärfenden Judenfeindschaft in den letzten Jahrzehnten nun endlich vollgültig als Teil der Nation anerkannt zu werden. Der Patriotismus stand aus ihrer Sicht auch gar nicht im Widerspruch zu ihrem Judentum. Hermann Cohen beispielsweise, einer der bedeutendsten Philosophen des Kaiserreichs, erklärte 1915 in seiner programmatischen Schrift Deutschtum und Judentum, beide seien in ihrem Idealismus aufs engste miteinander verbunden.49 Mit dem Krieg verband er die Hoffnung, dass „die letzten Schatten verscheucht werden, welche die innere deutsche Einheit verdunkeln“.50 Über „alle Schranken der Religionen und der Völker hinweg [werde] der weltbürgerliche Geist der deutschen Humanität auf der Grundlage der deutschen Nationalität, der deutschen Eigenart in seiner Wissenschaft, seiner Ethik und seiner Religion die anerkannte Wahrheit der Weltgeschichte werden.“51 Diese deutsche Eigenart schloss für Cohen das 47 Jürgen Angelow: Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900–1914. Berlin 2010, S. 18. 48 Vgl. den Überblick bei Eva G. Reichmann: Der Bewusstseinswandel der deutschen Juden. In: Werner E. Mosse (Hg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923. Tübingen 1971, S. 511–612. 49 Louisa Mathes hat im Hinblick auf die von ihr ausgewerteten Kriegstagebücher darauf hingewiesen, dass die Einstellung der jüdischen Soldaten im Feld von der jüdischen Öffentlichkeit an der Heimatfront zu unterscheiden ist. Vgl. Louisa Mathes: Die „Judenzählung“ von 1916 aus jüdischen Perspektiven. Eine Bruchstelle in der deutsch-jüdischen Geschichte? Unveröffentlichte Bachelorarbeit. München 2021, S. 20. 50 Hermann Cohen: Deutschtum und Judentum. Gießen 1915, S. 39. 51 Ebd.

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Judentum explizit ein, ja, er ging sogar soweit, den jüdischen Monotheismus als dessen historische Grundlage zu betrachten. Aber auch unter den deutschen Juden gab es Zweifler und Mahner. Im Winter 1914, einige Monate nachdem sich Theodor Lessing freiwillig zum militärärztlichen Dienst gemeldet hatte, notierte er, es habe sich „eine ganz kleine Schar Einsamer und Unzeitgemäßer aus allen Ländern Europas zur Notbruderschaft“ zusammengeschmiedet, während „Europas Menschen  – allen voran die ‚führenden Geister‘ – am großen Flammenrausch des Vaterlandes zu Verzückungen politischen Machtwillens entbrannten“.52 Lessing lehnte den Krieg ab. Er verbrachte das erste Kriegsjahr als Lazarettarzt und war somit unmittelbar mit den Folgen des Gemetzels auf den Schlachtfeldern konfrontiert.53 Er verarbeitete seine Erfahrungen in dem berühmten Buch Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, das freilich erst nach dem Krieg und der Aufhebung der Militärzensur erscheinen konnte.54 Die auch heute noch lesenswerte Abhandlung, die kritisch mit jeglicher Sinnstiftung der Geschichte ins Gericht geht, bringt die gigantische Zerstörung und die damit verbundene Auflösung aller bisherigen Gewissheiten auf den Punkt, welche die Kriegsgeneration so nachhaltig prägen sollte. Die großen Hoffnungen, die die meisten deutschen Juden mit der „Schönwetter-Konstruktion“ des Burgfriedens verbunden hatten, zerschlugen sich schon nach wenigen Monaten, wie der Historiker Peter Pulzer festhält: „In dem Maße, wie der Krieg sich hinschleppte und ein erfolgreicher Abschluss in immer weitere Ferne zu rücken schien, kamen die Bruchlinien des Vorkriegs in der deutschen und der österreichischen Politik wieder zum Vorschein, diesmal in verhängnisvoller Weise.“55 Für die Juden bedeutete das eine Verschärfung des Antisemitismus, vor allem, aber nicht nur an der Heimatfront. Beleidigungen und Zurücksetzungen jüdischer Kameraden nahmen zu, so dass der Unteroffizier Julius Marx (1888–1970) bereits Anfang Oktober 1914 in seinem Tagebuch notierte: „Bei Kriegsbeginn schien jedes Vorurteil verschwunden, es gab nur noch Deutsche. Nun hört man wieder die alten verhaßten Redensarten.“56 Zwei Jahre später, im September 1916, hatte die antijüdische Stimmung sich in seiner Einheit so sehr verfinstert, dass Marx vollkommen desillusioniert schrieb: „Der Durch52 Theodor

Lessing: Europa und Asien. Berlin 1918, S. 5. seinen bewegenden Bericht in der Artikelserie Das Lazarett aus dem Prager Tagblatt von 1929. In Auszügen wieder abgedruckt in: Theodor Lessing: Ausgewählte Schriften, Bd. 2: Wir machen mit! Schriften gegen Nationalismus und zur Judenfrage. Hrsg. v. Jörg Wollenberg. Bremen 1997, S. 46–56. 54 Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München 1919. 55 Peter Pulzer: Der Erste Weltkrieg. In: Steven M. Lowenstein u. a. (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3: 1871–1918. München 2000, S. 366. 56 Julius Marx: Kriegs-Tagebuch eines Juden. Frankfurt am Main 21964, S. 32. Zur Problematik der Quellen in der jüdischen Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg vgl. die Studie von Tim Grady: The German-Jewish Soldiers of the First World War in History and Memory. Liverpool 2011. 53 Vgl.

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schnittsdeutsche mag eben den Juden nicht. Ich möchte hier nichts sein als ein deutscher Soldat – aber man sorgt nachgerade dafür, daß ich’s anders weiß!“57 Zwar gibt es durchaus auch Berichte von großer Kameradschaft, ja Freundschaft zwischen jüdischen und nichtjüdischen Soldaten, aber die sogenannte „Judenzählung“ im November 1916 war zweifellos ein Ausdruck des Misstrauens und der Feindseligkeit gegenüber den deutschen Juden.58 Für manche von ihnen war das traumatisch, vor allem wenn sie zuvor von der geglückten deutsch-jüdischen Symbiose überzeugt waren. Andere reagierten gelassener oder maßen der Zählung sogar keine besondere Bedeutung zu.59 Aber nicht nur der Antisemitismus war vielfach eine verstörende Erfahrung, sondern vor allem das Kriegsgeschehen selbst. Etwa 100 000 deutsche Juden zogen als Soldaten in den Krieg, fast vier Fünftel von ihnen waren an der Front eingesetzt, 12 000 von ihnen fielen.60 Jüdische Eltern und Großeltern, Ehefrauen und Kinder trauerten um ihre Ehemänner, Söhne, Väter; und nicht wenige von denen, die den Krieg überlebten, waren für den Rest ihres Lebens durch schwere Verletzungen und Traumata gezeichnet.61 Wenn der aus Wien stammende spätere Psychoanalytiker Richard F. Sterba (1898–1989), der im Mai 1916 als noch nicht 18-Jähriger zum Armeedienst eingezogen worden war, in seinen Erinnerungen berichtet, er sei damals „wie die meisten der konskribierten jungen Leute“ vor allem besorgt gewesen, „lebend aus dem hoffnungslosen Krieg zurückzukehren und nicht für ‚Gott, Kaiser und Vaterland‘ geopfert zu werden“, dann drückt sich darin nackte Angst aus, nicht schwärmerischer Patriotismus.62 Das „welterschütternde Ereignis“ des Krieges, so Sterba, „brachte eine radikale

57 Marx:

Kriegs-Tagebuch eines Juden, S. 129. Werner Angress: The German Army’s „Judenzählung“ of 1916: Genesis – Consequences – Significance. In: Leo Baeck Institute Yearbook 23 (1978), S. 117–138. Den Aspekt der jüdisch-nichtjüdischen Kameradschaft betont Jason Crouthamel: „My Comrades Are for the Most Part on My Side“. Comradeship between Non-Jewish and German Jewish Front Soldiers in the First World War. In: Ders. u. a. (Hg.): Beyond Inclusion and Exclusion. Jewish Experiences of the First World War in Central Europe. New York, Oxford 2019, S. 228–253. Siehe auch David J. Fine: Jewish Integration in the German Army in the First World War. Berlin, Boston 2012. Eine vergleichende Untersuchung vorgelegt hat Sarah Panter: Jüdische Erfahrungen und Loyalitätskonflikte im Ersten Weltkrieg. Göttingen, Bristol 2014. 59 So hat Derek Penslar: Jews and the Military. A History. Princeton, Oxford 2013 in hunderten von Feldpostbriefen keinen Hinweis auf die „Judenzählung“ gefunden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Mathes: Die „Judenzählung“ von 1916. 60 Vgl. Franz Oppenheimer: Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums. München 1922, S. 12 und 40. 61 Zur Erfahrung jüdischer Frauen im Ersten Weltkrieg siehe Andrea A. Sinn: In the Shadow of Antisemitism: Jewish Women and the German Home Front during the First World War. In: Jason Crouthamel u. a. (Hg.): Beyond Inclusion and Exclusion. Jewish Experiences of the First World War in Central Europe. New York, Oxford 2019, S. 170–202. 62 Richard F. Sterba: Erinnerungen eines Wiener Psychoanalytikers. Frankfurt am Main 1985, S. 20. 58 Vgl.

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4. Die Zerstörung der alten Welt

Veränderung im Leben und in der Mentalität der Bevölkerung mit sich.“63 Alles bisher für wahr und richtig Gehaltene stand nun auf dem Prüfstand.64 Dies hatte auch Auswirkungen auf Ideologie und Praxis der Freundschaft. Die Erfahrung der Kameradschaft, die im Zweifelsfall an der Front über Leben und Tod entscheiden konnte, war für das Versprechen der Freundschaft von unschätzbarer Bedeutung. Dies galt für die nichtjüdischen Kameraden genau wie für die jüdischen, aber nicht selten waren es antisemitische Vorfälle und Anfeindungen in der Truppe, die die jüdischen Soldaten aneinander banden: „Mit geöffneter Seele genossen wir das Glück des Zusammenlebens mit jüdischen Kameraden“, erinnerte sich Ernst Simon (1899–1988) ein Jahr nach Kriegsende. „Auch wenn wir zunächst nur durch das gemeinsame Leid zusammengeführt wurden, lernten wir bald die positiven gegenseitigen Werte kennen; endlich fühlte man sich verstanden, warm aufgenommen in einer Atmosphäre, die nicht fremd und rauh war.“65 Weit entfernt von der Familie trat die Gemeinschaft mit anderen Kameraden an deren Stelle. Auch das religiöse Leben, das im Judentum so sehr mit dem Familienleben verknüpft ist, wurde nun mit jüdischen Kameraden zelebriert. „Meine Lieben“, schreibt der Feldlazarettarzt Joachim Caspari (1892–1966) am Abend nach Jom Kippur des Jahres 1918 aus den Ardennen an seine Familie, „soeben wurde Shofar geblasen. Ich habe gut gefastet [und] soeben die erste Tasse Coffein getrunken.“66 Auch Pessach und andere wichtige Feiertage beging Caspari gemeinsam mit seinen jüdischen Kameraden, von denen so mancher in der Heimat vielleicht Jahre lang keine Synagoge mehr von innen gesehen hatte. Jüdische Rituale und Feste stifteten an der Front und in den Kasernen Gemeinschaft – und es war eine andere Form der jüdischen Gemeinschaft als diejenige, die man von zuhause kannte. Aus manchen Kameraden wurden Freunde, mit denen man auch nach dem Krieg noch verbunden blieb. Kameradschaft und Freundschaft waren also – wenn auch nicht identisch, wie wir noch sehen werden – eng miteinander verknüpft.

4.4. Alfred Wolfensteins Messianismus der Freundschaft Bei kaum einem deutschen Juden dieser Zeit lässt sich dieser Zusammenhang genauer beobachten als im Werk des expressionistischen Dichters und Schriftstellers Alfred Wolfenstein (1883–1945). In Halle an der Saale geboren, in Dessau 63 Ebd.

64 Vgl. Werner E. Mosse: Die Krise der europäischen Bourgeoisie und das deutsche Judentum. In: Ders. (Hg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923. Tübingen 1971, S. 23–25. 65 Ernst A. Simon: Unser Kriegserlebnis [1919]. In: Ders.: Brücken. Gesammelte Aufsätze. Heidelberg 1965, S. 21. 66 Central Zionist Archives, Nachlass Joachim Caspari, A 319/12, Feldpostbrief vom 16. September 1918.

4.4. Alfred Wolfensteins Messianismus der Freundschaft

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aufgewachsen und als 18-jähriger nach Berlin gezogen, trat er schon vor dem Krieg als scharfer Kritiker der Moderne hervor, insbesondere der Anonymität der Großstadt.67 Berlin wurde für ihn „der eine Stachel für den großen Zwiespalt zwischen Menschenzuneigung und Einsamkeit, der andere ist mein Judentum“.68 Diese beiden Schicksale flossen in der großstädtischen Erfahrung zusammen, als Dichter und als Jude in der Gesellschaft ein doppelt Einsamer zu sein.69 Anders aber als in Tönnies’ Modell sehnte sich Wolfenstein nicht nach einer überschaubaren Dorfgemeinschaft oder einem traditionellen Familienleben, vielmehr war der Umzug nach Berlin eine Flucht sogar noch vor dem kleinstädtischen Alltag in Dessau und damit vor der Enge und Bürgerlichkeit des Elternhauses gewesen. „Das ist die Flucht vor den zu eng Verwandten,  / Die mich berührten, ehe sie mich kannten, / Noch immer wie in ihrem hohlen Schoß / Läßt mich Gebornen Elterndruck nicht los“, heißt es in einem Gedicht aus dem Jahr 1917. „Doch lieber Haß und Wüste dieser Stadt  / Als eure Liebe, die mich grundlos hat!“70 Das Verhältnis zu Berlin war also zumindest ambivalent. Zwar heißt es in der 1921 geschriebenen autobiographischen Selbstcharakteristik aus dem Nachlass etwas romantisierend, Wolfenstein „habe die Bäume über alles geliebt, im Vorgefühl, daß es nie eine bessere Gemeinschaft geben wird als den Wald“, aber zugleich hob er auch hier hervor, dass es die moderne Stadt – Berlin – gewesen sei, die sein künstlerisches Feuer entfacht habe. „Die Stadt dann, die Baumeisterei des Menschen, hat mich gelehrt, was man lernt.“71 Die Entfremdungs- und Einsamkeitserfahrungen der Großstadt führten Wolfenstein in die Natur, in der er Erholung und Ruhe suchte, vor allem aber in die Literatur – sie war der Ort, an dem er sich den Widersprüchen der Moderne offen stellte und seinem Leiden Ausdruck verlieh. Dieses Leiden hatte seinen Fluchtpunkt in der Gewissheit, „nicht der einzige Mensch auf der Erde“ zu sein, wie er kurz vor Ausbruch des Krieges in einer Besprechung von Franz Jungs Roman Kameraden …! formulierte.72 Jungs Buch schilderte das Verhältnis der Geschlechter als Fremdheitsbeziehung, die zum Scheitern verurteilt sei.73 Wenn Männer und Frauen Kameraden waren, dann 67 Eines seiner bekanntesten Gedichte thematisiert diese Erfahrung. Alfred Wolfenstein: Städter. In: Ders.: Die gottlosen Jahre. Berlin 1914. Vgl. auch Peter Fischer: Alfred Wolfenstein. Expressionismus und verendende Kunst. München 1968, S. 25 f. 68 Alfred Wolfenstein: Selbstcharakteristik [1921]. In: Ders.: Werke, Bd. 5: Vermischte Schriften. Ästhetik, Literatur, Politik. Mainz 1993, S. 169. 69 Vgl. Alfred Wolfenstein: Jüdisches Wesen und neue Dichtung. Berlin 1922. Antisemitische Diskriminierung und Ausgrenzung werden etwa thematisiert in dem Gedicht Der Jude. In: Die Aktion 5 (21. August 1915), Sp. 426. 70 Alfred Wolfenstein: Kameraden! In: Ders.: Die Freundschaft. Neue Gedichte. Berlin 1917, S. 117. 71 Wolfenstein: Selbstcharakteristik, S. 169. 72 Franz Jung: Kameraden …! Heidelberg 1913. Die Besprechung erschien unter dem Titel Kameraden …! und Kameradinnen! in Die Aktion 4, 31 (18. Juli 1914), Sp. 683. 73 Vgl. Thomas Anz: Literatur des Expressionismus. Stuttgart, Weimar 22010, S. 70 f.

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nur im Sinne der Kammergenossenschaft; als ‚Soldaten‘ bekämpften sie einander bis aufs Blut. Dennoch, so Wolfenstein in seiner Rezension, sei der Mensch nun einmal ein soziales Geschöpf, die Verbindung der Geschlechter damit der Versuch, ein Band der Kameradschaft zu knüpfen: „[I]ch habe nicht nur meine Existenz, habe nicht nur Ziele, sondern auch Beziehungen, ich mag wollen oder nicht. […] Wenn ich Lust nach Alleinsein, Verlangen nach mir habe, komme ich dem Glück nicht näher, vielmehr dem Tode […]; zum Glück oder Unglück komme ich nur draußen.“74 Die Gesellschaft war für Wolfenstein somit gleichzeitig ein Ort des eigentlichen Menschseins und der Bedrohung individuellen Glücks. Als vermittelnde Kategorie zwischen Gesellschaft und Individuum trat bei ihm schon 1914 die „Kameradschaft“ auf, die allerdings von ihm zu diesem Zeitpunkt  – vor Ausbruch des Krieges – noch nicht militärisch verstanden wurde. Ursprünglich ein militärischer Begriff, der sich von der soldatischen Kammergemeinschaft ableitet (italienisch „camerata“), wurde der Ausdruck im 19. Jahrhundert weitgehend synonym mit dem des Freundes, Gefährten und Genossen verwendet.75 Erst die Kriegserfahrung einer ganzen Generation verlieh ihm wieder eine Bedeutung, die – wie wir noch sehen werden – deutlich von der der Freundschaft abgegrenzt werden muss. Aber schon zuvor hatte „Kameradschaft“ immer einen maskulinistischen Unterton, zu seinem semantischen Feld gehörten Gehorsam und Opfer, beide Indices seiner begriffsgeschichtlichen Genese.76 Gerade in Wolfensteins früher Prosa findet eine Auseinandersetzung mit diesem Androzentrismus des Kameradschaftsbegriffs statt. Er tat das weniger in flammenden Appellen gegen das Patriarchat als vielmehr indem er die Frauen im Geiste des aufklärerischen Sapere aude! schonungslos für ihre angeblich selbstverschuldete Passivität und Unterordnung attackierte. In seinem Toast auf die Damen von 1912 beispielsweise zeichnete er die Frauen eher als Gegenstände denn als mündige Subjekte: „Sie sind den Sachen verwandt, sie nutzen sich an der Oberfläche ab, – sie wandeln sich innen nicht. […] Sie haben nicht: Erlebnisse; sie fühlen sich jedesmal, daß etwas geschieht, nur umgestellt wie Ein-

74 Wolfenstein:

Kameraden …! und Kameradinnen!, Sp. 683. militärischen Kontext vgl. George L. Mosse: Friendship and Nationhood: About the Promise and Failure of German Nationalism. In: Journal of Contemporary History 17, 2 (1982), S. 361. Zur Verwendung um die Jahrhundertwende siehe etwa Moritz Heyne: Deutsches Wörterbuch. Bd. 2: H–O. Leipzig 1892, S. 278 und Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Straßburg 71910, S. 225 f. 76 In Grimms Wörterbuch wird der Kamerad noch als Vertrauter, vor allem als Trinkgefährte, dargestellt, besonders „Kameradschaft“ und „kameradlich“ aber eindeutig in einen soldatischen Kontext gestellt. Als feminine Form kennt das Wörterbuch auch „Kamerädin“, die synonym mit der „Genossin“ angeführt wird, im engeren Sinne aber auch als „Dienstmädchen“ verstanden wird. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm [1873], Bd. 11. München 1999, Sp. 97. 75 Zum

4.4. Alfred Wolfensteins Messianismus der Freundschaft

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richtungsgegenstände im Zimmer.“77 Zugleich aber ist dieser verstörende Befund nicht affirmativ zu verstehen. Vielmehr forderte Wolfenstein von den Frauen, sich von bloßen Einrichtungsgegenständen in den Wohnungen der Männer zu selbstbewussten, schöpferischen Menschen zu entwickeln: zu echten Kameradinnen der Männer. In seiner Jung-Rezension steht am Ende eine Widmung an seine spätere Ehefrau, die jüdische Dichterin Margarete Rosenberg (1894–1993), in der die Autoemanzipation der Frauen zu Kameradinnen emphatisch gefordert wird: „Die andere Hälfte der Welt soll sich beteiligen! Frauen!“78 Frauen sollten endlich aufhören, sich wie „Sachen, Tiere, Statuen“ zu verhalten: „Daß ihr uns so lange mit Stumpfsinn geplagt habt, hindert euch nicht, plötzlich und scheinbar grundlos mindestens so göttlich wie wir zu werden.“79 Erst diese Selbstermächtigung verwandle die Frauen in Kameradinnen, mache sie zu wahren Menschen. Gemeinsam müssten sich Männer und Frauen in Kameradschaft die „Staaten, die leeren Gewalten, die faulen Vorschriften, alle Trockenheiten, Trennungen, Demütigungen […] vom Halse schaffen, wie die Trockenheit: Ehefrau, Trennung: Mädchen, die Demütigung: Weibchen. Kameradinnen!“80 Das letzte Wort, in die nächste Zeile gerückt, beschließt den Essay und verwandelt ihn in einen Aufruf zur Selbstermächtigung der Frauen. Die Aufbruchsstimmung, die in den Prosatexten Wolfensteins vor dem Krieg durchscheint, wird freilich konterkariert durch die existentielle Einsamkeitserfahrung, die sich in seiner Lyrik ausspricht. Im Mai 1914, also wenige Monate vor dem Ausbruch des Krieges, erschien mit Unterstützung Rilkes und Musils sein erster Gedichtband Die gottlosen Jahre. In ihm wird die Anonymität der Großstadt, die Auflösung menschlicher Beziehungen und – wie bei Lessing – der Lärm und Krach der Moderne thematisiert. Die messianische Hoffnung auf Erlösung, die der Literaturwissenschaftler Armin A. Wallas in den Gedichten zurecht walten sieht, bleibt namenlos, hat ihren Fluchtpunkt aber bereits in einer versöhnten menschlichen Gemeinschaft der Zukunft.81 Als „gottlos“ empfindet das lyrische Ich seine eigene Zeit, weil Gott sich aus der Welt zurückgezogen und die Menschheit sich selbst überlassen zu haben scheint. Mitten in diese Erfahrung des „Nichts“, wie es in den Gottlosen Jahren heißt, platzte der Erste Weltkrieg – für Wolfenstein, der ihn von Anfang an ablehnte, ein Schock. An der Seite Franz Pfemferts und anderer bekämpfte er den Krieg mit 77 Alfred Wolfenstein: Toast auf die Damen [1912]. In: Ders.: Werke, Bd. 5: Vermischte Schriften. Ästhetik, Literatur, Politik. Mainz 1993, S. 48. 78 Wolfenstein: Kameraden …! und Kameradinnen!, Sp. 684. Margarete Rosenberg veröffentlichte ihre Gedichte unter dem Künstlernamen Henriette Hardenberg. 79 Ebd., S. 685. 80 Ebd. 81 Armin A. Wallas: Alfred Wolfenstein. In: Andreas B. Kilcher (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Stuttgart, Weimar 22012, S. 548. Siehe etwa Alfred Wolfenstein: Vereinigung. In: Ders.: Die gottlosen Jahre. Berlin 1914, S. 76.

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4. Die Zerstörung der alten Welt

seinen eigenen Waffen, der Wortgewalt seiner Sprache. Im Kriegs-Tagebuch der Künstler, dem Zeit-Echo, veröffentlichte er 1915 einen fiktiven Dialog über den Krieg, in dem er die deutsche Massenpsychose nationaler Identität schonungslos auf den Begriff brachte: Tun was der andere tun kann und aus aller Vermögen einen Führer herausdestillieren, der also in Wirklichkeit gleich allen ist: dies steht leer zwischen dem Kanonendonner wie das Schweigen des Kanonenfutters –, und es stand auch schon zwischen dem Gekläff des Friedens, sonst wäre vielleicht ein besserer Kampf gefolgt. Die Gestalt mit dem Charakter und der Bereitwilligkeit des Massenhaften hat keinen Punkt außerhalb von sich, – und so kann sie nichts bewegen. Und so kann sie auch nichts lieben.82

Die Auflösung der Individuen in Massen, allen voran in der Unterschiedslosigkeit des „Kanonenfutters“ an der Front, war für Wolfenstein eine radikale Konsequenz der modernen Massengesellschaft. Ihr entgegen stehe der Dichter, der zwischen Menschenzuneigung und Einsamkeit verharre und eine neue, aus Freiheit geschlossene Verbindung der Individuen entwerfe. Im September 1915 benannte Wolfenstein diesen Entwurf das erste Mal in einem Gedicht als Zukunftsprojekt der Freundschaft  – es sollte das bestimmende Thema seiner Dichtung bis weit in die Nachkriegszeit bleiben. Das in der Aktion veröffentlichte Poem beschwört Die Freundschaft, um Tod und Zerstörung hinter sich zu lassen: Sie winkt aus ihres Wagens lautem Lauf, Gesicht dringt rot schon an mein Fenster auf, Sie klingt hochrauschend über rasche Treppen Heran, herein, wo meine Schweigen schleppen ·– Durchflogen starrt die Türe, schon geschlossen, Mein Haar, mein Gaumen wird von Tanz durchschossen, Wirr näher, über Grenzen jeder Welt, Bis in das Hirn leckt fremder Wunsch geschwellt –. Der Stube Wand und Mauer meiner Haut, Rings explodiert, was meinen Geist umbaut, Zerzündend schwankt das Chaos eines Weibes Durch alle Gänge meines Seelenleibes –. – Ich war doch groß – Ich stehe doch voll Säulen, Voll leichter Steine | frei von Krampf und Fäulen, – Ich wünsche meiner Stirn doch Turmgestalt, Und, wen ich liebe, wünsch ich voller Halt – –: Und wer mich liebt – – – So stürze von mir ab! Ich stehe auf aus diesem alten Grab, Aus unsrem dunkel liegenden Bewegen – Der Hauch der Luft soll mein Geblüt erregen. 82 Alfred Wolfenstein: Ein Zwischenspalt [1915]. In: Ders.: Werke, Bd. 5: Vermischte Schriften. Ästhetik, Literatur, Politik. Mainz 1993, S. 71.

4.4. Alfred Wolfensteins Messianismus der Freundschaft

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Er weht aus ahnungsreicher F r e u n d e Mündern, Aus rings der Zeit entragenden Verkündern, Er ist, statt enger Gier, ein Riesengeist, Der jeden leicht wie Heiligen umkreist. Er kennt den Grad von nah- und ferne-Sein, Er küßt aus Höhen … hier … wie Sternenschein, Verbindend uns zu stürmisch-zartem Bunde, Er weht aus eines neuen Glückes Munde.83

In einer Welt der Zerstörung („rings explodiert“) und des „Chaos“ überkommt die schockhafte Ergriffenheit, ja regelrechte Ekstase das lyrische Ich wie ein benjaminsches Aufblitzen.84 Im nostalgischen Blick zurück („Ich war doch groß“) öffnet sich plötzlich die Zukunft und die Freundschaft weht dem Ich wie ein „Hauch der Luft“ entgegen. Dieser Hauch ist ein „Riesengeist“, der alle Menschen berührt und in seinen Bann zieht. Der Geist der Freundschaft verbindet die Menschheit („uns“) zu „stürmisch-zartem Bunde“ und wird dadurch zum Odem eines neuen Glücks. Wie in Benjamins berühmten Geschichtsthesen schwingt „in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit“.85 Das geradezu messianische Motiv der Freundschaft, das Wolfenstein der grausamen Realität des Krieges entgegenstellte, sollte seinem Denken in den Kriegsjahren und auch noch in der Weimarer Republik als Leitbild dienen. Es bot einen Ausweg aus der Tendenz zur Abwendung von der Welt, die seiner frühen Lyrik zueigen ist, und bildete das Fundament seiner politischen Haltung. Die Einsamkeit, die Wolfenstein vor dem Krieg in der Großstadt verkörpert sah, war vor seinen Augen in nationalistische Ekstase umgeschlagen; die einst unter der eigenen Überflüssigkeit und Ohnmacht litten, hatten sich in ununterscheidbare Teilchen einer homogenen Masse verwandelt und ihren eigenen Willen, ihre Träume und Ideen aufgegeben. Zu Hunderttausenden wurden sie dahingeschlachtet; in den Augen Wolfensteins ein gigantisches, sinnloses Menschenopfer. Ohne Unterlass schrieb er gegen das Massensterben an und zog Hoffnung einzig aus dem Umstand, dass immer mehr Menschen am Sinn des Krieges zweifelten. Eine versöhnte Zukunft des Friedens aber könne es nur geben, schrieb er Anfang 1917, wenn der Opfer gedacht und um die Toten getrauert würde: Trotzdem glaube ich daran, es könnte gelingen, wenigstens den ersten Einzugstag zu einem erhabenen Tag der Warnung zu machen. Es könnte gelingen, das Gewissen dafür zu wecken, daß es nicht eine Gelegenheit der Begeisterung werde wie jener erste Tag des 83 Alfred

Wolfenstein: Die Freundschaft. In: Die Aktion 5 (29. September 1915), Sp. 504. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte [1940]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I–2. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 695. Die ansonsten strenge Form des jambischen Fünfhebers wird exakt an dieser Stelle durchbrochen, was den schockhaften Eindruck verstärkt. (Danke an Carmen Reichert für diesen Hinweis.) 85 Ebd., S. 693. 84 Vgl.

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4. Die Zerstörung der alten Welt

Krieges. Dies aber würde schon viel sein; denn er bliebe als ein Vorbild stehen, als ein Vorbild künftiger Gedenktage, die ihm bald mit Sicherheit folgen würden wie ihrem Führer, und die wir nicht wie Sedantage feiern, sondern die wir trauern. Für solche Wandlung des Einzugstages müßten alle diejenigen sorgen, deren kleines Land sich quer durch diese Kriegserde erstreckt, und die, entgeistert vom Beginn der Schandtaten, beseelt von neu nachwachsender Menschlichkeit, nicht sogleich wieder frech in die Sonne des Friedens starren können.86

Eine solche versöhnte Zukunft zeichnete sich vorerst nur schwach ab. Aber Wolfenstein gehörte unzweifelhaft zu jenen, die eine radikal neue Gesellschaft aufbauen wollten, die auf den Prinzipien des Friedens und der Freundschaft aufgebaut sein sollte. Schon 1916 war er wegen eines Streits mit dem Berliner Expressionistenkreis nach München gezogen, nun erlebte er das Kriegsende und dessen revolutionäre Nachwehen in der bayerischen Hauptstadt mit. Er tauchte in das Getümmel der Schwabinger Bohème ein, verehrte den Anarchismus Gustav Landauers, schrieb für Friedrich Burschells Wochenschrift Revolution, traf sich im berühmten Café Stefanie in der Amalienstraße mit befreundeten Künstlern, Schriftstellern, Intellektuellen, die alle nur eines im Sinne hatten: auf den Trümmern des Kaiserreiches eine neue Gesellschaft aufzubauen.87 Als Kurt Eisner den Freistaat Baiern ausrief, war Wolfenstein folglich ein enthusiastischer Unterstützer der neuen Demokratie, auch wenn er zur Parteipolitik Distanz hielt. Nach der Ermordung Eisners, als es darum ging, die Errungenschaften der Revolution zu verteidigen, wurde er Mitglied im „Rat geistiger Arbeiter“, der in der ersten Münchner Räterepublik von Ernst Toller angeführt wurde.88 Auch wenn er den Kommunisten der kurzlebigen zweiten Räterepublik kritisch gegenüberstand, nahm er den Sturz der Republik durch die konterrevolutionären Freikorpsverbände, der mit blutigen Gewaltexzessen und nicht zuletzt der Ermordung Landauers einherging, als historische Tragödie wahr. Dabei geriet er selbst ins Fadenkreuz der rechtsextremen Freikorps, wie die befreundete Marta Feuchtwanger (1891–1987) berichtet. Ein Reichswehroffizier, der die antidemokratischen Paramilitärs selbst ablehnte, hatte Wolfenstein das Leben gerettet, als dieser von Soldaten verhaftet worden war: Wolfenstein war groß, mit blassem, gutgeschnittenem Gesicht, glattem, schwarzem Haar und dunkelgerahmter Brille. Er sah aus, wie ein Dichter aussieht. Gleich nachdem wir uns von ihm getrennt hatten, hatte eine Frau einigen Soldaten zugeschrien: „Den müßt’s verhaften. Das ist der Oberkommunist.“ Und das taten die Soldaten. In der Residenz berieten 86 Alfred Wolfenstein: Zum ewigen Gedächtnis [1917]. In: Ders.: Werke, Bd. 5: Vermischte Schriften. Ästhetik, Literatur, Politik. Mainz 1993, S. 85. Der Sedantag war ein nationalistischer Gedenktag im Deutschen Kaiserreich, an dem jährlich im September die Niederlage Frankreichs im Krieg von 1870 gefeiert wurde. 87 Vgl. Fischer: Alfred Wolfenstein, S. 36 f. 88 Zur jüdischen Geschichte der Räterepubliken siehe Michael Brenner: Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923. Berlin 2019.

4.4. Alfred Wolfensteins Messianismus der Freundschaft

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sie sich, was man mit Wolfenstein anstellen solle. Der junge Reichswehroffizier erkannte die Gefahr. Er schrie den Soldaten zu: „Der gehört mir, der Schlawiner. Den lasse ich gleich an die Wand stellen“, packte Wolfenstein am Kragen und zerrte ihn heraus. Auf der Straße gab er ihm den Rat, so schnell wie möglich zu verschwinden.89

Damit hatte der junge Offizier Wolfenstein das Leben gerettet. Über 600 Menschen starben im Zuge der Niederschlagung der Räterepublik, davon allein 335 Zivilisten, die von Freikorps exekutiert wurden, darunter etliche Dichter und Literaten; nicht eingerechnet ist die hohe Dunkelziffer von mehreren hundert Menschen, die von Erschießungskommandos hingerichtet und irgendwo verscharrt wurden.90 Wolfenstein hätte, wie sein Vorbild Landauer, einer von ihnen sein können. Stattdessen verarbeitete er das, was in den letzten Jahren geschehen war, in seiner Literatur und fand, inspiriert durch die Erfahrungen der Räterepublik, erneut im Konzept der Freundschaft eine Antwort auf die Verlassenheit des modernen Menschen. In einem programmatischen Essay, den er noch während der Rätezeit in Burschells kurzlebiger Zeitschrift Neue Erde veröffentlichte, formulierte Wolfenstein nun auch eine Theorie der Freundschaft. Sein Entwurf bezieht sich unübersehbar auf den vorangegangenen Weltkrieg, wenn er mit den Sätzen anhebt: „Freundschaft ist unsere unsterbliche Fähigkeit. So offenbart sie sich uns nach dem Verlust der vielen Freunde.“91 Sie sei eine Kraft des Lebens, denn sie „überlebt die Freunde“ und umfasse „das unsterbliche Menschenall“.92 Dadurch unterscheide sie sich von der Liebe, die vom Schicksal des Geliebten abhängig sei und nach dessen Tod erlösche. Freundschaft hingegen zeichnete Wolfenstein als geradezu metaphysisches Prinzip: Die Sendung der Freundschaft kennt keinen Tod. Denn rings dauern Menschen! Sie ist mehr als ein Erlebnis: ein unerschöpfliches Element; verschworen keiner Person, sondern dem Geheimnis des Menschentums selbst; nicht Liebe zum Mann oder zur Frau, sondern zum Menschen. Sie entspringt aus jenem natürlichsten und seltsamsten Bewusstsein: Ich bin in der Welt nicht allein, – nicht nur Gott, auch der andere Mensch umgibt mich. Dieses Gefühl des Anderen – brachte den Mord auf die Welt und müßte die gewaltigste Lebendigkeit bringen.93

Das Verb „müßte“ verwandelt die Feststellung, dass ein jeder die Welt mit anderen teilt, in die Aufforderung, in eine Beziehung der Freundschaft zu ihnen zu treten. In dieser Freundschaft sieht Wolfenstein den Sinn, das Geheimnis der menschlichen Existenz, obgleich diese die einzelne Person zu überschreiten 89 Marta

Feuchtwanger: Nur eine Frau. Jahre, Tage, Stunden. München, Wien 31983, S. 125 f. Hansjörg Viesel: Literaten an der Wand. Die Münchner Räterepublik und die Schriftsteller. Frankfurt am Main 1980. 91 Alfred Wolfenstein: Freundschaft [1919]. In: Ders.: Werke, Bd. 5: Vermischte Schriften. Ästhetik, Literatur, Politik. Mainz 1993, S. 126. 92 Ebd. 93 Ebd. 90 Vgl.

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4. Die Zerstörung der alten Welt

vermag. Wie in dem Gedicht von 1915 sind es messianische Anklänge, derer sich Wolfenstein bedient, aber aus der gottlosen Welt ist nun wieder ein Ort geworden, an dem Gott die Menschen „umgibt“. Dem „Kerker des Weltkriegs“ entronnen, erkennen die Überlebenden, dass ihr Glück in der Freundschaft liegt. Dieses Erkennen der Freundschaft aber ist kein bloß kognitiver, sondern ein geradezu mystischer Prozess der Enthüllung: „In jedem ist sie. Es gilt, sie einander sichtbar zu machen.“94 Niemals wieder sollen die Menschen sich mit der Zukunft vertrösten lassen, denn die Erlösung liegt in der Gegenwart, der Jetztzeit: „Kein Geschlecht aber darf um seine Lebenszeit betrogen werden. Es ist eine gottlose Auffassung, als sei irgend ein Mensch um der Zukunft willen da. Jedes Zeitalter muß beides zu vereinigen wagen: erfüllte Zukunft und erfüllende Gegenwart.“95 Damit setzte sich Wolfenstein sowohl vom nationalistischen Opfermythos als auch von religiöser Jenseitsvertröstung ab. Die Erlösung erfolge im Hier und Jetzt, wenn die Menschheit dem Geheimnis ihrer Existenz auf die Spur komme: dem Leben in Freundschaft. Abermals kommen dem heutigen Leser Benjamins 1940 verfasste Geschichtsthesen in den Sinn, wenn Wolfenstein die Gegenwart der Vergangenheit beschwört: „Wohl wirken in uns auch die vergangenen Menschen mit, keiner ist verloren, und wir leben auch für die kommenden. Aber ebenso nah wie ihre Unsterblichkeit berührt uns die Lebendigkeit der Mitgeborenen.“96 Wolfenstein nimmt hier die Idee des Trauerns als einer Bergung der Vergangenheit auf, die er schon zwei Jahre zuvor formuliert hatte und in der er schon damals eine Voraussetzung für eine bessere Einrichtung der Gegenwart sah. Diese neue Ordnung der Welt verbindet er nun mit dem Begriff der Freundschaft: Freundschaft ist die große Möglichkeit, beides zu erfüllen. Sie ist der Kreuzungspunkt jener geistigen und lebendigen Unendlichkeit. Genuß und selbstlose Begeisterung, Freude am nahen Menschen und schaffende Zukunftskraft entspringen ihr zugleich. Sie dient dem Weltgeist voller noch als die Liebe; denn ihr Schöpfertum schmilzt nicht weich hin. Der feste und grüne Berg zwischen dem weichen Strom der Liebe und der Wüste der Einsamkeit ist sie. Die Erhebung der Welt in die Sphären. Erde und Himmel ist sie vereint. Ihr Geist setzt seine Wirkung durch die Generationen fort: So ist im Freunde der Sohn enthalten. Ihre Zuneigung tut ihre Wirkung unter den Mitgeborenen: Das ist im Freunde das Brüderliche. Freundschaft ist die Rettung unseres Lebens: Erinnerung des Menschen! Beseelung, Verewigung der Gegenwart. Laßt uns ihrer bewußt werden.97

Es ist offensichtlich, dass Wolfenstein unter Freundschaft etwas anderes verstand als der Alltagsverstand. Für ihn war sie Symbol einer besseren Welt, in der die Menschheit sich nicht mehr mit Hass und Gewalt überzog, sondern solidarisch, gerecht, glücklich und friedlich miteinander lebte. Es war eine Vision, die auf 94 Ebd., 95 Ebd. 96 Ebd.

97 Ebd.,

S. 127. S. 128.

4.4. Alfred Wolfensteins Messianismus der Freundschaft

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den universalistischen Geist der jüdischen Tradition zurückgriff, besonders die messianische Hoffnung des Propheten Jesaja: „Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen nicht mehr den Krieg.“98 Die messianische Zeit, die nach der großen Katastrophe eintritt, ist durch Frieden, Gerechtigkeit und Zuversicht geprägt. Der Messias ist nicht eigentlich ein weiterer menschlicher Herrscher, sondern Verkörperung des Guten: Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften und die Treue der Gürtel um seine Lenden. Der Wolf findet Schutz beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Junge leitet sie. Kuh und Bärin nähren sich zusammen, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter und zur Höhle der Schlange streckt das Kind seine Hand aus. Man tut nichts Böses und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des HERRN, so wie die Wasser das Meer bedecken.99

Diese Verse Jesajas verkünden eine Zukunftsvision, in der alle Lebewesen, so unterschiedlich sie nach Gestalt und Bedürfnis sie auch sind, harmonisch mit- und nebeneinander leben. Gewalt und Unterdrückung sind aus der Welt verbannt, die in ein göttliches Licht getaucht ist. Eine solche Ära des Friedens schwebte auch Wolfenstein vor, wenn er emphatisch die Freundschaft beschwor. Erstaunlicherweise bündelte sich dieser messianische Freundschaftsdiskurs jüdischer Intellektueller ausgerechnet in Friedrich Burschells kurzlebiger Zeitschrift Neue Erde. Hier erschien Wolfensteins Freundschaft-Essay, hier nahm sich auch Ernst Bloch (1885–1977), der gerade sein Buch Geist der Utopie veröffentlicht hatte, die kindliche Freundschaft zum Vorbild.100 Und hier verkündete Martin Buber, die aus der Asche des Krieges zu errichtende neue Gemeinschaft müsse sich am Ideal der Freundschaft orientieren: Der gegenwärtige Staat, auch wenn er sozialistisch wird, kann die Sehnsucht nach Gemeinschaft nicht erfüllen, den Einzelseelen das elementare Bewußtsein der Verbundenheit nicht geben, das sie von der Gemeinschaft begehren: weil er keine Gemeinschaft ist und keine werden kann. Ein großer Menschenverband ist nur dann so zu nennen, wenn er aus kleinen lebendigen Gemeinschaften, aus kräftigen Zellenorganismen unmittelbaren Miteinanderseins besteht, die zueinander in gleich direkte und vitale Beziehungen treten, wie die ihrer Mitglieder sind […].101

Die neuen Gemeinschaften als Formen des unverstellten Zusammenlebens seien wiederum die Basis für einen umfassenden „Menschenverband“. Die Gemeinschaften seien keine reinen Zweckverbindungen oder bloß temporäre Zusam 98 Jesaja

2, 4. Ähnlich auch Micha 4, 3. 11, 5–9. 100 Ernst Bloch: Absicht. Erweiterte Vorrede zum „Geist der Utopie“. In: Neue Erde. Eine Halbmonatsschrift 1, 1 (1919), S. 3. 101 Martin Buber: Gemeinschaft. In: Neue Erde. Eine Halbmonatsschrift 1, 1 (1919), S. 6.  99 Jesaja

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4. Die Zerstörung der alten Welt

menschlüsse, sondern glichen Buber zufolge „Liebschaften und Freundschaften“. Damit seien sie Teil einer Politik des Eigenen, Vertrauten und Nahen, die der Politik des Fremden, Fernen und Unbekannten vorgeordnet sei: „nur dem, der in echter Aktivität am Nahen die Seele bewährte, [kann] das Ferne nah werden“.102 Freundschaft war damit gewissermaßen die ursprüngliche menschliche Gemeinschaftserfahrung, auf der alle übrigen Sozialformen gründeten. Bloch, Buber und Wolfenstein teilten diese Idee der Freundschaft miteinander. Sie glaubten, Freundschaft könne die alten Gräben, die perennierenden Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft überwinden. Zu diesen Widersprüchen zählte nicht zuletzt die Erfahrung der Assimilation. Alle drei stammten aus akkulturierten Familien, in denen zwar die religiöse Tradition eine sehr unterschiedliche Rolle spielte, die sich aber nach der Emanzipation als Teil der deutschen Gesellschaft verstanden.103 Bloch, Buber und Wolfenstein kamen in den Genuss der Früchte dieser Emanzipation, zugleich aber mussten sie erfahren, dass sie von vielen Deutschen nach wie vor hauptsächlich als Juden wahrgenommen wurden  – und das hieß: als Fremde. So erfolgreich der Prozess der Verbürgerlichung und Akkulturation im 19. Jahrhundert auch verlief, ein Gefühl der Fremdheit und des Ausgestoßenseins stellte sich bei vielen deutschen Juden auch noch nach der rechtlichen Gleichstellung ein. Alfred Wolfenstein reflektierte diese Außenseiterposition in seinem 1922 veröffentlichten Aufsatz Jüdisches Wesen und neue Dichtung. Darin parallelisierte er die Figur des Dichters mit dem Schicksal der Juden: Der Dichter ist der unter die Völker Verstreute, aus tieferem Grunde kommend und in höherem Sinne ortlos, der Verbannte. Er ist, heute zumal, der ungewiß Wohnende unter Fremden, – denen er sich doch glühend zugehörig fühlt. Sie übertragen sein Werk in ihr Leben, in ihren Glauben. Aber ihn selbst und seinesgleichen sehen sie mit anderen Augen an, und täglich wird die Mauer seines Zion neu zerstört.104

Wie der Dichter, so sei auch der Jude ein „Wohnender unter Fremden“. Im Unterschied zu jenem aber verschafften die Leistungen des Juden ihm keine Anerkennung: „Seine Wirksamkeit wird ihm fortgekauft wie dem Maler das Bild.“105 Die Hoffnung, durch Beiträge in Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft Anerkennung als Gleiche zu finden, die am Anfang der Emanzipationsbewegung 102 Ebd.,

S. 8. Buber war, obwohl 1878 in Wien geboren, stark durch das galizische Judentum seiner in Lwiw lebenden Großeltern geprägt, bei denen er aufwuchs, seit er drei Jahre alt war. Im Jahr 1898 allerdings zog Buber nach Leipzig und blieb bis zu seiner Auswanderung nach Palästina im Jahr 1938 in Deutschland, v. a. in Berlin und Frankfurt. Es mag daher legitim sein, ihn (zumindest auch) als deutschen Juden zu betrachten. Zur Biographie vgl. Dominique Bourel: Martin Buber. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Biographie. Gütersloh 2017. 104 Alfred Wolfenstein: Jüdisches Wesen und neue Dichtung. In: Ders.: Werke, Bd. 5: Vermischte Schriften. Ästhetik, Literatur, Politik. Mainz 1993, S. 178. 105 Ebd., S. 179. 103 Martin

4.4. Alfred Wolfensteins Messianismus der Freundschaft

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stand, hatte sich zu dem Zeitpunkt, als Wolfenstein seinen Essay verfasste, offenbar nicht verwirklicht. Was Juden zuwege brachten, wurde zwar akzeptiert, es änderte jedoch nichts an ihrer Position als gesellschaftliche Außenseiter  – zumindest war das Wolfensteins Überzeugung. Aber gerade diese Stellung des Juden als nahem Fremden oder fremdem Nachbarn verstärke seinen Drang zu „absoluter Gemeinschaft“: Er tritt mit seiner Flut neuer Lebensauffassung und Lebenslust über die Ufer, alles gleichmäßig zu bedecken. Der sich bisher hart von der organisch aufsteigenden Menschheit unterscheiden mußte, scheint nun den Unterschied überhaupt aus der Welt zu schaffen, wie um alles miteinander zu vereinen. Ob sein Anteil an den utopistischen Bewegungen groß oder klein ist, die Sehnsucht nach dem Restlosen, sein altes Motiv, steckt immer ganz darin.106

Wolfenstein formulierte eine Paradoxie: Die Juden hätten den Gedanken der Emanzipation so ernst genommen, so sehr an die Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt, geglaubt, dass das Engagement für Einheit und Brüderlichkeit wiederum zum „jüdischen Wesen“ geworden sei. Gerade der Einsatz für die Aufhebung aller Unterschiede setzte laut Wolfenstein einen neuen Unterschied. Das „jüdische Verlangen nach Einheit“ ziele daher auf den universellen Menschenbund ab, auf die Freundschaft.107 Nach der großen Katastrophe des Krieges, der „der schamloseste Ausdruck der alltäglichen Feindschaft“ gewesen sei, steige nun „aus männlichem Einander“ hervor: „die Freundschaft, das Wundergefühl, daß nicht nur ein Mensch auf der Welt ist, Liebe, die zugleich Kampf ist, Fuge aus geistig fruchterfüllter Getrenntheit und Übereinstimmung“.108 Wolfenstein, Bloch, Buber und vielen anderen ging es nun, nach dem Untergang der alten Welt, um die Etablierung neuer Lebens- und Gemeinschaftsformen. Unter ihnen kam der Freundschaft als Gegenmodell zur morsch und schal gewordenen patriarchalen Familie eine Schlüsselfunktion zu.

106 Ebd.,

S. 181. S. 206. 108 Ebd., S. 198 und 199. 107 Ebd.,

5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel .‫עשה לך רב‚ וקנה לך חבר‬ Pirkej Avot 1, 6

1

Im Grunde gab es zwei Ausrichtungen dieser alternativen Lebensformen: eine reaktionäre, die einen neuen Vater zu installieren trachtete, und eine revolutionäre, die an die Stelle des Vaters ein gänzlich egalitäres Prinzip setzen wollte. Beides, auf den Vater(-ersatz) ausgerichtete Bruderschaften und egalitäre Freundschaften, konnte die Funktion der alternativen Vergesellschaftung ausfüllen. Der Psychoanalytiker und Freud-Schüler Paul Federn (1871–1950), der aus einer jüdischen Wiener Bürgerfamilie stammte, führte nach dem Ersten Weltkrieg beides zusammen, indem er die Räterevolution als „Fortschritt von der Vaterlosigkeit der Gesellschaft zum Bruderprinzip“ erklärte. Er wollte nicht etwa eine rationale Autorität an die Stelle der patriarchalen Willkürherrschaft setzen, sondern alle Vatergestalten durch eine egalitäre Übereinkunft einer „gleichberechtigten Bruderschaft“ ersetzen.2

5.1. Fraternitas und Fraternité Der Begriff der „Bruderschaft“, der sich gleichermaßen auf die monastische Lebensform (fraternitas) wie auf die Brüderlichkeit (fraternité) der Französischen Revolution bezieht, darf allerdings nicht mit dem der „Freundschaft“ verwechselt werden. Nimmt man den Begriff wörtlich, so sind Brüder Schicksalsgenossen, die nicht aus freien Stücken, sondern qua Geburt aneinander gekettet werden. Selbst wenn sie den Vater symbolisch oder tatsächlich ermordet haben, bleibt dieser der gemeinsame Bezugspunkt. Die Freundschaft dagegen ist eine außerfamiliäre Beziehung, die auf Freiwilligkeit basiert und einen egalitären Anspruch impliziert. Federn schreibt seiner idealen Bruderschaft zwar ebenfalls einen gleichberechtigten Charakter zu, aber dieser tritt dem Verhältnis der Brüder äußerlich hinzu, während die intrinsische Logik der Bruderschaft schon hinsichtlich des Alters, aber auch erbrechtlich, eine Hierarchie enthält. 1 Hebräisch: 2 Federn:

„Mach Dir einen Mentor und erwirb Dir einen Freund!“ Psychologie, S. 24 und 28.

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5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel

Daher lässt sich auch von einer Ideologie der Bruderschaft sprechen, wie sich auch im Verlauf der Französischen Revolution die Subalternen gegen die neuen Herrschenden aufgelehnt haben, die als rechtlich wie materiell Privilegierte nur vorgaben, genau wie alle anderen französischen „Brüder“ zu sein.3 Wie sehr auch die egalitäre Bruderschaft noch auf den Vater ausgerichtet bleibt, zeigt sich vor allem bei der monastischen Gemeinschaft, die sogar als Gütergemeinschaft ohne Privateigentum organisiert ist, um vollständige Gleichheit zu erzielen, und der man, wie bei der Freundschaft, freiwillig beitritt. Doch die egalitäre Bruderschaft ist nur insofern gleich, als alle Mitglieder ihr gesamtes Leben auf Gott-Vater ausrichten, indem sie dem Leben des Gott-Sohnes nacheifern.4 Auch bei dem mittelalterlichen Mystiker und Zisterziensermönch Aelred von Rievaulx, dessen Schrift De Spirituali Amicitia die mönchische Lebensform als „Freundschaft“ fasst, steht dieses Prinzip im Zentrum: Die Freundschaft dagegen ist ganz Liebe und ganz Vertraulichkeit: Höflichkeit und Freundlichkeit, Aufrichtigkeit und Liebenswürdigkeit, Nachgiebigkeit und Charakter, Liebe des Herzens und Liebe der Tat. All das hat in Christus seinen Ursprung, wird durch Christus gefördert, gedeiht in Christus zur Vollkommenheit.5

Die höchste Stufe der Freundschaft ist daher für Rievaulx, der Ciceros heidnisches Werk Laelius de amicitia mit der Heiligen Schrift zu harmonisieren trachtete, die mystische Vereinigung mit Jesus Christus, dem Gott-Sohn und Menschen-Bruder: Der Freund, der in Christi Geist dem Freunde anhängt, verschmilzt mit diesem; beide werden ein Herz und eine Seele. Auf der Leiter der Liebe erheben sich dann beide zur Freundschaft mit Christus und sie, die schon eins sind, werden in ein und demselben Kusse eines Geistes mit Ihm.6

Bei Federn hingegen fließen beide Gedanken – fraternité und fraternitas – zusammen. Die Brüder sind durch die symbolische Ermordung des Vaters aufeinander verwiesen, denn die Tat stiftet eine egalitäre Beziehung, die im Zeichen der neuen, „vaterlosen Gesellschaft“ steht. Seine Bruderschaft, die frappierend dem „Klub zur Erhaltung der Freude“ aus Hasenclevers Drama ähnelt, ist damit nicht mehr auf die Identifizierung mit dem Vater ausgerichtet, wie sie in Freuds ödipalem Modell als Ziel formuliert wird, sondern auf die Abschaffung des Va3 Vgl. Martin Breaugh: The Plebeian Experience. A Discontinuous History of Political Freedom. New York 2013, S. 205–217. 4 Dieses Prinzip ist von Freud auch im Hinblick auf das Verhältnis der Gläubigen zum „Vaterersatz“ Christus in der katholischen Kirche beobachtet worden. Vgl. Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Anna Freud u. a., Bd.  13: Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es. London 1940, S. 102. 5 Die heilige Freundschaft des sel. Abtes Aelred von Rieval. Büchlein „De spirituali amicitia“. Mit einem Nachruf desselben auf seinen Freund Simon. München 1927, S. 40. 6 Ebd.

5.2. Juden im George-Kreis

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ters als Repräsentant von Herrschaft und Unterdrückung. Das neue Ich-Ideal ist ein Wir-Ideal, die bürgerliche Gesellschaft wird durch eine sozialistische ersetzt. Die brüderlichen Genossen waren gewissermaßen Waisen, die ihren Vater – den Kaiser genauso wie den pater familias – ermordet hatten und nun, mit Schuldkomplexen beladen, eine neue Form der Familie zu etablieren suchten. Dass die Idee der Bruderschaft sich nach dem Ersten Weltkrieg rasch ausbreitete, war auch dem Umstand geschuldet, dass die traditionelle Familie mit dem Massensterben auf den Schlachtfeldern Europas zerbrochen war, der soldatische Gedanke der Kameradschaft aber den Krieg überdauerte und von einer Not- in eine Tugendgemeinschaft umgedeutet wurde. Wie tief der Einschnitt des Ersten Weltkriegs gewesen ist, beschreiben fast alle Zeitgenossen. Harry Sternberger etwa, den wir bereits im dritten Kapitel kennengelernt haben, hebt hervor, dass mit dem Krieg eine Zeit untergegangen sei, „wie sie nie mehr wiederkehrt“.7 Und der Essayist, Filmtheoretiker und Philosoph Siegfried Kracauer höhnt, der Krieg habe dem „selbstherrliche[n] Subjekt“ der bürgerlichen Gesellschaft „Anschauungsunterricht“ erteilt.8 Auf den Schock reagierten gerade die jungen, um die Jahrhundertwende Geborenen, die vom Zusammenbruch der alten Ordnung in besonderer Weise betroffen waren und noch am Anfang ihres Lebensweges standen, mit einer Hinwendung zu Bruderschaften und Freundschaftszirkeln, die eine neue, unverbrauchte, ja bisweilen geradezu sakrale Form der Vergemeinschaftung versprachen.

5.2. Juden im George-Kreis Junge jüdische Männer wie Ernst Kantorowicz (1895–1963), Edgar Salin (1892– 1974), Erich von Kahler (1885–1970), Friedrich Gundolf (1880–1931) oder Ernst Morwitz (1887–1971) fühlten sich beispielsweise magisch vom elitären Kreis um den Dichter Stefan George angezogen, dem auch einige ältere jüdische Intellektuelle wie Karl Wolfskehl (1869–1948), Rudolf Borchardt (1877–1945) und Julius (1877–1931) und Edith Landmann (1877–1951) angehörten. Der Kreis war durch einen mystischen Ästhetizismus und reaktionäre politische Haltungen gekennzeichnet, die in einem gewissen Kontrast zur durchaus lebensreformerischen, männerbündischen Form standen.9 Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg fanden 7 Sternberger

III, S. 14. Kracauer: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform [1930]. In: Ders.: Werke, Bd. 5.2: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1924–1927. Hrsg. v. Inka Mülder-Bach. Berlin 2011, S. 197. Siehe dazu die instruktiven Ausführungen von Magnus Klaue: Das untergehende Ich: Zur Biographiekritik der Kritischen Theorie. In: Dubnow-Institut Jahrbuch XVI (2017), S. 333–364, besonders S. 337–339. 9 Daher rechnet Stefan Breuer den George-Kreis zurecht dem erweiterten Lager der „Konservativen Revolution“ zu. Vgl. Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 221–227. 8 Siegfried

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5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel

diese Tendenzen ihren Ausdruck in einer autoritären Binnenstruktur, in der George als genialer „Meister“ und Vaterersatz das kultisch verehrte Zentrum des Zirkels bildete.10 Um den Meister herum schwirrten seine Jünger in konzentrischen Kreisen, die von George in einen inneren (Urgeister) und einen äußeren Kreis (abgeleitete Wesen) differenziert wurden, die ihr „Licht“ unmittelbar vom Meister bezögen.11 Der Theoretiker des George-Zirkels, Friedrich Wolters, versuchte, den Grundgedanken des Georgeschen „Reiches“ auszubuchstabieren und verriet darin wohl eher ungewollt, warum es auch für Juden, die aus den meisten politisch rechts stehenden Bewegungen ausgegrenzt wurden, so anziehend war: „Wie über den familien des blutes und der blutvermischung die familien des geistes und der geistvermischung stehen“, heißt es da schwülstig in typisch georgescher Orthographie, „so steht auch über den reichen der rassenund der wirtschaftsgrenzen, unbeengt von berg und zoll, im freien raum der selbst geschaffenen atmosphäre das Geistige Reich.“12 Das bedeutete: Wer immer sich dem Meister und seinen Ideen mit ganzer Seele und aus freien Stücken verschrieb, konnte prinzipiell in den „Stern des Bundes“ – so der Titel von Georges programmatischem Gedichtband – aufgenommen werden.13 Der Kreis war kein herkömmlicher literarischer Verein, sondern vor allem in der Weimarer Republik eine messianische Gemeinschaft, die sich in Zeiten der politischen Krise um den Meister als „Prophet der Propheten“ scharrte. Übersetzt man die religiöse Begrifflichkeit in eine psychologische, so erscheint der Kreis als symbolischer Familienersatz: George habe, so der Literaturwissenschaftler Kai Kauffmann, die Position eines erziehenden Vaters ein[genommen], der seine Söhne fordert und fördert, lobt, tadelt und straft; aber zeitweilig verhielt er sich ihnen gegenüber auch wie eine behütende, ja gluckende Mutter. Andererseits hatte er selbst etwas Kindliches, insofern er von den anderen geliebt, gepflegt und versorgt werden wollte.14

10  Vgl. Gabriele Guerra: Gemeinschaft, Bund oder Kreis? Walter Benjamin liest Stefan George. In: Frank-Michael Kuhlemann, Michael Schäfer (Hg.): Kreise – Bünde – Intellektuellennetzwerke. Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation 1890–1960. Bielefeld 2017, S. 61–64. 11 Exemplarisch dafür steht Stefan Georges „Weihespiel“ Die Aufnahme in den Orden. In: Blätter für die Kunst 5 (1900/1901), S. 10–15. 12 Friedrich Wolters: Herrschaft und Dienst. Berlin 31923, S. 7. 13 Stefan George: Der Stern des Bundes. Berlin 1914. Genau so, dass es nämlich „nicht darauf ankommt, ob einer Katholik oder Protestant oder Jude sei oder gewesen sei, sondern nur, ob er zu ihm [George] und seinen Freunden gehöre“, hat auch Edgar Salin die Haltung Georges gegenüber jüdischen Kreismitgliedern wie ihn selbst aufgefasst. Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis. Düsseldorf, München 21954, S. 244. Danke an Andree Michaelis-König für den Hinweis auf dieses Zitat. 14 Kai Kauffmann: Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze. In: Achim Aurnhammer u. a. (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Berlin, Boston 2012, S. 42.

5.2. Juden im George-Kreis

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Zugleich aber war der George-Kreis Ausdruck eines radikalen „Afamilianismus“, wie der Soziologe Stefan Breuer den Männerbund nennt, der sich in bewusster Abgrenzung zur bürgerlichen Familie konstituiert.15 Deshalb waren die Mitglieder des Kreises keine ‚Söhne‘, sondern ‚Freunde‘. Es ist nicht der ‚Vater‘, sondern der ‚Meister‘, der die ‚Jünger‘ in einer anarchischen Welt der Bindungslosigkeit vereint und als Gemeinschaft zusammenhält. Was bei Federn die „vaterlose Gesellschaft“ war, ist bei George wie Wolters das „führerlose volk“ und die „herrschaftslose gesellschaft“ – die Diagnose nach den Verheerungen war also auf der Linken und auf der Rechten identisch, lediglich die Kur war unterschiedlich, ja gegensätzlich. Die demokratische Republik sahen die Georgianer als Ausdruck des Verlustes authentischer Souveränität. Nach der Revolution, die im Namen von Freiheit und Gleichheit alle wahre Herrschaft geopfert habe, „fliesst [die lebendige flut] aus den Ebenen des Reiches zur mitte zurück“, wo sie auf die „wiedergeburt“ der Herrschaft warte.16 Der George-Kreis sah sich selbst folglich als Statthalter der untergegangenen Ordnung, die, um wieder auferstehen zu können, von ihren Propheten sorgsam umhegt und geschützt werden musste. „Doch an das gewölbe der not hallt dann lauter der schrei nach neuer Herrschaft, und wenn sie kommt, erfahren die verzweifelten geister wieder das wunder des unmöglich-gedachten.“17 Im Geiste dieser Erwartung achtete der George-Kreis auf die strikte Abgrenzung nach außen, um nicht durch Verunreinigung des Geistes die Wiederkunft der Herrschaft zu gefährden. Und genau hier kommt die Freundschaft ins Spiel, ist der Bürger des imaginären Reiches doch wesentlich ein Freund, der sich von der profanen Außenwelt absondert, indem er freund vom freunde, feind vom feinde scheidet, dem verbundenen weich, dem fremden hart wird und für das was ist und das was wird keine andere wahrheit kennt, als die im Reiche wirkt und wirken fordert, bis alle kräfte des lebens sich zu einem sprühenden wechselstrom von Herrschaft und Dienst vereinen“.18

Georges Lockruf erschallte und zog all diejenigen, die der alten Ordnung hinterher trauerten, aber zugleich mit ihren Trägern haderten, in den Bann: „Und leidest du am zagemut der väter […] So komm zur stätte wo wir uns verbünden!“19 Es war der aus einer angesehenen jüdischen Bankiersfamilie aus Darmstadt stammende Schriftsteller und Übersetzer Karl Wolfskehl gewesen, der den Impuls gegeben hatte, den Kreis in einem existenziellen Sinne als Freundschaftszirkel zu gestalten. In einem Brief an Gundolf vom April 1899 schrieb er: „Von kleins15 Stefan Breuer: Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945. Darmstadt 2001, S. 255–259. 16 Wolters: Herrschaft und Dienst, S. 9. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 61. 19 Stefan George: [verweilst du in den traurigen bezirken]. In: Ders.: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. Berlin 1899, [S. 15].

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ten Zentren gehet das Heil aus, der innere Ring […] ist der Grund des Lebens. Wer aber allein lebt kann […] nie in Wahrheit befruchten.“20 Zwar ist fraglich, ob Wolfskehls Idee des „kleinsten Zentrums“ vom jüdischen chevruta-Konzept beeinflusst war, aber die Ähnlichkeit ist dennoch frappierend.21 Wie die Jeschiwa einen rosh, also einen „Kopf “ oder „Leiter“ hat, der das Thema in einem täglichen (shi’ur jomi) oder wöchentlichen Vortrag (shi’ur k’lali) vorgibt, das dann zu zweit in einer chevruta diskutiert wird, so zergliedert sich die um den ‚Rav‘ George sich scharende Gemeinschaft in „kleinste Zentren“.22 Die gemeinsame Ausrichtung auf den Meister wurde somit durch kleinere, bipolare Einheiten ergänzt. Jeder Einzelne hatte eine vertikale Beziehung zu George, die durch eine Vielzahl an horizontalen Verbindungen sekundiert wurde. Der Kreis, der sich um ein Zentrum dreht, ist somit eigentlich ein unvollständiges Bild, da in ihm die Beziehungen der Jünger untereinander ausgeblendet werden. Der George-Kreis ähnelte strukturell eher einer Konstellation, zumal nicht alle Jünger dem Meister gleich nah standen. „Wie Planeten um einen Fixstern“, so der Literaturwissenschaftler Christoph Perels, „kreisen die Freunde in wechselnden Konstellationen um das Zentrum, den Dichter und Lebenslehrer Stefan George.“23 Von Anfang an war Freundschaft ein wichtiges Element des George-Kreises gewesen, aber erst mit dem Stern des Bundes, Ende 1913 mit der Widmung „Gedacht für freunde des engern bezirks“ fertiggestellt, wurde sie zum zentralen Topos.24 Gleichwohl blieb der Begriff der „Freundschaft“, der in der Korrespondenz des Kreises schon fast inflationär gebraucht wurde, merkwürdig unbestimmt. Er bezeichnete zwar die persönlichen Beziehungen der Mitglieder untereinander, sobald diese aber inhaltlich im Sinne der Politik des Bundes be20 Karl Wolfskehl an Friedrich Gundolf, 12. November 1900. In: Karl und Hanna Wolfskehl: Briefwechsel mit Friedrich Gundolf 1899–1931, Bd. 1. Hrsg. v. Karlheinz Kluncker. Amsterdam 21977, S. 85. 21 Chevruta ist das aramäische Wort für „Freundschaft“, „Kameradschaft“, das mit dem Hebräischen chaver (Freund, Genosse) verwandt ist. Im Kontext der Jeschiwot bezeichnet es Lerngemeinschaften von Talmudstudenten. Das Konzept des Lernens zu zweit geht maßgeblich auf einen Vers aus den Sprüchen Salomos zurück, wo es heißt: „Eisen wird an Eisen geschärft; so schärft einer den Charakter des andern.“ (Sprüche 27, 17) Der Talmud legt diese Stelle dann so aus: „Wenn Torahstudenten zusammen lernen, schärfen sie aneinander die Halacha.“ bT Ta‘anit 7a, 8. 22 Die Unterscheidung zwischen chaver und rav – also zwischen Freund/Studienpartner und Meister/Lehrer – ist unter anderem festgehalten im Traktat Pirkej Avot (1, 6), wo es heißt: „Mach dir einen Mentor [rav] und erwirb dir einen Freund [chaver].“ Siehe auch bT Berachot 63b, 12. 23 Christoph Perels: Robert Boehringer, Stefan Georges Erbe und Gründer der Stefan George Stiftung. In: Ders. (Hg.): Fünfzig Jahre Stefan George Stiftung 1959–2009. Berlin, New York 2009, S. 17. 24 Carola Groppe: Freundschaften mit Auftrag und Gefährdung: Im George-Kreis. In: Andree Michaelis-König, Erik Schilling (Hg.): Poetik und Praxis der Freundschaft (1800–1933). Heidelberg 2019, S. 184 f. verweist zurecht auch auf die von Gundolf und Wolters verfasste Einleitung zum dritten Band des Jahrbuchs für die geistige Bewegung aus dem Jahr 1912, insbesondere den mit Freundschaftskult betitelten Abschnitt.

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stimmt wurden, griff man eher auf den des „Jüngertums“ und der „Gefolgschaft“ zurück, sinnigerweise auch auf den der „Bruderschaft“. In dem kurzen, aber luzide formulierten Essay Gefolgschaft und Jüngertum legte Georges „erster Sohn“ und engster Freund Friedrich Gundolf, der aus einer jüdischen Kaufmanns- und Akademikerfamilie kam, in den hauseigenen Blättern für die Kunst die Gemeinschaftsvorstellung des Kreises dar.25 Der Kreis diene einem „geheimen gesetz“, nämlich der „Umbildung der seelen“. Dies sei notwendig, weil die gegenwärtige Gesellschaft nur noch im Egoismus und Materialismus versinke, vom wahren Geist aber nichts mehr wissen wolle. Weil die Menschen nur noch „fasernbündel aus lockern empfänglichkeiten und begehrlichkeiten sein wollen“, so Gundolf, müssten sich alle, die sich „rückhaltloser hingabe“ an den Meister verschrieben hätten, als verschworener Kreis dem Zeitgeist entziehen. Es gebe heute „schulen statt klicken [cliquen] · statt der jünger snobs · statt der bünde und bruderschaften vereine und klüngel“. Daher sei es die Aufgabe der Eingeweihten, die Wiederaufrichtung der Herrschaft durch eben jene partikularen Gemeinschaften vorzubereiten. Das schrieb Gundolf bezeichnenderweise schon 1909, also vor dem Krieg, genau wie Wolters seinen programmatischen Text. Der George-Kreis schien als avantgardistischer Zirkel den Untergang der Ordnung vorauszuahnen, ja, vielleicht sogar herbeizusehnen, denn nur der defensive Charakter der „Reaktion“ vermochte in der Feinderklärung gegen Snobs und Klüngel innere Einheit zu stiften. Das sahen die Mitglieder des Kreises selbst natürlich anders. Die Form der Gemeinschaft orientiere sich weder nur am Zweck noch sei sie wesentlich oppositionell. Auch der elitäre Charakter sei nur für die „unechten anhänger“ Motiv, sich dem Kreis anzuschließen. Ausschlaggebend für die echten Jünger sei, Gundolf zufolge, die Liebe zum Meister: Wem der führer nur die sache vertritt der hat ihn nicht begriffen: wem er nur eine person ist der kann ihm nicht dienen. Wessen sehnsucht nach einem Ewigen in diesem sterblichen menschen und dem wort das er bringt erfüllt wird · wer in ihm grenzenlosen gehalt begrenzte gestalt werden sieht und wem dieser meister unersetzbar ist der darf sich jünger nennen.26

Mit anderen Worten: Gundolf stilisierte George zum göttlichen Wesen in Menschengestalt; dass er dessen Gefolgschaft „Jünger“ beziehungsweise „Brüder“ nennen musste, wie die Gefolgsleute Jesu, leuchtet ein.27 Gundolf selbst stellt 25 Friedrich

Gundolf: Gefolgschaft und Jüngertum. In: Blätter für die Kunst 8 (1908/1909), S. 106–112. Gundolfs Vater war Mathematiker, kam aber selbst aus einer Kaufmannsfamilie, genauso wie Gundolfs Mutter. Zur Rolle als „erster Sohn“ siehe Kauffmann: Das Leben Stefan Georges, S. 43–47. 26 Gundolf: Gefolgschaft und Jüngertum, S. 109. 27 Jesu engster Zirkel bestand bekanntlich aus seinen „Jüngern“, also „Schülern“ (mathētai), die zugleich Anhänger sind; in der Bergpredigt (Matthäus 5–7) dagegen verwendet der Evangelist kontinuierlich den Begriff des „Bruders“ (adelfós) für den Mitmenschen.

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Georges Jüngerschaft explizit in diese Tradition und betont, dass Jesu Anhänger „erfüllter und fruchtbarer in der welt geworden [seien] als all die soviel begabteren Sophisten der Juden und Heiden“, weil sie gewusst hätten, „dass sie nur stoff und mittel sind“, und wieder gelernt hätten, sich für ihre Ideale zu opfern. Das Opfer für den Führer und die Auslöschung des Ich im Kollektiv der Jüngerschaft bildeten letztlich die Quintessenz des George-Kreises: „Wo sie die Notwendigkeit erkennen da löschen sie gern ihr Ich aus und freuen sich brennstoff zu sein für die höhere flamme.“28 Die radikale Kritik des bürgerlichen Individualismus, die den Einzelnen als „menschlein“ und „eintagsfliege“ verhöhnte, bereitete die Schützengrabenideologie des Weltkriegs vor und stimmte die Anhänger bereits auf das Opfer ein. Das Jüngertum des George-Kreises ähnelte nicht zufällig der soldatischen Kameradschaft. Nach 1918 sprachen solche Vorstellungen vor allem jene an, die die Sinnlosigkeit des Krieges nicht wahrhaben wollten und immer noch glaubten, für eine höhere Sache in die Schlacht gezogen zu sein. Der Historiker Ernst Kantorowicz beispielsweise, der 1895 als Sohn eines jüdischen Spirituosenfabrikanten in Posen geboren worden war, als Kriegsfreiwilliger in Verdun gekämpft und sich nach dem Ersten Weltkrieg einem rechtsradikalen Freikorps zur Niederschlagung des Berliner Spartakusaufstandes und der Münchner Räterepublik angeschlossen hatte, stieß 1919 in Heidelberg zum George-Kreis. Wenn der „Meister“ sich in Heidelberg aufhielt, wohnte dieser bei Kantorowicz, doch eine ungleich intimere Beziehung pflegte Kantorowicz zu seinem „Tischgenoss’ und Bettgespiel“ Woldemar Graf Uxkull-Gyllenband, einem weiteren Mitglied des Kreises, mit dem er seit Herbst 1920 für mehrere Jahre zusammenlebte.29 Gegenüber George stellte Kantorowicz 1924 Uxkull als seinen besten Freund dar, mit dem er „seit der ersten Stunde wirklich absolut glücklich“ gewesen sei.30 Dieses Empfinden beruhte auf Gegenseitigkeit, obwohl sich Uxkull schon in den zwanziger Jahren antisemitisch äußerte. Zum für Kantorowicz einschneidenden Bruch kam es erst 1933, als Uxkull vor Tübinger Studenten die Machtübernahme der Nationalsozialisten öffentlich als politische Verwirklichung der Ideen Georges feierte.31 Dabei war ihm Uxkulls Schlussfolgerung zunächst keineswegs völlig fremd und unverständlich gewesen. Im Gegenteil: Wie Saul Friedländer gezeigt hat, hoffte Kantorowicz selbst noch im Juli 1933 in einem Brief an George, „das neue Deutschland möge die Erfüllung 28 Ebd.,

S. 111. Robert E. Lerner: Ernst Kantorowicz. A Life. Princeton, Oxford 2017, S. 90. 30 Ernst Kantorowicz an Stefan George, 31. Oktober 1924, zitiert nach Eckhart Grünewald: „Übt an uns mord und reicher blüht was blüht!“ Ernst Kantorowicz spricht am 14. November 1933 über das „Geheime Deutschland“. In: Robert L. Benson, Johannes Fried (Hg.): Ernst Kantorowicz. Stuttgart 1997, S. 63. 31 Vgl. Woldemar Graf Uxkull-Gyllenband: Das revolutionäre Ethos bei Stefan George. Tübingen 1933. 29 Vgl.

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der Träume seines ‚Meisters‘ sein“.32 Dafür müsse man gegebenenfalls auch persönliche Opfer bringen: „[D]ann ist es gleichgültig, ob der einzelne auf diesem Weg mitschreiten kann  – vielmehr darf  – oder, statt zu jubeln, beiseite tritt. ‚Imperium transcendat hominem‘, erklärte Friedrich II, und ich wäre der letzte, der hier widerspräche.“33 Als Jude durfte er nicht „mitschreiten“, das wurde in den folgenden Monaten immer deutlicher. Dass er dann doch nicht, wie noch gegenüber George angekündigt, „den amor fati aufbringen“, sondern im November 1933 das nationalsozialistische Regime in seinem Vortrag Das Geheime Deutschland offen kritisieren würde, gleichsam als Antwort auf Uxkulls Tübinger Rede, liegt wohl vor allem daran, dass die Nationalsozialisten sich mit dem ‚Beiseitetreten‘ bekanntlich nicht zufriedengaben.34 Wie existenziell und radikal die Feinderklärung des neuen Deutschland an die Juden ausfallen sollte, hatte Kantorowicz nicht erwartet. Dass Gundolfs begeisterte Forderung, der einzelne solle sich freudig als „brennstoff für eine höhere flamme“ zur Verfügung stellen, auf zynische Weise wahr werden würde, hatte er nicht ahnen können. Bis zuletzt hatte Kantorowicz geglaubt, als Deutschnationaler mit dem Strom statt gegen ihn zu schwimmen. Doch bald schon störten nationalsozialistische Studenten seine Vorlesungen, im November 1934 wurde er schließlich aufgrund seiner ‚jüdischen Rassezugehörigkeit‘ zwangsemeritiert. 1938 emigrierte Kantorowicz über Oxford in die USA, wo er als angesehener Mediävist der University of California in Berkeley den Holocaust überlebte. Der Kontakt zu seinem jahrelangen engsten Freund und Vertrauten Uxgull  – der 1939 bei einem Autounfall starb  – war über das Zerwürfnis abrupt abgebrochen. Dies sollte für Kantorowicz, wie sein Freund Edgar Salin berichtet, ein Trauma werden, von dem er sich nie mehr ganz erholen würde.35 Die gescheiterte Freundschaft verdeutlicht, wie prekär die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in dem durchaus als rechtskonservativ bis rechtsradikal zu charakterisierenden Intellektuellenzirkel war. Die Offenheit gegenüber jüdischen Mitgliedern war stets von antisemitischen Gegentönen begleitet gewesen. Mit dem Aufstieg Hitlers erwuchs dem George-Kreis und anderen nationalkonservativen Gruppierungen mächtige Konkurrenz, so dass es im Sinne einer Anpassungsleistung zu einer Radikalisierung gerade des Antisemitismus kam. Diese Entwicklung trug dazu bei, dass die jüdischen Mitglieder des 32 Saul Friedländer: Historiker in extremer Lage. Ernst Kantorowicz und Marc Bloch im Angesicht des Holocaust. In: Ders.: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte. Göttingen 2007, S. 84. 33 Ernst Kantorowicz an Stefan George, Juli 1933. Zitiert nach ebd. 34 Ernst Kantorowicz: Das Geheime Deutschland. Frankfurt am Main 1933. 35 Zitiert nach Michael Philipp: „Im Politischen gingen halt die Dinge anders“. Die Thematisierung des ‚Jüdischen‘ im George-Kreis vor und nach 1933. In: Gert Mattenklot u. a. (Hg.): „Verkannte brüder“? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundertwende und Emigration. Heidelberg u. a. 2001, S. 43.

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5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel

George-Kreises Anfang der dreißiger Jahre, vor allem nach dem Tod Georges im Dezember 1933, immer weiter isoliert wurden und einst enge Freundschaften zerbrachen.36 Der Freundschaftsgedanke des Kreises, der immer schon reaktionäre Tendenzen barg und eher im Sinne einer auf den sakralisierten Vaterersatz George ausgerichteten Bruderschaft verstanden wurde, verschmolz immer mehr mit der Ideologie der arischen Volksgemeinschaft; dass Hitler nach Georges Tod bei so manchem einstigen Jünger an dessen Stelle treten konnte, ist wenig überraschend. Es ist daher auch kein Zufall, dass sich zahlreiche Georgianer dem NS-Regime anschließen sollten.37 Der Bildhauer und Kunsthistoriker Ludwig Thormaehlen etwa, der die neuen Machthaber frenetisch begrüßte, schrieb in diesem Sinne bereits Ende 1934 an den ebenfalls dem Kreis angehörenden Lyriker Robert Boehringer: Ich wünsche zweien unserer nicht-deutschstämmigen Freunde, jetzt, wo d. M. [der Meister] nicht mehr da ist, eigentlich, gerade, weil ich sie liebe, ein baldiges und unerwartetes Ende, damit, was sie Gutes leisteten und taten, nicht geschmälert werde, und wir nicht eines Tags gezwungen sind, gegen sie einzuschreiten.38

Auch der Germanist und Dichter Ernst Bertram, der Psychiater und Philosoph Kurt Hildebrandt und der Archäologe Ernst Boehringer traten der NSDAP bei. Der Freundschaftskult des George-Kreises war in vielerlei Hinsicht sowohl bizarr als auch originell. Seine enge Verbindung zur Homosexualität und zur Knabenliebe ließen ihn Zeitgenossen suspekt erscheinen, vor allem der elitäre Ästhetizismus aber zog lange Zeit auch jene an, die dem Kreis politisch feindlich gegenüberstanden.39 Es war gerade die Mystik der Gemeinschaft, von der ein faszinierender Zauber ausging. Sich einem Kreis von Eingeweihten bedingungslos anzuschließen und dafür alle profanen Beziehungen zu lösen, ja, das ganze Leben auf den Meister als Verkörperung des Geistes auszurichten, begeisterte viele junge Intellektuelle, die nach einem Ersatz für den fraglich gewordenen Lebensweg der Eltern suchten. Und dies galt in besonderem Maße für jüdische Intellektuelle, wie zwei weitere Beispiele verdeutlichen mögen.

36 Zum Nachleben des Kreises vgl. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München 2009. 37 Vgl. Michael Petrow: Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im „Dritten Reich“. Marburg 1994. 38 Ludwig Thormaehlen an Robert Boehringer, 5. Dezember 1934. Zitiert nach Philipp: „Im Politischen gingen halt die Dinge anders“, S. 47. 39 Vgl. dazu Marita Keilson-Lauritz: Von der Liebe, die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges. Hamburg 1987. Ein zeitgenössischer Kritiker der Homosexualität des Kreises war Rudolf Borchardt: Intermezzo [1910]. In: Ders.: Prosa I. Hrsg. v. Gerhard Schuster. Stuttgart 2002, S. 107.

5.3. Oskar Goldbergs „Philosophische Gruppe“

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5.3. Oskar Goldbergs „Philosophische Gruppe“ Anders als der Kreis um Stefan George waren die Zirkel, die sich nach dem Ersten Weltkrieg um den Religionsphilosophen Oskar Goldberg (1881–1953) in Berlin und den orthodoxen Rabbiner Nehemia Anton Nobel (1871–1922) in Frankfurt bildeten, explizit jüdisch. Der Zirkel um Goldberg, der sich im erweiterten Kreis „Philosophische Gruppe“ nannte und öffentliche Diskussionsabende veranstaltete, war so etwas wie die jüdische Entsprechung des GeorgeZirkels und es kann nicht erstaunen, dass eine ihrer zentralen Figuren, der Philosoph Erich Unger (1887–1950), sich schon früh mit den George-Anhängern auseinandersetzte.40 Denn ungeachtet aller Polemik Ungers – er behauptete, „der um George darf nicht lachen“ – lebte auch der Goldberg-Kreis von der besonderen Aura des Meisters, auch für ihn war die Unterscheidung in Eingeweihte und Außenstehende ein entscheidendes Charakteristikum.41 Sie alle hätten Goldberg „als unseren Lehrer und ausserordentlichen Menschen respectiert[ ] und mehr oder minder verehrt[ ]“, erinnerte sich in den fünfziger Jahren Tamara Fuchs, die neben dem Wirtschaftswissenschaftler Adolf Caspary (1898–1953), dem Schriftsteller Wilhelm Simon Ghuttmann (1891–1990), dem Philosophen Ernst Fraenkel (1881–1957), dem Arzt Joseph Markus (1886–1961), Lilly Unger (1891–1988) und besonders Erich Unger zum innersten Zirkel gehört hatte.42 Noch mehr als der George-Kreis galten die Goldbergianer Außenstehenden als esoterische Gemeinschaft, deren Existenz zwar niemandem, der sich als Intellektueller im Berlin der zwanziger Jahre bewegte, verborgen bleiben konnte, der anzugehören aber nur einer kleinen Elite vorbehalten war. Dabei war Goldberg durchaus prominent: „In den Kreisen der modernen und hypermodernen Schriftsteller und Künstler der Kaffeehäuser oder Klubs im Berliner Westen, in denen die expressionistische Bewegung entstand, war er der Jude schlechthin“, erinnert sich Gershom Scholem.43 Auch bei dem Dadaisten Hans Richter, der Goldberg eine „dämonische Erscheinung“ nannte, bei Walter Benjamin, der ihn den „Zauberjuden“ taufte, und Thomas Mann, der ihm im Doktor Faustus mit der Figur des Chaim Breisacher ein literarisches Denkmal setzte, hinterließ Goldberg einen nachhaltigen Eindruck. Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Robert Musil und Karl Korsch gehörten zu seinen Zuhörern, aber wirklich nahe kam 40 Erich Unger: Vom Pathos. Die um George [1910]. In: Ders.: Vom Expressionismus zum Mythos des Hebräertums. Schriften 1909 bis 1931. Hrsg. v. Manfred Voigts. Würzburg 1992, S. 8–11. 41 Karl Wolfskehl hat umgekehrt Goldbergs Buch sehr aufmerksam gelesen, wie die Anstreichungen und Kommentare in seinem Handexemplar zeigen. DLA Marbach, G:Wolfskehl, Karl (Virtuelle Rekonstruktion des Bücherbestandes). Siehe auch Manfred Voigts: Oskar Goldberg. Der mythische Experimentalwissenschaftler. Ein verdrängtes Kapitel jüdischer Geschichte. Berlin 1992, S. 216–221. 42 Tamara Fuchs an Jacob Taubes, 3. April 1954 (Nr. 15). In: Manfred Voigts (Hg.): Jacob Taubes und Oskar Goldberg. Aufsätze, Briefe, Dokumente. Würzburg 2011, S. 52. 43 Scholem: Von Berlin nach Jerusalem, S. 182.

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5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel

ihm nur eine kleine Gruppe jüdischer Intellektueller, auf die er „fast magnetische Kraft“ ausübte, „die seine Anhänger waren und ihn im Besitz authentischer Offenbarungen wähnten“.44 Oberflächlich betrachtet, hatte Goldbergs Weltanschauung mit dem Kult der Freundschaft wenig zu tun. Die wichtigsten Kategorien seines theologisch-philosophischen Systems, das strikt antiindividualistisch war, lauteten „Volk“ und „Rasse“, „Gott“ und „Ritual“. In seinem Hauptwerk Die Wirklichkeit der Hebräer, 1925 veröffentlicht, aber teilweise bereits vor dem Ersten Weltkrieg entstanden, entwarf Goldberg eine krude Geschichtstheorie, gemäß der die verschiedenen Götter („Elohim“) versucht hätten, den Menschen zu schaffen, was aber nur „Elohim IHWH“ als höchstem, weil überlegenem Gott mit „Adam kadmon“ (ursprünglicher Mensch) gelungen sei. Die übrigen Versuche seien gescheitert, aus ihnen lediglich die Tierarten hervorgegangen. Erst mit der Sintflut seien Adams Nachkommen in die drei ursprünglichen Menschenrassen Ham, Sem und Japhet aufgeteilt worden, aus denen im Laufe der weiteren Entwicklung die Völkerschaften entstanden seien. Ein richtiges Volk, so Goldstein, zeichne sich durch die Verbindung von biologischer Abstammung und nationaler Gottheit aus, weshalb er die Welt als ethnoreligiöse Vielheit von Völkern und den dazugehörigen Göttern deutete. Je mehr sich die Völker von ihren Göttern entfernt hätten, desto mehr lösten sie sich in Einzelne als „Trümmer“ oder „Zerfallsprodukte“ der Völker auf.45 Der moderne Individualismus war somit gewissermaßen der letzte aus den Ruinen einst prächtiger Tempel herausfallende Stein. Um die Tempel dereinst wieder zu errichten, müssten sowohl der Individualismus als auch die „Fixation“ überwunden werden, Goldbergs Bezeichnung für die Anerkennung von Naturgesetzen. Die moderne Technik beherrsche nur scheinbar die Natur, denn Gott sei weiterhin wirksam in der Welt und es gälte nun, der göttlichen Metaphysik wieder zum Sieg über bloße Natur zu verhelfen. Interessant ist nun, inwiefern Goldberg dem Judentum einen Sonderstatus einräumte, der seiner Anhängerschaft das Gefühl einer besonderen Verbundenheit vermitteln konnte. Er unterschied zwischen den alten Hebräern, die noch ein „richtiges Volk“ gewesen seien und nationale Gottheiten angebetet hätten, und den nach-abrahamitischen Israeliten, die als einziges Volk der Welt am Berg Sinai die Torah von Gott angenommen hätten: Die Hebräer sind […] ursprünglich ein Volk wie alle anderen Völker. […] Die Hebräer besitzen ursprünglich ein Abstammungszentrum, einen Elohim der endlichen Wirklichkeit. Da sich nun von dem Elohim IHWH nicht im Sinne eines endlichen biologischen Zentrums „abstamen“ [sic!] läßt, da er vorbiologisch ist, das heißt aus der vorweltlichen Sphäre und der unendlichen Wirklichkeit herkommt, so ist das Verhältnis des Elohim 44 Ebd.

45 Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer. Einleitung in das System des Pentateuch. Berlin 1925, S. 141.

5.3. Oskar Goldbergs „Philosophische Gruppe“

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IHWH zum Volke Israel ausdrücklich ein solches, das auf einem Wahlakt beruht. Damit hängt der Begriff der Verbündung (Brit) zusammen, der ein typisch israelitischer ist.46

Anders als alle anderen Völker also beruhe die Gemeinschaft der Juden mit Gott auf einer freien Entscheidung. Die Juden seien wesentlich keine Bluts-, sondern Wahlverwandte. „Denn mit dem Abstammungszentrum braucht man keinen ‚Bund zu schließen‘, mit dem ist man eo ipso verbunden; sich verbünden muss man dort, wo kein natürliches Verhältnis besteht.“47 Dass das Judentum in diesem Sinne etwas „völlig Widernatürliches“ sei, eine geradezu revolutionäre „Neugründung“, stand für Goldberg außer Zweifel. Der Gedanke des bewussten und freiwilligen, gegen die naturhafte Abstammungsgemeinschaft gerichteten Bundesschlusses bildet das Zentrum von Goldbergs eigenwilliger Konzeption, die geschickt naturwissenschaftliche, bibelexegetische, okkulte und mystische Elemente miteinander verwob. Und diese Gemeinschaftsvorstellung ähnelte frappierend dem Modell eines Freundschaftsbundes, dem man nicht etwa unwillkürlich aus ethnischer oder familiärer Fügung angehörte, sondern aus freien Stücken. Es liegt nahe, Goldbergs Entwurf auch als Antwort auf den Zionismus zu lesen, der ja zur selben Zeit die Idee der jüdischen Nationalität als einer Abstammungsgemeinschaft propagierte. Aber auch zum bürgerlichen Judentum, das sich lediglich als Glaubensgemeinschaft definierte, ging Goldberg auf Distanz, da es „fixiert“ sei und im Banne der Technik jeglichen metaphysischen Sinn verloren habe. Sein Programm war das einer Rückkehr zum Ritual, „um einen neuen Durchbrechungsakt, eine neue Offenbarung vorzubereiten“.48 Diese doppelte Frontstellung gegen Zionismus und Assimilation, die zwar mit dem orthodoxen Judentum sympathisiert, aber auch dieses für einen Abfall vom wahren „Urjudentum“ kritisiert, wird noch deutlicher in seiner scharfen Abrechnung Maimonides. Kritik der jüdischen Glaubenslehre aus dem Jahr 1935. Auch hier steht der ‚Freundschaftsbund‘ zwischen Gott und seinem Volk im Zentrum: „Das Volk ist die Entsprechung des göttlichen Organismus. Beide zusammen – Gott und Volk – bilden die Brit, den Bund, das heißt ein System der Wechselwirkung. Beide wirken im Ritual zusammen, um ein Wirklichkeitssystem höherer Ordnung zu schaffen.“49 Goldbergs mystische Interpretation des Rituals setzt voraus, dass Gott und Volk auf derselben Ebene miteinander kommunizieren können. Sie sind Freunde, we-diber adonai el-mosheh panim el46 Ebd.,

S. 87. S. 88. 48 Oskar Goldberg: Religion ehemals und heute [1938]. In: Voigts: Jacob Taubes und Oskar Goldberg, S. 17. 49 Oskar Goldberg: Maimonides. Kritik der jüdischen Glaubenslehre [1935]. In: Ders.: Zahlengebäude, Ontologie, Maimonides und Aufsätze 1933 bis 1947. Hrsg. v. Manfred Voigts. Würzburg 2013, S. 179. 47 Ebd.,

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5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel

panim, ka’asher jidaber ish el-re’ehu: „Und Gott sprach zu Moshe von Angesicht zu Angesicht, wie man zu seinem Freund spricht.“50 Ist die Annahme der Torah am Berg Sinai das ursprüngliche Ritual, das aus den Hebräern Israeliten macht und damit dem Wirklichkeitssystem („System des Pentateuch“) höherer Ordnung Geltung gegenüber der bloßen Natur verschafft, so muss auch das erneuerte Ritual ein Zusammenwirken von Gott und Volk sein. Wie genau sich Goldberg die Wiederholung des Sinai-Ereignisses vorstellte, blieb offen. Aber die Betonung des Rituals hat auf Außenstehende den Eindruck hervorgerufen, es mit einer obskuren Kultgemeinschaft zu tun zu haben. Zum einen dienen Rituale seit jeher dazu, die eigene Gemeinschaft von der Umwelt abzugrenzen, zum anderen führte gerade die Tatsache, dass Goldbergs Ritualbegriff so nebulös blieb, dazu, dass seine Lehre als geheimnisvoll und mysteriös erschien.51 Zwar lebte Goldberg, der von seinem Großvater streng religiös erzogen worden war und die orthodoxe Veitel-Heine-Ephraimsche Lehranstalt besucht hatte, zeitlebens streng nach der Halacha, aber von der Einhaltung der Mitswot ist in seinem Werk kaum die Rede. Stattdessen stehen ominöse „Reinheitsrituale“ im Vordergrund, die bezeichnenderweise nicht mit den Speisegesetzen (Kashrut) und nur teilweise mit den Gesetzen zur sexuellen Reinheit (Taharat ha-Mishpachah) verbunden werden, sondern hauptsächlich rassehygienischen und eugenischen Überlegungen folgen.52 Goldberg verstrickte sich in verästelte genealogische Ableitungen der Vermischung israelitischer Stämme mit Nichtisraeliten und versuchte sogenannte „Gefahrenherde“ für die einzelnen israelitischen Stämme auszumachen, ohne dabei „Mischehen“ konsequent abzulehnen. In einer scharfen Entgegnung auf Gershom Scholem, der eine Art Intimfeind des Kreises war und in Publikationen gelegentlich seinen Spott über diesen ausgoss, definierte Goldbergs engster Freund und Bundesgenosse Erich Unger den Begriff des Rituals: „Das Ritual“, erklärte er, ist eine biologische Technik, welche auf Grund eines die Urzeit des Lebendigen charakterisierenden biologischen Tatbestandes – nämlich eines lebensgesetzlichen Verbundenseins von Individuen, die ethnisch bedingt ist – die Steigerung der Lebenserscheinungen zum Ziel hat. Wie es von hier aus, von diesem Beginnpunkt der Steigerung des empirischen Seins aus in die Regionen der mythischen Wirklichkeit und ihrer Wesenheiten fortgeht, das kann in diesem beengten Zusammenhang auch nicht einmal angedeutet werden, denn es handelt sich um die Beschreibung und Rekonstruktion einer ganzen Welt. Nur 50 Exodus

33, 11. Unterschied zwischen Sekte und Kult erklärt mit Bezug auf die zentrale Stellung des Rituals Catherine Bell: Ritual. Perspectives and Dimensions. Oxford, New York 22009, S. 205–207. 52 Goldberg unterscheidet zwischen 1. „Taharot und Tumot, das heißt die ‚Reinheits- und Unreinheits‘gesetze“, 2. „die Kippur-  – das heißt Ersatz  – Institution“ [er meint damit die Opfergesetze] und 3. „die Keduschah  – das heißt ‚Heraushebungsgesetze‘“. Goldberg: Wirklichkeit der Hebräer, S. 279. 51 Den

5.3. Oskar Goldbergs „Philosophische Gruppe“

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so viel soll hier angemerkt sein: Das Ritual hat keine abstrakt-moralische, sondern eine konkret-metaphysische Bedeutung: die Steigerung des biologischen Phänomenbereichs.53

Anstatt also zu präzisieren, welches Ritual die Goldbergianer praktizierten, machte Unger auf beredte Weise ein Geheimnis daraus („kann … nicht einmal angedeutet werden“) und beließ es bei vagen Verweisen auf „biologische Techniken“, die angeblich in höhere Regionen der „mythischen Wirklichkeit“ führten.54 In Verbindung mit Goldbergs seitenlangen Ausführungen über Vermischung und Reinhaltung lag es für den Außenstehenden nahe, dass es um Sexualrituale gehe. Ganz in diesem Sinne erkundigte sich der Religionsphilosoph Jacob Taubes (1923–1987), der ein besonderes Faible für das Geheimnisvolle und Häretische hatte, nach Goldbergs Tod bei Tamara Fuchs über „the concrete ‚realities‘ of the Berlin circle, which was, I suppose, not only a club for discussions. Is there any chance to know about the ‚ritual‘ of the group – my sense as historian of religion tells me, that in this circle more happened than one would ‚admit‘ in an ‚liberal‘ society – or am I totally wrong?“55 Taubes war sich sicher, dass die „Wirklichkeit der Hebräer“ – so seine Anspielung auf die ‚realities‘ des Berliner Kreises – in Wahrheit aus wilden Orgien bestand, wie sie aus der Geschichte der jüdischen Bewegung des Frankismus bekannt geworden ist. Der Pseudomessias Jakob Joseph Frank hatte im 18. Jahrhundert einen „Brüder- und Schwesternkreis“ um sich geschart, mit dem er im Geheimen sexuelle Libertinage und Rituale wie die „Heilige Ehe“ – eine gemäßigte Form des Gruppensex – praktizierte. Die neuere Forschung hat klargestellt, dass die obszönsten Berichte über angeblich durchgeführte Rituale nichts weiter als propagandistisch inszenierte Gerüchte waren, aber selbst wenn Taubes diese Forschungen schon gekannt hätte, würde er sie vermutlich angezweifelt haben.56 Zu groß war seine Faszination für die antinomistischen Praktiken jüdischer Häretiker. 53 Erich Unger: Der Universalismus des Hebräertums. Philosophie und Kabbalah dargestellt aus dem Gesichtspunkt der Goldbergschen Schrift „Die Wirklichkeit der Hebräer“. Eine Entgegnung auf G. Scholems „Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos“ [1929/1930]. In: Ders.: Vom Expressionismus zum Mythos des Hebräertums. Schriften 1909 bis 1939. Hrsg. v. Manfred Voigts. Würzburg 1992, S. 136. 54 1928 berichtet Walter Benjamin über eine „denkwürdige Debatte“ über das Ritual der Torah zwischen Unger und dem Esoteriker Erich Gutkind (1877–1965). Walter Benjamin an Gershom Scholem, 1. August 1928. In: Walter Benjamin: Briefe 1. Hrsg. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt am Main 1978, S. 481. 55 Jacob Taubes an Tamara Fuchs, undatiert (Nr. 4). In: Taubes und Goldberg, S. 35. Taubes hatte Goldberg 1938 in Zürich kennengelernt. Vgl. Jerry Z. Muller: Professor der Apokalpyse. Die vielen Leben des Jacob Taubes. Berlin 2022, S. 70 f. 56 Vgl. Klaus S. Davidowicz: Zwischen Prophetie und Häresie. Franks Leben und Lehren. Wien u. a. 2004, S. 37 sowie die Rekonstruktion des Wahrheitsgehaltes der Gerüchte bei Pawel Maciejko: The Mixed Multitude: Jacob Frank and the Frankist Movement, 1755–1816. Philadelphia 2011, S. 21–40.

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5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel

Von solchen Fantasien beflügelt, bat Taubes auch Isidor Hepner um Auskunft, ein weiteres Mitglied des Kreises, der allerdings nicht zur Kerngruppe gehört hatte. Der Kreis sei, so Taubes, „a more serious affair than [a mere] discussionclub. I am sure that ‚ritual‘ was involved – what kind? I am sure this will be a secret.“57 Doch Hepner wusste darauf nichts zu antworten. Als Tamara Fuchs Taubes erklärte, Hepner könne darüber gar nichts sagen, da er nie an den „Langweiligen Abenden“ teilgenommen habe, sondern höchstens an den öffentlichen Veranstaltungen der „Philosophischen Gruppe“, wurde Taubes stutzig: Es ging mir ein Licht auf, als Sie unterschieden zwischen der „Phil. Gruppe“ und den „Langweiligen Abenden“. […] Der Titel: „Langweilige Abende“ ist hoch von Interesse. Jetzt verstehe ich, wieso Menschen, die davon wussten, den Titel als euphemistische Fassade empfanden. […] Nun, dies Thema lässt sich nicht ohne Gefahr besprechen. Warum sollte, liebe Te Fuchs, es nicht möglich sein, dass an solchen „Abenden“ mehr gewagt wurde als die spiessbürgerliche Sitte gestattet?58

Taubes dachte an „kurzweilige orgiastische Episoden (Frauentausch etc)“ und behauptete derlei von Bekannten aus Jerusalem gehört zu haben, die in Berlin mit dem Goldberg-Kreis in Kontakt gestanden hätten.59 Doch Fuchs musste ihn enttäuschen: The L.[angweiligen A.[bende] were the most harmless evenings imaginable. It was pure relaxation which we all needed. […] We just lingered and spoke about a few things that interested us for the moment or made some dumb remarks or even jokes. […] We just had tea and pleasant talks.60

Also keine ausschweifenden Rituale. Und doch ist es nicht nur Taubes’ Faszination für Grenzüberschreitungen zuzuschreiben, dass dieser Eindruck nicht nur bei ihm, sondern auch bei Berliner Zeitgenossen Goldbergs entstanden war. Denn der Goldberg-Kreis eignete sich perfekt als Projektionsfläche für „antinomistische“ – und in diesem Fall hieß das vor allem: der bürgerlichen Moral widersprechende  – Begehren. Es war keineswegs nur das Charisma oder gar das philosophische System Goldbergs, das junge jüdische Intellektuelle anzog, sondern auch die spezifische Form der verschworenen Gemeinschaft, die er repräsentierte. So trivial die Gruppenabende in den Darstellungen Tamara Fuchs’, H. G. Adlers und anderer klingen, so wichtig ist es hervorzuheben, dass das entscheidende Kriterium, das die Teilnahme an den ‚Langweiligen Abenden‘ anziehend und erstrebenswert machte, ihre Exklusivität war. Es machte einen Unterschied, ob man sich dort aufhielt, wo alle waren – in den Kaffeehäusern und Wirtsstuben  –, oder im durch die Präsenz des Meisters geheiligten und vor neugierigen Blicken geschützten Raum. Dass Goldbergs und Ungers Phi57 Jacob

Taubes an Isidor Hepner, undatiert (Nr. 5). In: Taubes und Goldberg, S. 36. Taubes an Tamara Fuchs, undatiert (Nr. 12). In: Taubes und Goldberg, S. 44 f. 59 Jacob Taubes an Tamara Fuchs, undatiert (Nr. 16). In: Taubes und Goldberg, S. 54. 60 Tamara Fuchs an Jacob Taubes, 3. April 1954 (Nr. 15). In: Taubes und Goldberg, S. 50. 58 Jacob

5.3. Oskar Goldbergs „Philosophische Gruppe“

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losophie einen Jargon der Eingeweihten mitlieferte, der nicht für jeden Außenstehenden unmittelbar verständlich war, verstärkte diese Exklusivität noch. Und nicht zuletzt erzeugte Goldbergs Polemik gegen Zionisten, Assimilationisten und Orthodoxe auch noch ein diffuses jüdisches Zugehörigkeitsgefühl, das mit der Tradition der Eltern bis auf die negative Abgrenzung fast gar nichts mehr gemein hatte. In der Realität bestand die Gemeinschaft aus verschiedenen ‚Personenringen‘, die sich um Goldberg als Zentrum bewegten. Am nächsten stand Goldberg neben seiner Frau Dora (1892–1946), die die Kusine des Schriftstellers Kurt Hiller war, sein erster Schüler, intimer Freund und kongenialer Partner Erich Unger. Dem zweiten Ring, der mehr oder weniger regelmäßig an den ‚Langweiligen Abenden‘ teilnahm, gehörten, wie bereits gesagt, Lilly Unger, Caspary, Markus, Fraenkel, Ghuttmann, Fuchs und einige andere an.61 Der Historiker H. G. Adler (1910–1988), die Schriftstellerin Olga Katunal (1900–1988), der Philosoph Jacob Gordin (1896–1947) und viele andere bildeten den dritten Ring  – sie fühlten sich der ‚Philosophischen Gruppe‘ zugehörig und bildeten die Hauptgruppe bei den öffentlichen Veranstaltungen im Urania-Haus, zu denen – als viertem Ring – dutzende, wenn nicht hunderte jüdische wie nichtjüdische Interessierte kamen, obgleich viele von ihnen mehr die Neugier als wirkliche Sympathie angetrieben haben mag.62 Goldberg bildete selbst dann das Zentrum, das die verschiedenen Personengruppen vereinte, wenn er nichts sagte oder nicht einmal anwesend war. Die Diskussionen wurden weitgehend von Unger geleitet und während der sich bis in die Morgenstunden ziehenden ‚Langweiligen Abende‘, die meist in Goldbergs Haus stattfanden, verzog sich der Meister, der ohnehin früh schlafen ging, häufig in sein Arbeitszimmer. Gelegentlich kam er vorbei, sagte ein paar Worte oder schaute auch nur, aber er konnte sich darauf verlassen, dass sein „Geist“ in den Diskussionen der Gruppe permanent anwesend war. Er war der unbestrittene Führer der Gruppe und nur durch den kollektiven Bezugspunkt „Goldberg-Kreis“ wurden die verschiedenen Individuen als Gemeinschaft zusammengehalten. Goldberg entsprach damit genau jenem Typus, über den Nietzsche schreibt, er übe „eine Anziehungskraft auf sehr verschiedene Charaktere und Begabungen“ aus, „so daß er einen ganzen Kreis von Freunden gewinnt; diese aber kommen dadurch selber untereinander in freundschaftliche Beziehung, trotz aller Verschiedenheit.“63 Es war, als ob sie einen Bund, 61 Vgl. Voigts: Oskar Goldberg, S. 157. Voigts zählt Tamara Fuchs nur zur erweiterten Gruppe, aber ihre präzisen Kenntnisse der Vorgänge und ihre enge Freundschaft mit Lilly Unger auch noch im amerikanischen Exil sprechen meines Erachtens eine andere Sprache. In Tel Aviv wurde die Gruppe 1935 von Joseph Markus wiedergegründet und hielt bis zum Tod Ungers regelmäßig „Philosophische Abende“ ab. Vgl. dazu Judith Bakacsy: Paul Engelmann (1891–1965). Ein biographischer Versuch. Innsbruck 2003 (unveröffentlichte Dissertation), S. 121–130. 62 Vgl. dazu Peter Filkins: H. G. Adler. A Life in Many Worlds. Oxford 2019, S. 49–51. 63 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister [1878]. Stuttgart 1954, Aphorismus 368, S. 253.

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5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel

einen Brit, geschlossen hätten, der ihnen das Aufsteigen in höhere Sphären der mythischen Wirklichkeit gestattete. Nüchtern betrachtet handelte es sich beim Goldberg-Kreis allerdings lediglich um einen Freundeskreis, der, wie Tamara Fuchs Taubes sehr zu dessen Leidwesen berichtet hatte, zusammengesessen und sich entspannt, Witze erzählt und Tee getrunken habe. Das Besondere des Freundeskreises war, dass er nach außen und wohl auch dem Selbstverständnis nach so tat, als handele es sich um eine kultische, sakrale Gemeinschaft. Der ziemlich „profane“ Freundeskreis wurde, so könnte man sagen, von den nach Sinn suchenden Intellektuellen sakralisiert.

5.4. Nehemiah Anton Nobels Bund Auch der orthodoxe Rabbiner Nehemiah Anton Nobel (1871–1922) bildete das Zentrum eines Kreises, aber er war eine ganz andere Figur als Stefan George oder Oskar Goldberg.64 Zwar war auch er „von dem Geheimnis des mystischen Zaubers“ umgeben, wie sich der Frankfurter Reformrabbiner Caesar Seligmann erinnerte, aber seinem Wesen entsprachen Wärme, Offenheit und Herzlichkeit statt elitäre Unnahbarkeit.65 Als Rabbiner war er einzigartig, „ein neuer Typus“66, denn er vereinte vielfältige, bisweilen gegensätzlich scheinende Züge in einer Person. 1871 im ungarischen Nagyatád als Sohn des streng orthodoxen Rabbiners Josef Nobel geboren, wuchs er seit dem Alter von sechs Jahren in Halberstadt auf, dessen jüdische Gemeinde stark von dem (neben Samson Raphael Hirsch) wohl bedeutendsten Vertreter der modernen Orthodoxie, Esriel Hildesheimer, geprägt war, der selbst aus Halberstadt stammte. Anders als sein Vater, aber genau wie der „Doktorrabbiner“ Hildesheimer, entschied sich Nehemiah Nobel, das Grundprinzip der modernen Orthodoxie, torah im derech erets, das die Koexistenz von Torahstudium und weltlichen Wissenschaften vorsah, praktisch umzusetzen.67 Im Alter von 21 Jahren ging er nach Berlin, um Philosophie und Literaturwissenschaft an der dortigen Universität zu studieren sowie eine Rabbinerausbildung an Hildesheimers orthodoxem Rabbiner-Seminar zu absolvieren.68 1895 wurde 64 Die

Schreibweise seines Vornamens variiert. Sofern nicht explizit „Nehemias“ genannt wird, verwende ich hier die Variante „Nehemiah“. Zu seiner Biographie siehe ausführlich Rachel Heuberger: Rabbiner Nehemias Anton Nobel. Die jüdische Renaissance in Frankfurt am Main. Frankfurt am Main 2005. 65 Erwin Seligmann (Hg.): Caesar Seligmann (1860–1950). Erinnerungen. Frankfurt am Main 1975, S. 150. 66 Brenner: Jüdische Kultur, S. 66. 67 Hildesheimer hatte zunächst u. a. in der Jeschiwa Jacob Ettlingers in Altona studiert, dann an den Universitäten in Halle und Berlin Semitistik, Geschichte, Philosophie und Mathematik. Vgl. David Ellenson: Rabbi Esriel Hildesheimer and the Creation of a Modern Jewish Orthodoxy. Tuscaloosa, London 1990, S. 1. 68 Vgl. Rachel Heuberger: Orthodoxy versus Reform. The Case of Rabbi Nehemiah Anton Nobel of Frankfurt a. Main. In: Leo Baeck Institute Year Book 37 (1992), S. 47.

5.4. Nehemiah Anton Nobels Bund

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er von Hildesheimer zum Rabbiner ordiniert und schloss wenig später in Bonn sein Studium mit einer von Jürgen Bona Meyer betreuten Dissertation über die Ästhetik Schopenhauers und Kants ab.69 Nach seiner Promotion ging er als Rabbiner zunächst nach Köln, war dann kurze Zeit in Königsberg, um 1900 nach Marburg zu ziehen, wo er als promovierter Philosoph noch einmal Philosophie bei dem berühmten Neukantianer Hermann Cohen studieren wollte. Cohen, mit dem er eine enge Freundschaft aufbaute, beeinflusste ihn nachhaltig und er integrierte dessen Rationalismus in sein stark platonisch ausgerichtetes Denken.70 Nach einer Anstellung in Leipzig wechselte Nobel nach Hamburg, eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands. Als beschlagener Halachist und kundiger Philosoph, als „Goethe-Kenner ersten Grades“ und deutscher Patriot, vor allem aber als rhetorisch einnehmender Prediger, der auch die mystischen Traditionen des Judentums berücksichtigte, hinterließ er in allen Gemeinden, mit Ausnahme Kölns, einen positiven Eindruck – und das obwohl er zur kleinen Minderheit der Misrachis gehörte, der religiösen Zionisten, die von den meisten orthodoxen Rabbinern heftig bekämpft wurden.71 Besonders war nicht nur seine ungeheure Gelehrsamkeit, sondern auch das Vermögen, eine emotionale und vertrauensvolle Beziehung zu den Gemeindemitgliedern aufzubauen.72 Der Begriff der Freundschaft spielte in dieser Beziehung eine wichtige Rolle, wie seine Abschiedspredigt in Hamburg im Jahr 1910 zeigt, nachdem er zum Rabbiner der Frankfurter Synagoge am Börneplatz berufen worden war: „Dank für alle Liebe und Treue, für alle Huld und Freundschaft, mit der Ihr mich umrankt habt“, sprach Nobel die einzelnen Gemeindemitglieder durchaus ungewöhnlich in der zweiten Person Plural direkt an. „Wie schwer, wie schwer ist es, das Wort des Abschieds zu sprechen. Doch, meine geliebten Freunde, lasset uns doch nicht von Abschied und Trennung reden. Lasset uns reden von dem, was uns ferner verbinden und verbünden wird. […] Nein, nicht Trennungsgedanke beherrsche die Abschiedsstimmung dieser feierlichen Stunde, die Ihr mir bereitet habt. Ihr Inhalt sei vielmehr ein ‫ברית בין הבתרים‬, ein Bündnis, das alle Scheidung aufhebt und die Fernen überbrückt, die zwischen uns sich auftun wollen.“73 Der brit bejn ha-betarim, wörtlich „Bund zwischen den Stücken“, den 69 Nehemias Anton Nobel: Schopenhauers Theorie des Schönen in ihren Beziehungen zu Kants

Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Bonn 1897. 70 Siehe dazu Nehemiah Anton Nobel: Hermann Cohen. Zu seinem 60. Geburtstage. In: Die jüdische Presse. Organ für die Gesammtinteressen des Judenthums 33, 27 (3. Juli 1902), S. 215 f. 71 Vgl. Jaakov Zur: Bejn Ortodoksiah le-Tsionut. Ha-Tsionut ha-datit u-mitnagdejhah (Germanijah 1896–1914) (Zwischen Orthodoxie und Zionismus. Der religiöse Zionismus und seine Gegner (Deutschland 1896–1914)). Ramat Gan 1999, S. 188–193. In Köln verlor er seine Stelle aufgrund seiner zionistischen Haltung. Vgl. Heuberger: Orthodoxy versus Reform, S. 50, Anm. 36. 72 Vgl. die Erinnerungen des Gemeindemitglieds Gustav Löffler: LBI New York, Memoir Collection, DM 13: Nehemiah Nobel als Erlebnis. Erinnerungen von Gustav Löffler [1960]. 73 Worte des Abschieds, gesprochen von Sr. Ehrwürden Herrn Rabbiner N. A. Nobel am '‫ש''ק פ‬ ‫ לך לך י'מרחשון תרע''א‬12. November 1910 in der Gemeindesynagoge am Bornplatz zu Hamburg. Hrsg. v. seinen Freunden und Verehrern. Hamburg 1910, S. 3 f.

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5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel

Nobel mit Bezug auf den gelesenen Wochenabschnitt Lech-Lecha zitierte, sollte in seiner Abschiedspredigt den Zusammenhang zwischen den Einzelnen stiften. Der Ausdruck bezieht sich auf Gottes zweiten Bundesschluss mit Abraham, wie er in Genesis 15 beschrieben wird. Dort geht es um einen Bund Gottes mit seinem Volk, das ethnisch im Sinne der Nachkommenschaft beschrieben wird. Nobel wählt aber den in der Torah nicht wörtlich vorkommenden Ausdruck brit bejn ha-betarim, der meines Wissens nach explizit erstmals in der mittelalterlichen Kommentarliteratur verwendet wird, um den Bund des Getrennten, Fragmentierten hervorzuheben.74 Dieser Bund ist laut Nobel gekennzeichnet durch „die Liebe und den Brudersinn, den Frieden und die Freundschaft“, wie er am Schluss seiner Abschiedspredigt zuspitzend formuliert.75 Die Freundschaft kennzeichnete aus Nobels Perspektive die ideale Beziehung, die Juden untereinander einnehmen sollten. Möglicherweise war dies ein Impuls, den er seinem Freund und Lehrer Hermann Cohen zu verdanken hatte – oder umgekehrt. In Cohens 1919 posthum erschienenem und von Nobel redaktionell bearbeitetem religionsphilosophischen Hauptwerk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, mit dessen Grundzügen Nobel freilich schon länger vertraut war, da Cohen bereits seit 1904 daran arbeitete, fungiert die Freundschaft im vorletzten, systematisch wichtigen Kapitel als spezifische Form der Treue.76 Die Treue, von Cohen bezeichnenderweise als emunah übersetzt, vermittelt zwischen Religion und Ethik, oder anders gesagt: zwischen der Beziehung von Gott und Mensch einerseits und der von Mensch zu Mensch andererseits.77 Genau diese Vermittlung war die größte philosophische Herausforderung für Cohen, der ja in seinen früheren Schriften Religion in Ethik aufgelöst hatte und nun, am Ende seines Schaffens, der Religion wieder zu ihrem Recht verhelfen wollte.

74 In der einschlägigen Stelle in Genesis 15, 17 ist nicht von betarim, sondern von geserim die Rede. Dafür kommt das Wort kurz zuvor, nämlich in Genesis 15, 10, in Verbform vor. Abraham zerteilt (wa-jevater) die Opfertiere und Gott schreitet später zwischen den Stücken hindurch. In Rashis Kommentar zu dieser Stelle wird der Ausdruck brit bejn ha-betarim verwendet, wobei er sich auf eine Parallelstelle in Jeremia 34, 18–19 bezieht. Siehe auch Ba-midbar Rabbah 14, 11; Moshe ben Nachman: Perush ha-Torah, b’reshit 15, 17, 1; David Kimchi: Perush al ha-Torah, b’reshit 15, 17, 4; Tosafot al-Berachot 7b, 1, 1. 75 Worte des Abschieds, S. 8. Auch in seinem Aufsatz Der Sabbat. In: Verband der deutschen Juden (Hg.): Soziale Ethik im Judentum. Frankfurt am Main 41918, S. 117 nennt Nobel den mit Moses am Berg Sinai erneuerten Bund einen „Freundschaftsbund“. 76 Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Eine jüdische Religionsphilosophie [1918]. Berlin 21928, S. 510. Zum Entstehungsprozess vgl. die Angaben bei Hartwig Wiedebach: Hermann Jecheskel Cohen. In: Andreas B. Kilcher, Otfried Fraisse (Hg.): Metzler Lexikon jüdischer Philosophen. Philosophisches Denken des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart, Weimar 2003, S. 264. 77 Das Substantiv emunah bezeichnet im modernen Hebräisch „Glauben“, „Vertrauen“ oder „Zuversicht“, im biblischen Hebräisch aber vor allem „Treue“ und „Festigkeit“.

5.4. Nehemiah Anton Nobels Bund

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Bereits in seinem System der Philosophie von 1904 hatte Cohen der Treue ein Kapitel gewidmet und dort den Begriff für „homonym“ mit dem des Glaubens erklärt.78 Beide stammten „in der Sprache der Propheten“ von dem Begriff der „Festigkeit der Überzeugung und Gesinnung“ ab.79 Diese Bedeutung von emunah als „Festigkeit“, „Beständigkeit“, „Standhaftigkeit“ buchstabierte Cohen nun an der Freundschaft aus. Diese sei zunächst nichts weiter als der Versuch des Menschen, die Einsamkeit zu überwinden, und erscheine als „Urbild der Menschenliebe“. Doch Cohen war skeptisch. Zwar bilde die Freundschaft unzweifelhaft „einen sittlichen Grundzug des Menschenwesens“, aber bisweilen habe sie ihre Wurzel rein in äußerlichen Gegebenheiten. Was also macht wahre Freundschaft aus? Den Beweis dafür, dass Sittlichkeit in der Freundschaft waltet, erbringt die Treue. Die Tugend der Treue erstreckt sich zunächst auf sie; und in der Kraft der Treue bewährt die Freundschaft ihre sittliche Natur; befreit sie sich von dem ästhetischen Scheine, der sonst an ihr haftet.80

Erst durch die Festigkeit der Beziehung, die auch Krisen und Enttäuschungen überdauert, erweist sie sich als wahre Freundschaft, die nicht bloß zufällig entstanden ist. Cohen bestimmt hier den Unterschied zwischen der profanen, alltagsweltlich-vergänglichen, und der sakralen, auf emunah beruhenden, Freundschaft. Dazu gehört auch, die Freundschaft nicht als reines Mittel zu sehen, um sich aus dem einsamen Dasein zu erheben; ihr eignet eine Wechselseitigkeit, die in sich zutiefst sittlich ist. Immanuel Kants Maxime, stets so zu handeln, dass „du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“, liegt dieser Freundschaftskonzeption zugrunde.81 Deshalb korrespondiert dem Verlangen, „sich mitzuteilen und zu empfangen“, auch die Neigung, „sich anzuschliessen und anzuschmiegen an den Andern, um in der vertrauten Unterredung das Selbstbewusstsein zu klären“.82 Die Symbiose, die die Freunde dabei eingehen, ist auf Dauer angelegt: „Das Characteristikum der Freundschaft ist Beständigkeit. Dadurch wird sie von der flüchtigen Neigung unterschieden; dadurch aber überhaupt von der ästhetischen und von der sinnlichen Reizung.“83 In seinem Spätwerk, das er mit Nobel intensiv diskutierte, griff Cohen diesen emphatischen Freundschaftsbegriff wieder auf und rückte ihn, wie Nobel in seiner Predigt, in einen Zusammenhang mit dem brit (Bund). „Durch die Treue wird jedes Verhältnis, sowohl das zwischen Mensch und Mensch, wie das 78 Hermann

Cohen: System der Philosophie. Zweiter Teil: Ethik des reinen Willens. Berlin 1904, S. 540. 79 Ebd., S. 539. 80 Ebd., S. 543. 81 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785]. In: Ders.: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. IV. Berlin, New York 1978, S. 429. 82 Cohen: System der Philosophie, S. 544. 83 Ebd., S. 545.

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5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel

zwischen Gott und Mensch, bekräftigt“, heißt es da. Im Gegensatz zum System der Philosophie ist hier das Treueverhältnis auf Gott ausgeweitet, und so heißt es weiter: „Der Bund (‫ )ברית‬ist das Werkzeug der Treue.“84 In diesem Sinne wird auch die Beziehung zwischen Gott und den Menschen von Cohen als Freundschaft bezeichnet – als ein „Wechselverhältnis“, das „in der Freundschaft, in der Bundesbrüderschaft“ beruht.85 Damit wird „der Einzige“, wie Cohen Gott nennt, gewissermaßen aus dem Himmel geholt und an den Tisch des Menschen gesetzt. Er schließt mit jedem einzelnen Menschen, nicht nur – wie bei Goldberg – mit dem Abstraktum Volk, einen Freundschaftsbund, denn die Treue, die der wahren Freundschaft zugrundliegt, kann nur eine individuelle sein. Sich auch in Notzeiten auf die Seite Gottes zu stellen, ist ein Glaubensbeweis; und dem Freund ohne Wenn und Aber die Treue zu halten, ist Ausdruck echter Freundschaft. Diesen Gedanken übernahm Nobel von seinem Lehrer, und das wirkte sich auch auf den Charakter des Zirkels aus, der um ihn entstanden war. Auch wenn Eingeweihte wie Außenstehende das Verhältnis des „Meisters“ Nobel zu seinen „Schülern“ beziehungsweise „Jüngern“ in ähnlichen Worten beschrieben, wie sie auch im George- oder Goldberg-Kreis im Schwange waren, meinten sie hier etwas anderes. Zum einen stellte der Philosophiestudent Fritz Goitein (1900–1985), der sich zum „intimen Kreis seines Schiur“ zählte und später in Israel als Shlomo Dov Goitein zu einem der weltweit führenden Orientalisten werden sollte, den Begriff des „Meisters“ explizit in den Kontext des „Raw im alten Sinne“; zum anderen sah er in ihm aber auch den „liebenden und tief verstehenden Freund“.86 Die bereits genannte rabbinische Lehre, der junge Student (talmid) solle sich einen Meister (rav) und einen Freund (chaver) erwerben, wurde im Nobel-Kreis zum leitenden Prinzip, allerdings in einem neuen Sinne: Der Meister selbst war nicht nur ein Lehrer, sondern zugleich auch der persönliche Freund. Die ursprünglich instrumentelle chevruta, die der Talmud als Gelehrtenbeziehung versteht, erhielt im Nobel-Kreis sowohl eine soziale als auch eine emotionale Dimension. Sie wurde vom Torah-Lernen abgekoppelt und bezeichnete eine persönliche Beziehung zwischen ursprünglich getrennten Individuen – einen „Bund zwischen den Stücken“. Nobels Rabbinerkollege Jakob Horovitz – ebenfalls ein Absolvent des Hildesheimerschen Seminars und ehemaliger Student Hermann Cohens – erinnerte in seinem Nachruf daran, dass Nobel häufig die talmudische Weisheit o-chavruta o-mituta zitiert habe, die auf Deutsch „Entweder Freundschaft oder Tod“ bedeutet.87 Sie ist im Traktat Ta‘anit zu finden und Maimonides führt sie in seinem Kommentar zu genau jener oben bereits zitierten Stelle in 84 Cohen:

Religion der Vernunft, S. 509. S. 510. 86 Fritz Goitein: [Nachruf.] In: Vorstand der Israelitischen Gemeinde Frankfurt a. M. (Hg.): Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel. Frankfurt am Main 1923, S. 43. 87 Jacob Horowitz: [Nachruf.] In: Vorstand der Israelitischen Gemeinde Frankfurt a. M. (Hg.): Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel. Frankfurt am Main 1923, S. 13. Horovitz übersetzt chavruta abweichend und durchaus ungewöhnlich als „Vergesellschaftung“. 85 Ebd.,

5.4. Nehemiah Anton Nobels Bund

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Pirkej Avot an, die dazu auffordert, sich einen Meister und einen Freund zu suchen.88 Und so war im Nobel-Kreis fraglos „etwas von dem Aufblicken der Jünger zum Meister, wie wir es im Kreise des Sokrates und manches Talmudlehrers finden“, bilanzierte der Religionsphilosoph Isaak Heinemann.89 Doch die „vielen, namentlich jungen Akademiker, die ihm nahestanden“, suchten zweifellos in Nobel mehr und anderes als religiöse oder halachische Unterweisung.90 Die größtenteils um 1900 geborenen jungen Männer seines Zirkels – darunter Ernst Simon (1899–1988), Fritz Goitein (1900–1985), Nahum Glatzer (1903–1990), Leo Löwenthal (1900–1993), Erich Fromm (1900–1980), Siegfried Kracauer (1889–1966), Rudolf Hallo (1898–1933) oder in etwas anderer Stellung auch Franz Rosenzweig (1886–1929) – hatten allesamt die schockierende und traumatische Erfahrung des Weltkriegs und des Untergangs der alten Ordnung durchgemacht, nun sehnten sie sich nach einer neuen Form jüdischer Gemeinschaft. Sie einte zwar ein ähnlicher biographischer und sozialer Hintergrund, aber in politischen oder religiösen Fragen lagen sie weit auseinander. Manche waren Sozialisten, andere Liberale oder sogar Konservative; einige lebten observant, andere hielten sich überhaupt nicht an die Halacha. Nur aus diesem Grund war ja Nobels Gedanke der Zusammenführung der „Stücke“ – der „verschiedensten religiösen Auffassungen von Gott und Welt“ beziehungsweise „dem kämpfenden Widerstreben feindlicher Weltauffassungen“ – so treffend.91 Was die Mitglieder des Kreises an diesem besonderen „Bund“ reizte, beschrieb Nobels Schüler Ernst Simon im Hinblick auf die Kriegserfahrung, als er 1919 rückblickend vom „Glück des Zusammenlebens mit jüdischen Kameraden“ schwärmte.92 Auch Leo Löwenthal, der seine Zeit als Soldat aufgrund des erlebten Antisemitismus im Rückblick als „eine Art vorweggenommenes Konzentrationslager“ bezeichnete, fühlte sich vom Kreis um Nobel magisch angezogen.93 Und auch bei ihm war das eine Reaktion auf das Kriegserlebnis: „Der Krieg warf alles um“, heißt es in einer Rede, die er im November 1920 bei der Zionistischen Studentenverbindung K. I. V. in Heidelberg hielt:94 So wurde der Krieg zum großen Negierer, zum großen Problemsteller. Der Krieg als solcher und in seinem Ausgang zerriß alle alten, scheinbar fest eingewurzelten Bindungen, 88 bTa’anit 23a sowie bPirkej avot 1, 6. Vgl. Moshe ben Maimon: Perush al-pirkej avot 1, 6. Siehe auch Rashis Kommentar zu bTa’anit 23a, 17, 3, der sich, wie die talmudische Diskussion, um die Hiobgeschichte dreht. Es kommt hier Rashis Skepsis gegenüber Freunden zum Ausdruck. 89 Isaak Heinemann: [Nachruf.] In: Vorstand der Israelitischen Gemeinde Frankfurt a. M. (Hg.): Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel. Frankfurt am Main 1923, S. 35. 90 Ebd. 91 Worte des Abschieds, S. 4. 92 Simon: Unser Kriegserlebnis, S. 21. 93 Löwenthal: Mitmachen wollte ich nie, S. 53. 94 Leo Löwenthal: Werberede, gehalten im K. I. V. Heidelberg am 25.XI.1920. In: Universitätsund Stadtbibliothek Frankfurt am Main, Archivzentrum, Nachlass Leo Löwenthal, B 9, 1–8. Ich danke Doris Maja Krüger für die Zurverfügungstellung des Dokuments.

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5. Bruderschaft, Jüngerkreis und Freundschaftszirkel

warf den Menschen zurück in ein Chaos der Problematik, in ein Meer der Sinnlosigkeit. Als unmittelbare Reaktion darauf kam dann ein maßloses, ungezügeltes Überschüttetwerden mit neuen Programmen, Forderungen, Ethiken, Wertlehren, Aufrufen. […] Die sinnlos gewordenen Bindungen machten uns einsam, sie ließen uns in uns selbst sinken und nach einem neuen Sinn, nach einer Ordnung, nach einem neuen Kosmos suchen. Diese Besinnung wurde zu einer wahren Selbstbesinnung im schönen Sinne dieses Wortes: sie ließ uns in uns selbst den Sinn finden. Was aber führte uns dann zusammen? Uns, die wir doch alle einander so verschieden sind? Hier zeigt sich das eminent jüdische dieser Selbstbesinnung. Denn […] indem wir uns auf uns selbst besannen, besannen wir uns auf die Gemeinschaft. Je tiefer wir in uns selbst sanken, je einsamer wir von einander wurden, desto näher kamen wir der Gemeinschaft. Indem wir uns auf uns selbst besannen, besannen wir uns auf die Gegebenheit unseres Judentums.95

Das Jüdische war für Löwenthal primär nicht ein Set von Glaubensinhalten, ein Gerüst von Normen und Geboten oder eine spezifische Kultur, sondern das bloße, unverstellte Selbst  – anders als im rabbinischen Konzept der T’shuvah (Umkehr) war für ihn die Gesetzestreue nur ein Ausdruck der Rückbesinnung, nicht diese selbst. Wer sich auf sich selbst besinne, könne sich mit anderen zu einer authentischen Gemeinschaft zusammenschließen, die ihren Zusammenhalt dann durch gemeinsame Rituale und Praktiken festigte. Und diese Gemeinschaft fand Löwenthal vor allem im Kreis um Nehemiah Anton Nobel. Was dieser repräsentierte, war das Gegenteil des angepassten Bürgertums, für das sein Vater als Repräsentant der untergegangenen Ordnung stand. Sich ausgerechnet einem orthodoxen Rabbiner anzuschließen, eine ‚ostjüdische‘ Frau aus einer observanten Königsberger Familie zu heiraten und mit dieser schließlich sogar vorübergehend einen koscheren Haushalt zu führen und regelmäßig die Synagoge zu besuchen, erschien Löwenthal als größtmögliche Protesthaltung gegen seinen Vater. Denn der mochte das alles nicht, diese jüdische Atmosphäre, und als wir dann einen koscheren Haushalt hatten, ist er, ich erinnere mich gut daran, in Tränen der Wut ausgebrochen. Es war für ihn eine furchtbare Enttäuschung, daß sein Sohn, den er, der Vater, der getreue Sproß der Aufklärung, so „fortschrittlich“ erzogen hatte, nun in diese „unsinnigen“, „mysteriösen“, „lügenhaften“ Verstrickungen einer positiven Religion hineingezogen wurde.96

Gerade der aus assimilierter Perspektive oppositionelle Charakter der jüdischen Renaissance, der „jüdische Kult“ des Nobel-Kreises, war für den jungen Löwenthal attraktiv: Es war schon eine Art kultischer Gemeinschaft. Er war ein faszinierender Redner. Man ging zu seinen Predigten. Er führte ein offenes Haus, wo man kommen und gehen konnte, wann man wollte. Das war natürlich besonders in dieser zerrissenen Nachkriegszeit ein großes Geschenk.97 95 Ebd.

96 Löwenthal: 97 Ebd.,

S. 20.

Mitmachen wollte ich nie, S. 18.

5.4. Nehemiah Anton Nobels Bund

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Die Beziehung zwischen Nobel und Löwenthal veranschaulicht den freundschaftlichen Charakter des Kreises. In den erhalten gebliebenen Briefen Nobels an Löwenthal zeigt sich zwar bisweilen auch eine väterliche Seite, aber nicht im Sinne eines strengen und unnahbaren Alleinherrschers. Rachel Heuberger hebt zurecht hervor, dass das Verhältnis auch „nicht der bei den emanzipierten Juden Westeuropas üblichen Rabbiner-Schüler-Beziehung [entsprach], die von Distanz und Ehrfurcht gekennzeichnet war“.98 Die Rolle, die der fast 30 Jahre ältere Nobel einnahm, hatte zwar etwas Väterliches, insofern er Löwenthal finanziell unterstützte und ihm Trost spendete, aber er verkörperte einen anderen Vatertypus als den des verschlossenen, disziplinierten und richtenden Familienoberhauptes. „Mein Leochen“ lautet die Anrede in einer Postkarte Nobels vom 17. Oktober 1921, „Dein Freund“ war die obligatorische Verabschiedungsformel.99 Die Korrespondenz ist durch eine offen zutage liegende Emotionalität und fast zärtliche Zuneigung gekennzeichnet: „Ich lege meine Hand auf Dein liebes Haupt, das ich gern an mich geschmiegt sehe, und ströme über Dich alle Kräfte des religiösen Segens aus, die ich in meinen Tiefen trage“, schreibt Nobel an den sich aufgrund seiner Tuberkulose im Kurort St. Blasien befindenden Löwenthal. „Laß Dich auskurieren: Deine Lunge, Dein Herz, Dein Gemüt, Deinen reichen Geist, Deine liebe Empfindung.“100 Jenseits der Halböffentlichkeit, in der die Kreismitglieder zusammenkamen, existierten also auch individuelle Freundschaften, die je für sich eine besondere Intimität annehmen konnten und damit die Kreis-Beziehung transzendierten. Die Zirkel um George, Goldberg und Nobel repräsentieren damit nicht nur das Bedürfnis junger deutscher Juden nach einer neuen Form der Gemeinschaft, sondern auch eine Modifizierung individueller Freundschaften. Aus zufälligen Bekanntschaften, die sich bereits im Kindesalter oder während des Studiums ergeben hatten, wurden mit Sinn aufgeladene Zusammenschlüsse. Diese Sinnstiftung war eine neue Dimension der alltäglichen jüdischen Freundschaftspraxis, die bislang ohne ideologische oder religiöse Überhöhungen ausgekommen war und sich von selbst verstanden hatte. Es waren die jungen Intellektuellen – Söhne und Töchter aus bürgerlichem Hause, die nach Höherem strebten als dem schnöden Geschäft und einfältigen Leben ihrer Eltern –, die das Zusammensein von Juden als neue Form der Gemeinschaft idealisierten.

 98 Rachel Heuberger: Die Entdeckung der jüdischen Wurzeln. Leo Löwenthal und der Frankfurter Rabbiner Nehemias Anton Nobel. In: Peter-Erwin Jansen (Hg.): Das Utopische soll Funken schlagen … Zum hundertsten Geburtstag von Leo Löwenthal. Frankfurt am Main 2000, S. 65.  99 Nehemiah Anton Nobel an Leo Löwenthal, 21. Oktober 1921. In: Jansen: Das Utopische, S. 71. 100 Nehemiah Anton Nobel an Leo Löwenthal, 10. Oktober 1921. In: Jansen: Das Utopische, S. 69.

6. Der Eros der Freundschaft .‫נפלאתה אהבתך לי מאהבת נשים‬ 2. Samuel 1, 26

1

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte die berühmte Eulenburg-Affäre die politische Öffentlichkeit des Kaiserreichs erschüttert.2 Enge Vertraute und Freunde Kaiser Wilhelms II. aus dem sogenannten Liebenberger Kreis wurden in einer medialen Kampagne der Homosexualität bezichtigt. Damit stand in der Logik der Zeit nicht nur ihre Männlichkeit infrage, sondern auch ihre Loyalität zur Nation. Affektiv aufgeladene Verschwörungstheorien über eine angebliche „homosexuelle Internationale“ machten die Runde und einer der Hauptprotagonisten der Affäre, der nationalistische Journalist Maximilian Harden (1861–1927), nutzte den maßgeblich vom ihm auf den Weg gebrachten Skandal, um den Kaiser außenpolitisch unter Druck zu setzen.3 Harden, der einer jüdischen Familie entstammte und 1878 zum Protestantismus übergetreten war, identifizierte Homosexualität mit „Verweichlichung“. Diese sei eine nationale Gefahr, führe sie doch zu einer Friedenspolitik gegenüber Großbritannien und Frankreich, und damit letztlich zum Verlust der deutschen Kolonien.

6.1. Freundschaft und Homosexualität Aber es ging in der Affäre nicht nur um die große Weltpolitik, sondern auch um ein vor dem Hintergrund des Modernisierungsschubs neu auszuhandelndes Verhältnis von Nation und Geschlecht – und damit zugleich um die Frage, was Freundschaft von erotischer Liebe unterscheidet.4 In allen Diskussionen über Freundschaft schwingt um die Jahrhundertwende das Thema der Homosexuali1 Hebräisch:

„Wunderbarer war mir Deine Liebe als die Liebe der Frauen.“

2 Vgl. Norman Domeier: Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiser-

reichs. Frankfurt am Main 2010 und Peter Winzen: Das Ende der Kaiserherrlichkeit. Die Skandalprozesse um die homosexuellen Berater Wilhelms II. 1907–1909. Köln 2010. 3 Vgl. Michael Schwartz: Homosexuelle, Seilschaften, Verrat. Ein transnationales Stereotyp im 20. Jahrhundert. Berlin, Boston 2019, S. 77–111. 4 Vgl. Norman Domeier: Von der Belle Époque ins „Eiserne Zeitalter“. Die Grenzverschiebung von der Freundschaft zur Sexualität am Ende des langen 19. Jahrhunderts und ihre politische Bedeutung. In: Bertrand Haan, Christian Kühner (Hg.): Freundschaft. Eine politisch-soziale

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6. Der Eros der Freundschaft

tät und Homoerotik als Grundspannung mit, manchmal ganz offen, viel häufiger aber unterschwellig, verdruckst oder unbewusst. Konnten Frauen und Männer überhaupt Freunde sein? Oder waren sie qua Geschlechtsunterschied dazu verdammt, nur erotische Liebesbeziehungen eingehen zu können? Inwiefern waren gleichgeschlechtliche Freundschaften lediglich Erscheinungs- oder gar Deckformen von Homosexualität? Und was eigentlich unterschied Männer- von Frauenfreundschaften? All diese Themen wurden im Kontext eines Aufbrechens der bürgerlichen Geschlechterordnung emphatisch diskutiert. Oberflächlich betrachtet wurde die Geschlechterordnung im späten Kaiserreich rigider, Rollenzuschreibungen und Körperbilder klarer definiert.5 Andererseits aber wurden Themen wie Homo- und Transsexualität, ja Sexualität überhaupt so offen wie nie zuvor diskutiert.6 1897 hatte der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868–1935) das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ gegründet, das sich für die Rechte der Homosexuellen einsetzte und für die Abschaffung des Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches kämpfte, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte. Zeitgleich stellte der Arzt Wilhelm Fließ, Sigmund Freuds bester Freund, den wir schon im dritten Kapitel kennengelernt haben, die These auf, alle Menschen hätten bisexuelle Neigungen, und forderte damit das Konzept der Heteronormativität auf radikale Weise heraus.7 Freud und einige andere schlossen sich Fließ an und entwickelten die Theorie der „konstitutionellen Bisexualität“ weiter. Die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und emanzipatorischer Politik waren dabei nicht klar zu ziehen, wie besonders Hirschfelds Engagement zeigt.8 Das von ihm seit 1899 herausgegebene Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen enthielt klinische Beobachtungen und historische Analysen, aber auch essayistische Beiträge und gesellschaftspolitische Forderungen. Hirschfeld, der in der Eulenburg-Affäre als Gerichtsgutachter angehört und von den Verteidigern der heteronormativen Ordnung heftig Beziehung in Deutschland und Frankreich, 12.–19. Jahrhundert. In: Discussions 8 (2013), auf: https://tinyurl.com/2hxa6j86 (letzter Zugriff: 10.12.22). 5 Vgl. Ute Planert: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität. Göttingen 1998 sowie Marion A. Kaplan: The Making of the Jewish Middle Class. Women, Family, and Identity in Imperial Germany. New York, Oxford 1991. Zur Herausbildung der bürgerlichen Geschlechterordnung vgl. Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Dies.: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Göttingen 22013, S. 19–48 sowie bezogen auf das deutsche Judentum Benjamin Maria Baader: Gender, Judaism, and Bourgeois Culture, 1800– 1870. Bloomington, Indianapolis 2006. 6 Vgl. Richter: Aufbruch in die Moderne. 7 Den Begriff der Heteronormativität zuerst eingeführt hat Michael Warner: Introduction: Fear of a Queer Planet. In: Social Text 9, 4, 29 (1991), S. 3–17. 8 Vgl. Charlotte Wolff: Magnus Hirschfeld: A Portrait of a Pioneer in Sexology. London 1986; Elena Mancini: Magnus Hirschfeld and the Quest for Sexual Freedom: A History of the First International Sexual Freedom Movement. New York 2010 sowie Manfred Herzer: Magnus Hirschfeld und seine Zeit. Berlin, Boston 2017.

6.1. Freundschaft und Homosexualität

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angefeindet wurde, stiftete 1910 noch mehr Verwirrung, als er den Begriff des Transvestiten einführte.9 Nicht zuletzt seine Studien führten vor Augen, dass sexuelle Orientierungen und Geschlechteridentitäten komplexe, widersprüchliche Phänomene waren, die sich nicht eindeutig in Männlichkeit und Weiblichkeit aufspalten ließen. Hirschfelds Gründung des Instituts für Sexualwissenschaft im Jahr 1919 war der Höhepunkt einer bereits die gesamte wilhelminische Epoche durchziehenden sexualpolitischen Aufklärungsbewegung.10 Es ist wohl kein Zufall, dass unter den Vorkämpfern homosexueller Befreiung zahlreiche jüdische Akteure waren – neben Hirschfeld beispielsweise auch Hugo Marcus (1880–1966), Kurt Hiller (1885–1972) und Artur Kronfeld (1886– 1941).11 Schließlich stellte der sich verschärfende Antisemitismus seit dem späten 19. Jahrhundert lautstark die jüdische Männlichkeit infrage. Dabei beschäftigten sich Antisemiten geradezu obsessiv mit der Praxis der Beschneidung, wie Sigmund Freud schon 1909 bemerkte: Der Kastrationskomplex ist die tiefste unbewußte Wurzel des Antisemitismus, denn schon in der Kinderstube hört der Knabe, daß dem Juden etwas am Penis – er meint ein Stück des Penis – abgeschnitten werde, und dies gibt ihm das Recht, die Juden zu verachten.12

Sander Gilman hat herausgearbeitet, wie folgenreich dieser Komplex für die Konstruktion „des Juden“ war: Einerseits „erhielt der bloße Begriff ‚Jude‘ im 19. Jahrhundert die Bedeutung von ‚männlicher Jude‘“, andererseits aber waren männliche Juden für viele Beobachter „unheimlich, insofern sie an der Oberfläche zwar als Männer erscheinen, aber es der veränderten Form ihrer Genitalien wegen nicht sind“.13 Dadurch wurde die Figur des „Juden“ zum Muster des unmännlichen, verweiblichten Mannes, der die Krise der Männlichkeit buchstäblich verkörperte.14 Während die genannten Wissenschaftler, Schriftsteller und Aktivisten dem permanent im Raum stehenden Vorwurf der Unmännlichkeit dadurch begeg 9 Magnus Hirschfeld: Die Transvestiten: Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb, mit umfangreichem kasuistischem und historischem Material. Berlin 1910. Hirschfeld unterschied den Transvestitismus von der Transsexualität. 10  Vgl. Rainer Herrn: Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919–1933. Berlin 2022. 11 Vgl. Marc David Baer: German, Jew, Muslim, Gay. The Life and Times of Hugo Marcus. New York 2020; Daniel Münzner:  Kurt Hiller. Der Intellektuelle als Außenseiter. Göttingen 2015; Andreas Seeck:  Arthur Kronfeld (Psychiater, Psychologe, Wissenschaftstheoretiker) über Homosexualität. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft 20/21 (1994/95), S. 51–63. 12 Sigmund Freud: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben [1909]. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 7. Frankfurt am Main 1941, S. 271, Anm. 1. Siehe dazu Jay Geller: The queerest cut of all. Freud, Beschneidung, Homosexualität und maskulines Judentum. In: Ulrike Brunotte, Rainer Herrn (Hg.): Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900. Bielefeld 2008, S. 157–172. 13 Sander L. Gilman: Freud, Identität und Geschlecht. Frankfurt am Main 1994, S. 85 f. 14 Vgl. George L. Mosse: The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity. New York, Oxford 1996, S. 66 f.

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6. Der Eros der Freundschaft

neten, dass sie dessen heteronormativen Vorannahmen den Boden entzogen, reagierten andere mit Abwehr, Verdrängung oder Selbsthass. Besonders einige jüdische Konvertiten, die den „Makel“ ihrer Herkunft nicht abzuschütteln vermochten, traten dabei hervor. So mag es plausibel erscheinen, in Maximilian Hardens Angriffen auf die angebliche homosexuelle Verweichlichung auch den Versuch zu erkennen, seine eigene Männlichkeit unter Beweis zu stellen – und damit zugleich sein Deutschtum.15

6.2. Die Reinheit der Freundschaft Noch deutlicher wird das im Falle Otto Weiningers (1880–1903). Wie Harden kam auch er aus einer jüdischen Familie und trat 1902, direkt nach Einreichung seiner philosophischen Dissertation über Eros und Psyche an der Universität Wien, zum Protestantismus über.16 Der Entschluss, das Judentum zu verlassen, war schon lange in ihm herangereift und die Dissertationsschrift legte von diesem Prozess Zeugnis ab. Sein Doktorvater, der Philosoph Friedrich Jodl, registrierte die emotionale Aufwallung, die sich in mehreren Passagen der Schrift Geltung verschaffte, und weigerte sich, diese ohne gründliche Überarbeitung einem Verlag zur Publikation vorzuschlagen. Auch Sigmund Freud, den Weininger um Fürsprache bat, lehnte ab. Der gerade 22-jährige Weininger entwickelte eine tiefe Depression, die ihn 1903 tatsächlich in den Suizid trieb. Die Zurückweisung durch Freud und Jodl war aber nicht der Grund für diese existenzielle Krise, sondern verstärkte diese lediglich. Vielmehr litt Weininger an einem psychologischen Phänomen, das Theodor Lessing als „jüdischen Selbsthass“ bezeichnet hat, das aber der Individualpsychologe Alfred Adler in einem allgemeineren Sinne einige Jahre später schlicht als Minderwertigkeitskomplex beschrieben hat.17 „Immer“, so Adler über diesen Typus des Neurotikers, baut sich sein Wollen und Denken über der Grundlage eines Gefühls der Minderwertigkeit auf. Dieses Gefühl ist stets als relativ zu verstehen, ist aus den Beziehungen zu seiner Umgebung erwachsen  oder zu seinen Zielen. Stets ist ein Messen, ein Vergleichen mit anderen vorausgegangen, erst mit dem Vater, dem Stärksten in der Familie, zuweilen 15 Am Beispiel jüdischer Studenten untersucht hat dies Lisa Fetheringill Zwicker: Performing Masculinity. Jewish Students and the Honor Code at German Universities. In: Benjamin Maria Baader u. a. (Hg.): Jewish Masculinities. German Jews, Gender, and History. Bloomington 2012, S. 114–137. Zu homoerotischen Aspekten der Freundschaft zwischen Harden und Walter Rathenau siehe Shulamit Volkov: Freundschaft in Zerwürfnis: Walter Rathenau und Maximilian Harden. In: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 9, 2 (2015), S. 45 f. 16 Vgl. Chandak Sengoopta: Otto Weininger. Sex, Science, and Self in Imperial Vienna. Chicago, London 2000, S. 19. 17 Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß. Berlin 1930. Zur Begriffsgeschichte vgl. Sander L. Gilman: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Frankfurt am Main 1993, S. 210–239.

6.2. Die Reinheit der Freundschaft

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mit der Mutter, mit den Geschwistern, später mit jeder Person, die dem Patienten entgegentritt.18

Der sich minderwertig Fühlende vergleiche sich selbst mit anderen, aber er tue das auf eine besondere Weise: Indem er die anderen idealisiere und zu unerreichbaren Ikonen stilisiere, müsse er im Vergleich zwangsläufig immer unterliegen. Die eigene Minderwertigkeit könne aus dieser Perspektive nicht durch besonderes Engagement oder mit Hilfe und Unterstützung von anderen kompensiert werden, sondern schreibe sich gewissermaßen in den Körper ein. Die Ich-Ideale seien nichts mehr, nach dem das Individuum selbst im positiven Sinne strebt, sondern lediglich feindlich gegenüberstehende Pole, an die heranzureichen unmöglich sei. Das Selbst werde als starr und unveränderbar wahrgenommen, gesellschaftliche Beziehungen, Normen und Ideale biologisiert. Das Denken und Wahrnehmen dieses Neurotikers ist, Adler zufolge, durch Dichotomien und Gegensatzpaare geprägt, deren Urform wir als Minderwertigkeitsgefühl und Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls festgestellt haben. Es entspricht nur den primitiven Versuchen des Kindes, sich in der Welt zu orientieren und sich so zu sichern, wenn greifbarere Gegensatzpaare erfasst werden. Unter diesen habe ich folgende zwei regelmässig gefunden: 1. oben – unten; 2. männlich – weiblich.  – Man findet dann immer  Gruppierungen  von Erinnerungen, Regungen und Handlungen, die im Sinne des Patienten, nicht immer im Sinne der Allgemeinheit nach dem Typus geordnet sind: minderwertig = unten = weiblich; mächtig = oben = männlich. Diese Gruppierung ist wichtig; denn sie ermöglicht, weil sie beliebig gefälscht und protegiert werden kann, die Verzerrung des Weltbildes, wodurch es dem Neurotiker immer möglich ist, durch Arrangement, durch Unterstreichung und Willkürlichkeiten, seinen Standpunkt als den eines zurückgesetzten Menschen festzuhalten. Es liegt in der Natur der Dinge, dass ihm dabei seine konstitutionelle Minderwertigkeit zu Hilfe kommt, und ebenso die stetig zunehmende Aggression seiner Umgebung, die durch nervöses Betragen des Patienten fortwährend aufgestachelt wird.19

Diesem Muster entsprechend ist Weiningers 1903 erschienenes Hauptwerk Geschlecht und Charakter aufgebaut, das auf der Dissertation basiert, aber durch die Kapitel „Das Wesen des Weibes und sein Sinn im Universum“, „Das Judentum“ und „Das Weib und die Menschheit“ angereichert ist. Das Ich-Ideal, an dem Weininger sich maß, war männlich, mächtig und herrschend. Ihm gegenüber standen die Frauen als untergeordnete Mängelwesen  – besonders aber der effeminierte Jude, der nur scheinbar männlich, tatsächlich aber beschnitten und damit mangelhaft sei.20 All dies ist grundiert durch den Gegensatz von Geist und Natur, wie wir ihn schon bei Ludwig Klages kennengelernt 18 Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden IndividualPsychologie und Psychotherapie [1912]. München 41928, S. 13. 19 Ebd., S. 20. 20 Freuds oben zitiertes Wort vom Kastrationskomplex als Wurzel des Antisemitismus war direkt auf Weiningers Buch bezogen.

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6. Der Eros der Freundschaft

haben, wobei in Weiningers misogyner Konzeption jedoch gerade umgekehrt dem Mann Geistigkeit und der Frau bloße Natürlichkeit zugeschrieben wird. Der Mann erscheint dadurch als schöpferisches, lebens- und kulturgestaltendes Subjekt, während Frauen bloße Materie, sexuelle Objekte sind. Das Judentum nun sah Weininger als weiblich an, weil es geistlos sei und nur dem Fleisch fröne. Er griff dabei auf die antijudaistische Polemik Luthers zurück, der den Geist gegen das Wort oder den Glauben gegen das Fleisch ausgespielt hatte.21 Die Lösung bestand aus Weiningers Sicht zunächst darin, dass die Juden ihr Judentum überwinden.22 Damit meinte er nicht nur den jüdischen Glauben und die jüdischen Riten, sondern auch den „geistlosen“ Materialismus, den er, abermals antijüdische Stereotype aufnehmend, den Juden unterstellte. Da aber dieser fleischliche Materialismus in den Körper des Juden eingeschrieben und damit zur biologischen Natur geworden sei, stellte sich die Überwindung des Judentums als bloße Chimäre heraus. Schnell musste Weininger erleben, dass die Konversion – seiner Ansicht nach – keine vollständige Trennung vom Judentum zur Folge gehabt hatte. Er fühlte sich gewissermaßen in seinem jüdischen Körper gefangen. In Weiningers Buch sind die Diskurse über Sexualität und Judentum ineinander verschlungen wie in keinem anderen Werk.23 Wenig beachtet wurde bisher, dass in diesem Zusammenhang auch Freundschaft eine zentrale Rolle spielt. In dem Kapitel „Homosexualität und Päderastie“ versuchte sich Weininger an einer Abgrenzung der Freundschaft von gleichgeschlechtlicher Sexualität. Interessanterweise stellte er beide aber nicht schroff einander gegenüber, sondern setzte sie vielmehr in ein Entwicklungsverhältnis zueinander. Ausgehend von der These der konstitutiven Bisexualität bestimmte er die Homosexualität als Naturanlage, indem er ein weites Spektrum an Mischverhältnissen von weiblichen und männlichen Anteilen postulierte, in dem die Homosexualität lediglich einen Typus unter anderen Sexualcharakteren repräsentierte. Im Phänomen der Jugendfreundschaft schließlich sah er den Beweis dafür, dass ein gewisses Maß an homosexuellen Neigungen in jedem Menschen vorhanden ist: 21 Vgl.

David Nirenberg: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. München 2015, S. 255–261. 22 Sein Freund Emil Lucka (1877–1941) war unter dem Eindruck von Weiningers Antisemitismus bereits 1901 zum Katholizismus übergetreten. Seine Äußerungen zum Judentum waren nicht minder radikal als die seines Freundes. Vgl. Emil Lucka: Otto Weininger. Sein Werk und seine Persönlichkeit. Wien, Leipzig 1905, S. 62–68. 23 Vgl. John M. Hoberman: Otto Weininger and the Critique of Jewish Masculinity. In: Nancy A. Harrowitz, Barbara Hyams (Hg.): Jews & Gender. Responses to Otto Weininger. Philadelphia 1995, S. 141–153. Siehe auch den instruktiven Beitrag von Christine Achinger: „Wer immer das jüdische Wesen haßt, der haßt es zunächst in sich.“ Otto Weiniger als Theoretiker und Praktiker des Antisemitismus. In: Hans-Joachim Hahn, Olaf Kistenmacher (Hg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944. Berlin u. a. 2015, S. 209–233.

6.2. Die Reinheit der Freundschaft

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Daß in jedem menschlichen Wesen, entsprechend dem mehr oder minder rudimentär gewordenen anderen Geschlecht, auch die Anlage zur Homosexualität, wenn auch noch schwach, vorhanden ist, wird besonders klar erwiesen durch die Tatsache, daß im Alter vor der Pubertät, wo noch eine verhältnismäßige Undifferenziertheit herrscht, wo noch nicht die innere Sekretion der Keimdrüsen vollends über den Grad der einseitigen sexuellen Ausprägung entschieden hat, jene schwärmerischen „Jugendfreundschaften“ die Regel sind, die nie eines sinnlichen Charakters ganz entbehren, und zwar sowohl beim männlichen wie beim weiblichen Geschlecht.24

Jugendfreundschaften waren für Weininger somit Ausdruck homosexueller Neigungen, besonders wenn sie sich stürmisch und leidenschaftlich gestalteten. Dass er Freundschaft zwischen Jugendlichen nur als gleichgeschlechtliche denken konnte, war, wie wir noch sehen werden, Ausdruck der zeitgenössischen Freundschaftspraxis. Aber noch etwas anderes fällt auf: „Homosexuelle“ Freundschaft war für ihn ein Jugendphänomen, das mit dem Entwicklungsstadium adoleszenter Sexualität zusammenhänge. Mit zunehmendem Alter allerdings drohe diese adoleszente Freundschaft sich als fixiertes gleichgeschlechtliches Begehren zu verfestigen: Wer freilich über jenes Alter hinaus noch sehr von „Freundschaft“ mit dem eigenen Geschlecht übermäßig schwärmt, hat schon einen starken Einschlag vom anderen in sich; eine noch weit vorgerücktere Zwischenstufe markieren aber jene, die von Kollegialität zwischen den „beiden Geschlechtern“ begeistert sind, mit dem anderen Geschlecht, das ja doch nur das ihrige ist, ohne über die eigenen Gefühle wachen zu müssen, kameradschaftlich verkehren können, von ihm zu Vertrauten gemacht werden, und ein derartiges „ideales“, „reines“ Verhältnis auch anderen aufdrängen wollen, die es weniger leicht haben, rein zu bleiben.25

Im Unterschied zur Jugendfreundschaft zeichne sich die wahre Freundschaft demnach durch eine nicht näher definierte „Reinheit“ aus; aus dem Gesagten erhellt, dass mit der kollegialen, kameradschaftlichen Beziehung eine von geschlechtlicher Sexualität freie Liebe gemeint ist. Zwar gebe es „keine Freundschaft zwischen Männern, die ganz eines Elementes von Sexualität“ entbehre, aber das Sexuelle bezeichne gerade nicht das „Wesen der Freundschaft“, sondern sei ihm geradewegs „entgegengesetzt“.26 Homosexualität, folgert Weininger, sei den Freunden „peinlich“.

24 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung [1903]. Wien, Leipzig 101908, S. 57. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 58.

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6. Der Eros der Freundschaft

6.3. Otto Weiningers Freundschaften Dass er hier auch auf eigene Erfahrungen zurückgriff, zeigen Aufzeichnungen und Briefe aus seinem Nachlass.27 Freundschaft spielte in seinem kurzen Leben eine herausragende Rolle, und der erotische Anteil an der Freundschaft beunruhigte ihn vor allem in den letzten Lebensjahren vor seinem Suizid. Auch für Weininger war die Freundschaft, wie für viele andere junge Männer und Frauen seiner Zeit, ein Rückzugsort vor familiärem und gesellschaftlichem Druck. Sein Vater, der Goldschmied Leopold Weininger, war eine starke Figur gewesen, ein Familienoberhaupt, dem die sechs Kinder in allen Belangen zu gehorchen hatten.28 „Als Vater war er einzigartig, unvergleichlich“, erinnert sich Ottos Schwester Rosa. Er habe sich „mit größter Hingabe um die Leben und Seelen seiner Kinder“ gesorgt und sei dafür von diesen „geliebt und gefürchtet“ gewesen.29 Wenn eines der Kinder flunkerte, „bestrafte er uns sofort. Seine Anforderungen an uns waren enorm; wenn wir ihnen nicht gerecht wurden, war er tödlich verwundet.“30 Weiningers Biograph beschreibt den Vater insgesamt als „streng an Disziplin, rigide in seiner Kritik und ‚göttlich‘ in seiner Güte“ – ein Übervater.31 Auch Otto Weiningers Bruder Richard schwärmt in seinen  – allerdings von Fehlern gespickten und durchweg apologetischen – Memoiren vom Charakter des Vaters, erwähnt aber an einer Stelle auch, dieser sei „autokratisch“ gewesen.32 Zudem scheint er eine Art Gesundheitsfanatiker gewesen zu sein, der seinen Kindern bis zum elften Lebensjahr selbst die Zähne putzte, im Haus aus orthopädischen Gründen nur barfuß ging und seine Söhne und Töchter unabhängig von der Wetterlage nach dem Abendessen stets zu einem mindestens einstündigen Abendspaziergang nötigte, um die Verdauung anzuregen.33 Die Schwester Rosa erinnert sich an viele Gemeinsamkeiten Ottos mit seinem Vater, etwa was das Interesse an Musik und Fremdsprachen betrifft, verweist aber auch auf damit verbundene Konflikte: „Mein Vater war sehr antisemitisch, aber er dachte wie ein Jude und war wütend,

27 Otto Weininger: Taschenbuch und Briefe an einen Freund. Hrsg. v. Artur Gerber. Leipzig, Wien 1920. 28 Die beste Biographie ist noch immer David Abrahamsen: The Mind and the Death of a Genius. New York 1946, die unter anderem auf Erinnerungen von Ottos Weiningers Schwester Rosa sowie Freunden und Kollegen basiert. Das Buch enthält auch zahlreiche Briefe aus verschiedenen Nachlässen. 29 Rosa Weiniger an David Abrahamsen, 27. Juni 1939. In: Abrahamsen: The Mind, S. 208 (meine Übersetzung – PL). 30 Ebd. 31 Abrahamsen: The Mind, S. 9 (meine Übersetzung – PL). Abrahamsen bezieht sich dabei auf eine ähnliche Äußerung Rosas. Vgl. Rosa Weiniger an David Abrahamsen, 27. August 1938. In: Abrahamsen: The Mind, S. 204. 32 Richard Weininger: Exciting Years. Edited by Rodney Campbell. New York 1978, S. 20. 33 Ebd., S. 15 und 19.

6.3. Otto Weiningers Freundschaften

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als Otto etwas gegen das Judentum schrieb.“34 Folglich war Leopold Weininger auch strikt dagegen, dass sein Sohn zum Christentum übertrat. Erst als er überzeugt war, dass die Konversion nicht aus opportunistischen Gründen erfolgte, sondern aus Überzeugung, gab er seinen Widerstand auf. Otto Weiningers Mutter Adelheid, eine „schöne Frau, mit schönen, schwarzen Haaren“, scheint eine einfühlsame, liebende Hausfrau und Mutter gewesen zu sein, stand aber immer im Schatten ihres Mannes.35 Da sie in Ottos Briefen an keiner Stelle erwähnt wird, ist davon auszugehen, dass das emotionale Band nicht besonders fest war.36 Familie – das bedeutete für Otto vor allem die Herrschaft des Vaters. Freundschaften stellten daher einen Freiraum dar, in dem er zumindest temporär das straffe Korsett des bürgerlichen Normenkatalogs und der überzogenen Erwartungen abstreifen konnte. Alle seine Freunde berichten übereinstimmend, wie viel Zeit sie mit Weininger verbrachten, Tage und Nächte hindurch miteinander diskutierten, stritten und träumten. Freunde waren für Weininger kein bloßer Zeitvertreib oder angenehme Gesellschaft, sondern geradezu das Fundament seines Daseins. Daher rührte auch die bemerkenswerte Konstanz seiner Beziehungen. Seinem Jugendfreund, Oskar Ewald Friedländer (1881–1940), der später ebenfalls Philosoph werden sollte, blieb er bis zum Tod verbunden.37 Er war es, der nach dem Freitod Weiningers 1903 dessen stenographisch abgefasste Manuskripte entzifferte und für eine Freundesausgabe transkribierte. Herausgegeben wurde das schmale Bändchen, das 1920 erschien, als Weininger schon zu einer populären Figur und Geschlecht und Charakter ein posthumer Bestseller geworden war, von einem anderen engen Freund, Artur Gerber (1882–1942).38 Drei weitere Freunde, der Jurist und Schriftsteller Moriz Rappaport (1881–1939), der Philosoph Emil Lucka (1877–1941) sowie der Psychologe Hermann Swoboda (1873–1963), beteiligten sich ebenfalls daran, die Erinnerung an Otto Weininger nach seinem

34 Rosa Weininger an David Abrahamsen, 27. August 1938. In: Abrahamsen: The Mind, S. 204 (meine Übersetzung – PL). 35 Vgl. Rosa Weininger an David Abrahamsen, 27. Juni 1939. In: Abrahamsen: The Mind, S. 208 (meine Übersetzung – PL). 36 Vgl. Sengoopta: Otto Weininger, S. 13. 37 Die beiden lernten sich am Gymnasium kennen, ihre Freundschaft war aber alles andere als spannungsfrei. 1909 nannte sich Friedländer, der 1906 zum Protestantismus übergetreten war, nur noch Oskar Ewald und ließ damit seinen erkennbar jüdischen Nachnamen verschwinden. Vgl. Oskar Ewald: Die Erweckung. Selbsterkenntnis und Weltgestaltung. Berlin 1922, S. 61–63. 38 Artur (oder: Arthur) Gerber stammte aus dem böhmischen Königinhof an der Elbe, war promovierter Jurist und Beamter der Wiener Großbank Escompte-Gesellschaft. 1907 trat er zum Protestantismus über. Vgl. Anna L. Staudacher: „… meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben“. 18000 Austritte aus dem Judentum in Wien, 1868–1914: Namen – Quellen – Daten. Frankfurt am Main u. a. 2009, S. 188 sowie Günter K. Kodek: Unsere Bausteine sind die Menschen. Die Mitglieder der Wiener Freimaurerlogen (1869–1938). Wien 2009, S. 112. Siehe auch den Autographen. Leo Baeck Institute New York, AR 1729.

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6. Der Eros der Freundschaft

Tode wachzuhalten.39 Der Jugendfreund Emil Lucka publizierte bereits zwei Jahre nach Weiningers Tod eine Art Einführung in Weiningers philosophisches Werk40; Rappaport hingegen, der nicht mit dem gleichnamigen Dichter zu verwechseln ist, gab Weiningers Nachlass heraus. Swoboda schließlich, der älter und eher eine Vaterfigur war, veröffentlichte 1911 eine psychologische Skizze mit dem Titel Otto Weiningers Tod.41 Er war der einzige geborene Nichtjude aus dem engsten Freundeskreis Weiningers. Alle fünf fühlten sich dem Freunde über den Tod hinaus verbunden und bekräftigten durch ihre vielfältigen Publikationstätigkeiten ihre Treue. Zu Lebzeiten Weiningers war die Gemeinschaft für die Freunde zumindest zeitweilig das Zentrum ihres Lebens. Oskar Ewald beschreibt die letzten Jahre vor Weiningers Freitod in seinen philosophischen Erinnerungen mit emphatischen Worten: Wir schlossen uns noch mehr zu gemeinsamer Arbeit aneinander; andere kamen hinzu und der Kreis erweiterte sich, gewann aber bald eine bestimmte Form. Es begann jener regelmäßige Verkehr und Austausch, von dem ich früher sprach. An jedem Samstag versammelten wir uns abends in einem Kaffeehause der inneren Stadt und in nicht endenwollenden Gesprächen und Diskussionen verging hier ein Teil der Nacht, dem der Rest nach Sperrung des Lokals noch in langen Wanderungen durch die einsamen Gassen angestückelt zu werden pflegte. Mir bedeuteten diese Zusammenkünfte unendlich viel und ich kann beinahe behaupten, daß die ganze Arbeit der Woche bloß ein Auftakt zu ihnen war; sie bildeten den Hauptinhalt meines Lebens und es ist sicher, daß auch Weininger ihnen hohe Bedeutung beimaß.42

Die Gemeinschaft der Freunde war laut Ewald „nicht bloß Theorie und nüchterne Gedankenarbeit“, sondern geprägt durch ein „intellektuelles Durchdringen aller Probleme, der diesseitigen und transzendenten“.43 Mit anderen Worten: Der Bund war eine Lebensgemeinschaft, auch wenn Ewald bedauerte, dass er selbst damals zu „unfertig“, „zu uneins“ mit sich gewesen sei, um eine feste Liebes- und Freundschaftsbeziehung aufzubauen, „die fähig gewesen wäre, schwere Proben zu bestehen“.44 Das war möglicherweise ein Fehlurteil – denn Weiningers Suizid war ja genau solch eine Probe, und auch wenn der Kreis über das Ereignis aus39 Insbesondere Rappaport ist eine interessante, bislang in der Forschung kaum berücksichtigte Figur. Am Rande erwähnt wird er bei Peter Michael Braunwardt: Dr. Schnitzler geht ins Kino. Eine Skizze seines Rezeptionsverhaltens auf Basis der Tagebuch-Notate. In: Thomas Ballhausen u. a. (Hg.): Die Tatsachen der Seele. Arthur Schnitzler und der Film. Wien 2006, S. 26. Im Zuge der Novemberrevolution veröffentlichte Rappaport die Schrift: Sozialismus, Revolution und Judenfrage. Wien, Leipzig 1919. Siehe dazu Brenner: Der lange Schatten der Revolution, S. 163. 40 Vgl. Lucka: Otto Weininger. 41 Hermann Swoboda: Otto Weiningers Tod. Wien, Leipzig 1911. 42 Ewald: Die Erweckung, S. 64. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 65.

6.3. Otto Weiningers Freundschaften

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einanderbrach, blieb doch das Andenken an den gemeinsamen Freund das Band, das sie auch über dessen Tod hinaus umschlang. Das zeigt sich an den vielen Erinnerungen, die die Freunde über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hinweg veröffentlichten. Am bemerkenswertesten ist dabei das bereits erwähnte, von Artur Gerber herausgegebene Taschenbuch, das eine biographische Erinnerung Gerbers, zahlreiche aphoristische Aufzeichnungen sowie Briefe Weiningers an seinen besten Freund (sowie zwei Briefe August Strindbergs) enthält.45 Weininger hatte Rappaport vor seinem Tod alle Aufzeichnungen, die er besaß, geschickt und zur Veröffentlichung überlassen.46 Dieser veröffentlichte 1907 einen Teil dieses Nachlasses in dem Band Über die letzten Dinge, doch die stenographierten Texte, die er nicht lesen konnte, wurden zunächst nicht für die Publikation berücksichtigt. Erst 17 Jahre nach Weiningers Tod, im Jahr 1920, erschien das Taschenbuch, gewissermaßen als Kollektivwerk der Freunde Rappaport (Nachlassverwalter), Gerber (Herausgeber) und Ewald (Bearbeiter). Gerber ist in dem Buch als „bester Freund“ der letzten Lebensjahre ein permanenter, allgegenwärtiger Bezugspunkt. Wie vertraut die Freunde waren, zeigt sich bereits an den ersten aphoristischen Gedanken, die Weininger in seinem „Taschenbuch“ notiert hatte: In ihnen erklärt er dem Freund, warum er sich das Leben nehmen wollte. Der Selbstmord sei keine „persönliche Sache“, schrieb er, und habe nichts damit zu tun, dass er den Freund für irgendein Fehlverhalten bestrafen oder ins Unglück stürzen wolle.47 Vielmehr resultiere der Suizid aus einer unentrinnbaren Krankheit: „Selbstmord aus Unfähigkeit, dem Verbrechen zu entgehen. Selbstmord aus Unfähigkeit, der Krankheit zu entgehen.“48 Worin diese Krankheit bestand, war für Weininger ganz klar: „Krankheit heißt Einsamkeit.“49 Aber auch das Phänomen des Minderwertigkeitskomplexes, wie es Adler analysiert hatte, geht aus den Aufzeichnungen deutlich hervor. Weininger maß sich mit Gerber, dem er attestierte, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch „stark“ zu sein.50 Da er seinen besten Freunden die Notizen vor seinem Suizid überreichte, können sie auch als Hilfeschrei gelesen werden, zumal Gerber ihn ein Jahr zuvor schon einmal davon abgehalten hatte, sich das Leben zu nehmen. In der „qualvollen Stunde, in der es sich um Rettung oder Verlust des teuersten Freundes handelte“, nahm Gerber seinem Freund die Waffe ab und bewahrte ihn damit vor dem Ende.51

45 Weininger:

Taschenbuch. Artur Gerber: Ecce Homo! In: Weininger: Taschenbuch, S. 23. 47 Weininger: Taschenbuch, S. 28. 48 Ebd., S. 29. 49 Ebd., S. 46. 50 Ebd., S. 29. 51 Gerber: Ecce Homo!, S. 18.

46 Vgl.

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6. Der Eros der Freundschaft

Berücksichtigt man die Verachtung für das Weibliche, das Weininger mit Sinnlichkeit gleichsetzte, dann erstaunt, wie emotional die Briefe an Gerber sind. An vielen Stellen gibt er Auskunft über seinen Seelenzustand: „Mir geht es gar nicht gut, inwendig. Hoffe, daß es Dir wenigstens nicht allzu schlecht geht“, heißt es da zum Beispiel im Juli 1902 in einem Brief aus München.52 Nur vier Tage später folgte die nächste Wasserstandsmeldung: „Lieber Freund! Mir geht’s ein bißchen besser, wenigstens tue ich so als ob. Auch macht sich bereits der sanfte, aber unwiderstehliche Einfluß des Münchner Bieres bemerkbar.“53 Der zwischen Ironie, Aufrichtigkeit und Anteilnahme changierende Ton wird grundiert durch enigmatische Andeutungen: Lieber, herzlich geliebter Freund! Sei mir nicht böse, daß ich Dir damals im Löwenbräu, wo das Bier viel schlechter ist als im Pschorr-, Hof- und Spatenbräu, eine offene Karte geschrieben habe. Ich dachte gerade an Dich und hatte eine Karte bei mir und nichts anderes. […] Ich denke oft an Dich, aber Deine jetzige Lage macht mir dieses Denken ziemlich schmerzhaft. Und ich kann jetzt gar nichts für Dich tun! Während Du, aus Deinem glücklichen Wandel heraus, nicht nur für meine Kleidung, sondern auch für meine Speisung Sorge trägst. Die Salami werde ich in Bayreuth wohl essen, aber leider allein … […] Eins möchte ich Dich bitten: Verlang’ nicht zuviel von mir über mich zu erfahren. Für mich ist’s eine sehr schlechte Zeit jetzt, schlecht wie kaum je. Nicht nur große Unfruchtbarkeit, nicht nur lauter humpelnde, von mir Krücken verlangende Einfälle, und dieser wenig genug; auch ganz anderes. Vielleicht werd’ ich Dir einmal davon erzählen. Ich führe neben dem Leben, das Du kennst, noch immer zwei, drei andere, die Du nicht kennst. Darauf mach’ ich Dich aufmerksam; mehr kann ich Dir nicht sagen, bitte Dich aber, nicht nachzuforschen, in keiner Weise.54

Weiningers Freundschaft war eindeutig mit einer Form der Liebe und Zuneigung verbunden, die sich in der Zeit der Trennung als Sehnsucht äußerte. Die Gemeinschaft der Freunde basierte aber nicht nur auf wechselseitigen Gefühlen füreinander, sondern auch auf geteilten Geheimnissen, die vor der Welt zu verbergen waren. Das größte dieser Geheimnisse war die sexuelle Komponente ihrer Freundschaft  – sie war so geheim, dass nicht einmal die Freunde selbst darüber offen zu sprechen wagten: Ich habe noch etwas an Dir zu verrichten. Ganz fehlt Dir das andere nicht, das weiß ich von jener Nacht her, über die wir nicht wieder gesprochen haben. Ich wäre glücklich, wenn ich nach meiner Rückkehr dazu beitragen könnte, diesem andern, dem einzigen Quell einer möglichen Gemütsbefriedigung für den Menschen, zum Fließen zu verhelfen.55

Weininger spricht nicht aus, was „das andere“ ist, aber es scheint schambehaftet zu sein und für große Befriedigung zu sorgen. Aber geht es wirklich um homosexuelle Praktiken zwischen den Freunden? 52 Otto

Weininger an Artur Gerber, 25. Juli 1902. In: Weininger: Taschenbuch, S. 70. Weininger an Artur Gerber, 29. Juli 1902. In: Weininger: Taschenbuch, S. 70. 54 Otto Weininger an Artur Gerber, 5. August 1902. In: Weininger: Taschenbuch, S. 71 f. 55 Otto Weininger an Artur Gerber, 8. August 1902. In: Weininger: Taschenbuch, S. 74. 53 Otto

6.3. Otto Weiningers Freundschaften

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Einiges spricht dafür. Zunächst wäre da die Tatsache, dass Gerbers Eltern nur wenige Wochen, nachdem Weininger die Anspielungen auf „jene Nacht“ gemacht hatte, versuchten, ihrem Sohn den Umgang mit seinem besten Freund zu verbieten. Sie stellten ihn vor die Wahl, entweder den Kontakt abzubrechen oder das Elternhaus verlassen zu müssen. Weininger war sich zwar sicher, „daß es nicht soweit kommen, sondern bei der Drohung bleiben“ werde. Aber wenn doch, „so erwarte ich von Dir, daß Du, zunächst wenigstens, bei mir wohnen und auch sonst mit mir teilen wirst. Ich sage, ich betrachte das als selbstverständlich.“56 Mit anderen Worten: Gerber sollte sich zwischen einer eheähnlichen Gemeinschaft mit seinem Freund und dem Zusammenleben mit seiner Familie entscheiden. Wer weiß, wie die Geschichte ausgegangen wäre, hätte sich Weininger nicht ein Jahr später das Leben genommen. Es gibt aber noch ein zweites Indiz dafür, dass der Freundschaft sexuelle Züge eigneten, und zwar offen homoerotische Anspielungen: „Ich küsse Dich“, heißt es beispielsweise im September 1902.57 Dass solche Zueignungen im Kontext sexueller Anziehung gestanden haben könnten, geht aus einem unveröffentlicht gebliebenen Brief an den Psychologen Hermann Swoboda hervor, in dem Weininger dem älteren Freund gegenüber berichtet, wie erfolgreich er homosexuelle Neigungen bekämpfe: Mein Mittel zur Bekämpfung der Homosexualität scheint Erfolg zu haben!!! Trotzdem es ja zu meiner Theorie nur stimmen würde, habe ich mich doch von meinem Staunen darüber noch nicht erholt. Wenn ich nur sicher wäre, daß keine Suggestion vorliegt! Je weiblicher das Individuum, desto eher eine solche Wirkung anzunehmen. Jedenfalls werden die Dosen fortgesetzt werden müssen. Ich denke schon an Injektionen, weil diese noch wirksamer sein müssen. Würde dazu aber eine Morphiumspritze brauchen.58

Es ist nicht ganz klar, an wem Weininger zu diesem Zeitpunkt – im Frühjahr 1901 – seine „Therapie“ ausprobierte und ob es um seine eigenen Neigungen ging oder die eines Freundes, aber er thematisierte in dem Brief ganz offen gleichgeschlechtlichen Sex: Sehr dankbar wäre ich Dir, wenn Du eine Schachtel Kondoms und ein Stück JodoformEumarinpflaster [zur Wundbehandlung] nach Wien mitnehmen würdest. Aber schon aus dem erstangeführten Grund allein erscheint Deine baldige Anwesenheit in Wien höchst wünschenswert. Mein Patient bereitet sich schon auf den ersten Koitus vor!59 56 Otto

Weininger an Artur Gerber, 27. September 1902. In: Weininger: Taschenbuch, S. 88 f. Weininger an Artur Gerber, 13. September 1902. In: Weininger: Taschenbuch, S. 87. 58 Otto Weininger an Hermann Swoboda, 11. April 1901. In: Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, H. I. N. 107.902. Hier zitiert nach: Jacques Le Rider: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus. Wien, München 1985, S. 25 f. Swoboda selbst veröffentlichte in der zweiten Auflage seines Buches einige Briefe Weiningers an ihn – dieser ist nicht darunter. Vgl. Hermann Swoboda: Otto Weiningers Tod [1911]. Wien, Leipzig 21923. 59 Weininger an Swoboda, 11. April 1901. 57 Otto

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6. Der Eros der Freundschaft

Wer verbirgt sich hinter der Formulierung „mein Patient“? Ist es nur eine ironische Anspielung und Weininger meint sich selbst? Oder Swoboda? Der bestritt das vehement.60 Wir wissen es nicht und schließen uns Chandak Sengoopta an, der in seiner aufschlussreichen psychohistorischen Studie zu folgendem Urteil kommt: „Es gibt keinen Beweis dafür, dass Weininger jemals eine sexuelle Beziehung zu einer Frau hatte, aber obwohl Swoboda dies bestritt, gibt es einige Hinweise darauf, dass Weininger homosexuell war und sich dabei zutiefst unwohl fühlte.“61

6.4. Benedict Friedlaenders Männerbund So sehr Weininger das Theorem der konstitutionellen Bisexualität anerkannte, ja sogar die heteronormativen Grundannahmen der Zeit infrage stellte, so sehr richtete er, wenn es um die „Idee der Freundschaft“ ging, wieder die Norm einer „reinen“, nichtsexuellen Beziehung auf. Aber immerhin ließ er den Gedanken zu, dass der gleichgeschlechtlichen Freundschaft ursprünglich sexuelle Impulse zugrunde lagen, die nie ganz verschwanden. Weil er etwas Verdrängtes aussprach und das Verhältnis von Homosexualität und Männerfreundschaft thematisierte, fließt seine Schrift, trotz aller misogynen und antisemitischen Tiraden, im breiten Strom der sexuellen Emanzipation, der um die Jahrhundertwende die betonierte bürgerliche Ordnung zu fluten begann. Allerdings war in Weiningers Differenzierung zwischen reiner und unreiner Freundschaft bereits die Unterdrückung abweichenden sexuellen Begehrens angelegt, das er ja nervös auch an sich selbst registrierte. Doch es gab auch eine andere Option, mit dem Spannungsfeld von Freundschaft und Homosexualität umzugehen. Unmittelbar nach seinem Tod entstand eine männerbündische Bewegung, die entgegen der von Weininger betonten Geistigkeit der Freundschaft gerade die erotische Bindung zwischen Männern eindeutig positiv bewertete. Einer der ersten, der sich in diesem Sinne äußerte und einen „Bund für männliche Kultur“ um sich scharte, war der anarchistische Zoologe Benedict Friedlaender (1866–1908). Er war Sohn eines Professors für Nationalökonomie an der Berliner Universität und wuchs in behüteten Verhältnissen auf.62 Nachdem er sich ver60 Swoboda:

Otto Weiningers Tod. Wien, Leipzig 1911, S. 44. Otto Weininger, S. 16 (meine Übersetzung – PL). 62 Siehe Benedict Friedlaender: Lebenslauf und Schriftenverzeichnis des Verfassers. In: Ders.: Die Liebe Platons im Lichte der modernen Biologie. Gesammelte kleinere Schriften über zweigeschlechtliche Liebe. Berlin 1909, S. 279 f. Marita Keilson-Lauritz vermutet, Friedlaenders Vater Carl Jakob, Sohn des jüdischen Arztes Nathan Friedlaender, sei zum Protestantismus übergetreten, liefert aber keinen eindeutigen Beleg. Vgl. Marita Keilson-Lauritz: Benedict Friedlaender und die Anfänge der Sexualwissenschaft. In: Zeitschrift für Sexualforschung 18, 4 (2005), S. 313. Zu Nathan Friedlaender siehe Werner Treß: Friedlaender – Rieß. Grundlegung zur wissenschaftlichen Biographie einer jüdischen Gelehrten- und Mäzenatenfamilie. In: Christina von Braun 61 Sengoopta:

6.4. Benedict Friedlaenders Männerbund

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schiedenen politischen und wissenschaftlichen Bewegungen angeschlossen und Amerika, Neuseeland, Indien, Hawaii und sogar Samoa bereist hatte, wendete er sich um die Jahrhundertwende der Homosexuellenbewegung in Deutschland zu.63 1904, nur ein Jahr nach Weiningers Tod, veröffentlichte er das Buch Die Renaissance des Eros Uranios, in dem er die Theorie des Männerbundes erstmals ausformulierte. Die „Renaissance des Eros“, die er verkündete, sei weder eine bloße „Sanctionierung […] der Geschlechtslust“ noch ein rein geistiger „Dunst“, sondern eine Körper und Seele umfassende besondere soziale Form: die sogenannte „physiologische Freundschaft“, die Friedlaender explizit von der auf den Geschlechtsakt zielenden Liebe und der rein geistigen Freundschaft unterschied.64 Zwar ging es ihm auch um die „gesellige und psychische, und damit auch die intellectuelle Coalitionsfreiheit der Männer“, aber diese sei vom homoerotischen Verkehr gar nicht zu trennen.65 Wortreich grenzte er sich von nicht näher bestimmten „Ausschreitungen“ gleichgeschlechtlicher Liebe ab, um strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen, aber er ließ keinen Zweifel daran, dass sein Konzept der „physiologischen Freundschaft“ sexuelle Praktiken einschloss.66 Dass diese als „unsittlich“ gälten, sei kein ehernes Naturgesetz, sondern liege an historisch und gesellschaftlich bedingten Gewohnheiten, die sich auch wieder ändern könnten. Ins Visier nahm er dabei besonders das Christentum, das die heterosexuelle Ehe zur höchsten Norm erkläre und die Männerfreundschaft unterdrücke. Das Christentum sei die „eigentliche schlimme ‚Verjudung‘“, beklagte er in seinem Tagebuch, denn die „weiße Rasse“ sieche dahin „unter dem Fluche“ der ihr „fremden und vorwiegend schädlichen“ Religion.67 Immer wieder sprach er sich explizit gegen den zeitgenössischen Antisemitismus aus und erklärte die herrschende christliche Moral zum Hauptfeind der männerbündischen Idee.68 (Hg.): Was war deutsches Judentum? 1870–1933. Berlin, München, Boston 2015, S. 181. Benedict Friedlaenders Mutter Anna, geborene Nuglisch, stammte aus einer protestantischen Drogeriefabrikantenfamilie. Im Sterberegister ist Benedict Friedlaender als „konfessionslos“ geführt. Landesarchiv Berlin, Sterberegister StA Schöneberg I, Nr. 964/1908. 63 Keilson-Lauritz: Benedict Friedlaender, S. 316. 64  Benedict Friedlaender: Die Renaissance des Eros Uranios. Die physiologische Freundschaft, ein normaler Grundtrieb des Menschen und eine Frage der männlichen Gesellungsfreiheit. In naturwissenschaftlicher, naturrechtlicher, culturgeschichtlicher und sittenkritischer Beleuchtung. Berlin 1904, S. 163 f. 65 Ebd., S. 166. 66 Siehe besonders ebd., S. 164, Anm. 67 Benedict Friedlaender: 14. Juni 1908. In: Ders.: Die Liebe Platons im Lichte der modernen Biologie. Gesammelte kleinere Schriften über zweigeschlechtliche Liebe. Berlin 1909, S. 277. 68 So war er zwar ein großer Anhänger Eugen Dührings, nach dem er sogar seinen Sohn benannte, wies aber dessen Antisemitismus zurück und trat entschieden für die soziale und politische Gleichstellung der Juden ein. Vgl. Benedict Friedlaender: Der freiheitliche Sozialismus im Gegensatz zum Staatsknechttum der Marxisten. Mit besonderer Berücksichtigung der Werke und Schicksale Eugen Dühring’s. Berlin 1892, S. 110–115 und Ders.: Betreffs Dühring. In: Ders.: Aphorismen. Hrsg. v. Immanuel Friedlaender. Berlin 1911, S. 98–101, wo es unmissverständlich heißt: „Die Judenrasse zu einem Träger der Reaktion stempeln zu wollen, ist eine parteiische

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6. Der Eros der Freundschaft

Vor allem die bürgerliche Familie sah er als gegenüber der Männerfreundschaft minderwertige Kulturform an.69 Friedlaender relativierte also die Geltungsmacht bürgerlicher Normen und stellte ihnen sein Modell des Männerbundes als „Grundlage der menschlichen Socialität“ gegenüber. Dabei geriet vor allem die Familie als Keimzelle der Gesellschaft ins Visier: Rousseau irrt, wenn er im Contrat Social sagt, dass die Familie die einzige „natürliche“ Gesellschaft sei: Das ist für den Menschen ebenso unwahr, wie etwa für die Bienen. Die Sociabilität des Menschen ist eine „natürliche“ Eigenschaft und beruht […] auf einem Instincte, oder moderner geredet, auf einer physiologischen Grundlage.70

Diese physiologische Grundlage der Sociabilität sah Friedlaender in der „Attractionskraft“, also der Anziehung, die zwei Menschen füreinander empfinden.71 Insofern reiche die „ächte, naturentsprossene Freundschaft in die physiologischen Tiefen eben jenes socialen Triebes“ zurück.72 Echte Freundschaft aber, so Friedlaender, sei homosexuell: Die gleichgeschlechtliche Liebe, wie wir sie verstehen, ist daher geradezu identisch mit dem socialen Instinct selbst, oder doch nur eine individuelle Ausprägung derselben allgemein menschlichen, physiologischen Reizbarkeit, welche die Grundlage der menschlichen Socialität und somit der Cultur und auch der Moral ist: denn ohne Vergesellschaftung verliert Moral Zweck und Sinn.73

Um gleichgeschlechtliche Freundschaften nicht nur zu legitimieren, sondern sie sogar zum Inbegriff von Gesellschaft zu machen, setzte er beide einfach gleich. Wer konnte schon etwas dagegen einwenden, dass der Mensch nun einmal ein gesellschaftliches Wesen war? Und wer wollte bezweifeln, dass die Konstruktion einer Gesellschaft die Voraussetzung aller Kultur war? Dass Friedlaender Frauen aus dieser Sozialanthropologie ausschloss, oder ihnen zumindest einen inferioren Status zuwies, fiel dabei unter den Tisch. Ihm war es vor allem um die Idee des Männerbundes als soziale Form der „physiologischen Freundschaft“ zu tun. Eine Woche vor seinem Freitod infolge einer schmerzhaften Krebserkrankung brachte er seine wesentlichen Gedanken noch einmal zu Papier: „Die physiologi-

Ungerechtigkeit […] Es ist sogar mit Händen zu greifen, dass die Träger der eigentlichen Reaktion fast ganz und gar unter den Ariern und grossenteils sogar unter antisemitisch angehauchten Ariern zu suchen sind.“ Ebd., S. 100. 69 Friedlaender hatte 1901 die Protestantin Emilie „Emmy“ Huber geheiratet und mit ihr einen 1903 geborenen Sohn, Eugen Friedlaender. Vgl. dazu Klemens Ketelhut: Berthold Otto als pädagogischer Unternehmer. Eine Fallstudie zur deutschen Reformpädagogik. Köln, Weimar, Wien 2016, S. 232–235. 70 Friedlaender: Die Renaissance des Eros, S. 215. 71 Ebd., S. 213. 72 Ebd., S. 215. 73 Ebd.

6.4. Benedict Friedlaenders Männerbund

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sche Männerfreundschaft, nicht die Familie, ist die Grundlage des menschlichen Gemeinwesens“, heißt es da unmissverständlich.74 Anders also als Weiningers Ideal „reiner“ Freundschaft vertrat Friedlaender entschieden ein erotisches Modell der Männerfreundschaft. Da es mit maskulinistischen und offen misogynen Einstellungen verbunden war, die gegen die sexuelle Emanzipation der Frauen gerichtet waren und stattdessen einem reaktionären Männlichkeitskult huldigten, kam es 1906 zum Bruch mit dem emanzipatorisch gesinnten Sozialisten Magnus Hirschfeld.75 Friedlaender gründete eine sogenannte „Sezession“ des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees, die sich kurze Zeit später in „Bund für männliche Kultur“ umbenannte. Maßgeblichen Einfluss übte Friedlaender auf den in der Wandervogelbewegung aktiven nichtjüdischen Philosophen Hans Blüher (1888–1955) aus, der nach Friedlaenders Freitod 1908 die Männerbundbewegung anführte und diese bald auch in antisemitische Fahrwasser navigierte.76 Auch wenn die homoerotische Männerbundidee im geraden Gegensatz zu Weiningers Kult der geistigen Männerfreundschaft stand, waren sich Blüher und er jedenfalls darin einig, dass die Juden zu wahrer Freundschaft nicht fähig seien. Blühers Bewegung wurde in zweifachem Sinne vom jüdischen Bürgertum als Bedrohung empfunden: zum einen wurde sie vor allem nach dem Ersten Weltkrieg immer radikaler antisemitisch, zum zweiten stellte die offen propagierte Homosexualität die bürgerliche Geschlechterordnung infrage, die integraler Bestandteil des jüdischen Normen- und Wertekatalogs war.77 Die bürgerliche Ordnung gegen die Einfälle der sexuellen „Perversion“ zu verteidigen, unternahm der antifreudianische Psychiater und Gerichtsmediziner Siegfried Placzek (1866–1946). Er stammte aus dem südpreußischen Schwersenz in der Provinz Posen und hatte unter anderem bei Otto Binswanger in Jena und bei Hermann Oppenheim in Berlin Medizin und Psychologie studiert.78 1901 hatte er dem Judentum den Rücken zugekehrt und war zum Protestantismus übergetreten. Doch das änderte nichts daran, dass er aus dem Blüher-Kreis antisemitisch angefeindet wurde, vor allem nachdem er 1915 sein überaus erfolgreiches Buch Freundschaft und Sexualität veröffentlicht hatte, das aus konservativer Warte mit der Homosexualität hart ins Gericht ging. Das Buch erschien erstmals 1915, in einer erheblich erweiterten zweiten Auflage dann im Jahr 1916. Es war ein 74 Friedlaender:

14. Juni 1908, S. 277. Keilson-Lauritz: Benedict Friedlaender, S. 311–331. Siehe auch die Schilderung bei Hans Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Eine Theorie der menschlichen Staatsbildung nach Wesen und Wert, Bd. II: Familie und Männerbund. Jena 1920, S. 197. 76 Vgl. Treß: Friedlaender – Rieß, S. 189. 77 Dennoch hatte Blüher auch jüdische Bewunderer, etwa den Kreis um den rechtskonservativen späteren Historiker Hans-Joachim Schoeps (1909–1980). Vgl. Micha Brumlik: Preußisch, konservativ, jüdisch. Hans-Joachim Schoeps’ Leben und Werk. Köln u. a. 2019, S. 98–150. 78 Vgl. Volkmar Sigusch: Sieg fried Placzek. In: Ders., Günter Grau (Hg.): Personenlexikon der Sexualforschung. Frankfurt am Main, New York 2009, S. 562–564. 75 Vgl.

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6. Der Eros der Freundschaft

Wissenschaftsbestseller. Bis 1920 erschienen fünf Auflagen, 1927 eine weitere.79 Insgesamt wurden fast 20 000 Exemplare gedruckt.80 Hervorgegangen war es aus einem gleichnamigen Vortrag, den Placzek am 22. Oktober 1915 bei der „Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik“ im LangenbeckVirchow-Haus in Berlin gehalten hatte. Der Vortrag, der eine Frühfassung des späteren ersten Kapitels darstellt, wurde in der Gesellschaft ausgiebig diskutiert und in der von den jüdischen Ärzten Iwan Bloch (1872–1922) und Albert Eulenburg (1840–1917) herausgegebenen Zeitschrift für Sexualwissenschaft mitsamt einer Zusammenfassung der Diskussionsbeiträge abgedruckt.81 Bloch lobte den Vortrag ausdrücklich, genauso Eulenburg. Die dem Vortrag beiwohnende Frauenrechtlerin Helene Stöcker (1869–1943) bemängelte jedoch, dass Placzek, dessen Vortrag sich vor allem mit Männerfreundschaften während der Romantik beschäftigte, das Phänomen der Frauenfreundschaft vollkommen ausgeblendet habe: „Wenn von Frauenfreundschaft noch keine Rede gewesen sei“, heißt es im Sitzungsprotokoll, „so liege das vielleicht darin, daß die Frau überhaupt nicht als selbständige Persönlichkeit gewertet wurde. Eine Analogie auf der rein sexuellen Seite der Frauenfreundschaft sei vorhanden.“82 Das „mangelnde Interesse der Dichter und Psychologen für die Freundschaft zwischen Frauen“ führte Stöcker vor allem darauf zurück, daß eben zur reinen Freundschaft, die gewissermaßen Ebenbürtigkeit der Persönlichkeiten bedinge, die Mehrzahl der Frauen infolge ihrer geistigen Unentwickeltheit [im 18. Jahrhundert] noch nicht reif gewesen sei, daß sie erst in dem Augenblick, da sie eine selbständige Persönlichkeit geworden sei, auch der Freundschaft fähig würde.83

Mit anderen Worten: Inzwischen sei die moderne Frau zur selbständigen Persönlichkeit herangereift, weshalb es keinen Grund mehr gebe, sich nur noch mit den Freundschaften der Männer zu befassen. Auch Magnus Hirschfeld meldete sich in der Diskussion zu Wort. Zwar stand er Placzeks Ausführungen über den Unterschied zwischen Freundschaft und Sexualität nicht gänzlich kritisch gegenüber, aber er monierte, dass „Freundschaft und Liebe allerdings oft ineinanderflössen“ und es insofern nur sehr schwer sei, beide völlig voneinander zu trennen, wie Placzek es getan habe.84

79 Zur Editionsgeschichte siehe Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur, 1880–1934. Köln u. a. 2008, S. 336. 80 Vgl. Peter Dudek: „Sie sind und bleiben eben der alte abstrakte Ideologe!“ Der Reformpädagoge Gustav Wyneken (1875–1964) – Eine Biographie. Bad Heilbrunn 2017, S. 259, Anm. 8. 81 Siegfried Placzek: Freundschaft und Sexualität. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 2, 8 (November 1915), S. 265–283. 82 [Heinrich] Koerber: Sitzungsberichte. Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik in Berlin. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 2, 8 (November 1915), S. 291. 83 Ebd., S. 291 f. 84 Ebd., S. 292.

6.4. Benedict Friedlaenders Männerbund

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Placzek beherzigte Stöckers und Hirschfelds Einwände, als er den Vortrag zu einem Buch ausarbeitete. In gewisser Weise knüpfte Placzek darin an Weiningers Freundschaftsbegriff an, denn auch er versuchte, Sexualität und Freundschaft strikt voneinander zu unterscheiden. Aber er ging weiter als Weininger, der ja den Gedanken der homoerotischen Quelle der Freundschaft zumindest zugelassen hatte. Der eigentliche Gegner Placzeks war aber nicht Weininger, sondern Blühers Kult um die „Männerfreundschaft“.85 Als jugendbewegter Tabubrecher tat sich Blüher damit hervor, bürgerliche Moralvorstellungen zu erschüttern, besonders indem er Knabenliebe und Männerbund idealisierte. 1912 hatte er sein einflussreiches Buch Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen veröffentlicht, für das Hirschfeld noch ein Vorwort schrieb.86 Das Buch erregte innerhalb der Jugendbewegung großes Aufsehen, begründete aber in der Nachfolge Friedlaenders auch eine Tradition der homoerotischen Feier der Männlichkeit, die gleichermaßen gegen „Verweiblichung“ und „Verjudung“ gerichtet war. Placzek nahm die Debatten über Männerfreundschaft zum Anlass, deren Sexualisierung zurückzuweisen und damit ein Ideal „reiner“ Freundschaft herauszuarbeiten, das dem Weiningers gar nicht unähnlich war.87 Noch drastischer als dieser versuchte Placzek, „die Grenzen zwischen krank und gesund, oder wenigstens zwischen pervers und normal, in den Freundschaftsverherrlichungen zu ziehen“.88 Kritisch rekonstruierte er, wie insbesondere die Literaturwissenschaft das Freundschaftspathos der Romantiker homoerotisch gelesen habe, obwohl nur in den seltensten Fällen Männerfreundschaft wirklich erotische Liebe gemeint habe. Mit Verweis auf Überlegungen zur Kulturgeschichte des Männerkusses, die Iwan Bloch angestellt hatte, verwies Placzek darauf, „Sitte und Brauch“ seien vom „gefühlsmäßigen Drang deutlich zu unterscheiden“.89 Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte Bloch die Unterscheidung zwischen der „sinnlichen (physischen) und der platonischen (metaphysischen) Liebe“ gemacht.90 Dabei verstand er den Übergang von der sinnlichen zur platonischen Form hegelianisch als Aufstieg: Aber die physische Liebe ist nur der Anfang, deren Ende gerade dem Individuum die grösste Seligkeit verheisst. Die physische Liebe ist nur der als solcher notwendige Durch85 Vgl.

dazu ausführlich Bruns: Politik des Eros.

86 Hans Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur

Erkenntnis der sexuellen Inversion. Berlin 1912. 87 Siegfried Placzek: Freundschaft und Sexualität [1915]. Bonn 41919, S. 8. Leider war es mir nicht möglich, die Erstauflage einzusehen. Im Folgenden wird aus der vierten Auflage von 1919 zitiert. 88 Ebd. 89 Ebd., S. 10. Blochs Forderung findet sich aufgeführt in Koerber: Sitzungsberichte, S. 291. 90 Iwan Bloch: Der  Marquis de Sade  und seine Zeit. Ein Beitrag zur Cultur- und Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts. Mit besonderer Beziehung auf die Lehre von der Psychopathia Sexualis. Berlin 1900, S. 2.

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6. Der Eros der Freundschaft

gangspunkt zu dem wirklichen Endziele, der platonischen Liebe. Das metaphysische Endziel der Liebe ist die Erkenntnis, die vollendete Freiheit.91

Das früheste Zeugnis einer solchen Liebesidee fand Bloch im Buch Genesis 4, 1: „‚Und Adam erkannte Eva‘ heisst es tiefsinnig in der Bibel!“92 Dass das Verb jada im biblischen Hebräisch sowohl „erkennen“ als auch den Vollzug des Beischlafes bezeichnet, passt freilich nicht in Blochs Konzept, denn er wollte darauf hinaus, dass der physische sexuelle Akt nichts gegen den metaphysischen Akt der Erkenntnis sei.93 Während die Physis dem Bereich der Natur und damit dem der Unfreiheit zugeordnet war, herrschte für ihn als Hegelianer nur im Geistigen das Reich der Freiheit. Im Anschluss an Bloch war auch Placzek unbedingt bestrebt, Erotik und Sinnlichkeit aus der Idee der Männerfreundschaft herauszusondern. Dies ging nur, indem er „den Homosexuellen“ pathologisierte. Wenn Blüher, Friedlaender und andere Homosexuelle die Tatsache, dass „die höchste Blütezeit Griechenlands mit der Ausbreitung der Knabenliebe zusammenfällt“, in dem „ihnen genehmsten Sinne deuten“, verfälschten sie die Tatsachen.94 Platonische Liebe sei keine Geschlechtsliebe, die griechische Päderastie keine sexuelle Beziehung zwischen Lehrern und Schülern. Und schon gar nicht sei die Homosexualität dazu angetan, die Kultur auf eine höhere Stufe zu heben, wie Blüher im Anschluss an Friedlaenders Idee der „Sociabilität“ behauptete. Ganz anders die Männerfreundschaft, deren Essenz Placzek mit Platons Symposion als „Seelenliebe“ bestimmte: „Die Seelenliebe ist Antrieb zu edlen Taten; die entgegengesetzte Behauptung des Pausanias, welcher die dem Sinnengenuß Dahingegebenen zu solchen Taten angeregt werden läßt, entbehrt jeder Wahrscheinlichkeit und Begründung.“95 Demnach sei wahre Männerfreundschaft eben nicht auf den Körper des anderen bezogen, sondern auf dessen Seele. Placzek präsentierte Sokrates als Musterbeispiel eines solchen Freundes, der zwar homosexuelle Begierde in sich gefühlt habe, aber enthaltsam und keusch lebte. „Wer, wie Sokrates, immer wieder gegen die Wollust eifert und allenthalben die Tugend predigt, sollte von jedem Verdacht rein bleiben, daß seine Freundschaftsbeziehungen mit sexueller Betätigung verquickt wären.“96 Placzek war der Ansicht, dass homosexuelle Neigungen an sich nichts Verwerfliches seien, dass sie aber um keinen Preis ausgelebt werden dürften. Darin, so glaubte er, war er sich mit Sokrates einig. 91 Ebd., 92 Ebd.

S. 22.

93 Vgl. Wilhelm Gesenius: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Leipzig 161915, S. 287. 94 Vgl. Placzek: Freundschaft und Sexualität, S. 72. 95 Zitiert nach ebd., S. 81 f. 96 Ebd., S. 85.

6.5. Frauenfreundschaften

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6.5. Frauenfreundschaften Im Zentrum der Debatte stand zweifellos die Männerfreundschaft, aber auch die Frage, wie die Freundschaft zwischen Frauen geartet sei und ob sie auf derselben kulturbildenden Stufe stehe wie die der Männer, wurde breit diskutiert. Schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich der deutsche Aufklärer Thomas Abbt in seiner Schrift Über die Freundschaften der Frauenzimmer mit dieser Frage auseinandergesetzt.97 Er wollte beweisen, dass „die Frauenfreundschaften unter den meisten Damen viel sublimer seyen, als die Freundschaften unter den meisten Personen des andern Geschlechts.“98 Abbt war sich sicher, dass „wir andern einfältigen Mannspersonen“ im Verhältnis zu den Frauen „als Thiere von einer niedrigeren Art“ zu betrachten seien, da ihre freundschaftskonstitutiven Gesinnungen „so verfeinert, so edel, so sublim“ seien.99 Aber was waren das für Gesinnungen? Was habe ich wol für eine Absicht, wenn ich einen Freund suche? daß ich jemanden besitzen möge, in dessen Busen ich alles, was mich nahe angehet, sicher ausschütten könne; dessen Unterredungen mir Lehren, so wie seine Handlungen Muster verschaffen; und durch dessen Glück ich mein eigenes verdoppeln könne, indem es mir die süßeste Empfindung verschafft.100

Abbts Freundschaftsverständnis war nicht auf den intellektuellen Austausch beschränkt, den die Vertreter „reiner“ Freundschaft wie Weininger und Placzek später zum Kern machen sollten. Stattdessen betonte Abbt Gefühle wie Geborgenheit, Vertrauen und Glück. Vor dem Hintergrund der aufklärerischen Dichotomie zwischen Gefühl (weiblich) und Verstand (männlich) kann es deshalb kaum verwundern, dass Abbt den Frauen höhere Fähigkeiten zur Freundschaft zusprach.101 Sein Lob der Frauen war mit einer Kritik der Männer verknüpft, denen er vorhielt, Freundschaft und Bekanntschaft zu verwechseln und zu dauerhaften, auch emotional tiefgehenden Beziehungen nicht fähig zu sein. Bemerkenswert ist, dass Abbt nur an einer einzigen Stelle auf die erotische Ebene der Freundschaft zu sprechen kam, und zwar dort, wo er den Ursprung der Frauenfreundschaft vermutete: Während die Männer sich zu Tische angeregt und lebhaft unterhielten, müssten die Frauen still und sittsam verweilen und ihren Gatten und Vätern lauschen. Dabei tränken sie Unmengen an Kaffee  – das Getränk galt seinerzeit als ein die Sitten verderbendes Gut, das vorwiegend  97 Thomas Abbt: Ueber die Freundschaften der Frauenzimmer [ca. 1760]. In: Ders.: Vermisch-

te Werke, Bd. 4. Berlin, Stettin 1780, S. 1–24.  98 Ebd., S. 3.  99 Ebd., S. 5 f. 100 Ebd., S. 7 f. 101 Vgl. Wolfram Malte Fues: Das Geschlecht der Vernunft. „Raison“ und „Esprit“ im Denken der Aufklärung. In: Claudia Opitz u. a. (Hg.): Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten. Münster u. a. 2000, S. 173–194.

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6. Der Eros der Freundschaft

Frauen und Juden zu sich nähmen102 – und verabschiedeten sich irgendwann, um Wasser zu lassen: An unsrer Statt folgt eine Dame nach der andern, und – (Erstaunen, für den, der es nie gesehen hat!) Damen, die sich vorher nie gekannt hatten, kommen von der Feyer dieser tiefen Geheimnisse mit ineinandergeschlungenen Händen zurück, und sind – vertraute Freundinnen.103

Am „unedelsten Ort des Hauses“ hätten sie mithin „die edelste Handlung des Lebens errichtet“: eine Freundschaft gegründet.104 Das Geheimnisvolle, das die Frauenfreundschaft aus Abbts Sicht umwehte, machte sie zu einem Rätsel, dem auf die Spur gekommen werden musste: Was taten die Frauen dort, auf der Latrine, genau, während sie vor den Blicken der Männer geschützt waren? Seine Antwort lautete, dass die Frauen sich einander nicht nur im materiellen, sondern vor allem im geistigen Sinne völlig entblößten: Sie erzählten sich alles gegenseitig, breiteten ihr gesamtes Leben aus, mit allen Träumen, Wünschen und Begierden – und erst diese absolute Vertrautheit mit der anderen, die dadurch bedingte Verletzbarkeit, sei die Basis echter Freundschaft.105 Das war ein so ganz anderer Ton als der, den die Lobredner der platonischen Männerfreundschaft im Kaiserreich anstimmen sollten. Nicht um Privates und Intimes ging es ihnen, sondern umgekehrt um die ‚männliche Sphäre‘ des bürgerlichen Bewusstseins: die Öffentlichkeit. Während Männerfreundschaft immer dann, wenn sie zu intim und zu privat war, verdächtigt wurde, homosexueller Natur zu sein, galt das für Frauenfreundschaften schon deshalb nicht, weil Frauen ohnehin im öffentlichen und halböffentlichen Raum nur sehr begrenzt geduldet wurden. Um so mehr richtete sich der Neid vieler Männer auf die vermeintlichen oder tatsächlichen Beziehungen, die Frauen zueinander hatten, die ihnen selbst aber aufgrund gesellschaftlicher Normen verwehrt bleiben mussten. Wie schon bei Abbt ein großer Teil dieser Wahrnehmung weiblicher Freundschaften reine Projektion war, so setzte sich diese chimärische Diskussion bis ins 20. Jahrhundert hinein fort. Bei Moritz Gottlieb Saphir (1795–1858) beispiels102 Vgl. dazu Robert Liberles: Jews, Women and Coffee in Early Modern Germany. In: Marion A. Kaplan, Deborah Dash Moore (Hg.): Gender and Jewish History. Bloomington, Indianapolis 2011, S. 44–58. 103 Abbt: Ueber die Freundschaften, S. 11 f. 104 Ebd., S. 12. 105 Auch in der Memoirenliteratur finden sich solche Vorstellungen. Die 1880 in Karlsruhe in einer orthodoxen Familie geborene Rahel Straus (1880–1963) bespielsweise schreibt: „Mädchenfreundschaften werden oft belächelt, für vergänglicher gehalten als Knaben- und Männerfreundschaften. Ich habe das Gegenteil erfahren. Männerfreundschaften sind oft dauerhaft; man bleibt verbunden und steht sich im Leben bei, wenn es nottut. Aber dieses innerliche Verbundensein, dieses Geben und Nehmen, dieses sich wirklich unentbehrlich sein, wie ich es bei weiblichen Freundschaften gefunden habe, habe ich in den Männerkreisen meiner Zeit nicht erlebt.“ LBI New York, Memoir Collection, ME 636: Wir lebten in Deutschland: Erinnerungen einer deutschen Jüdin, 1880–1933. Memoiren Rahel Straus [1940], S. 105 f.

6.5. Frauenfreundschaften

133

weise, dem jüdischen Satiriker, finden wir in einem Essay namens Die falsche Freundin ganz ähnliche Vorstellungen. Während Freunde eine permanente Enttäuschung seien, gelte das nicht für Freundinnen: Aber daß man sich auf eine Freundin nicht verlassen kann, das ist neu, das ist unerhört, das ist zum verzweifeln. Das weibliche Geschlecht hat unter verschiedenen Tugenden, die es vor dem männlichen voraus hat, gewiß auch einen innigeren Sinn für Freundschaft voraus. Ein Frauenzimmer von Geist und Herz ist eine treuere, bewährtere Freundin, sie bringt mehr Opfer, sie fühlt mit uns aufrichtiger, als ein Mann.106

Auch Siegfried Placzek widmete sich in seiner Studie den Freundschaften unter Frauen. Allerdings argumentierte er weniger mit den angeblichen emotionalen Eigenschaften der Frau als vielmehr mit der Bedrohung, die von der weiblichen Homosexualität für die bürgerliche Familie ausgehe. So befürchtete er, dass die „Frau über den plötzlich geweckten, gleichgeschlechtlichen Regungen und deren lustbetonter Betätigung alle Pflichten, selbst Mann und Kinder, vergessen und in der gesteigerten Hingabe an die Freundin alle Rücksichten schwinden lassen“.107 Manche Frauen hätten sogar ihre Familien verlassen, um mit der Freundin zusammenzuleben, bemerkte Placzek. Wenn „sexuell gleiche, perverse Anlage“ zusammentreffe, gerieten selbst „die bestgemeinten, sittlichen Hemmungen“ ins Wanken.108 Kurzum: Placzek witterte in der homosexuellen Frauenfreundschaft noch eine weitaus größere Gefahr für die bürgerliche Ordnung als in der männlichen. Es ist wenig erstaunlich, dass Placzek, der Freundschaft immer vor dem Hintergrund ihres Schadens und Nutzens für die bürgerlich-patriarchale Ordnung betrachtete, umgekehrt auch der nichtsexuellen Beziehung zwischen Männern und Frauen ausgesprochen skeptisch gegenüberstand. Eigentlich sah er nur zwei Möglichkeiten, dass Männer und Frauen sich befreundeten, ohne auf geschlechtliche Vereinigung zu sinnen: Entweder seien sie so alt, dass der Geschlechtstrieb bereits abgestumpft sei, oder sie seien homosexuell und hätten dementsprechend kein sexuelles Interesse aneinander. Beidem stellte er das Ideal gegenüber, dass auch die Ehepartner freundschaftliche Gefühle füreinander entwickeln könnten und sollten. In der Realität befreundeten sich Frauen und Männer selbstverständlich durchaus auch jenseits der Ehe miteinander, aber Placzeks Vorbehalt spiegelt auch ein gewisses Unbehagen in bürgerlichen Kreisen wider, mit einer Person des anderen Geschlechts allzu intim zu verkehren. Freundschaft galt als legitime Sozialform, aber zugleich stand sie immer in Verdacht, in Wahrheit verbotene

106 Moritz Gottlieb Saphir: Die falsche Freundin. In: Ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 6. Brünn, Wien 51871, S. 22. 107 Placzek: Freundschaft und Sexualität, S. 93. 108 Ebd., S. 96.

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6. Der Eros der Freundschaft

sexuelle Beziehungen zu verstecken.109 Dies galt sowohl für hetero- als auch für homosexuelle Beziehungen. Placzeks überaus erfolgreiches Buch zeigt deutlich, wie sehr gerade gleichgeschlechtliche Freundschaft unter Erwachsenen mit Homosexualität assoziiert wurde. Zwar war gleichgeschlechtliche Freundschaft eine alltägliche Praxis, aber die Gefahr, der sexuellen Perversion beschuldigt zu werden, evozierte ein strenges Sittenregime, das sich auch auf die nach außen hin sichtbaren Praktiken der Freundschaft auswirkte: Händchen halten, Umarmungen, Küsse waren, zumal unter Männern, zu vermeiden. Allerdings entstand im späten Kaiserreich zugleich eine zunehmend selbstbewusste Gegenbewegung, die ihre homosexuellen Neigungen  – trotz des seit 1872 existierenden § 175 RStGB, der die „widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird“, unter Strafe bis zu einem halben Jahr Gefängnis stellte – immer offener auslebte.110 Dafür steht nicht nur die männerbündische Bewegung Friedlaenders und Blühers, sondern, wie wir gesehen haben, auch der Kreis um Magnus Hirschfeld. Neben der wissenschaftlichen Erforschung der Sexualität und dem politischen Kampf gegen rechtliche Diskriminierung entstanden um die Jahrhundertwende durch die Gründung von zahlreichen lokalen „Freundschaftsvereinen“ auch die ersten zarten Blüten einer homosexuellen Alltagskultur. Doch erst in der Weimarer Republik, als die strafrechtliche Ahndung des § 175 in der Praxis gelockert wurde, manifestierte sich diese Entwicklung in einem weit verzweigten Vereins- und Pressewesen, das auch aus Schutz vor Verfolgung Homosexualität explizit als „Freundschaft“ titulierte.111 1920 wurde in Berlin der Deutsche Freundschaftsverband (DFV ) als politische Homosexuellenvereinigung gegründet, dessen Zeitschrift Die Freundschaft maßgeblich von Max H. Danielsen (1885–1926) redigiert wurde und in einer Auflage von bis zu 50 000 Exemplaren erschien. Sie richtete sich an „Freundinnen und Freunde“ und verwendete damit aktiv den Freundschaftsbegriff als Deckbezeichnung für 109 Der Verdacht, unter dem Vorwand des freundschaftlichen Beisammenseins könnten sich verbotene sexuelle Kontakte anbahnen, findet sich bereits im halachischen Kompendium Shulchan Aruch, wo es heißt, es sei zwar nicht verboten, aber doch unbedingt zu vermeiden, dass zwei Männer alleine im selben Haus beieinander sind. Josef Karo: Shulchan Aruch, Bd. 3: Even ha-Eser. Venedig 1565, Abschnitt 24. Die Bestimmung geht auf bT Kiddushin 82a, 3 zurück. Maimonides hatte in Mishneh Torah (Sefer Kedushah, Hilchot Issurej Bijah 22, 2) noch die gegenteilige Ansicht vertreten, es sei nicht verboten, sich mit einem anderen Mann zurückzuziehen/abzusondern [hitjached]. 110 Reichs-Gesetzblatt 1871. Berlin 1871, S. 127. 111 Der § 175 blieb auch in der Weimarer Republik gültig. Bis Mitte der zwanziger Jahre lag die Zahl der Verurteilungen deutlich unter der vor 1914. Dann stieg sie sprunghaft an und blieb auf einem hohen Niveau von um die 800 Fällen pro Jahr. Allerdings konnte im Gegensatz zum Kaiserreich sehr häufig die Haft- in eine Geldstrafe umgewandelt werden. Vgl. Alexander Zinn: „ Aus dem Volkskörper entfernt“? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2018, S. 61 f.

6.5. Frauenfreundschaften

135

Homosexualität. Der Untertitel Monatsschrift für ideale Freundschaft unterstrich dies noch. 1924 erblickte mit Die Freundin ein dezidiert lesbisches Pendant die Welt, ebenfalls vom DFV beziehungsweise dessen Nachfolgeorganisation, dem „Bund für Menschenrecht“, herausgegeben.112 Auch hier war die „ideale Frauenfreundschaft“ die Klammer der durchaus heterogenen Beiträge. Anders nämlich als die aufklärerische, wissenschaftliche und politische Publizistik des Kaiserreichs beinhalteten die beiden Freundschaftsblätter auch literarische und humoristische Beiträge, beschäftigten sich mit dem Alltagsleben von Homosexuellen und dienten nicht zuletzt als eine Art Kontaktbörse. Die chiffrierten Kontaktanzeigen ermöglichten es homosexuellen Männern und Frauen, auf vergleichsweise sicherem Wege, potentielle Partner zu finden. Genau wie bei der heterosexuellen Partnersuche wünschten sich auch viele jüdische Homosexuelle explizit jüdische Partner. Im Mai 1927 etwa suchte ein Hamburger Kaufmann, „Ende 20“, zwecks Briefwechsel einen „20–30 jährigen Herrn, Israelit bevorzugt“.113 Und auch im Juli 1932 war ein Herr im Anzeigenteil der Freundschaft auf der Suche nach einem Partner, der „am liebsten Israelite sei“.114 Homosexuelle Lebensformen wurden also nicht mehr nur von außen ironisch als „Freundschaften“ beargwöhnt – wie bei Siegfried Placzek –, sondern Aktivistinnen und Aktivisten der Emanzipationsbewegung übernahmen diesen Terminus selbstbewusst. Das bedeutete zugleich, dass künftig jede intensive persönliche Freundschaft unter Verdacht stand, in Wahrheit eine sexuelle Beziehung zu verschleiern  – womöglich sogar eine homosexuelle. Insbesondere für die Jugendbewegung war das eine ständige Herausforderung.

112 Vgl.

Heike Schader: Virile, Vamps und Wilde Veilchen. Sexualität, Begehren und Erotik in den Zeitschriften homosexueller Frauen im Berlin der 1920er Jahre. Königstein/Taunus 2004, S. 43 sowie 44–48. 113 Die Freundschaft 4, 5 (Mai 1927), Beilage „Das Kleine Blatt“. Ich danke Benjamin Maier für den Hinweis auf diese und die folgenden Annoncen. 114 Die Freundschaft 14, 7 (Juli 1932), Kontaktanzeigenrubrik. Siehe auch die Annonce des „24 jährigen jüdischen Kaufmanns“ in: Die Freundschaft 14, 9 (September 1932), Kontaktanzeigenrubrik.

7. Aus der Bewegung 1 .‫כל ישראל ערבים זה בזה‬ Talmud Bavli, Shevuot 39b

Im Jahr 1913 schlossen sich zahlreiche jüdische Wandergruppen zum BlauWeiß  – Bund für Jüdisches Jugendwandern in Deutschland zusammen.2 Die zionistische Organisation mit zahlreichen lokalen Ablegern war aus der allgemeinen deutschen Jugendbewegung hervorgegangen, die ihren Anfang in der Wandelvogelbewegung genommen und sich zunehmend politisiert hatte. Die Gründung des Blau-Weiß und weiterer jüdischer Jugendorganisationen wie dem eher bürgerlich-liberalen Jugendbund Die Kameraden, den sozialistischen Werkleuten oder auch der anarchistischen Abspaltung Der Schwarze Haufen war eine Reaktion auf den Ausschluss jugendbewegter Juden aus den deutschen Wandergruppen, die immer mehr ins völkisch-antisemitische Fahrwasser gerieten.3 Dem Blau-Weiß und anderen jüdischen Bünden gelang, wie Jörg Hackeschmidt sich ausdrückt, ein erfolgreicher „Vorstoß in eine psychosoziale Marktlücke im jüdischen Milieu“.4 Wie andere Wandergruppen auch waren die jüdischen Bünde von einem romantischen Natur- und Heimatbegriff sowie einem diffusen Gemeinschaftsgefühl geprägt. Die Tatsache, dass die Mitglieder des Blau-Weiß sich selbst als Zionisten verstanden, bedeutete weniger, dass man die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina plante, sondern war eher ein Ausdruck der Distanz zum assimilatorischen Judentum der Elterngeneration.5

1 Hebräisch:

„Ganz Israel ist füreinander verantwortlich.“ Jörg Hackeschmidt: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation. Hamburg 1997, S. 43. 3 Vgl. dazu Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie. Köln 1978, S. 89–99. Zu den einzelnen Gruppierungen siehe Hackeschmidt: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias; Bernhard Trefz: Jugendbewegung und Juden in Deutschland. Eine historische Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des Deutsch-Jüdischen Wanderbundes Kameraden. Frankfurt am Main 1999; Eliyahu Maoz: The Werkleute. In: Leo Baeck Institute Year Book 4, 1 (1959), S. 165–182; Jutta Hetkamp: Die jüdische Jugendbewegung in Deutschland von 1913–1933. Münster 1994; Knut Bergbauer, Stefanie Schüler-Springorum: „Wir sind jung, die Welt ist offen“. Eine jüdische Jugendgruppe im 20. Jahrhundert. Berlin 2002. 4 Hackeschmidt: Von Kurt Blumenfeld, S. 44. 5 Vgl. Brenner: Jüdische Kultur, S. 58. 2 Vgl.

138

7. Aus der Bewegung

7.1. Eine neue Generation Blau-Weiß Der Erste Weltkrieg verstärkte diese Distanzierung, veränderte aber auch den Charakter des Blau-Weiß. Die zweite Generation, die nach 1918 die Führung übernahm, war nicht mehr im Kaiserreich politisiert worden, sondern durch das Trauma des Krieges. Robert Sternau (1901–1957), ein junger Zionist, dem wir auch später noch einmal begegnen werden, fasste die Grunderfahrung dieser Generation zusammen: Vor dem Krieg sei „die Mehrzahl der westjuedischen Kreise“ vom Zionismus unbeeinflusst geblieben:6 Dem deutschen Judentum war es unter dem Deutschen Kaiserreich gut gegangen – der Instinkt des Beharrungsvermoegens war stark genug, um, so lange es irgend ging, geistig festzuhalten an jener Zeit, die fuer jeden, der Augen hatte um zu sehen, im Erliegen war. Die Judenzaehlung des Jahres 1916, in der unter antisemitischem Einfluss eine Zaehlung durchgefuehrt wurde, wie viele deutsche Juden im aktiven Kriegsdienst sich befaenden, das heißt  – umgekehrt ausgedrueckt  – wie viele sich „zu druecken“ verstanden, war ein Schlag fuer das bewusst patriotische Gemuet des deutschen Assimilationsjuden. Je mehr der Boden ins Wanken geriet, auf dem das Deutsche Kaiserreich stand, umso mehr klammerte man sich an das, was von alten Saeulen noch uebrig blieb.7

Es sei die sich ihres Andersseins bewusst gewordene jüdische Jugend, die nun die politischen Konsequenzen aus dem deutschen Antisemitismus ziehe und sich vom Konzept des „deutschen Assimilationsjuden“ verabschiede. Es war eine „zionistische Jugendgeneration“, so Hackeschmidt, „die sich mit Kriegsende der jugendpflegerischen Einflußnahme der älteren Generation endgültig entzog“.8 Die Abgrenzung galt sowohl gegenüber dem bürgerlichen Elternhaus als auch gegenüber der Gründergeneration des Blau-Weiß, die noch stark den Idealen der Wandervogelbewegung angehangen hatte. „Erlebniszucht“ und „goische Bundesbrüderlichkeit“ müssten endlich aufgegeben werden, hielt der aus Breslau stammende spätere Sozialist Bernhard (Baruch) Schottlaender (1895– 1920) in einem Brief an seinen Freund Leib Busch fest. Stattdessen müsse eine „Lebensreform“ eingeleitet werden, die sich „als Konsequenz der Erneuerung der Herzen“ ergebe.9 „Überflüssig zu sagen“, fügte Schottlaender, der ein Schulfreund des späteren Soziologen Norbert Elias war, an, daß diese Art Romantik sehr verschieden ist von dem inkommensurablen Überschwang, der allen tiefen menschlichen Beziehungen eigen ist, und von der ernsten emportreibenden Erotik, die edlen Jugendgemeinschaften zu Grunde liegen mag. Die weichliche selbstgenügsame Gemütlichkeit soll auf beiden Seiten einem Antrieb zur Größe, zur Heiligkeit jüdischer und menschlicher Zukunft erliegen.10  6 Central  7 Ebd.

Zionist Archives, Jerusalem, Personal Papers, Nachlass Robert Sternau, AK 730/3.

 8 Hackeschmidt:

Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias, S. 70. (Baruch) Schottlaender an Leib Busch, 31. August 1917. In: Central Zionist Archives, Jerusalem, Personal Papers, Nachlass Franz Elieser Meyer, A 313/58. 10 Ebd.  9 Bernhard

7.1. Eine neue Generation Blau-Weiß

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Immer mehr nahm der Blau-Weiß unter der Führung Martin Bandmanns (1900–1986), Benno Cohns (1894–1975), Norbert Elias’ (1897–1990) und einiger anderer den Charakter einer lebensreformerischen Gruppe an, die nicht nur dem deutsch-jüdischen Mainstream kritisch gegenüberstand, sondern auch der „zionistischen Bourgeoisie“ der Gründergeneration.11 Bandmann ging es weniger um ein zionistisches Bekenntnis oder politische Strategien, wie dies noch bei Kurt Blumenfeld (1884–1963) und Richard Lichtheim (1885–1963) im Vordergrund gestanden hatte, als vielmehr um eine Reform des zionistischen Alltagslebens. Das konfessionelle Judentum der Eltern wurde als Ausdruck der Diasporaexistenz verachtet, an die Stelle des religiösen Bekenntnisses trat deshalb die Ausrichtung auf „ein Zion, das uns in erster Linie herausführt aus dem Galuth, d. h. aus dem Aufgeteiltsein in zwei Welten, die Welt des jüdischen Sabbaths und die Welt des nichtjüdischen Alltags“, erklärte der aus Glogau stammende Buchhändler Ferdinand Ostertag (1893–1963) in der Blau-Weiß-Zeitung Führerheft.12 „Der Maßstab kann uns nur ein Zion sein, das in erster Linie ein jüdischer Alltag sein will und aus dem dann – aber erst dann – in schöpferischer Freiheit ein jüdischer Sabbath, eine jüdische Menschlichkeit, geboren und herausgestellt werden wird.“13 Dieser ideale jüdische Alltag, der gleichsam ein Miniatur-Zion in der Diaspora (Galut) bildete, war gekennzeichnet durch die Freundschaft unter Juden, wie Ostertag an anderer Stelle erläuterte: Wir wollen eine neue Gemeinschaft. Wir wollen als Menschen und als Juden, und das ist uns ein und dasselbe, ein Leben führen, das wir verantworten können vor den vergangenen Geschlechtern, vor uns selbst und den Kommenden. […] Wir wollen Freie sein, innerlich und äußerlich Freie. Freie Menschen, freie Juden. Wir wollen eine neue Menschheit, aufgebaut auf Freiheit und Gewissen, und wir fangen damit an, sie bei uns zu schaffen, jeder bei sich selbst, in seinem engsten Kreise, in unserer Mitte. Wir wollen eine jüdische Welt, würdig der schöpferischen Vergangenheit unseres Volkes.14

Die neue jüdische Welt, die Ostertag als Inbegriff der Freiheit vorschwebte, konnte, ja musste im engsten Kreis, in der Freundschaft unter Juden vorbereitet und vorweggenommen werden. Der „Kreis“, das war laut der Satzung des „Eltern- und Freundesrats“ des Blau-Weiß die kleinste soziale Einheit innerhalb des Gesamtverbandes, bestehend aus „Bundesbrüdern“, die „sich auf Grund persönlicher Neigungen zusammenschließen“.15 Ostertag wandte sich aber ex11 Central Zionist Archives, Jerusalem, Personal Papers, Nachlass Martin Bandmann, A 365/2. 12 Ferdinand Ostertag: Erziehungsreferat, gehalten auf dem Jugendtag. In: Führerzeitung 1, 6 (Januar 1919), S. 115. 13 Ebd. 14 Ferdinand Ostertag: Worte zur Eröffnung des Bundestages in Gr[oß]-Obisch. In: Führerzeitung 1, 5 (August 1918), S. 84. 15 Leitsätze für die Gründung eines Bundes jüdischer Wanderer (Bund alter Blau-Weißer). In: Führerzeitung 1, 5 (August 1918), S. 94 f.

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7. Aus der Bewegung

plizit gegen ein allzu elitär verstandenes Projekt. Er wollte vor allem, dass die Mitglieder des Blau-Weiß mit sich und ihrem Judentum im Reinen waren. Als selbstbewusste Juden konnten sie dann für andere, weniger entschlossene, als Vorbild dienen – das setzte aber voraus, dass man zur Welt außerhalb des eigenen Kreises Kontakt hielt. Er warnte vor Hochmut: Sie dürften sich nicht einbilden, „die besseren Menschen zu sein oder aus Abscheu vor den anderen uns nun gänzlich abschließen und ein traumhaft-ideales Leben führen nur mit Menschen unseres Kreises, sondern wir wollen uns überall selbst treu bleiben.“16 In den folgenden Jahren sollte dieser lebensreformerische Impuls noch mehr die Oberhand gewinnen. „Das Gemeinschaftsgefühl und die Tatbereitschaft seiner Menschen schufen indessen den Blau-Weiss der Frühzeit in allmählicher Entwicklung zu dem Bunde um, der sie fürs Leben umfasst“, notierte Martin Bandmann 1923.17 Auch später noch, als Erwachsene, lebten die Blau-Weiß-Mitglieder nach den Grundsätzen ihrer Jugend: [D]ie Zusammengehörigkeit der Menschen des Blau-Weiss, der das gemeinsame Jugenderlebnis ewige Fruchtbarkeit verliehen hat, ist eine unzertrennliche geworden: Aus dem Bedürfnis der Menschen, die aus dem Wanderbund entlassen werden, und aus dem Bedürfnis des geweiteten Bundes entstanden Älterenbünde.18

Das Bild, das Bandmann und Ostertag zeichneten, war das einer stetig anwachsenden jüdischen Freundeswelt, die nach gleichen Grundsätzen handelte und sich so Schritt für Schritt aus der Galut befreite. Doch auch wenn die rebellierenden jungen Männer des Blau-Weiß immer wieder pathetisch gegen den hohlen Idealismus und die bloßen Phrasen des zionistischen Establishments wetterten, war ihre Ideologie des Bundes nicht weniger idealistisch. Die Realität sah oft anders aus, wie sich beispielhaft an der spannungsreichen Freundschaft zwischen Bandmann und Mavriki Kahn, einem Leipziger Blau-Weiß-Führer, ablesen lässt. Als es zu Verstimmungen zwischen den beiden kam, führte Kahn diese auf ihren gegensätzlichen Charakter zurück. Die gemeinsamen Ziele und Interessen könnten diese Gegensätze nicht aufheben, weshalb die Freundschaft zum Scheitern verurteilt sei: Ich habe in den letzten Wochen, und immer, im Zusammenhang mit der Selbstverständlichkeit einer Antwort auf Deine Karte, den Wunsch, ja, Notwendigkeit gehabt, Dir zu schreiben. Zugleich jedoch habe ich immer eine sonderbare Hemmung gespürt, es zu tun. 16 Ostertag: Worte zur Eröffnung, S. 84. Die praktische Umsetzung des „traumhaft-idealen Lebens“ verlief bei der anarchistischen Gruppe „Schwarzer Haufen“ deutlich radikaler, etwa durch die Gründung von gemischtgeschlechtlichen Wohngemeinschaften. Siehe dazu Eckard Holler: Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung. In: Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom „Freideutschen Jugendtag“ bis zur Gegenwart. Berlin, Boston 2014, S. 175 f. 17 Central Zionist Archives, Jerusalem, Personal Papers, Nachlass Martin Bandmann, A 365/23. 18 Ebd.

7.2. Chaim Arlosoroffs „Tikwath Zion“

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Die Freundschaft zwischen mir und Dir (– und nicht nur Dir –) ist eine so grosse, dass ein vertrautes Sprechen nicht sein konnte. Die Schranke zwischen uns ist eine mächtige, eben weil sie keine rein persönliche ist. Vielleicht ist die Abstammung, die Du vom Deutschen, ich vom Russischen her mit mir trage, von starkem Einfluss.19

Zwar stehe außer Frage, „dass eine Gefühlsfreundschaft da ist“, aber es genüge nun mal nicht, dass wir beide in einer Bewegung sind und die nämlichen Dinge erleben: es kommt darauf an, wie Du sie erlebst, und wie ich es tue: – und es scheint, dass dies so verschieden ist, dass es mit einer individuellen Erklärung sein Bewenden nicht haben kann. Bist Du Westjude, so bin ich Ostjude. Ist für Dich (wie ich ahne) Goethe und bildende Kunst bestimmend gewesen – für mich war es Dostojewskij und die Mathematik.20

Weder die jüdische Herkunft noch das Engagement für den Zionismus reichten also aus, um eine intensive persönliche Freundschaft aufrecht zu erhalten, wenn die kulturellen Gegensätze als zu groß wahrgenommen wurden. Aus dieser Perspektive erwies sich der Blau-Weiß ungeachtet der Phraseologie seiner Anführer eben doch nur als ein weiterer Jugendverband.

7.2. Chaim Arlosoroffs „Tikwath Zion“ Genau dies kritisierten Zeitgenossen aus der zionistischen Jugendbewegung, die dem Blau-Weiß explizit nicht angehören wollten. Dies gilt etwa für den Berliner Kreis um Chaim Arlosoroff (1899–1933), der sich „Tikwath Zion“ (Zionshoffnung) nannte. Arlosoroff, der kurzzeitig auch an Treffen vom Blau-Weiß und von Gershom Scholems Gruppe Jung Juda teilnahm, war eine Besonderheit im Kreis der Berliner Zionisten, denn er kam nicht nur aus dem Russländischen Reich, sondern war auch der Enkel des angesehenen Rabbiners von Romny, Eliezer Arlosoroff.21 Dies verlieh ihm eine Aura der Authentizität. Obwohl auch Chaim aus einem bürgerlichen Elternhaus kam – sein Vater war ein wohlhabender Holzhändler – unterschied sich sein biographischer Hintergrund doch erheblich von dem der Mitglieder des Blau-Weiß. Im Alter von sechs Jahren musste Arlosoroff miterleben, wie sein Elternhaus 1905 im Zuge der Pogromwelle das Ziel antisemitischer Attacken wurde, woraufhin die Familie nach Westen, in das dem Deutschen Reich angehörende Ostpreußen floh.22 Die Arlosoroffs ließen 19 Mavriki

Kahn an Martin Bandmann, 19. Januar 1922. In: Central Zionist Archives, Jerusalem, Personal Papers, Nachlass Martin Bandmann, A 365/22. 20 Ebd. 21 Vgl. Shlomo Avineri: Arlosoroff. Wien 1999, S. 14. Zur Teilnahme an Treffen von Blau-Weiß und Jung Juda vgl. Mirjam Getter: Chaim Arlozorof. Biografijah politit [Chaim Arlosoroff. Eine politische Biographie]. Tel Aviv 1977, S. 14. 22 Vgl. ebd. Siehe auch die allerdings sehr hagiographische Darstellung seiner Schwestern Dora Arlosoroff, Lisa Arlosoroff: Arlosoroffs Jugendjahre. In: Chaim Arlosoroff: Leben und

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7. Aus der Bewegung

sich zunächst in Königsberg nieder, später erhielten sie eine Aufenthaltserlaubnis für Berlin, und der junge Chaim, der sich nun mit seinem nichtjüdischen Vornamen „Viktor“ nannte, wurde zum deutschen Patrioten. Nachdem er sich 1915 zunächst hatte freiwillig zum Kriegseinsatz melden wollen, distanzierte er sich schon ein Jahr später von seiner anfänglichen Begeisterung und wandte sich dem Pazifismus zu. Gleichzeitig entdeckte er auch Marxismus, Anarchismus und Zionismus für sich – Weltanschauungen, die quer zum bürgerlichen Weltbild der Mehrheit der deutschen Juden standen. Er lernte fleißig Hebräisch und stach am Schöneberger Werner-Siemens-Realgymnasium, wo die Söhne und Töchter der bürgerlichen Familien die Schulbank drückten, nicht nur unter den jüdischen Schülern durch sein ungeheures Charisma und sein Wissen heraus. Er wurde Vorsitzender des Schülerparlaments und sammelte im Rahmen des jüdischen Religionsunterrichtes einen Kreis von Freunden um sich, die er vom Zionismus zu überzeugen versuchte.23 „Der Religionsunterricht, die Schulpausen, gemeinsamer Nachhauseweg waren die Schauplaetze der Diskussionen“, erinnert sich der bereits erwähnte Robert Sternau, der ein enger Schulfreund Arlosoroffs wurde. „Der Erfolg blieb nicht aus: Arlos[oroff ], von unseren anti-zionistischen Eltern als ‚Rattenfaenger von Hameln‘ bezeichnet, wurde bald der Fuehrer einer Schueler-Jugendgruppe.“24 Dass Arlosoroff zum Zentrum der Gruppe wurde, die gleichwohl nicht mit den im fünften Kapitel vorgestellten Zirkeln zu verwechseln ist, weil er keine Meisterfigur war, sondern eher der Typus des älteren Bruders, lag daran, dass er den verunsicherten Mitschülern eine positive ideologische Antwort auf die gesellschaftliche Krise geben konnte. „Das Berliner Gymnasium, das wir 15 und 16jährigen besuchten“, erinnert sich Sternau, zählte viele jüdische Schüler, die meist aus dem gut situierten, westjüdischen Bürgerpublikum stammten. Trotz aller Assimiliertheit, aller Betonung des Deutschtums war nach der ersten Kriegsbegeisterung in den Reiferen unter uns allmählich ein Gefühl für den Wahnsinn des Völkermordens aufgekommen. Unser geistiges Wachwerden manifestierte sich in einer starken Opposition gegen Krieg, Militarismus etc. Opposition war unser ganzes Wesen: Negierung des Krieges, Negierung des Bürgertums, das ihn stützte, Negierung jeder nationalen Idee, die wir für den Krieg verantwortlich machten. Wenn wir so auch wussten, was wir nicht wollten, so fehlte uns jedoch das positive Ziel. Pazifismus allein war noch keine positive Aufgabe, Kosmopolitismus, für den wir uns zu begeistern glaubten, zu verschwommen, um konkrete Ziele zu zeigen. Da trat plötzlich ein Mitschüler in unseren Kreis, der unser ganzes Leben umkehrte. Chajim Arlosoroff oder – wie er seinerzeit noch hiess – Viktor Arlosoroff, war damals 17 Jahre alt.25 Werk. Ausgewählte Schriften, Reden, Tagebücher und Briefe. Berlin 1936, S. 20–28, die zugleich Rücksicht auf die nationalsozialistische Zensur nehmen mussten. Vgl. Avineri: Arlosoroff, S. 105. 23 Vgl. Getter: Chaim Arlozorof, S. 13. 24 Central Zionist Archives, Jerusalem, Nachlass Robert Sternau, A 730/3. 25 Robert Sternau: Erstes Führertum. In: Central Zionist Archives, Jerusalem, Nachlass Robert Sternau, A 730/3.

7.2. Chaim Arlosoroffs „Tikwath Zion“

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Für seine Mitschüler repräsentierte Arlosoroff ihr eigenes jüdisches Selbst, das bislang lediglich durch die patriotischen Lügenmärchen der Eltern verdeckt gewesen sei und zu dem sie jetzt zurückfinden müssten. Dies galt sogar für den späteren Kunsthistoriker Ernst Michalski (1901–1936), der aus einer zum Protestantismus übergetretenen jüdischen Familie stammte, und vor allem für die später zu trauriger Berühmtheit gelangende Magda Friedländer (1901–1945), die mit Chaims Schwester Lisa in eine Klasse ging und über diese in den Tikwath Zion-Kreis gelangte. Sie kam aus einem christlichen Elternhaus, aber als sie gerade sieben Jahre alt gewesen war, hatte die Mutter den jüdischen Kaufmann Richard Friedländer geheiratet, dessen Nachnamen sie fortan trug.26 Im Kreis um Arlosoroff, mit dem sie eine Liebesaffäre hatte, entdeckte Magda das Judentum, lernte Hebräisch, trug eine Kette mit Davidstern und plante die Auswanderung nach Palästina.27 Als nach dem Ersten Weltkrieg der Antisemitismus zunahm, distanzierte sie sich immer mehr vom Arlosoroff-Kreis, zumal sie das Gefühl hatte, als „blonde Schickse“ noch immer eine Außenseiterin zu sein.28 Sie trennte sich von Arlosoroff und heiratete 1921 den protestantischen Industriellen Günter Quandt, der doppelt so alt wie sie und ausgesprochen antisemitisch eingestellt war. Daraufhin brach sie den Kontakt zum Tikwath Zion-Kreis ab und geriet immer mehr ins Fahrwasser der radikalen Rechten. Nach der Scheidung von Quandt trat sie 1930 der NSDAP bei, lernte dort Joseph Goebbels kennen und wurde Ende 1931 dessen Ehefrau. Die nationalsozialistische Propaganda sollte sie zum Vorbild einer „deutschen Frau“ stilisieren und ihre früheren Annäherungen an das Judentum erfolgreich unter den Teppich kehren.29 Diese Episode verdeutlicht, welche Strahlkraft Arlosoroff auf seine Mitschüler und Mitschülerinnen gehabt haben muss. Wenn die Präsenz der sogenannten „Ostjuden“ besonders in Berlin für die wohlsituierten jüdischen Bürger ein ständiges Ärgernis darstellte, weil diese angeblich nicht dem Bild eines anständigen „deutschen Staatsbürgers jüdischen Glaubens“ entsprachen und durch ihre Fremdartigkeit vermeintlich Antisemitismus schürten, dann empfanden ihre Kinder gerade das Exotische der „Ostjuden“ als authentisch – authentischer jedenfalls als die materialistische Oberflächlichkeit und der falsche Opportunismus ihrer Eltern. „Für uns war er zuerst alles andere als einer der Unsrigen“, schildert Sternau. „Wir empfanden ihn durchaus als Ostjuden. Sein russifizierter 26 Vgl. zur Biographie Anja Klabunde: Magda Goebbels – Annäherung an ein Leben. München 1999. 27 Vgl. ebd., S. 30–36. 28 Ebd., S. 44. 29 Auch in Israel wurde diese Verbindung aus verständlichen Gründen lange nicht thematisiert. Getter: Chaim Arlozorof erwähnt Friedländer genauso wenig wie Avineri: Arlosoroff. Shabtai Tevet: Retzach Arlozorof [Der Mord an Arlosoroff ]. Jerusalem, Tel Aviv 1982, S. 35 f. schreibt, dass Arlosoroff 1933 während seines Deutschlandaufenthaltes in Vorbereitung des Ha‘avarahAbkommens Robert Weltsch dazu bewegen wollte, mit Magda Kontakt aufzunehmen, damit diese im Sinne des Abkommens Einfluss auf ihren Mann Joseph Goebbels nehmen könne.

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7. Aus der Bewegung

Name, sein – wie uns schien – etwas fremdländisches Aussehen, sein leichter Sprachakzent – all das richtete eine Trennungswand zwischen uns auf.“30 Doch gerade diese wahrgenommene Fremdheit Arlosoroffs ermöglichte es seinen Mitschülern, sich mit ihm zusammenzuschließen und sich damit gleichsam von der überkommenen Identität eines brüchig gewordenen Deutschtums zu entfremden: Die Religionsstunde war die einzige Unterrichtsstunde, in der wir jüdische Schüler uns offen aussprachen. Hier erst fühlten wir uns – trotz aller nach aussen betonten Zusammengehörigkeit mit unseren christlichen Mitschülern – unter uns, und unser Lehrer verstand unser Bedürfnis, den Rahmen dieser jüdischen Unterrichtsstunde möglichst weit zu stecken. Aus einem einfachen Unterricht über Inhalt und Lehren des Judentums wurden Aussprachen über fast alle uns bewegenden Fragen – über Krieg, Sozialismus, Chauvinismus etc. Heftige Diskussionen wurden geführt, und in diesen Diskussionen trat uns Chajim Arlosoroff näher. Eigentlich war bald nicht mehr der Lehrer, sondern er, der 17 jährige Gymnasialschüler, Führer und Leiter der Debatten und richtunggebend für den ganzen Unterricht. Er stellte vor uns ein ganz neues Lebensbild.31

Anders als beim Blau-Weiß handelte es sich bei dem Arlosoroff-Kreis, der sich bald selbst „Tikwath Zion“ nannte und damit eine rudimentäre Form der Institutionalisierung schuf, nicht um einen Bund im Sinne der Jugendbewegung. Arlosoroff und seine Freunde kritisierten die autoritären Strukturen in der Jugendbewegung und verhöhnten dessen vergebliche Mühen, „mit juedischem Kulturleben mehr oder weniger peripher in Beruehrung zu kommen“.32 Sie selbst bereiteten sich zwar aktiv auf die Auswanderung vor und führten politische Debatten über die Besiedlung Palästinas, die Einführung des Sozialismus und die Überwindung nationaler Grenzen, aber der ganze Charakter ihrer Treffen bestand im vertrauten Zusammensein: „Hier erst fühlten wir uns – trotz aller nach aussen betonten Zusammengehörigkeit mit unseren christlichen Mitschülern – unter uns“, hatte Sternau über die Anfänge des Kreises im israelitischen Religionsunterricht erklärt. Dieses Gefühl übertrug sich auch auf die Zusammenkünfte von Tikwath Zion. Die erhaltenen Aufzeichnungen  – Gedichtsammlungen, kurze Essays und Briefe – bezeugen, dass es nicht zuletzt die Überwindung der Einsamkeit war, die den Kreis zusammenhielt. Ein Gedicht von Alfred Kupferberg (1900–1968) aus dem Frühjahr 1917 etwa klingt so: Hört mich doch, ich bin ja so zerrissen! Einsam wurde ich – und kann’s nicht tragen; Und muß lieben –, kann es doch nicht sagen: Jubeln will mein Herz – und küssen, küssen – 30 Sternau: 31 Ebd. 32 Ebd.

Erstes Führertum.

7.2. Chaim Arlosoroffs „Tikwath Zion“

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Ach, nie wird’s in meiner Seele froh’! Abseits stehe ich und ganz alleine, Und so einsam bin ich.   Doch ich weine Und ich liebe – und das schmerzt so. Tastend suche ich … wann wird es tragen? Wißt es: Heiß ja will ich Euch umarmen – – und bin einsam!   Habt doch, habt Erbarmen; Glaubt mir doch und lindert meine Klagen … Hört mich doch …33

Auch ein anderes Gedicht formuliert diesen Schmerz: Ich kann Euch nicht klagen, was mich bedrückt, kann Euch nichts sagen, was mich entzückt. Wie sollt ich verkünden Mein Heiligstes Gefühl, Wie überwinden Mein inneres Gewühl? Mein Herz ist verschlossen Von Scheu nur und Scham, Wenn Träume geflossen Aus Schmerz und Gram. Allein muß ich bleiben, kein Freund, noch so treu, kann mir vertreiben die innere Scheu.34

Doch auch wenn die Einsamkeit in solchen Gedichten hymnisch beschworen wurde, machte es einen Unterschied ums Ganze, ob ein verzweifelter Jugendlicher sie in sein privates Tagebuch schrieb und sich aus der Welt zurückzog oder ob sie vor einer Gruppe von Freunden vorgetragen und von dieser gesammelt wurden. Wie sehr Tikwath Zion durch die persönliche Freundschaft der Mitglieder getragen war, die sich gegenseitig unterstützten, um das Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit zu überwinden, zeigt der aufschlussreiche, unveröffentlichte Essay Tagesfragen von Samuel Levit, einem Mitglied des Kreises, der hier aufgrund 33 [Alfred] Kupferberg: Eine Bitte. In: Literarisches Sammelheft der Tikwath-Zion, Frühsommer 1917. In: Central Zionist Archives, Jerusalem, Nachlass Robert Sternau, A 730/2. 34 E. F. Ascher: Was ist’s? In: Literarisches Sammelheft der Tikwath-Zion, Frühsommer 1917. In: Central Zionist Archives, Jerusalem, Nachlass Robert Sternau, A 730/2.

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7. Aus der Bewegung

seines bestechenden Ausdrucks ausführlich zitiert sei. „Es ist in letzter Zeit bei uns viel über die Verinnerlichung unseres Gemeinschaftslebens gesprochen worden, es ist viel dafür getan worden“, hebt Levit an, um sich im Folgenden systematisch dem Problem der Gemeinschaft zu widmen.35 Er machte deutlich, dass Tikwath Zion für die meisten Mitglieder des Kreises vor allem ein Weg aus der Einsamkeit war: Ich gebe zu wir sind [ein] wie durch Zufall zusammengewürfeltes Häufchen Menschen, die an Begabung, Neigung und Charakter verschieden sind. Trotzdem sehe ich nicht geradezu unüberbrückbare Gegensätze zwischen uns. Im Gegenteil, die meisten von uns scheinen dem einen Menschenschlage zu entstammen, der gerade bei Intellektuellen am häufigsten vertreten ist. Dieser Mensch ist seit seiner frühesten Kindheit einsam. Er grübelt, sinnt, denkt, überhäuft sich mit allerhand Zweifeln. Seine Mitmenschen finden ihn trotzdem als einen ganz guten Kerl, haben ihn ganz gern, ja, er ist vielleicht sogar bei ihnen beliebt. Beliebt, dabei bleibt es aber, niemals geliebt. Er ist und bleibt trotz seiner „Vorzüge“, die ihm seine Mitmenschen aufzubürden verstehen, einsam, verlassen. Er findet unter all den Menschen, die ihn gern haben, keinen den er Freund nennen darf. Die einen sind ihm zu aufdringlich, zu niedrig, zu kleinlich. Die anderen, die er für gleichbürtig hält, sind unfähig für ihn die Opfer zu tragen, deren er bedarf. Noch anderen, zu denen er sich Nähe [sic!] angezogen fühlt, vertraut er sich an, öffnet sein Innerstes, wird aber verraten, enttäuscht. Und das ist das Schlimmste. Begegnet er in seinem Leben einem Vertrauensbruch, einer Enttäuschung, sieht er mit seinem Heiligsten Schacher treiben, so wird er zu seinem Weltfremden, wird zu einem Menschenhasser, verkriecht sich in sich selbst, wie eine Schnecke in ihr Gehäuse, und trägt sein Schicksal um so schwerer, je mehr er sich seinen Mitmenschen entfremdet. Es gibt dann für ihn schwere Stunden, in denen [er] leidet, in sich selbst hineinwimmern muß ob der Einsamkeit, ob der eisigen, frostigen Kälte, die ihn umgibt.36

Das Gefühl der Isoliertheit, die Angst vor Enttäuschung und der geistige Rückzug aus der Welt beschreiben die seelische Verfassung vieler Jugendlicher, ob jüdisch oder nichtjüdisch, aber die Erfahrungen mit Antisemitismus und Ausgrenzung dürften für viele jüdische Schüler die Empfindung des Alleinseins noch verstärkt haben. In solchen Stunden übermannt ihn eine Sehnsucht nach einem Menschen, dem er sich ganz und voll vertrauen kann, dem er sein Herz öffnen kann, der ihm Liebe entgegenbringt, für den er kämpfen, für den er sich aufopfern kann, den auch er verstehen kann. Er sieht ein, daß es Zeiten gibt, in denen es gefährlich ist, allein zu stehen, daß es Stürme gibt, die den einzelnen, besonders wenn er so innerlich gebrochen ist, wie einen Strohhalm mitreißen können, er sieht ein, daß er einen Rückhalt, eine nahe Seele, die ihn versteht, die [erwärmt], braucht.37

35 Samuel Levit: Tagesfragen. In: Literarisches Sammelheft der Tikwath-Zion, Frühsommer 1917. In: Central Zionist Archives, Jerusalem, Nachlass Robert Sternau, A 730/2. 36 Ebd. 37 Ebd.

7.2. Chaim Arlosoroffs „Tikwath Zion“

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Solch einen Rückhalt zu finden, sei schwer genug, so Levit. Schließlich sei der Einzelne durch seine Erfahrungen traumatisiert und könne nur schwerlich Vertrauen zu seinen Mitmenschen aufbauen. Ich glaube, daß jeder von uns, der eine mehr, der andere weniger, diesen Weg geschritten ist. Wir alle haben den Willen kundgetan uns näher zu kommen, uns zu befreunden. Mag die Wunde, die Enttäuschung, die wir erlebt noch so frisch sein, befreien wir uns doch von dem gegenseitigen Mißtrauen, gehen wir einen Schritt weiter und versuchen wir uns zu nähern!38

Doch wie konnte das Misstrauen überwunden werden, unter welchen Bedingungen war Freundschaft möglich? Ein ideologischer „Rattenfänger“, der die Sehnsüchte der nach Orientierung und Halt suchenden Jugendlichen ausnutzen wollte, hätte vermutlich behauptet, das gemeinsame politische Ziel schmiede die Einzelnen aneinander. Levit war solch eine Sichtweise fremd: „Durch ­leeres Phrasengedresche erreichen wir es nicht. Durch gleiche Welt- oder selbst Lebens­anschauung, wird man nicht zu Freunden.“39 Vielmehr gehöre dazu „die vollkommene Aufgabe seiner eigenen Neigungen, die Aufgabe seines eigenen Ich, die Aufgabe seines Egoismus.“40 Levit meinte damit eine radikale Reform des eigenen Lebens, die darauf beruhte, die bürgerliche Moral und die mit ihr verbundenen materialistischen Werte zu hinterfragen. Er konnte nicht genauer angeben, wie denn richtig zu leben wäre, sondern fiel seinerseits in leere Phrasen über Opfer, die angeblich zu bringen seien, zurück: Das ist es ja, was uns von den übrigen Lebewesen unterscheidet, daß der Mensch sich selbst um einer höheren Idee aufzugeben vermag, daß er um leben zu können, um einen Lebenszweck zu haben, ein Lebensideal haben muß. Man wird mir antworten, die Welt aber ist auf Egoismus aufgebaut. Ich sage nein, und ich könnte unzählige Beispiele zum Beweise heranführen. Aber dies ist nicht das Wesentliche. Selbst wenn auch die Welt auf Egoismus aufgebaut wäre, selbst wenn es so wäre, so müssen wir eben gegen den allgemeinen Weltumlauf gehen, und Ideale suchen, denn das Leben wäre sonst zu niedrig, zu ekelhaft, nicht lebenswert, wenn man nur um seiner selbst willen lebte. Wir, die wir Bekenner des Zionismus sind, wir werden dereinst vor die Aufgabe gestellt sein, uns, unser Glück, unsere Kräfte, unser Leben der hohen Idee zu opfern.41

Auch wenn Levit den Zionismus als Richtschnur allen Handelns ausgab und im weiteren Verlauf auch die „Selbstaufopferung“ für „unser Volk“ beschwor, waren dies doch nur ideologische Versatzstücke, die kaum zu verdecken vermochten, worum es ihm eigentlich ging: Nähe, Vertrauen, Gemeinschaft, kurz: Freundschaft.

38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd.

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7. Aus der Bewegung

Unser Innen muß uns gegenseitig geöffnet sein, nicht nur unser Geist, sondern ganz besonders unsere Seelen. Es muß klar und offen zu Tage liegen, wie eine ausgebreitete Landkarte, wir müssen uns so kennen, daß wir jeden seelischen Schmerz oder Freude mitfühlen oder mitempfinden können. Wir müssen jeden Wunsch unserer Genossen verstehen und erfüllen, jedes Opfer, sei es auch so lästig[,] willig auf uns nehmen. Diese Offenbarung seines Inneren, diese willige Preisgabe seiner Geheimnisse, seiner Neigung, ist nur ein Mindestmaß für eine Freundschaft. Wahre Freundschaft ist weit mehr. Wenn es also nicht leeres Geschwätz, sondern wirklicher Wille war, uns gegenseitig näher zu kommen, so müssen wir ein jeder diesen Weg betreten. Zusammengefaßt: Um eine wahre innere Gemeinschaft zu schließen ist [1.] die Aufgabe des persönlichen Egoismus unbedingt erforderlich[,] 2. eine gründliche gegenseitige Kenntnis, die zu erreichen ist durch Offenbarung seines Inneren, durch Preisgabe seiner Geheimnisse, seiner Neigungen. Aus dieser Kenntnis kann und muß [sich] ein gegenseitiges Verständnis bei einzelnen nähren u. innere Freundschaft.42

Zweifellos war die Tikwath Zion-Gruppe ein Kreis, in dem sich solche tiefen „inneren Freundschaften“ herausbildeten. Und so verwundert es wenig, dass Freundschaften die Schul- und Studentenzeit überdauerten und auch dann noch einzelne Mitglieder aneinanderband, als der Kopf der Gruppe – Chaim Arlosoroff – nach seiner Promotion 1924 endgültig nach Palästina auswanderte und sich dort bis zu seiner Ermordung 1933 der sozialistischen Partei- und Gewerkschaftsarbeit verschrieb. Tikwath Zion war nur eine Episode in seinem Leben, wenn auch eine sehr prägende, in der er Entscheidungen darüber traf, wie er sein weiteres Leben gestalten wollte. Für ihn bedeutete das, Berlin und seinen Freunden den Rücken zuzukehren, auch wenn sich einige Mitglieder, darunter Sternau und Kupferberg, später in Palästina wiedertreffen sollten.

7.3. Die Brieffreundschaft Scholem-Benjamin Etwa zeitgleich mit Arlosoroff, nämlich im September 1923, wanderte auch ein anderer Berliner Zionist nach Palästina aus, der ein ebenso scharfer Kritiker des Blau-Weiß war: Gershom Scholem (1897–1982). Über seinen familiären Hintergrund haben wir schon einiges gehört, sein Verständnis von Freundschaft dagegen ist bis jetzt – und auch in der reichhaltigen biographischen Forschungsliteratur – unterbelichtet geblieben.43 Auch Scholem war maßgeblich durch die 42 Ebd. 43 Zu

den wichtigsten Biographien zählen David Biale: Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History. Cambridge, London 21982; David Biale: Gershom Scholem. Master of the Kabbalah. New Haven, London 2018; Noam Zadoff: Von Berlin nach Jerusalem und zurück. Gershom Scholem zwischen Israel und Deutschland. Göttingen 2020; Amir Engel: Gershom Scholem: An Intellectual Biography. Chicago, London 2017; Jay Howard Geller: Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie. Berlin 2020 sowie Scholems autobiographische Bücher Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Erweiterte Fassung. Frankfurt am Main 1994 und Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt am Main 1975.

7.3. Die Brieffreundschaft Scholem-Benjamin

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jüdische Jugendbewegung politisiert worden, allerdings war er weder Mitglied im eher rechten Blau-Weiß noch im sozialistischen Ha-Po’el ha-Tsa’ir (Der junge Arbeiter), für den Arlosoroff im Berliner Milieu wie kein zweiter stand. Die Jugendgruppe „Jung-Juda“, die Scholem als 16-jähriger mit ins Leben rief und deren wichtigster Repräsentant er selbst wurde, bestand aus einem kleinen Kreis von jüdischen Schülern.44 Wie die zweite Generation des Blau-Weiß verstand sich auch Jung-Juda im doppelten Sinne als oppositionell: zum einen wendete der Kreis sich gegen das assimilierte Judentum der Eltern, zum zweiten gegen den als lebensfern und geistlos wahrgenommenen deutschen Zionismus. Allerdings zählte für Scholem auch der Blau-Weiß selbst dazu. Für ihn und seine Mitstreiter ging es darum, das ganze Leben auf Zion auszurichten, anstatt nur leere Phrasen abzuspulen, und dazu gehörte für ihn in erster Linie eine intime Kenntnis der hebräischen Sprache und rabbinischen Literatur. Im Gegensatz zum Blau-Weiß war Jung-Juda nicht hierarchisch organisiert und wenn es nach Scholem ging, hatte er auch mit dem antiintellektuellen Romantizismus der bündischen Jugend nicht viel zu schaffen. Statt zu wandern, Fahnen zu schwenken und patriotische Lieder zu trällern traf sich die Gruppe im Berliner Café Tiergarten, organisierte Vorträge oder studierte unter der Anleitung des Rabbiners Isaak Bleichrode den Talmud. Sehr zum Verdruss Scholems schlossen sich die meisten seiner Mitstreiter allerdings „unbekümmert um Freundschaft und sonstige ‚Ideale‘“45 nach und nach dem Blau-Weiß an, was ihn dazu zwang, diesen polemisch unter Beschuss zu nehmen. Insbesondere die Haltung zum Ersten Weltkrieg, in dem der BlauWeiß eine deutschnationale Position einnahm, war Scholem ein Dorn im Auge. Für ihn war der zur Schau gestellte Patriotismus der Blau-Weißen ein Beleg für ihre mangelnde zionistische Überzeugung. „In den letzten Jahren und noch in dieser Stunde haben wir bei uns keine jüdische Jugendbewegung“, verkündete er im März 1917 in Martin Bubers Zeitschrift Der Jude.46 Das Judentum sei im Deutschtum aufgegangen, ohne mit diesem zu verschmelzen, wie die Ideologen der Assimilation meinten. Scholem war fest davon überzeugt, dass es keine Bewegung gebe, die „von jungen Menschen als Juden gespürt und getragen würde“, und kritisierte, dass alle Organisationen der selbsternannten jüdischen Jugendbewegung unfähig seien, eine dezidiert jüdische Gemeinschaft hervorzubringen. Dies sei nur durch eine radikale Umgestaltung des Lebens möglich, durch ein Abstreifen der von den Eltern übergestülpten toten Hülle des erstarrten, konfessionell definierten Judentums. Deshalb forderte er, „daß die Menschen, die zu 44 Vgl. Hannah Weiner: Gershom Scholem and the Jung Juda Youth Group in Berlin, 1913–1918. In: Studies in Zionism 5, 1 (1984), S. 29–42. 45 Gerhard Scholem: 22. Mai–15. August 1915. Notizen in Großoktav. In: Ders.: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 1. Halbband 1913–1917. Hrsg. v. Karlfried Gründer u. a. Frankfurt am Main 1995, S. 117. 46 Gerhard Scholem: Jüdische Jugendbewegung. In: Der Jude 1, 12 (März 1917), S. 822.

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7. Aus der Bewegung

uns kommen, in der Tat umlernen sollen, denn aus der Verwirrung der Gegenwart gibt es durchaus keinen anderen Weg als diesen“.47 Wie die Mitglieder von Tikwath Zion sah also auch Scholem die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des jüdischen Lebens. Dass er schließlich diese Reform des Lebens nicht in einer Bewegung, und auch nicht in einer Partei oder einem Verein suchte, sondern in der geistigen Welt, hatte nicht zuletzt mit einer Begegnung zu tun, die sein Engagement in der Jugendbewegung ein für allemal beenden sollte. Schon im Sommer 1915 hatte er den fünf Jahre älteren Walter Benjamin (1892–1940) kennengelernt, der bis Kriegsausbruch eine der wichtigsten Figuren der Berliner Jugendbewegung gewesen war und zu den Anhängern des Reformpädagogen Gustav Wyneken gezählt hatte. Allerdings hatten die Konflikte mit der Freien Studentenschaft, in der sich Benjamin engagierte, schon vor dem Krieg zugenommen, sodass er sich immer mehr von der Organisation zurückgezogen hatte. Als Wyneken dann im Herbst 1914 ein flammendes Plädoyer für den Krieg als „ethisches Erlebnis“ hielt, war das Tischtuch zwischen ihm und seinem Musterschüler Benjamin endgültig zerschnitten.48 Allerdings dauerte es noch bis zum März 1915, dass dieser sich ganz offiziell von der Bewegung lossagte.49 Als Benjamin und Scholem sich einige Wochen später kennenlernten, verstanden sie sich auf Anhieb. Beide kamen aus der Jugendbewegung, wenn auch aus unterschiedlichen Lagern, und beide kritisierten diese für ihre Kriegsbegeisterung und für ihre Geistfeindlichkeit. Aus dieser ersten Begegnung sollte sich zumindest für Scholem die engste Freundschaft seines Lebens entwickeln. Der Historiker David Biale bemerkt, wie rätselhaft diese Freundschaft war: „Eines der Mysterien der Freundschaft Scholem-Benjamin […] besteht tatsächlich darin, dass Scholem, der sich leidenschaftlich, ja sogar dogmatisch dem Zionismus verschrieben hatte, einen Nicht-Zionisten wie Benjamin als engsten Freund wählte.“50 Biales Hinweis geht allerdings an der realen Beziehung zwischen den beiden Freunden vorbei. Denn es war gerade nicht die ideologische Übereinstimmung, die beide aneinander band, sondern eine ähnliche Struktur des Denkens, vor allem hinsichtlich des Verhältnisses von Geist und Sprachlichkeit, das sich mit metaphysischen Fragen verband. Im Sommer 1916 verbrachten sie mehrere Tage miteinander und diskutierten ausgiebig über die aus ihrer 47 Ebd., S. 823. Das Wort „umlernen“ hat, wenn man es vom Hebräischen her denkt, einen feinen Doppelsinn: Es klingt hier zum einen die T’shuvah („Umkehr“), zum anderen das Studium der religiösen Texte (Talmud bedeutet „Belehrung“, „Studium“) an. Scholem ging es also um eine Rückkehr zum Judentum durch Vertiefung in die Tradition. 48 Gustav Wyneken: Der Krieg und die Jugend. Öffentlicher Vortrag, gehalten am 25. November 1914 in der Münchner Freien Studentenschaft. München 1915. 49 Walter Benjamin an Gustav Wyneken, 9. März 1915. In: Ders.: Briefe I. Hrsg. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt am Main 1978, S. 120–122. 50 Biale: Gershom Scholem. Master of the Kabbalah, S. 24 (meine Übersetzung – PL).

7.3. Die Brieffreundschaft Scholem-Benjamin

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Sicht notwendige Erneuerung der Metaphysik. Ende 1916 verfasste Benjamin als Resultat dieser Gespräche über „Mathematik und Sprache, das heißt Mathematik und Denken, Mathematik und Zion“ seinen Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, der seine Sprachphilosophie kondensiert auf den Punkt brachte und Scholem tief beeindruckte.51 Obwohl Scholem und Benjamin wesentliche philosophische und, bezogen auf die Ablehnung des Krieges, auch politische Überzeugungen teilten, dauerte es doch eine ganze Weile, bis ihre Beziehung zu einer ernsthaften Freundschaft wurde. Erst im September 1917, über zwei Jahre nachdem sie sich kennengelernt hatten, schrieb Benjamin aus St. Moritz: Lieber Gerhard, erlauben Sie daß ich die Erinnerung an Ihren Kampf und Sieg mit der Einführung des Vornamens unter uns verbinde. Bei aller Freude über Ihren letzten Brief […] habe ich ein geradezu schmerzliches Gefühl empfunden bei dem Gedanken daß wir jetzt nicht zusammen sein sollten. Ist es denn wirklich unmöglich? Wir sind jetzt wie ich überzeugt bin in gewisser Beziehung von einer Gleichheit, deren Grundfarbe wohl die Dankbarkeit ist, in der innersten Lage des Lebens die ein höchst fruchtbares und schönes Zusammenarbeiten versprechen würde.52

Mit dem „Kampf “, den Scholem ausfechte, meinte Benjamin die zuvor dargestellte Auseinandersetzung mit dem Blau-Weiß. In dem Brief bezog er sich ­direkt auf Scholems harsche Kritik Jugendbewegung, Jugendarbeit und BlauWeiß, die dieser im Augustheft der Blau-Weiß-Blätter veröffentlicht hatte.53 Der „Sieg“, den Scholem in dieser Debatte davongetragen habe, war für Benjamin, dessen Trennung von der Jugendbewegung ja auch noch nicht lange zurücklag, Anlass genug, ihre Beziehung auf eine neue Stufe zu stellen. Nun waren sie Gleiche, und das erforderte ein Maß an persönlicher und emotionaler Nähe, die nur durch die Einführung des Vornamens hergestellt werden konnte. Zum „Du“ kam es allerdings erst sehr viel später, im Sommer 1921, ganze sechs Jahre, nachdem sie sich kennengelernt hatten.54 Zwei Jahre später, im September 1923, wanderte Scholem nach Palästina aus, sodass die Beziehung zu Benjamin fortan vor allem eine Brieffreundschaft war, wie auch Scholem in seinem Vorwort zur Briefedition Benjamins einräumte:

51 Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen [1916]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II/1. Frankfurt am Main 1974, S. 140–157. Das Zitat entstammt dem Brief Walter Benjamins an Gerhard Scholem, 11. November 1916. In: Ders.: Briefe I. Hrsg. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt am Main 1978, S. 128. 52 Walter Benjamin an Gerhard Scholem, September 1917. In: Ders.: Briefe I. Hrsg. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt am Main 1978, S. 143. 53 Gerhard Scholem: Jugendbewegung, Jugendarbeit und Blau-Weiß. In: Blau-Weiß-Blätter (Führernummer) 1, 2 (August 1917), S. 26–30. 54 Vgl. Walter Benjamin an Gerhard Scholem, Ende Juni 1921. In: Ders.: Briefe I. Hrsg. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt am Main 1978, S. 263.

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7. Aus der Bewegung

Da wir meistens nicht am gleichen Ort lebten und besonders, seitdem ich 1923 nach Palästina ging, fast ausschließlich auf briefliche Mitteilung angewiesen waren, bildeten Briefe in besonders exemplarischer Weise das Medium unserer späteren Beziehung, für das persönliches Gespräch nur noch zweimal wieder substituiert werden konnte. Während daher in seinen Beziehungen zu anderen Menschen das meiste sich im Medium des produktiven Gesprächs und der spontanen Mündlichkeit vollzog, mußten die Briefe an mich für alles einstehen, was uns an persönlichem Zusammensein versagt war.55

Eine der berühmtesten Freundschaften der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts war somit durch räumliche Distanz gekennzeichnet. Aber konnte das Medium des Briefes das unmittelbare Zusammensein ersetzen? Um zu ermessen, welche Rolle die Freundschaft für Benjamin auf der einen und Scholem auf der anderen Seite spielte, ist es notwendig, zunächst einmal die Freundschaftskonzeptionen der beiden Freunde getrennt zu betrachten.

7.4. Antizipation der Erlösung Für Scholem wurde die Idee der Freundschaft immer bedeutsamer, je mehr er sich von der Jugendbewegung distanzierte. Das mag zunächst erstaunen, boten doch die Bünde eigentlich eine Möglichkeit, im geschützten Raum Freunde zu treffen. Wie sich „Benjamins ‚Jüdischsein‘ in der Wahl seiner Freunde“ manifestierte, die mit wenigen Ausnahmen „aus derselben wohlsituierten, assimilierten jüdischen Oberschicht“ kamen, so verkehrte auch Scholem fast ausschließlich unter Juden.56 Dennoch bezweifelte er zunehmend, dass die Jugendbewegung eine echte „jüdische Gemeinschaft“ hervorbringen könnte. Ihm kam es nicht auf profane Zufallsfreundschaften an, wie sie jeder allezeit haben konnte, sondern er sehnte sich nach Formen der jüdischen Freundschaft. Damit meinte er mehr als das bloße Zusammensein von Juden – er forderte einen jüdischen Inhalt, ein jüdisches Wesen der Freundschaft. Im Mai 1917 notierte er in sein Tagebuch: Das ist unsere Nationalerziehung: Die Erziehung durch Freundschaft, der Zwang zur Einsamkeit, die erst die Gemeinschaft in Zion ermöglichen wird. Denn in Zion ist Gemeinschaft, dort wird man nicht darüber sprechen wie bei uns, die unsere Leere in dieser Hinsicht mit dem dauernden Reden von Gemeinschaftssehnsucht übertreiben und beweisen. Dort ist kein Golus: dort ist das Volk.57 55 Gershom Scholem: Vorrede. In: Ders.: Briefe I. Hrsg. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt am Main 1978, S. 9 f. 56 Howard Eiland, Michael W. Jennings: Walter Benjamin. Eine Biographie. Berlin 2020, S. 69. 57 Gershom Scholem: Exemplum non datum. Das nicht gegebene Beispiel. Wahrheiten und Lügen eines jungen Menschen und Zionisten (Zionisten-Menschen) namens Gerhard Scholem vom 16. Mai – 1. Oktober 1917. In: Ders.: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 2. Halbband 1917–1923. Hrsg. v. Karlfried Gründer u. a. Frankfurt am Main 2000, S. 24. Das Wort „Golus“ ist die aschkenasische Aussprache des hebräischen Wortes „Galut“, das als „Diaspora“ oder „Zerstreuung“ übersetzt werden kann.

7.4. Antizipation der Erlösung

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Der jüdischen Freundschaft wohne demnach eine messianische Perspektive inne, die Erlösung aus der Galut. Einzig in Zion sei die Existenz eines jüdischen Volkes denkbar, in der Diaspora könne die jüdische Gemeinschaft nur in Freundschaften antizipiert werden. Alle Massenbewegungen hielt er für untauglich, „die Jugend in tiefster Wahrheit zu gewinnen“, das sei nur möglich, indem man „auf die einzelne jüdische Seele“ wirke, „von Mensch zu Mensch“.58 Für Scholem wurde also die jüdische Freundschaft immer mehr zu einem Gegenentwurf zu jüdischen – auch zionistischen – Massenorganisationen. Der auf Massen ausgerichteten Jugendbewegung stellte er bewusst die diasporische Einsamkeit gegenüber. Es könne nicht darum gehen, die jüdischen Massen zu retten, „sondern einige Seelen zu gewinnen und dem Verderben zu entreißen“.59 Aber nicht nur das Ziel der Freundschaft  – die Rettung für Zion  – verlieh ihr aus seiner Perspektive einen jüdischen Charakter, sondern auch die Art und Weise des Freundseins. Dabei war Freundschaft für ihn ein vornehmlich männliches Prinzip, das sich grundlegend von der zweigeschlechtlichen Liebe unterschied. „Die Ordnung der Liebe bedeutet“, heißt es in einer Aufzeichnung des 20-jährigen aus dem November 1917, daß zwei Menschen die Welt umfassen, wenn sie zueinander geordnet sind. Freundschaft umfaßt nicht die Welt. Ich glaube es nicht, daß man zu einem Mädchen im letzten Grunde anders stehen kann als in der Beziehung der Liebe. […] Die Freundschaft zu einem Mädchen ist entweder eine vorletzte Beziehung oder ein Schwindel. Denn Freundschaft bedeutet die Erkenntnis der Symbole. Aber nur in der Liebe ist dies bei den Frauen möglich, ohne Liebe erkennen wir sie nicht (bleiben sie uns doch sogar in der Liebe unverständlich!), wie sollten wir da Freundschaft haben können?60

Der Gegensatz, den Scholem hier in etwas kryptischen Ausführungen zwischen Freundschaft und Liebe konstruierte, war auf den ontologischen Ort der beiden Beziehungsformen („Ordnungen“) bezogen. Die Liebe habe ihren Ort in der Seele der Liebenden und bilde eine abgeschlossene Welt für sich, zu der nur die Liebenden Zutritt hätten; in diesem Sinne „umfasst“ die Liebe diese Welt. Die Freundschaft dagegen – man darf sich hier von der Formulierung nicht täuschen lassen – sei immer schon in der Welt, aber nicht in der abgetrennten Welt der Liebenden, sondern in der Welt der Symbole. In Scholems Analyse von Freundschaft und Liebe rückte plötzlich wie bei Iwan Bloch der Begriff der Erkenntnis ins Zentrum, dieses Mal aber in der doppelten Bedeutung der hebräischen Wurzel jada: Scholem ordnete das Erkennen im intellektuellen Sinne der Ent58 Ebd.

59 Ebd.,

S. 25. Scholem: Über Metaphysik, Logik und einige nicht dazugehörende Gebiete phänomenologischer Besinnung. Mir gewidmet. 5. Oktober 1917–30. Dezember 1917. In: Ders.: Tage­bücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 2. Halbband 1917–1923. Hrsg. v. Karlfried Gründer u. a. Frankfurt am Main 2000, S. 75. 60 Gershom

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7. Aus der Bewegung

schlüsselung der Symbole der Freundschaft zu, während die Liebenden einander „nur in der Liebe“, also im sexuellen Akt, erkennen könnten. Jüdisch war Freundschaft daher für Scholem in Bezug auf die Symbole, die die Freunde wechselseitig aneinander entschlüsselten. Man könnte auch sagen: Sie erkannten einander als Juden, die von der Tradition erfüllt waren, ob sie sich nun dessen bewusst waren oder nicht.61 Für die Liebe bedeutete das, dass die ‚kleine‘ Welt, die aus der Verbindung zweier jüdischer Seelen hervorging, mit der ‚großen‘ intellektuellen und sozialen Welt nicht verschmelzen durfte: „Die Liebe ist die einzige unter den geistigen Ordnungen“, spitzte Scholem zu, „die ihren Ort nur und dauernd in der Seele hat. Die Liebe ist nicht in der Welt, alle anderen Ordnungen sind es.“62 Allerdings machte er eine wichtige Einschränkung: „Die christliche Liebe ist auch in der Welt. Sie schafft Unordnung.“63 Dies war gewissermaßen eine Warnung vor der Vermischung der Sphären. Die klare kosmische Ordnung, die Scholem vor Augen hatte, verbannte die Liebe aus der Welt und wies ihr einen extraterritorialen Ort zu, gleichsam als ob sie das Gelingen der Freundschaft untergraben könne. Von der Liebe ging eine Gefahr aus, denn sie konnte die Menschen verzaubern, ja diese in ihre isolierte Welt der Abgeschlossenheit hineinziehen. Dies gelte besonders für die „gojische Liebe“, die Scholem als besonders trügerisch charakterisierte: „Eins weiß ich genau: jüdische Liebe – und ich liebe jüdisch – ist nicht wie gojische Liebe. Jüdische Liebe zaubert nicht. Freilich: sie könnte es auch – und hier liegt ihr Abgrund. Das ist das Wesen der Verführung.“64

7.5. Fritz Heinle, der tote beste Freund Verstand Scholem Freundschaft wesentlich als intellektuelle Beziehung, so steht seine tief empfundene, durchaus leidenschaftliche Liebe zu Walter Benjamin auf den ersten Blick in einem gewissen Missverhältnis dazu. Nachdem dieser ihm im Dezember 1917 offenbart hatte, er sei „in eine neue Zeit“ seines Lebens eingetreten, in der das, „was mich mit planetarischer Geschwindigkeit von allen Menschen löste und mir auch noch die nächsten Verhältnisse außer meiner Ehe zu Schatten machte“, sich nun in der Freundschaft mit Scholem manifestiere, 61 Der Begriff des Symbols ist in Scholems Denken äußerst komplex. Kurz gesagt sind Symbole für ihn spontane und emotionale Objekte, deren Bedeutung man nicht wählen kann. Das mystische Symbol, dem er einen großen Teil seiner Forschung gewidmet hat, bedeute „nichts und teilt nichts mit, sondern läßt etwas sichtbar werden, was jenseits aller Bedeutung steht“. Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt am Main 31993, S. 30. 62 Scholem: Über Metaphysik, S. 76. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 75. Siehe dazu auch Biale: Scholem: Master of the Kabbalah, S. 46.

7.5. Fritz Heinle, der tote beste Freund

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war dieser tief gerührt.65 Benjamin bezog sich konkret auf eine Bemerkung Scholems, der dessen gerade fertiggestellten Aufsatz über Dostojewskis Idioten als esoterische Referenz auf den 1914 durch Suizid gestorbenen Jugendfreund Benjamins, Fritz Heinle (1894–1914), gedeutet hatte. Für Benjamin war dieser Gedanke eine „Offenbarung“, die Heinle gleichsam „für einen Augenblick“ wieder in sein Leben treten ließ.66 Scholem erinnerte Benjamin an den einzigen, idealen Freund, den dieser jemals gehabt hatte – aber Scholem trat nicht an dessen Stelle, sondern vermittelte zwischen Vergangenheit und Gegenwart dieser für Benjamin so einzigartigen Freundschaft. Scholem wusste um den Platz Heinles in Benjamins Herz, ja, es sei sogar „unbegreiflich, ungeheuer, wie Walter Benjamin den Tod seines Freundes überleben konnte“. Aber auch für ihn nahm die Freundschaft zu Benjamin – „die wichtigste meines Lebens“67 – eine zentrale Rolle ein.68 Er notierte in sein Tagebuch: Walter, lieber Walter, ich danke dir aus meiner allertiefsten Seele, aus so tiefer Seele, daß ich niemals werde dir diesen Dank aussprechen können. Nun erst ist mit dem heutigen Tage wirklich auch für mich eine neue Periode meines Lebens eingetreten: Denn aus Walters Brief spricht die Freundschaft, die erneuerte Freundschaft.69

Sicherlich eignete der Freundschaft der beiden jungen Männer eine gewisse Schieflage. Das Tagebuch Scholems zeigt, wie sehr er auf Benjamin ausgerichtet war, wie sehr er ihn liebte und umschwärmte. Benjamin stehe, so notierte Scholem, „für mich ganz außerhalb der ‚Beziehungen‘, er steht im Zentrum meines Lebens, er und kein anderer.“70 Benjamin hingegen sah in Scholem zwar einen seiner besten Freunde, aber er war nach dem traumatischen Tod Heinles konstitutiv unfähig, sich auf eine neue Freundschaft in einem so tiefen, metaphysischen Sinne einzulassen, wie er es einmal getan hatte. „Fritz Heinle war Dichter“, schreibt Benjamin im Entwurf seiner Berliner Chronik, und unter allen der einzige, dem ich nicht „im Leben“ sondern in seiner Dichtung begegnet bin. Er ist mit neunzehn Jahren gestorben und man konnte ihm nicht anders begegnen. Aber dennoch, dieser erste Versuch, den Raum seines Lebens in dem der lyrischen Poesie zu beschwören, scheiterte und gi war umsonst.71

65 Walter Benjamin an Gerhard Scholem, 3. Dezember 1917. In: Ders.: Briefe I. Hrsg. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt am Main 1978, S. 157. 66 Ebd. 67 Scholem: Von Berlin nach Jerusalem, S. 75. 68 Scholem: Über Metaphysik, S. 82. 69 Ebd., S. 91. 70 Gershom Scholem: Tagebuch vom 22. Februar 1918–18. April 1918. In: Ders.: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 2. Halbband 1917–1923. Hrsg. v. Karlfried Gründer u. a. Frankfurt am Main 2000, S. 145. 71 Walter Benjamin: Berliner Chronik [1932]. In: Ders.: Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 11.1: Berliner Chronik / Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Hrsg. v. Burkhardt Lindner und Nadine Werner. Berlin 2019, S. 25 f. (Durchstreichung im Original).

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7. Aus der Bewegung

Wenn Benjamin schreibt, er sei Heinle nicht „im Leben“ begegnet, so bedeutet das selbstverständlich nicht, er habe ihn nicht persönlich gekannt, sondern nur dessen Gedichte gelesen. Beide hatten sich 1913 in Freiburg kennengelernt, gingen dann gemeinsam nach Berlin und waren beide in der Jugendbewegung Wynekens aktiv. Sie traten gemeinsam bei Veranstaltungen der Expressionisten auf und trugen Gedichte vor, an denen sie zusammen gearbeitet hatten. Dass Benjamin hervorhebt, Heinle sei der einzige gewesen, dem er „in der Dichtung“ begegnet sei, heißt nichts anderes als dass er die Freundschaft als tiefe geistige Verbundenheit empfand.72 Sie war durch Konflikte und Spannungen gekennzeichnet, aber auch von Liebe und Zuneigung geprägt. Vor allem aber entsprach sie dem Ideal der geistigen Freundschaft, wie Benjamin es in Auseinandersetzung mit Wynekens Begriff der „ethischen Gesinnungsgenossenschaft“ erstmals im Herbst 1912 in seinem Text Dialog über die Religiosität der Gegenwart entwickelt hatte.73 Dieser bemerkenswerte Text schildert ein intensives Gespräch zweier Freunde, die sich kompromisslos gegenüberstehen und auch charakterlich völlig verschieden sind. Trotzdem basiert ihr Gespräch auf Vertrauen und geistiger Affinität. Wie der Titel bereits verrät, widmet sich das Gespräch inhaltlich der Frage der Religiösität der Gesellschaft. Beide Freunde stimmen darin überein, dass „in den letzten Jahrhunderten die alten Religionen geborsten“ seien.74 Während „der Freund“ den Ausweg im Pantheismus findet, verteidigt das „Ich“ die Metaphysik und den ethischen Gehalt der Religion: „Eine Religion band Mächte, deren freies Wirken zu fürchten ist. Die vergangenen Religionen bargen in sich die Not und das Elend. Die sind frei geworden.“75 Man könnte also Benjamins „Ich“ durchaus als Verteidiger der Religion in Zeiten der Säkularisierung lesen. Das bedeutet jedoch nicht, dass er die traditionellen Normen und Werte einer konkreten Religion – etwa des Judentums – unkritisch übernommen hätte. Dies zeigt sich insbesondere hinsichtlich des Begriffs der Liebe, der ja im Judentum sowohl auf die Gottes- als auch auf die Nächstenliebe bezogen ist, aber vor allem im Kontext von Ehe und Fortpflanzung von Bedeutung ist.76 Benjamins „Ich“ stellt sich dieser Verknüpfung entgegen und plädiert für eine radikale Trennung: „Die Liebe ist zunächst einmal

72 Vgl. dazu auch Erdmut Wizisla: „Fritz Heinle war Dichter“. Walter Benjamin und sein Jugendfreund. In: Lorenz Jäger, Thomas Regehly (Hg.): „Was nie geschrieben wurde, lesen.“ Frankfurter Benjamin-Vorträge. Bielefeld 1992, S. 115–131. 73 Siehe dazu Eiland, Jennings: Walter Benjamin, S. 71. 74 Walter Benjamin: Dialog über die Religiösität der Gegenwart [1912]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II/1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 18. 75 Ebd. 76 Vgl. Michael Kaufman: Love, Marriage, and Family in Jewish Law and Tradition. Northvale, London 1996, S. 77–110.

7.5. Fritz Heinle, der tote beste Freund

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eine persönliche Angelegenheit zwischen zweien und durchaus kein Mittel zum Zweck der Kindererzeugung; lesen sie dazu ‚Faustina‘ von Wassermann.“77 Der Verweis auf das 1912 erschienene Buch von Jakob Wassermann (1873– 1934) ist aufschlussreich, schildert dieses doch das unstete Leben einer unabhängigen, jungen Frau namens „Faustina“, die sich von allen Normen und Werten der bürgerlichen Gesellschaft emanzipiert hat. Sie hatte sich, kaum zwanzig Jahre alt, von dem Zwang und Drill ihrer Welt befreit, um, wie sie sich ausdrückte, „selbst“ zu leben. Die Ungebundenheit ihrer Lebensführung war in der Tat erstaunlich. Eine Zeitlang kämpfte sie im größten Elend; plötzlich ging sie zum Theater, dort heiratete sie einen Schauspieler, von dem sie sich nach dreimonatlicher Ehe wieder trennte. Um Geld zu verdienen, übersetzte sie mittelmäßige Romane aus dem Französischen. Eines Tages hieß es, sie sei mit einem reichen Brasilianer verlobt und mit ihm in seine Heimat gereist. Aber schon nach Jahresfrist kam sie zurück, – ohne Brasilianer, leider genau so arm wie zuvor.78

Der Erzähler, der sich mit Faustina angefreundet hat, verliert sie dennoch aus den Augen, als diese plötzlich spurlos verschwindet. Erst nach Jahren trifft er sie zufällig auf der Straße wieder und sofort entspinnt sich ein eigentümliches Gespräch über das Verhältnis von Freundschaft, Sinnlichkeit und Liebe. Als der Erzähler Faustina fragt, warum sie so mutterseelenallein ohne Freundin durch die Gasse streife, antwortet diese: „Ach was, Freundin! Ich habe keine Freundin, habe nie eine gehabt. Eine Frau hat niemals eine Freundin.“ „Aber die Freunde, Faustina! Sie ließen mich einmal glauben, daß ich Ihr Freund sei.“ „So? Wirklich? Mag sein, doch ich ärgerte mich, daß Ihnen keinen Augenblick lang der Einfall kam, etwas anderes sein zu wollen.“ Sie lachte über mein verdutztes Gesicht und fuhr fort: „Spricht man hingegen nicht vom Freund, sondern von den Freunden, so muß ich gestehen, daß ich für solche Beziehungen nicht viel übrig habe. Die Freunde, das sind Wesen von einer geradezu lächerlichen Gefräßigkeit. Sie verdauen schneller als die Hühner, und sie bleiben immer mager, ihr Herz bleibt immer mager.“ „Dennoch, Faustina, mit Menschen verbunden zu sein, bleibt der schönste Vorzug des Menschen. Einen isolierten Zustand schadlos zu ertragen, dazu gehört schon eine ungewöhnliche Seelenstärke.“ 79

Die Gegenüberstellung von Freundschaft und Liebe wird in Wassermanns Novelle auf die Spitze getrieben, wenn Faustina beklagt, dass Freunde zu wahrer Liebe nicht fähig seien. Der Erzähler widerspricht und vermag in der Verbindung zweier Menschen vor allem die Überwindung der Einsamkeit zu sehen, 77 Benjamin: Dialog über die Religiösität, S. 30 f. Benjamin nimmt hier einen zentralen Gedanken seiner Interpretation von Goethes Wahlverwandtschaften vorweg. 78 Jakob Wassermann: Faustina. Ein Gespräch über die Liebe [1907/1912]. In: Ders.: Imaginäre Brücken. Studien und Aufsätze. München 1921, S. 29. 79 Ebd., S. 32.

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7. Aus der Bewegung

also einen leidenschaftslosen oder doch zumindest der Sinnlichkeit entrückten Zweck. Gerade dies aber, die zwecklose Leidenschaft, ist für Faustina das Signum wahrer Liebe. Diese sei nur im Opfer möglich, denn „opfern heißt, zu lieben, wahrhaft zu lieben, sich wegzuwerfen“80. Nach allen Enttäuschungen ihres jungen Lebens kann sie dieses Opfer nicht mehr aufbringen und glaubt deshalb, zur Liebe unfähig zu sein. Doch ihr Freund wendet ein, sie verwechsle Sinnlichkeit und Liebe, die sich zueinander verhielten wie Rauch und Flamme: „Ist es so? Ist es wirklich so?“ versetzte Faustina hastig. „Sinnliche Leidenschaft trägt nicht, das gebe ich zu. Aber wenn wir die Liebe nur in ihrer Vollkommenheit anerkennen wollen, was bleibt dann noch bestehen? was darf dann noch Liebe heißen?“81

Faustina wehrt sich dagegen, die Liebe von der Sexualität zu trennen, und verweist auf die „Absicht der Natur“, die „doch durch Liebe die Gattung fortpflanzen will“. Doch der Freund widerspricht: „Das ist ein Irrtum, Faustina. Durch Liebe wird die Gattung eben nicht fortgepflanzt, zum mindesten ist sie nicht darauf gestellt. Sie ist sich selber Zweck.“82

Genau dies ist die Stelle, auf die sich Benjamin in seinem Dialog bezog. Er verstand wie der Freund Faustinas Liebe als Selbstzweck und rückte sie damit in den Umkreis der Freundschaft. Sie war ihm vor allem ein geistiges Verhältnis, das durch seelische Affinität gestiftet werde, nicht durch Sinnlichkeit und Sexualität.83 Diesen Gedanken übertrug Benjamin nach dem Abitur, das er 1912 ablegte, auf das studentische Leben, wie seine berühmte Jugendschrift Das Leben der Studenten zeigt, die 1914 im Zwiegespräch mit Heinle entstanden war und im Wesentlichen auf seiner Antrittsrede als Präsident der Freien Studentenschaft in Berlin beruhte. In dem Text hielt er das Ideal der kritischen Wissenschaft den Verflachungen der Zeit entgegen und unterzog die Hochschule einer unnachgiebigen Kritik. Sie sei zur Berufsausbildungsstätte verkommen und habe sich von der Idee der Universitas magistrorum et scholarum verabschiedet. Die Vorstellung, dass Lehrer und Schüler Freunde seien und eine „ethische Gesinnungsgenossenschaft“ bildeten, stellte Benjamin explizit der starren, professoralen Hierarchie der Hochschulen gegenüber.84 Dieser Freundschaftsbegriff war durch die Ideen Gustav Wynekens inspiriert, den Benjamin im Landerziehungsheim 80 Ebd.,

S. 34. S. 57. 82 Ebd., S. 58. 83 Vgl. Bernhard Sommerfeld: Symphilosophie und Praxis. Studien zum Frühwerk Walter Benjamins. Würzburg 1998, S. 85. 84 Das Wyneken-Zitat entstammt einem Brief Walter Benjamins an Heinles Schulkamerad Ludwig Strauss, 21. November 1912. In: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. I: 1910–1918. Hrsg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt am Main 1995, S. 78 und wird dort mit Freundschaft gleichgesetzt. 81 Ebd.,

7.5. Fritz Heinle, der tote beste Freund

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Haubinda als Lehrer kennen und schätzen gelernt hatte. In einer Festschrift, die 1913 anlässlich des Freideutschen Jugendtages erschien, war Wynekens Konzept der Gemeinschaft folgendermaßen zusammengefasst: In beständigem Handeln wird so die sittliche Freiheit immer aufs neue geübt. Besonders gilt dies bei den Mitgliedern des „Ausschusses“, der seinerzeit von den obersten Klassen gewählt wurde […]. Unter Leitung eines selbst gewählten Vorsitzenden, der die regelmäßigen Ämter und Pflichten verteilt, tagt dieser alle Wochen und bespricht zugleich wichtige Fragen der Gegenwart. Der eine hat die Aufsicht in einem Schlafsaal beim Aufstehen und Zubettgehen auszuüben, ein anderer für die Ordnung im Fahrradschuppen oder in den Klassenzimmern zu sorgen, ein dritter nachzusehen, ob zur rechten Zeit alle Lichter gelöscht sind u. dgl. m. Außerdem hat jeder einige jüngere Kameraden als seine Schützlinge zu betreuen, zu sehen, ob sie in tadellosem Zustand zu den Mahlzeiten kommen u. dgl., sowie sie vorkommendenfalls vor Quälereien anderer zu schützen. So bildet sich bei allen das Gefühl der Kameradschaftlichkeit heraus, wo einer dem anderen hilft. Dieses Verhältnis umfaßt auch Lehrer und Schüler. Um jeden Erzieher scharen sich einige Zöglinge, die mit diesem eine „Kameradschaft“ bilden, und oft genug verknüpft dauernde Freundschaft Kameradschaftsöhne und Führer. Da jeder sich seinen Führer selbst erwählt, also sich den aussuchen kann, von dem er glaubt, daß er am meisten für ihn passe, so ist auch die Wahrscheinlichkeit groß, daß jede Individualität Berücksichtigung findet, und alles sich entfaltet, was an wertvollen Keimen enthalten ist.85

Das demokratische Konzept der Kameradschaft von Lehrern und Schülern übernahm Benjamin in seinem Text über Das Leben der Studenten und stellte besonders den Aspekt der Freundschaft heraus. Während die studentischen Massen aus „Furcht vor Einsamkeit“ lediglich Freundschaften „ohne Größe und Einsamkeit“ pflegten, sei es an den wahren Studenten, eine „expansive, auf das Unendliche gerichtete Freundschaft der Schaffenden“ zu schmieden, „die auch dann noch auf die Menschheit geht, wenn sie zu zweien oder ihre Sehnsucht allein bleibt“.86 Die Freundschaft der Schaffenden galt ihm also auch dann noch als eine universelle, wenn sie ihren Ort in der abgeschlossenen Zweisamkeit hatte. Wer aber galt nun als „Schaffender“? Diejenigen, die „das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend“ befreien.87 Eine solche „erkennende“ Freundschaft der Schaffenden bildeten aus Benjamins Sicht Heinle und er. Sie hatten, wie er an einem Brief an Carla Seligson schrieb, „keine Freundschaft der Brüder und Genossen, sondern eine Freundschaft der fremden Freunde“.88 Das hieß: Ge85 Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913. Jena 1913, zitiert nach: Anmerkungen der Herausgeber: Frühe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. II/3. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 830. 86 Walter Benjamin: Das Leben der Studenten [1914/15]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II/1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 86. 87 Ebd., S. 75. 88 Walter Benjamin an Carla Seligson, 23. November 1913. In: Ders.: Briefe I. Hrsg. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt am Main 1978, S. 96.

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7. Aus der Bewegung

rade durch die Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere, durch die Spannungen und Reibungen, die zwischen ihnen bestanden, entzündete sich eine außerordentliche, aufs Ganze zielende Kreativität: „trotzdem jeder der andere ist, muß er aus Notwendigkeit bei seinem Geist bleiben.“89 Als Heinle sich unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges gemeinsam mit seiner Freundin Rika Seligson aus Verzweiflung das Leben nahm, war dies eine grundstürzende Erfahrung für Benjamin. Er verließ laut Scholems Bericht die Jugendbewegung, „besonders da der wichtigste Mensch daraus, sein Freund Heinle – von dem er später immer nur als ‚mein Freund‘ schlechthin zu sprechen pflegte – sich wenige Tage nach Kriegsausbruch mit seiner Freundin das Leben genommen habe.“90 Für immer sollte Heinle, dem er hernach einen Sonettzyklus widmete, der Freund Benjamins schlechthin bleiben.91 Scholem war sich dessen vollkommen bewusst. Er versuchte auch gar nicht erst, an die Stelle Heinles zu treten, wusste aber sehr wohl, was er an Benjamin hatte. Beide teilten eine ähnliche Vorstellung von dem, was wahre Freundschaft bedeutete  – nämlich die „Freundschaft der fremden Freunde“, die seelisch miteinander verbunden waren, aber sich äußerlich und auch charakterlich aufs äußerste voneinander unterschieden. Wer Scholems Buch über die Freundschaft mit Benjamin aufmerksam liest, wird feststellen, dass der Autor viel Mühe darauf verwendet, diese Gegensätzlichkeit der Persönlichkeiten herauszustellen, beginnend mit Gang und Körperhaltung über die verbalen Umgangsformen und die physische Erscheinungsform bis hin zum Charakter. – „trotzdem jeder der andere ist, muß er aus Notwendigkeit bei seinem Geist bleiben.“ Diese Definition wahrer Freundschaft hätte auch aus der Feder Scholems stammen können. Beide waren auf ihre Weise einsam und distanziert gegenüber der Außenwelt und es ist wohl kein Zufall, dass Scholem einmal seine Bibliothek als besten Freund bezeichnete.92 So wie Heinle nur noch als Symbol vollkommener Freundschaft weiterlebte, war für Scholem auch Benjamin nicht erst seit der Auswanderung 1923 größtenteils ein abwesender Anwesender. Sicher, es gab Tage und Wochen, die sie miteinander verbrachten und in denen sie nächtelang diskutierten, aber die Tatsache, dass so viele Briefe Benjamins an Scholem erhalten sind, weist schon daraufhin, dass ihre Freundschaft zu wesentlichen Teilen eine brieflich vermittelte war. Das schloss Disput und Streit nicht aus, aber er war eben doch häufig prosaisch gebrochen; die „chinesische Höflichkeit“, die Scholem Benjamin attestierte, kommt auch in den Briefen zum Ausdruck.93 Es 89 Ebd.,

S. 95. Scholem: Walter Benjamin – Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt am Main 1975, S. 19. 91 Walter Benjamin: Sonette. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1986. 92 Vgl. Zadoff: Von Berlin nach Jerusalem, S. 66. 93 Gershom Scholem: Erinnerungen an Benjamin. In: Über Walter Benjamin. Frankfurt am Main 1968, S. 31. 90 Gershom

7.5. Fritz Heinle, der tote beste Freund

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waren die wenigen Gelegenheiten, wenn die beiden längere Zeit miteinander verbrachten, dass diese distanzwahrende Fassade aufbrach und Benjamin sich dem Freund gegenüber öffnete. Was Scholem sich von solchen Treffen erwartete, schilderte er im März 1916 in seinem Tagebuch: Die Nachricht, daß Benjamin nach Berlin – also doch mindestens auf sechs Wochen – zurückkommt, ist mir sehr erfreulich und angenehm, weil ich dann in meiner Hütte doch einmal die Dinge, die mich beschäftigen, auch laut bereden kann: wesenhaft bereden. Nicht, daß ich Einsamkeit für minder wertvoll hielte, im Gegenteil: Erst hier weist sich an einer großen Prüfung die Berechtigung zur revolutionären Kritik aus: an der Fähigkeit, mit sich selbst als einem Gegner zu diskutieren, eine Fähigkeit, die ich mir mit gutem Recht zu eigen weiß, von frühester Jugend auf. Aber dann, wenn man gedacht hat, ist Möglichkeit der Gemeinschaft mit einem Befruchtenden und Ehrfürchtigen immer und dauernd etwas Erhebendes.94

Wie Benjamin in seiner Antrittsrede vor den Berliner Studenten gegen die „Furcht vor der Einsamkeit“ polemisiert hatte, konnte auch Scholem Gefallen am Alleinsein finden, sofern es sich um ein Zwiegespräch mit sich selbst handelte. Aber ganz allein mit sich selbst wollten beide dann doch nicht sein, vielmehr pflegten sie, wie sich Benjamins Biographen treffend ausdrücken, eine „Dialektik von Einsamkeit und Gemeinschaft“.95 In der Freundschaft schlüpfte der jeweils andere in die Rolle des alter ego und spiegelte – sozusagen leibhaftig – die Gegenposition des Zwiegesprächs zurück. Das galt für Scholem allen voran im Hinblick auf den Zionismus. Mit seinen zionistischen Freunden könne er nicht über seine zionistischen Angelegenheiten reden, hielt er fest, „weil man jenseits des Zweifels und des Willens zum prüfenden Gedanken steht: ich muß zu dem Nichtzionisten und Nichtmathematiker Benjamin gehen, der ein Organ hat, wo die Mehrheit der anderen nicht mehr reagiert“.96 Es war dieses „Organ“, das Benjamin für Scholem zum einzig möglichen Gesprächspartner machte. Ist es da ein Zufall, dass einer der ersten biblischen Texte, den Scholem aus dem Hebräischen übersetzte, die Freundschaft von David und Jonathan behandelte? Die Verse 17 bis 27 des ersten Kapitels im 2. Buch Samuel berichten über Davids Trauer nach dem Tod Jonathans. Das Kapitel schließt, in Scholems Übersetzung, mit folgenden Worten: „Mein Bruder Jonathan  / Du warst mir sehr lieb  / Wunderbarer war mir deine Liebe  / Als die Liebe von Frauen.  / Wie sind die Helden gefallen  / Und verloren  / Die Geräte des Krieges. /“97. Es ist die Seelenverwandtschaft, die Scholem im Angesicht 94 Gerhard Scholem: Nach meinem Aufbruch zu mir: Auf dem Wege. ‫בדרך‬. 1. März – 11. März 1916. In: Ders.: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 1. Halbband 1913–1917. Hrsg. v. Karlfried Gründer u. a. Frankfurt am Main 1995, S. 273. 95 Eiland, Jennings: Walter Benjamin, S. 63. 96 Scholem: Nach meinem Aufbruch, S. 273. 97 Gerhard Scholem: 2. Samuelis 1, 17–27 (3. XII. 1917). In: Ders.: Tagebücher nebst Aufsätzen

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7. Aus der Bewegung

des Krieges, in Zeiten von Tod und Verheerung, als das Bessere festhält. Mehr als alles andere ist es die Freundschaft, die den Einzelgängern Scholem und Benjamin eine vollkommen auf das Geistige ausgerichtete Existenz ermöglichte. Von der Jugendbewegung hatten sie sich verabschiedet. Was sie nun erstrebten, war Erkenntnis in der Gemeinschaft zu zweien. Damit waren sie nicht die einzigen ihrer Generation.

und Entwürfen bis 1923. 1. Halbband 1913–1917. Hrsg. v. Karlfried Gründer u. a. Frankfurt am Main 1995, S. 88.

8. Seelenfreundschaft .‫ ויאהבו יהונתן כנפשו‬.‫ונפש יהונתן‏ נקשרה בנפש דוד‬ 1. Samuel 18, 1

1

Die selbst ernannten Bruderschaften und Jüngerzirkel, die Jugendkreise und Bünde stellten zwar Gegenentwürfe zur bürgerlichen Gesellschaft dar, aber es ist auch nicht zu übersehen, dass ihre Existenz lediglich ein vorübergehendes Phänomen war. Die meisten Mitglieder gehörten den Zirkeln nur für kurze Zeit an und schlugen andere, oft durchaus klassisch bürgerliche Wege ein, wenn ihre Studienzeit oder adoleszente Orientierungsphase vorüber war und es daran ging, sich eine unabhängige Existenz aufbauen zu müssen. In diesem Sinne waren die Zirkel tatsächlich Ausdruck einer Rebellion gegen das Lebensmodell der Eltern, die verpuffte, sobald aus Heranwachsenden Erwachsene geworden waren. Während die Kreise oft einen entschieden esoterischen Charakter hatten und Außenstehenden gleichermaßen geheimnisvoll wie obskur erschienen, galt die Freundschaft zwischen zwei Individuen als normal. Freunde zu haben, gehörte zum bürgerlichen Normenkatalog, denn ihnen kam eine unerlässliche soziale Funktion zu, die bereits Immanuel Kant in seiner Metaphysik der Sitten beschrieben hatte: „Freundschaft (in ihrer Vollkommenheit betrachtet)“, heißt es da, ist die Vereinigung zweier Personen durch gleiche wechselseitige Liebe und Achtung. – Man sieht leicht, daß sie ein Ideal der Teilnehmung und Mitteilung an dem Wohl eines jeden dieser durch den moralisch guten Willen Vereinigten sei, und, wenn es auch nicht das ganze Glück des Lebens bewirkt, die Aufnahme desselben in ihre beiderseitige Gesinnung die Würdigkeit enthalte, glücklich zu sein, mithin daß Freundschaft unter Menschen Pflicht derselben ist.2

Der Bürger sei demnach zur Freundschaft verpflichtet, weil diese der wechselseitigen Ausbildung der Moral diene. In der Freundschaft übe der Bürger die Achtung vor dem Mitmenschen ein und lerne, diesen als Gleichen anzuerkennen. Darüber hinaus entwarf Kant das Bild eines Freiraumes, in dem der Einzelne 1 Hebräisch: „Und die Seele Jonathans verband sich mit der Seele Davids. Und Jonathan liebte ihn wie seine eigene Seele.“ 2 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten [1797]. In: Ders.: Werke, Bd. 8. Frankfurt am Main 1977, § 46.

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8. Seelenfreundschaft

zu seinem Freund als einem Vertrauten sprechen könne. Jeder Mensch wolle „sich gern darüber mit irgend jemand unterhalten, wie er über die Menschen, mit denen er umgeht, wie er über die Regierung, Religion u.s.w. denkt“, aber solcherart Offenheit werde häufig bestraft.3 Findet er also einen, der Verstand hat, bei dem er in Ansehung jener Gefahr gar nicht besorgt sein darf, sondern dem er sich mit völligem Vertrauen eröffnen kann, der überdem auch eine mit der seinigen übereinstimmende Art, die Dinge zu beurteilen, an sich hat, so kann er seinen Gedanken Luft machen; er ist mit seinen Gedanken nicht völlig allein, wie im Gefängnis, und genießt eine Freiheit, der er in dem großen Haufen entbehrt, wo er sich in sich selbst verschließen muß.4

Die Freundschaft biete daher einen Freiraum, in dem der Einzelne seinen Meinungen und Gedanken ohne Angst vor gesellschaftlicher Sanktionierung Ausdruck verschaffen könne. Damit erfülle sie eine wichtige Funktion als soziale Instanz, die zwischen dem privaten Raum der Familie und dem öffentlichen Raum der Gesellschaft angesiedelt sei. Der Einzelne bedürfe der Freundschaft, um zu einem tugendhaften, moralischen und freien Bürger heranzuwachsen.

8.1. Georg Simmels differenzierte Freundschaften Dieses Ideal der Freundschaft war auch um die Wende zum 20. Jahrhundert noch fest im bürgerlichen Normengerüst verankert. Zugleich aber stand die Freundschaft in der Hierarchie klar unterhalb der Familie, der wiederum die Nation übergeordnet war. Die Familie als ‚Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft‘ galt nach wie vor als entscheidende Vergesellschaftungsform, wohingegen die Freundschaft eher als – durchaus erstrebenswerte – Ergänzung gedacht wurde. Während es verpönt war, ledig und kinderlos zu bleiben, war die Freundschaft tendenziell verzichtbar; schließlich konnten auch der Ehepartner, andere Familienmitglieder oder sogar Kollegen bestimmte Funktionen der Freundschaft übernehmen. Es war der Soziologe Georg Simmel (1858–1918), der diesen Gedanken 1908 im fünften Kapitel seines aus vielen Einzeluntersuchungen zusammengesetzten Hauptwerkes Soziologie auf den Punkt brachte. Anders als in der Ehe, wo sich „die Abmessung des Sich-Offenbarens und Sich-Zurückhaltens, mit ihren Komplementen, dem Eindringen und der Diskretion“ viel „diffiziler“ gestalte, lebe die Freundschaft, so Simmel im Anschluss an Platons Konzept der Seelenverwandtschaft, vom Ideal „absolute[r] seelische[r] Vertrautheit“.5 3 Ebd., 4 Ebd.

§ 47.

5 Georg Simmel: Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft [ca. 1906]. In: Ders.: Soziologie.

Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe, Bd. 11. Hrsg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main 1992, S. 400.

8.1. Georg Simmels differenzierte Freundschaften

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Während die Ehe auf erotischer Liebe und stürmischer Leidenschaft beruhe, fehle der Freundschaft „diese Heftigkeit“, weshalb gerade sie dazu angetan sei, „den ganzen Menschen mit dem ganzen Menschen“ zu verbinden – „zwar nicht so stürmisch, aber in einem breiteren Umfang und längeren Nacheinander“.6 Gegenüber der Freundschaft, die auf Treue und Festigkeit basiere, zeige sich die auf Leidenschaft gründende Ehe damit als brüchig und, sofern sie als soziale Funktion der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz diene, in ihrem Wirkungskreis beschränkt. Wahrer Freundschaft komme ein die flüchtigen Emotionen wie ökonomischen Zweckbeziehungen transzendierender Gehalt zu.7 Doch schon im nächsten Satz relativierte Simmel dieses Loblied auf die Freundschaft, denn er war der festen Überzeugung, dass das griechische Freundschaftsideal in der Moderne seine Gültigkeit verloren habe: Vielleicht hat der moderne Mensch zuviel zu verbergen, um eine Freundschaft im antiken Sinn zu haben, vielleicht sind die Persönlichkeiten auch, außer in sehr jungen Jahren, zu eigenartig individualisiert, um die volle Gegenseitigkeit des Verständnisses, des bloßen Aufnehmens, zu dem ja immer so viel ganz auf den andern eingestellte Divination und produktive Phantasie gehört, zu ermöglichen. Es scheint, daß deshalb die moderne Gefühlsweise sich mehr zu differenzierten Freundschaften neigt, d. h. zu solchen, die ihr Gebiet nur an je einer Seite der Persönlichkeiten haben und in die die übrigen nicht hineinspielen.8

Simmel entwickelte daraus einen neuen „Typus der Freundschaft“, der sich von der Seelenverwandtschaft erheblich unterschied. In den „differenzierten Freundschaften“ der Moderne, so Simmel, suche sich der Einzelne im Gegenüber immer genau diejenige Seite, die er für einen bestimmten Bereich der Lebenswelt benötige. Von Platons Schicksalsgemeinschaft oder der tugendhaften Freundschaft Aristoteles’, die um ihrer selbst willen bestand, bleibe in der bürgerlichen Gesellschaft nicht viel übrig. Wie sich im Kapitalismus alle Beziehungen in Zweckbeziehungen verwandelten, so transformierte sich aus Simmels Perspektive zwangsläufig auch die Freundschaft in ein rein instrumentelles Verhältnis. Der Freund wurde zum Objekt, mittels dessen man spirituelle, emotionale, religiöse oder auch intellektuelle Bedürfnisse befriedigen konnte. Von einer Ganzheitlichkeit der Verbindung konnte damit keine Rede mehr sein: Diese differenzierten Freundschaften, die uns mit einem Menschen von der Seite des Gemütes, mit einem andern von der der geistigen Gemeinsamkeit her, mit einem Drit6 Ebd.,

S. 401. persönliches Verständnis von Freundschaft kommt in einem Brief an Edmund Husserl aus dem Jahr 1918 zum Ausdruck, in dem er „im Zeichen freundlicher und freundschaftlicher Gesinnung“ schreibt, „daß all unsere Gegensätze unterbaut sind von einer persönlichen, tief sympathischen Zusammengehörigkeit, und überhaupt von einem letzten geistigen Zielpunkt, dem wir uns ins Unendliche nähern“. Georg Simmel an Edmund Husserl, 15. März 1918. Leo Baeck Institute New York, AR 388, Georg Simmel Collection, A.179, 89. 8 Ebd. 7 Simmels

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8. Seelenfreundschaft

ten um religiöser Impulse willen, mit einem vierten durch gemeinsame Erlebnisse verbinden  – diese stellen im Hinblick auf die Diskretionsfrage, des Sich-Offenbarens und Sich-Verschweigens eine völlig eigenartige Synthese dar; sie fordern, daß die Freunde gegenseitig nicht in die Interessen- und Gefühlsgebiete hineinsehen, die nun einmal nicht in die Beziehung eingeschlossen sind und deren Berührung die Grenze des gegenseitigen Sich-Verstehens schmerzlich fühlbar machen würde.9

Damit war die umfassende Ebene des Vertrauens und Sich-Öffnens, die Simmel der ursprünglichen Freundschaftsidee zugeschrieben hatte, erheblich eingeschränkt. Der Einzelne sei in der Moderne weitgehend auf sich selbst gestellt, eine gesellschaftliche Monade, die zu ihren Freunden nur noch in einem instrumentellen Verhältnis stehe. Zwar hob Simmel optimistisch hervor, dass „die so begrenzte und mit Diskretionen umgebende Beziehung […] dennoch aus dem Zentrum der ganzen Persönlichkeit kommen“ könne und „in dieselbe Gemütstiefe und zu derselben Opferwilligkeit [führe], wie undifferenziertere Epochen und Personen sie nur mit einer Gemeinsamkeit der gesamten Lebensperipherie verbinden“, aber zwischen dem neuen Freundschaftstypus und dem der Griechen lag dennoch ein unüberschreitbarer Hiatus.10 Beide, Kant wie Simmel, beschrieben ein spezifisch bürgerliches Ideal der Freundschaft, das sich wesentlich in individueller wie sozialer Zweckmäßigkeit erschöpft. Der Schülerkreis, den Simmel als gewandter Redner und charismatische Persönlichkeit in Berlin um sich scharte, war ein Beispiel für diese differenzierten Freundschaftsbeziehungen. Die jungen Männer und Frauen, die im Hörsaal, aber regelmäßig auch in Simmels Privathaus zusammenkamen, trafen sich primär zum intellektuellen Austausch, auch wenn sich zwischen einzelnen Kommilitonen tiefergehende Freundschaften herausbildeten. Durchaus ungewöhnlich war, dass Simmels Haus von Anfang an offen für beide Geschlechter war und sich zudem gerade jüdische Studenten in seiner Nähe besonders gut aufgehoben fühlten. Der zeitgenössische Berliner Historiker Dietrich Schaefer gibt in einem universitätsinternen Dokument mit deutlich antisemitischem und misogynem Unterton seine Eindrücke aus Simmels Vorlesungen mit den Worten wieder: Er spricht ueberaus langsam, tropfenweise und bietet wenig Stoff, aber knapp, abgerundet und fertig. Das wird von gewissen Hoererkreisen, die hier in Berlin zahlreich vertreten sind, geschaetzt. Dazu wuerzt er seine Worte mit Pointen. Seine Hoererschaft setzt sich dementsprechend zusammen. Die Damen bilden ein selbst für Berlin starkes Kontingent. Im Uebrigen ist die orientalische Welt, die seßhaft gewordene und die allsemesterlich aus den oestlichen Laendern zustroemende, ueberaus stark vertreten. Seine ganze Art ist ihrer Richtung, ihrem Geschmack entsprechend.11  9 Ebd.,

S. 401 f. S. 402. 11 Dietrich Schaefer an Karl Hampe, 26. Februar 1908. Leo Baeck Institute New York, AR 388, Georg Simmel Collection, 1. Vgl. auch Werner Jung: Georg Simmel zur Einführung. Hamburg 2016, S. 15. 10 Ebd.,

8.1. Georg Simmels differenzierte Freundschaften

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Simmels eigene Beziehung zum Judentum war kompliziert: Sein jüdischer Großvater Isaak Simmel war ein wohlhabender Kaufmann aus dem schlesischen Dhyernfurth gewesen, der später nach Breslau umsiedelte, wo er 1840 das Bürgerrecht erhielt. Dessen Sohn Edward, Georg Simmels Vater, ebenfalls ein Kaufmann, der die Schokoladenfabrik „Felix und Sarotti“ gründete, trat zwischen 1830 und 1835 zum Katholizismus über und heiratete 1838 die ebenfalls aus Breslau stammende Flora Bodstein, deren Eltern bereits Anfang des 19. Jahrhunderts zum Protestantismus konvertiert waren; Simmel selbst wurde protestantisch getauft und erzogen.12 Als sein Vater 1874 verstarb, kam er allerdings bei einem Freund der Familie unter, dem jüdischen Musikalienhändler Julius Friedländer, der sein Vormund wurde und ihn später auch adoptierte. Seine Religionszugehörigkeit wechselte Simmel zunächst nicht, erst im Ersten Weltkrieg trat er aus der evangelischen Kirche aus und wurde konfessionslos.13 Doch dies hielt die Antisemiten in späteren Jahren seines Lebens nicht davon ab, gegen den Juden Simmel zu agitieren.14 Als es 1908 darum ging, Simmel auf einen ordentlichen 12 Eine ausführliche Biographie Simmels ist leider ein Desiderat. Am ausführlichsten ist noch immer Michael Landmann: Bausteine zu einer Biographie. In: Ders., Kurt Gassen (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliografie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Berlin 21993, S. 11–33. Siehe darüber hinaus die Erinnerungen seines Sohnes Hans Simmel: Lebenserinnerungen. In: Hannes Böhringer, Karlfried Gründer (Hg.): Georg Simmel. Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende. Frankfurt am Main 1976, S. 247–268 sowie Lewis A. Coser: Masters of Sociological Thought: Ideas in Historical and Social Context. New York 21977, S. 194–199 und 203–214 und Ralph M. Leck: Georg Simmel and Avant-Garde Sociology. The Birth of Modernity, 1880–1920. New York 2000. Eine biographische Skizze findet sich auch in der Einleitung von Hans-Peter Müller und Tilman Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Berlin 2018, S. 62–70. Siehe neuerdings auch Jörn Bohr: Leben. In: Ders. u. a. (Hg.): Simmel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2021, S. 3–13. 13  Zeitlebens behielt er sich ein ethnisches Verständnis des Jüdischen bei, zu dem er sich ohne Stolz oder Scham als etwas Selbstverständlichem bekannte. Vgl. Efraim Podoksik: Georg Simmel and German Culture. Unity, Variety, and Modern Discontents. Cambridge 2021, S. 8. Die von ihm gepflegten antijüdischen Vorurteile waren deshalb auch keineswegs bösartig. Siehe exemplarisch den Brief von Georg Simmel an Edmund Husserl, 11. Februar 1907. Leo Baeck Institute New York, AR 388, Georg Simmel Collection, A.179, 77, in dem er über Weiningers Freund Oskar Ewald schreibt, dieser mache „auf den ersten Blick keinen besonders sympathischen Eindruck, er hat etwas von dem weiblichen und verschwommenen Aussehn und Benehmen, das man oft an Wiener Juden bemerkt.“ Das sei aber nur die „obere Schicht, unter der ein kräftiges und entschiednes geistiges Wesen“ stecke. Zu den ethischen Qualitäten Ewalds habe er „instinktives Zutrauen“. 14 Georg Simmels Frau Gertrud (1864–1938), geborene Kinel, war Tochter eines katholischen Vaters und einer protestantischen Mutter. Georg und Gertrud Simmels gemeinsamer Sohn Hans, ein Professor der Medizin und Chefarzt des Städtischen Krankenhauses in Gera, wurde von den Nationalsozialisten als „Halbjude“ und Sozialdemokrat verfolgt. Bereits 1933 wurde er erstmals verhaftet, im Anschluss wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen. In der Reichspogromnacht wurde Hans Simmel ins KZ Dachau verschleppt. 1939 gelang ihm mit seiner jüdischen Frau Else Rapp und den vier Kindern die Flucht nach England, anschließend in die USA. Vgl. Susanne Rueß: Stuttgarter jüdische Ärzte während des Nationalsozialismus. Würzburg 2009, S. 340–343.

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8. Seelenfreundschaft

Lehrstuhl in Heidelberg zu berufen, wurde dies hinter den Kulissen mit folgenden Worten verhindert: „Ob Prof. Simmel getauft ist oder nicht, weiss ich nicht, habe es auch nicht erfragen wollen. Er ist aber Israelit durch und durch, in seiner auseren [sic!] Erscheinung, in seinem Auftreten und in seiner Geistesart.“15 Trotz seiner ungeheuren Popularität und seiner bahnbrechenden wissenschaftlichen Leistungen blieb dem „ganz- oder halb- oder philosemitischen“ Soziologen eine angemessene Würdigung lange Zeit verwehrt.16 Erst 1914 erhielt er, vier Jahr vor seinem Tod und im Alter von 56 Jahren, einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Straßburg. Seine Sonderstellung als akademischer Außenseiter verarbeitete Simmel in seiner Soziologie. Einer seiner interessantesten Exkurse widmet sich der Figur des Fremden, die in seiner Darstellung deutlich jüdische Züge trägt – zumindest in der antisemitischen Karikatur, auf die Simmel, ohne sie explizit aufzurufen, antwortete.17 „In der ganzen Geschichte der Wirtschaft“, so hob er an, „erscheint der Fremde allenthalben als Händler beziehungsweise der Händler als Fremder.“18 Anders aber als die Legende vom „ewigen Juden“ behauptet, sei der Fremde kein durchreisender, rastloser Gast, sondern vielmehr ein „potentiell Wandernder, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat“. Der Händler symbolisiere also die Wanderschaft und damit zugleich Bewegung an sich: Veränderung. Während die Gruppe sich als homogen und statisch wahrnehme, gelte der Fremde als Agent der Entwicklung und des Fortschritts. Das „klassische Beispiel“ dieser Figur des Fremden, so Simmel, gebe „die Geschichte des europäischen Judentums“.19 Dessen jahrhundertelange Konzentration im Geldhandel verleihe dem Judentum als Fremdem den „spezifischen Charakter der Beweglichkeit“. Der „schlechthin Bewegliche“ aber, so resümierte Simmel, komme zwar innerhalb der sozialen Gruppe „gelegentlich mit jedem einzelnen Element in Berührung, ist aber mit keinem einzelnen durch die verwandtschaftlichen, lokalen, beruflichen Fixiertheiten organisch verbunden“.20 Dies mache den Fremden zum Außenseiter, obgleich er in seiner besonderen Rolle ein integraler Bestandteil der Gesellschaft sei. Weil er in der Wahrnehmung der Gesellschaft als Fremder nicht in die festgefügte Ordnung eingezwängt sei, repräsentiere er neben dem Moment der Veränderung auch das der Freiheit. Dies sei zum einen gefährlich, weil er für gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Krisen verantwortlich gemacht werde, zugleich aber ermögliche die Position des Fremdseins auch 15 Schaefer 16 Ebd.

an Hampe, 26. Februar 1908, 2.

17 Vgl. Amos Morris-Reich: Georg Simmel’s Logic of the Future: „The Stranger,“ Zionism, and „Bounded Contingency.“ In: Theory, Culture & Society 36, 5 (2019), S. 71–94. 18 Georg Simmel: Exkurs über den Fremden. In: Ders.: Soziologie, S. 765. 19 Ebd., S. 766. 20 Ebd.

8.2. Margarete Susmans Sakralisierung der Freundschaft

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einen vorurteilsloseren Blick von außen. Mit anderen Worten: Der Fremde sei ein idealer Soziologe. Simmel verkehrte damit die antisemitischen Vorurteile in etwas Positives: Die Juden seien zwar Außenseiter, ja, aber gerade das sei ihr Vorteil.

8.2. Margarete Susmans Sakralisierung der Freundschaft Damit sprach er vielen seiner Freundinnen und Freunde, Schülerinnen und Schüler – darunter etwa Betty Heimann (1885–1926), Siegfried Kracauer (1889– 1966), Gottfried Salomon (1892–1946), Walter Benjamin (1892–1940), Margarete Susman (1872–1966), Gertrud Kantorowicz (1876–1945) und Ernst Bloch (1885– 1977) – aus der Seele. Auch sie haderten mit dem grassierenden Antisemitismus an der Berliner Universität und sahen in Simmels sogenannten „Jours“ – salonartige, halböffentliche Zusammenkünfte  – einen geschützten Raum für Diskussionen, in dem sie ihre jüdische Herkunft nicht verstecken mussten, in dem diese gerade deshalb aber auch keine Rolle spielte.21 Scheinbar paradox konnte man erst unter Juden ganz Individuum sein, ohne auf sein Judesein reduziert zu werden. Hier konnte ein Vertrauensverhältnis zu den Gesprächspartnern entstehen, die auf diese Weise häufig schnell mehr als nur Fachgenossen wurden. Langjährige Freundschaften entstanden, die persönlichen Beziehungen verquickten sich mit den intellektuellen Debatten. Auch die Freundschaft selbst wurde dabei immer wieder zum Thema. Schon vor dem Ersten Weltkrieg begann Margarete Susman, die innerhalb des Kreises einer Zwischengeneration angehörte, ihre vertiefte Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Liebe. 1912 veröffentlichte sie den Band Vom Sinn der Liebe, fünf Jahre später die Gedichtsammlung Die Liebenden. In beiden Büchern beschäftigte sie sich mit der Beziehung des Ich zum Anderen und versuchte, diese Beziehung aus der Perspektive eines religiösen Grundgefühls zu denken, das das Verschwinden Gottes überdauert habe.22 „Wir leben unausgesetzt von der doppelten Voraussetzung aus, daß wir eines sind mit den anderen Menschen und daß alle anderen scharf von uns getrennt sind, daß jeder für sich allein ist“, hielt sie in Vom Sinn der Liebe ganz analog zu Simmels Theorie der modernen Freundschaft fest, blieb aber nicht bei einem Dualismus von Allein-sein und Mit-anderen-sein stehen.23 Die Liebe, schrieb sie, strebe unablässig nach der Versöhnung dieses Gegensatzes in einer höheren Gemeinsamkeit. Denn nicht allein das zuckende lebendige Gefühl innerster Einheit, Verbundenheit mit allem Lebendi21 Vgl.

Jung: Georg Simmel, S. 18–20. Elisa Klapheck: Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie. Berlin 2014, S. 77. 23 Margarete Susman: Vom Sinn der Liebe. Jena 1912, S. 33. 22 Vgl.

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8. Seelenfreundschaft

gen ist Liebe – Liebe ist das unaufhörlich brennende Gefühl des Einssein, das unaufhörlich zerschnitten und bedrängt wird von dem grausamen Gefühl des Anderssein alles Lebens außerhalb meiner.24

Das große Thema ihrer Abhandlung über die Liebe war also die Versöhnung von Identität und Nichtidentität im „Einssein“, die aber zugleich eine „dunkle Seite“ habe, nämlich die Verdrängung des Einzelnen als Isoliertem: als Individualität.25 Simmels Begriff vom modernen Individuum, das als Vereinzelter der Welt gegenüberstehe, wurde hier von Susman mit einer holistischen Perspektive konfrontiert, die den Einzelnen in ein einheitliches Ganzes aufhob und damit negierte. Im Gedichtband Die Liebenden griff sie diese Thematik wieder auf und verknüpfte sie mit Simmels Figur des Fremden. Mitten in den Monolog des Gärtners, der sich ganz der Einsamkeit zu überlassen scheint, platzt in dem als Drama angelegten Gedicht der Fremde, der, wie bei Simmel, „nicht ruhn“ kann, weil er auf der Suche nach einem wundersamen Vogel ist, und deshalb das Angebot des Gärtners, in dessen Haus zu übernachten, ausschlagen muss.26 Es entspinnt sich die tragische Geschichte einer tödlich gescheiterten Ehe, die von den Liebenden nicht mehr gerettet zu werden vermag. Weil sich die Liebenden nicht zu einer Einheit verschmelzen können, sind sie dem Tode geweiht. Auch nach dem Krieg setzte sich Susman immer wieder mit Liebe und Freundschaft auseinander. 1930 etwa widmete sie sich in einem in der Zeitschrift Der Morgen erschienenen langen Essay der Beziehung zwischen David und Jonathan, die bis heute oft als Musterbeispiel biblischer Freundschaft angeführt wird.27 Bei näherer Betrachtung der Geschichte zeigt sich, dass es in ihr weniger um Freundschaft im herkömmlichen Sinne geht  – der Begriff „Freundschaft“ (in allen hebräischen Varianten) taucht im biblischen Text auch nicht auf – als vielmehr um einen Bund zwischen Repräsentanten von Großfamilien (wobei sich Jonathan gegen seinen vom rechten Weg abgekommenen Vater auf die Seite der göttlichen Verheißung stellt).28 Folglich herrscht zwischen den beiden biblischen Protagonisten trotz ihrer wechselseitigen Liebe auch keine horizontale, sondern eine vertikale Beziehung, also eine klar ausgeprägte Hierarchie, die mit Davids von Gott bestimmter Rolle als Nachfolger Sauls zu tun hat. Zwar heißt 24 Ebd. 25 Vgl.

Klapheck: Margarete Susman, S. 78 und 79. Susman: Die Liebenden. Leipzig 1917, S. 20. 27 Margarete Susman: Saul und David. In: Der Morgen 6, 2 (Juni 1930), S. 171–195. Die Entsiklopedijah ha-ivrit etwa führt Jonathan als „Beispiel eines vorbehaltlos treuen Freundes“ an. [Redaktion]: Jehonatan (Jonatan). In: Entsiklopedijah ha-ivrit, Bd. 19. Jerusalem, Tel Aviv 1968, Sp. 230. 28 Buber und Rosenzweig tragen dem Rechnung, indem sie die beiden nicht als „Genossen“, sondern als „Brüder“ bezeichnen. Vgl. Hans G. Ulrich: Freundschaft – als sozialethische Kategorie? In: Marco Hofheinz u. a. (Hg.): Freundschaft. Zur Aktualität eines traditionsreichen Begriffs. Zürich 2014, S. 224. Allerdings verschwindet hier die hierarchische Struktur der Beziehung. 26 Margarete

8.2. Margarete Susmans Sakralisierung der Freundschaft

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es, Jonathan habe „mit David einen Bund“ geschlossen, „weil er ihn wie sein eigenes Leben liebte.“29 Doch der vertikale Charakter der Beziehung zwischen den „Freunden“ zeigt sich bereits in dem von der Freundschaftsforschung meist ignorierten nächsten Vers, in dem Jonathan seinen Mantel, seine Rüstung, sein Schwert, seinen Bogen und seinen Gürtel ablegt. Dies ist ein Vertrauensbeweis, aber auch eine Unterwerfungsgeste. Susman idealisierte zwar die Beziehung zwischen David und Jonathan als „die reine menschliche Liebe von Seele zu Seele“, trug aber zugleich dem Ungleichgewicht in ihrer Beziehung Rechnung.30 Sie hob nämlich hervor, dass es sich nicht um eine Freundschaft wie jede andere gehandelt habe, sondern um ein heiliges Band, das den Menschen sonst nur mit Gott verbinde. Die Liebe Jonathans für David sei aller Beliebigkeit enthoben und repräsentiere das Ideal vollkommener, höchster Freundschaft. Damit verkehrte Susman den Freundschaftsbegriff in das Gegenteil seiner gewöhnlichen Bedeutung: Freundschaft ist nicht mehr die selbst gewählte, aus Freiheit geborene Verbindung zweier Individuen, sondern sie ist nun Ausdruck göttlichen Willens. Der Liebe Jonathans hafte „etwas Dämonisches an: ein Schicksalszwang, die Dunkelheit einer für die Menschen getroffenen Wahl der Mächte“.31 Aufschlussreich ist, dass Susman Jonathan zunächst als „geborenen Feind“ Davids identifizierte, da dieser ihm seine Bestimmung als legitimer Thronfolger streitig machte. Nachdem er aber David kennengelernt und sich mit ihm angefreundet habe, erscheine ihm das „Opfer eines Königreiches als stille Selbstverständlichkeit“. Susmans Ideal der Freundschaft, das sich gerade aus ihrer Wertschätzung Jonathans herauslesen lässt, changiert zwischen Selbstlosigkeit und Selbstverleugnung. Es umfasst die Bereitschaft, alles für den Freund zu opfern. Aus Jonathans Perspektive gebe es nur noch David als höchsten Zweck, dem alles andere unterzuordnen sei. Wie ist es aber umgekehrt? Ist auch David für Jonathan solch ein Freund? Legt auch er Waffen und Mantel vor seinem Freund ab und zeigt sich ihm verletzlich und schwach? Nein. Wenn Susman schrieb, dass sich Jonathans Seele „mit der Davids wortlos und fraglos“ verbinde, „wie der Mensch sich mit Gott verbindet, und löscht alles andere als nicht mehr Wesentliches aus“, dann wurde David tatsächlich zum göttlichen Wesen stilisiert.32 Dies war kein Bund zwischen Individuen mehr, sondern das Bekenntnis eines Dieners zur absoluten Loyalität gegenüber dem messianischen König. Susmans Sakralisierung der Freundschaft ist Simmels differenzierter Nutzenfreundschaft krass entgegengesetzt; in ihrer 29 1. Samuel 18, 3. Das Wort nefesh bedeutet sowohl „Seele“ als auch „Selbst“ und „Leben“. Olyan: Friendship in the Hebrew Bible, S. 30 weist in diesem Kontext zurecht auf die kontraktualistische Sprache hin. 30 Susman: Saul und David, S. 187. 31 Ebd. 32 Ebd.

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8. Seelenfreundschaft

Bereitschaft zum Opfer des Selbst ging sie sogar noch über die platonische Seelenverwandtschaft hinaus. Indem sie die Freundschaft am Verhältnis des Menschen zu Gott maß, kassierte sie deren egalitären Charakter. Nicht mehr Wechselseitigkeit, sondern Selbstaufgabe sei das Signum ihres heiligen Bundes.

8.3. Betty Heimanns Philosophie der Anerkennung Auch bei einer anderen Schülerin Simmels, der Philosophin Betty Heimann, steht die Beziehung zum Absoluten im Zentrum ihrer Freundschaftsstudien.33 1885 als Tochter des Kaufmannes Moritz Heimann und seiner Frau Dorothea Rosalie in Hamburg geboren, hatte sie als Jugendliche die höhere Töchterschule besucht, zunächst als bildende Künstlerin gearbeitet und schließlich nach privater Vorbereitung als Externe ihr Abitur am humanistischen Wilhelm-Gymnasium in Hamburg gemacht.34 Anschließend hatte sie in Heidelberg, Berlin, Göttingen, München und Straßburg Philosophie, Mathematik und Physik studiert. Neben Gottfried Salomon wurde Heimann die einzige Schülerin Simmels, die jemals von ihm promoviert wurde. Zwei Jahre vor seinem Tod im September 1918 schloss sie mit einer Arbeit über Hegels Ästhetik ab und fand danach eine Anstellung an der Universität Utrecht.35 Schon 1926 starb sie an den Folgen einer Operation, legte aber zuvor noch eine umfangreiche Studie über den Geschmack vor und schrieb einen langen Aufsatz über Die Freundschaft in Schleiermachers Leben und Lehre, der 1929 posthum in dem Band Romantik-Forschungen veröffentlicht wurde und im Folgenden genauer betrachtet werden soll.36 Doch bereits in ihrer Dissertation legte Heimann die erkenntnistheoretischen Grundlagen für ihre spätere Freundschaftsstudie. In ihrer dezidiert psychologischen Perspektive auf Hegels Ästhetik betrachtete sie das „ästhetische Erleben“ vor allem als Gefühl der Liebe, indem sie Kunst mit der Liebe zum Schönen gleichsetzte. Damit meinte sie freilich keine bloß kontemplative Innerlichkeit, sondern hob das aktive, aufs Objekt gehende Moment der Liebe hervor: Diese 33 Sie

ist nicht zu verwechseln mit ihrer gleichnamigen Cousine, der drei Jahre jüngeren Indologin, die an der Universität Halle lehrte. Vgl. zur Biographie Hanna Delf: Heimann, Betty. In: Jutta Dick, Marina Sassenberg (Hg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Reinbek 1993, S. 166. 34 Vgl. Betty Heimann: Lebenslauf. In: Dies.: Hegels ästhetische Anschauungen. 1. Teil: Die Psychologie des ästhetischen Erlebens. Straßburg 1916, S. [85]. 35 Nach ihrem Tod gab Käte Hamburger noch ihre Habilitationsschrift System und Methode in Hegels Philosophie (Leipzig 1927) heraus. Siehe dazu Andrea Albrecht: „[H]eute gerade nicht mehr aktuell“. Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus und der deutschen Geistesgeschichte. In: Dies., Claudia Löschner (Hg.): Käte Hamburger. Kontext, Theorie und Praxis. Berlin, Boston 2015, S. 15. 36 Betty Heimann: Über den Geschmack. Berlin, Leipzig 1924; dies.: Die Freundschaft in Schleiermachers Leben und Lehre. In: Romantik-Forschungen. Halle 1929, S. 1–49.

8.3. Betty Heimanns Philosophie der Anerkennung

173

sei „kein bloßes Aufnehmen dessen, was geliebt wird; sie richtet sich tätig, schaffend auf ihren Gegenstand“.37 In der Kunst werde der Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben, weil die Liebe eine Einheit höherer Ordnung herstelle: „So wird die Liebe auch als eine Rückkehr aus der Trennung, eine Versöhnung des Menschen mit der Welt bezeichnet.“38 Doch genau wie Margarete Susman sah auch Heimann zugleich die ‚dunkle Seite‘ der Liebe, die das Individuum im doppelten Sinne ‚aufhob‘ (elevare, aber auch negare): „[D]ie Liebe selbst, die Entäußerung des Ich, ist der Untergang der Persönlichkeit.“39 Indem die Liebe Subjekt und Objekt als Einheit zusammenfasse, nehme sie beiden ihre Unabhängigkeit, ihre Individualität. War in der Dissertation der Liebesbegriff auf das Verhältnis des Menschen zur Welt der Dinge beschränkt, so ging Heimann in ihrer phänomenologischen Studie über den Geschmack einen Schritt weiter. Anschließend an die Bestimmung der Kunst als Liebe des Schönen fragte sie nun, was es an den Dingen, aber auch an anderen Menschen sei, das wir „schön“ finden? Auf die Freundschaft bezogen: Wieso finden wir an einer Person „Geschmack“? In ihrer weitschweifigen Antwort rückte sie von Hegel ab und bewegte sich auf eine phänomenologische Perspektive zu. Erstaunlicherweise stand dabei der Begriff des „Wählens“ im Zentrum: Ob ein Mensch einen so oder so beschaffenen Geschmack hat, das können wir ihm unmittelbar ansehen; wir brauchen dazu nicht irgendwelchen seiner Wahlhandlungen beizuwohnen. Alles was er früher gewählt hat, ist ja eingegangen in seine Persönlichkeit und hat dazu beigetragen, sie so erscheinen zu lassen, wie sie uns entgegentritt. Nicht nur die Äußerlichkeiten der Kleidung und Wohnungseinrichtung, sondern seine Haltung, Miene, Gebärde und Sprache – alles an ihm erzählt von dem, was er einmal gewählt hat.40

Die Persönlichkeit sei damit das Produkt ihrer eigenen Wahl, ein Selbstentwurf (wie der Existenzialismus sagen würde), der sich von allem sozialen Ballast der Überlieferung und Tradition frei gemacht hatte. Heimann selbst hatte diesen Weg lebensgeschichtlich eingeschlagen, als sie zunächst Künstlerin, dann Wissenschaftlerin geworden war und zudem kinderlos und ledig blieb. Ein seinerzeit ungewöhnlicher Weg, der – so dürfen wir vermuten – mit zahlreichen Hindernissen und Beschwerlichkeiten verbunden war. Am Ende aber war Heimann eine geachtete Philosophin mit Doktorinnentitel und akademischer Anstellung geworden, die sich mit Unterstützung ihrer Freundin Käte Hamburger (1896– 1992), die nach dem Tod ihre Schriften aus dem Nachlass vervollständigen und herausgeben sollte, auf dem akademischen Markt zu behaupten versuchte. Diese Freiheit, die sie sich unter großen Mühen erkämpft hatte, taucht in ihrem Werk 37 Heimann:

Hegels ästhetische Anschauungen, S. 23. S. 22. 39 Ebd., S. 24. 40 Heimann: Über den Geschmack, S. 7. 38 Ebd.,

174

8. Seelenfreundschaft

wieder auf: „Freiheit bedeutet Möglichkeit der Wahl. Wählen aber ist immer: sich selber wählen – denn alles, was wir wählen, ist uns angemessen und verwandelt sich in uns – und darin liegt ein Doppeltes: das Fremde ausschließen, das Eigene bejahen.“41 Obwohl die Formulierung zunächst tautologisch anmutet, zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass Heimann die Persönlichkeit gerade nicht als statische, durch Schicksal vorherbestimmte definierte, sondern „das Eigene“ im Sinne ihrer ästhetischen Theorie als sich verändernde, aktiv aufnehmende Entität verstand. Das ursprünglich Fremde, das der Einzelne „wählte“, eignete er sich an – er machte das Fremde zum Eigenen. Das war der entscheidende Zug ihrer Persönlichkeitskonzeption, die mit der Frage des Geschmacks eng verbunden war: Das, was ich wähle, „entspricht“ meinem Geschmack. Doch was bedeutet das für die Frage der zwischenmenschlichen Beziehungen, insbesondere die Wahl der Freunde? Heimann war nicht naiv, was die Freiheit der Wahl betraf. Sie wusste, dass es zu undialektisch gedacht wäre, das Individuum ausschließlich als Resultat seiner eigenen Wahl zu begreifen. So sehr sie diese Seite der Persönlichkeitsentwicklung auch zuspitzend hervorhob, war sie auch eine Schülerin Simmels, von dem sie gelernt hatte, die Macht der gesellschaftlichen Prägung zu berücksichtigen: „Es besteht eine Wechselwirkung zwischen der Persönlichkeit und ihrem Milieu“, erklärte sie deshalb. „[D]er Mensch wird durch es geformt ohne dessen gewahr zu werden, und er fügt sich ihm absichtlich in zuerst selbsterhaltender und zuletzt bewußt ästhetischer Tendenz.“42 Das war die soziale Seite, die aber nicht ohne die individuelle gedacht werden könne, wenn die Freiheit des Einzelnen nicht negiert werden sollte: „Zugleich jedoch ist [der Mensch] es, der seine Umwelt sich selber schafft. Er unterwirft sich ihr und macht doch das Gesetz seines souveränen Geistes über sie geltend; er gestaltet sie um.“43 Auf die Freundschaft bezogen hieß das, dass die Wahl des Freundes durch milieuspezifische Prägungen vorstrukturiert ist, das Individuum aber bis zu einem gewissen Grad sein Milieu auch selbst kreiert. Die Mitgliedschaft in Vereinen und Bünden etwa oder die Berufsgenossenschaft sind selbstgewählte Milieus, in denen freundschaftsähnliche Beziehungen entstehen können. Zweifellos würde die moderne Soziologie – und wohl auch schon Simmel – bestreiten, dass die Wahl eines bestimmten Berufes ausschließlich Resultat eines freien Selbstentwurfs ist. In Heimanns Fall aber war genau das der Fall: Obwohl von Haus aus nicht für den Beruf der Wissenschaftlerin vorgesehen, wählte sie sich genau dieses Milieu. Dass sie sich ausgerechnet mit Käte Hamburger anfreundete, die ebenfalls aus einer bürgerlichen jüdischen Familie stammte und auch Wissen-

41 Ebd., 42 Ebd., 43 Ebd.

S. 97. S. 120.

8.3. Betty Heimanns Philosophie der Anerkennung

175

schaftlerin geworden war, ist demnach kein Zufall, sondern das doppelte Ergebnis einer milieuspezifischen Prägung und einer freien Wahl.44 Diese Überlegungen gingen auch in ihren Beitrag über die Freundschaft in Schleiermachers Leben und Werk aus dem Jahr 1929 ein. „Handelnd, tätig bewegt sich der Mensch mehr aus seiner Eigentümlichkeit heraus“, heißt es dort, „anschauend sucht er das Fremde immer mehr in sich aufzunehmen, zu verstehen, ihm gerecht zu werden und es zu lieben.“45 Freundschaft sei demnach die Aneignung des Fremden, ohne es sich selbst einfach gleichzumachen und damit dessen Differenz zu kassieren. „So dürfen wir nicht an uns selber irre werden, unsere Eigentümlichkeit nicht verleugnen, weil die Freunde anders sind, aber auch die Freunde nicht ändern wollen, damit sie uns gleich werden.“46 Vielmehr solle der Freund als Anderer anerkannt und seine freie Entfaltung gefördert werden  – darin wachse zugleich die Freundschaft selbst. Auch den Milieubegriff brachte Heimann wieder ins Spiel, aber dieses Mal differenzierte sie die sozialen Ebenen der Freundschaft weiter aus. „Die Freundschaft soll einen engsten Kreis bilden, wo sie am innigsten ist“, erklärte sie, und sie soll sich von diesem Kreise aus, schwächer werdend, verbreiten.“47 Die Freundschaft bildete demnach in soziologischer Hinsicht den Nukleus der Persönlichkeit. Demgegenüber seien die schwächer werdenden „Kreise“ wie „Familie“, „Sippe“, „Stamm“ und „Nation“ weiter vom Zentrum der Persönlichkeit entfernt. Auch Staat und Kirche gründeten auf freundschaftlichen Zusammenschlüssen, „an die sich größere Massen ankristallisieren“.48 Dieser Freundschaftsbegriff lief auf eine Relativierung der großen Gemeinschaftsformen hinaus und legte den Fokus auf die innige Freundschaftsbeziehung, ganz so, wie Heimann schon in ihrer Studie über den Geschmack zwar die großen sozialen Zusammenhänge, in die der Einzelne eingebunden war, nicht geleugnet hatte, aber trotzdem der individuellen Wahl größere Aufmerksamkeit zuteilwerden ließ. Auf den ersten Blick erstaunlich ist, dass sie diese Reflexionen zur Freundschaft ausgerechnet mit einer Untersuchung zum Werk des protestantischen Theologen Schleiermacher verband. In dem fast 50-seitigen Aufsatz würdigte sie ihn als „Typus eines freundschaftlichen, das heißt dauernd Freundschaft

44 Die wichtigste Freundin für Hamburger wurde  – auch infolge des frühen Todes Heimanns – die Bibliothekarin und Vertraute Thomas Manns, Ida Herz (1894–1984). Vgl. Friedhelm Kröll: Die Archivarin des Zauberers. Ida Herz und Thomas Mann. Cadolzburg 2001. Die Korrespondenz zwischen Hamburger und Herz ist ausschnittsweise abgedruckt in: Thomas Mann, Käte Hamburger: Briefwechsel 1932 bis 1955. Hrsg. v. Hubert Brunträger. Frankfurt am Main 1999, S. 123–129. 45 Heimann: Die Freundschaft, S. 47. In einer mehrere Seiten umfassenden Fußnote ergänzte Käte Hamburger den Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe. Ebd., S. 28–31, Anm. 1. 46 Ebd., S. 47. 47 Ebd., S. 24. 48 Ebd., S. 25.

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8. Seelenfreundschaft

gebenden und empfangenden Menschen“.49 Ausgehend von Ciceros Definition der Freundschaft als die „Übereinstimmung in allem, was uns zu Göttern und Menschen in Beziehung setzt, von einem Gefühle des Wohlwollens und der Liebe begleitet“, charakterisierte Heimann Schleiermacher als „einen idealen Vertreter freundschaftlichen Geistes und freundschaftlicher Gesinnung“.50 Anders als in ihrer Theorie des Geschmacks stellte sie der äußeren Umwelt nun aber nicht das „Wählen“ gegenüber, sondern die „besondere Beschaffenheit der Seelen und Charaktere“.51 Diese sei letztlich dafür verantwortlich, dass zwei Menschen zueinander fänden. Wie aber war diese Eigentümlichkeit der Seelen zu erklären? Heimann antwortete nicht direkt, sondern suchte den Umweg über Schleiermachers Theologie. Sie zeigte anschaulich, dass die Freundschaft in ihr eine Schlüsselfunktion einnimmt. „Die Freundschaft“, so Heimann, „die sittliche, vernünftige Beziehung zum Menschen ist für Schleiermacher die Religion selbst, die Beziehung zum Absoluten.“52 Dem liegt Schleiermachers These zugrunde, dass es unterschiedliche Wege zu Gott gibt, weil dieser die Menschheit in ihrer ganzen Vielfalt geschaffen hat. Gott spreche deshalb nicht die Menschheit als abstraktes Kollektiv an, sondern jedes einzelne Individuum auf die ihm eigene Weise. Das religiöse Gefühl des Einzelnen sei damit aber zugleich immer auch auf die ganze Menschheit bezogen: „denn um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben, und er findet sie nur in Liebe und durch Liebe.“53 Verhalte sich der Einzelne zu seinem Gegenüber als Freund, so achte er dessen Individualität und Einzigartigkeit – und verhalte sich damit zu ihm als einer Manifestation der Menschheit. „Freundschaft kann also nach Schleiermacher nur dort stattfinden“, resümierte Heimann, „wo die dritte höchste Stufe des Menschentums erreicht ist: [im] Bewußtsein, daß die Menschheit sich in jedem Menschenwesen auf andere Weise verwirklicht, und daß der Wert eines Menschen darin besteht, eine besondere Hervorbringung der schaffenden Menschheitsidee zu sein“.54 Konsequenterweise hatte Schleiermacher die wahrhaft religiöse Gemeinschaft nicht nur mit einer „Akademie von Priestern“ verglichen, sondern auch mit einem „Chor von Freunden“ und einem „Bund von Brüdern“.55 In der pietistisch-calvinistischen Herrnhuter Brüdergemeinde, in der Schleiermacher erzogen worden war und die seine Persönlichkeit zutiefst geprägt hatte, sei Jesus 49 Ebd.,

S. 3. Das Zitat ist aus dem 20. Kapitel von Ciceros Laelius de amicitia. Vgl. die neue Übersetzung von Max Faltner: Marcus Tullus Cicero: Laelius de amicitia. Über die Freundschaft. Berlin 52011, S. 155. 51 Heimann: Die Freundschaft, S. 3. 52 Ebd., S. 49. 53 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799]. Hamburg 2004, S. 50. 54 Heimann: Die Freundschaft, S. 11. 55 Schleiermacher: Über die Religion, S. 129 f. 50 Ebd.

8.3. Betty Heimanns Philosophie der Anerkennung

177

Christus, so Heimann, „auch nur ein Bruder“ gewesen, „und als solcher der erste, natürliche Freund, ein primus inter pares freilich, ein vollendetes Vorbild, dem nachzueifern Ziel und Aufgabe jedes Schülers war.“56 War Freundschaft dementsprechend ein dezidiert christliches Ideal? Und was würde das für das Judentum bedeuten, das ja auf den Messias  – den „primus inter pares“  – noch wartete? Bedurfte es für die Freundschaft überhaupt eines herausgehobenen „primus“, der als Vorbild dienen konnte? Wieso beschäftigte sich Heimann ausschließlich mit der christlichen Theologie, wenn sie über die Freundschaft schrieb, und nicht mit der jüdischen Tradition? Auch wenn Schleiermachers Buch Über die Religion unter anderem aus Gesprächen mit der jüdischen Salonière Henriette Herz hervorgegangen war (die Schleiermacher fast zwei Jahrzehnte später „für das Christentum gewonnen hat“57, wie Heimann sich ausdrückte) und wie kaum ein anderes dieser Zeit Partei für religiösen Pluralismus ergriff, ließ es keinen Zweifel daran, dass es das Christentum letztlich doch für die überlegene, wahre Religion hielt. Dieser Widerspruch zwischen Pluralismus und Wahrheitsanspruch, so Heimann, spiegele sich auch in Schleiermachers Freundschaftskonzeption. Denn für den Theologen war Jesus Christus „der allgemeine Mensch“, „Mittler für alles Menschliche und für die ganze Dauer des Menschengeschlechts“.58 Wer sich dem Evangelium verschließe, könne daher nicht am universellen Menschentum partizipieren. „Nichtchristen“ hätten zwar immer die Möglichkeit, „auf die Stufe des Christentums zu gelangen“, weil in jedem Menschen der Geschmack für das Unendliche stecke, fasste Heimann Schleiermachers Gedanken zusammen. Das heiße aber umgekehrt, dass nur Christen zu wahrer Freundschaft fähig seien. Hatte also der junge Schleiermacher noch den einzelnen Menschen mitsamt seiner je individuellen Überzeugungen, Gefühle und Dispositionen in den Mittelpunkt gestellt, so habe er sich mit zunehmendem Alter immer mehr auf das dogmatische Christentum versteift. In Heimanns Worten: Es ist der junge Schleiermacher, der verhältnismäßig noch Wert darauf legt, daß die Freunde zu derselben Art gehören, wenn sie nur wertvolle Individualitäten sind. Es ist der ältere Schleiermacher, der nur mit Gleichgesinnten befreundet sein kann. Dem Jüngling geht die Person über die Sache, dem Gealterten geht schließlich die Sache über die Person.59

Hier nun liegt die Antwort auf die Frage, warum sich Heimann ausgerechnet mit Schleiermachers Freundschaftsbegriff auseinandersetzte. Neben der rein wissenschaftlichen Neugier entsprang ihr Interesse an dem protestantischen Theologen 56 Heimann: Die Freundschaft, S. 5. Zum komplexen Verhältnis Schleiermachers zu den Herrnhutern vgl. Dorette Seibert: Glaube, Erfahrung und Gemeinschaft. Der junge Schleier­ macher und Herrnhut. Göttingen 2003. 57 Heimann: Die Freundschaft, S. 9. 58 Ebd., S. 38. 59 Ebd., S. 43.

178

8. Seelenfreundschaft

dem Problem der Freundschaft zwischen Christen und Juden. Sie registrierte sehr genau, wie prekär diese Freundschaften häufig waren, und sah einen entscheidenden Grund für diese Schwierigkeiten im Wahrheitsanspruch  – wenn nicht gar Bekehrungseifer – des Christentums. Wer nicht fähig war, den Anderen in seiner Differenz zu akzeptieren, meinte sie, der konnte auch kein wahrer Freund sein. Indem sie an Schleiermachers frühen Pluralismus anschloss, aber zugleich den immanenten Widerspruch seiner Theorie herausarbeitete, wollte sie eine Grundlage für überkonfessionelle Freundschaften legen. Dies setzte auch die Anerkennung des Judentums als einer ebenbürtigen Religion voraus. Für Schleiermacher sei „das Christentum die einzig wahre Religion“ erklärte sie. „[A]ber das Christentum wird ihm vielleicht etwas einseitig zur Religion der Freundschaft oder der Menschheit.“60 Mit anderen Worten: Auch das Judentum war eine Religion der Freundschaft, und es war Schleiermachers Dogmatismus, der ihm die Augen vor dieser Wahrheit verschloss. Heimanns Überlegungen waren aber nicht nur auf die individuelle Beziehung zwischen Juden und Christen gemünzt, sondern reflektierten auch eine Welt, in der Nationalisten und Antisemiten zum Hass auf alles Fremde aufriefen. Man dürfe „die Freunde nicht ändern wollen, damit sie uns gleich werden“, hatte Heimann gemahnt. Und sie folgerte daraus: So soll auch das Verhältnis der Völker zueinander sein. Nicht die Alternative zwischen einem alles gleichmachenden Internationalismus und einem Überheben des eigenen Wesens auf Kosten alles Fremden: vielmehr unbeirrte und kraftvolle Ausbildung der völkischen Sonderart verbunden mit andächtiger und liebevoller Betrachtung der anderen Völker, und beides zusammengehalten von der religiösen Gewißheit, daß das Eigene und das Fremde gleich unentbehrliche und volltönende Klänge sind in der großen Symphonie der Menschheit – das ist die wahrhafte Einheit von Nationalismus und Kosmopolitismus, wie die großen Männer Deutschlands vor hundert Jahren sie erträumt und angestrebt haben.61

Im letzten Satz verknüpfte Heimann selbstbewusst ihre eigene Haltung mit der des ‚großen Deutschen‘ Schleiermacher und verortete ihre Vision der Freundschaft damit in der deutschen Geistesgeschichte. Die „religiöse Gewißheit“, die sie ihrem Plädoyer für Pluralismus und Toleranz zugrunde legte, war freilich keine rein christliche, sondern eine allgemeinmenschliche. Christentum wie Judentum konnten beide Religionen der Freundschaft sein, wenn sie den Anderen in seiner Individualität respektierten und um seiner selbst willen anerkannten. Diese Konzeption von Freundschaft hatte wenig mit Simmels nüchternem Blick auf instrumentelle Nutzenbeziehungen gemein, sie erhöhte die Freundschaft aber auch nicht, wie Susman, zur sakralen Existenzweise. Simmels Entzauberung der Freundschaft stellte Heimann keine 60 Ebd., 61 Ebd.,

S. 49. S. 47.

8.4. Dialogisches Prinzip

179

Verzauberung entgegen, sondern einen überkonfessionellen, religiös grundierten Humanismus. Und doch war ihre Theorie der Freundschaft nicht zuletzt eine Reaktion auf das Scheitern der Freundschaft, das Simmels Rationalismus gerade nicht erklären konnte. Daher unterschied sich Heimanns religiös fundiertes Freundschaftsideal der Anerkennung auch dezidiert von dem kühlen Pragmatismus, der Simmels Konzeption zugrunde lag. Nicht Nutzenoptimierung, sondern eine versöhnte Welt war Heimanns Vision der Freundschaft.

8.4. Dialogisches Prinzip Wie wir bereits gesehen haben, suchte man auch im Nobel-Kreis, dem einige einstige Schüler Simmels angehörten, nach Gemeinschaftsformen, die nicht mehr vom rationalen Geschäftssinn des kapitalistischen Bürgertums beherrscht waren und stattdessen eine neue Form der Existenz verbürgten. Der herzliche und vertrauliche Ton, der sich in der Korrespondenz der Mitglieder des Kreises untereinander findet, weist diesen als mehr denn als bloße Interessengemeinschaft aus. Davon zeugt etwa der intensive Briefwechsel zwischen den NobelJüngern Leo Löwenthal und Siegfried Kracauer, der neben philosophischen und politischen Diskussionen auch den Austausch über intime Gefühle und Sehnsüchte enthält. So klagte Kracauer, der seit 1908 Vorlesungen von Simmel in Berlin besucht und auch in dessen Straßburger Zeit noch den Kontakt gepflegt hatte, in einem Brief vom Dezember 1921 in damals ungewöhnlich offener Weise gegenüber Löwenthal über seinen angeborenen Sprechfehler, „der mich auf Schritt und Tritt behindert“ und zu ernsthaften Depressionen geführt habe. Nicht aus Selbstmitleid schilderte Kracauer seine Qualen, sondern um den schwer kranken Freund zu trösten, ihm Mit-Leid auszusprechen: „Glauben Sie mir nur, daß ich auch Ihre wohl anders beschaffenen Qualen nach- und miterleben kann; aber, was ist da zu machen? Man muß schon durch die tausend Höllen hindurch. Vielleicht das beste ist noch man redet mitunter davon zu vertrauten Menschen.“62 Kants Freiraum schimmert hier durch, aber es ging Kracauer um mehr, nämlich die Schaffung einer überindividuellen Einheit der Seelen. Die katholische Beichte habe genau hier ihre Berechtigung: „Das Aufgehobensein des Ich im Du und beider Wallfahrt zu Gott!“ Es sei das zeugende Gespräch, so sollte Kracauer in seinem gleichnamigen Essay in der Frankfurter Zeitung nur etwa ein Jahr später schreiben, in dem „der eine die Gestalt des andern erleidet und leiden macht“. Dadurch werde „das Wesen eines jeden aufgeschlossen, weiter gespannt als bisher und derart die Herstellung des vollen Kontaktes mit dem 62 Siegfried Kracauer an Leo Löwenthal, 4. Dezember 1921. In: Leo Löwenthal, Siegfried Kra-

cauer: In steter Freundschaft. Briefwechsel 1921–1966. Hrsg. v. Peter-Erwin Jansen und Christian Schmidt. Lüneburg 2003, S. 33.

180

8. Seelenfreundschaft

Absoluten erst richtig vorbereitet“.63 Auch hier hallten die Diskussionen aus dem Simmel-Kreis nach. Aber er betrachtete die Freundschaft nicht wie Susman oder Heimann aus einer theologischen oder religionsphilosophischen Perspektive, sondern aus einer gesellschaftstheoretischen. Er nahm die Herausforderung von Simmels skeptischer Diagnose an und stellte ihr ein neues, gesellschaftskritisches Modell von Freundschaft gegenüber: die intime Zweisamkeit als Schutzraum vor den Verwerfungen der Moderne. Diese Zweisamkeit finde ihren Ausdruck in der philosophischen Idee des Dialogs, wie sie erstmals von dem Religionsphilosophen Martin Buber (1878–1965) ausbuchstabiert wurde, einem weiteren Mitglied des Nobel-Kreises, der zugleich ein Schüler Simmels und ein enger Freund der Witwe Gertrud Simmel war.64 Der Dialog, dem Buber sein philosophisches Hauptwerk Ich und Du widmen sollte, dient bei Kracauer der Erkenntnis des Wahren und der Vervollkommnung des Menschen, ist aber zugleich sein eigener Zweck: Wahrheit kann nicht einfach als äußerliches Phänomen gefunden werden, sondern muss im Dialog erst geschaffen werden. Deshalb reiht sich persönliche Anteilnahme in der privaten Korrespondenz an philosophische Diskussionen über das messianische Reich oder die Unsterblichkeit, ohne dass dies einen erkennbaren Bruch im Gespräch erzeugen würde. Gefühle und Gedanken, Intimes und Metaphysisches sind nicht voneinander getrennt, sondern verschmelzen zu einer Gesamtschau der Seele, die sich mit der Seele des Freundes verbindet. Kracauers Briefe an den elf Jahre jüngeren Löwenthal sind ein Musterbeispiel für diese Form des Dialogs und es ist keineswegs abwegig anzunehmen, dass dies Kracauer auch vollkommen bewusst war. Nicht in allen, aber doch in vielen Briefen tritt der Gedanke der Seelenfreundschaft hervor, die ihren Ausdruck im Dialog unter Gleichen findet und zugleich auf ein Höheres zielt. Die Parallelen zu Bubers Konzept des Dialogs sind bei allen Unterschieden, auf die noch zu sprechen kommen sein wird, offensichtlich. Auch bei Martin Buber „schneiden“ sich die „verlängerten Linien“ der einzelnen Gespräche im „ewigen Du“, also im allumfassenden Gott, womit jeder Dialog einen verborgenen sakralen Charakter erhält.65 „In jeder Sphäre, in jedem Beziehungspunkt“, heißt es in kabbalistischer Diktion, „blicken wir an den Saum des ewigen Du hin, aus jedem vernehmen wir ein Wehen von ihm, in jedem Du reden wir das ewige an, in jeder Sphäre nach ihrer Weise.“66 Dabei widersprach Buber vehement der verbreiteten Ansicht, die Ich-Du-Beziehung basiere auf

63 Siegfried

Kracauer: Das zeugende Gespräch. In: Frankfurter Zeitung vom 30. März 1923. Paul Mendes-Flohr: Martin Buber. A Life of Faith and Dissent. New Haven. London 2019, S. 47; Bourel: Martin Buber, S. 67–70. 65 Martin Buber: Ich und Du [1923]. Heidelberg 111983, S. 91. 66 Ebd., S. 120 f. 64 Vgl.

8.4. Dialogisches Prinzip

181

wechselseitigen Gefühlen füreinander.67 Vielmehr rückte er die Dialektik von Gnade und Entscheidung ins Zentrum: Das Du begegnet mir von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden. Aber daß ich zu ihm das Grundwort spreche, ist Tat meines Wesens, meine Wesenstat. Das Du begegnet mir. Aber ich trete in unmittelbare Beziehung zu ihm. So ist die Beziehung Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem.68

Anders als Susman löste Buber die Beziehung nicht in die Einheit Gottes auf, sondern bewahrte ihren subjektiven Anteil. Folglich sei es zwar unmöglich, sich einen Freund zu suchen, die von Gott gefügte Freundschaft bedürfe aber immer noch des freien Entschlusses und der bewussten Wahl: Sie sei eine Form der Wahlverwandtschaft. Freundschaft ergebe sich nicht von selbst, sondern durch eine subjektive Tat. Bemerkenswert an Bubers Schrift ist die weitgehende Abwesenheit von explizit jüdischen Bezügen einerseits, von Kollektivbegriffen wie „Volk“ und „Nation“ andererseits. Beides waren eigentlich bestimmende Größen seines Denkens, nicht nur in den zwanziger Jahren.69 In Ich und Du hingegen werden vornehmlich Buddha und Jesus statt des Baal Shem Tov oder Rabbi Akiva genannt; und nicht das „jüdische Volk“ oder die „Blutsgemeinschaft“ wird thematisiert, sondern die Gemeinschaft zwischen zwei Individuen. Dies erstaunt um so mehr, als das Buch maßgeblich in Bubers Zeit als Dozent am Frankfurter Lehrhaus entstanden ist.70 Das Freie Jüdische Lehrhaus, das aus der 1920 gegründeten Jüdischen Volkshochschule hervorgegangen war und bis zu seinem Tod von Franz Rosenzweig geleitet wurde, war nicht nur eine der einflussreichsten Institutionen der ‚Jüdischen Renaissance‘ in der Weimarer Republik, sondern zugleich ein Sammlungspunkt der Mitglieder des Nobel-Kreises. Sämtliche Mitglieder des Kreises – Nobel eingeschlossen – unterrichteten am Lehrhaus und besuchten auch selbst Lehrveranstaltungen. Martin Buber hielt von Januar bis März 1922 acht Vorlesungen unter dem Titel Religion als Gegenwart, die als entscheidende Vorarbeit für Ich und Du gelten können.71 In seinen Vorlesungen thematisierte Buber eine sehr individuelle religiöse Erfahrung, nämlich die Beziehung des Einzelnen zum persönlich gedachten Gott der Torah. Auf dieser Beziehung, nicht auf Glauben oder Ritual, basiere wahre Gemeinschaft:

67 Vgl.

ebd., S. 56. S. 18. 69 Vgl. Bernard Susser: Ideological Multivalence. Martin Buber and the German Volkish Tradition. In: Political Theory 5, 1 (1977), S. 75–96. 70 Vgl. Rivka Horowitz: Buber’s Way to „I and Thou“: The Development of Martin Buber’s Thought and his „Religion as Presence“ Lectures. Philadelphia u. a. 1988 sowie Bourel: Martin Buber, S. 315–317. 71 Martin Buber: Religion als Gegenwart [1922]. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. 12: Schriften zu Philosophie und Religion. Hrsg. v. Ashraf Noor. Gütersloh 2017, S. 87–160. 68 Ebd.,

182

8. Seelenfreundschaft

Die wahre Menschengemeinschaft ist nur in Gott möglich, nur eben dadurch, dass die wahren Beziehungen der Menschen zum absoluten Du zum Zentrum, all diese Radien, die von den Ichs der Menschen ausgehen zu der Mitte, einen Kreis schaffen. […] Dadurch ist der Kreis wirklich.72

Buber bestimmte also vor seinen Zuhörern den wahren „Kreis“ als auf Gott als Mittelpunkt ausgerichtet. Und anders als in Ich und Du ließ er keine Missverständnisse daran aufkommen, welcher Gott hier gemeint war: „Das bedeutet es wohl, wenn es heißt, die Schechina sei zwischen den Wesen.“73 Seine Zuhörer konnten das leicht als theologische Aufwertung ihres Freundschaftskreises verstehen. Zusätzlich bekam Bubers Konzeption auch einen subversiven Sinn, denn er stellte der idealen Ich-Du-Beziehung die rein instrumentelle Ich-Es-Beziehung gegenüber, die für die kapitalistische Gesellschaft charakteristisch sei. Er betrieb Religionsphilosophie als Kritik der Moderne und verband dies auch noch mit einer Vision sakraler Gemeinschaft. Wer sich ‚richtig‘ zur Welt verhielt, fragte demnach nicht nach Zwecken und Nutzen, der machte den Gegenüber nicht zum Objekt, sondern betrachtete Dialog und Freundschaft als heiligen Zweck in sich selbst. „Der Zweck der Beziehung“, heißt es in Ich und Du, „ist ihr eigenes Wesen, das ist: die Berührung des Du.“74 Auf den ersten Blick klafft eine Lücke zwischen Bubers Zionismus, dessen Bezugspunkt die vermeintliche jüdische Volks- und Blutgemeinschaft war, und seiner streng individualistischen Religionsphilosophie, die eigentlich nur einzelne Ichs und Gott als unmittelbare (also nicht durch Christus vermittelte, wie bei Schleiermacher) Allgemeinheit kennt. Schon 1919 hatte er aber in einer Rede eine Verbindung angedeutet, die auch im späteren Werk immer wieder aufblitzen würde. In dem Cheruth: eine Rede über Jugend und Religion betitelten Text, der auch als Broschüre veröffentlicht wurde, diagnostizierte Buber, dass die „Intellektualisierung“ der „Jugend des heutigen Europa“ eine „bedrückende Vereinsamung gebracht“ habe.75 Juden seien „infolge der Anomalie des Galuthlebens“ von der Einsamkeit besonders betroffen, und so sei „auch ihre Gemeinschaftssehnsucht gesteigert“. Unter der „Intellektualisierung“ verstand Buber „die Hypertrophie des aus dem Zusammenhang des organischen Lebens herausgebrochenen, parasitär gewordenen Intellekts im Gegensatz zu einer organischen Geistigkeit, in der sich die Totalität des Lebens umsetzt“.76 Seinem natürlichen 72 Ebd.,

S. 155. Das hebräische Wort shechinah bedeutet wörtlich „Einwohnung“, „Wohnstatt“ und bezeichnet ursprünglich die Gegenwart Gottes im Jerusalemer Tempel. In der Kabbala kommt der shechinah eine wichtige Bedeutung als unterste sefirah beziehungsweise als weibliche Seite Gottes zu. Vgl. Gershom Scholem: Schechinah. Das passiv-weibliche Moment in der Gottheit. In: Ders.: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Frankfurt am Main 1977, S. 135–191. 74 Buber: Ich und Du, S. 76. 75 Martin Buber: Cheruth: Eine Rede über Jugend und Religion. Berlin, Wien 1919, S. 14. 76 Ebd. 73 Ebd.

8.5. Sieg fried Kracauers Seelenfreundschaft

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Lebenszusammenhang entfremdet, stehe der Einzelne einsam und isoliert da, ohne Verbindung zum täglich sich vollziehenden Lebensprozess. „Aus der Angst und Schwermut solcher Einsamkeit sehnt sich die Jugend des heutigen Europa nach Gemeinschaft“, bilanzierte Buber und griff die Erfahrung des Weltkriegs auf: Die Jugend sehne sich so unbändig nach Gemeinschaft, „daß sie, wie wir genugsam erfahren haben, sich jedem Trugbild von Gemeinschaft hinzuopfern bereit ist.“77 Die wahre „Brücke unmittelbarer Gemeinsamkeit“ sei aber kein patriotisches Kriegsgeschrei, sondern führe nur „von Mensch zu Mensch und so von Geist zu Geist“  – „heiße sie nun Liebe, Freundschaft, Kameradschaft, Genossenschaft“.78

8.5. Siegfried Kracauers Seelenfreundschaft Siegfried Kracauer hat Bubers Vorlesungen über das dialogische Prinzip vermutlich gehört; vertraut mit dem Inhalt war er als fester Bestandteil des inneren Nobel-Kreises auf jeden Fall. Doch würde man der ideengeschichtlichen Rolle Kracauers nicht gerecht, wenn man seinen bereits zitierten Essay über das zeugende Gespräch als bloße Reaktion auf Buber betrachtete. Der Essay, der nur einige Monate vor Bubers Buch erschien, lässt sich zwar auch als vorweggenommene Reaktion lesen, aber zugleich ist Kracauer ein originärer Denker der Freundschaft, dem wohl auch Buber in dieser Hinsicht viel zu verdanken hat. Bereits im ersten Satz seines Essays legte Kracauer eine säkularisierte, ‚gottlose‘ Variante des „ewigen Du“ vor: „Für alle nicht im Glauben lebenden Menschen“, heißt es da, „die von der unersättlichen Begierde nach absoluter Gewißheit ergriffen sind, ist das auf die letzten Dinge ausgerichtete Gespräch ein Vorgang, der jedenfalls immer eine wichtige Etappe ihres Weges bezeichnet.“79 Es ist also nicht Bubers „Augenblicksgott“, der sich im Gespräch zu Wort meldet, sondern es sind die Menschen selbst, ohne dass sie Ausdruck von etwas anderem wären als sie selbst.80 Die transzendente Größe in Kracauers Konzeption ist nicht Gott, sondern ein Absolutes, das „nicht Gegenstand des Wissens“ ist, sondern das im Widerspruch, „im Ringen der Gestalten“ erfahrbare Wesen des Menschen.81 Das Absolute kann also im strengen Sinne nicht gewusst oder erkannt, sondern nur im Zwiegespräch gezeugt werden. Kracauers Theorie des Dialogs kommt zur Gänze ohne einen Gottesbegriff aus, trotzdem eignet ihr etwas Mystisches. Denn das Gespräch wird ihm zum Schöpfungsakt eines Absoluten, das, als Absolutes, ja schlechthin unbedingt sein und dem Gespräch ontologisch vorausgehen 77 Ebd.,

S. 15. S. 14. 79 Kracauer: Das zeugende Gespräch, S. 85. 80 Martin Buber: Zwiesprache [1932]. Berlin 21934, S. 31. 81 Kracauer: Das zeugende Gespräch, S. 86 f. 78 Ebd.,

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8. Seelenfreundschaft

müsste.82 Bubers Variante ist vom logischen Standpunkt aus überzeugender, handelt es sich bei seinem ‚Du‘ gewissermaßen um eine göttliche Emanation (sefirah), womit sich das Gespräch kabbalistisch als „Anhaftung“ (d’vekut), also als Annäherung an Gott, interpretieren ließe. Buber griff dabei auf die reichhaltige kabbalistische Tradition der Freundschaft zurück, nicht nur auf die des Chassidismus. Bei Moses Cordovero (1522–1570) etwa bezeichnet das aramäische Wort ri‛ut (hebräisch: re‛ut, „Freundschaft“) eine Anziehungskraft zwischen den sefirot (Emanationen des Göttlichen), besonders zwischen shechinah (Einwohnung) und tif ’eret (Schönheit) oder zwischen chochmah (Weisheit) und binah (Verstand), welche jeweils re‛in (Freunde) genannt werden.83 Freundschaft meint in diesem mystischen Sinne die fruchtbare Dialektik von Anhaftung (d’vekut) und Abstoßung (dechijah), eine sich durch die Spannung der Gegensätze herstellende höhere Einheit.84 „Einen kabbalistischen Freund von Angesicht zu Angesicht treffen ist nicht weniger als eine Offenbarung des göttlichen Antlitzes“, schreibt Eitan Fishbane in Bezug auf das kabbalistische Buch Sohar treffend.85 Solche Vorstellungen wurden auch von chassidischen Gelehrten rezipiert und aufgenommen, deren Werk Buber so intensiv studiert hatte. In dem bedeutenden chassidischen Werk Jesod ha-Avodah des ersten Rebbe von Slonim etwa, Avraham Weinberg (1804–1883), ist dieses Konzept der chevruta als spirituelle Lebensform weiterentwickelt, die für den Chassidismus bis heute elementar ist: „Wie großartig und wunderbar ist die Tugend der Liebe zwischen Freunden, die zusammengehören und von Herz zu Herz miteinander sprechen“, heißt es da, und jeder liebt seinen Freund wie seine eigene Seele. Und dies führt sie zu wahrer Buße, zu Demut und Freude, zum Wohlgefallen bei der Ausübung der Gebote, zur Seelenschau und zur Überwindung der Verlockung. Und durch sie [die Freundschaft] erreichen sie beide Welten, diese Welt und die kommende Welt, und das Erwachen des Herzens mit der Liebe und Ehrfurcht Gottes […].86

Weinbergs Ausführungen bildeten nur den Auftakt für das Entstehen einer großen Tradition der Freundschaft im chassidischen Judentum. 82 Der Linguist Simon Meier hebt den deontologischen Charakter von Kracauers Dialogbegriff hervor. Vgl. Simon Meier: Gesprächsideale. Normative Gesprächsreflexion im 20. Jahrhundert. Berlin, Boston 2013, S. 103. 83 Moses Cordovero: Or Ne’erav. Venedig 1587, Teil 4, Kap. 2 (S. 26). Siehe zu diesem Thema in Bezug auf den Sohar auch die immer noch aufschlussreiche Studie des polnischen Rabbiners David Joël: Midrash ha-Sohar. Die Religionsphilosophie des Sohar und ihr Verhältnis zur allgemeinen jüdischen Theologie. Leipzig 1849, S. 300. 84 Olyan: Friendship in the Hebrew Bible, S. 24 f. weist darauf hin, dass das Verb davek (anhaften) schon in der Bibel in das semantische Feld der Freundschaft gehört. 85 Eitan P. Fishbane: God in the Face of the Other. Mystical Friendship in the Zohar. In: Lawrence Fine (Hg.): Friendship in Jewish History, Religion, and Culture. University Park 2021, S. 41. 86 Avraham Weinberg: Jesod ha-avodah. Warschau 1892, Buch 2, Kap. 10, Abschnitt 10 (S. 186).

8.5. Sieg fried Kracauers Seelenfreundschaft

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Bubers dialogische Philosophie knüpft an diese Tradition an. Die wesentliche Kategorie in Bubers Werk – das „Du“ – war somit keineswegs so trivial, wie es heute in der neoliberalen Welt der ‚flachen Hierarchien‘ scheint. Und das gilt nicht nur für den philosophischen Kontext, sondern auch für das alltägliche Miteinander. Es ist wichtig, in Erinnerung zu rufen, dass in den zwanziger Jahren selbst zwischen guten Bekannten, ja bisweilen gegenüber den eigenen Eltern das „Sie“ vorherrschte. Um so bedeutsamer war der Übergang vom Sie zum Du, wie er bereits im Briefwechsel Scholems und Benjamins oder Nobels und Löwenthals beobachtet werden konnte. Am 12. Februar 1922 schrieb auch Kracauer an Löwenthal: Lieber Leo! Mit einer ganz persönlichen Bemerkung will ich beginnen. Als wir vor kurzem uns wiedersahen, wußte ich – ich wußte es schon vorher – daß das innerlich längst gesagte Du zwischen uns ausgesprochen zu werden verlangte. […] Nun hast Du das Wort, dieses wahrhaft wundersame Wort, aus seiner Heimlichkeit gelöst und ich danke Dir sehr dafür, ich bin glücklich darüber. Nicht immer hat das Du zwischen den Menschen Bedeutung, aber bei Menschen, wie wir es sind, ist es Geschenk, Erfüllung, Versprechen, voller Magie und Zärtlichkeit. Meinst Du nicht auch? Daß Du zu meinem Leben gehörst, wirst Du genauso wissen, wie ich weiß, daß ich Dir etwas bedeute.87

Für Kracauer war das Du, ganz wie für Buber, ein heilsames, gleichsam magisches Wort. Es benannte nicht nur eine bereits bestehende „Kraft der Anziehung“, sondern versetzte die einander verwandten Seelen in Schwingung.88 Das Sprechen des „Du“, würde man mit heutigen Begrifflichkeiten sagen, war ein performativer Akt. Er stiftete Freundschaft und hob die Beziehung zwischen zwei Menschen auf eine neue Ebene. Wie zentral der Freundschaftsgedanke im Frankfurter Kreis war, zeigt nicht zuletzt Kracauers Beitrag zur Nobel-Festschrift Die Gabe, die Buber 1921/22 gemeinsam mit Rudolf Hallo (1898–1933) herausgab. Der Text Über die Freundschaft stellte den zweiten Teil einer längeren philosophischen Erörterung der Freundschaftsproblematik dar, deren erster bereits gegen Ende des Krieges in der kulturphilosophischen Zeitschrift Logos erschienen war. Die bereits im späten Kaiserreich gegründete und von der Lebensphilosophie beeinflusste Fachzeitschrift wurde von den Neukantianern Richard Kroner und Georg Mehlis herausgegeben und bot namhaften Vertretern des Faches – Edmund Husserl, Heinrich Rickert, Georg Simmel, Ernst Troeltsch, Max Weber und vielen anderen – ein Forum. In der 1918 erschienenen Ausgabe legte Kracauer eine Typologie zur Freundschaft vor, die noch heute als Standardwerk einer soziologischen Theorie der Freundschaft gelten kann.89 87 Siegfried Kracauer an Leo Löwenthal, 12. Februar 1922. In: Kracauer, Löwenthal: Briefwechsel, S. 36 f. 88 Ebd., S. 37. 89 Siehe etwa Alexandra Rapsch: Soziologie der Freundschaft. Historische und gesellschaftliche Bedeutung von Homer bis heute. Stuttgart 2004, S. 61–71.

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8. Seelenfreundschaft

Ohne eine bündige oder auch nur vorläufige Definition von Freundschaft vorauszuschicken, grenzte Kracauer die Freundschaft zunächst von anderen menschlichen Beziehungen ab, denn innerhalb „jeder Gemeinschaft und Gesellschaft schlingen sich zwischen ihren einzelnen Mitgliedern Bande, die von der verschiedenen seelischen Beschaffenheit der Menschen vollständig unabhängig sind“90. Die Seelenverwandtschaft machte für Kracauer, wie wir sehen werden, das ideale Wesen der Freundschaft aus, weshalb sie zum entscheidenden Kriterium der Kategorisierung diente. Die Kameradschaft, Fachgenossenschaft und Bekanntschaft hingegen waren aus seiner Sicht Beziehungen, die von individuellen Eigenarten und Charakterzügen unabhängig waren und deshalb von der Freundschaft kategorial unterschieden werden mussten. Kameradschaft entstehe durch gemeinsames Handeln über einen langen Zeitraum hinweg, das seinen „Einigungsgrund“ nicht in seelischer Verwandtschaft oder innerer Anziehung habe, sondern in einem von außen vorgegebenem Zweck. Wenn Soldaten den Marschbefehl erhalten, sei dies ein solcher äußerer Zweck, der von ihnen selbst nicht beeinflusst werden könne. Sie würden von außen zur Gemeinschaft gezwungen und aus dieser Situation könne Kameradschaftlichkeit erwachsen. Aber nicht nur auf das Militär wendete Kracauer den Begriff an, sondern dehnte ihn, entsprechend der zeitgenössischen alltagssprachlichen Verwendung, auf alle „sinnfälligen“ gemeinsamen Tätigkeiten aus, unter denen er Spiel, Schulbesuch, Wandern und körperliche Arbeit besonders hervorhob. Gerade das Wandern war eine naheliegende Assoziation, schließlich stand die deutsche Wandervogelbewegung, wie wir gesehen haben, bereits in voller Blüte. Der deutsch-jüdische Wanderbund „Die Kameraden“ hatte sich 1916 gegründet und verband die Naturverherrlichung der Jugendbewegung mit der Propagierung soldatischer Tugenden wie Mut, Entschlossenheit, Opferbereitschaft und Treue.91 Der Kameradschaftsbegriff war also nicht nur bei den Soldaten im Felde, sondern auch bei deutschen Jugendlichen, den jüdischen eingeschlossen, durchaus populär. Kracauer betonte, dass Kameradschaft nicht mit Freundschaft zu verwechseln sei. Zwar impliziere auch die Kameradschaft eine Beziehung der Gleichheit, aber anders als bei der Freundschaft basiere diese nicht auf der Verwandtschaft der Seelen, sondern auf der Unterordnung unter das gemeinsame Ziel oder die gleiche Autorität. Damit gehe notwendig eine Zurücknahme des Individuellen einher, so dass alle Eigenwünsche verschwinden, daß sich zwischen den Menschen mit den in Hinsicht auf das Ziel erforderlichen Tätigkeiten bestimmte Verkehrsgewohnheiten entwickeln und 90 Siegfried

Kracauer: Über die Freundschaft. In: Logos. Zeitschrift für systematische Philosophie 7, 2 (1917/18), S. 183. 91 Vgl. Trefz: Jugendbewegung und Juden in Deutschland.

8.5. Sieg fried Kracauers Seelenfreundschaft

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diese selber in den Mittelpunkt des Denkens und Wollens rücken. Die Einzelseele wird entpersönlicht, umgeknetet, bis sie sich im gleichen Rhythmus mit den andern bewegt.92

Kameradschaft sei, mit anderen Worten, ein Phänomen der Massenpsychologie. In Freuds berühmter Studie Massenpsychologie und Ich-Analyse sollte es nur einige Jahre später gleichen Sinnes heißen: „Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Bindung jedes Einzelnen an Christus auch die Ursache ihrer Bindung untereinander ist. Ähnliches gilt für das Heer; der Feldherr ist der Vater, der alle seine Soldaten gleich liebt, und darum sind sie Kameraden untereinander.“93 Dieser Gedanke ließe sich auch auf die im fünften Kapitel untersuchten Freundschaftszirkel übertragen, insbesondere den George-Kreis, dessen Zusammenhalt sich ja auch ganz maßgeblich der gemeinsamen Ausrichtung auf den „Meister“ verdankte. Doch während der George-Kreis im Ästhetischen immer noch stark dem Individualismus verhaftet war und diesen lediglich als leitendes Prinzip für die Massen verachtete, betrachteten die Kameraden laut Kracauer jede „Art von Eigenbrötelei“ als Hindernis auf dem Weg zur Erreichung des gemeinsamen Zieles.94 „Kameraden sind Gleiche vor dem Ziel – aber nichts außerdem.“95 Als nächstes nahm sich Kracauer die Fachgenossenschaft vor und hatte dabei vielleicht auch den Schülerkreis Simmels vor Augen. Solche Gemeinschaften beruhten auf einer Gleichheit qua fachlicher Expertise: Die Beziehung der Fachgemeinschaft erzeugt sich in ihrer Eigenart erst, wenn das Fach so viel Wissen und so viele Geschicklichkeiten fordert, daß den sich ihm Widmenden das Gefühl schwindet, als beliebige, unterschiedslose Gleiche zur Erfüllung irgend eines Ziels verbunden zu sein. Berufsgenossen sind immer schon Ausgewählte.96

Die Kollegen glichen Eingeweihten, die sich in ihrer eigenen Fachsprache über Dinge austauschten, die Außenstehenden verborgen bleiben müssten. Der Berufsgemeinschaft anzugehören adele den Einzelnen, der sich gerade dadurch wertvoll und besonders fühle, dass er mit anderen seines Schlages ein Kollektiv formt. Außerhalb der Fachgenossenschaft mag der Einzelne als Sonderling und Eigenbrötler verspottet werden, innerhalb seiner Gemeinschaft sei er als Gleicher anerkannt: Von der sogenannten „Fachsimpelei“ an, die vielen stumpfen Geistern ihr Leben lang genügt, erhebt sich das Verhältnis oft zu hoher geistiger Vertraulichkeit […]. Es entstehen glückspendende Beziehungen, die leicht in Freundschaften übergehen können, die es aber nicht sind, solange sie unter Ausschluß tiefer menschlicher Anteilnahme, allein auf der sachlichen Uebereinstimmung beruhen.97 92 Kracauer:

Über die Freundschaft, S. 185. Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 48. 94 Zum Individualismus siehe Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis. Berlin, New York 2011, S. 38. 95 Kracauer: Über die Freundschaft, S. 185. 96 Ebd., S. 186. 97 Ebd. 93 Freud:

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8. Seelenfreundschaft

Im Unterschied zur Kameradschaft konstatierte Kracauer jedoch für die Fachgenossenschaft eine größere Offenheit zur Freundschaft, denn der Beruf verändere die Persönlichkeit in so tiefgreifendem Maße, dass die „Geistes- und Gefühlskräfte“ davon nicht unberührt blieben. Daher gehe die Gemeinsamkeit der Anschauungen unter Kollegen häufig über das jeweilige fachliche Feld hinaus, denn dieses „durchpflügt das Gesamtbewußtsein und zieht seine Furchen in ihm“.98 Fachgenossen ‚tickten‘ häufig ähnlich, woraus sich die Möglichkeit ergebe, eine Freundschaft zu entwickeln, die den gemeinsamen „Kastengeist“ transzendiere. Dies allerdings setze eine Öffnung des Einzelnen voraus, der seine persönlichsten Leidenschaften und Sehnsüchte mit dem Freunde teilen müsse. Die Freundschaft im Kleinen, eine parzellierte oder Teilfreundschaft im Simmelschen Sinne, gab es aus Kracauers Sicht nicht: Entweder vollkommene Vertrautheit und Intimität oder die Beziehung zum Gegenüber sei keine echte Freundschaft. Ein Zwischenbereich existiere nicht und die Grenzen müssten begrifflich scharf gezogen werden: „Wo die Welt meiner Träume, meiner Erinnerungen, meiner Sehnsucht, meiner Liebe beginnt, da endet auch das Verhältnis zwischen mir und den Fachgenossen.“99 Die dritte und letzte Form der menschlichen Beziehung, die Kracauer von der Freundschaft unterschied, ist die „Bekanntschaft in ihrer engeren Form“. Diese Differenzierung ist besonders wichtig, da eine dauerhafte, auf Sympathie wie seelischem Bedürfnis beruhende Bekanntschaft, wie Kracauer schreibt, der Freundschaft oft zum Verwechseln ähnlich sehe. Was beide voneinander trenne, sei eine „unsichtbare Scheidewand“, die dort ihren Sitz habe, „wo das eigentliche Ichbewußtsein anhebt, wo die inneren Quellen rauschen, wo Gedanken und Gefühle erwachen, die geheimnisvoll unmittelbar den Tiefen der Seele entströmen und wo in hellen Augenblicken Anfang und Ende der Persönlichkeit in ihrem Zusammenhang erschaut wird.“100 Zwar könne der Bekannte einzelne Aspekte der Persönlichkeit des anderen erhaschen, müsse sich aber „mit Bruchstücken begnügen, hier mit einem Fetzen Alltag, dort mit Sonderneigungen, und im ganzen mit zusammenhanglosen Teilansichten des Menschen“.101 Mit anderen Worten: Was den Freund vom Bekannten unterscheide, sei die Ganzheitlichkeit des wechselseitigen Verständnisses. Der Unterschied lässt sich laut Kracauer auch temporal ausdrücken: Während die Bekanntschaft an die Gegenwart geknüpft sei und ihren Höhepunkt im Beisammensein erreiche, unterliege die Freundschaft einem vom Aufenthaltsort der Freunde relativ unabhängigen Entwicklungsprozess, der Vergangenheit und Zukunft umgreife. Die Bekanntschaft sei an einen positiven Zweck gebunden, der allerdings viel weiter gespannt sei als bei der Kameradschaft oder der Fachgenossenschaft:  98 Ebd.,

S. 187.

100 Ebd.,

S. 189.

 99 Ebd. 101 Ebd.

8.5. Sieg fried Kracauers Seelenfreundschaft

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Austausch von Gedanken und Einfällen, Besprechung wichtiger Fragen, gemeinsames Genießen, Zerstreuung, gesellige Nähe, freies Kommen und Gehen, gemütliches Plaudern, gemessene Anteilnahme in allerhand menschlichen Dingen bildet ihren Hauptinhalt.102

Das heißt aber auch: Sobald der emotionale oder geistige Ertrag des Zusammenseins – die Behaglichkeit, der Nutzen, der Genuss – wegfalle, löse sich auch die Bekanntschaft auf. Die Beziehung der Bekannten sei somit stets eine bedingte; ihr liege ein konkreter, zeitlich und räumlich limitierter Nexus zugrunde. Ideale Freundschaft dagegen sei universell, omnipräsent, überzeitlich. Gegenüber Theodor Wiesengrund, der seit 1923 sein engster Freund war und sich erst im amerikanischen Exil nach dem Mädchennamen seiner Mutter Adorno nennen sollte, forderte Kracauer ganz explizit einen „Garantieschein […], daß das Band hielte, bis zum Tod“. Sie seien schließlich „als Menschen füreinander bestimmt“, weshalb er sich „heute und oft als Teil – von ‚uns‘“ fühle.103 Auch Adorno schreibt, er sei mit dem Freund „auf Leben und Tod verknüpft“.104 Diese Idealisierung der Freundschaft zu einem auf ewig geschlossenen Schicksalsbund trug unverkennbar eine Tendenz zur Selbstauslöschung in sich, wie sie Margarete Susman treffend beschrieben hatte. Dies zog dramatische Folgen nach sich, wenn die existenzialistisch überhöhte Freundschaft scheiterte. Als der 15 Jahre jüngere Adorno seinen Freund Ende der zwanziger Jahre nicht zuletzt aufgrund dessen homoerotischer Avancen zurückwies, stürzte dies Kracauer in tiefe Verzweiflung. Obwohl sie bis zuletzt Freunde blieben, sollte der Vertrauensbruch nie wieder ganz gekittet werden. Ihre Freundschaft hatte spätestens 1937, als Adorno Kracauers Buch über Jacques Offenbach öffentlich verriss, ihre „Heiligkeit“ verloren;105 die „inneren Scheidewände“ waren wieder errichtet worden. Nach den strengen Maßstäben von Kracauers Freundschaftstheorie waren sie nur noch „Bekannte“, allerdings mit schmerzhaften Erinnerungsfetzen an die einstmals geteilte Seelenfreundschaft. Was Simmel als „differenzierte Freundschaft“ aufgefasst hatte, wurde bei Kracauer zur Bekanntschaft, Fachgenossenschaft und Kameradschaft herabgesetzt, um das von seinem Lehrer nivellierte „griechische Ideal“ – das dem „jüdischen Ideal“ der Seelenfreundschaft Davids mit Jonathan nur allzu ähnlich ist  – zu retten.106 Kracauer wollte sich mit dem kulturkritischen Argument Simmels, 102 Ebd.

103 Siegfried Kracauer an Theodor W. Adorno, 5. April 1924. In: Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer: „Der Riß der Welt geht auch durch mich“. Briefwechsel 1923–1966. Hrsg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt am Main 2008, S. 10. 104 Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, 10. April 1925. In: Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer: „Der Riß der Welt geht auch durch mich“. Briefwechsel 1923–1966. Hrsg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt am Main 2008, S. 37. 105 Siegfried Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Amsterdam 1937. Adornos Besprechung erschien in der Zeitschrift für Sozialforschung 6, 3 (1937), S. 697 f. 106 Zu Kracauers Verhältnis zu Simmel vgl. Jörg Später: Sieg fried Kracauer. Eine Biographie.

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die wahre Freundschaft sei der modernen Gesellschaft zum Opfer gefallen und unwiederbringlich verloren, nicht abfinden und setzte deshalb einen radikalen Schnitt: Alles, was dem Ideal nicht entspricht, sei keine Freundschaft, sondern höchstens eine Vorstufe davon, ein uneingelöstes Potential. Damit sicherte er die Reinheit des Freundschaftsbegriffs gegenüber jeglicher zeitgenössischen Verwässerung ab. Allerdings bedeutete das auch, dass das Freundschaftsideal mit der Realität profaner Freundschaften kaum noch Berührungspunkte aufwies – und gerade das, die Realität der Freundschaft in der modernen Welt – hatte ja Simmel zu beschreiben versucht. Kracauers Aufsatz war dennoch mehr als eine Theorie der Freundschaft, denn sie war eine Intervention: Mit der Diagnose, dass nicht alles, was Freundschaft genannt werde, auch eine solche sei, verband Kracauer ein stark normatives Plädoyer für die Kultivierung „echter“ Freundschaft. Er sprach vielen seiner Zeitgenossen schlicht ab, Freundschaften zu pflegen, auch wenn sie selbst ihre Beziehungen als solche definierten. Kracauer sah in ihren Bekanntschaften das bloß Beliebige, Beschränkte, Zeitliche, das niemals an das Ideal der Freundschaft heranreiche: [J]ede neue Bekanntschaft gewinnt schnell ihr eigenes Gepräge, ruht bald auf einer dauernden Grundlage, von der selten später abgewichen wird. Was ihren starren Kern ausmacht, ist von Fall zu Fall verschieden: gemeinsame Interessen, dieselben Erlebnisse, ähnliche Allgemeinansichten, gleiche soziale Stellung, übereinstimmende Liebhabereien und so fort.107

Die große Spannbreite an verbindenden Elementen, die den Bekanntschaften zugrunde lägen, musste die Frage aufwerfen, was denn Kracauer genau mit der „Seelenverwandtschaft“ meinte, wenn es nicht eine persönliche Affinität auf Grundlage ähnlicher Ansichten, Leidenschaften, Interessen und Erfahrungen war. Was blieb da eigentlich noch übrig? Anstatt direkt eine Antwort zu geben, führte Kracauer eine weitere Unterscheidung ein: die zwischen Freundschaft und geschlechtlicher Liebe. Die „enge und engste Verknüpfung der Seelen“, nach der all jene sich sehnten, die sich nicht, wie die Massen, mit den „differenzierten Freundschaften“ Simmels zufriedengäben, sei nur in der Freundschaft und in der geschlechtlichen Liebe zu finden. Kracauer rekurrierte hier, ohne ihn explizit zu nennen, auf Michel de Montaignes Essay De l’amitié von 1580. Auch Montaigne unterschied die Alltagsfreundschaften von den wahren oder vollkommenen: Alltagsfreundschaften lassen sich teilen, man kann in dem einen die Schönheit lieb haben, in dem andern die sanften Sitten, in einem andern die Freigebigkeit, in diesem die Zärtlichkeit des Vaters, in jenem des Bruders usw. Bei dieser [vollkommenen] Freundschaft

Berlin 2016, S. 39 f. sowie in theoretischer Hinsicht David Frisby: Fragmente der Moderne. Georg Simmel, Sieg fried Kracauer, Walter Benjamin. Rheda-Wiedenbrück 1989. 107 Kracauer: Über die Freundschaft, S. 190.

8.5. Sieg fried Kracauers Seelenfreundschaft

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aber, welche sich der Seele bemächtigt und solche unumschränkt regiert, ist es unmöglich, dass sie zweifach ist.108

Freundschaft sei damit eine exklusive Beziehung, die sich weder mit anderen teilen noch beliebig vervielfältigen lasse. Montaigne zog daraus den Schluss, dass die geschlechtliche Liebe der Freundschaft untergeordnet sei. Kracauer schloss sich Montaigne in diesem Punkt an. Die „Vereinigung der Liebenden“, die sich „nur mit dem Rausch der Sinne begnügt“, sei zwar fraglos ein „Zusammensein und Verschmelzen zweier Leiber, aber nicht der Menschen ihrem vollen Umfang nach“.109 Dies entsprach Montaignes Argument, der ebenfalls die Verschmelzung der Seelen von der der Körper unterschied und nur in der „Seelenbrüderschaft“ wahre Freundschaft erblickte. Aber auch die Ehe, die ja die geschlechtliche Vereinigung insofern auf eine höhere Stufe hebt, als sie eine dauerhafte Verbindung der Liebenden stiftet, konnte aus Kracauers Perspektive nicht mit der Freundschaft gleichgesetzt werden, „da in ihr sich niemals die Liebe rein, sondern nur in unlöslichem Gemisch mit zahlreichen anderen Gefühlen und Strebungen auswirkt.“110 Die Eheleute heirateten nicht aus Liebe allein, sondern auch auf familiären, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Druck hin. Das galt nicht nur, aber ebenfalls für das deutsche Judentum: Auch wenn formell arrangierte Ehen, im Unterschied zur Frühen Neuzeit, nur noch selten vorkamen, waren elterliche Anbahnungsaktivitäten durchaus noch die Regel; als Liebespaar unverheiratet zu bleiben, war noch immer ein Tabubruch; und einen ‚unpassenden‘ Partner zu heiraten  – etwa einen Nichtjuden oder einen Arbeiter –, wurde von den Hütern der gesellschaftlichen Normen so gut es ging verhindert. „Eltern betrachteten die Eheschließung ihrer Nachkommen“, so hebt die Historikerin Marion Kaplan hervor, als einen gewichtigen Bereich, in den sie legitimerweise eingreifen durften. Wenngleich sie Lippenbekenntnisse zur wachsenden Bedeutung der „Liebe“ ablegten, willigten die meisten bürgerlichen Juden doch in vermittelte Ehen ein, in denen die Mitgift der Frau den gegenwärtigen und künftigen wirtschaftlichen und sozialen Status des Mannes ergänzte.111

Auch wenn also die Ehe nun zunehmend als Gemeinschaft von Liebenden verstanden wurde, handelte es sich bei der Wahl des Ehepartners keineswegs um das Ergebnis einer Entscheidungsfindung, die nur auf der Grundlage von Liebe und Leidenschaft getroffen wurde. Kracauer wusste das sehr genau. Trotz aller Vorbehalte gegenüber der bürgerlichen Institution der Ehe – Kracauer selbst heiratete im Alter von 41 Jahren 1930 die damals 37-jährige Elisabeth 108 Michel

de Montaigne: Über die Freundschaft. Essais [1580]. Köln 2015, S. 23 f. Über die Freundschaft, S. 191.

109 Kracauer: 110 Ebd.

111 Marion

Kaplan: Konsolidierung eines bürgerlichen Lebens im kaiserlichen Deutschland 1871–1918. In: Dies. (Hg.): Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945. München 2003, S. 25.

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8. Seelenfreundschaft

Ehrenreich (1893–1971), mit der er seit etwa vier Jahren liiert war – sah er in der Ehe aber keineswegs das Gegenprinzip zur Freundschaft, sondern räumte ein, dass sie durchaus einen Rahmen schaffen konnte, innerhalb dessen freundschaftsähnliche Beziehungen gedeihen konnten. Eine solche identifizierte er in der „begehrenden Liebe“, die er von der „geschlechtlichen“ unterschied. Die begehrende Liebe sei, wie die Freundschaft, auf Dauer ausgelegt und ergreife „den Menschen an der Wurzel seines Lebens“.112 Sie zeichne sich durch die Sehnsucht nach vollkommener Vereinigung aus, denn das, „was die Welt des einzelnen ausmacht: seine Erinnerungen, seine Pläne, seine besonderen Ideenverbindungen, dieser ganze Inhalt seines Bewußtseins soll nicht für sich allein bestehen, sondern vereinigt werden mit der Welt eines andern, damit eine neue, nunmehr einzige Welt anhebt.“113 Der entscheidende Unterschied zur Freundschaft aber sei der Modus der Vereinigung der Seelen. Während in der Liebesbeziehung die Einzelseele zugunsten einer neuen Einheit geopfert werde, blieben in der Freundschaft die Einzelseelen erhalten: Aus zweien wird eins, aber nicht im Sinne einer Verschmelzung, in der die Teile noch unverändert bewahrt sind  – sie vereinigen sich vielmehr wie zwei Webmuster, die zu einem dritten neuen verknüpft werden, das sie aufnimmt und fortsetzt, ohne die mindeste Gewalt anzutun.114

Liebe und Freundschaft waren dialektische Figuren, und es ging darum, welche der beiden der Bewahrung der Individualität größeren Stellenwert zumaß. Das war eindeutig die Freundschaft. Während „das mit dem Geschlechtstrieb verquickte seelische Liebesverlangen auf die Verschmelzung des ganzen Lebens“ abziele, bestehe „der Sinn der Freundschaft im Zusammenklang der Persönlichkeiten“.115 Nicht jeder Mensch war laut Kracauer zur Freundschaft fähig. Sein Begriff des Individuums war kein bloß dahergesagter, sondern ein emphatischer. Menschen, die nicht die Kraft besäßen, „um sich als eigentümliche Einheit in der Welt zu behaupten, sondern ein Erzeugnis der jeweiligen Umstände sind“, seien zu einer ernsthaften zwischenmenschlichen Beziehung nicht imstande.116 Ihnen fehle die Ganzheitlichkeit der Seele, sodass sie sich von ihren Leidenschaften gleichermaßen leiten ließen wie von äußeren Umständen. Deshalb könnten sie mit all ihren Widersprüchen und tausenden von unverbundenen Einzelanschauungen nicht 112 Kracauer: 113 Ebd.

Über die Freundschaft, S. 192.

114 Ebd., S. 193. Auch Jean-Paul Sartre hat in seinem 1943 erschienenen Werk Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (Hamburg 101993) die Liebe dafür kritisiert, dass sie ihre eigene Voraussetzung – das Individuum – kassiere und damit letztendlich immer scheitern müsse. 115 Kracauer: Über die Freundschaft, S. 199. 116 Ebd., S. 194.

8.5. Sieg fried Kracauers Seelenfreundschaft

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als Individuum, lateinisch: „Unteilbares“, gelten, sondern lediglich als beliebiges und zufälliges Ensemble heterogener Einflüsse. Einzig Menschen, die Kracauer „Persönlichkeiten“ nannte, weil sie über ein klar ausgeprägtes „Ich-Bewußtsein“ verfügten und ihre Einzelinteressen zu integrieren wüssten, könnten Freunde sein. Wenn zwei Persönlichkeiten sich vollkommen aufeinander einließen, könnten sie zu Freunden werden, ohne sich als Individuen dabei zu verlieren. „Nur sie können wahrhafte Freunde sein. Ideale Freundschaft ist […] das Sich-Finden zweier Menschen, ihrem ganzen im Ich-Bewußtsein zusammengefaßten Wesen nach“, definierte er.117 Die Persönlichkeit, die Kracauer hier in idealtypischer Weise ins Zentrum stellte, war das autonome, selbstbewusste Subjekt der Aufklärung, das dem Selbstbild des Bürgertums entsprach. Kracauer reflektierte nicht darüber, dass genau dieses Subjekt gerade im Blut der Schlachtfelder versank, dass die bürgerlichen Nationen sich gegenseitig verschlangen und damit auch die Freundschaft, die sich zwischen den Einzelnen hätten bilden können, in weite Ferne rückte. Der Begriff der Persönlichkeit war in seinem Entwurf noch nicht durch die historischen Ereignisse angefressen und stand daher trotz aller Anschmiegung an das griechische Ideal noch ganz in der Kantschen Tradition. Deshalb gelang es ihm spielend, das innere Wesen des Freundschaftssubjektes gewissermaßen additiv zu umreißen. Es besitze ein unveränderliches Gemisch von Charakteranlagen, ein sich gleichbleibendes Temperament, eine immer wiederkehrende Art des Fühlens. Zu diesem Gerippe seelischer Eigentümlichkeiten gesellen sich gewisse summarische Eindrücke von Weltmannigfaltigen, nie zu überwindende Erfahrungen, die schon von früher Kindheit an mit an seinem Wesen formen, unvergängliche Bilder, Gedanken, die sich tief in seinem Innern eingenistet haben.118

Kracauer knüpfte in seiner Bestimmung der Persönlichkeit als Einheit individueller und sozialer Charakterzüge an Freuds Kulturtheorie an, der erklärt hatte, dass die Ur- und Stammesgeschichte des Menschen (Phylogenese) nicht einfach abgeschlossen sei, sondern sich im seelischen Gedächtnis jedes Einzelnen (Ontogenese) sedimentiert habe. Die Einführung des phylogenetischen Modells in die Psychoanalyse hatte es Freud ermöglicht, nicht nur zivilisationsgeschichtliche Überlegungen in seine Theorie einfließen zu lassen, sondern auch soziale Vermittlungsagenturen wie Familie, Volk, Religions- und Kulturgemeinschaft zu berücksichtigen.119

117 Ebd.

118 Ebd.,

S. 201. dazu den instruktiven Aufsatz von David Benhaïm: La phylogenèse et la question du transgénérationnel. In: Le divan familial. Revue de thérapie familiale psychanalytique 18, 1 (2007), S. 11–25. 119 Siehe

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8. Seelenfreundschaft

Mit Hilfe des phylogenetischen Modells ließ sich theoretisch auch so etwas wie eine ‚typisch jüdische‘ Charakterstruktur erklären, doch Kracauer ging aus mehrerlei Gründen nicht auf dieses Thema ein. Zum einen sollte sein Essay allgemeingültige Aussagen treffen, zum anderen war die Diskussion über die „jüdische Psychologie“ vermintes Gelände. 1912 hatte der aus Osteuropa stammende amerikanische Zionist Max Samuel Melamed in seinem Werk Psychologie des jüdischen Geistes die vermeintliche Eigenheit des jüdischen Seelenlebens rassetheoretisch ausgeschlachtet.120 Auch wenn Melamed seine Schrift als Antwort auf den Rassisten Houston Stewart Chamberlain und den Antisemiten Werner Sombart verstand, hob er die „Differenzen in der Bewußtseinsdisposition“ zwischen den Juden und anderen Völkern hervor.121 Er wies zwar polemisch auf die Widersprüchlichkeit der mannigfaltigen Bestimmungen des „jüdischen Geistes“ durch die Antisemiten hin, aber seine eigene Auffassung fügte dem Sammelsurium an Zuschreibungen letztlich doch nur eine weitere, wenn auch positive, hinzu. Wirklich überzeugen konnte seine Verteidigungsschrift daher nicht.122 Unter protestantischen Bibelwissenschaftlern wurde der Ausdruck „jüdischer Geist“ zu dieser Zeit ebenfalls verwendet, nicht zuletzt auch von christlichen Psychologen wie Carl Gustav Jung.123 Freud selbst war davon überzeugt, dass sich Juden untereinander geistig näherstanden, wie er schon 1908 in einem Brief an Karl Abraham erklärt hatte. Er ermahnte Abraham, dem vielversprechenden Nachwuchswissenschaftler Jung gegenüber nachsichtig zu sein, denn vergessen Sie nicht, dass Sie es eigentlich leichter als Jung haben, meinen Gedanken zu folgen, denn erstens sind Sie völlig unabhängig, und dann stehen Sie meiner intellektuellen Konstitution durch Rassenverwandtschaft näher, während er als Christ und Pastorssohn nur gegen sehr große innere Widerstände den Weg zu mir findet.124

120 Max Samuel Melamed: Psychologie des jüdischen Geistes. Zur Kultur- und Völkerpsychologie. Berlin 1912. Ein ähnliches Beispiel ist Elias Hurwicz: Die Seelen der Völker, Ihre Eigenarten und Bedeutung im Leben der Völker. Gotha 1920. 121 Melamed: Psychologie, S. 14. Hier zitiert nach Nicolas Berg: Völkerpsychologie. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 6: Te–Z. Stuttgart, Weimar 2015, S. 295. 122 Siehe dazu Franziska Krah: „Ein Ungeheuer, das wenigstens theoretisch besiegt werden muß“. Pioniere der Antisemitismusforschung in Deutschland. Frankfurt am Main, New York 2016, S. 288 f. 123 Vgl. etwa Paul Fiebig: Die Gleichnisreden Jesu im Lichte der rabbinischen Gleichnisse des neutestamentlichen Zeitalters. Tübingen 1912, S. 40; Carl Gustav Jung: Über das Unbewußte [1918]. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10: Zivilisation im Übergang. Olten, Freiburg 41991, S. 25. Siehe auch Morris Vollmann: „Jüdische Wissenschaft“ – Sigmund Freuds Psychoanalyse im Fokus von Fremdzuschreibung und Entstehungskontext. In: Amalia Barboza, Christoph Henning (Hg.): Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale. Studien über Identitätskonstruktionen in der Sozialwissenschaft. Bielefeld 2006, S. 101–134. 124 Sigmund Freud an Karl Abraham, 3. Mai 1908. Zitiert nach Vollmann: „Jüdische Wissenschaft“, S. 106.

8.5. Sieg fried Kracauers Seelenfreundschaft

195

In Freuds letzter Schrift Der Mann Moses und die monotheistische Religion würde er 1939 diese Überzeugung vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der nationalsozialistischen Judenverfolgung theoretisch ausbuchstabieren.125 In Kracauers Essay von 1918 blieben die Fragen, ob es eine spezifisch jüdische Disposition gebe und ob Juden untereinander tendenziell eher Seelenverwandte seien als Juden und Nichtjuden, ausgeblendet. Untergründig aber war sie insbesondere dort präsent, wo Kracauer zu erklären versuchte, wie sich die Seelenverwandten eigentlich als solche erkannten. Wie lernten die Freunde sich kennen? Bei den Kameraden war es einfach  – sie wurden von außen in eine Gemeinschaft gezwungen oder ordneten sich einer Autorität, einem gemeinsamen Ziel unter. Bei den Fachgenossen war die Sache ebenfalls leicht zu beantworten – ihr berufliches Leben und ihr Interesse an den Entwicklungen der jeweiligen Disziplin verwies sie aufeinander. Die Bekannten schließlich konnten aus allen möglichen Gründen aufeinandertreffen, aber das Kontingente und Temporäre gehörte auch zum Wesen der bekanntschaftlichen Beziehung. Wie war es aber bei den Freunden? Wer freundete sich mit wem an, und warum? Kracauer nannte verschiedene Aspekte, die eine Wesensverwandtschaft der Freunde formten, und die meisten von ihnen ließen sich leicht auf einen gemeinsamen kulturellen, politischen und sozialen Hintergrund zurückführen: „Weltanschauung“, „Geschichtsauffassung“, schließlich „die Menschenbeurteilung, die Stellung des Ichs zur Gesellschaft, zur Politik, zu allgemeinen Fragen und Ereignissen“ sowie „die angestammten Eigentümlichkeiten in Wort und Meinung“ seien entscheidend für die Ausprägung des seelischen Charakters.126 Und so kam Kracauer zu dem Schluss: „Wahrhafte Freundschaft besteht in der Pflege ähnlicher Gesinnungen und setzt gemeinsame Entwicklung in den Bereichen des typischen Erkennens voraus.“127 Ihre Kraft ziehe wahre Freundschaft aus einer Übereinstimmung „in den Idealen, im typischen Welt- und Menschenbegreifen, dem steten Wachstum durch- und miteinander“.128 Was das für Ideale waren, ließ Kracauer unbeantwortet, so als ob die konkrete Gestaltung der „Ideal- und Gesinnungsgemeinschaft“129 unerheblich sei. Tatsächlich aber implizierte sein Freundschaftsbegriff selbst schon einen normativen Wertekatalog, der sich um die Ideale der Treue, Wahrheit und Erkenntnis drehte. Und noch ein weiterer Aspekt war für sein Verständnis der Freundschaft unerlässlich: deren Schutzfunktion: „Immer bleibt sie eine Zufluchtsstätte, wenn Unglück über den Menschen hereinbricht und er von allen Seiten verlassen wird. An dem Freund kann und muss er sich wieder aufrichten, über ihn weg auch stets von neuem an die 125 Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen. Amsterdam 1939. Vgl. dazu ausführlich Yerushalmi: Freuds Moses. 126 Kracauer: Über die Freundschaft, S. 202. 127 Ebd., S. 203. Im Original gesperrt gedruckt. 128 Ebd. 129 Ebd., S. 207.

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8. Seelenfreundschaft

Menschen glauben lernen.“130 Diese Worte könnten gerade von jenen jungen Juden als tröstlich empfunden worden sein, die unter dem Antisemitismus im deutschen Heer litten und – wie Ernst Simon und Leo Löwenthal – davor Halt bei befreundeten Juden suchten. So sehr Kracauer gegen Ende des Krieges die Konturen eines neuen Freundschaftsideals auf den Punkt gebracht hatte, das sich nicht nur von der modernekritischen Sicht Simmels unterschied, sondern auch der Gleichsetzung von Freundschaft mit soldatischer Kameradschaft eine Absage erteilte, so wenig ging er darauf ein, was Freundschaft im jüdischen Kontext bedeutete. Zwar deutete er an, dass ein gemeinsamer lebensgeschichtlicher Hintergrund ausschlaggebend für das Gelingen einer Freundschaft sein konnte, und betonte ihre Obdach- und Schutzfunktion. Aber all dies war sehr allgemein formuliert. Auch im zweiten Teil seines Essays, ganze drei Jahre später veröffentlicht, lange nach dem Krieg, wurde er diesbezüglich nicht konkreter. Aber der Kontext, in dem der Essay erschien, war nun ein ganz anderer. Er war Teil jenes oben bereits erwähnten Bandes Gabe, den Nobels Schüler und Freunde ihrem Meister im Jahr 5682 nach jüdischer Zeitrechnung (1921/22) zum 50. Geburtstag überreichten.131 Der Band richtete sich dezidiert an ein jüdisches Lesepublikum und der Herausgeberkreis war zugleich ein jüdischer Freundeskreis.132 Deshalb mussten schon die ersten Sätze von den Lesern als Kritik am assimilatorischen Lebensmodell der Elterngeneration verstanden werden, die in die Forderung nach einem neuartigen Dasein mündete: Unzweifelhaft besteht bei den Besten unserer Zeit die Sehnsucht nach einer erhöhten Pflege des inneren Lebens. Sie fühlen, daß in uns die Fragmente einer überkommenen Sittlichkeit ihr Wesen treiben, die der Wirklichkeit unseres Daseins nicht mehr entsprechen. Sie leiden darunter, ohne zu wissen, woher ein Ersatz für diese blutleeren, erstorbenen Überreste zu nehmen sei.133

Seine Zeitgenossen spürten, so Kracauer, dass das überkommene Bürgertum nicht mehr im Einklang mit den ökonomischen und sozialen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts stehe. Anstatt eine „Zufallsgeburt geschichtlich gewordener Zustände zu sein“, strebten sie „nach einer einheitlichen Gestaltung ihres Da130 Ebd.,

S. 204 f. Kracauer: Gedanken über Freundschaft. In: Martin Buber u. a. (Hg.): Gabe. Herrn Rabbiner Dr. Nobel zum 50. Geburtstag. Frankfurt am Main 5682 [1921/22], S. 24–39. 132 Im Nachruf auf Nobel schrieb Kracauer in der Frankfurter Zeitung: „Wie seine [d.i. Nobels] außerordentliche Persönlichkeit alle ergriff, die ihm nahe traten, so wirkte sie zumal auf die Jugend, die in ihm ihren geistigen Führer erblickte. Ein sichtbares Zeichen dieser Verehrung ist die Festschrift, die ihm vor wenigen Wochen von Freunden und Schülern zum fünfzigsten Geburtstag gewidmet wurde.“ Siegfried Kracauer: Rabbiner Dr. Nobel † [1922]. In: Ders.: Werke, Bd. 5.1: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1906–1923. Hrsg. v. Inka Mülder-Bach. Berlin 2011, S. 363. 133 Kracauer: Gedanken über Freundschaft, S. 24. 131 Siegfried

8.5. Sieg fried Kracauers Seelenfreundschaft

197

seins“.134 Laut Kracauer bestand kein Zweifel darin, dass „die Freundschaft als eine der reinsten und höchsten Lebensäußerungen des persönlichkeitsbewußten Menschen aufzufassen“ sei, die dem Dasein eine neue, den Zeitläuften entsprechende Richtung geben könne.135 Diese Feststellung evozierte die Frage nach dem „richtigen Leben“. Wenn die Lebensweise der Eltern bürgerlich, falsch, verlogen war, konnte dann die Freundschaft ein moralisch richtiges Leben verbürgen? Nicht zufällig war es Theodor Wiesengrund-Adorno, mit dem Kracauer das erste Mal diese Frage des „richtigen Lebens“ diskutierte; und ebenso wenig zufällig war es, dass just dieser Wiesengrund-Adorno später im amerikanischen Exil die berühmte These aufstellen würde: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“136

134 Ebd. 135 Ebd.

136 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben [1951]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997, S. 43.

9. Das richtige Leben ‫יקנה אדם חבר לעצמו להיות קונה (קורא) עמו‬ .‫ושונה עמו ואוכל עמו ושותה עמו וגולה לו סתריו‬ Midrash Sifrei Devarim 305

1

Im März 1925 zog Theodor Adorno nach Wien, um bei dem von ihm verehrten Alban Berg Komposition zu lernen. Doch bald schon realisierte er, dass er zwar talentiert war, ihm aber eine große Karriere als Komponist wohl verwehrt bleiben würde. Anfang des Jahres 1927 dann berichtete Adorno Kracauer aus Wien, es komme auf das „richtige Leben“ an, weshalb er sich nun der Politik zuwenden wolle.2 Kracauer erwiderte, „dass das ‚richtige Leben‘ die künstlerische Leistung ausschließe, glaubst Du selber nicht“.3 Damit wollte er seinen Freund davor bewahren, aus Frustration über das Scheitern sämtliche künstlerischen Ambitionen aufzugeben. Wenn es so etwas wie das „richtige Leben“ gab, glaubte Kracauer, so würde es die Kunst einschließen. Es entspringt keiner Ironie der Geschichte, sondern einem auch im zeugenden Gespräch mit Kracauer vollzogenen langen Reflexionsprozess, dass Adorno seinen ursprünglichen Impuls später sogar umkehren sollte: In seinem philosophischen Hauptwerk, der Negativen Dialektik, würde Adorno in den sechziger Jahren ausschließlich der Kunst einen Vorschein des Besseren, eine Vorwegnahme des „richtigen Lebens“ attestieren, aber auch nur dann, wenn diese in der Lage sei, „Leiden beredt werden zu lassen“.4 Dieser vielbemühte „Negativismus“ der Kritischen Theorie sollte allerdings nicht ihre gegenläufigen Tendenzen aus dem Blick verlieren.5 Wenn das Ganze „das Unwahre“ ist, wie es in Adornos Minima Moralia heißt, dann bedeutete das 1 Hebräisch: „Ein Mensch soll sich einen Freund erwerben, um sich mit ihm (die Schrift) anzueignen, die Mishnah mit ihm zu lernen, mit ihm zu essen, mit ihm zu trinken und ihm seine Geheimnisse zu erzählen.“ 2 Der Brief ist leider nicht erhalten, es existiert aber das Antwortschreiben Kracauers, in dem sich das Zitat befindet. Siehe die nächste Fußnote. 3 Siegfried Kracauer an Theodor W. Adorno, 14. Januar 1927. In: Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer: „Der Riß der Welt geht auch durch mich“. Briefwechsel 1923–1966. Hrsg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt am Main 2008, S. 144. 4 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik [1966]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997, S. 29. 5 Vgl. Gerhard Schweppenhäuser: Zur kritischen Theorie der Moral bei Adorno. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40, 12 (1992), S. 1403–1417.

200

9. Das richtige Leben

aus seiner Sicht nicht, dass es völlig unerheblich wäre, wie ein Mensch lebt und wie er sich gegenüber seinen Mitmenschen verhält.6 Adornos philosophischer Leitsatz, „dialektisch zugleich und undialektisch zu denken“, implizierte eine fundamentale Gesellschaftskritik, die sich aber immer eine Achtung vor den kleinen Unterschieden, auf die es im Leben nur allzu oft ankam, zu bewahren versuchte.7 Das galt auch für das Thema Freundschaft – Adorno warnte zwar davor, diese mit der versöhnten Gesellschaft zu verwechseln, hielt aber dennoch ihre humanen Züge in Ehren.

9.1. Eine glückliche Insel Ende der zwanziger Jahre hatte er diese dialektischen Gedanken noch nicht entwickelt. Doch schon im Briefwechsel mit Kracauer zeigt sich, wie sehr er auf der Suche nach dem „richtigen Leben“ war und zugleich an dieser Suche schier verzweifelte. Ohne Frage spielte Adorno die Klaviatur der Freundschaft meisterhaft, etwa wenn er Zitate aus Schillers Gedicht Die Bürgschaft einstreute, worin die Treue zwischen den Freunden beschworen wurde.8 Kracauer hatte auf diese Melodie eine Ansprache wie kaum ein zweiter, aber dennoch scheinen seine Erwartungen an die Beziehung größer gewesen zu sein als die seines 14 Jahre jüngeren Gefährten. Sehr zu Kracauers Leidwesen war Adorno noch auf der Suche nach dem richtigen Leben, während er selbst es schon gefunden zu haben glaubte und es mit aller Verbissenheit durchaus eifersüchtig festzuhalten versuchte. Allerdings war auch für den unentschiedenen und wankelmütigen jungen Adorno, der in Wien in eine neue Welt eintauchte, die Beziehung zu Kracauer stets ein Rückhalt, eine Art von Heimat, nach der er sich zurücksehnte. Der Freundschaft zwischen ihnen haftete, wie Detlev Claussen schreibt, „etwas von Bruderliebe an, die in gewisser Weise den Bruch mit einer unlebbaren Tradition bei gleichzeitigen gesellschaftlichen Abstoßungserfahrungen“ kompensierte.9 Das Jüdische spielte in dieser Beziehung, obwohl auf den ersten Blick kaum sichtbar, in vielfacher Hinsicht eine Rolle: Erstens dokumentiert der Briefwechsel, dass sowohl Kracauer als auch Adorno einen weitgehend jüdischen Freundes- und Bekanntenkreis um sich scharten, zweitens wurde der jüdischen Herkunft offenbar gerade von Seiten Adornos eine gewisse Bedeutung beige6 Adorno:

Minima Moralia, S. 55.

7 Ebd., S. 173. Zu dieser Denkfigur vgl. Gerhard Scheit: Nach Weltuntergang. Kritische Theorie

als „Nötigung, dialektisch zugleich und undialektisch zu denken“. In: Falko Schmieder (Hg.): Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen. München 2011, S. 45–59. 8 Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, 8. März 1925. In: Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer: „Der Riß der Welt geht auch durch mich“. Briefwechsel 1923–1966. Hrsg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt am Main 2008, S. 22. 9 Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie. Frankfurt am Main 2005, S. 105.

9.1. Eine glückliche Insel

201

messen, denn er strich sie immer wieder heraus (so, wenn er über Schönbergs „jüdische“ Gesichtszüge berichtete, gemeinsam den Zionistenkongress besuchen wollte oder „entre nous“ verkündete, eine Habilitationsschrift über Salomon Maimon schreiben zu wollen).10 Drittens stellte die Einflechtung jiddischer Ausdrücke (wie „meschugge“, „nebbich“, „gediwwer“, „gojisch“ etc.), ob bewusst oder unbewusst, eine Aura des Verstehens und des Vertrautseins her.11 Viertens schließlich war auch der Antisemitismus in den Briefen als Hintergrundlärm stets hörbar. Insofern erschien die ‚jüdische Freundschaft‘ nicht nur Kracauer, sondern auch Adorno als Voraussetzung, „ohne die ein Leben wie meines überhaupt nicht gelebt werden könnte“.12 Aus der Sicht der jüdischen Tradition war die Angelegenheit klar: Richtig Leben bedeutete, die Halacha zu befolgen, also stets auf dem von Gott gewiesenen Pfad zu wandeln und alle 613 Ge- und Verbote penibel einzuhalten. Für Kracauer und erst recht für den römisch-katholisch getauften, protestantisch konfirmierten Adorno, der eine katholische Mutter und einen zum Protestantismus übergetretenen Vater hatte, war dies kein gangbarer Weg mehr.13 Ihre Verbindung zur halachischen Tradition war vollkommen  – in Kracauers Fall zumindest: weitgehend – abgerissen, aber auch die bürgerliche Ersatzreligion, die sich um Sittenstrenge, Erfolgsstreben und Repräsentation drehte, konnte ihr Bedürfnis nach einer sinnvollen Existenz nicht befriedigen. Anders als manche ihrer Freunde – etwa Leo Löwenthal und Ernst Simon – war für sie die Wiederentdeckung der jüdischen Religion, einschließlich der Einhaltung der Kashrut und der Shabbat-Ruhe, keine Option.14 Die Tradition war zwar – wie vermittelt und gebrochen auch immer – noch präsent, besonders bei Kracauer, aber sie erschien ihm und vielen anderen deutschen Juden seiner Generation nicht mehr als zeitgemäß. Schon Kracauers Eltern gehörten zwar noch der Israelitischen 10 Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, 10. April 1925. In: Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer: „Der Riß der Welt geht auch durch mich“. Briefwechsel 1923–1966. Hrsg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt am Main 2008, S. 38; Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, 3. September 1927. In: Ebd., S. 153; Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, 20. Februar 1928. In: Ebd., S. 167. 11 „Gediwwer“ ist aus dem jiddischen „dibbern“ oder „dabbern“ (Hebräisch: davar) ins Frankfurterische eingegangen. Insofern ist nicht ganz klar, ob sich Adorno der Herkunft des Wortes wirklich bewusst war. Vgl. Hans Peter Althaus: Chuzpe, Schmus & Tacheles. Jiddische Wortgeschichten. München 42020, S. 81. 12 Adorno an Kracauer, 10. April 1925, S. 43. 13 Zur häufig in der Forschung übersehenen Konfirmation Adornos siehe Stefan MüllerDoohm: Adorno. Eine Biographie. Frankfurt am Main 2003, S. 926. Von den Nationalsozialisten wurde Adorno später gemäß den Bestimmungen der Nürnberger Rassegesetze dennoch als „jüdischer Mischling ersten Grades“ verfolgt. Nach seiner Heirat mit der „Volljüdin“ Gretel Karplus in London im Jahr 1937 wäre er in Deutschland gar als „Geltungsjude“ eingestuft worden. Vgl. dazu Staci Lynn von Boeckmann: The Life and Work of Gretel Karplus/Adorno: Her Contributions to Frankfurt School Theory. Dissertation, University of Oklahoma. Norman 2004, S. 63. 14 Vgl. dazu Löwenthal: Mitmachen wollte ich nie, S. 18; Ernst Simon: Mein Judentum. In: Ders.: Entscheidung zum Judentum. Essays und Vorträge. Frankfurt am Main 1980, S. 13–17.

202

9. Das richtige Leben

Gemeinde an, aber „Frömmigkeit und das Befolgen der religiösen Vorschriften“ waren laut Kracauers Biographen Jörg Später nicht mehr kennzeichnend für ihr Judentum.15 Dies galt noch weniger für ihren einzigen Sohn, der sein Wissen über das Judentum hauptsächlich von seinem Onkel, dem bekannten Historiker des Frankfurter Judentums, Isidor Kracauer, vermittelt bekommen hatte. „Siegfried Kracauer besuchte weder die Synagoge noch feierte er Bar Mizwa“, so Später. „Aber er berichtete einmal, daß ihn die jüdische Sage von den 36 Gerechten seit der Kindheit beschäftigt habe. Er wuchs offensichtlich nicht völlig ohne das kulturelle Gepäck jüdischer Tradition auf.“16 Aber wie richtig zu leben wäre, das sagte ihm diese Tradition nicht mehr. Umso wichtiger wurde es für ihn, das Verhalten seiner Mitmenschen zu studieren. Im Anschluss an Simmels Soziologie entwickelte Kracauer eine eigene Methode der mikrologischen Betrachtung. Seine „geschärfte Aufmerksamkeit für die unbeachteten, unscheinbaren – und das heißt nicht zuletzt: theoretisch noch unbewältigten – Phänomene“ waren kein zufällig gewählter wissenschaftlich-essayistischer Stil, „sondern Mittel, Methode, um den Widersprüchen und Konflikten unseres gesellschaftlichen Daseins auf die Spur zu kommen“, wie die Literaturwissenschaftlerin Inka Mülder-Bach sich ausdrückt.17 Auch Kracauers Soziologie der Freundschaft war diesem Impuls geschuldet, und sie entsprang nicht zuletzt der Beobachtung konkreter Freundschaften, die er in seinem Umfeld registrierte.18 Eine dieser Freundschaften, die in ihrem symbiotischen Charakter unübersehbar eine besonders intensive Beziehung darstellte, war das Verhältnis zwischen dem jungen Max Horkheimer (1895–1973) – aufstrebender Lieblingsschüler des Philosophen Hans Cornelius an der Frankfurter Universität – und seinem kontinuierlichen Begleiter, dem angehenden Nationalökonomen Friedrich Pollock (1894–1970).19 Sie waren 1919 nach Frankfurt gekommen, um dem Chaos nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik zu entkommen, von der sie als Angehörige der Schwabinger Bohème mit persönlichen Beziehungen ins revolutionäre Lager auch selbst unmittelbar bedroht gewesen waren. Beide stammten aus großbürgerlichen Verhältnissen. Horkheimers Vater war württembergischer 15 Später: 16 Ebd.

Sieg fried Kracauer, S. 31.

17 Inka Mülder: Sieg fried Kracauer  – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1919–1933. Stuttgart 1985, S. 95. 18 Vgl. Lars Bullmann: Asyl für Obdachlose. Zur Freundschaft von Sieg fried Kracauer und Theodor W. Adorno. In: Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 9, 2 (2015), S. 11–27. 19 Vgl. dazu ausführlich Philipp Lenhard: Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule. Berlin 2019; Rolf Wiggershaus: Max Horkheimer. Unternehmer in Sachen „Kritische Theorie“. Frankfurt am Main 2013 sowie Ders.: Die Kompagnons Max Horkheimer und Friedrich Pollock, das Institut für Sozialforschung und das Netzwerk der Frankfurter Schule. In: Monika Boll, Raphael Gross (Hg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland. Göttingen 2009, S. 228–239.

9.1. Eine glückliche Insel

203

Kommerzienrat und besaß eine Textilfabrik im Stuttgarter Vorort Zuffenhausen, Pollocks Vater war Teilhaber einer Reisewaren- und Kofferfabrik. Die Söhne hatten sich 1911 bei einem Tanzkurs im jüdischen Gemeindehaus kennengelernt und sich nach anfänglichen Widerständen angefreundet. Als Unternehmersöhne hatten sie ihre Freundschaft auf eine feste vertragliche Basis stellen wollen und deshalb einen detaillierten Freundschaftsvertrag aufgesetzt, der ihre Beziehungen im Einzelnen regelte und sogar Tageszeiten festlegte, an denen unter klar definierten Bedingungen gemeinsame Beschlüsse getroffen werden müssten. Der Vertrag ähnelte allerdings nur formal einem Geschäftsdokument. Inhaltlich atmete er den Geist eines Protestes gegen die Ungerechtigkeit der bestehenden Gesellschaft. Die Freundschaft solle, so heißt es explizit, „Ausdruck eines kritisch-humanen Elans“ sein und der „Schaffung der Solidarität aller Menschen“ dienen.20 Die Freundschaft wurde als ein ethisch-politisches Projekt verstanden, das die bloß zufällige Bekanntschaft bei weitem übertraf. In der Präambel hieß es: Unsere Freundschaft erachten wir als höchstes Gut. In dem Begriff Freundschaft ist ihre Dauer bis zum Tode eingeschlossen. Unser Handeln soll Ausdruck der Beziehung Freundschaft sein und jeder unserer Grundsätze nimmt in erster Linie diese Rücksicht.21

Das gesamte Leben habe sich, so waren die jungen Männer überzeugt, nach den Idealen der Freundschaft zu richten. Und tatsächlich bestritten die beiden von nun an – und bis zu Pollocks Tod 1970 – ihr Leben gemeinsam. So waren sie auch zusammen nach München und dann nach Frankfurt gekommen, wo sie zunächst in einer kleinen Wohnung, ab 1922 in einem gemeinsamen Haus im nahegelegenen Kronberg lebten. Für Außenstehende war ihre besondere Beziehung unübersehbar. Theodor Adorno nannte sie Kracauer gegenüber ironisch das „Freundespaar Lenin und Trotzkij“, was zum einen auf ihre politische Haltung anspielte – sie waren beide Marxisten und sympathisierten mit der Oktoberrevolution –, zum anderen aber auch die Tatsache aufspießte, dass sie in der Öffentlichkeit immer zu zweit auftraten.22 Der Philosoph Ludwig Marcuse, der in den späten zwanziger Jahren als Theaterkritiker beim Frankfurter General-Anzeiger arbeitete und damit ein Kollege Kracauers war, nahm Horkheimer seinerzeit als „werbenden, von Herzlichkeit überquellenden Mann“ wahr, der von seinem „reservierten, äußerlich strengeren Freund, Fritz Pollock“ auf Schritt und Tritt begleitet worden sei.23 Zusammen traten sie beispielsweise bei den von Paul Tillich vierzehntägig im Café Laumer 20 Zitiert

nach Helmut Gumnior, Rudolf Ringguth: Max Horkheimer in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1973, S. 16. Das Original des Gründungsvertrages ist leider verschollen. 21 Ebd., S. 13–16. 22 Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, 1. April 1930. In: Adorno, Kracauer: Briefwechsel 1923–1966, S. 195–198. 23 Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie. Zürich 1975, S. 115.

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9. Das richtige Leben

abgehaltenen „Kränzchen“ auf und sogar im amerikanischen Exil noch sollte Bertolt Brecht sich Anfang der vierziger Jahre über den „doppelclown horkheimer und pollock“ lustig machen.24 Tatsächlich wirkte das Freundespaar nicht nur nach außen hin als verschworene Gemeinschaft, sondern auch im Bewusstsein der Freunde selbst stellte die Beziehung, die sie zueinander hatten, eine „île heureuse“ dar, wie Horkheimer bereits 1914 eine im engsten Bekanntenkreis zirkulierende autobiographische Novelle betitelte.25 Von Anfang war die Freundschaft darauf ausgerichtet, in einer feindlichen Welt eine glückliche Insel zu bilden, auf der das Konkurrenzprinzip außer Kraft gesetzt war und nur die Werte Wahrheit, Treue und Solidarität zählen sollten. „Umgeben von einer Welt von Fremden waren wir allein“, heißt es in L’île heureuse, „und wir fühlten desto mehr die Höhe unserer Gedanken. ‚Alles Materielle verachten‘, war unsere einfache Lebensweisheit, ‚allen Veränderungen, die das Schicksal herbeiführt, kalt betrachtend gegenüberstehen und unser Ziel, die île heureuse erstreben, für die Erkenntnis der schönen Welt und für unsere Liebe leben.‘“26 Erst wenn der Mensch eingesehen habe, dass ihn „Bequemlichkeit, Eigenliebe nicht befriedigen kann“, wenn er begriffen habe, dass es „nur die Sorge um [s]eine Existenz und nicht der Trieb zur Wahrheit ist“, nach der er handele, sei er fähig, moralisch gut zu sein und richtig zu handeln.27 Die ideale Freundschaft diene mithin nicht der Existenzsicherung, man schließe sie nicht um ihrer Vorzüge willen oder weil sie angenehm sei, sondern um „wirklich gut sein zu können“.28 Freundschaft war aus dieser Perspektive weniger eine Beziehung, als vielmehr ein Zustand, den der gerade 19-jährige Horkheimer im Hinblick auf seine Freundschaft mit Friedrich Pollock (kurzzeitig ergänzt durch seine Jugendliebe Suzanne Neumeier) wie folgt beschrieb: Das war unsere Moral, das waren wir selbst. – Hier saßen wir, auf dem heißen Dünensand, die Augen glückselig auf das tiefblaue, weite Meer gerichtet, die Seele voll von unendlicher Freude und die Brust von unsagbarer Liebe zu dieser herrlichen, flammenden Natur und zu uns selbst, zu uns, die wir frei waren und an denen nichts Fremdes, nichts Niederes mehr haftete. Zwischen uns stand nichts mehr, kein Interesse, keine Vorsicht, keine Ehre, keine Würde und keine Pflicht: Jeder war den anderen nur der vollkommen freie Mensch, den sie bis auf den Grund seines Wesens kannten, der ewig zu ihnen gehörte, mit dem zusammen sie diese Höhe erklommen hatten.29 24 Bertolt Brecht: Arbeitsjournal, Bd. I: 1938 bis 1942. Hrsg. v. Werner Hecht. Frankfurt am Main 1973, S. 213. 25 Max Horkheimer: L’île heureuse [1914]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 11: Nachgelassene Schriften 1914–1931. Hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt am Main 1987, S. 289–328. Vgl. dazu Wiggershaus: Max Horkheimer, S. 17 sowie Lenhard: Friedrich Pollock, S. 41 f. 26 Horkheimer: L’île heureuse, S. 300. 27 Ebd., S. 294. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 295.

9.1. Eine glückliche Insel

205

Die hier sehr schwärmerisch formulierten Gedanken würden noch bis ins hohe Alter dem Freundschaftskonzept Horkheimers und Pollocks zugrunde liegen.30 Fortan galt für die Beziehung zu Pollock, dass Freundschaften nur dann vollkommen befriedigen, wenn wir fühlen, daß unsere ganze Person mit all ihren Stärken und Schwächen, ihren Geheimnissen und Äußerlichkeiten dem Freunde bekannt und vertraut ist; denn hiermit erst haben wir Sicherheit, daß unser Selbst so wie es lebt und leidet, unser eigenes ungeschminktes Ich geschätzt und geliebt ist.31

Die Möglichkeit, sich ohne Angst vor etwaigen Folgen nackt so zeigen zu können, wie man war, war laut Horkheimer nur in der Freundschaft möglich. Darin gleicht sein Freundschaftsbegriff der Kantschen Vorstellung von der Freundschaft als Freiraum, aber mehr noch als der Königsberger Philosoph sah Horkheimer, beeinflusst von Schopenhauer, die Welt als einen feindlichen Ort der Verstellung, Lüge und Gewalt. In der Vorstellung der jungen Männer glich ihre Freundschaft folglich einem Inselstaat, dessen inneres Gesetz gegen die Anstürme von außen mit allen Mitteln verteidigt werden müsse. Horkheimer kam dabei die Rolle des Königs zu, während Pollock sich selbst – nur halb scherzhaft – als „ministre d’exterieur“ inszenierte.32 Als Horkheimers spätere Ehefrau Rose „Maidon“ Riekher Ende Oktober 1920 die Freunde in Freiburg besuchen wollte, wo sie einen Studienaufenthalt verbrachten, sandte ihr Pollock ein versiegeltes und graphisch gestaltetes Dokument mit folgendem Inhalt: Ministerium des Äußeren. Der Minister An das Hofmarschallamt _________ Die Reisevorbereitungen für Ihre Majestät sind so zu treffen, dass die Abreise ab 12/XI. täglich erfolgen kann. Der Minister Friedrich Freiburg, 30. X. 20 Streng geheim!33

30 Zur

Dreierfreundschaft vgl. Lenhard: Friedrich Pollock, S. 40–44. L’île heureuse, S. 309. 32 Siehe etwa Friedrich Pollock an Rose Riekher, 9. Dezember 1918. Universitäts- und Stadtbibliothek Frankfurt am Main, Archivzentrum, Max-Horkheimer-Archiv, VI 30, 465 und Friedrich Pollock an Rose Riekher, 14. Februar 1919. Universitäts- und Stadtbibliothek Frankfurt am Main, Archivzentrum, Max-Horkheimer-Archiv, VI 30, 458. 33 Friedrich Pollock an Rose Riekher, 30. Oktober 1920. Universitäts- und Stadtbibliothek Frankfurt am Main, Archivzentrum, Max-Horkheimer-Archiv, VI 30, 450. 31 Horkheimer:

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9. Das richtige Leben

Ohne Zweifel war das Dokument durch den spielerischen Witz unter Freunden gekennzeichnet, aber zugleich kommt in ihm und vielen anderen auch die Selbstwahrnehmung als Außenbeauftragter des Freundes Horkheimer zum Ausdruck. Schon früh unterschieden die beiden kategorisch zwischen dem „interieur“ ihrer Freundschaftsbeziehung und dem „exterieur“, also der feindlichen Außenwelt. Dabei war es besonders Horkheimer, der nach Schutz vor den äußeren Bedrohungen verlangte. Die Angst, sagte er in einem biographischen Interview in den sechziger Jahren, sei seit je sein „wesentlicher Zug“ gewesen. „Die Angst vor der Gesellschaft, ich lebe im Grunde sobald ich mich besinne nicht anders als in der Angst vor den herrschenden Mächten, vor der Polizei, Anklage, Skandal, alles.“34 Pollock ergänzte, es sei das Gefühl gewesen, „der Menschheit ausgeliefert zu sein“, das sie dazu führte, die Freundschaft als eine Art Schutzbund einzurichten.35 Der Grundsatz, das „interieur“ habe stets Vorrang vor dem „exterieur“, sollte sie ihr ganzes Leben lang in ihren gemeinsam getroffenen Entscheidungen beeinflussen. Verstieß der eine gegen diesen Grundsatz, so konnte der andere darauf pochen, dass Entscheidungen revidiert wurden. Der Freundschaftsvertrag fungierte als eine Verfassung, die von beiden als verbindlich angesehen wurde und auf die sich jederzeit berufen konnten. Die Freundschaft zwischen Horkheimer und Pollock war also weder nur eine profane Alltagsbekanntschaft noch eine bloße Idee. Ihr lagen gemeinsame Werte zugrunde, die der als falsch, ungerecht und verlogen kritisierten bürgerlichen Gesellschaft gegenübergestellt wurden. Aber die Freundschaft erschöpfte sich nicht in dieser Kritik. Vielmehr kam es auf das „richtige Leben im Falschen“ an. Folglich manifestierte sich die Freundschaft von Beginn an in dem Wunsch, gemeinsam zu leben. Als junge Männer erreichten die Freunde von ihren Eltern die Erlaubnis, als Volontäre zunächst nach Brüssel, später nach London und Manchester zu gehen, wo sie in einer intimen Wohngemeinschaft zusammenlebten und Tag und Nacht über die Schlechtigkeit der Welt diskutierten. Gemeinsam lasen sie Tolstoi und Strindberg, vor allem aber verehrten sie die sozialkritische Literatur Henrik Ibsens. Besonders die Dramen Gespenster, Ein Volksfeind und Die Wildente hatten es ihnen angetan, die der bürgerlichen Gesellschaft ihren Spiegel vorhielten. In der Wildente kehrt der Protagonist, Gregers Werle, der wie Horkheimer und Pollock Sohn eines Fabrikbesitzers ist, nach Jahren der Entfremdung in sein Elternhaus zurück und trifft dort auch seinen „einzigen und besten Freund“ wieder, den verträumten Fotografen Hjalmar Ekdal, Sohn eines gescheiterten und der Alkoholsucht verfallenen Geschäftsmannes.36 Der 34 Ernst von Schenck im Interview mit Max Horkheimer und Friedrich Pollock [1965/66]. Universitäts- und Stadtbibliothek Frankfurt am Main, Archivzentrum, Max-Horkheimer-­ Archiv, X 132 a, 28. 35 Ebd. 36 Henrik Ibsen: Die Wildente [1884]. In: Ders.: Sämtliche Werke in deutscher Sprache, Bd. 7. Hrsg. v. Georg Brandes u. a. Berlin 1907, S. 222.

9.1. Eine glückliche Insel

207

nichtsnutzige Hjalmar scheint in einer Welt voller Lügen und Intrigen gefangen zu sein, sodass sich Gregers entschließt, ihm die Augen für die Wahrheit zu öffnen. Nach einem Streit mit dem Vater zieht er zu seinem Freund und versucht ihn davon zu überzeugen, dass nichts so ist, wie es scheint. Doch das Leben Hjalmars – und sinnbildlich auch die gesamte Existenz der bürgerlichen Gesellschaft – ist auf Illusionen und Lebenslügen aufgebaut. Entlarvt man diese, so kommt es zur Katastrophe. „Wenn sie einem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge nehmen“, heißt es in dem Stück, „so bringen sie ihn gleichzeitig um sein Glück.“37 Pollock und Horkheimer konnten sich mit Gregers Werle identifizieren, der aus ihrer Sicht nicht schuld war an den Lügen der elterlichen Welt, sondern aus edelsten Motiven handelte. Auch sie sahen keinen Sinn darin, „dieses Leben unserer Eltern weiter zu führen“, sondern sehnten sich danach, in ein einigermaßen erträgliches Klima aufs Land [zu] gehen, möglichst weit weg von Europa, also nach Südafrika und dort Farmer werden und in der Mußezeit dann dem Leben, was wir damals herausgearbeitet haben, wozu der Mensch eigentlich da ist, um seinen Willen zu erkennen, sich zu betätigen.38

Farmer wurden sie dann zwar doch nicht, sondern Intellektuelle, aber die Vorstellung, anders zu leben als die Eltern und all ihre Kraft in den Dienst der Wahrheitssuche zu stellen, sollte die Freunde auch als Erwachsene noch umtreiben. In Max Horkheimers Aphorismensammlung Dämmerung, zwischen 1926 und 1931 geschrieben und 1934 unter dem Pseudonym Heinrich Regius in der Schweiz erschienen, lässt sich diese Suche nach dem richtigen Leben gut nachvollziehen. In dem Aphorismus Von innen nach außen etwa schilderte Horkheimer die Fetischisierung der bürgerlichen Existenz. Die Menschen glaubten, die Verhältnisse, in denen sie leben, seien „natürliche, notwendige, ewige“ und übersähen dabei die „Bedingtheit und Veränderlichkeit“ der gesellschaftlichen Strukturen, erklärte er.39 Marxistische Theorie könne zwar dabei helfen, diese Fetischisierung zu durchschauen, aber „erst beim wirklichen Heraustreten“ aus dem gesellschaftlichen Gefüge würde die Veränderbarkeit der Welt vollends sichtbar.40 „Dazu genügt freilich nicht der eigene Entschluß“, so Horkheimer, auch nicht die bloße Überlegung. Vielmehr bedarf es des entscheidenden Wandels der gesellschaftlichen Situation eines Menschen nach unten, seines Herausfliegens aus allen Sicherungen sozialer und menschlicher Art, um ein relatives Außerhalb gegenüber den grundlegenden gesellschaftlich-ökonomischen Beziehungen ins Bewußtsein zu bringen. 37 Ebd.,

S. 326. von Schenck im Interview mit Max Horkheimer und Friedrich Pollock [1965/66]. Universitäts- und Stadtbibliothek Frankfurt am Main, Archivzentrum, Max-Horkheimer-­ Archiv, X 132 a, 125. 39 Max Horkheimer: Dämmerung. Notizen in Deutschland [1931/34]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Philosophische Frühschriften 1922–1932. Hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt am Main 22012, S. 321. 40 Ebd., S. 322. 38 Ernst

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9. Das richtige Leben

Erst dann kann das Dasein wirklich den Glauben an die Natürlichkeit seiner Bedingungen verlieren und entdecken, wieviel gesellschaftlich bedingte Elemente noch in der Liebe, der Freundschaft, der Achtung, der Solidarität, die es genossen hat, enthalten waren.41

Diese Variante der Verelendungstheorie besagte, dass sich erst dann, wenn man aus allen gesellschaftlichen Zusammenhängen herausgefallen war, wirklich zeigte, wer einen liebte, wer ein wahrer Freund und wer aufrecht solidarisch war. Falsche Freunde, könnte man umgekehrt sagen, waren Ausdruck einer falschen Gesellschaft. Nun waren Horkheimer und Pollock, die zunächst vom Geld ihrer Eltern, später dann vom Stiftungskapital ihres Freundes Felix Weil lebten, nicht gerade ein gutes Beispiel für das „Herausfliegen aus allen Sicherungen sozialer und menschlicher Art“, aber sie bildeten sich ein, auf ihrer „île heureuse“ kraft kritischer Erkenntnis trotzdem ein „relatives Außerhalb“ geschaffen zu haben. Auch sie wussten freilich, dass diese Insel noch immer Teil der Gesellschaft war, die sie ablehnten, und wären nicht auf die Idee gekommen, ihre Freundschaft bereits als letzte Verwirklichung der Freiheit auszugeben. Aber sie waren doch davon überzeugt, dass sich in ihr wenn nicht das richtige, so doch zumindest das bessere Leben vorwegnehmen lasse. Am aufschlussreichsten in dieser Hinsicht ist eine Fassung des Freundschaftsvertrages aus dem Jahr 1935, in dem betont wird, die schon als Jugendliche ausformulierten Grundsätze auch und gerade unter den Bedingungen des amerikanischen Exils aufrecht erhalten zu müssen.42 Das Dokument ist in zwölf Abschnitte untergliedert – wenn man den juristischen Formalismus berücksichtigt, könnte man auch sagen: in Paragrafen unterteilt –, deren erster die Forderung nach einer „ununterbrochenen Gestaltung der Beziehungen“ enthält, womit das alltägliche Miteinanderleben gemeint war. Der zweite Abschnitt beginnt mit dem Grundsatz: „Das Interieur geht immer dem Exterieur vor.“ Dieser Satz, heißt es weiter, solle „keine abstrakte Wahrheit für Sonn- und Feiertage sein, sondern in unserem taeglichen Leben bewusst verwirklicht werden.“ Darauf folgt im dritten Abschnitt eine Definition des Interieur, das „1. Unsere Gemeinschaft; 2. Unsere Wertordnung; 3. Unsere Haltung zur Welt: Gaîté, Courage, Fierté“ umfasse. Der folgende, vierte Abschnitt ist der längste des gesamten Dokuments und beschäftigt sich mit der „Identifikation in den Anschauungen“. Die Freunde waren der Ansicht, dass eine wahre Gemeinschaft nur dann verwirklicht werden könne, wenn beide Parteien auf Augenhöhe miteinander sprachen. Weder dürfe einer der beiden von oben herab wie ein „Mäzen“ dekretieren, was zu denken war, noch dürfe er sich als „Unparteiischer“ abwägend verhalten oder sich gar als „Inkompetenter“ darstellen und damit in „Ueberschaetzung der Moeglichkeiten 41 Ebd.

42 Materialien fuer Neuformulierung von Grundsaetzen [1935]. Universitäts- und Stadtbiblio-

thek Frankfurt am Main, Archivzentrum, Max-Horkheimer-Archiv, XXIV 97 (alle folgenden Zitate aus diesem Dokument).

9.1. Eine glückliche Insel

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der Arbeitsteilung“ dem anderen das Urteil überlassen. Vielmehr mussten beide Freunde als Gleiche miteinander um die Wahrheit streiten und alsdann gemeinsam die richtige Entscheidung vertreten und umsetzen. Paragraf IV, Absatz 2 schränkte jedoch ein: „Dass in einem gegebenen Zeitpunkt nur ein bestimmter Grad von Erkenntnis zugaenglich ist, steht ausser Diskussion. Aber dieser Erkenntnisstand ist unsere Erkenntnis, die solange mit allen Mitteln zu verteidigen, bis sie kraft gemeinsamer Kompetenz ueberwunden ist.“43 Doch die Identifizierung der Ansichten, die man als erkenntnisgesteuerte Verschmelzung fassen könnte, ging noch über die intellektuelle Ebene hinaus und betraf auch die in Abschnitt fünf behandelte „Identifikation mit dem Anderen“. Sie sei „der selbstverstaendliche Ausdruck unserer Beziehungen“ und bedeute „Unbedingte Solidaritaet gegenueber wem und in welcher Angelegenheit es auch sei, selbst wenn man glaubt, dass der andere sich im Irrtum befindet.“ Meinungsverschiedenheiten seien gegenüber Dritten zu verbergen und ausschließlich im geschützten Raum der Zweisamkeit zu klären. Es gelte, den Erfolg wie Misserfolg des anderen auch als eigenen anzuerkennen und stets alle „Wuensche, Anregungen und Vereinbarungen“ des anderen so ernst zu nehmen, als seien es die eigenen. Ausdruck dieser Identifikation sei „die Freude am andern und an unseren Beziehungen“. Der sechste Abschnitt befasste sich nicht mit dem Inhalt, sondern mit den zugrundeliegenden Motiven der Freundschaft. Sie habe ihren Ursprung in dem Wunsch, „nicht einsam und isoliert“ zu sein, sondern „sich unbedingt auf den anderen verlassen“ zu können. Um diesen hohen Ansprüchen an das Freundschaftsideal gerecht werden zu können, seien einige Maßnahmen erforderlich. Die Identifikation mit dem anderen und dessen Ansichten müsse immer gegeben sein, daher bedürfe es der „taegliche[n] und stuendliche[n] Realisierung“. Die aus dieser Identifikation resultierenden Beschlüsse seien stets einzuhalten; im Falle der Uneinigkeit sei so lange mit einer Handlung zu warten, bis eine gemeinsam geschlossene Entscheidung getroffen sei. Um diesen Prozess der Einigkeit zu erleichtern, sei möglichst ein gemeinsames Leben zu führen, „sowohl im Sinne von Erleben als auch gemeinsamer Interessen“, aber für alle Fälle gebe es zwei Codewörter – das plein pouvoir (Machtwort) und das Veto –, die bei Uneinigkeit in Anschlag gebracht werden könnten. In jedem Falle sei die gemeinsame „Wertordnung auch im Alltag“ anzuwenden. Aus der Ablehnung der bürgerlichen Ordnung, der die Freundschaft als Entwurf ‚richtigen Lebens‘ entgegengesetzt war, schlossen die Freunde im achten Abschnitt die „richtige Einstellung zur Gesellschaft“. Hier klangen sie wie ein marxistischer Gregers Werle: In der heutigen Gesellschaft sind alle menschlichen Beziehungen verfaelscht, alle Freundlichkeit, aller Beifall, alles Wohlwollen sind im Grunde nicht ernst gemeint, Ernst ist es 43 Ebd.,

S. 2.

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9. Das richtige Leben

nur mit dem Konkurrenzkampf innerhalb der Klasse und dem Kampf zwischen den Klassen. Jede Anerkennung, jeder Erfolg, jedes scheinbar sympathische Interesse kommt von Kerkermeistern, die denjenigen, der keinen Erfolg und keine Macht hat gleichgueltig verkommen lassen oder bis aufs Blut peinigen.44

Die Außenwelt wurde von Horkheimer und Pollock als zutiefst feindliche wahrgenommen und dieser Eindruck hatte sich unzweifelhaft durch den Siegeszug des Nationalsozialismus noch verstärkt. Als die beiden die Neuformulierung ihrer Grundsätze zu Papier brachten, befanden sie sich bereits im Exil. Der Holocaust hatte noch nicht begonnen, sehr wohl aber der systematische Terror gegen Kommunisten und Sozialdemokraten – und auch schon die gesetzliche und soziale Ausgrenzung der Juden, die vom rabiaten Straßenantisemitismus der SA sekundiert wurde. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass die Freunde ihre Mitmenschen als potenzielle „Kerkermeister“ und Peiniger ansahen. Unter dem Eindruck des Nationalsozialismus und durchaus auch der amerikanischen Klassengesellschaft fungierte die Freundschaft vor allem als Schutzraum, als „Gegen-Racket“ in einer Welt der Rackets.45 Aber sie sollte auch mehr als das sein: der „Ausdruck eines kritisch-humanen Elans“, wie sie 1911 im ersten Freundschaftsvertrag formuliert hatten, oder, wie es vierzig Jahre später in einer Neufassung des Vertrages, dem sogenannten Freudenstadter Programm, heißt: „Unser Leben soll ein Vorbild sein, in dem die Utopie wenigstens zum Teil verwirklicht und das Absolute erstrebt wird. Die Gesetze der Welt sollen in ihm keine Geltung haben.“46 Hatte Kracauer das Ideal der Seelenverwandtschaft stark gemacht, war die Freundschaft zwischen Horkheimer und Pollock vor allem durch das Konzept der Synthese geprägt, die sich auch dialektisch als Einheit von Gegensätzlichem, als „Identität von Identität und Nicht-Identität“ interpretieren ließ – eine Formulierung Hegels, die in der „Kritischen Theorie“ immer wieder bemüht wurde.47 Allerdings sahen sie sich auch im eigenen Kreis Kritik ausgesetzt, allen voran von Seiten Adornos, dessen Freundschaft mit Kracauer Ende der zwanziger Jahre deutlich abgekühlt war. 44 Ebd.,

S. 6. Begriff „Racket“ kommt ursprünglich aus dem Bereich der organisierten Kriminalität und bezeichnete Praktiken wie Schutzgelderpressung, illegales Glücksspiel und Korruption, wurde aber von der Kritischen Theorie seit den vierziger Jahren ganz allgemein als Bezeichnung für bandenmäßige Herrschaftsverbände in zerfallenden staatlichen Ordnungen verwendet. Siehe dazu Thorsten Fuchshuber: Rackets. Kritische Theorie der Bandenherrschaft. Freiburg, Wien 2019. 46 Max Horkheimer, Friedrich Pollock: Freudenstadter Programm [1951]. Universitäts- und Stadtbibliothek Frankfurt am Main, Archivzentrum, Max-Horkheimer-Archiv, VI 36, 357. 47 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. Jena 1801, S. 125. Adornos philosophisches Hauptwerk Negative Dialektik von 1966 verdankt Hegel seinen zentralen Begriff des „Nichtidentischen“. Er warf Hegel vor, das Nichtidentische zwar entdeckt, zugleich aber durch sein dialektisches Modell wieder in das Korsett der Identität gepresst zu haben. 45 Der

9.2. Kein richtiges Leben im Falschen

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9.2. Kein richtiges Leben im Falschen Spottete Adorno 1930 noch darüber, Horkheimer und Pollock lebten „zurückgezogen, aber mit spürbarer Abneigung gegen möblierte Zimmer“ in einer durchaus schrulligen Symbiose zusammen, so sollte er sein anfängliches Unbehagen in der amerikanischen Emigration zu einer neomarxistischen Kritik der Freundschaft zuspitzen.48 In der Aphorismensammlung Minima Moralia, die er im kalifornischen Exil in unmittelbarer Nachbarschaft zu den beiden Freunden verfasste, formulierte er eine Kritik, die sich für seine Kollegen unmissverständlich auf ihr Freundschaftsprojekt beziehen musste. In dem Aphorismus Antithese beispielsweise bezweifelte er ausdrücklich, dass im Kleinen das richtige Leben vorweggenommen werden könne.49 Freundschaft als utopisches Projekt, wie es von Horkheimer und Pollock gelebt wurde, wäre demnach eine Illusion: Die sozialen Widersprüche ließen sich nur zum Schein in einer harmonischen Einheit stillstellen, kritische Theorie müsse daher das Nichtidentische, das permanente Scheitern der Einheit festhalten. Während gerade der kritische Intellektuelle danach strebe, „die eigene Existenz zum hinfälligen Bilde einer richtigen zu machen, sollte er dieser Hinfälligkeit eingedenk bleiben und wissen, wie wenig das Bild das richtige Leben ersetzt.“50 Freunde machten sich also etwas vor, wenn sie ihre isolierte, intime Beziehung als der Außenwelt entzogen wahrnähmen, denn „jede Regung des sich Entziehens [trägt] Züge des Negierten“. Die „Isolierung und Einsamkeit“, die „wir für die Sache unserer überlegenen Wahl zu halten versucht sind“, sei in Wahrheit der Unterwerfung des Menschen unter den Kapitalismus geschuldet.51 Bezogen auf die Freundschaft heißt das: Was den Freunden als Schutzraum erscheine, sei eigentlich nur eine für das Kapital nützliche soziale Sphäre, in der die Einzelnen Zerstreuung und Sinn suchten, um am nächsten Tag wieder ausgeruht und tatkräftig ans Werk gehen zu können. Auch in dem Aphorismus Getrennt-vereint, der sich mit der Institution der Ehe auseinandersetzt, aber auch auf das Phänomen der Freundschaft übertragen werden kann, suchte Adorno Illusionen zu zerstören. Immerhin aber formulierte er hier eine Vorstellung des ‚richtigen Lebens‘: „Eine anständige Ehe wäre erst eine, in der beide ihr eigenes, unabhängiges Leben für sich haben, ohne die Fusion, die von der ökonomisch erzwungenen Interessengemeinschaft herrührt, dafür aber aus Freiheit die wechselseitige Verantwortung füreinander auf sich nähmen.“52 Im nächsten Aphorismus, Tisch und Bett, fügte er hinzu: „Das Intime 48 Adorno

an Kracauer, 1. April 1930, S. 195–198. W. Adorno: Antithese [1944]. In: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 4. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997, S. 27–29. 50 Ebd., S. 27. 51 Ebd., S. 28. 52 Theodor W. Adorno: Getrennt-vereint [1944]. In: Minima Moralia. Reflexionen aus dem 49 Theodor

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9. Das richtige Leben

zwischen Menschen ist Nachsicht, Duldung, Zuflucht für Eigenheiten.“53 Weil aber die intime Beziehung gerade auf der Möglichkeit basiere, Schwäche zu zeigen, sei das Scheitern der Ehe (oder analog auch der Freundschaft) um so schmerzhafter: Gewährt die Ehe eine der letzten Möglichkeiten, humane Zellen im inhumanen Allgemeinen zu bilden, so rächt das Allgemeine sich in ihrem Zerfall, indem es des scheinbar Ausgenommenen sich bemächtigt, den entfremdeten Ordnungen von Recht und Eigentum es unterstellt und die verhöhnt, die davor sich sicher wähnten.54

So scharf Adornos Kritik der Ehe ausfiel, so wenig darf dabei vergessen werden, dass diese in einer besonderen Situation formuliert wurde: Als Adorno seine Skepsis hinsichtlich des „richtigen Lebens“ zu Papier brachte, waren tatsächlich alle Zukunftsträume, aller Fortschrittsoptimismus, den das Bürgertum einst angetrieben hatte, an der realen Erfahrung von Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust zerschellt. In dieser Welt schien es tatsächlich keine Hoffnung mehr zu geben, und nichts, woran man sich noch halten konnte. Insofern ist es kein Zufall, dass Adorno zu diesem Zeitpunkt nicht mehr recht an die „humanen Zellen im inhumanen Allgemeinen“ glauben konnte. Allerdings waren seine Formulierungen auch jetzt noch von der Überzeugung getragen, dass das „richtige Leben“ – wenn es doch nur möglich wäre – tatsächlich mit der Freundschaft und den freundschaftlichen Aspekten der Ehe verwandt sei. Eine Realisierung dieser Ideale aber schien ihm, zumindest vorerst, unmöglich zu sein.

9.3. Leo Strauss und Jacob Klein In den zwanziger Jahren hingegen war der Glaube an das „richtige Leben“ noch ungebrochen gewesen. Gerade weil die bürgerliche Ordnung in eine so tiefgreifende Krise geraten war, erschien es unumgänglich, nach neuen Wegen zu einer authentischen Existenzweise zu suchen. Ein gänzlich anderes Beispiel für das Ideal des „richtigen Lebens“ stellt die außergewöhnliche Freundschaft zwischen den beiden Philosophen Leo Strauss (1899–1973) und Jacob Klein (1899–1978) dar.55 Beide suchten in ihrer philosophischen Arbeit nach einer Antwort auf die Fragte nach dem richtigen Leben und bemühten sich, die Antworten, die sie in beschädigten Leben. In: Ders.: Gesammelte Schriften [1944], Bd. 4. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997, S. 32. 53 Theodor W. Adorno: Tisch und Bett. In: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997, S. 33. 54 Ebd. 55 Die folgenden Ausführungen basieren zum Teil auf Philipp Lenhard: Eine griechische Jeschiwa an der Chesapeake Bay: Leo Strauss, Jacob Klein und das Ideal der Freundschaft. In: Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 9, 2 (2015), S. 28–41.

9.3. Leo Strauss und Jacob Klein

213

den griechischen und jüdischen Texten fanden, auf ihre eigene Lebenswelt zu übertragen. Vieles liegt über die Freundschaft der beiden Männer, die ihren Anfang im Jahr 1920 nahm, im Dunkeln. Die erhaltene Korrespondenz aus den zwanziger Jahren besteht lediglich aus einer einzigen Postkarte. Erst seit 1932, als Strauss zunächst nach Paris und später in die USA ging, existiert ein reichhaltiger Briefwechsel mit weiteren 128 Briefen in beide Richtungen.56 In der biographischen Literatur zu Leo Strauss nimmt die Freundschaft mit Klein nur einen geringen Raum ein.57 Anders sieht es im Hinblick auf Jacob Klein aus, zu dessen Werk zwar bislang nur sehr wenig Forschung existiert, dessen wichtigste Schüler sich aber unter anderem in zwei ausführlichen Interviews zu Wort gemeldet haben und dort die besondere Beziehung zu Strauss hervorgehoben haben.58 Allerdings behandeln diese Interviews erst die Zeit in der neuen amerikanischen Heimat, also die Jahre seit 1938. Die wichtigsten Belege der Freundschaft sind einige wenige autobiographische Dokumente: Eine kurze, niemals gehaltene Rede Strauss’ anlässlich des 60. Geburtstages von Klein im Jahr 1959, ein ebenso knapper 56 Alle Briefe sind ungekürzt enthalten in Leo Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe. Hrsg. v. Heinrich und Wiebke Meier. Stuttgart, Weimar 2001, S. 455–605. Heinrich Meier sei herzlich für seine Auskunft über die weiteren Archivbestände gedankt. Den Briefwechsel näher untersucht und einige Briefe ins Katalanische übersetzt hat Maria Arquer Cortés: Filosofia en l’amistat: Els estudis plàtonics de Jacob Klein a la corrèspondencia amb Leo Strauss. In: Annari de la Sociétat Catalana de Filosofia 26 (2015), S. 153–172. 57 Zu den Schwierigkeiten der Strauss-Biographik siehe Thomas Meyer: Wie schreibt man die Biographie von Leo Strauss? In: Zeitschrift für Ideengeschichte 3 (2016), S. 112–117. Zu den wichtigsten biographischen Annäherungen zählen Allan Bloom: Leo Strauss: September 20, 1899– October 18, 1973. In: Political Theory 2, 4 (November 1974), S. 372–392; Kenneth L. Deutsch, Walter Nicgorski (Hg.): Leo Strauss. Political Philosopher and Jewish Thinker. Lanham u. a. 1994; Eugene R. Sheppard: Leo Strauss and the Politics of Exile. The Making of a Political Philosopher. Hanover, London 2006; Daniel Tanguay: Leo Strauss: Une biographie intellectuelle. Paris 2003; Steven B. Smith: Leo Strauss. The Outlines of a Life. In: Ders. (Hg.): The Cambridge Companion to Leo Strauss. Cambridge, New York 2009, S. 13–40; Robert Howse: Leo Strauss: Man of Peace. Cambridge 2014. Die ausführlichste Darstellung seiner Jugend enthält: Michael Zank: Introduction. In: Leo Strauss: The Early Writings (1921–1932). Hrsg. v. Michael Zank. Albany 2002, S. 3–49. 58 In den letzten Jahren hat die Forschung zu Kleins philosophischem Werk einigen Auftrieb erfahren. Dies ist nicht zuletzt der unermüdlichen Arbeit von Burt C. Hopkins zu verdanken, der Kleins Werk wie kein anderer untersucht hat. Siehe zusammenfassend seinen Aufsatz: The Philosophical Achievement of Jacob Klein. In: New Yearbook of Phenomenology and Phenomenological Philosophy 11 (2011), S. 282–296 und besonders seine Monographie: The Origin of the Logic of Symbolic Mathematics: Edmund Husserl and Jacob Klein. Bloomington 2011. Die biographischen Interviews sind zu finden unter: Eva Brann on Jacob Klein (Jascha), auf: https:// tinyurl.com/rhnsfvh9 (letzter Zugriff: 10. 12. ​2022) sowie The Recollections of Elliot Zuckerman, auf: https://tinyurl.com/vxxvf7hm (letzter Zugriff: 10. 12. ​2022). Siehe außerdem das Interview, das George Anastaplo mit Eva Brann geführt hat: Glimpses of Leo Strauss, Jacob Klein, and St. John’s College. In: George Anastaplo: The Christian Heritage: Problems and Prospects. Lanham 2010, S. 361–370.

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9. Das richtige Leben

Nachruf Kleins auf Strauss im Jahr 1973 sowie die Dokumentation eines autobiographischen Gesprächs, das beide Freunde in hohem Alter am St. John’s College in Annapolis miteinander führten.59 Darüber hinaus existiert ein unveröffentlichtes, ausführliches Interview mit Kleins Frau „Dodo“, das in dessen Nachlass zu finden ist.60 Aus diesen und einigen anderen Schnipseln wird im Folgenden die Freundschaft zwischen Strauss und Klein, die im Marburg der Weimarer Republik begann und mit dem Tod Strauss’ im Jahr 1973 an der amerikanischen Ostküste endete, zu rekonstruieren sein. Leo Strauss war 1899 in einem orthodoxen Elternhaus in der Kleinstadt Kirchhain im hessischen Landkreis Marburg-Biedenkopf zur Welt gekommen. Sein Vater Hugo handelte mit landwirtschaftlichen Maschinen und erfüllte damit in einer agrarisch geprägten Region eine wichtige Funktion. Sein Sohn Leo entdeckte schon auf dem Gymnasium im nahen Marburg seine Leidenschaft für die Philosophie. Besonders die pessimistischen, kulturkritischen Denker Nietzsche und Schopenhauer hatten es ihm angetan und so fasste er den Plan, sein Leben lang Platon zu lesen, Kaninchen zu züchten und seinen Unterhalt als ländlicher Postbote zu verdienen.61 Daraus wurde bekanntlich nichts, zumal er nach dem Abitur im Juli 1917 als Soldat eingezogen wurde.62 Nach dem Krieg drängten ihn seine intellektuellen Bedürfnisse offensichtlich, das überschaubare Leben auf dem Lande zu verlassen und an die Universität zu gehen. Zu weit weg von zu Hause wollte der junge Strauss aber auch nicht sein, der im Alter von 17 Jahren, also während des Ersten Weltkriegs, zum politischen Zionismus „konvertiert“ war, wie er sich später rückblickend ausdrückte. Deshalb immatrikulierte sich Strauss schon unmittelbar nach dem Krieg im nur 13 Kilometer von seinem Elternhaus in Kirchhain entfernten Marburg. Obgleich er sein Studium der Philosophie 1921 nicht in Marburg, sondern in Hamburg mit einer von Ernst Cassirer betreuten Dissertation über Friedrich Heinrich Jacobis Erkenntnistheorie abschloss, blieb die Universitätsstadt an der Lahn für mehrere Jahre sein Lebensmittelpunkt. Marburg stellte zu dieser Zeit das Zentrum der Schule des Neukantianismus dar, deren unbestrittenes Haupt Hermann Cohen war, von dessen Philosophie sich Leo Strauss, der ein begeistertes Mitglied der zionistischen Wandervogelbewegung „Blau-Weiß“ war, vor allem deshalb angezogen fühlte, weil Cohen 59 Leo Strauss: An Unspoken Prologue to a Public Lecture at St. John’s. [In Honor of Jacob Klein, 1899–1978.] In: Interpretation 7, 3 (September 1978), S. 1–3; Jacob Klein, Leo Strauss: A Giving of Accounts. In: The College XXII, 1 (April 1970), S. 1–5. 60 Interview of Mrs Klein by Wendy Allenbrook. St. John’s College Library, Annapolis, Jacob Klein Papers. 61 Strauss: An Unspoken Prologue, S. 2. 62 Vgl. John Gunnell: Strauss before Straussianism. In: Kenneth L. Deutsch, Walter Nicgorski (Hg.): Leo Strauss. Political Philosopher and Jewish Thinker. Lanham u. a. 1994, S. 109 und Zank: Introduction, S. 6.

9.3. Leo Strauss und Jacob Klein

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aus seinem Judentum keinen Hehl gemacht hatte, sondern es selbstbewusst als „Religion der Vernunft“ bezeichnete.63 Zwar hat Strauss Cohen, der 1918 in Berlin verstarb, nie persönlich getroffen, aber die Strahlkraft seiner Persönlichkeit wirkte offenbar über seinen Tod hinaus.64 Als Strauss und Klein sich 1920 in Marburg kennenlernten, begegneten sich zwei völlig verschiedene Charaktere. Während Strauss offensiv, redefreudig und ostentativ jüdisch auftrat, war der ein halbes Jahr ältere Klein eher introvertiert und interessierte sich nur wenig für jüdische Angelegenheiten. Er hatte bereits eine schwierige, konfliktreiche Kindheit und Jugend hinter sich, die seine außergewöhnliche Persönlichkeit maßgeblich geformt haben muss. Geboren 1899 im lettischen, damals russländischen Libau (Liepāja) als Sohn des Flachshändlers Saul Klein musste er schon früh erleben, wie sich seine Eltern trennten. Zunächst lebte er bei seinen Großeltern, die einen orthodoxen Haushalt führten. Als seine Mutter 1908 in eine streng religiöse Familie in Russland einheiratete, musste auch Jacob notgedrungen seine Großeltern, Freunde und Mitschüler in Libau zurücklassen und zu seiner Mutter ziehen.65 In der neuen Heimat ging er aufs Gymnasium, daneben lernte er bei einem Rabbiner Hebräisch und die Grundlagen der jüdischen Religion.66 Als sein Vater Saul, der sich selbst als Atheist verstand und mit dem Judentum vor allem seine Vorliebe für Kreplach und seine Abneigung gegenüber Schweinefleisch verband, 1912 aus geschäftlichen Gründen nach Brüssel zog, nahm er Jacob mit und meldete ihn in einem nahegelegenen Internat an.67 Nur an den Wochenenden durfte er seinen Vater besuchen. Jacob Klein hing noch immer sehr an seiner Mutter, während er gegenüber dem Vater, der ein unstetes Leben mit zahlreichen Affären führte, aus der auch der uneheliche Bruder Ernst (geb. 1914) hervorging, eine Mischung aus Hass und Ehrfurcht entwickelte. Unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges traten Vater und Sohn eine Kreuzfahrt zu den norwegischen Fjorden an, aber das Schiff wurde mit Kriegsbeginn nach Hamburg zurückbeordert, wo die Kleins als russische Staatsbürger in Deutschland interniert wurden.68 Über Schweden gelangte Kleins Vater nach Sankt Pe63 So

der Titel des bereits erwähnten, allerdings posthum erschienenen Werkes Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. 64 Vgl. Zank: Introduction, S. 6. 65 Es ist mir leider nicht gelungen zu ermitteln, um welche Stadt es sich wirklich handelte. Im Transkript des Interviews mit Dodo Klein ist von „Lipita [?] [Lipetsk]“ die Rede, aber die Industriestadt im zentralrussischen Oka-Don-Becken ist eher unwahrscheinlich, da es in dem außerhalb des Ansiedlungsrayon gelegenen Lipetsk vor der Februarrevolution keine organisierte jüdische Gemeinde gab. Klein spricht auch davon, die Familie habe noch einmal umziehen müssen, weil die Quote für jüdische Schüler am Gymnasium bereits voll gewesen sei und Jacob Klein daher die Schule nicht habe besuchen können. Interview with Mrs Klein, S. 3. 66 Ebd., S. 4. Laut eigener Aussage waren seine Hebräischkenntnisse „sehr gut“. Vgl. ebd. 67 Vgl. Cortés: Filosofia en l’amistat, S. 154. 68 Vgl. Interview with Mrs Klein, S. 2.

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9. Das richtige Leben

tersburg, seinen Sohn ließ er in der Obhut eines befreundeten Lehrers in Berlin. Jacob Klein blieb also im Alter von 15 Jahren allein in einer fremden Stadt, getrennt von den beiden Eltern. Erst Jahre später, im Jahr 1919, sah er seinen Vater, der auch nur selten schrieb, das erste Mal wieder. Seine Mutter antwortete überhaupt nicht mehr auf seine Briefe. Vielleicht, so mutmaßte er, fing auch sein Vater ihre Post ab. Klein jedenfalls war zwar exzellent ausgebildet – er sprach neben Russisch auch akzentfrei Französisch und Deutsch, beherrschte Latein, Altgriechisch und Hebräisch, und war vor allem in Mathematik, Physik und Philosophie ein Musterschüler –, aber dafür war er sozial isoliert, vollkommen auf sich allein gestellt und entwickelte sich immer mehr zum Eigenbrötler. Ganz anders Leo Strauss: Liest man seine ersten Aufsätze in zionistischen Zeitschriften, so scheint es, als ob er, der geradlinige und immer bestimmte Intellektuelle, von Anfang an gewusst habe, worauf er hinauswollte. Klein dagegen studierte eher unsystematisch, zunächst ab 1917 Mathematik und Physik in Berlin, dann ab 1920 Philosophie in Marburg. Er fühlte, dass alle Gedanken und Interessen, die er hatte, in ihm selbst verborgen waren.69 „Welchen Gedanken auch immer ich hatte“, erinnerte sich Klein später, und welches Interesse auch immer ich an irgendetwas gehabt haben mag, es schien mir vollständig in mir selbst zu sein, so dass ich immer fühlte, dass ich etwas, das außerhalb von mir war, oder das von einer anderen Person geäußert oder geschrieben worden war, nicht richtig verstehen konnte.70

Das mag mit der Erfahrung zu tun gehabt haben, irgendwie fremd zu sein in dieser Welt der deutschen Universität.71 Und doch wurde ausgerechnet der russländische Jude Jacob Klein einer der Lieblingsschüler seines Marburger Lehrers Martin Heidegger – vielleicht auch aufgrund seiner auf Außenstehende esoterisch wirkenden Art, die sich freilich mit einem scharfen Intellekt und einer unbändigen philosophischen Neugierde verband. Beides verlieh ihm eine Aura des Erhabenen, eines Menschen, der sich vom profanen Geschwätz der Studierenden abhebt. Leo Strauss schilderte den Eindruck, den Klein beim ersten Aufeinandertreffen auf ihn machte, so: Er stach unter den Philosophiestudenten nicht nur wegen seines Intellekts heraus, sondern auch wegen seiner ganzen Erscheinung: Er war völlig unprovinziell in einer völlig provinziellen Umgebung. Ich war tief von ihm beeindruckt und fühlte mich zu ihm hingezogen. Ich weiß nicht mehr, ob ich nur in Ausübung meiner Pflichten gehandelt habe oder ob das nur ein Vorwand war: Ich sprach ihn an, um ihn für den Zionismus zu gewinnen. Ich scheiterte gänzlich. Nichtsdestotrotz bleiben wir seit dieser Zeit bis heute in Kontakt.72 69 Die frühen Aufsätze ab 1923 sind enthalten in Leo Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Philosophie und Gesetz – Frühe Schriften. Hrsg. v. Heinrich Meier. Stuttgart, Weimar 22002. 70 Klein, Strauss: A Giving of Accounts, S. 1 (meine Übersetzung – PL). 71 Leo Strauss attestierte ihm eine „idiosynkratische Abscheu vor Öffentlichkeit“. Strauss: An Unspoken Prologue, S. 1 (meine Übersetzung – PL). 72 Klein, Strauss: A Giving of Accounts, S. 2 (meine Übersetzung – PL). Tanguay folgert aus

9.3. Leo Strauss und Jacob Klein

217

Eine Freundschaft war geboren, die vor allem von Seiten Strauss’ von äußerster Leidenschaft, ja freundschaftlicher Liebe geprägt war. „Und ich habe erneut gefühlt“, schreibt er 1933 aus Paris an den sich noch in Deutschland befindlichen Klein, wie sehr ich Dich liebe. Und nichts auf der Welt kann diese Bindungen zerstören, die zwischen uns durch eine merkwürdige Verkettung von Dingen, die geschehen sind, gewebt wurden und die auf einem immer starken Gefühl, zumindest in meinem Herzen, basieren.73

Auch Jahrzehnte später noch betonte Strauss, dass die beiden einander näher stünden „als jeder andere in unserer Generation“.74 Obwohl sie in der Emigration – der eine in Chicago, der andere in Maryland – für Jahrzehnte voneinander getrennt sein würden, blieb ihre Beziehung auch unter diesen Umständen außerordentlich intensiv, wie die Korrespondenz eindrücklich zeigt. Kaum verwunderlich ist daher, dass Strauss nach seiner Emeritierung 1969 nach Annapolis zog, um gemeinsam mit Klein seinen Lebensabend an der Chesapeake Bay zu verbringen.75 Schon in den zwanziger Jahren, am Anfang dieser lebenslangen Freundschaft, als sich die Philosophie der beiden Freunde herausbildete, hatten sie einen Großteil ihres Alltags zusammen bestritten.76 Klein, der seine Wohnung in Berlin behielt, übernachtete bei Strauss oder Hans-Georg Gadamer, wenn er sich in Marburg aufhielt, wo er 1922 seine Dissertation bei Nicolai Hartmann über das Verhältnis von Logischem und Historischem bei Hegel abschloss und wo ab 1923 der junge Martin Heidegger beide in ihren Bann zog.77 Anders als der „Zauberer von Meßkirch“ aber, wie ihn seine Studenten andachtsvoll nannten, hatten Strauss und Klein kein Interesse an einer Destruktion der abendländischen Tradition, um zur vermeintlich ursprünglichen Seinsfrage zurückzukehren, dem angegebenen Zitat, „dass Klein das Modell des assimilierten und kosmopolitischen europäischen Juden verkörperte, der wenig interessiert an religiösen Fragen war, während Strauss aus einer deutsch-jüdischen Familie aus der Provinz stammte, die stets das ‚Zeremonialgesetz‘ beobachtet hatte.“ Tanguay: Leo Strauss, S. 28 (meine Übersetzung – PL). Diese Schlussfolgerung vermag nicht zu überzeugen, weil das deutsche, sogenannte „assimilierte“ Judentum sich selbst eben nicht als kosmopolitisch-europäisch, sondern als bürgerlich und deutsch verstand. Dem kam das Profil der Familie Strauss ungeachtet der eher orthodoxen Ausrichtung viel näher. 73 Leo Strauss an Jacob Klein, 31. Dezember 1933. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe. Hrsg. v. Heinrich und Wiebke Meier. Stuttgart, Weimar 2001, S. 484. 74 Klein, Strauss: A Giving of Accounts, S. 2 (meine Übersetzung – PL). 75 Vgl. dazu detaillierter Lenhard: Eine griechische Jeschiwa. 76 Vgl. Tanguay: Leo Strauss, S. 23. 77 Strauss bringt die Daten in A Giving of Accounts, S. 3 durcheinander und schreibt: 1925. Klein immatrikulierte sich am 6. Mai 1920 in Marburg und exmatrikulierte sich am 10. Februar 1922, hörte aber dennoch nach seiner Promotion bei Heidegger. Zu den Daten: Hessisches Staatsarchiv Marburg, Universitätsarchiv der Philipps-Universität Marburg, MR 305m 1 Nr. 74 und MR 307d Nr. 285. Zur Wohnsituation siehe Interview with Mrs Klein, S. 14.

218

9. Das richtige Leben

sondern sie wollten, wie sich Klein ausdrückte, „wiedererlernen, was die Alten wussten“.78 Für Klein bedeutete das, auf die Anfänge der griechischen Mathematik zurückzugehen, denen er sein Hauptwerk Die griechische Logistik und die Entstehung der Algebra widmete.79 Strauss dagegen zeigte zunächst vor allem Interesse an den Angriffen der Philosophie auf die jüdische Tradition und fragte sich zeitlebens, wie „Jerusalem“ diesen Angriffen durch „Athen“ standhalten könne. Diese Frage führte ihn zu seiner ersten Monographie, einer Studie über die Religionskritik Spinozas.80 Anders als Heidegger also, von dessen Art des Philosophierens sie zweifellos fasziniert waren, ging es Klein und Strauss zwar auch darum, die Fundamente der Moderne zu ergründen, aber sie hielten es für unmöglich, in eine voraufklärerische Welt zurückzukehren. Diese Fundamente freizulegen, führte sie mit Heidegger zusammen, aber ihre Schlüsse waren dann doch ganz andere. Klein interessierte sich vor allem für die Entstehung der modernen Algebra, die sich vom Objektbezug der Zahl zum immanenten Zahlenverhältnis entwickelt habe, Strauss dagegen beschäftigte sich besonders mit der Infragestellung der religiösen Offenbarung durch die Philosophie. Beide aber stimmten unabhängig von ihren jeweiligen Forschungsfeldern darin überein, dass die Erkenntnis dessen, was „die Alten“ wussten, nur möglich sei, wenn die Art des Lernens sich wieder der Tradition annäherte. Das schien ihnen Heidegger mit seiner Philosophie des Fragens vermitteln zu können. Philosophie verstanden sie als Lebensart, als Modell des „richtigen Lebens“. Ihr ideengeschichtlicher Zugang, der ohne Zweifel ebenfalls durch Heideggers Historismus beeinflusst war, sollte sie in die Lage versetzen, sich die Lebensweise „der Alten“ zu vergegenwärtigen und unter den Bedingungen der Moderne neu anzueignen.81 „Klein überzeugte mich von zwei Dingen“, erinnerte sich Strauss: Erstens: Die eine Sache, die philosophisch in erster Linie erforderlich ist, ist eine Rückkehr, eine Rückgewinnung [recovery] der klassischen Philosophie; zweitens: Die Art, in der Platon besonders von Philosophieprofessoren und Leuten, die Philosophie treiben, 78 Strauss: A Giving of Accounts, S. 1 (meine Übersetzung – PL). Zu dem Ausdruck „Zauberer von Meßkirch“ siehe Elzbieta Ettinger: Hannah Arendt, Martin Heidegger. Eine Geschichte. München, Zürich 1996, S. 16. Siehe auch Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929. Stuttgart 2018. 79 Jacob Klein: Die griechische Logistik und die Entstehung der Algebra. In: Quellen und Studien zur Geschichte der Mathematik, Astronomie und Physik. Abteilung B: Studien, Bd. 3, Heft 1, Berlin 1934, S. 18–105 und Heft 2, Berlin 1936, S. 122–235. Wiederveröffentlicht in englischer Sprache unter dem Titel: Greek Mathematical Thought and the Origin of Algebra. Cambridge 1968. 80 Leo Strauss: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-Politischem Traktat. Berlin 1930. Zum „theologisch-politischen Problem“ siehe den einschlägigen Essay von Heinrich Meier: Die Denkbewegung von Leo Strauss. Die Geschichte der Philosophie und die Intention des Philosophen. Stuttgart, Weimar 1996. 81 Zu Heideggers Historismuskritik und seinem eigenen Historismus siehe Jeffrey Andrew Barash: Heidegger und der Historismus. Sinn der Geschichte und Geschichtlichkeit des Sinns. Würzburg 1999.

9.4. Politik der Freundschaft

219

gelesen wird, ist vollkommen inadäquat, weil sie nicht den dramatischen Charakter der Dialoge berücksichtigt, auch und besonders der Teile, die fast wie philosophische Traktate aussehen.82

Die Philosophie als dramatischer Dialog, das bedeutete vor allem, dass sie weder isoliert und zurückgezogen studiert noch ex cathedra gelehrt werden könne.83 Stattdessen vollziehe sie sich im ständigen Pro und Contra der Gemeinschaft der Philosophen. Daher gehöre zur Wiederentdeckung der klassischen Philosophie vor allem die Reaktivierung der philia, der Freundschaft also, der Aristoteles nicht ohne Grund so viel Aufmerksamkeit hatte zuteilwerden lassen.84

9.4. Politik der Freundschaft Und so versuchten Strauss und Klein ihre persönliche Freundschaft in eine philosophische zu übersetzen, in der das Zwiegespräch, der sokratische Dialog, im Zentrum stand. Die spärlichen Informationen, die wir über die frühen Freundschaftsjahre haben, weisen darauf hin, dass die systematischeren Äußerungen zur Freundschaft, die vor allem Strauss Jahrzehnte später formulierte, genau hier ihren Anfang nahmen.85 In seinem programmatischen Essay What is Political Philosophy? von 1959 heißt es: Das Phänomen, das jetzt das Ich-Du-Verhältnis genannt wird, war den Klassikern unter dem Namen Freundschaft bekannt. Wenn ich mit einem Freund spreche, adressiere ich ihn in der zweiten Person. Aber eine philosophische oder wissenschaftliche Analyse ist nicht das Sprechen zu einem Freund, das heißt zu diesem Individuum hier und jetzt, sondern das Sprechen zu jedem, der sich mit solchen Analysen beschäftigt. Solch eine Analyse kann kein Ersatz für das gemeinsame Leben als Freunde sein; sie kann bestenfalls auf ein solches Zusammenleben verweisen oder ein Verlangen danach hervorrufen. Wenn ich mit jemandem spreche, zu dem ich ein enges Verhältnis habe, nenne ich ihn einen Freund. Ich nenne ihn nicht mein Du.86  Klein, Strauss: A Giving of Accounts, S. 3 (meine Übersetzung – PL).

82

83 Vgl. dazu die Einleitung des Kommentars zu Platons Meno, den Klein laut eigener Aussage

bereits in Deutschland ausgearbeitet hatte. Jacob Klein: A Commentary on Plato’s Meno. Chapel Hill 1965, S. V und 3–10. 84 Die Grenzen der griechischen philia als einer Form des richtigen Lebens deutete Klein in einem Brief an Gerhard Krüger an, wenn er festhielt, dass die Griechen nicht zwischen Existenz und Essenz unterschieden hätten: „Griechische Ethik ist eine ‚Physik‘ des menschlichen Zusammenlebens in der [polis], und daß es ein [agathon] gibt ist ebenso wenig fraglich, wie daß es ein [agathon] in der ‚Natur‘ gibt.“ Jacob Klein an Gerhard Krüger, 14. März 1930. In: Ausgewählte Briefe von Jacob Klein an Gerhard Krüger, 1929–1933. Transkribiert und hrsg. v. Emmanuel Patard. In: The New Yearbook for Phenomenology and Phenomenolical Philosophy 6 (2006), S. 314. 85 Zur späteren Philosophie der Freundschaft siehe Lenhard: Eine griechische Jeschiwa. 86 Leo Strauss: What is Political Philosophy? [1959]. In: Ders.: An Introduction to Political Philosophy. Ten Essays. Hrsg. v. Hilail Gildin. Detroit 1989, S. 27 (meine Übersetzung – PL).

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9. Das richtige Leben

Strauss hob hervor, dass die Freundschaft keine bloße Idee oder eine zufällige Bekanntschaft ist, sondern das gemeinsame Leben als Freunde meint. Die klassische Frage „Wie soll ich leben?“ beantwortete er eindeutig: als Freund. 1925 erhielt Strauss eine Anstellung an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, während Klein sich in der deutschen Hauptstadt wieder dem Studium der theoretischen Physik widmete, unter anderem bei Max Planck und Erwin Schrödinger.87 Gemeinsam arbeiteten sie täglich in der Preußischen Staatsbibliothek, nur um anschließend in eines der benachbarten Kaffeehäuser auszuschwärmen, wo sie mit Gleich- und Ungleichgesinnten bis tief in die Nacht hinein diskutierten.88 Der Philosoph Simon Kaplan (1893–1979), ein Freund aus der Berliner Zeit, erinnert sich, Jacob Klein habe Strauss eines Tages mit in einen Diskussionszirkel russischer Emigranten geschleppt, an dem Philosophen, orthodoxe Theologen und Talmud-Gelehrte teilgenommen hätten.89 Einem anderen Zirkel, in dem die Freunde in den zwanziger Jahren diskutierten, gehörten die Philosophen Alexandre Kojève (1902–1968) und Aaron Steinberg (1891–1975) an, von letzterem übersetzte Klein später sogar ein Buch über Dostojewski aus dem Russischen ins Deutsche.90 Doch keiner dieser Zirkel konnte an die Stelle der philia zwischen den beiden Freunden Klein und Strauss treten. Auf die Frage, was die beiden zueinander geführt habe, antwortete Kleins Schülerin und enge Freundin Eva Brann 2009: „Jasha [Jacob Klein] hat oft betont, dass dies wirklich eine Freundschaft des Intellekts, der Seele war. Ich denke, was sie zusammengebracht hat war, dass sie beide entdeckt hatten, wie Texte zu lesen seien; aber nicht jeder für sich allein.“91 Und tatsächlich scheint das gemeinsame Lesen, das dem dramatischen Dialog nachempfunden war, jenseits aller emotionalen Bindung den inhaltlichen Kern ihrer Beziehung ausgemacht zu haben. Wenn Brann sich erinnert, in Annapolis, wo Strauss und Klein ihren Lebensabend philosophierend miteinander verbrachten, sei Sokrates ein „local hero“ gewesen, war das keine Übertreibung.92 Sokrates repräsentierte das „richtige Leben“, den Philosophen. Doch es liegt nahe, bei der philosophischen Freundschaft auch an die rabbinische Lerngemeinschaft zu denken, die chevruta, die, wie wir bereits gesehen 87 Vgl.

Burt C. Hopkins: Jacob Klein. In: Daniele De Santis u. a. (Hg.): The Routledge Handbook of Phenomenology and Phenomenological Philosophy. Abingdon, New York 2021, S. 533. 88 Vgl. Strauss: An Unspoken Prologue, S. 1. 89 Simon Kaplan: Memorial Speech for Jacob Klein. In: The College 30, 2 (1979), S. 21. Möglicherweise handelte es sich um die Zusammenkünfte, die der russisch-jüdische Kulturphilosoph David Koigen (1879–1933) in seiner Wohnung in der Mommsenstraße abhielt. 90 A[aron] S[acharowitsch] Steinberg: Die Idee der Freiheit. Ein Dostojewskij-Buch. Übersetzt von Jakob Klein. Luzern 1936. Der russische Sozialrevolutionär und zeitweilige sowjetische Justizminister Isaac Nachman Steinberg war sein älterer Bruder. 91 Eva Brann, George Anastaplo: Glimpses of Leo Strauss, Jacob Klein, and St. John’s College. In: George Anastaplo: The Christian Heritage: Problems and Prospects. Lanham 2010, S. 364 f. (meine Übersetzung – PL). 92 Ebd., S. 362.

9.4. Politik der Freundschaft

221

haben, auf den Lehrsatz „Mach dir einen Mentor und erwirb dir einen Freund“ im Traktat Pirkej Avot zurückgeht.93 Diese Schlüsselstelle wird in dem viel gelesenen frühmittelalterlichen Kommentar Avot de-Rabbi Natan folgendermaßen erklärt: Wie erwirbt man einen Freund? Ein Mensch sollte sich einen Freund erwerben, indem er mit ihm trinkt und isst, mit ihm liest [das heißt die Torah studiert] und wiederholt [diskutiert], ihn bei sich schlafen und wohnen lässt, seine privatesten Gedanken mit ihm teilt – Gedanken über die Torah und über das Leben.94

Die Freunde könnten sich, heißt es in dem Kommentar, gegenseitig korrigieren, wenn sie Fehler machten oder unabsichtlich gegen ein Gebot verstießen. Auch wenn Strauss später betonte, seine Familie habe zwar streng nach der Halacha gelebt, er selbst habe aber – abgesehen vom Religionsunterricht in der Schule – kaum Wissen über das Judentum gehabt, ist davon auszugehen, dass er sich später sehr genau mit rabbinischen Formen des Lesens und Lernens beschäftigte. Er selbst machte einen Wandel vom politischen Zionisten zum skeptischen Philosophen durch und das bedeutete für ihn vor allem, sich verstärkt mit der jüdischen Tradition auseinanderzusetzen.95 Die Textexegese des jungen Strauss vergleicht der Historiker Eugene Sheppard insofern nicht zufällig mit einer „invertierten Form des pilpul, der konventionellen talmudischen Exegese“ und verweist darauf, dass Strauss bereits 1924 Hermann Cohen für seine Nähe zur rabbinischen Auslegungstradition kritisiert hatte.96 Es sei „bezeichnend für Cohens Stil“, heißt es in einem Beitrag Strauss’ in Bubers Zeitschrift Der Jude, dass Cohen „die Kritik eines Gedankens in die Kritik des vielleicht zufälligen Ausdrucks für den Gedanken kleidet. Dies ist die Art unserer intensiven, eindringlichen, die Worte schwer und ernst nehmenden traditionellen Auslegungskunst.“97 Doch schon kurze Zeit später sollte Strauss selbst auf diese traditionelle Auslegungskunst zurückgreifen und eine besondere Methodik des 93 bT

Pirkej Avot 1, 6. avot de-Rabbi Natan. Hrsg. v. Solomon Schechter. London 1887, Textvariante A, S. 36. Ähnlich auch der anti-maimonideische Rabbiner Jonah Gerondi in seinem Kommentar aus dem 13. Jahrhundert: Pirkej Avot im Rashi we-Rabenu Jonah. Hrsg. v. Simchah Dolitzki. Berlin, Altona 1848, 1, 6. 95 Vgl. dazu sein Vorwort zur englischen Ausgabe des Spinozabuches, das er selbst in einem Brief an Gershom Scholem als einen Text bezeichnete, „der einer Autobiographie so nahe kommt, wie es mit Anstand vereinbar ist“. Leo Strauss an Gershom Scholem, 4. Mai 1962. In: Leo Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe. Hrsg. v. Heinrich und Wiebke Meier. Stuttgart, Weimar 2001, S. 746. Die Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition ist nicht nur durch Strauss’ Maimonidesstudien eindeutig belegt. Leo Strauss: Preface to the English Edition [1962]. In: Ders.: Spinoza’s Critique of Religion. Chicago, London 1997, S. 1–31. 96 Sheppard: Leo Strauss, S. 20 (meine Übersetzung – PL). 97 Leo Strauss: Cohens’ Analyse der Bibel-Wissenschaft Spinozas [1924]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften. Hrsg. v. Heinrich Meier. Stuttgart, Weimar 32008, S. 363. 94 Masechet

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9. Das richtige Leben

Zwischen-den-Zeilen-Lesens entwickeln, die es ermöglichen sollte, zwischen einem esoterischen (philosophischen) Sinn und seiner exoterischen (religiösen) Form zu unterscheiden.98 Dieser Methodik entsprechend war der „Ausdruck für den Gedanken“ häufig gerade nicht „zufällig“, sondern Index einer esoterischen Strategie. Schon in seinem 1928 fertiggestellten Spinoza-Buch, das 1930 erschien, verteidigte er daher die rabbinische Tradition explizit gegen die moderne Bibelwissenschaft.99 Noch deutlicher wird der, wenn man so will: esoterische Rekurs auf die rabbinische Tradition der chevruta aber in der Bildungslehre Jacob Kleins, deren Ausarbeitung er laut eigener Aussage schon in Deutschland begann, die er aber dann vor allem nach seiner Emigration in Annapolis im Hinblick auf die Schaffung einer „real community of learners“ praktisch anwendete.100 Der griechische Einfluss auf dieses Ideal der Lerngemeinschaft ist offensichtlich und von ihm vielfach hervorgehoben worden; anders sieht es mit dem Einfluss der jüdischen Gelehrtenkultur aus.101 Kleins Geburtsort, die Hafenstadt Libau (Liepāja), liegt keine hundert Kilometer von einer der bedeutendsten talmudischen Lehranstalten entfernt, der berühmten Jeschiwa von Telz (Telšiai), in der systematisch neue Lehr- und Lernmethoden entwickelt wurden.102 „Unser ganzes Ziel ist es“, heißt es in einer offiziellen Publikation der Jeschiwa aus dem Jahr 1894, „den Studenten den richtigen Weg des Talmudstudiums beizubringen, das heißt jeden Gegenstand mit den Mitteln des Verstandes, wie es für den aufrichtigen und gesunden Intellekt vertretbar ist, zu verstehen“.103 Angesichts der Tatsache, dass Kleins Großeltern streng orthodox waren, ist davon auszugehen, dass die rabbinische Gelehrten 98 Leo Strauss: Philosophie und Gesetz: Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer. Berlin 1935. Ausgeführt wird diese Methode in Leo Strauss: Persecution and the Art of Writing [1952]. Chicago 1988.  99 Vgl. Strauss: Die Religionskritik Spinozas, S. 91–100. Dies beinhaltete schon in dem Spinoza-Buch eine Apologie des Elitismus, denn Spinoza hatte ja behauptet, die Bibel sei für die unwissenden Massen geschrieben worden, um sie zu manipulieren. Mit Maimonides (und Platon) hielt Strauss dem entgegen, dass die tiefsten Geheimnisse der Torah (sod) nur für eine intellektuelle Elite zugänglich sein dürften, weil sie die Massen irreleiten würden. 100 Klein, Strauss: A Giving of Accounts, S. 1. 101 Jenny R. Labendz: Socratic Torah: Non-Jews in Rabbinic Intellectual Culture. Oxford, New York 2013, S. 35–66 und Jacob Howland: Plato and the Talmud. New York 2011 zeigen, dass sich bereits im Babylonischen Talmud rabbinische Affinitäten zum sokratischen Dialog nachweisen lassen. 102 Vgl. Shaul Stampfer: Lithuanian Yeshivas of the Nineteenth Century: Creating a Tradition of Learning. Oxford 2012, S. 286–336. In Telz lebten zur Zeit von Kleins Kindheit etwa 3.000 Juden und stellten damit etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Vgl. Yehuda Slutsky: Telsiai. In: Michael Berenbaum, Fred Skolnik (Hg.): Encyclopaedia Judaica, Bd. 19. Detroit 22007, S. 598. Demgegenüber lebten in Libau zwar circa 10.000 Juden, die aber nur knapp 14 % der Einwohnerschaft bildeten. Vgl. Shmuel Spector, Joseph Gar: Liepaja. In: Michael Berenbaum, Fred Skolnik (Hg.): Encyclopaedia Judaica, Bd. 12. Detroit 22007, S. 817 f. 103 Zitiert nach Stampfer: Lithuanian Yeshivas, S. 295 (meine Übersetzung – PL).

9.4. Politik der Freundschaft

223

kultur in unmittelbarer Nachbarschaft – die Jeschiwa von Telz hatte immerhin 300 bis 350 Studenten – nicht spurlos an ihm vorübergegangen war, zumal mit der Hochschule ein weit über Telz hinaus bedeutsames Erziehungsnetzwerk mit Kindergarten, Grund- und weiterführenden Schulen für Knaben und Mädchen sowie ein Lehrerseminar verbunden war. Meir Atlas, einer der Gründer der Telzer Jeschiwa und eine der größten halachischen Autoritäten seiner Zeit, war zwischen 1887 und 1905 Oberrabbiner in Libau und hauchte der alteingesessenen jüdischen Gemeinde, die eigentlich stark von der deutsch-jüdischen Kultur geprägt war, neues Leben ein.104 So entstand auch in Libau ein umfangreiches jüdisches Schulwesen, einschließlich einer Talmud Torah-Schule und eines einflussreichen Rabbinerseminars.105 Vor allem aber war Libau als Hafenstadt ein Ort, an dem „polnische“ und „deutsche“ Juden, die schon sprachlich eigentlich zwei verschiedenen Welten angehörten, aufeinandertrafen und in engem Kontakt standen. Die Studenten der Telzer Jeschiwa wurden bewusst in umliegende Städte ausgesendet, um dort kleine, provisorische Ausbildungsstätten zu gründen, die Heranwachsende für das Studium an der Jeschiwa vorbereiten sollten. Libau als eine Stadt, die stark durch den Zuzug von jüdischen Arbeitsmigranten geprägt war, nahm hier eine besonders wichtige Stellung ein. Der Einfluss der jüdischen Gelehrtenkultur auf Kleins Bildungskonzeption, auf seine Vorstellung von Lehr- und Lerngemeinschaften, wie sie seinen Schriften und den Berichten seiner Studenten zu entnehmen ist, ist unverkennbar: In der Telzer Jeschiwa wie in Kleins Seminaren stand nicht der Mensch im Vordergrund, auch nicht der Lehrer – sondern der Text. In Telz diente der shi’ur, der tägliche Vortrag des Vorsitzenden der Jeschiwa, dazu, „den Pfad des Studiums festzulegen und die Studenten zu ermutigen, sich immer tiefer in ihre Studien zu versenken“, wie sich ein Student ausdrückte.106 Und auch in St. John’s befragten die Studenten den Text auf das Wissen, das in ihm steckt, das bisweilen als hermetisch erscheint und in den einzelnen Wörtern und ihren Verknüpfungen verborgen ist.107 Klein war kein Mystiker, aber fest davon überzeugt, dass sich die Wahrheit, um die es dem Philosophen einzig gehe, nicht feststellen oder gar auswendig lernen lässt, sondern nur in der praktischen Auseinandersetzung, im Disput gewonnen werden kann. In dieser Hinsicht sei der Gelehrte dem Studenten gleichgestellt: Ersterer hilft seinen Schülern dabei, ihm auf Augenhöhe zu begegnen, damit sie gemeinsam um die Wahrheit streiten könnten. 104 Vgl.

Nancy Schoenburg, Stuart Schoenburg: Lithuanian Jewish Communities. Northvale 1996, S. 323. 105 Vgl. Nicholas J. Evans: The Port Jews of Libau, 1880–1914. In: Jewish Culture and History 7, 1–2 (2004), S. 201. 106 Bericht des Telzer Studenten Simhah Asaf, zitiert nach Stampfer: Lithuanian Yeshivas, S. 304 (meine Übersetzung – PL). 107 Vgl. Jacob Klein: The Art of Questioning and The Liberal Arts [1956]. In: The College XXX, 2 (Januar 1979), S. 1–5.

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9. Das richtige Leben

Klein orientierte sich dabei ausdrücklich am Schülerverhältnis zwischen Platon und Aristoteles: Ich denke, man kann sicher sagen, dass Aristoteles’ Beziehung zu Platon ein herausragendes Beispiel für die wahre Schüler-Lehrer-Beziehung ist: des Schülers unerschütterliche Loyalität zum Lehrer manifestiert sich in der Hingabe des Schülers an die Wahrheit, auch wenn diese Hingabe den Schüler dazu bringt, den Lehrer abzulehnen.108

Im Disput über die richtige Auslegung gründe sich zwischen den Lernenden ein neues soziales Verhältnis, das im Zeichen der Wahrheit steht: „Die Kameraden der Akademie nannten sich selbst ‚Freunde‘ (φίλοι). In einer Elegie […] spricht Aristoteles von einem Altar, welcher der ‚heiligen Freundschaft‘ gewidmet ist, und bezieht sich unmissverständlich auf Platon […].“109 Was Klein hier als griechisches Konzept der Akademie der Freunde beschreibt, hat seine jüdische Entsprechung in der chevruta, der „Kameradschaft“ der Talmudstudenten, die zusammen Lehrgemeinschaften bilden. In Telz kamen die chevrutot, die nebeneinander lernten, regelmäßig zum shi’ur zusammen, zur Lesung und Erörterung eines bestimmten Torah-Abschnitts.110 Neben dem täglichen Vortrag fand am Ende jeder Woche, oft unmittelbar vor dem Shabbat, der große shi’ur klali (allgemeiner Vortrag) statt, in dem der Vorsitzender der Jeschiwa das Erlernte zusammenfasste. Auch in St. John’s gab es einen solchen shi’ur klali, allerdings in säkularisierter Form: die von Klein eingeführte Institution der „Friday Night Lecture“, die stets – scheinbar zufällig mit Anbruch des Shabbat – den feierlichen Endpunkt einer Woche des Lernens und Studierens bildete. Im Anschluss an die Lecture versammelte Klein in seinem Haus Freunde und Studenten um sich, während seine Frau Else (genannt „Dodo“) Speisen auftischte.111 Diese Form der Lerngemeinschaft entsprach für Klein und auch für Strauss, der sich bewusst im hohen Alter dafür entschied, in die unmittelbare Nachbarschaft seines Freundes zu ziehen, dem „richtigen Leben“.112 So wichtig besonders 108 Jacob Klein: Aristotle, an Introduction [1962]. In: Ders.: Lectures and Essays. Annapolis 1985, S. 174 (meine Übersetzung, PL). 109 Ebd. (meine Übersetzung, PL). 110 Der shi’ur existiert als Lehrmethode bereits seit der Zeit der Rabbinen. Vgl. zum shi’ur in Telz Doron Narkiss (Hg.): Synagogues in Lithuania, Bd. 2. Vilnius 2012, S. 170. 111 Else Klein (1903–1992), geborene Tammann, stammte ebenfalls aus einer russischen Familie und war die frühere Ehefrau von Edmund Husserls Bruder Gerhart. Jacob Klein hatte Edmund Husserls Tochter Elisabeth Rosenberg in einem Platon-Seminar unterrichtet, die ihn dann ihrem Onkel und dessen Frau vorstellte. Sie freundeten sich an und nachdem die Ehe der Husserls 1948 geschieden wurde, heirateten Klein und „Dodo“ 1950 in Annapolis. Vgl. Burt C. Hopkins: Husserl and Jacob Klein. In: Ronny Miron (Hg.): Husserl and Other Phenomenologists. Abingdon, New York 2018, S. 89, Anm. 14. 112 Beide sahen allerdings auch die begrenzte Reichweite der Freundschaft. Sie sei Voraussetzung und Basis „der Stadt“, das heißt der polis, aber sie lasse sich nicht zum Staatswesen verallgemeinern. Vgl. Jacob Klein: The Problem of Freedom [1952]. In: Ders.: Lectures and Essays. Annapolis 1985, S. 121 und Leo Strauss: The City and Man. Chicago, London 1964, S. 38.

9.4. Politik der Freundschaft

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für Klein die Studenten und Kollegen des kleinen Liberal Arts Colleges waren, so stach dennoch stets die Freundschaft zu Strauss, die über fünfzig Jahre währte, als einzigartig heraus. Ihre „Kameradschaft“, ihre „heilige Freundschaft“, ihre philia, ihre chevruta war für sie der Inbegriff des philosophischen Lebens.

10. Der Freund als Mitmensch .‫ואהבת לרעך כמוך‬ Leviticus 19, 18

1

Als Leo Strauss und Jacob Klein in Marburg studierten, waren sie nicht die einzigen jungen jüdischen Intellektuellen, die sich im Kreis um Martin Heidegger bewegten und gleichermaßen von ihrem Lehrer fasziniert waren wie sie sich philosophisch von ihm abzusetzen versuchten. Für viele von ihnen war das Problem der Freundschaft ein zentraler Baustein dieser Absetzbewegung. Ein besonders markantes Beispiel dafür ist der Philosoph Karl Löwith (1897–1973), in dessen Habilitationsschrift Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen von 1928 sich nicht nur philosophische, sondern auch biographische Erfahrungen aufs äußerste verdichteten. Löwith orientierte sich dabei, anders als seine Kommilitonen Strauss und Klein, nicht an der griechischen Antike, sondern konzentrierte sich vielmehr auf eine phänomenologische Analyse des „Mit-Einanderseins“. Die ­Suche nach Freundschaft war für Löwith freilich kein rein akademisches Problem, sondern eine existenzielle Frage. Mehr als alles andere, so stellte er 1921 in einem Brief an seinen Lehrer Heidegger fest, plage ihn „das ‚Problem‘ der Freundschaft, mein verhängnisvollstes beinahe“.2 Neben der Philosophie sei die Freundschaft der „Pfahl im Fleisch“, der ihn unaufhörlich antreibe.3 Im weiteren Verlauf seiner Karriere sollte Löwith beides verbinden und zu einem der bemerkenswertesten Philosophen der Freundschaft werden.

10.1. Karl Löwith und das Judentum Doch welche Rolle spielte das Judentum in dieser Philosophie der Freundschaft? Und wie verhielt sich diese Philosophie zu Löwiths persönlicher Existenz? Das Judentum war für ihn nichts Selbstverständliches, sondern etwas von außen Aufgezwungenes. Die Freundschaft schien einen Weg zu bahnen, mit diesem Zwang 1 Hebräisch:

„Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ Löwith an Martin Heidegger, 26. Februar 1921. In: Martin Heidegger, Karl Löwith: Briefwechsel 1919–1973. Hrsg. u. kommentiert von Alfred Denker. Freiburg, München 2017, S. 39. 3 Karl Löwith an Martin Heidegger, 17. August 1922. In: Heidegger, Löwith: Briefwechsel, S. 61. 2 Karl

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10. Der Freund als Mitmensch

umzugehen. Mitte der zwanziger Jahre verfasste Löwith eine autobiographische Novelle, in der zwar die Namen der leicht zu entschlüsselnden Personen verändert sind, die aber dennoch tiefgreifende Einblicke in die Gefühls- und Erfahrungswelten des damals 28-jährigen vermitteln.4 Das Manuskript unter dem Titel Fiala – Die Geschichte einer Versuchung ist Teil des Löwith-Nachlasses im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und wurde erst 2019 in einem kleinen Verlag in geringer Auflage vollständig ediert.5 Anders als sein 1940 in der japanischen Emigration geschriebener Bericht Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, der in mehreren Auflagen gedruckt wurde und als Klassiker der Exilliteratur gelten kann, ist sein Fiala bisher kaum beachtet worden. Für die Geschichte der Freundschaft – und speziell die jüdischen Aspekte dieser Geschichte – ist aber die autobiographische Erzählung von 1926 ein kostbarer Schatz, zumal sie noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Verhängung der antisemitischen Maßnahmen entstanden ist. Inwiefern Karl Löwith, der sich schon in jungen Jahren als „geborener Flüchtling“ empfand, überhaupt ein „jüdischer Intellektueller“ war, wie oben behauptet wurde, ist eine komplexe Frage, die sich nur durch eine Rekonstruktion seines Lebensweges beantworten lässt. Dieser Weg war durch die Suche nach wahrer Freundschaft gekennzeichnet. 1897 in München als Sohn des Kunstmalers Walter Löwith und seiner Frau Margarete geboren, war Karl Löwith, wie schon seine Eltern, protestantisch getauft und fühlte sich ganz als Deutscher.6 Schon als Jugendlicher begann er mit der als beengt und spießig empfundenen Welt seiner Eltern zu hadern. Die Familie war zweifellos Teil des Münchner Bürgertums, zugleich aber war Löwiths Vater ein Dienstleister für die wirklich Wohlhabenden und Saturierten. Er bemalte „Tafeln aus ausländischem Holz und von kleinem Format mit schönen, leuchtenden Ölfarben, die unter seiner Hand sehr rasch den stereotypen Umriss von grimmigen oder schmunzelnden Rokokoherren und Kardinälen einnahmen“.7 Sein Sohn identifizierte die stereotypen Figuren der Gemälde mit der Kundschaft, die sie kaufte. Damit schien sein Vater in der Tradition der Hofmalerei zu stehen und eine Art moderner Kammerdiener für die Mächtigen zu sein; er schuf austauschbare Waren, die die Repräsentationsbedürfnisse der Herrschenden be4 Löwith selbst betrachtete die Novelle als „Lebensgeschichte“. Siehe seine handschriftliche Anmerkung im Manuskript: DLA Marbach, A: Löwith 90.15.1, S. 22a. Im Originalmanuskript sind die echten Namen durchgestrichen und durch literarische Pseudonyme ersetzt, beispielsweise „Gothein“ durch „Egon“ oder „Heidegger“ durch „Ansorge“. 5 DLA Marbach, A: Löwith 90.15.1, 107 Blatt. Erste Ausschnitte präsentierte bereits Dominic Kaegi: Karl Löwith, „Fiala. Die Geschichte einer Versuchung“. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (1997), S. 139–167. 6 Der Herausgeber des Briefwechsels mit Martin Heidegger gibt dessen ungeachtet wie selbstverständlich an, Löwiths Eltern seien „jüdisch“ gewesen. Heidegger, Löwith: Briefwechsel, S. 215 und 315. 7 Karl Löwith: Fiala: Die Geschichte einer Versuchung [1926]. Hrsg. v. Klaus Hölzer. Berlin 2019, S. 12.

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friedigten. Walter Löwiths Sohn betrachtete das Gewerbe seines Vaters folglich nicht als Kunst, sondern verächtlich als bloßes Kunsthandwerk. Die Missachtung des väterlichen Berufes führte Löwith zur Philosophie, in der er Antworten auf die großen Fragen seiner Existenz suchte – sehr zum Missfallen des Vaters, der nicht ganz zu Unrecht in der Philosophie eine brotlose Kunst witterte und seinen Spross anwies, gefälligst einen ordentlichen Beruf zu erlernen. Löwith wurde „von seinem wilhelminischen Vater, dem er im Übrigen sein Bestes zu verdanken hatte, nicht eigentlich missverstanden sondern überhaupt nicht verstanden, denn für seinen Vater war er höchstens ein lebendiger Widerstand, aber ein unverständliches Rätsel.“8 Der junge Löwith sah sich gedrängt, das elterliche „Erbe zu bekämpfen“, und er durchleuchtete sein Inneres nach den vermeintlichen oder tatsächlichen Einflüssen, die seine Eltern auf ihn ausgeübt haben mochten.9 Seine „Empfindsamkeit für alles Kritische, Problematische und Negative“ schrieb er der „unglücklichen Natur seiner Mutter“ zu und sah sich folglich genötigt, „sie in sich“ zu bekämpfen.10 Der adoleszente Konflikt mit den Eltern, der durch den frühen Tod seiner fünf Jahre älteren Schwester 1908 noch verschärft wurde, kulminierte in der zunehmenden Entfremdung Löwiths von seinem Elternhaus und den damit verbundenen Wertvorstellungen. Gemeinsam mit seinem besten Freund und Mitschüler Ludwig Ludowici entdeckte er vor dem Ersten Weltkrieg die Philosophie Friedrich Nietzsches für sich und entfernte sich in der Folge immer mehr vom Christentum. Den Zarathustra lasen die rebellierenden Freunde „mit boshafter Vorliebe während des protestantischen Religionsunterrichts“.11 Die beiden Schüler waren nun überzeugt, dass „Gott tot ist“.12 Ludowici trat gar aus der Kirche aus und schloss sich einer „freireligiösen“ Gruppe an. So weit ging Löwith nicht. Aber Nietzsches Nihilismus hatte seine Gewissheiten erschüttert und ihm sämtliche Illusionen über den Sinn seiner Existenz geraubt. Als dann im Sommer 1914 auch noch aus Gründen, die er nicht verstand, die Freundschaft mit Ludowici zerbrach – erst nach dem Krieg realisierte er, dass dieser ihn aufgrund seiner jüdischen Herkunft zurückgewiesen hatte –, sah Löwith in seiner Verzweiflung keinen anderen Ausweg, als sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. Nur der Heldentod des Soldaten schien seinem Leben einen Sinn zurückzugeben. Wie viele andere junge Männer seiner Generation suchte er im Krieg nicht bloß Abenteuer und Zerstreuung, sondern etwas, das seinem Leben Bedeutung verleihen könnte. Löwith hatte nicht ahnen können, dass der Krieg in eine gigantische europäische Vernichtungsschlacht münden würde, die ganz  8 Ebd.

 9 Ebd., 10 Ebd.

S. 13.

11 Zitiert

nach Wiebrecht Ries: Karl Löwith. Stuttgart 1992, S. 16. Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1886]. Mit einem Essay von Thomas Mann. Frankfurt am Main, Leipzig 2000, S. 13. 12 Friedrich

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und gar nichts Heroisches an sich hatte. Doch sein Drang, das eigene Leben hinzugeben, entsprang ohnehin weniger übersteigertem Patriotismus als vielmehr dem Überdruss des eigenen Lebens. Er verglich seinen inneren Kampf mit dem des jüdischen Stammvaters Jakob, der am Fluss Jabbok mit einem Engel gerungen hatte.13 Anders aber als Jakob, der dem Kampf standhält, schien Löwith seiner „Angst vor dem Leben“ zu erliegen.14 Nachdem ein erster Suizidversuch im Dezember 1914 scheiterte, stürzte er sich ein halbes Jahr später in die feindlichen Stellungen, angetrieben durch die „unkriegerische Hoffnung, bei dieser Gelegenheit auf anständige Weise ums Leben zu kommen“.15 Er wurde schwer verletzt, ein Lungenflügel durchschossen, doch er überlebte knapp. In italienischer Kriegsgefangenschaft erholte sich sein geschundener Körper langsam, doch die Lunge blieb auf immer beschädigt, so dass er für den Rest seines Lebens Probleme beim Sprechen haben sollte.16 Erst 1917 konnte er nach München zurückkehren und begann dort – gleichsam seine eigenen Interessen mit dem väterlichen Wunsch nach einer ordentlichen Ausbildung verbindend – ein Studium der Biologie und Philosophie. Doch es waren nicht so sehr die Vorlesungen, die seinen neuen Alltag als heimgekehrter „Kriegsheld“ bestimmten, als vielmehr die Suche nach einer neuen Freundschaft, die das noch immer schmerzende Zerwürfnis mit dem Jugendfreund überdecken könnte. Ludowicis erster Nachfolger als Intimus war der dem George-Kreis angehörende Schriftsteller Percy Gothein (1896–1944), selbst Sprössling einer zum Protestantismus übergetretenen jüdischen Familie.17 Schon in dieser Zeit lehnte Löwith Georges autoritären Elitismus ab und versuchte, Gothein als exklusiven Freund aus dem Kreis herauszulösen. „Die Anziehungskraft, welche Egon [d.i. Gothein] auf Fiala [Löwith] unwillkürlich aber gewolltermaßen ausübte, beruhte aber keineswegs auf der pseudo-liturgischen Programmatik seines Bannkreises“, stellte Löwith fest.18 Vielmehr ging es ihm um Gothein selbst, um die „wirkliche 13 Die rabbinische Auslegungstradition und auch die christliche Exegese sind sich uneins, ob Jakob mit einem Engel Gottes oder mit Gott selbst kämpfte. Jakob erhielt jedenfalls den Beinamen „Israel“, was auf Hebräisch „der mit Gott gerungen hat“ bedeutet. 14  Löwith: Fiala, S. 17. 15 Ebd., S. 19. 16 Vgl. Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht [1940]. Neuausgabe mit einer Vorbemerkung von Reinhart Koselleck und einer Nachbemerkung von Ada Löwith. Hrsg. v. Frank-Rutger Hausmann. Stuttgart, Weimar 2007, S. 3–6. Zu seinen Sprechproblemen, die auf die kriegsbedingte Kurzatmigkeit zurückgingen, vgl. Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Erweiterte Ausgabe mit neuem Vorwort. Frankfurt am Main 52018, S. 105. 17 Gotheins Vater, der bedeutende Nationalökonom Eberhard Gothein, war – wie Löwiths Vater – bereits getauft. Percys Großvater Hugo Gottheiner war als junger Mann zum Christentum übergetreten, seine Frau Marie Ehm kam aus dem protestantischen Bürgertum. Vgl. Bertram Schefold, Korinna Schönhärl: Gothein, Eberhard. In: Achim Aurnhammer u. a. (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 3. Berlin, Boston 2015, S. 1382. 18 Löwith: Fiala, S. 22.

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Bedeutsamkeit“ dieses „anspruchsvollen und radikalen, aber im Grunde wurzellosen Freundes“.19 Mit diesem Freund zusammen war auch Löwith ein anderer, gemeinsam entzogen sie sich der sinnlos gewordenen Welt und seiner als durchschnittlich und konformistisch wahrgenommenen Bewohner: Tage- und wochenlang saß dieses an Gestalt, Gangart, Temperament, Sprechweise und Handschrift so ungleiche Freundespaar beisammen, um sich über all das auszusprechen, was die Welt der Erwachsenen verständnislos und leichtfertig als Irrealitäten jugendlichen Überschwangs gutmütig verunglimpft und nur aus der Lektüre russischer Romane kennt. Die Samstagabende – sie währten oft bis zum Morgengrauen – welche Fiala mit halbem Herzen, aber in unendlicher Spannung auf die Eröffnung der Sieben Siegel, die ihm noch die Welt seines Freundes verschlossen, mit ihm verbrachte, hatten zum passenden Schauplatz ein kleines Bauernhäuschen an einer der schönsten Stellen des Isartales.20

Die Freundschaft des ungleichen Paares hatte damit einen konkreten Ort, der eine Ersatzwelt beherbergte, eine île heureuse, auf der die Gesetze der realen Welt ausgehebelt waren. Zu diesem Ort, das gemeinsam gemietete Bauernhaus, besaßen beide einen Schlüssel. „Da wir über die Freundschaft im tätigen Leben noch keinerlei Erfahrung gesammelt hatten“, so Gothein 1923/24 in seinen unveröffentlicht gebliebenen Erinnerungen, „hielten wir uns zunächst an das, was wir in Büchern darüber gelesen. Dies bildete auf lange Zeit hinaus unser liebstes Gespräch.“21 Die Freundschaft mit Gothein überstieg in ihrer Intensität die idealisierte Beziehung zu Ludowici beträchtlich, aber die erste Freundschaft blieb wie für Benjamins Beziehung zu Heinle immer das Urbild, das die Erwartungen für alle zukünftigen Freundschaften auf ein letztlich unerreichbares Niveau hob. Und so musste auch diese Freundschaft scheitern, wofür Löwith auf ewig der esoterischen Gemeinschaft Georges die Schuld geben sollte.22 Als Student in München hörte Löwith Max Webers berühmte Vorträge „Wissenschaft als Beruf “ und „Politik als Beruf “, verließ aber ähnlich wie Horkheimer und Pollock aufgrund der Verheerungen der Niederschlagung der Räterepublik – und wohl auch aufgrund der Trennung von Gothein – seine Heimat. Er 19 Ebd. Es sei angemerkt, dass die Juden den Antisemiten als besonders „wurzellos“ und kosmopolitisch galten. Löwith greift diese Zuschreibung hier auf, wendet sie aber ins Positive. 20 Ebd., S. 22 f. Vgl. auch Karlauf: Stefan George, S. 540 f. 21 Percy Gothein: Erinnerungen. Unveröffentlichtes Typoskript, 1923/24, S. 22. Zitiert nach Karlauf: Stefan George, S. 541. 22 1929 kam es noch einmal zu einer Annäherung von Seiten Gotheins, der plötzlich bei Löwith zu Hause auftauchte. In einem Brief vom 8. Dezember 1929 entschuldigte er sich, sein „plötzliches erscheinen in M.“ habe „längst versunkenes wieder aufgewühlt“. Percy Gothein an Karl Löwith, 8. Dezember 1929. DLA Marbach, A: Löwith 99.17.48–1. Dennoch bat er ihn, nachdem seine Habilitationsschrift über Francesco Barbaro abgelehnt worden war, um der alten Zeiten willen um Hilfe dabei, beruflich in Marburg Fuß zu fassen. Wenn Löwith sein Buch lese, werde er sicher „daraus die Stimme vernehmen die du von einigen Abenden in längst versunkenen Zeiten kennst, wenn mir die Zunge gelöst war und die auch mir in Erinnerung noch teuer sind“. Percy Gothein an Karl Löwith, 6. Januar 1932. DLA Marbach, A: Löwith 99.17.48–3.

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zog nach Freiburg, um bei dem bedeutenden Phänomenologen Edmund Husserl zu studieren und „neue Freundschaftsbande zu knüpfen“.23 Husserl, der „kein großer Philosoph“ sei, nahm er als Enttäuschung wahr, ja beschrieb ihn gar als „unendlich wirklichkeitsfremd und unlebendig und gelehrtenhaft-logisch“.24 Doch in Freiburg geriet er schnell in den Bannkreis des noch jungen Assistenten Martin Heidegger, mit dessen Werk und Wirken er sich zeitlebens kritisch auseinandersetzen sollte. Der Kreis, der sich um den jungen Philosophen bildete, wurde Löwiths neue Heimat. In die Freiburger Zeit fiel aber auch ein einschneidendes Ereignis, das Löwith unmittelbar mit seiner jüdischen Herkunft konfrontierte. Als er im Sommer 1920 auf einige Tage zu Besuch nach München fuhr, unternahm er einen letzten, verzweifelten Versuch, sich mit Ludowici, der noch in der bayerischen Hauptstadt lebte, auszusöhnen. Noch immer war das Scheitern dieser ersten und tiefsten Freundschaft für ihn eine klaffende Wunde, die nicht aufhörte zu bluten. Als Löwith an Ludowicis Tür läutete, tat sich zunächst gar nichts, bis schließlich dessen Ehefrau öffnete und dem verdutzten Löwith erklärte, sein alter Freund könne ihn nicht treffen, da er nun „bei Hitler“ sei, sich also der jungen NSDAP angeschlossen habe. Sie sahen sich nie wieder. „Von diesem Augenblick an“, so Löwith in seinen Erinnerungen, „begann für mich der Nationalsozialismus und mit ihm die Trennung von Deutschen und Juden“.25 Nur einige Wochen später, im Oktober 1920, erwähnte Heidegger in einem Brief eher beiläufig, er ziehe unter Husserls begabtesten Schülern eindeutig Oskar Becker vor, obwohl zwar dessen anderer Assistent, Arnold Metzger, „ganz genial“ und „erstklassig“ sei, aber „leider Jude“.26 Was Löwith konkret dachte, als er diese Abqualifizierung las, ist nicht bekannt. Er reagierte nicht direkt auf diese Spitze, aber in der Folgezeit machte er in der Korrespondenz mit Heidegger immer wieder deutlich, wie sehr er den Antisemitismus ablehnte. Aus München schrieb er beispielsweise an Heidegger, es sei „beängstigend“, wie sich „verstärkt durch bayerisches Bier  – der bornierteste Nationalismus und Antisemitismus breit“ mache.27 Die Forderungen der Münchner Studenten seien „haarsträubend. Z. B. wird da gefordert, dass die Universität nur 1 % jüdische Professoren haben dürfe, weil das dem Bevölkerungsprozentsatz entspräche.“28 Heidegger schwieg dazu. Löwith allerdings schien zu ahnen, dass sein Lehrer schon zu diesem Zeit23 Löwith: 24 Karl

Fiala, S. 24. Vgl. auch Löwith: Mein Leben, S. 18–28. Löwith an Martin Heidegger, 26. Februar 1921. In: Heidegger, Löwith: Briefwechsel,

S. 36. 25 Löwith: Mein Leben, S. 130. 26 Martin Heidegger an Karl Löwith, 20. Oktober 1920. In: Heidegger, Löwith: Briefwechsel, S. 24. Vermutlich handelte es sich hier um die Einschätzung Husserls, aus dessen Mund das Bedauern freilich einen ganz anderen Klang hatte. 27 Karl Löwith an Martin Heidegger, 7. Juli 1922. In: Heidegger, Löwith: Briefwechsel, S. 76. 28 Ebd.

10.2. Phänomenologie der Mitmenschlichkeit

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punkt mit eben jenem von ihm kritisierten politischen Milieu sympathisierte, und forderte ihn immer wieder heraus. Doch selbst wenn er ein Loblied auf den jüdischen Anarchisten Gustav Landauer sang  – dieser habe eine „intensivere Geistigkeit als sämtliche Professoren der Münchner Universität zusammen“29 gehabt – blieb Heidegger zurückhaltend hinsichtlich seiner eigenen politischen Anschauungen. Er beschied sich mit dem Hinweis, man könne die Wissenschaftstradition nicht dadurch überwinden, „daß man den ‚Intellektualismus‘ von verknöcherten Dozenten lächerlich macht“.30 Löwith blieb auch in den folgenden Jahren seiner Linie treu, Heidegger immer wieder mit seiner Ablehnung des Antisemitismus zu konfrontieren. Seine von Nietzsche und Schopenhauer beeinflusste Kritik des Christentums verband sich nun mit dem ihm dämmernden Bewusstsein, von anderen als Jude, als Paria wahrgenommen zu werden. Die Ahnung, ein Außenseiter zu sein, trieb ihn an die Seite anderer Außenseiter und so mag es nicht erstaunen, dass die meisten seiner engen Freunde genauso wie er einen jüdischen Konversionshintergrund hatten. Dazu zählten neben dem nichtjüdischen späteren Psychoanalytiker Walter Marseille (1901–1973), der 1933 als Antifaschist zunächst nach Wien gehen sollte, dort eine jüdische Frau heiraten und mit ihr zusammen nach dem „Anschluss“ in die USA emigrieren würde, vor allem die Philosophin Afra Geiger (1896–1945) und die Philologin Charlotte Grosser.31

10.2. Phänomenologie der Mitmenschlichkeit Aus Löwiths Sicht hatte ihn Freundschaft vor dem Tod bewahrt: Anfang 1922 nämlich unternahm er den dritten und letzten Suizidversuch – die titelgebende „Versuchung“ seines Fiala – und dieses Mal war es sein Freund Walter, der ihn 29 Karl Löwith an Martin Heidegger, 17. August 1921. In: Heidegger, Löwith: Briefwechsel, S. 44. 30 Martin Heidegger an Karl Löwith, 19. August 1921. In: Heidegger, Löwith: Briefwechsel, S. 55. 31 Geiger wird in der Literatur häufig als jüdisch bezeichnet, aber ihr vollständiger Name Afra Maria Crescentia Geiger deutet eher auf eine christliche Konfessionszugehörigkeit hin. Karl Löwith: My Life in Germany Before and After 1933. A Report. Translated by Elizabeth King. London 1994, S. 62 berichtet in der englischen Ausgabe seiner Erinnerungen, sie sei als „Halbjüdin“ von den Nationalsozialisten verfolgt worden und deshalb in die Niederlande emigriert, von wo aus sie verfolgten Verwandten bei der Flucht geholfen habe. Während der deutschen Besatzung wurde sie verhaftet und im September 1944 über Westerbork nach Bergen-Belsen verschleppt. Mitte Dezember 1944 wurde Geiger ins KZ Ravensbrück deportiert, wo sie am 1. Januar 1945 starb. Siehe die Angaben und Dokumente auf: https://www.oorlogsbronnen.nl/ tijdlijn/Afra-Maria-Crescentia-Geiger/02/47458 (letzter Zugriff: 12. 12. ​2022). Auch Charlotte Grosser war aus Sicht der NS-Rassenlehre „Halbjüdin“, konnte dies aber offenbar erfolgreich verschleiern. Als überzeugte Katholikin schloss sie sich nach 1933 einer klösterlichen Ordensgemeinschaft an und entzog sich damit der Verfolgung. Vgl. Löwith: My Life in Germany, S. 62.

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eine ganze Nacht lang davon überzeugte, dass das Leben dem Tod vorzuziehen sei. Eine wichtige, grundstürzende Einsicht, die Löwith ein für allemal vom Freitod Abschied nehmen ließ und philosophisch bereits seine Kritik an Heideggers „Sein zum Tode“ vorbereiten sollte. Er sei überzeugt, heißt es im Fiala (ein Jahr vor dem Erscheinen von Sein und Zeit) gegen Heidegger gerichtet, „dass die Angst vor dem Leben eine viel fundamentalere Tatsache ist als die christlich infizierte Angst vor dem Tode“.32 Nur indem Heidegger den Tod philosophisch derealisiere, könne er sein Denken als „Vorlaufen zum Tod“ verstehen.33 Der „vulgäre wirkliche Tod“ sei Heidegger fremd, daher könne er sich auch dem realen Leben nicht stellen.34 Auch später noch sollte dieser Einwand für Löwiths Heideggerkritik grundlegend bleiben, erstmals philosophisch ausbuchstabiert findet er sich in der unten noch zu diskutierenden Habilitationsschrift über Die Rolle des Mitmenschen, die – das ist kein Zufall – „dem Freunde Walter Marseille“ gewidmet ist, der ihm den Wert des Lebens in jener Nacht entscheidend vermittelte. Dieser intellektuellen Auseinandersetzung mit Heidegger ging jedoch zunächst eine räumliche Distanzierung voraus: 1922 kehrte Löwith vorübergehend nach München zurück, um bei dem Phänomenologen Moritz Geiger seine Dissertationsschrift über Nietzsches Selbst-Interpretationen vorzulegen. Es war die Zeit, in der Marseille und er wohl am intensivsten zusammen waren. Gemeinsam diskutierten sie nächtelang hindurch die philosophischen Fragen der Gegenwart und sein Freund tippte für ihn das Typoskript der Dissertation. Nachdem Löwith seine Dissertation abgeschlossen hatte, war er zunächst aus dem Dunstkreis seines Lehrers verschwunden und zog unstet umher, ohne zu wissen, wie es nun weitergehen sollte. Nach einer mehrere Monate währenden Stelle als Hauslehrer im mecklenburgischen Kogel kehrte er zunächst für ein halbes Jahr nach Freiburg zurück, nur um von dort aus nach Rom aufzubrechen, wo er eine Stelle als Buchhändler übernahm, auf der er die seelisch erkrankte Charlotte Grosser vertrat. Im Sommer 1925 kam er zurück nach München, wo er neben der Fertigstellung des Fiala auch seine Habilitation vorzubereiten begann. Er hatte sich nun endgültig entschieden, doch den Weg einer akademischen Karriere einzuschlagen – und damit zugleich seine Philosophie der Freundschaft gegen Heideggers versteckten Solipsismus in Anschlag zu bringen.35 32 Löwith:

Fiala, S. 31. Löwith dieser Kritik auch nach 1945 treu blieb, zeigt sein Buch Heidegger – Denker in dürftiger Zeit (Frankfurt am Main 1953). 34 Löwith: Fiala, S. 30. 35 Zu Heideggers „intersubjektivem existentialen Solipsismus“ siehe Thomas Rentsch: Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie. Stuttgart 1985, S. 232–242. Heidegger sah sich selbst mit Bezug auf Descartes als Kritiker des Solipsismus. Vgl. Harrison Hall: The Other Minds Problem in Early Heidegger. In: Human Studies 3, 3 (Juli 1980), S. 247–254. 33 Dass

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Aus biographischen Gründen konnte nur Heidegger selbst Betreuer dieser Habilitationsschrift sein. Der hatte gerade seine Arbeiten an dem bahnbrechenden Werk Sein und Zeit vollendet, das im Frühjahr 1927 noch mit einer Zueignung „in Verehrung und Freundschaft“ für Heideggers Förderer Edmund Husserl erschien.36 Schon ein Jahr später erhielt Heidegger einen Ruf an die Universität Freiburg, wo er künftig und bis 1946 lehrte. Sein und Zeit war eine Sensation und zog die jungen Intellektuellen, die sich um ihren Lehrer versammelten, gerade mit seiner existentialontologischen Frage nach „dem Sinn von Sein“ in den Bann.37 Das Buch schien eine völlig neue Perspektive auf die eigene Existenz zu werfen und tauchte die Welt in ein neues Licht. In dem Werk leuchtete die Möglichkeit einer „eigentlichen Existenz“ auf, also eines authentischen Lebens jenseits der als künstlich und materialistisch verachteten Normen der bürgerlichen Gesellschaft. Dazu zählte auch ein eigentümlicher Entwurf der philosophischen Gemeinschaft. Heidegger scharte einen Kreis von Schülern um sich, zu denen er ein gleichermaßen persönliches wie distanziertes Verhältnis unterhielt. Explizit hielt er gegenüber Löwith, der jahrelang versucht hatte, eine Freundschaft mit seinem Lehrer aufzubauen, fest, Kreise seien keine Freundschaften.38 Von „Kreisen“ aber hatte Löwith genug. Insbesondere seine schlechten Erfahrungen mit Percy Gotheins Aufgehen im George-Kreis hatten ihn überzeugt, dass in einem um einen Meister gebildeten Kreis echte, tiefe Freundschaften unmöglich waren.39 Gerade nach letzteren aber sehnte er sich. Unter echter Freundschaft verstand er eine egalitäre Beziehung auf Augenhöhe. Zu Heidegger unterhielt er deshalb ein persönliches Naheverhältnis, das nicht etwa von Unterwürfigkeit und permanenter Ehrerbietung, sondern durch scharfe, vehemente Kritik gekennzeichnet war – nicht immer zur Freude Heideggers. Die Korrespondenz zwischen Lehrer und Schüler aus den zwanziger Jahren dokumentiert Löwiths Sehnsucht nicht nach Jüngerschaft, sondern nach „Freundschaft“.40 Doch Heidegger wies diese, wie Reinhard Mehring schreibt, professionell zurück.41 Löwiths jahrelange „Bemühung um ein menschliches Verhältnis zu einem Mann, dessen ganzes Leben in der Abwehr persönlicher Verbindlichkeiten verlief “, blieb unerfüllt.42 Löwiths 36 In

den späteren Auflagen, die ab 1941 erschienen, war diese Zueignung getilgt. Heidegger: Sein und Zeit [1927]. Tübingen 182001, § 2, S. 5. 38 Vgl. Martin Heidegger an Karl Löwith, August 1927. In: Heidegger, Löwith: Briefwechsel, S. 152. 39 Siehe aber auch Hannah Arendts Abgrenzung des George- vom Heidegger-Kreis in: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt [1969]. In: Hannah Arendt: Menschen in finsteren Zeiten. Hrsg. v. Ursula Ludz. München, Zürich 32014, S. 182. Vgl. dazu Reinhard Mehring: Martin Heidegger und die „konservative Revolution“. Freiburg, München 2018, S. 96. 40 Karl Löwith an Martin Heidegger, 17. August 1922. In: Heidegger, Löwith: Briefwechsel, S. 61. 41 Mehring: Martin Heidegger, S. 98. 42 Löwith: Fiala, S. 31. 37 Martin

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Reaktion darauf ist bemerkenswert: Er schrieb ein dezidiert gegen Heidegger gerichtetes philosophisches Buch über die Freundschaft, gleichsam als wolle er seinem Lehrer ins Stammbuch schreiben, was mit diesem nicht stimme. Dazu bedurfte es einer gehörigen Portion Mut, denn nicht nur war Heidegger eine anerkannte philosophische Autorität, sondern auch noch der Gutachter für eben jene Habilitationsschrift über Freundschaft und Mitmenschlichkeit. Der philosophische Ausgangspunkt von Löwiths Buch war zweifellos das 1927 erschienene Werk Sein und Zeit. Wie alle anderen Schüler war auch er tief beeindruckt von Heideggers philosophischem Zugang zur Welt, aber sein Interesse galt eher einem vermeintlichen Nebenaspekt der Fundamentalontologie, nämlich dem, was in deren eigentümlich hermetischer Sprache das „Mitdasein“ hieß. Heidegger, der sich seinem eigenen Anspruch gemäß auf das In-der-WeltSein des Einzelnen konzentrierte, die sogenannte „Geworfenheit“, widmete dem sozialen Aspekt des Daseins lediglich einige Seiten. Mit dem „Dasein“, also dem einzelnen Menschen, seien andere „Dasein“ in der Welt „auch und mit da“, lautete seine banale Erkenntnis.43 Er legte Wert darauf, dass das Dasein aus ontologischer Perspektive „zunächst“ nicht auf Andere bezogen sei, sondern erst nachträglich „auch noch ‚mit‘ anderen sein“ könne.44 Dem gemeinsamen In-der-Welt-sein entspringe schließlich ein „Miteinandersein“, also eine soziale Beziehung, die sich nicht auf das Nebeneinander der Einzelnen beschränke, sondern in der die Einzelnen auch eine Verbindung eingingen. Heidegger unterschied im Wesentlichen zwei Formen dieses Miteinanderseins: das der gemeinsamen Besorgung (gewissermaßen die materielle Existenzsicherung) und das „gemeinsame Sicheinsetzen für dieselbe Sache“, wobei nur die zweite Form, die allerdings auf Misstrauen beruhe, „eigentliche Verbundenheit“ ermögliche.45 Bezeichnenderweise zeigte Heidegger am sozialen Aspekt der Lebenswelt wenig Interesse und hielt trocken fest, „das alltägliche Miteinandersein“ weise „mannigfache Mischformen“ auf, „deren Beschreibung und Klassifikation außerhalb der Grenzen dieser Untersuchung liegen“.46 Viel mehr hatte Heidegger zur gesellschaftlichen Existenz des Individuums nicht zu sagen.47 Zwar machte gerade jener schlecht kaschierte Solipsismus, der sich als tiefschürfender Blick auf die Wurzeln des Seins ausgab, Heidegger so attraktiv für nach Wahrhaftigkeit suchende junge Intellektuelle, aber viele seiner Schüler versuchten dennoch, die philosophische Einkerkerung des Individuums durch 43 Heidegger:

Sein und Zeit, § 26, S. 118. S. 120. 45 Ebd., S. 122. 46 Ebd. 47 Der Psychoanalytiker und Anthropologe Ludwig Binswanger kehrte diesen Mangel in seinem Buch Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (Zürich 1942) kritisch hervor und versuchte ihn, an Heideggers Analyse anknüpfend, durch die Einbeziehung des „Wir der liebenden Gemeinschaft“ zu beheben. 44 Ebd.,

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eine Erweiterung der Existentialanalyse auf das Soziale zu überwinden. Löwiths Abhandlung über Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen hakte genau an dem Punkt ein, wo Sein und Zeit abbrach. Aber Löwith war alles andere als ein folgsamer, untertäniger Schüler, der einfach das philosophische Modell seines Lehrers auf andere Bereiche übertrug. Im Gegenteil: Unter Rückgriff vor allem auf Ludwig Feuerbach kritisierte Löwith Heideggers Ignoranz gegenüber dem Sozialen.48 Im zweiten Kapitel, der sogenannten „Strukturanalyse des Miteinanderseins“, bezog er sich zunächst positiv auf Sein und Zeit, nur um im weiteren Verlauf der Darstellung immer weiter von Heidegger abzurücken. Dessen Konzeption des Miteinanderseins münde in „radikale Vereinzelung“, monierte er: „Die eigentlich positive Möglichkeit des Miteinanderseins, das Sein im Einander von erster und zweiter Person, von Du und Ich, wird somit übergangen.“49 Unter Rückgriff auf den Aufklärungsphilosophen Kant hielt er fest, dass sich die „Autonomie eines jeden“ erst „im autonomen Verhältnis des einen zum andern“ beweise.50 Höchster Ausdruck dieser Mitmenschlichkeit sei laut Kant das „Ideal der Freundschaft als der Vereinigung von ‚Liebe‘ und ‚Achtung‘“.51 Ohne ihn an dieser Stelle explizit zu nennen, war Löwiths kantianische Freundschaftstheorie ein Gegenentwurf zum Miteinandersein Heideggers. Dabei geriet der Begriff des „Besorgens“ in den Blick, den Löwith wie sein Lehrer als Ausdruck eines instrumentellen Verhältnisses betrachtete. Anders als dieser sah er jedoch das Potential einer wechselseitigen Beziehung: „In der Freundschaft sorgt ein jeder gerade dadurch für sich, daß er bemüht ist, das Wohl des andern zu besorgen“, hielt er in Verkehrung von Adam Smith’ Metapher der invisible hand fest. „Im Vertrauen auf die freiwillige Bereitschaft des einen ist aber der andere selbst so freimütig, eine solche nicht zu fordern.“52 Drei Wesenszüge der Freundschaft kommen hier zusammen: Die Sorge um den Anderen, das Vertrauen in den Anderen und die Freiwilligkeit der Beziehung. Alle diese Begriffe knüpften an Sein und Zeit an, setzten sich im Sinne einer immanenten Kritik aber auch davon ab. So hatte Heidegger zwei Formen der Sorge entwickelt: die Sorge um das eigene Selbst und die Fürsorge für den Anderen. Die Fürsorge führe entweder zu einem Abhängigkeitsverhältnis oder beschränke sich darauf, dem Anderen 48 Vgl. Giovanni Tidona: Über die Grenzen der Phänomenologie und unterwegs zur Dialogik. Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. In: Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme [1928]. Freiburg, München 2013, S. 22–25. 49 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme. München 1928, S. 80 (im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert). 50 Ebd., S. 152. 51 Ebd., S. 159. 52 Ebd., S. 160.

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10. Der Freund als Mitmensch

dabei zu helfen, für die Sorge um das Selbst freizuwerden.53 Löwith nun fügte der Fürsorge eine dritte Variante hinzu: nämlich das Wohl des Freundes als Teil der Sorge um das eigene Selbst. Das setzt voraus, dass der Freund nicht bloß ein Mitdasein ist, das mit mir in der Welt ist, sondern dass er Teil des eigenen Daseins ist.54 Mit anderen Worten: Löwiths Dasein war wesentlich ein Miteinandersein, ein soziales Wesen. In diesem Sinne zitierte er erneut Kants Vorlesung über die Ethik, in der es heißt, die Idee der wahren Freundschaft sei es, dass „die Selbstliebe verschlungen ist in der Idee der großen Wechselliebe“.55 Während Heideggers Fürsorge letztlich instrumentell bleibt, geht es nach Löwiths KantInterpretation bei der Freundschaft um ein „zweckfreies Füreinanderdasein“.56 Gerade die „Freundschaft der Gesinnung“ als höchste moralische Existenzform gründe nicht in Zusammenarbeit oder Dienstleistung, wie es etwa bei Arbeitskollegen oder Marktteilnehmern der Fall ist, sondern in gemeinsamen Empfindungen und Anschauungen. Erst auf dieser Grundlage entstehe tiefes, nahezu grenzenloses Vertrauen: Im Zusammensein mit irgendeinem andern (alius), in Gesellschaft, gibt sich keiner ganz frei, so wie er ist; vor einem alius hält sich ein jeder zurück, keiner vertraut dem andern ganz an, aber mit dem alter ego des Freundes kann einer „völlig kommunizieren“; nur in der Freundschaft kann man ganz in Gesellschaft sein, während einer im allgemeinen gesellschaftlichen Umgang „noch nicht gänzlich in der Gesellschaft steht“.57

Löwith grenzte die Freundschaft aber nicht nur von Heideggers Miteinandersein ab, sondern auch von der christlichen Freundschaftsidee, wie sie insbesondere bei Luther ihren Ausdruck gefunden habe. Dieser setze „sein Vertrauen grundsätzlich überhaupt nicht auf den Menschen sondern als Christ allein auf Christus, als den einzig wahren Freund der Menschen.“58 Weder mit der religiösen Christozentrik Luthers noch mit der fundamentalontologischen Weltabgewandtheit Heideggers konnte Löwith etwas anfangen. Stattdessen sah er in der Freundschaft überhaupt erst die Möglichkeit, die Menschlichkeit der Person voll zu entwickeln. Er stellte sich ganz in die kantische Tradition, zugleich aber nahm er Impulse der Feuerbachschen Anthropologie auf. Schließlich setzte er sich auch noch mit dem radikalen Individualismus Max Stirners auseinander und konnte zeigen, dass dessen philosophisches Motto „Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt“ letztlich auch nur vor dem Hintergrund eines Ich-Du-Verhältnisses 53 Vgl.

Heidegger: Sein und Zeit, § 26, besonders S. 122. tat die platonische Seelenfreundschaft mit der Aussage ab, die These, dass der Andere eine „Dublette des Selbst“ sei, ruhe „auf schwachem Boden“. Ebd., S. 124. 55 Immanuel Kant: Eine Vorlesung über die Ethik. Hrsg. v. Paul Menzer. Berlin 1924, S. 259. Hier zitiert nach: Löwith: Das Individuum, S. 160. 56 Ebd., S. 162. 57 Ebd., S. 160 f. Zum Verhältnis von alius und alter ego siehe auch Tidona: Über die Grenzen der Phänomenologie, S. 48 f. 58 Löwith: Das Individuum, S. 161, Anm. 1. 54 Heidegger

10.3. Heideggers jüdische Kinder

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formuliert werden konnte.59 Dass Stirner über den Einzigen „ein ganzes Buch schreiben konnte“, konstatierte er, „beruht auch nur darauf, daß er ihn in seinem Verhältnis zur Welt, und das heißt vor allem zur Mitwelt, als Individualität einer Personalität, als ein Individuum in der Rolle des Mitmenschen bestimmt hat“.60 Indem er sich ausgerechnet Stirner zur Brust nahm, den radikalsten Vertreter des neuzeitlichen Solipsismus, meinte er auch Heideggers Philosophie der Vereinzelung erledigt zu haben. Der reagierte kühl auf die Angriffe seines Schülers, sollte sich aber auch später noch zugutehalten, die Habilitationsschrift trotzdem angenommen und damit Löwiths Karriere gefördert zu haben. In dem wissenschaftlichen Gutachten Heideggers heißt es, Löwiths Verhältnis zur Philosophie seines Doktorvaters sei „nirgends schülerhaft und äußerlich; zuweilen sogar übertrieben selbständig […]“.61 Besonders bemängelte er, dass sich Löwith vorrangig mit einem sozialen Verhältnis beschäftigt habe, nämlich mit der „Analyse des Miteinandersprechens“ anstatt mit dem, „worüber gesprochen wird“.62 Genau darum aber ging es Löwith ja: das Miteinandersprechen und das Miteinandersein waren entscheidend, nicht so sehr das ‚Worüber‘ oder das ‚Warum‘.

10.3. Heideggers jüdische Kinder Nach der erfolgreichen Habilitation begann ein neuer Lebensabschnitt, mit dem Löwith endgültig zum unabhängigen Denker wurde. Bis zur erzwungenen Emigration 1933 war er nun als Privatdozent in Marburg tätig und sah einer erfolgreichen Universitätslaufbahn entgegen. Neben seiner Frau Ada, die er 1929 heiratete, waren es jetzt gerade die vielfältigen Freundschaften mit jungen, vorwiegend jüdischen Intellektuellen, die Löwith zu einer Neuorientierung führten und ihm halfen, seinen philosophischen und nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten auch persönlichen Abschied von Heidegger zu vollziehen. Der Historiker Richard Wolin hat sich 2001 in einer viel beachteten Studie „Heidegger’s Children“ gewidmet, neben Löwith auch Hannah Arendt, Hans 59 Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum [1845]. In: Ders.: Der Einzige und sein Eigentum und andere Schriften. Hrsg. v. Hans G Helms. München 1968, S. 35–37. 60 Löwith: Das Individuum, S. 180. Etwa zeitgleich zu Löwith stellte auch Aron Gurwitsch (1901–1973), der Assistent von Löwiths Doktorvater Moritz Geiger, den Begriff des „Mitmenschen“ ins Zentrum seiner Habilitationsschrift Die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt [1931]. Hrsg. v. Alexandre Métraux. Berlin 1976. Wie Löwith, den er in der späteren Druckfassung extensiv zitierte, setzte auch Gurwitsch sich kritisch mit Heideggers Verständnis des „In-der-Welt-seins“ auseinander und kam zu einem ähnlichen Konzept der Freundschaft als einem „gebundenen Zusammensein“, nahm aber eine stärker soziologische Perspektive ein. 61 Martin Heidegger: Gutachten zur Habilitationsschrift von Löwith [1928]. In: Heidegger, Löwith: Briefwechsel, S. 199. 62 Ebd.

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10. Der Freund als Mitmensch

Jonas und Herbert Marcuse.63 Laut Wolin waren alle vier jüdisch und eine zeitlang überzeugte Heideggerianer.64 Aber stimmt das wirklich? Inwiefern war Löwith, der anders als seine Mitstreiter als Protestant aufgewachsen war, Ende der zwanziger Jahre „jüdisch“? Wenn Wolin schreibt, Löwith sei in eine „assimilated German-Jewish family“ geboren worden, dann wirft das tatsächlich die Frage auf, ob hier nicht unbewusst eine rassische Definition des Jüdischen reproduziert wird.65 Zweifellos spielte für alle vier Philosophen ihre jüdische Herkunft eine gewisse Rolle, zu einem zentralen Punkt der Selbstreflexion wurde sie aber erst, als „arische Deutsche“ wie ihr Lehrer Heidegger, der sich 1933 begeistert den Nationalsozialisten anschloss, sie als Juden zurückwiesen.66 Dies gilt nicht nur für Herbert Marcuse, dem Heidegger sogar die Habilitation verweigerte, sondern auch für Löwith, der etwas spöttisch darüber berichtet, wie ihm der arisch gestimmte Philosoph Oskar Becker, ein früher Schüler Heideggers und seit 1927 Professor in Freiburg, 1933 gönnerhaft erklärt habe, „die Tatsache meiner teilweise jüdischen Abstammung nicht weiter betonen zu wollen“, worauf Löwith sarkastisch anmerkt: „[E]r war irrtümlicherweise der Ansicht, ich sei nur ein 50 %[ig]er Jude, während ich es faktisch zu drei Vierteln bin und das arische Viertel wegen der illegitimen Herkunft meines Vaters nicht nachweisen konnte und auch nie nachweisen wollte.“67 Dennoch hatte Löwiths Auseinandersetzung mit seinem Judentum in der Marburger Zeit sicher nicht nur mit antisemitischen Anfeindungen zu tun, sondern auch damit, dass er, anders als in seiner Jugend in München, nun in engem Kontakt mit jüdischen Freunden und Kollegen stand. Neben Wolins Hauptprotagonisten ließe sich noch eine ganze Reihe weiterer jüdischer „Heideggerianer“ anführen, mit denen Löwith verkehrte. Die Freundschaft mit Leo Strauss etwa, der für das erwachende Interesse am Judentum eine wichtige Funktion ein63 Richard Wolin: Heidegger’s Children. Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse. Princeton, Oxford 2001. 64 Ebd., S. xiii. 65 Ebd., S. 79. Vgl. auch die Kritik von Steven E. Aschheim in: The Journal of Modern History 75, 4 (2003), S. 933–935. 66 Wolin: Heidegger’s Children, S. 82 behauptet, Heidegger habe Löwith, Arendt, Jonas und Marcuse nicht als Juden wahrgenommen, weil er anders als die NSDAP keinen „biological antisemitism“ vertreten habe. Aber angesichts der Tatsache, dass Heidegger sich spätestens 1931 begeistert über Hitler zeigte, erscheint diese These als gewagt. Siehe zum Beispiel Martin Heidegger an Fritz und Elisabeth Heidegger, 18. Dezember 1931. In: Walter Homolka, Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit. Mit Briefen von Martin und Fritz Heidegger. Freiburg 2016, S. 21 f. Bereits 1916, so merkt Emanuel Faye an, klagte Heidegger in einem Brief an seine Frau über „die Verjudung unserer Kultur u. Universitäten“ und beschwor den Widerstand der „deutschen Rasse“. 1929 beschwerte er sich in einem privaten Brief erneut über die „wachsende Verjudung des geistigen deutschen Lebens, im wörtlichen und übertragenden Sinn“. Emanuel Faye: Heidegger, der Nationalsozialismus und die Zerstörung der Philosophie. In: Bernhard H. F. Taureck (Hg.): Politische Unschuld? In Sachen Martin Heidegger. München 2008, S. 59 f. und 62. 67 Löwith: Mein Leben, S. 55.

10.3. Heideggers jüdische Kinder

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nahm, datiert aus dieser Zeit. Im November 1932 bat Löwith kurz nach dem Tod seines Vaters den inzwischen in Paris weilenden Strauss um die Entzifferung eines Zettels, denn „ich selber kann kein Hebräisch. Dieser Zettel stammt von der längst verstorbenen Mutter meines Vaters.“68 Vier Tage später berichtete ihm Strauss, es handle sich bei dem Zettel um den Hinweis auf einen Grabstein eines „Eisik (oder: Sohn des Eisik) Löwith“, „Vielleicht auch: Eisik Wolf Löwith“.69 Es war Strauss, der Löwith nun dabei half, die Dunkelheit, die über seiner jüdischen Familiengeschichte lag, aufzuhellen; und es war Strauss, mit dem Löwith in den folgenden Jahren im Angesicht der Verfolgung als Jude sein persönliches Verhältnis zum Judentum besprach. „Als selbstbewusster Jude“, schrieb er im Mai 1933 an Strauss, „sind Sie wohl in einer anderen Lage als ich, aber das allgemeine Problem ist doch auch wohl für Sie das gleiche wie für mich und es liegt beschlossen in der Verbindung der zwei Worte: ‚deutsches Judentum‘.“70 Dieses Problem, so Löwith, könne nicht in der Emigration, sondern müsse in Deutschland gelöst werden: Würde es in Zukunft noch möglich sein, Deutscher und Jude zugleich zu sein? Strauss, der sowohl deutscher Patriot als auch stolzer Zionist war, repräsentierte für Löwith diese Koexistenz in Reinform. Dass dieser Deutschland verlassen hatte und nicht beabsichtigte, aus Paris in sein Heimatland zurückzukehren, beschäftigte Löwith. Welchen Weg sollte er selbst einschlagen? Vorerst wartete er ab, ob man ihm seinen Lehrauftrag lassen würde, und aufgrund des berüchtigten Frontkämpferparagraphen, an den so viele deutsche Juden ihren Optimismus klammerten, durfte er zunächst weiter unterrichten. Aber er gehörte nicht zu denen, die sich Illusionen machten. Von Anfang an wusste er, dass er den Nazis, obwohl Sohn getaufter Eltern und deutscher Kriegsheld, als Jude galt. Auch Heidegger brach kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung den Kontakt weitgehend ab. Im Februar 1933 riet er ihm, ein Stipendium der Rockefeller Foundation unbedingt anzunehmen, mit dem Löwith nach Rom gelangen würde und es drängt sich der Verdacht auf, dass Heidegger froh war, seinen begabten Schüler loszuwerden. Eine allzu enge Verbindung mit einem Juden sah in der akademischen Öffentlichkeit nun nicht mehr gut aus, zumal Heidegger seit April 1933 Rektor der Freiburger Universität war und sich für den Einzug des Nationalsozialismus in die deutsche Universität engagierte.71 Wenig verwunderlich also, dass er Löwith inständig bat, darauf zu verzichten, 68 Karl

Löwith an Leo Strauss, 15. November 1932. In: Leo Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe. Hrsg. v. Heinrich und Wiebke Meier. Stuttgart, Weimar 2001, S. 609. 69 Leo Strauss an Karl Löwith, 19. November 1932. In: Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 610. 70 Karl Löwith an Leo Strauss, 17. Mai 1933. In: Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 623 f. 71 Vgl. Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27. 5. ​1933. Breslau 1933.

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10. Der Freund als Mitmensch

ihm sein Buch zu widmen.72 Einige Monate später hielt sich Heidegger in Marburg auf, aber teilte dies Löwith erst im Nachhinein mit und besuchte ihn auch nicht. Jahre später, 1936, trafen die beiden in Rom wieder aufeinander. Laut dem Herausgeber des Briefwechsels, Alfred Denker, zeigten gerade die Treffen in Rom, dass „in ihrem persönlichen Verhältnis die jüdische Abstammung von Löwith (der Protestant war) keine Rolle“ gespielt habe.73 Löwiths Tagebuchaufzeichnungen sprechen eine andere Sprache: Heidegger tat so, als wäre nichts geschehen, als hätte er sich nicht in aller Öffentlichkeit massiv hinter Hitler und dessen antisemitische Politik gestellt. Löwith versuchte Heidegger mit dessen Nationalsozialismus zu konfrontieren und mitunter klingt es fast so, als sei dies der Hauptzweck gewesen, sich überhaupt mit Heidegger und dessen „ungenießbarer Frau“ Elfriede, einer glühenden Nationalsozialistin, zu treffen: Einen Tag lang machten wir – er das Parteiabzeichen im Knopfloch! – einen gemeinsamen Ausflug nach Frascati und Tusculum. Es kam – gewiss nicht durch seine Initiative – viel zur Sprache und er bejahte es, als ich ihm […] sagte, dass sich m[einer] A[nsicht] na[ch] seine Philosophie […] von innen heraus und prinzipiell mit dem N. S. vereinbare.74

Heidegger weigerte sich, mit Löwith über „die Judenfrage“ zu sprechen, aber der bohrte nach: Auf meine Frage, wie er es fertig bringe, sich mit Streicher (in der Akademie für deutsches Recht) zusammen zu setzen, sagt er instinktiv ausweichend: der Stürmer ist nichts weiter als Pornographie und Hitler müsse wohl Angst vor ihm haben, anders könne er sich’s nicht erklären, warum Hitler – der „Führer“! auch für Heidegger – diesen Kerl nicht beseitigt habe!75

Doch Löwith gab sich damit nicht zufrieden und schnitt das Thema beim Abendessen erneut an. Er brachte „die Rede auf M. Weber und deutete an, dass dieser Mann sich wohl in der Judenfrage anders würde verhalten haben. Darauf kam als Antwort die wahrhaft entscheidende Frage: aber war dieser M. Weber nicht auch zum Teil Jude?!!“76 Diese Eindrücke zeigen, dass Löwith den Antisemitismus als Wesenskern der nationalsozialistischen Ideologie betrachtete – eine Einschätzung, die Mitte der dreißiger Jahre unter den Intellektuellen – aus heutiger Sicht erstaunlich – noch keineswegs gang und gäbe war. Sein scharfer Blick auf die „Judenfrage“ hatte sicherlich auch mit seiner verstärkten Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Herkunft zu tun. Anfang 1935 schrieb er aus dem italienischen Exil an Strauss, „selbst ein so ‚assimilierter‘ Jude wie ich kann den Einschnitt und den 72 Martin Heidegger an Karl Löwith, 12. Juni 1933. In: Heidegger, Löwith: Briefwechsel, S. 184. 73 Alfred

Denker: Anmerkung zu Brief 110. In: Heidegger, Löwith: Briefwechsel, S. 295. Löwith: Tagebuch. Von Rom nach Sendai 11.X.–20.XI.1936. DLA Marbach, A: Löwith, 99.17.147, S. 201. 75 Ebd. 76 Ebd., S. 202. 74 Karl

10.4. Hannah Arendt und die Liebe

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Ernst des deutschen Judenproblems nicht verkennen“.77 Dass Löwith die nationalsozialistische Zuschreibung, er sei Jude, nun selbstbewusst übernahm, zeigt einen Wandel in seiner Einstellung. Die Figur des „‚assimilierten‘ Juden“ schien ihm unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen eine adäquate Beschreibung seiner Identität zu sein. Aufschlussreich ist allerdings, dass er nicht etwa das Wort „Jude“, sondern „assimiliert“ in Anführungszeichen setzte. Bedenkt man, dass sein Briefpartner mit dem Zionismus sympathisierte und die Zionisten sich als entschiedene Gegner der jüdischen Assimilation verstanden, kann man die durch Satzzeichen markierte Distanzierung als Zugeständnis an den Zionismus verstehen. Löwith gehörte demnach zum jüdischen Volk, seine durch Taufe und Erziehung vollzogene ‚Assimilation‘ war keine willentliche, sondern eine aufgezwungene. Zwei Monate später griff er den Gedanken der „jüdischen ‚Assimilation‘“ wieder auf. Durch seine Erziehung sei er „so unjüdisch aufgewachsen“, schreibt er an Strauss, der gerade sein Buch über den jüdischen Philosophen Maimonides geschrieben hatte, „dass ich es immer nur mit Umwegen und Mühe verstehen und eigentlich nicht verstehen kann, wie man so rationell und ethisch sein kann, wie es im Grunde alle mir bekannten und selbst die ‚assimilierten‘ Juden dank ihrer Tradition sind“.78 Von der jüdischen Tradition entfremdet, die er in der Moderne durch so gegensätzliche Figuren wie Otto Weininger, Hermann Cohen, Albert Einstein, Sigmund Freud, Karl Marx und Ferdinand Lassalle repräsentiert sah, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich diese mit harter Arbeit ‚wieder‘ anzueignen. Er vertiefte sich in die Lektüre von Cohens Aufsätzen über Spinoza und setzte sich mit Rosenzweigs Stern der Erlösung auseinander.79 Vor allem aber suchte er Rat bei seinen jüdischen Freunden. Das Zusammensein mit anderen Juden und solchen, die als Juden verfolgt wurden, war für Löwith die Basis seines Judentums. Mit dieser sozialen Konstellation verbunden war aber zugleich mehr – eine verschüttete jüdische Tradition, die er sich mühsam erschließen musste.

10.4. Hannah Arendt und die Liebe Das Verborgensein der jüdischen Tradition war auch für eine andere Studentin aus dem Heidegger-Kreis eine elementare Herausforderung. Und auch sie verknüpfte diese Tradition mit dem Problem der Freundschaft  – wenn auch auf ganz andere Weise als Löwith. Im November 1924 tauchte unter den Hörern von Heideggers Sophistes-Vorlesung in Marburg eine gerade volljährig gewordene 77 Karl Löwith an Leo Strauss, 23. Februar 1935. In: Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 644. 78 Karl Löwith an Leo Strauss, 15. April 1935. In: Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 645. 79 Vgl. Karl Löwith an Leo Strauss, 25. September 1962. In: Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 689.

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10. Der Freund als Mitmensch

junge Studentin auf, die schon in diesen jungen Jahren aufgrund ihrer erstaunlichen intellektuellen Eloquenz Aufmerksamkeit erregte.80 Mit Heideggers engstem Kreis hatte sie nur am Rande zu tun, da sie eine eigene Gruppe von Intellektuellen um sich scharte. Hannah Arendt (1906–1975), die aus einer bürgerlichen Familie aus Königsberg stammte, hatte schon in ihrem ersten Studiensemester vielen ihrer Kommilitonen als Philosophin einiges voraus. Bereits während ihrer Schulzeit hatte sie einen Diskussionskreis gegründet, dem außerordentlich kluge Köpfe angehörten, die in ihrem späteren Leben zu bedeutenden Wissenschaftlern werden sollten.81 Gemeinsam übersetzten die Freunde griechische Texte und diskutierten sie mit voller Hingabe, ebenso wie sie gemeinsam Kant lasen. Einer aus diesem Kreis, der spätere Altphilologe Ernst Grumach (1902–1967), hatte 1923 seiner Freundin und Jugendliebe Hannah vom Zauber Heideggers berichtet; auch Victor Grajev und der spätere Psychoanalytiker Heinz Lichtenstein (1904–1990), die beide zu Arendts Zirkel in Königsberg gehört hatten, fanden sich in Heideggers Vorlesungen in Marburg ein.82 „Da war kaum mehr als ein Name“, erinnerte sich Arendt später, aber der Name reiste durch ganz Deutschland wie das Gerücht vom heimlichen König. Dies war etwas völlig anderes als die um einen „Meister“ zentrierten und von ihm dirigierten „Kreise“ (wie etwa der George-Kreis), die, der Öffentlichkeit wohl bekannt, sich von ihr durch eine Aura des Geheimnisses abgrenzen, um das angeblich nur die Mitglieder des Kreises wissen.83

Im Kreis um Heidegger dagegen gab es weder Geheimnis noch Mitgliedschaft; diejenigen, zu denen das Gerücht vorgedrungen war, kannten sich zwar, weil sie alle Studenten waren, es gab gelegentliche Freundschaften unter ihnen, und später kam es dann wohl auch hie und da zu Cliquenbildungen, aber es gab nie einen Kreis, und es gab keine Esoterik.84

Arendts Erinnerungen mögen korrekt sein, allerdings hängt die Einschätzung der damaligen Atmosphäre unter den Studenten sicherlich auch davon ab, was jeweils als „Kreis“ verstanden wird. Denn zweifellos gab es Studenten, die Heidegger auch privat näher standen und ihn zuhause besuchten, während andere ihm lediglich im Hörsaal begegneten. Auffällig ist ferner, dass es offenbar nicht einen Kreis um Heidegger gab, sondern mehrere verschiedene. Zu den „Königsbergern“ etwa, wie der von Arendt und Grumach angeführte Kreis schon bald von den anderen Studenten genannt wurde, gehörte bald auch der aus Mönchen80 Vgl. Wolfram Eilenberger: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Ein philosophisches Ereignis des 20. Jahrhunderts. In: Dorlis Blume u. a. (Hg.): Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert. München 2020, S. 229. 81 Vgl. dazu Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 73 f. 82 Die Lebensdaten Grajevs konnten nicht ermittelt werden. 83 Arendt: Martin Heidegger, S. 181 f. 84 Ebd., S. 182.

10.4. Hannah Arendt und die Liebe

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gladbach stammende Zionist Hans Jonas (1903–1993), der spätere Religionsphilosoph, dessen lebenslange Freundschaft mit Hannah Arendt in Marburg ihren Anfang nahm. Im vertrauten Kreis der Schulfreunde, die fast tausend Kilometer von der Heimat entfernt aufeinander hockten, entwickelte sich eine einzigartige intellektuelle Atmosphäre, von der die jungen Studenten ihr Leben lang zehren sollten. Auch der Mann, wegen dem sie alle nach Marburg gekommen waren, hatte daran natürlich seinen Anteil. Dies gilt ganz besonders für Hannah Arendt, die mit Heidegger nicht nur eine philosophische, sondern ab Februar 1925 auch eine Liebesbeziehung verband.85 Die Philosophin Tatjana Noemi Tömmel hat in ihrer Studie Wille und Passion eindrücklich gezeigt, dass die häufig bloß „Affäre“ genannte Beziehung zwischen dem Professor und seiner Studentin für beide Seiten viel mehr als nur eine flüchtige Liebschaft war.86 Die leider nur ausschnittsweise aus der Zeit erhalten gebliebene Korrespondenz, die in der Forschung bisweilen als „philosophisch irrelevant“87 bezeichnet wurde, zeigt in Wahrheit, so Tömmel, dass die „private Zweisamkeit“ von beiden „auf einem Niveau philosophisch“ reflektiert wurde, „das dem der Werke häufig in nichts nachsteht“.88 Allerdings wäre es irreführend, die Korrespondenz zwischen Arendt und Heidegger von den Debatten und Erfahrungen zu isolieren, die jenseits dieser Liebesbeziehung standen. Schon in den 1920er Jahren zeigte sich Arendts philosophische Unabhängigkeit von Heidegger, der ihr Denken zwar nachhaltig beeinflusste, von dem sie sich aber zugleich auch früh schon absetzte  – ganz ähnlich wie Karl Löwith führte auch Arendt diese Auseinandersetzung nicht zuletzt im Feld einer Philosophie der Freundschaft. Als Geliebte Heideggers hatte Arendt eine andere Perspektive auf dessen Verständnis von Freundschaft und Liebe als Löwith. Wo Heidegger sich gegenüber Löwith in dieser Frage meist bedeckt hielt, so dass dieser sich in seiner Kritik vor allem auf die Leerstelle des „Miteinander“ in Sein und Zeit fokussierte, überschüttete Heidegger Arendt in seinen Liebesbriefen geradezu mit philosophischen Reflexionen über Liebe und Freundschaft. Gleich im ersten Brief vom 10. Februar 1925 an das „liebe Fräulein Arendt“ betonte Heidegger, dass seine „Treue zu Ihnen einzig Ihnen helfen [soll], sich selbst treu zu bleiben“.89 Der 85 Vgl. Antonia Grunenberg: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe. München 2006. 86 Tatjana Noemi Tömmel: Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt. Berlin 2013. 87 Otto Kallscheuer: Weder Habermas noch Heidegger. Philosophische und politische Existenz bei Hannah Arendt. In: Seyla Benhabib: Hannah Arendt – Die melancholische Denkerin der Modern. Frankfurt am Main 2006, S. 362. Hier zitiert nach Tömmel: Wille und Passion, S. 28. 88 Ebd., S. 20. 89 Martin Heidegger an Hannah Arendt, 10. Februar 1925. In: Hannah Arendt, Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. Hrsg. v. Ursula Ludz. Frankfurt am Main 32002, S. 11.

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10. Der Freund als Mitmensch

Gedanke, dass der Liebende in der Liebesbeziehung mit sich selbst identisch bleibt, ja sich erst eigentlich findet, war für Heidegger grundlegend. Zwischen Liebe und Freundschaft unterschied er dabei nicht. Beide überkämen die Liebenden/Freunde unwillkürlich und schicksalsgleich als ein „Geschenk“. Obwohl er die Idee der „Seelenfreundschaft“ ausdrücklich ablehnte, weil es sie „unter Menschen nie“ gebe, verstand er die Freundschaft gleichwohl als ein Schicksal, an dem der Einzelne wachsen könne.90 Tömmel vergleicht Heideggers Begriff der Liebe mit Carl Schmitts Konzeption des Ausnahmezustandes: „Der mit diesem ‚Hereinbrechen‘ beschriebene Augenblick ist der jenseits von Ursache und Wirkung gedachte Neubeginn, der immer ex nihilo geschieht.“91 Dieser Augenblick stelle den Einzelnen vor die Wahl, sich weiterhin dem „Man“ unterzuordnen, also den gesellschaftlichen Konventionen der gesichtslosen Masse, oder sich entschlossen für das eigene Selbstsein zu entscheiden. Heideggers Philosophie witterte im sozialen Miteinander immer schon die Verunreinigung des authentischen Selbst und empfahl deshalb den Rückzug ins Denken. Dementsprechend galt ihm die Liebe auch nicht als Vereinigung zweier Individuen oder Erweiterung des eigenen Horizontes, sondern als Besinnung auf sich selbst: „in der Liebe sein = in die eigene Existenz gedrängt sein“, brachte er diese Vorstellung in einem Brief an Arendt auf den Punkt.92 Auch hier also zeigt sich das von Löwith beanstandete solipsistische Freundschaftsverständnis Heideggers, der dem „Dazwischen“, dem „Miteinander“ jede eigene Dignität absprach und stattdessen das Bei-sich-Bleiben des Ich stark machte, geradezu ängstlich, sich im Anderen zu verlieren. Deshalb auch musste er die Existenz einer Seelenfreundschaft verneinen, denn diese hätte ja ein den Freunden Gemeinsames impliziert, das die Sperrmauern zwischen den isolierten Daseins durchlöchert hätte. Ende Februar 1925 wiederholte Heidegger diesen Gedanken gegenüber Arendt. Zwar hob er in seinem Brief an die „liebe Hannah“ zunächst mit der Wendung an, dass „wir uns [in der Liebe] in das wandeln, was wir lieben“, aber sogleich schreckte er vor dem Gedanken der Nicht-Identität zurück und ergänzte, dass wir „doch wir selbst bleiben“.93 Die Liebe verändere nicht etwa die Liebenden, sondern „wandelt die Dankbarkeit [für die Liebe] in die Treue zu uns selbst und in den unbedingten Glauben an den Anderen.“94 Paradoxerweise führten Liebe und Freundschaft also nicht zu einer Sphäre der Gemeinsamkeit und Nähe, sondern forcierten Trennung und Distanz. „Die Nähe ist hier das Sein in der größten Ferne zum anderen – die Ferne, die nichts

90 Ebd.,

S. 12. Liebe und Passion, S. 104. 92 Martin Heidegger an Hannah Arendt, 13. Mai 1925. In: Arendt, Heidegger: Briefe, S. 31. 93 Martin Heidegger an Hannah Arendt, 21. Februar 1925. In: Arendt, Heidegger: Briefe, S.  12 f. 94 Ebd., S. 13. 91 Tömmel:

10.4. Hannah Arendt und die Liebe

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verschwimmen läßt[,] sondern das ‚Du‘ in das durchsichtige – aber unbegreifliche – Nur-Da einer Offenbarung stellt.“95 Dieses Verständnis von Liebe und Freundschaft steht dem Arendts, das nun näher betrachtet werden soll, diametral gegenüber. Dass dem Einfluss Heideggers auf Arendts Philosophie in der Forschung so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, hat sicherlich nicht zuletzt mit der Faszination für das ungleiche Liebespaar Heidegger-Arendt zu tun. Zwar ist Arendts Philosophie und Praxis der Freundschaft, wie wir noch sehen werden, tatsächlich auch als Antwort auf Heidegger zu lesen, aber die Tendenz, die frühe Arendt immer nur als Schülerin des großen Meisters zu lesen, führt dazu, dass das Jüdische ihrer Biographie, ihrer Persönlichkeit und auch ihres Werkes aus dem Blick gerät.96 Gerade in ihr Verständnis von Freundschaft gingen vielfältige intellektuelle und biographische Erfahrungen ein, die bislang weitgehend übersehen wurden. Diese Erfahrungen sollen daher im Folgenden ins Zentrum gerückt werden. Dafür ist ein Rückgang auf ihre Biographie und ihre intellektuelle Entwicklung erforderlich. Dass Arendt aus einem „assimilierten“ bürgerlichen Elternhaus komme, ist eine stereotype Wendung fast aller Arendt-Biographen.97 Was genau das eigentlich bedeuten soll, bleibt dabei zumeist offen. In Elisabeth Young-Bruehls Standardwerk, das auf Gesprächen mit zahlreichen von Arendts Freunden und Weggefährten beruht, finden wir immerhin einige Hinweise darauf, dass die Übersetzung des Begriffs „assimiliert“ mit „nicht religiös“ irreführend ist. Der Königsberger Rabbiner Hermann Vogelstein (1870–1942) war ein enger Freund der Familie und die junge Hannah besuchte regelmäßig mit ihren Großeltern den Gottesdienst in der 1898 eingeweihten Neuen Liberalen Synagoge. Vogelstein war es auch, der sie als engagierter Didakt und Pädagoge in die jüdische Religion einführte. Ein von ihm 1913 veröffentlichter Essay  – etwa zur selben Zeit erhielt Arendt Religionsunterricht bei Vogelstein  – gibt Aufschluss über sein Verständnis der Vermittlung des Judentums bei Kindern und Jugendlichen. „Die Selbsttätigkeit, das selbständige Denken des Schülers in religiösen Fragen anzuregen und richtig zu leiten, muß die Aufgabe des Lehrers sein“, heißt es da. „Katechetische und autoritative Darbietung ist verfehlt, sie muß das entgegengesetzte Resultat erzielen. Jeder Religionslehrer wird auf der obersten Stufe in freien Besprechungen grundlegende Fragen zur Erörterung bringen.“98 Gerade

95 Ebd.

96 Vgl. Annette Vowinckel: Hannah Arendt. Zwischen deutscher Philosophie und jüdischer Politik. Berlin 2004, S. 12. 97 Siehe etwa Richard J. Bernstein: Hannah Arendt and the Jewish Question. Cambridge 1996, S. 14. Differenzierter dagegen Alois Prinz: Hannah Arendt oder die Liebe zur Welt. Berlin 2012, S. 25–29. 98 Hermann Vogelstein: Unterrichtsfragen. Ein neues Religionsbuch. In: Allgemeine Zeitung des Judentums 77, 16 (18. 4. ​1913), S. 189.

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10. Der Freund als Mitmensch

gegenüber Jugendlichen dürfe sich der jüdische Religionsunterricht nicht nur auf das geschichtliche Erbe beziehen, sondern müsse Gegenwartsfragen behandeln: In der Sturm- und Drangperiode des Schülerlebens, wenn der Knabe zum Jüngling heranreift, wenn er die Kinderschuhe ausgezogen hat und doch noch nicht wieder mit festen Füßen auf sicherem Boden im Leben steht, wenn durch die Fülle der Eindrücke, die ihm Schulbildung, Lektüre – zweifellos oft recht ungeeignete – die Dinge des Lebens, die er miterlebt, nahebringen, alles Frühere, so fest Gefügte in seinem Gedankengebäude und in seinem Gefühlsleben erschüttert wird, dann bedarf es noch einer anderen Orientierung für seine religiöse Bildung als der geschichtlichen.99

Mindestens ebenso wichtig sei daher die „Gegenwartsorientierung“. Als Lehrbuch empfahl er, neben einigen Kompilationen biblischer Geschichten, Max Freudenthals 1912 in erster Auflage erschienenes Religionsbuch für den israelitischen Religionsunterricht, ein theologisch wie philosophisch anspruchsvolles Lehrbuch, in dem das Judentum ganz im Sinne Vogelsteins als „ethischer Monotheismus“ charakterisiert wird.100 Im 15. Kapitel wird als sittlicher Kern des Judentums die Nächstenliebe diskutiert: Mit dem religiösen Begriff „Mensch“ ist notwendig so der Begriff „Nebenmensch“ gegeben, auch er eine der großen Entdeckungen des israelitischen Genius, und damit der Begriff der Humanität in ihrem wahren Sinne, in dem der Achtung vor der Menschenwürde, vor dem Göttlichen in allem, was Menschenantlitz trägt.101

Die Nächstenliebe sei somit nicht nur ein Gesetz unter anderen, sondern, so heißt es mit Bezug auf die Rabbinen Hillel und Akiba, die „Summe der Thora“, der „Grundsatz, in dem alles enthalten ist“.102 Diese Zentralität der Nächstenliebe für den ethischen Monotheismus des Judentums gab Rabbiner Vogelstein der jungen Hannah mit auf den Weg, gleichsam als Quintessenz dessen, wofür das Judentum in ethischer Hinsicht stehe. Dass sie, wie wir noch sehen werden, als junge Wissenschaftlerin ihre Dissertation eben jener ‚großen Entdeckung des israelitischen Genius‘ widmen sollte, der Nächstenliebe nämlich, dürfte insofern alles andere als ein Zufall sein.

10.5. Die ewige Jugendfreundin Anne Mendelsohn Zu den ersten Erfahrungen, die Arendt als junges Mädchen machte, gehörte aber auch die Ablehnung, die ihr von ihren Mitmenschen als Jüdin entgegenschlug. Noch bevor sie wirklich etwas mit dem Begriff „Judentum“ anfangen konnte,  99 Ebd.,

S. 188. Freudenthal: Religionsbuch für den israelitischen Religionsunterricht an den Oberklassen der Gymnasien und Töchterschulen. Nürnberg 1912. 101 Hier zitiert nach der zweiten Auflage: Max Freudenthal: Religionsbuch für den israelitischen Religionsunterricht an den Oberklassen der höheren Schulen. Nürnberg 1918, S. 97. 102 Ebd. 100 Max

10.5. Die ewige Jugendfreundin Anne Mendelsohn

249

wurde sie bereits auf dem Schulweg als Jüdin beschimpft. „Dass ich Jüdin bin“, erklärte sie, „erfuhr ich auf der Straße.“103 Der Antisemitismus war somit seit ihrer frühesten Kindheit ein ständiger Begleiter, auch wenn sie diesen im Nachhinein nicht als besonders traumatisch oder verstörend empfunden hat. Neben der religiösen Bildung und der Ausgrenzungserfahrung gibt es aber noch einen dritten Aspekt des Jüdischseins in Arendts Biographie, nämlich das Zusammensein mit anderen Juden. Hierbei nimmt die lebenslange Freundschaft mit der Philosophin Anne Mendelsohn (1903–1984) schon aufgrund ihrer über fünfzig Jahre währenden Dauer einen besonderen Stellenwert ein. Die Quellenlage ist auch hier schwierig. Zwar existiert – ähnlich wie bei Leo Strauss und Jacob Klein – eine große Anzahl an Briefen im Arendt-Nachlass in der Library of Congress, aber zum einen sind diese mit wenigen Ausnahmen lediglich die an Arendt gerichteten, zum zweiten datiert der früheste auf das Jahr 1941, alle anderen auf die Zeit von 1945 bis zum Tod Arendts im Jahr 1975.104 Im Hinblick auf die Frühzeit der Freundschaft, die 1921 begann, sind wir auf die Korrespondenz mit Dritten sowie vor allem auf die mündlichen Erinnerungen Anne Mendelsohns angewiesen, die eine der wichtigsten Quellen für YoungBruehls Arendt-Biographie gewesen sind.105 So sehr dies Zweifel an der Richtigkeit einzelner Anekdoten evoziert, so unbestreitbar ist doch, dass diese Freundschaft unter den vielen engen persönlichen Beziehungen, die Arendt in ihrem Leben pflegte – laut Hans Jonas hatte sie ein „Genie für die Freundschaft“ und Young-Bruehl zitiert sie mit den Worten, ihre Triebkraft sei stets ein „Eros der Freundschaft“ gewesen106 –, eine herausragende Bedeutung innehatte. Nicht nur Young-Bruehl, auch Arendt selbst hat immer wieder hervorgehoben, dass Mendelsohn seit Jugendtagen ihre „beste Freundin“ war – eine Charakterisierung, die nicht zuletzt „große Loyalität und ein ausgeprägtes Verständnis davon [umfasste], wie Freundschaften denen, die keine traditionelle Familie, Gemeinschaft oder religiöse Heimat besitzen, ein Zuhause sind“.107 „Annchen“ sei, schrieb Arendt im Mai 1946 an Gershom Scholem, „meine ‚beste‘ Freundin seit ich 14 Jahre alt  Hier zitiert nach Prinz: Hannah Arendt, S. 25. of Congress, Manuscript Division, Hannah Arendt Papers, General Correspondence, 1938–1976, Box 16: Weil, Anne. 67 der insgesamt 165 Briefe liegen inzwischen (teilweise gekürzt) ediert vor: Hannah Arendt: Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen. Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff. Hrsg. v. Ingeborg Nordmann und Ursula Ludz. München 2017, S. 57–225. 105 Siehe Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 30. Die Erinnerungen liegen in Form von Interviews im Nachlass von Young-Bruehl vor. Wesleyan University Library, Special Collections & Archives, Elisabeth Young-Bruehl Papers, Collection 2000–68, Box 4. Im ersten Vorwort zur deutschen Ausgabe der Biographie teilt Young-Bruehl mit: „Mündlich mitgeteilte Geschichten, Briefe, Dokumente, biographische Notizen und auch Hannah Arendts Werke flossen vielsprachig in diese Biographie ein und mußten übersetzt werden. So manches ging in dem Prozeß unausweichlich verloren.“ Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 28. 106 Ebd., S. 15. 107 Ebd., S. V. 103

104 Library

250

10. Der Freund als Mitmensch

bin“.108 Der Beginn dieser Freundschaft war, wenn man Young-Bruehls Ausführungen Glauben schenken darf, bereits ein selbstbewusster Schritt  – eine Entscheidung zur Freundschaft viel mehr als eine Zufallsbekanntschaft. Im Winter 1920 traf sich die damals 14-jährige Hannah Arendt mit Ernst Grumach, dem bereits erwähnten, fünf Jahre älteren späteren Altphilologen aus dem Königsberger Diskussionszirkel, den sie als ihre „erste Liebe“ bezeichnete.109 Sehr zu ihrem Verdruss berichtete Grumach Arendt von seiner neuen Freundin, der 17-jährigen Annelise Mendelsohn aus dem immerhin 100 Kilometer entfernten Allenstein (Olsztyn).110 Angeblich war Anne nicht nur klug und hübsch, sondern auch noch eine Nachfahrin des berühmten Aufklärers Moses Mendelssohn.111 Arendt war sofort überzeugt, dass sie diese junge Frau sofort kennenlernen müsse. Sie bat ihre Mutter Martha Beerwald (verwitwete Arendt), nach Allenstein reisen zu dürfen, und erhielt die prompte Antwort, das komme gar nicht in Frage. Schließlich kenne sie die Mendelsohns nur zu gut und Annes Vater sei ein zwielichtiger Charakter, der sogar im Gefängnis sitze. Tatsächlich war Annes Vater, der Hausarzt Dr. Georg Mendelsohn, zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er eine Patientin sexuell belästigt haben sollte – ein Vorwurf, den der Verurteilte heftig bestritt und auf Antisemitismus zurückführte. Hannah Arendt, die bereits mit sieben Jahren ihren Vater verloren hatte, kümmerte all das nicht  – was konnte Anne, die hochgelobte Freundin ihres philosophierenden Gefährten Ernst, schon für die Missetaten ihres Vaters? Und so kletterte sie eines Nachts aus dem Fenster ihres Zimmers und machte sich still und leise auf nach Allenstein. Im Morgengrauen, so will es die Erzählung, erreichte sie Mendelsohns Haus und warf kleine Kieselsteine an Annes Fenster.112 Es ist zwar nicht bekannt, wie das erste Treffen der beiden jungen Frauen im Einzelnen verlief, aber der vorhersehbare Krach mit ihren Eltern am darauffolgenden Tag würde 108 Hannah Arendt an Gershom Scholem, 20. Mai 1946. In: Hannah Arendt, Gershom Scholem: Der Briefwechsel. Hrsg. v. Marie Luise Knott. Berlin 2010, S. 114. 109 Hannah Arendt an Gershom Scholem, 13. März 1947. In: Hannah Arendt, Gershom Scholem: Der Briefwechsel. Hrsg. v. Marie Luise Knott. Berlin 2010, S. 155. 110 Bei Young-Bruehl wird fälschlich der 300 Kilometer entfernte Ort Stolp (Słupsk) genannt, die Familie war aber im Herbst 1920 nach Allenstein gezogen. Vgl. Annelise Mendelsohn: Lebenslauf. In: Dies.: Die Sprachphilosophie und die Ästhetik Wilhelm von Humboldts als Grundlage für die Theorie der Dichtung. Dissertation. Hamburg 1928, Rückseite. 111 Ingeborg Nordmann, Ursula Ludz: Anne Weil. In: Arendt: Wie ich einmal ohne Dich leben soll, S. 22, Anm. 3 betonen in ihrem Vorwort, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Annes Vater Georg Mendelsohn (1866–1928), der seine Praxis im Jahr 1911 noch im niederschlesischen Glogau gehabt hatte, stammte ursprünglich aus Festenberg (Twardogóra) in Schlesien, sein Vater, der Galanteriewarenhändler Zacharias Mendelsohn (1828–1907), wiederum aus Rogasen (Rogźno) in der preußischen Provinz Posen. Vgl. Adreßbuch der Kaufleute, Fabrikanten, Erwerbsleute und größeren Gutsbesitzervon Preußisch Schlesien und Posen. Nürnberg 1866, S. 143; Festschrift des königlichen St. Matthiasgymnasiums zur Jahrhundertfeier 1811–1911. Breslau 1911, S. 246. 112 Vgl. Jon Nixon: Hannah Arendt and the Politics of Friendship. London, New York 2015, S.  3 f.

10.5. Die ewige Jugendfreundin Anne Mendelsohn

251

die junge Freundschaft nicht zerstören – Hannah und die drei Jahre ältere Anne blieben ihr Leben lang eng befreundet. Unter den vielen Freundschaften Arendts nahm sie als erste und vertrauteste einen besonderen Rang ein. Spätestens ab dem Frühjahr 1922 gehörte auch Anne, die ein Philosophiestudium in Königsberg aufnahm, dem Lesezirkel an, der sich häufig im Hause Beerwald traf und aus dem sich auch die Königsberger Gruppe in Marburg rekrutieren sollte.113 Leidenschaftlich diskutierten die jungen Freunde miteinander über philosophische Werke, Gedichte und Romane, sei es auf Deutsch oder auf Französisch, übersetzten griechische Texte und auch die dringendsten Fragen der Tagespolitik kamen zur Sprache. Schon hier zeichnete sich ab, was für Arendt zur Grundlage des Politischen werden sollte: die freie Assoziation der Freunde, die auf Augenhöhe miteinander streiten und gemeinsam darüber diskutieren, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Dass der Zirkel, soweit wir wissen, ausnahmslos aus Jüdinnen und Juden bestand, war, wie so häufig, nicht von seinen Mitgliedern intendiert. Obwohl die meisten von ihnen mehr oder weniger säkular aufgewachsen waren, aus akkulturierten Familien stammten und überkonfessionelle Schulen besuchten, bewegten sie sich nahezu ausschließlich in jüdischen Kreisen. Wie ihre Eltern und Großeltern verkehrten auch sie mehrheitlich mit jüdischen Freunden und Verwandten, ohne dass dies explizit thematisiert worden wäre. Dies war durchaus typisch für das deutsch-jüdische Bürgertum, wie Marion Kaplan schreibt: „Auf der alltäglichen Ebene war für Juden der Umgang miteinander selbstverständlich. Die große Mehrheit verkehrte  – fand Kameradschaft und Freundschaft – innerhalb der erweiterten Familie und mit jüdischen Freunden.“114 Wie bereits ausgeführt, lässt sich diese Form des „Socialising“ zum einen negativ auf antisemitische Ausgrenzungserfahrungen zurückführen. Mindestens ebenso entscheidend dürfte aber – positiv gewendet – ein jüdisches Zusammengehörigkeitsgefühl gewesen sein, das sich gleichermaßen durch intergenerationelle Traditionsbestände wie durch ähnliche Lebenswege herstellte und sich in gemeinsamen Wertvorstellungen und nicht zuletzt im Habitus und im sprachlichen Ausdruck niederschlug. Das Vertrauen, das diesen Gemeinsamkeiten entsprang, war auch für den jüdischen Freundschaftskreis um die junge Hannah Arendt eine wesentliche Voraussetzung: Er bot Schutz und Orientierung, aber eben auch Freiheit – und innerhalb dieses geschützten Raumes konnte die Freundschaft zwischen Arendt und Mendelsohn gedeihen. Schon anderthalb Jahre, nachdem sie sich kennengelernt hatten, trennten sich ihre Wege jedoch das erste Mal: Während Arendt nach einem Streit mit ihrem Lehrer die Schule verlassen musste und nach Berlin ging, um sich dort auf die Abiturprüfung vorzubereiten, zog Mendelsohn zunächst nach Heidelberg und 113 Vgl.

Mendelsohn: Lebenslauf. Unter Uns, S. 41 f. (meine Übersetzung – PL).

114 Kaplan:

252

10. Der Freund als Mitmensch

im Sommer 1923 nach Hamburg, um unter anderem bei Ernst Cassirer, ihrem späteren Doktorvater, Philosophie zu studieren.115 Die Freundinnen wichen auf eine Kommunikationsform aus, die sie in ihrem weiteren Leben stetig begleiten würde: Sie schrieben sich wöchentlich Briefe, in denen sie sich – soweit wir aus Mendelsohns Erinnerung wissen – über alles austauschten, vom Liebeskummer bis zu den Aporien in Platons Politeia. Sogar als Arendt mit Grumach, von dem sich Mendelsohn erst kurz vor ihrem Studienbeginn getrennt hatte, ein amouröses Abenteuer begann, trübte das die Stimmung nicht. Sie waren sich auch in der räumlichen Entfernung noch nah – ja, vielleicht sogar näher als jemals zuvor, denn nun entwickelte sich ein echter Dialog, der persönliche Fragen genauso wie die großen philosophischen Probleme umfasste. Auf jeden Brief folgte eine Antwort, die wiederum neue Fragen und Problemstellungen enthielt. Auch von der neuen Technik des privaten Telefons machten die Freundinnen bereits Gebrauch und Anne Mendelsohn erinnerte sich, dass Arendt am Apparat bisweilen verunsichert ins „Sie“ gerutscht sei, was eine ganz eigenartige Atmosphäre geschaffen habe. „Hier ist Hannah Arendt“, meldete sich Arendt eines Tages, nachdem sie längere Zeit nicht miteinander gesprochen hatten. „Erinnern Sie sich noch an mich?“116 Natürlich tat sie das. Aber die telefonische Kommunikation wirkte damals noch eigentümlich vermittelt – immerhin musste der Anrufer sich noch über das sogenannte ‚Fräulein vom Amt‘ verbinden lassen – und der Brief blieb lange Zeit die direkte Form des Austausches auf Distanz. Das Telefon dagegen entsprach in der Wahrnehmung der Zeitgenossen noch seiner wörtlichen Bedeutung als tēle phōnē, also „ferner Klang“. Es ging in den Briefen und Telefonanten nicht nur um Interesse am anderen, sondern auch um die Öffnung und Spiegelung des Ich; um eine Distanz zu sich selbst, die im Anderen ihren Ausdruck findet und diesen somit zum Teil des Selbst macht  – ganz so, wie Löwith den Freund als alter ego beschrieben hatte. Doch die Anverwandlung verläuft in zwei Richtungen: Wie der Andere im Gespräch Teil des Selbst wird, schafft es auch eine Verbindung des Ich zum Allgemeinen, zur Menschheit. Das zwischenmenschliche Verhältnis der Freundschaft, das scheinbar ganz intim und exklusiv ist, öffnet das Bewusstsein für die Welt. „Erst indem wir darüber sprechen, vermenschlichen wir das, was in der Welt, wie das, was in unserem eigenen Innern vorgeht“, erklärte Arendt Jahrzehnte später in ihrer berühmten Lessing-Preisrede und fügte hinzu: In „diesem Sprechen lernen wir, menschlich zu sein. Diese Menschlichkeit, die sich in den Gesprächen der Freundschaft verwirklicht, nannten die Griechen ‚philanthropia‘, eine ‚Liebe zu den Menschen‘, die sich darin erweist, dass man bereit ist, die 115 Vgl.

Mendelsohn: Lebenslauf. nach Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. For the Love of the World. New Haven, London 1982, S. 36 (meine Übersetzung – PL). Die Stelle fehlt in der deutschen Fassung des Buches. 116 Zitiert

10.5. Die ewige Jugendfreundin Anne Mendelsohn

253

Welt mit ihnen zu teilen.“117 Es ist dieser Gedanke, der die politische Philosophie Arendts von Jugendtagen an und bis zum Sterbebett durchzieht: Freundschaft als Inbegriff und Medium der Menschlichkeit, die wiederum Voraussetzung für ein rational verfasstes Gemeinwesen ist. Freundschaft ist dieser Auffassung zufolge keine bloß zufällige Gefühlsregung, sondern selbst politisches Handeln. Ausgehend vom philia-Begriff Aristoteles’ war für Arendt klar, dass das Humane nicht schwärmerisch auftritt, sondern nüchtern und kühl; dass die Menschlichkeit sich nicht in der Brüderlichkeit erweist, sondern in der Freundschaft; dass die Freundschaft nicht intim persönlich ist, sondern politische Ansprüche stellt und auf die Welt bezogen bleibt […].118

Der Lesekreis war eine erste Annäherung an dieses Freundschaftsideal gewesen, die nun entstehende Korrespondenz mit ihrer Vertrauten Anne der nächste Schritt. Doch von einer ausformulierten Theorie der Freundschaft konnte Anfang der zwanziger Jahre wahrlich noch keine Rede sein. Als Arendt 1923 nach Königsberg zurückkehrte, um ihre Abiturprüfung abzulegen, stellte Mendelsohn gerade ihre von Cassirer betreute Dissertation fertig. Kurzzeitig waren sie wieder vereint, denn auch Anne zog nach ihrem Studium zunächst nach Allenstein zurück, wo sie gemeinsam mit ihren Eltern Georg und Rose sowie ihrer Schwester Catherine lebte. Die Freundinnen besuchten sich regelmäßig, doch schon wenige Monate später brach Arendt zum Studium nach Marburg auf, wo sie bei Nikolai Hartmann und Martin Heidegger Philosophie studierte, mit den Nebenfächern Gräzistik und Evangelische Theologie. Philosophie und Gräzistik waren eine logische und durchaus übliche Kombination, zumal Arendt ja schon als Schülerin großes Interesse für das Altgriechische gezeigt hatte. Die Wahl des Faches Evangelische Theologie ist für eine jüdische Studentin schon erläuterungsbedürftiger. Zum einen bekleidete mit Rudolf Bultmann, von dem eine große Strahlkraft ausging, einer der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit den Lehrstuhl für Neues Testament; zum anderen aber lässt sich die Wahl des Faches auch so verstehen, dass Arendt Interesse an religiösen Fragen zeigte, die Disziplin der Judaistik oder der „Wissenschaft des Judentums“ aber damals noch keinen Platz an deutschen Universitäten hatte.119 Arendts Verhältnis zur jüdischen Religion war nicht spirituell, sondern vielmehr philosophisch und historisch motiviert. Sie interessierte sich für die allgemeinmenschlichen Fragen, die in der jüdischen Tradition verhandelt wurden, und für die Geschichte des jüdischen Volkes, deren Teil sie selbst war. Bultmanns Entmythologisierung der biblischen Überlieferung hatte zwar zweifellos eine 117 Hannah Arendt: Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. In: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten. München 32014, S. 38. 118 Ebd. 119 Zur spannungsreichen Beziehung siehe Christian Wiese: Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere? Tübingen 1999.

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10. Der Freund als Mitmensch

antijüdische Schlagseite, aber er lehrte keine christlichen Dogmen, sondern versuchte die Studenten zur kritischen Textexegese anzuregen und eine Figur wie Jesus aus dem zeitgeschichtlichen Kontext der jüdischen Gesellschaft zur Zeit des zweiten Tempels zu verstehen.120 Das sprach die junge Hannah Arendt an.

10.6. Philosophie der Nächstenliebe Anfang 1926 wechselte Arendt – nicht zuletzt auf Drängen Heideggers hin – den Studienort und ging nach Freiburg, um bei Heideggers Lehrer Edmund Husserl zu hören, bevor sie nach Heidelberg wechselte, wo sie schließlich Karl Jaspers als Betreuer ihrer Doktorarbeit gewinnen konnte. Von ihm hat sie entscheidende philosophische Impulse bekommen, die auch in ihre Dissertationsschrift Der Liebesbegriff bei Augustin eingehen sollten. Das Thema ihrer Arbeit mag zunächst, wie die Wahl des Studienfaches Evangelische Theologie, überraschen; führt man sich aber vor Augen, dass auch Arendts Freund Hans Jonas, der in Marburg zum Königsberger Kreis gehörte, über Augustinus nachdachte, so zeigt sich, dass der berühmte Kirchenvater im Zentrum vieler Diskussionen des Kreises stand.121 Dies hatte freilich nicht zuletzt mit den Vorlesungen und Seminaren Bultmanns und Heideggers zu tun. In Arendts Dissertation, die die Grundlage ihrer Philosophie der Freundschaft legen sollte, ging neben diesen Einflüssen auch Jaspers’ Liebesbegriff ein, wie er in seinem philosophischen Hauptwerk Psychologie der Weltanschauungen entwickelt worden war. In dem 1919 veröffentlichten Buch hatte Jaspers das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt untersucht. Jede „Weltanschauung“ habe ihre Wurzel in der konkreten Erfahrung: In den Konsequenzen unseres Handelns und Denkens, in dem Konflikt mit der Wirklichkeit, die in dem tatsächlichen Geschehen sich fast immer irgendwie anders zeigt, als wir gemeint hatten; in dem geistigen Zusammenströmen mit Persönlichkeiten, denen wir nahe kommen, und von denen wir dann wieder abgestoßen oder in eine erstarrte Beziehung aufgenommen werden […]. Wir bemerken in uns selbst, in unserem Verhältnis zu Menschen und zur Welt Widersprüche, weil unser zunächst unbemerktes Sein, Wünschen und Tendieren anders ist, als das, was wir bewußt gewollt hatten.122

Aus diesen Erfahrungen entwüchsen verschiedenartige „Einstellungen“, die Jaspers aufsteigend von der „gegenständlichen“ bis zur „enthusiastischen Einstellung“ systematisierte. Letztere zeichne sich durch Grenzenlosigkeit aus und 120 Vgl. Rudolf Bultmann: Jesus. Berlin 1926. Das Buch wurde genau in der Zeit geschrieben, als Arendt in Marburg war. Vgl. Konrad Hammann: Die Entstehung von Bultmanns Jesus-Buch. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 107, 2 (Juni 2010), S. 191–214. 121 Hans Jonas: Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Ein philosophischer Beitrag zur Genesis der christlich-abendländischen Freiheitsidee. Göttingen 1930. 122 Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1919, S. 7.

10.6. Philosophie der Nächstenliebe

255

sei, wie die Philosophie, auf Totalität, auf das Ganze bezogen. Das Wesen der enthusiastischen Einstellung sei „die metaphysische Fundierung, die Inkommensurabilität an rationalen Kategorien, an Nützlichkeit, Erfolg, bloßer Realität: ohne zureichend bestimmbaren ‚Zweck‘ (nicht ohne erlebten Sinn) opfert sich der Mensch im Enthusiasmus; er begeht, nach gewohnten Erwägungen beurteilt, ‚sinnlose‘ Handlungen.“123 Schon in diesen ersten Passagen des Kapitels über die „enthusiastischen Einstellungen“ ist die Figur des liebestollen Schwärmers, der sich der Liebe hingibt, ohne auf sein eigenes Wohl Rücksicht zu nehmen, förmlich greifbar. Wer wahrhaft liebt, sei bereit, das eigene Leben für den Anderen zu opfern. Doch Jaspers definierte den Enthusiasmus zugleich als „Selbstwerden in Selbsthingabe“.124 Wie einst Hegel im berühmten Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft“ der Phänomenologie des Geistes, behauptete auch Jaspers, Selbstbewusstsein lasse sich nur erringen, wenn der Mensch das „Risiko des Nichtsein“ auf sich genommen habe.125 Während aber Suizid und Märtyrertod unweigerlich zum Tod führten, sei die Liebe als spezifische Form der Selbstaufopferung dem gemeinsamen Leben zugewandt. Ihr widmete Jaspers daher große Aufmerksamkeit. Liebe sei „etwas Universales; es ist eine Bewegung in uns durch alles Konkrete hindurch […] in das Absolute und Ganze.“126 Das bedeute allerdings nicht, dass in der Liebe das Einzelne verschwinde. Im Gegenteil: Der Liebende, der sich in der Beziehung selbst hingebe, liebe immer ein konkretes Individuum. Zwischen den Liebenden, die sich wechselseitig als Individuen gegenüberstehen und sich zugleich in der Liebe verlieren, sei „das vollkommene Verstehen“ möglich: „Es ist als ob ein Weg zur absoluten individuellen Substanz gefunden sei, aber nicht zu ihr als einer isolierten Monade, sondern als eingebettet in das Absolute überhaupt.“127 Anders als Heidegger, der – wie schon von Löwith scharf kritisiert – sich auf jene „isolierte Monade“ kaprizierte und das Tosen der Welt gewissermaßen als Störgeräusch wahrnahm, das die Hörigkeit gegenüber dem Sein überdröhnte, legte Jaspers den Fokus auf die Dialektik zwischen Individuum und Welt, zwischen Einzelnem und Ganzem, zwischen Liebendem und Totalität.128 Obwohl Arendt, wie wir sehen werden, mit dem Gedanken der Selbstaufopferung nicht viel anfangen konnte, war es genau diese Verbindung von Liebe und In-der123 Ebd.,

S. 103. S. 104. 125 Ebd. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, Bd. 3: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 31977, S. 148–150. 126 Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, S. 107. 127 Ebd., S. 108. 128 Auch Ingeborg Gleichauf: Hannah Arendt und Karl Jaspers. Geschichte einer einzigartigen Freundschaft. Wien u. a. 2021, S. 13 macht diesen Gegensatz zwischen Heideggers Weltlosigkeit und Jaspers’ beziehungsweise Arendts Liebe zur Welt stark. 124 Ebd.,

256

10. Der Freund als Mitmensch

Welt-sein, die sie mit dem christlichen Liebesbegriff Augustins konfrontierte. Während Augustinus Liebe (amor) als Begehren (appetitus) definiert hatte, das auf die Ewigkeit und Allgegenwart Gottes ausgerichtet sei, und diese von einer falschen Liebe unterschied, die sich an die Welt mit ihren Vergänglichkeiten klammere, fragte Arendt, wie „der von allem Welthaften isolierte Mensch coram Deo überhaupt noch ein Interesse am Nächsten haben“ könne.129 Ihre Lösung bestand darin, den Weltbegriff zu entsakralisieren und ihn damit als sozialen Begriff wiederzugewinnen. Der amor mundi, die „Liebe zur Welt“, müsse deshalb als Nächstenliebe (dilectio proximi) verstanden und der Weltabgewandtheit des augustinischen Liebesbegriffs gegenübergestellt werden. Auch wenn Arendt sich eng am lateinischen Text orientierte, ist doch unübersehbar, dass ihre Kritik des augustinischen Verständnisses der dilectio proximi implizit auf das jüdische Konzept der Nächstenliebe (ahavat ha-re‘a) zurückgreift. Max Freudenthal, dessen Religionsbuch Arendts Lehrer Rabbiner Vogelstein zur Lektüre empfohlen und für den Unterricht verwendet hatte, nahm eine ganz ähnliche Haltung ein. Auch er verstand das Gebot der Nächstenliebe vor allem als Fundament einer menschlichen Gesellschaft. „Der ideale Begriff der Gesellschaft ist damit geschaffen“, heißt es bei Freudenthal: Jeder einzelne ist Glied einer Gemeinschaft von Menschen; nicht staatliche und wirtschaftliche Interessen allein, sondern vor allem menschliche Aufgaben und menschliche Leistungen sind das Band, das die Bewohner des Landes zusammenschließt. Wer immer also unter uns lebt, hat Anspruch auf uns.130

Es ist aufschlussreich für Freudenthals Verständnis des Judentums, dass er nicht im Glauben das einigende Band der Gesellschaft ausmachte, sondern in den allen gemeinsamen menschlichen Aufgaben und Leistungen. Er zwängte das israelitische Königreich gewissermaßen in die politische Form der polis – diese wiederum kritisierte er mit Anklängen an die Exodus-Geschichte für den Ausschluss und die Unterdrückung der Sklaven. Das Ergebnis seines gesellschaftspolitischen Entwurfs war eine auf gegenseitigem Respekt, Kooperation und Übereinkunft basierende Arbeitsgesellschaft, die durch die ethischen Maximen des Judentums geprägt ist und den Armen und Schwachen Gerechtigkeit wiederfahren lässt. Als Arendt an ihrer Dissertationsschrift arbeitete, verfügte sie noch nicht über einen ausgearbeiteten Begriff des Politischen, ja, verstand sich selbst noch nicht einmal als politische Denkerin. Später  – vor allem in ihrem philosophischen Hauptwerk Vita Activa – würde sie sich an der griechischen polis orientieren, doch Ende der zwanziger Jahre versuchte sie zunächst einmal, die augustinische Weltabgewandtheit mit der Tatsache des gesellschaftlichen Lebens (vita socialis) 129 Hannah

Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation [1929]. Hrsg. v. Frauke A. Kurbacher. Hamburg 2018, S. 9. 130 Freudenthal: Religionsbuch für den israelitischen Religionsunterricht, S. 102.

10.6. Philosophie der Nächstenliebe

257

zu konfrontieren. Die Parallelen zu Löwiths Heidegger-Kritik sind unübersehbar und so mag es nicht überraschen, dass Arendt dessen Buch über den Mitmenschen zumindest später ausgiebig studiert hat.131 Anders aber als Löwith führte Arendt ihre Argumentation nicht als offene Auseinandersetzung mit Sein und Zeit, sondern als immanente Kritik der augustinischen Theologie durch und legte deren logische Schwachstellen bloß. Oberflächlich betrachtet liest sich die Arbeit wie eine minutiöse Rekonstruktion des augustinischen Liebesbegriffs, aber Arendts eigene Position erschließt sich implizit im Fortgang der Darstellung. Augustins Verständnis der Nächstenliebe stellte sie zunächst im Anschluss an den Römerbrief dar, denn, so schreibt sie in der Einleitung, „christlich“ besage „niemals mehr als paulinisch und dies deshalb, weil Augustins Leben und Denken, sofern es wirklich religiös und nicht von neoplatonisch-griechischen Einwirkungen bestimmt ist, sich vorwiegend an Paulus orientiert“.132 Im Römerbrief heißt es, ganz im Sinne Hillels, des Zeitgenossen Jesu und Begründers der tannaitischen Schule der Rabbinen133: Ihr sollt niemand etwas schulden, außer [das]: einander zu lieben. Denn wer den anderen liebt, hat [das] Gesetz erfüllt. Denn das du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren und welches andere Gebot [es sonst noch gibt], wird in diesem [einen] Satz zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses; [die] Erfüllung des Gesetzes ist also die Liebe.134

Arendt verband in ihrer Auslegung Augustins diesen Gedanken, dass die Nächstenliebe das Wesen der Halacha sei, mit der Frage des In-der-Welt-seins des Einzelnen: Das diligere invicem [gegenseitige Lieben] ist das Gebot des Gesetzes, es ist der Inbegriff des Gesetzes, auf welches jedes einzelne Gesetz zielt. Das Gesetz regelt und bestimmt das Verhalten der creatura in der Welt, sofern sie in ihr die eremus [Wüste] sieht und in der Bezogenheit auf den eigenen Ursprung lebt; und da diese Welt immer schon eine von Menschen konstituierte ist, bestimmt sie das Verhalten der Menschen zueinander. Die dilectio [hier: Nächstenliebe] ist der Inbegriff aller einzelnen Gebote, sie erfüllt ihrem eignen Sinn nach schon jedes mögliche Gebot. Als dieser Inbegriff der lex [Gesetz] ist sie geboten.135

Das – man könnte sagen: humanistische – Potential, das in diesem Gedanken steckt, könne jedoch von Augustinus nicht ausgeschöpft werden, weil er, so 131 Siehe die zahlreichen Anstreichungen in ihrem New Yorker Handexemplar. Bard College,

Hannah Arendt Collection, Marginalia, BJ1114 .L6. Es ist wahrscheinlich, dass sie das Buch auch schon Ende der zwanziger Jahre kannte. 132 Arendt: Der Liebesbegriff, S. 4. 133 Vgl. bShabbat 31a. Paulus war zudem laut der Apostelgeschichte (22, 3) Schüler des Tannaiten Gamaliel I., der wiederum ein Enkel Hillels war. 134 Röm 13, 8–10. 135 Arendt: Der Liebesbegriff, S. 84.

258

10. Der Freund als Mitmensch

Arendt, die Liebe vom Mitmenschen auf Gott als Schöpfer der letztlich austauschbaren Kreaturen umlenke. Augustinus’ Liebe richte sich nicht auf die Welt, die von Menschen konstituiert ist, sondern „auf das absolute ante, den Creator“.136 Das Gesetz  – von Arendt als lex latinisiert, es könnte hier aber genauso gut halachah stehen  – fordere das gedeihliche Zusammenleben mit anderen Menschen im Zeichen der Gerechtigkeit, Augustinus aber interessiere sich nicht für den Anderen als konkretes Individuum, sondern immer nur als auf die Schöpfung zurückverweisende Präsenz Gottes: Damit verliert der Andere, der Nächste, seinen in seiner konkreten weltlichen Existenz liegenden Sinn für sie – etwa als Freund oder als Feind –: Er ist […] nur noch Gottes creatura, er begegnet dem von Gottes Liebe her bestimmten Menschen als a Deo creatus [von Gott geschaffen].137

Arendt spitzte zu, dass für Augustinus „jeder Geliebte nur Anlaß ist für die Liebe zu Gott“.138 Möglicherweise wäre es für Arendt aufschlussreich gewesen, die verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Nächster“ herauszuarbeiten, gerade im Hinblick auf das Verhältnis zwischen lateinischen, griechischen und hebräischen Quellen.139 Verwendet der Römerbrief im achten Vers nämlich zunächst das Wort heteros, also die Nächsten in einem qualitativen Sinne als „die Anderen“, die verschieden von mir selbst sind, so spricht er im neunten Vers von den plêsios, also den Nächsten im räumlichen oder auch im emotionalen Sinne als „die Nahestehenden“. Augustins proximi schließt an plêsios an, und meint hier den nahen Verwandten oder Vertrauten. Die dilectio fraterna (Liebe zum Bruder) übersetzte Arendt entsprechend einfach mit „fraterna = proximi“.140 Im biblischen Hebräisch heißt es dagegen re‘a, was den „Nächsten“ als Volks- und Stammesgenossen bezeichnet und davon abgeleitet auch den Freund und Vertrauten meint, nicht aber das bloß räumliche Nebeneinander (plêsios).141 Es geht im Gebot der Nächstenliebe also ursprünglich nicht um jeden beliebigen Menschen, der gerade in der Nähe ist, sondern immer schon um einen Mitmenschen, zu dem eine persönliche Beziehung besteht.142 Der Nächste ist angesprochen als ein kon136 Ebd.,

S. 85.

138 Ebd.,

S. 88.

137 Ebd.

139 Young-Bruehl hebt in Bezug auf das Griechische und Lateinische den Einfluss des Heidel-

berger Neutestamentlers Martin Dibelius hervor. Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 113. 140 Arendt: Der Liebesbegriff, S. 87. 141 Vgl. Gesenius: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, S. 764. Das Dictionary of Classical Hebrew, Bd. 7. Sheffield 1998, S. 509 nennt unter dem Eintrag „re‛a“ Jesus Sirach neben dem Buch Hiob als Hauptquelle. 142 In Leviticus 19, 18 steht das Gebot insofern ganz klar im Kontext verwandtschaftlicher Verhältnisse. Zunz übersetzt: „Du sollst dich nicht rächen und nichts nachtragen den Kindern deines Volkes [b’nej amecha], sondern deinen Nächsten [re‘echa] lieben, wie Dich selbst.“ Die

10.6. Philosophie der Nächstenliebe

259

kretes Individuum in einer sozialen Welt. Das steht der Weltlosigkeit der bloßen Kreatur Augustins entgegen. Im letzten Teil ihrer Arbeit rückte Arendt das In-der-Welt-sein des Menschen in den Mittelpunkt und näherte sich damit dem jüdischen Konzept der Nächstenliebe als „idealem Begriff der Gesellschaft“ an, wie es von Freudenthal formuliert worden war. Gleichzeitig formulierte sie hier die ersten Ansätze ihrer späteren politischen Philosophie, in der die Freundschaft zwischen Individuum und polis vermittelt. Anders als im späteren Werk aber war in ihrer Dissertation noch nicht Aristoteles die entscheidende Referenz, sondern ein gegen den Strich gelesener Augustinus. Die fundamentale Widersprüchlichkeit seines Denkens, die Arendt in der Unmöglichkeit ausmachte, die Gebote Gottes im Rückzug von der Welt zu erfüllen, ermöglichte ihr den Entwurf einer menschlichen Gemeinschaft, die auf dem biblischen Gebot der Nächstenliebe fußte. „Ausgehend von der Tatsache, daß die innerweltliche caritas [tätige Liebe] des Christentums gebunden ist an die Liebe zu Gott“, fasste sie ihre Augustinus-Kritik zusammen, „haben wir zwei verschiedene Gedankenreihen Augustins verfolgt, die die jedesmal andersgeartete Verbundenheit des Menschen mit Gott darstellen sollten, mit dem Erfolg oder eigentlich Mißerfolg, daß die Nächstenliebe in ihrer eigentlichen Relevanz unfaßbar blieb.“143 Arendts Anliegen dagegen war es, die Nächstenliebe zur Grundlage der menschlichen Gesellschaft zu machen. Dies erforderte aus ihrer Sicht eine Kritik des Christentums. Da der christliche Glaube „den Menschen aus der Welt heraus“ nehme und ihn von der civitas terrena (irdischen Bürgerschaft) isoliere, „die immer zugleich eine societas [Gemeinschaft] ist, das heißt bestimmt durch ein Mit- und Füreinander der Menschen und nicht durch ein einfaches Nebeneinander“, verfehle er den Sinn der Nächstenliebe.144 Laut Augustinus verweise die Nächstenliebe zwar auf die „gemeinsame Abstammung von Adam“ zurück und damit auf eine „bestimmte und verbindliche Äqualität aller Menschen miteinander“.145 Aber auch diese Form der Gleichheit sei wieder auf den Ursprung bezogen, sodass der Neubeginn, der mit jedem In-der-Weltsein verbunden ist, verdeckt bleibe. Kurzum: Wer den Nächsten ausschließlich als Nachfahren Adams liebe, zeige am je besonderen Menschen kein Interesse. Auch in dieser Rückwendung auf Adam erweise sich die Nächstenliebe nur als Gottesliebe. Wie der re‘a ein Freund oder Verwandter ist, der „wie Du“ (kamocha) ist, sieht auch Augustinus im proximus einen Verwandten, dessen Äqualität „weder eine Gleichheit der Eigenschaften oder der Anlagen ist, sondern die Äqualität der vier und zwanzig Bücher der Heiligen Schrift. Nach dem masoretischen Texte. Unter der Redaktion von Dr. Zunz übersetzt von H. Arnheim, Dr. Julius Fürst, Dr. M. Sachs. Berlin 31848, S. 113. 143 Arendt: Der Liebesbegriff, S. 93. 144 Ebd., S. 95. 145 Ebd., S. 96.

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10. Der Freund als Mitmensch

Situation.“146 Diese Situation, gewissermaßen die condition humaine, beschreibt Arendt wie folgt: „Alle haben das gleiche Schicksal. Der Einzelne ist nicht allein in der Welt, sondern er hat Schicksalsgenossen (consortes), und dies nicht nur in dieser oder jener Lage, sondern während seines ganzen Lebens.“147 Das Schicksal bestimmte Augustinus durch die Sterblichkeit aller Menschen. Hier traf sich die augustinische Theologie mit Heideggers „Sein zum Tode“ und genau hier verlief auch die Linie, an der sich Arendts Philosophie von der ihres Lehrers unterschied. Nicht Heideggers „Sorge“ und auch nicht Augustins appetitus des summum bonum, also das Streben nach Unvergänglichkeit, würde für Arendts Philosophie leitend sein, sondern das Handeln aus Freiheit. Diese gründe aber nicht in der Furcht vor dem Tod oder dem Versuch, den Tod zu überwinden, sondern in der nackten Tatsache der „Natalität“. Als in die Welt Geworfene begännen die Menschen immer von neuem, an der Welt teilzuhaben und sie zu gestalten, schrieb Arendt später in Vita Activa.148 Die Voraussetzung für diese politische Handlungstheorie war der Weltbegriff, wie sie ihn Ende der zwanziger Jahre in ihrer Dissertation in kritischer Auseinandersetzung mit Augustinus’ Konzept der Nächstenliebe herausgearbeitet hatte. Das In-der-Welt-sein des Einzelnen war für sie immer schon das Zusammensein mit anderen. Der universelle Gehalt des Begriffs der Nächstenliebe war zugleich von einem partikularistischen Moment begleitet: Der vita socialis eignete nicht nur die allgemein-menschliche Verbundenheit in einer politischen Gemeinschaft, sondern auch das sehr konkrete alltägliche Zusammensein mit anderen, zu denen sich der Einzelne als „Verwandten“ und „Vertrauten“ hingezogen fühlte. Im biblischen Gebot der Nächstenliebe stehen beide Bedeutungen, die allgemein-menschliche wie die strikt auf das „eigene Volk“ bezogene, unmittelbar nebeneinander. Hannah Arendt sollte sich in den nächsten Jahren genau mit diesem Verhältnis von Universalismus und Partikularismus beschäftigen – und damit konkretisierte sich, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, das Problem der Nächstenliebe als Frage nach der Möglichkeit von Freundschaft zwischen Juden und Nichtjuden. Ihre persönliche Erfahrung hatte ihr beides gezeigt: die Zurückweisung durch Heidegger, der sie  – auch unter dem Druck seiner fanatisch antisemitisch eingestellten Ehefrau Elfriede – einfach nach Heidelberg abgeschoben hatte, und die freundliche Aufnahme durch Jaspers, zu dessen engstem Kreis seine Frau Gertrud (1879–1974) und deren Bruder Ernst Mayer

146 Ebd. Buber und Rosenzweig übersetzen Leviticus 19, 18: „lieb deinen Genossen  / dir gleich.“ Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Die fünf Bücher der Weisung. Drittes Buch: Das Buch Er rief. Berlin [1926], S. 82. 147 Arendt: Der Liebesbegriff, S. 96. 148 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich 101998, S. 18. Vgl. für den Zusammenhang zwischen der Dissertation und Vita Activa Elisabeth Young-Bruehl: Arendts Dissertation: Eine Synopse. In: Dies.: Hannah Arendt, S. 658–661.

10.6. Philosophie der Nächstenliebe

261

(1883–1952) zählten, die aus einer orthodoxen jüdischen Familie stammten.149 Im Hause Jaspers, das von Gertrud Jaspers minutiös organisiert wurde, standen jüdische Studenten nicht unter Vorbehalt, sondern wurden als eigenständige Individuen respektiert. Dies war die unabdingbare Voraussetzung für Freundschaften zwischen Juden und Christen. „Liebe kann es zu jedem Menschen geben“, hatte Gertrud Jaspers’ Mutter Clara 1910 geschrieben, als es um die Einwilligung der Eltern zu ihrer Ehe mit dem Nichtjuden Karl Jaspers ging.150 Und sie schob als Begründung nach, auch die Prophetin Mirjam, die Schwester des Moses, habe „keinen Juden geheiratet“.151 Was für die Mischehe galt, galt erst recht für die Mischfreundschaft. Oder doch nicht? Ausgerechnet die christlichjüdische Freundschaft sollte in den kommenden Jahren unter Beschuss geraten und für immer Schaden erleiden.

149 Gertrud und Ernst Mayer waren für Jaspers nicht nur Ehefrau und Schwager, sondern zugleich philosophische Gesprächspartner. Vgl. Lars Fischer: Vorgestellt: Gertrud Mayer-Jaspers (1879–1974). In: Medaon 7, 13 (2013), S. 1–14, auf: http://www.medaon.de/pdf/MEDAON_13_ Artikel_Fischer.pdf (letzter Zugriff: 10. 12. ​2022). 150 Zitiert nach ebd., S. 7. 151 Sollte Gertrud Jaspers die Erinnerung an diese Worte ihrer Mutter nicht trügen, so handelt es sich um einen bemerkenswerten Vergleich. Schließlich ist der Name Mirjam im biblischen Kontext wahrscheinlich vom Verb marah abgeleitet, was „widerspenstig sein“ bedeutet. Mirjam und Aaron kritisieren Moses offen dafür, dass er eine „Kushitin“ geheiratet hat, die Midianiterin Tsipporah (vgl. Numeri 12:1). Noch erstaunlicher ist, dass Mirjam selbst laut biblischem Bericht zwar tatsächlich „keinen Juden heiratete“, allerdings auch keinen Nichtjuden. Sie blieb ledig.

11. Gegensätze ziehen sich an .‫רעהו‬-‫ יחד פני‬,‫ ואיש‬.‫ברזל בברזל יחד‬ Mishlej 27, 17

1

Als Anne Mendelsohn eines Tages in den Regalen und Kisten eines bankrotten Buchhändlers in Allenstein stöberte, machte sie einen wahrhaften Glücksfund: eine dreibändige Sammlung der Briefe der jüdischen Salonière Rahel Levin, das von ihrem Mann Karl August Varnhagen von Ense herausgegebene Buch des Andenkens für ihre Freunde.2 Mendelsohn erwarb die Bücher für einen Spottpreis und stürzte sich auf die Lektüre.3 Tief beeindruckt von der außergewöhnlichen Persönlichkeit Rahels, einer der bekanntesten Salonières der Romantik, versuchte Mendelsohn 1921, als sie ihre spätere „beste Freundin“ Hannah Arendt das erste Mal traf, auch diese von Rahel zu begeistern. Doch Arendt zeigte zunächst wenig Interesse. Erst als sie sich in Vorbereitung ihrer Habilitationsschrift Ende der zwanziger Jahre verstärkt mit der Romantik beschäftigte, erinnerte sie sich wieder an die Briefbände, die Anne Weil ihr einst, am Beginn ihrer Freundschaft, geschenkt hatte.4 Die Briefauswahl sollte schließlich der Ausgangspunkt ihrer geplanten Habilitationsschrift werden, der erst 1957 erstmals veröffentlichten Rahel-Biographie, die aber zum Zeitpunkt ihrer Emigration nach der kurzzeitigen Verhaftung durch die Gestapo im Juli 1933 in Teilen bereits fertiggestellt war.5 Das Rahel-Buch, das 1 Hebräisch: „Eisen wird an Eisen geschärft; so schärft einer das Angesicht seines Genossen.“

2 Karl August Varnhagen von Ense (Hg.): Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. 3 Bde. Berlin 1834. 3 Vgl. Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 101. Siehe auch Liliane Weissberg: Hannah Arendt und ihre „wirklich beste Freundin, die nur leider schon hundert Jahre tot ist“. In: Blume u. a. (Hg.): Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert, S. 28. 4 Es kursieren verschiedene Varianten der Geschichte. In einem Brief an Glenn Gray vom 16. August 1975, also kurz vor ihrem Tod, erinnerte sich Arendt, Weil habe ihr die Rahel-Briefe gegeben, als sie sich das erste Mal getroffen hätten: „I read them and reflected on them but left all that alone when I went to study philosophy; after I finished the Augustine it occurred to me that I should go back to this unfinished Rahel-business.“ Zitiert nach Barbara Hahn: „Einfach Rahel Varnhagen. Eine Biographie“. Nachwort. In: Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2. Hrsg. v. Barbara Hahn. Göttingen 2021, S. 871. 5 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. The Life of a Jewess. London 1957. Zu Arendts scharfer Kritik an dem Buch des Andenkens siehe unten.

264

11. Gegensätze ziehen sich an

auf der ersten Seite die Widmung „Für Anne, seit 1921“ trägt, interessiert uns aber nicht nur deshalb, weil mit ihm die weiteren Lebensstationen Arendts verknüpft sind, sondern vor allem, weil es die Philosophie der Freundschaft, deren Fundament bereits in der Augustinus-Studie gegossen worden war, nun an einem konkreten historischen Beispiel ausbuchstabierte: Was bedeuteten Freundschaft und Nächstenliebe in einer Welt der Konflikte und Antagonismen? Und unter welchen Bedingungen war Freundschaft zwischen Juden und Nichtjuden möglich?

11.1. Die wirklich beste Freundin Das Leben Rahel Levins, die 1814 zum Katholizismus übergetreten war und fortan den Nachnamen ihres Mannes Karl Varnhagen getragen hatte, faszinierte Arendt so sehr, dass sie in Rahel ihre „wirklich beste Freundin“ sah, mit der sie über das Jahrhundert hinweg, das sie trennte, verbunden sei.6 Rahel wurde für Arendt eine Freundin, an deren Schicksal sich ihr eigenes spiegelte. Es wäre deshalb irreführend, die Biographie vorwiegend als historisches Buch zu lesen. Tatsächlich ist es auch ein politisches und philosophisches Werk, in dem das deutsch-jüdische Verhältnis nicht zuletzt aus der Mikroperspektive der Freundschaft betrachtet wird. Um das Buch aus dem lebensgeschichtlichen Kontext Arendts heraus zu verstehen, ist es hilfreich, das Maß an Identifikation mit ihrer Protagonistin realistisch einzuschätzen. Selbstverständlich wusste Arendt, dass sie Rahels Persönlichkeit historisch nur gerecht werden konnte, wenn sie sie durch ihre Briefe und Tagebücher selbst zur Sprache kommen ließ; zugleich aber verdankt sich die hohe literarische Qualität des Buches auch der Fähigkeit Arendts, sich in Rahel – oder die, die sie für Rahel hielt – einzufühlen. Gerade die psychologischen Spekulationen über Rahels Beweggründe und Gefühle verleihen ihrer Darstellung eine so große Lebendigkeit. Das hatte einen Preis: Es steckt mehr Arendt in ‚ihrer 6 Hannah Arendt an Heinrich Blücher, 12. August 1936. In: Hannah Arendt, Heinrich Blücher.

Briefe 1936–1968. Hrsg. v. Lotte Köhler. München 1996, S. 45. Es ist aufschlussreich, dass sich Arendt für den Titel Rahel Varnhagen entschied, denn eigentlich hieß „Rahel“ zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens so. Geboren als Rahel Levin, nannte sie sich seit 1795 auch Rahel Robert oder Rahel Robert-Tornow, um den jüdischen Nachnamen zu verstecken. Als sie 1814 zum Christentum übertrat, um Karl Varnhagen heiraten zu können, nahm sie offiziell den Namen Antonie Friederike Varnhagen an, wurde aber von ihren Freunden weiterhin „Rahel“ genannt. Dieses Prenonym hat sich auch in der literarischen Öffentlichkeit nach ihrem Tod durchgesetzt, etwa in den ersten Biographien von Eduard Schmidt-Weißenfels: Rahel und ihre Zeit. Leipzig 1857; Kate Vaughan Jennings: Rahel. Her Life and Letters. London 1876; Ellen Key: Rahel. Eine biographische Skizze. Halle 1907. Siehe allerdings auch schon Otto Berdrow: Rahel Varnhagen. Ein Lebens- und Zeitbild. Stuttgart 1900 und die Mischform von Jean-Édouard Spenlé: Rahel. Madame Varnhagen von Ense. Histoire d’un salon romantique en Allemagne. Paris 1910.

11.1. Die wirklich beste Freundin

265

Rahel‘ als es die verfügbaren Quellen hergeben. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich das Buch partiell daher auch als verschlüsselte Autobiographie lesen.7 Die Idee, sich in der Habilitationsschrift mit der Romantik zu beschäftigen, hatte viel mit den Diskussionen zu tun, die sie mit dem Kreis um den Germanisten Benno von Wiese (1903–1987) und den Romanisten Hugo Friedrich (1904–1978) führte, dem sie 1927 nähergekommen war. Von Wiese wurde 1927 von Jaspers mit der Arbeit Friedrich Schlegel. Ein Beitrag zur Geschichte der romantischen Konversionen promoviert, Friedrich ein Jahr später mit einer literaturwissenschaftlichen Studie über die deutsche Rezeption des französischen Schriftstellers Antoine-François Prévost. Dass Arendt sich der Romantik zuwandte, lag daher ebenso nahe wie einige Jahre zuvor die Beschäftigung mit Augustinus. Aber wie sich in ihrer Dissertation eine jüdische Kritik der christlichen Interpretation der Nächstenliebe entdecken lässt, so fokussierte sich Arendt nun auf einen Aspekt der deutschen Romantik, der in der damaligen akademischen Forschung weitgehend ignoriert wurde: den jüdischen Anteil daran. Es waren vorwiegend jüdische Autorinnen am Rande oder außerhalb der Akademie gewesen, die in der Weimarer Republik die Bedeutung Rahels erkannten und Arendts Untersuchung damit das Feld bereiteten. Die Historikerin Selma Stern (1890–1981) widmete Rahel einige Aufmerksamkeit, ebenso die Kinderbuchautorin Else Dormitzer (1877–1958), und auch Margarete Susman stellte sie 1929 in ihrem Buch Frauen der Romantik ins Zentrum.8 Auch die zionistische Journalistin Bertha Badt-Strauss (1885–1970) und die Historikerin Augusta Weldler-Steinberg (1879–1932) widmeten sich dem Werk der Berliner Salondame und betätigten sich als Herausgeberinnen ihrer Briefe.9 Sie alle sahen in Rahel trotz der Einzigartigkeit ihrer Person die deutsch-jüdische Synthese verkörpert, die gerade in ihren Freundschaften mit berühmten deutschen Gelehrten und Schriftstellern wie den Humboldt-Brüdern, Schleiermacher, Schlegel und Tieck zum Ausdruck komme. Susman sah in ihr eine „zugleich echt moderne und echt jüdische Gestalt, in der das ursprüngliche jüdische Verhalten mit der Erleuchtung durch 7 Diese

Interpretation vertritt auch Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 102–104. Barbara Hahn: Rahel Levin Varnhagen. In: Etienne Francois, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte III. München 2009, S. 510 f. Selma Stern: Die Entwicklung des jüdischen Frauentypus seit dem Mittelalter. Teil II: Der Frauentypus der Romantik. In: Der Morgen. Monatsschrift der Juden in Deutschland 1, 4 (Oktober 1925), S. 496–516; Else Dormitzer: Berühmte jüdische Frauen in Vergangenheit und Gegenwart. Berlin 1925; Margarete Susman: Frauen der Romantik. Jena 1929. Siehe von Susman auch bereits die Aufsätze Rahels geistiges Wesen. In: Neue Jüdische Monatshefte 2, 20/22 (25. Juli 1918), S. 464–477 sowie Rahel. In: Der Morgen. Monatsschrift der Juden in Deutschland 4, 2 (Juni 1928), S. 118–138. Letzterer war die Grundlage für das entsprechende Buchkapitel von Frauen der Romantik. 9 Siehe schon Bertha Badt-Strauss: Rahel und ihre Zeit. Briefe und Zeugnisse. Ausgewählt von Bertha Badt. München 1912 sowie Rahel Varnhagen: Menschen untereinander. Hrsg. v. Bertha Badt. Berlin 1928; Rahel Varnhagen. Ein Frauenleben in Briefen. Hrsg. v. Augusta Weldler-Steinberg Weimar 1917. 8 Vgl.

266

11. Gegensätze ziehen sich an

die deutsche Gedankenwelt zusammentraf “.10 Kaum überraschend daher, dass Selma Stern Rahel mit der biblischen Figur Ruth verglich, die ja auch zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen (moabitischen) Welt stand: „Ist ihre Hingabe an die Nächsten, an die Freunde, die bis zur Selbstaufopferung ging, nicht die gleiche Hingabe, die Ruth einst lehrte, der Mutter ihres Mannes ins fremde Land zu folgen?“11 Als Bindeglied zwischen zwei Welten, der jüdischen und der christlichen, war Rahel für Stern ein neuer Typus der jüdischen Frau, die sich, so sehr sie im Innersten dem Jüdischen verhaftet geblieben sei, von ihrer Tradition gelöst habe, um ein freies und unabhängiges Individuum zu werden. Die „Emanzipationsjüdin“, wie Stern das nannte, suche sich auch außerhalb ihrer Religionsgemeinschaft Freundinnen und Freunde und folge ihnen wie einst Ruth der No’omi ins „fremde Land“.12 Die Konversion zum Christentum, die das implizierte, sparte Stern an dieser Stelle aus, obwohl sie im Wort der „Selbstaufopferung“ noch durchscheint. Stern, Susman und Dormitzer zeichneten Rahel als große Freundin, ja, sie sei, wie Susman schreibt, geradewegs „zur Freundin ausersehen“.13 Aber die Freundschaft mit Juden, allen voran mit dem Berliner Arzt David Veit, interessierte sie alle erstaunlicherweise kaum, obwohl im Briefwechsel mit Veit das Jüdischsein in besonderer Weise reflektiert wird.14 Gerade Veit gegenüber offenbarte Rahel auch ihr Unbehagen darüber, aller Wertschätzung von Seiten ihrer christlichen Gesprächspartner zum Trotz eben doch immer als Jüdin behandelt zu werden. Dem Jüdischsein, so schrieb sie Veit, könne man nicht entkommen.15 Das war die dunkle Seite der „deutsch-jüdischen Synthese“, die auch Susman und Stern schon registrierten, die aber schließlich erst Hannah Arendt mit kritischem Gespür vollends ans Licht zerrte.  Susman: Rahels geistiges Wesen, S. 468. Die Entwicklung des jüdischen Frauentypus, S. 503. 12 Die Entscheidung der Moabiterin Ruth, an No’omis Seite nach Israel zu ziehen, wird von ihr mit einem klaren Bekenntnis zum Judentum begründet: „Dein Volk soll mein Volk sein, und dein Gott mein Gott.“ Rut 1, 16. Olyan: Friendship in the Hebrew Bible, S. 31 f. betont, dass Ruths Loyalität zu No’omi das übliche Maß überschreitet, was auf eine „neue, freiwillige Vereinigung zwischen No’omi und Ruth“ verweise. Allerdings figuriert die Freundschaft im biblischen Text vor allem als Idealtypus einer Proselytin, die sich bedingungslos mit dem Volk Israel identifiziert. Auch die Rabbinen (bT Jevamot 47b) haben das so gesehen, wenn sie Ruths Treue zu No’omi als Konversion interpretieren, die mit der Auslösung durch Boaz ihren Abschluss findet. 13 Susman: Frauen der Romantik, S. 85. Bemerkenswert ist, dass Dormitzer nach der Aufzählung sämtlicher Freunde Rahels ausführlich auf Heine zu sprechen kommt, ohne aber dessen Namen zu erwähnen. Dormitzer: Berühmte jüdische Frauen, S. 13. 14 Vgl. Gesa Frömming: „Freunde, Freundessachen“. Freundschaft als Werk im Briefwechsel mit David Veit. In: Barbara Hahn (Hg.): Begegnungen mit Rahel Levin Varnhagen. Göttingen 2015, S. 11–43. 15 Rahel Varnhagen an David Veit, 2. April 1793. In: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, Bd. 1. Berlin 1834, S. 57. Vgl. Hannah Lotte Lund: Der Berliner „jüdische Salon“ um 1800. Berlin, Boston 2012, S. 223 f. 10

11 Stern:

11.1. Die wirklich beste Freundin

267

Wie Rahel Varnhagen sah sich auch Arendt Ende der zwanziger Jahre unter ihren nichtjüdischen männlichen Freunden von Wiese und Friedrich, die 1933 beziehungsweise 1938 in die NSDAP eintreten würden, zunehmend als Fremde, die sich in der Gemeinschaft ihren Platz als Gleichberechtigte zu erkämpfen hatte. Sie wurde zwar als Gefährtin angesehen, zugleich aber bestand zu ihr als Jüdin und als Frau auch eine unausgesprochene Distanz. Das war eine Erfahrung, die sie schon mit Heidegger gemacht hatte, dem sie einst so nah und doch auch immer fremd gewesen war: „Ich denk an ihn und hab ihn lieb / Doch wie aus fernen Landen / Und fremd ist mir das Komm und Gieb / Kaum weiß ich was mich bangt“, heißt es in einem Gedicht mit dem Titel Spätsommer aus dem Jahr 1925.16 Die Fremdheit in der Welt, der gegenüber sie sich ja zugleich öffnen wollte, der sie mit Liebe (amor mundi) gegenübertreten wollte, blieb ein Grundzug ihrer Persönlichkeit.17 Vielleicht konnte sie nur aus dieser Distanz heraus wirklich schätzen lernen, was Nächstenliebe und Freundschaft bedeuteten. In ihrem Rahel-Buch kamen beide Haltungen zusammen: Die Sehnsucht danach, Teil der Welt zu sein, die sie in ihrer Augustinus-Studie als Voraussetzung wahrer Nächstenliebe herausgearbeitet hatte, und die gleichzeitige Fremdheit in genau dieser Welt, die sie an Rahel Varnhagens Erfahrungen beobachten konnte. Die Freundschaft zwischen zwei Individuen, mochten sie auch noch so verschieden voneinander sein, konnte diesen Hiatus ihrer Meinung nach überbrücken. Das war eine Idee, auf die sie nicht alleine gekommen war, sondern im Austausch vor allem mit ihren jüdischen Freunden. An die Freunde gerichtet, schrieb sie im Winter 1925/26 das folgende Gedicht: Trauet nicht der leisen Klage, Wenn der Blick des Heimatlosen Scheu Euch noch umwirbt. Fühlt, wie stolz die reinste Sage Alles noch verbirgt. Spürt der Dankbarkeit und Treue Zartestes Erbeben. Und ihr wißt in steter Neue Wird die Liebe geben.18

16 Hannah

Arendt: Spätsommer, zitiert in: Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 99. verschiedenen Stellen bezeichnete sie sich selbst mit einem Schiller-Zitat als „Mädchen aus der Fremde“. Vgl. etwa Hannah Arendt an Erwin Loewenson, 9. Februar 1926. DLA Marbach, A: Arendt, Hannah, 769.54 und wörtlich in Hannah Arendt an Martin Heidegger, 9. Februar 1950. In: Arendt, Heidegger: Briefe, S. 76. Vgl. dazu Claudia Althaus: Erfahrung denken. Hannah Arendts Weg von der Zeitgeschichte zur politischen Theorie. Göttingen 2000, S.  73 f. Zum amor mundi siehe Patricia Bowen-Moore: Hannah Arendt’s Philosophy of Natality. London 1989, S. 17–21. 18 Hannah Arendt: An die Freunde, zitiert in: Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 100. 17 An

268

11. Gegensätze ziehen sich an

Sie selbst war die Heimatlose, die um ihre Freunde warb, nachdem sie sich vorübergehend in der Liebe zu Heidegger verloren hatte. Durch „Dankbarkeit und Treue“ blieb sie ihren Freunden auch in Zeiten der Krise verbunden, und dieses Band war stärker als all die Gerüchte, die unwirklichen „Sagen“, die sich über das Treueverhältnis gelegt hatten. Zumindest hoffte sie das, und bat die Freunde, ihr die temporäre Distanzierung nachzusehen.

11.2. Erwin Loewensons Pathos der Freundschaft Einer dieser engen Freunde, den Arendt umwarb und mit dem sie 1927 kurzzeitig auch eine Liebesaffäre hatte, war der expressionistische Schriftsteller und Zionist Erwin Loewenson (1888–1963), der zusammen mit Carl Frankenstein (1905–1990) und Erich Neumann (1905–1960) zum engsten jüdischen Freundeskreis Arendts in Heidelberg gehörte. Von Loewenson, dem mit Abstand ältesten der Gruppe, lernte sie vieles über das Wesen der Freundschaft, weshalb sein Lebensweg hier etwas genauer nachvollzogen werden soll. Zugleich war Loewenson selbst ein eminenter Denker und Praktiker der Freundschaft, der schon deshalb einen prominenten Platz in unserer Untersuchung einnehmen muss. Im westpreußischen Thorn als Sohn des Zahntechnikers Alexander Loewenson geboren, zog die Familie 1894 nach Berlin, wo Erwin das städtische Friedrichsgymnasium und später das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium besuchte.19 Hier freundete er sich mit dem bereits im fünften Kapitel ausgiebig diskutierten späteren Mystiker Oskar Goldberg, dessen engstem Gefährten Erich Unger sowie mit Hans Davidsohn (1887–1942) an, der im Berliner Frühexpressionismus unter dem Künstlernamen Jakob van Hoddis von sich reden machen sollte. Nach dem Abitur kam er in Kontakt mit der „Freien Wissenschaftlichen Vereinigung“ von Kurt Hiller (1885–1972), der aber 1909 nach einem Konflikt die Vereinigung verließ und zusammen mit Loewenson, Goldberg, Unger, Davidsohn und einigen anderen vorwiegend jüdischen Intellektuellen  – darunter Ernst Blass (1890–1939), John Wolfsohn (1889–1936), Rudolf Majut (1887–1981), Franz Grüner (1887–1917), Edgar Zacharias (1888–1922) und Wilhelm Simon Ghuttmann (1890–1990) – eine eigene Gruppe gründete, den sogenannten „Neuen Club“.20 Der Club, der regelmäßig Dichterabende unter dem Titel „Neopathetisches Ca19 Zur

Biographie vgl. den selbstverfassten Lebenslauf. In: DLA Marbach, A: Loewenson, Erwin, 84.313. Siehe auch Hans Tramer: Berliner Frühexpressionisten. Leben und Schaffen von Erwin Loewenson. In: Leo Baeck Institute Bulletin 6, 23 (1963), S. 245–254. 20 Vgl. Thomas B. Schumann: Geschichte des „Neuen Clubs“ in Berlin als wichtigster Anreger des literarischen Expressionismus. Eine Dokumentation. In: EMUNA. Horizonte zur Diskussion über Israel und das Judentum 9 (1974), S. 55–70. Die zuverlässigsten biographischen Skizzen enthält die wichtige Sammlung von Richard Sheppard (Hg.): Die Schriften des Neuen Clubs 1908–1914, Bd. 2. Hildesheim 1983, S. 579–604.

11.2. Erwin Loewensons Pathos der Freundschaft

269

baret“ an wechselnden Orten abhielt, begründete den literarischen Expressionismus in Deutschland, und Loewenson war neben Hiller der wesentliche Initiator und Theoretiker dieses bis zum Ersten Weltkrieg währenden Experiments. Unter den Neologismen „Neopathetik“ oder auch „Eopisik“ verstand Loewenson mehr als einen literarischen Stil, auch mehr als eine Denkweise – es war für ihn vielmehr eine Lebensform, die mit der „Décadence“ der Moderne brach und „dem Fühlen des Menschen, für den das wahre Leben der Zeit schon erwacht und lebendig ist“, Ausdruck verlieh: „Dieses neue, dieses größere Verlangen“, schrieb er 1909 in seinem programmatischen Aufruf des Neuen Clubs, „dies strahlende Sich-nicht-mehr-begnügen-wollen, diese prachtvolle Verwegenheit des Wünschens […], dieses überreiche Aufblühen der ganzen Menschensucht nach etwas Neuem und unerhört Schönem“, sah er als Programm des Neuen Clubs.21 Die Vereinigung war durchaus elitär und Loewenson wachte aufmerksam darüber, dass keine Personen in das Innere des Zirkels gelangten, die den hohen Anforderungen der Neopathetik nicht genügten.22 Zugleich war das theoretische Programm, das Loewenson entwarf, trotz der vielen Seiten, die er schrieb, unübersichtlich, schwer verständlich und widersprüchlich. An der Kulturkritik Nietzsches orientiert, forderte Loewenson „den Widerstand gegen das Deutsche, Plumpe, Steife, Dumme, Ernsttrockene, Stumpfhafte, Bucklige, Hoiperistefanomane usw.“23 und stellte dem in vitalistischer Manier „umfangendstes Erleben und Aufleben, brutalstes Sich-Lebendig-Fühlen und hochwogendes Bewußtsein der eigenen Kraft“ entgegen.24 Unter Pathos verstand er wesentlich „Wiederpathos, Intensität nach dem Nihilismus der Affecte, Von-vorn-anfangen“.25 Damit war die Neopathetik Ausdruck einer fundamentalen Opposition gegen die Trennung von Kunst und Leben, „gegen die akademische Philosophie und Literatur sowie, damit zusammenhängend, gegen die bürgerlich-wilhelminische Kulturpraxis“.26 Im Vordergrund der Cabaret-Veranstaltungen stand das Erlebnis. Loewenson wollte das Publikum mit Ungewohntem konfrontieren, die 21 Erwin Loewenson: Die Décadence der Zeit und der „ Aufruf “ des „Neuen Clubs“ [1909]. In: Richard Sheppard (Hg.): Die Schriften des Neuen Clubs 1908–1914, Bd. 1. Hildesheim 1980, S. 183. Der Begriff der „Neopathetik“ war in Anlehnung an Stefan Zweigs Essay Der neue Pathos (1909) gewählt, „Eopisik“ bezog sich auf das lateinische „eo ipso“ und meinte den durch sich selbst Schaffenden. 22 Vgl. Aufnahmebestimmungen zum ordentlichen Mitglied [1909]. DLA Marbach, A: Loewenson, Erwin, 68.1037. 23 Erwin Loewenson: Der Neue Club. „Neopathetisches Cabaret“. Enthalten im Brief von Loewenson an Erich Unger, 29. März 1010. In: Sheppard (Hg.): Die Schriften des Neuen Clubs, Bd. 1, S. 285. Das letzte Wort ist, wie so häufig bei Loewenson, ein Neologismus, der wahrscheinlich eine polemische Spitze gegen den George-Kreis (die ‚Hyper-Stefanomanen‘) ist. 24 Loewenson: Die Décadence der Zeit, S. 188. 25 Loewenson: Der Neue Club, S. 286. 26 Akane Nishioka: Wirklich eine Entgrenzung zwischen Kunst und Leben? Neopathetisches Cabaret und die historischen Avantgardebewegungen. In: Neue Beiträge für Germanistik 3, 5 (2004), S. 136.

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11. Gegensätze ziehen sich an

Grenze zum Irrationalismus so manches Mal überschreitend, aber immer auf die Kreierung eines schockhaften Moments des Neuartigen abzielend. Diese Emphase des radikalen Neuanfangs lässt sich unschwer als Reaktion auf die im dritten Kapitel dargestellte Krise der bürgerlichen Gesellschaft entschlüsseln, die bei den Frühexpressionisten unter dem Schlagwort der Décadence firmierte. Besonders bei Loewenson und dem späteren Goldberg-Kreis mündete diese Haltung in einer Feier des Irrationalen und sogar des Mystischen, während Hiller einen dezidiert politischen Weg einschlug.27 Mit den sogenannten „Wurzelsitzungen“ seiner Mitstreiter, auf denen sie zahlenmystische Spekulationen über die symbolische Bedeutung hebräischer Verbwurzeln und Buchstaben austauschten, wollte Hiller nichts zu tun haben.28 Worin sie sich aber einig waren, war die Wertschätzung der Freundschaft als Grundlage einer radikal neuen Gemeinschaftlichkeit. Loewenson bezog sich hier interessanterweise auf „den heiligsten aller Bundesbrüder“, Spinoza, in dessen Ethik es in § 12 heißt: „Es ist den Menschen vor allem nützlich, Verbindungen einzugehen und sich durch solche Bande aneinanderzuschließen, durch welche am ehesten alle zur Einheit werden, und überhaupt alles zu tun, was zur Befestigung der Freundschaft dient.“29 Der Neue Club war somit als Freundeskreis konzipiert, dessen Vitalität von den persönlichen Beziehungen und teilweise erheblichen Spannungen zwischen den einzelnen Persönlichkeiten abhing. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, in die Details der täglichen Streitigkeiten, Eifersüchteleien und Intrigen zu gehen, die sich durch die erhalten gebliebene Korrespondenz leicht nachvollziehen lassen. Mit Blick auf Loewensons Einfluss auf Hannah Arendts Freundschaftsverständnis ist aber entscheidend, dass er schon als junger Mann immer wieder über das Wesen der Freundschaft nachgedacht und diese Gedanken in seine Lebenspraxis zu übersetzen versucht hat. Dazu zählen mehrere kurze Texte, allen voran das Drama-Fragment Dialog über die Liebe aus dem Frühjahr 1910. Eine Figur namens „Frédéric“ unterhält sich dort mit einem „Gauck“ über die Bedeutung von Liebe und Freundschaft. „Wer an auflösbare Freundschaften glaubt, dem ist nicht zu helfen“, eröffnet Frédéric das Gespräch und betont damit, dass Freundschaft auf Ewigkeit geschlos27 Vgl. Münzner: Kurt Hiller. In seinem theoretischen Essay Die Jüngst-Berliner. In: Literatur und Wissenschaft. Monatliche Beilage der Heidelberger Zeitung 7 (Juli 1911), S. 2 schreibt Hiller, es gehe darum, das irrationale, mystische chaotische Erlebnis „in Kunst umzusetzen, man muß es rationalisieren, objektivieren, organisieren; Herausarbeitung, Knetung, Klärung – gleichsam Transparentmachung des Dunstig-Blinden“. Stilistisch erfordere das, „deutsch, das heißt deutlich, ein lateinhaftes Deutsch, zu schreiben“. Gerade das gilt aber für Loewensons esoterischironisierenden Stil nicht. 28 Siehe etwa Erwin Loewenson an Erich Unger, 10. September 1909. DLA Marbach, A. Loewenson, Erwin, 68.1092/10. 29 Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt [1677]. Übersetzt von Otto Baensch. Hamburg 1976, § 12. Siehe den Brief von Erwin Loewenson an Erich Unger, 18. September 1909. DLA Marbach, Loewenson, Erwin, 68.1092/16.

11.2. Erwin Loewensons Pathos der Freundschaft

271

sen werde. „Du erzählst, daß Du einen ‚Freund erledigt‘ hast. Erledigt: – gut; aber Freund?“30 Gauck will seinem Gesprächspartner erläutern, was geschehen ist, doch dieser fällt ihm ins Wort und beharrt darauf, dass die vermeintliche Freundschaft nur eingebildet gewesen sei. Wahre Freundschaft könne man nicht „erledigen“. Die Tatsache, dass Gauck sich seit einiger Zeit geistig von seinem Gefährten gelöst habe, verdeutliche, dass ihre Beziehung recht eigentlich nie so tief und unerschütterlich gewesen sei, wie er geglaubt habe. Längst nämlich habe er gemerkt, „daß dein Gehirn sich schon seit zwei Jahren nicht mehr von ihm determinieren läßt“. Das aber sei die „Real-Definition von Sympathie: sich von jemandem determinieren lassen“. Gauck widerspricht: Gauck:

Er hat mich mehr determiniert als mir lieb ist. Er zwang mir seine Hemmungen auf. Seine Criterien verfolgten mich.

Frédéric: Wollte er dich determinieren? Wen man determinieren will, liebt man. Gauck:

Sein ganzes Sein ist Determinierwut. Aber wer es ist, ist ihm gleich.

Während also Gauck seinen Freund als ein manipulatives Wesen beschrieb, dem die individuellen Wünsche, Vorstellungen und Meinungen seines Gegenübers vollkommen egal waren, weil er den vermeintlichen Freund nur als Objekt seiner Herrschsucht behandelte, sah Frédéric in dem Versuch, den Freund zu beeinflussen und sich selbst ähnlich zu machen, gerade den Inbegriff von Liebe – nur bezweifelte er, dass diese „Determinierwut“ wirklich so groß gewesen war, wie Gauck meinte. Den anderen als selbstständiges Subjekt anzuerkennen und ihn zu beeinflussen, diese beiden Gedanken sollten, obwohl auf den ersten Blick antagonistisch, für Loewensons Freundschaftskonzeption charakteristisch werden: Freunde hätten einander als Andere zu respektieren, glaubte er, aber dieser Respekt bedeute nicht, gleichgültig gegenüber der Differenz zu sein. Vielmehr solle die wechselseitige „Determinierung“ die Persönlichkeiten der Freunde verändern; Freundschaft war damit nicht als Zustand, sondern als Prozess gedacht. In der Freundschaft könne sich die Persönlichkeit gerade durch den Widerspruch des Freundes entfalten und ihre tiefsten Potentiale ausschöpfen: „Wenn ich mit jemandem befreundet bin“, resümierte Loewensons Frédéric, „so muß er für mein Unterbewußtsein das Symbol sein, das meinem mir ursprünglichsten Lebensstil zur Existenz, zum Aufleben verhilft!“31 In seinem Drama fungierte ausgerechnet Jesu Liebesbegriff als Gegenbeispiel für wahre Freundschaft. Jesus habe unter Liebe verstanden, „Ja und Amen zum Menschen [zu] sagen! Jesus hat die menschlichsten, gesundesten, kräftigsten Kräfte des Menschen bekämpft! Seine Liebe ist unwahr, verlogen.“32 Für Loewen­ 30 Erwin Loewenson: Dialog über die Liebe [Januar/Februar 1910]. DLA Marbach, A: Loewen­son, Erwin, 68.987. 31 Ebd. 32 Ebd.

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11. Gegensätze ziehen sich an

sons Frédéric repräsentierte Jesus die Décadence, also Oberflächlichkeit, Schwäche und Zerfall. Demgegenüber betonte er Moralität, Ästhetik und Gesundheit: „Selbstverständlich kannst du von Einem, der dein Freund sein will, verlangen, daß er aesthetisch reagiert. […] Der Aesthetische, der Moralische, der Gesunde, – bester Freund, das ist ein u. dasselbe: von 3 verschiedenen Seiten her!“33 Der beste Freund war damit als ein Gegenüber charakterisiert, der als Ideal des eigenen Ich fungierte, an dem sich messen ließ. Er war gewissermaßen die eigene Frage als Gestalt und damit eine ständige Herausforderung.34 Dieser Logik folgend, schrieb Loewenson zwei Texte unter dem Titel Ich an mich selbst, in denen er sich selbst aus der Perspektive seines Freundes-Ichs reflektierte und selbstkritisch Distanz zu sich selbst schuf: Lieber Freund. Ich habe dich nun lange beobachtet und erwogen und habe dich häßlich befunden an Leib und Seele. Ich ziehe mein Gesicht von dir weg und will dich nicht länger anschauen. Aber bevor wir scheiden (und ich hoffe, du bewirkst, daß wir scheiden), will ich mit dir noch ein letztes Wörtchen reden. Reden will ich mit dir in allen Tonarten des sorgenden Abschieds und auf Stil keine Rücksicht nehmen. Sentimental will ich sein und auch den Geiste des liebenden Hasses nicht verdrängen (und auf Stil keine Rücksicht nehmen – [weh mir, daß ich auf Stil keine Rücksicht nehme; und wehe dir, daß du mich also anzuhören imstande bist]… aber siehe, ich will mich bezwingen und auf Stil keine Rücksicht nehmen). Es ist keine Arabeske und keine aufsteigende Leuchtkugel im Feuerwerk eines Sommerabends, wenn ich dir gestehe, daß mir kein Mensch auf der Welt dieses Daseins so widerlich ist wie du. Es ist auch kein Hinundherwandeln zu zweien oder zu dreien im silbernen Nebel unter vielen dunklen Menschen auf einer hölzernen Seebrücke über müdem Getön; sondern es sind noch viel mehr Schmerzen darin. Und warum sollte ich dir das nicht einmal sagen? Ich fange wieder zu beten an; siehe, ich bete um die Fähigkeit, dich zerbrechen zu können in jedem Moment, da ichs will. Meine Lippen saugen an dir, aber es ist kein Übergang zwischen uns. Ich weiß nicht mehr, vielleicht habe ich selbst die Brücke zwischen uns – hinter mir durchgeschlagen, und stehe nun einsam am Uferberg und starre hinüber. Ich kann keine Wolke sein, die dich mit Blitzen vernichtet. Wir beide sind das entsetzlichste Problem, das es auf der Welt gibt; denn wir – müssen – gelöst werden.35 33 Ebd.

34 Die Formulierung stammt von Carl Schmitt (der sie wiederum von Theodor Däubler übernommen hatte), der sie aber nicht auf den Freund, sondern umgekehrt auf den Feind bezog. Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin 1963, S. 87. Im Hinblick auf die Freundschaft vertritt Schmitt dagegen einen rein affirmativen Begriff: „Der Freund ist, wer mich bejaht und bestätigt. Feind ist, wer mich in Frage stellt.“ Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951. Berlin 1991, S. 217. 35 Erwin Loewenson: Ich an mich selbst [1909]. DLA Marbach, A: Loewenson, Erwin, 68.1003.

11.2. Erwin Loewensons Pathos der Freundschaft

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Auch wenn der Autor des „Briefes“ geradezu von Selbsthass zerfressen zu sein scheint, ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass Loewenson sich hier einer literarischen Methode der Selbstironisierung bediente, um sich gewissermaßen selbst zu „determinieren“. Wenn Freundschaft durch Kritik und Differenz geprägt war, dann musste auch der Brief des Ego an das Alter ego eine scharfe Distanzierung aufweisen. Diese eigentliche Nähe erst herstellende Distanz zwischen den Freunden versuchte Loewenson im Neuen Club ebenso umzusetzen wie im „Wurzelkreis“ und allen späteren Freundesbeziehungen, die er noch eingehen sollte. Dazu gehörte auch die Freundschaft zu Hannah Arendt. Just zu der Zeit, als Arendt an ihrer Dissertation über den heiligen Augustinus arbeitete, tauschte sie sich mit Loewenson über das Wesen der Freundschaft aus, wovon eine Reihe von bislang unveröffentlichten Briefen Aufschluss geben. Am bemerkenswertesten ist dabei ein Brief, den Arendt Ende Januar 1928 aus Königsberg an Loewenson in Berlin schrieb, der sich nach dem Ersten Weltkrieg dem Zionismus angenähert hatte und nun für verschiedene jüdische Bildungseinrichtungen arbeitete.36 Arendts Schreiben ist die Antwort auf einen leider verschollenen Brief Loewensons, der ihr sein Verständnis von Freundschaft auseinandergesetzt hatte, das, wie wir gesehen haben, besonders die Differenz zwischen den Freunden betonte. Es ist nicht mehr zu rekonstruieren, ob der Essay Ueber die Freundschaft, der sich in Loewensons Nachlass findet, der unmittelbare Stein des Anstoßes für Arendts Antwortbrief war, aber sie nimmt darin unmissverständlich Bezug auf von ihm vorgebrachte systematische Überlegungen zur Freundschaft: „Ob ich zur Freundschaft fähig bin, weiß ich nicht“, schreibt sie. „So wie Du sie verstehst, sicher nicht. Diese Radikalität brächte ich nie auf – schon weil ich dann an Hintergründe komme, auch in der Freundschaft, die vielleicht nicht freundschaftlicher Art sind.“37 Aber worin bestand Loewensons Radikalität? In dem Text Ueber die Freundschaft definierte er die Freundschaft als ein „Gegenseitigkeitsverhältnis, das in keiner Weise zweckhaft motiviert ist und dessen Wesen keineswegs durch einen, wenn auch noch so ideellen und geistigen, Gewinn bestimmt ist, den die Partner aneinander suchen“.38 Freundschaft sei 36 Hannah Arendt an Erwin Loewenson, 23. Januar 1928. DLA Marbach, A: Arendt, Hannah, 76.956/2. 37 Hannah Arendt an Erwin Loewenson, 23. Januar 1928. Danke an Marie Luise Knott, die mir half, den Brief zu entziffern. 38 Erwin Loewenson: Ueber die Freundschaft. DLA Marbach, A: Loewenson, Erwin, 05.125.1, S. 1. Das mir vorliegende Typoskript ist mit dem Vermerk „Als Manuskript für die Freunde Erwin Loewenson’s vervielfältigt und nicht zum Abdruck freigegeben“ versehen. Auf der ersten Seite steht zudem mit Kugelschreiber: „Mit freundlichen Grüßen – Alice Jacob Loewenson“. Das Typoskript war also einmal im Besitz von Loewensons Frau Alice, geb. Jacob (1895–1967). Loewenson hatte die Komponistin und Musikpädagogin schon zu Zeiten des Neuen Clubs kennengelernt, sie aber erst 1922 geheiratet. Da der genannte Vermerk von einem „Manuskript“ spricht, ist anzunehmen, dass das Typoskript erst nachträglich, vielleicht sogar erst nach Loe-

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11. Gegensätze ziehen sich an

demnach ein vollkommen zweckfreies Verhältnis, womit sich die Frage ergab, auf welchem Fundament sie denn dann fußte? Was führte die Freunde zueinander, wenn sie nichts voneinander wollten? Loewenson räumte durchaus ein, dass die Freundschaft ein Gewinn sei, „aber die Freundschaft besteht nicht oder nicht mehr, sofern irgend ein bestimmter Gewinn bewusst erstrebt wird“.39 Mit anderen Worten: Ohne Zweifel profitierten die Freunde von ihrer Beziehung, aber dieser Gewinn sei nicht das Motiv, um sich anzufreunden. Schließlich erschöpfe sich eine instrumentelle Beziehung im Zweck, während die Freundschaft den anderen nicht nur als Objekt der Zweckerfüllung oder Bedürfnisbefriedigung wahrnehme, sondern auch als eigenständiges Subjekt anerkenne. Schon der Talmud weiß: „Alle Liebe, die von einer Sache abhängt, hört auf, wenn die Sache aufhört; und wenn sie nicht von einer Sache abhängt, wird sie nie vergehen.“40 Das war auch Loewensons Perspektive. Während die Rabbinen das drastische Beispiel Amnons und Tamars wählten, um zu zeigen, dass Davids Sohn Amnon seine Halbschwester nur so lange begehrte, wie sie sich ihm entzog, er sie aber fortstieß, nachdem er sie vergewaltigt hatte, und als positives Gegenbeispiel die Freundschaft zwischen David und Jonathan aufriefen, die einander um ihrer selbst willen geliebt hätten, führte Loewenson ganz analog den Begriff des „besonderen So-Seins“ des Freundes ein. Die Gemeinschaft basiere nicht auf einem Zweck, sondern auf der Individualität der Freunde, womit „ein gewisser Grad an Differenziertheit“ Voraussetzung für die Freundschaft sei. Zu dieser Differenziertheit gehöre aber nicht nur die Eigentümlichkeit des Charakters, sondern auch eine fundamentale Einsamkeit, die in der Gemeinschaft nicht aufgehoben werden könne: Freundschaft, so erklärte er, setzt immer ein gewisses charakterliches „Einsamkeits“gefühl voraus, aus dem Gefühl der Besonderheit der eigenen Individualität (gleichviel, ob diese bloss eine jugendliche oder überhebliche Einbildung ist oder „wirklich“ besteht). In dem Zusammenschluss mit dem Freund wird dies Einsamkeitsgefühl mehr oder weniger aufgehoben.41

Differenziertheit wollte Loewenson aber nicht so verstanden wissen, dass die Freunde in allem konträr sein müssten. Es sei durchaus denkbar, dass „das Gleiche oder Aehnliche in der Eigenart beider“ existiert, was zu einer „reibungslosen“ Beziehung führe. Weitaus interessanter aber fand er den „Gegensatz auf der Grundlage einer notwendigen ‚Ergänzung‘“, wie wir sie schon bei Siegfried Kracauer kennengelernt haben, der sie allerdings mit der Seelenfreundschaft in Verbindung brachte. Loewenson hob demgegenüber noch mehr auf die Polarität wensons Tod angefertigt wurde. Ob Arendt in ihrem Brief Bezug auf das Dokument nimmt, kann also nicht zweifelsfrei geklärt werden. Auch die Datierung des Textes ist schwierig, aufgrund des sachlich-theoretischen Stils und der impliziten Bezüge auf Freuds Schrift Das Ich und das Es ist aber eine Zeit vor 1923 unwahrscheinlich. 39 Ebd. 40 bT Pirkej Avot 5, 16. 41 Loewenson: Ueber die Freundschaft, S. 1.

11.2. Erwin Loewensons Pathos der Freundschaft

275

der Individualitäten ab. Wenn die Gegensätze sich ergänzen müssen, schrieb er, „dann bietet jeder dem anderen die Möglichkeit, seine Eigenart gleichsam an dem Gegensatz zu ‚kristallisieren‘ und auch in einem gegensatzreichen Verhältnis eine Bestätigungs- und Entfaltungsmöglichkeit zu gewinnen“.42 Bestätigung durch den Freund bedeute also gerade nicht, dass dieser – wie angeblich Jesus – zu allem „Ja und Amen“ sage, sondern vielmehr einen Widerstand bilde, eine Fläche, an der die Eigenart der Persönlichkeit haften, „kristallisieren“ könne. Echte Freundschaft ermögliche es der Persönlichkeit, „ihren wahren Kern durchzusetzen gegen die mannigfachen Schichten, von denen sie überdeckt zu sein pflegt, und die gesellschaftlichen ‚Schutzformen‘ und ‚Masken‘ allmählich fallen zu lassen“.43 Die Prozesshaftigkeit der Freundschaft hatte Loewenson schon in seinem Dramafragment dargestellt, nun verknüpfte er diesen Prozess mit einem gesellschafts- und ideologiekritischen Aspekt: Freundschaft als Prozess bedeute, sich von den gesellschaftlichen Illusionen freizumachen, den Schutzpanzer abzulegen und zum wahren Sein vorzustoßen. Freundschaft war damit als Erkenntnis- und Individualisierungsprozess charakterisiert. Obwohl die bürgerliche Ideologie behauptete, den Einzelnen als Individuum jenseits seiner sozialen Zugehörigkeit zu achten und zu respektieren, wusste Loewenson nur zu genau, dass der Einzelne sich unterordnen, inszenieren oder sogar verstellen musste, um sich in seine ihm zugedachte Rolle einzufügen. Erst als ein solches konformistisches Wesen, das Freud mit dem Konzept des nur teilweise bewussten Über-Ich, welches sich dem Ich entgegensetze, zu fassen versucht hatte, konnte der Einzelne als anerkanntes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft gelten.44 War er unfähig oder unwillens, diese Rolle einzunehmen, so fiel er gnadenlos durch und fand sich als Neurotiker oder Sonderling an den Rändern der Gesellschaft wieder. Gerade deutsche Juden hatten mit der Aufrechterhaltung dessen, was Loewenson als „Schutzformen“ und „Masken“ bezeichnete, häufig zu kämpfen, hing doch ihre Anerkennung als Bürger ungleich stärker vom Beweis ihrer „Tauglichkeit“ ab, den sie gegenüber ihren Feinden seit jeher und immer aufs Neue zu erbringen hatten.45 Die ausgeprägte Bürgerlichkeit der deutschen Juden, beginnend mit den Lebens- und Arbeitsverhältnissen über den Bildungskanon bis zu Tugend- und Moralitätskatalogen, war aus Loewensons Sicht eine umfassende „Schutzform“. Auch wenn die Mehrheit der jüdischen und nichtjüdischen Bürger von der Rolle, 42 Ebd.

43 Ebd.,

S. 2. Freud: Das Ich und das Es, S. 296. 45 Schon am Beginn des Emanzipationsprozesses stand in Deutschland die Forderung, die Juden sollten sich „verbessern“, um sich der Gleichberechtigung würdig zu erweisen. Vgl. Anne Purschwitz: Juden oder preußischer Bürger? Die Emanzipationsdebatte im Spannungsfeld von Regierungspolitik, Religion, Bürgerlichkeit und Öffentlichkeit (1780–1847). Göttingen 2018, S. 82–107. 44 Vgl.

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11. Gegensätze ziehen sich an

die sie innehatten, oder den Erwartungen, die an sie geknüpft wurden, sicherlich überzeugt war, regten sich doch in der jungen Generation Zweifel, ob dieser Weg der richtige war. Sie nahmen das Unterdrückungs- und Verdrängungsmoment der bürgerlichen Lebensform wahr und sehnten sich nach der Entfaltung einer authentischen, von allen Phänomenen der Décadence befreiten Persönlichkeit. Besonders jüdische Jugendliche suchten aus dem bürgerlichen Korsett ihrer Eltern und Großeltern auszubrechen und es war die Freundschaft, die ihnen als Freiraum offen zu stehen schien. In Loewensons Entwurf kommt diese emanzipatorische Funktion der Freundschaft in exponierter Weise zum Ausdruck: „Dass Freundschaft die Eigenindividualität auslöst“, heißt es da, „und ihr dann ihr Aufrechtbleiben ermöglicht, das macht zugleich ihre Bindungskraft aus; um der Lebensfähigkeit der Eigenindividualität willen ist man objektiv an den Freund gebunden; darin liegt die Stärke dieses Zusammenschlusses.“46 Im Umkehrschluss hieß das, dass andere Vergemeinschaftungsformen diese Eigenindividualität nicht „auslösten“. Kollektive wie Religionsgemeinden, Sportvereine oder politische Verbände behandelten den Einzelnen als Identischen – sei es als Gleicher im Glauben, in der ethnischen Herkunft oder in der politischen Anschauung –, seine Besonderheit und Unverwechselbarkeit interessierte die Führer großer Gruppen hingegen nicht. Loewenson diskutierte dieses Phänomen anhand des Unterschiedes zwischen Freundschaft und Kameradschaft – eine weitere Parallele zu Kracauers Freundschaftsessay. Kameradschaft sei eine Gemeinschaft, bei der zwar auch die ganze Person sich für einen anderen einsetzen kann, aber es immer nur aus allgemein-menschlichen Motiven und Sympathien tut – nicht aus der besonderen Sympathie heraus, die aus der charakterlichen Aufeinander-Abgestimmtheit zweier Menschen stammt.47

Freundschaft habe also auch eine quantitative Komponente: Loewenson dachte sie als Zweiheit, der zwar andere Zweiheiten an die Seite gestellt werden könnten, die aber immer eine zwischenindividuelle Beziehung bleibe, während die Kameradschaft auf Kollektivität abstelle, vor allem auf die Identität des Zwecks. „Wenn Kameradschaft gewöhnlich innerhalb einer Berufs-, Standes-, Spiel- oder Kampf-Gemeinsamkeit entsteht, so ist Freundschaft eine Kameradschaft, die eigentlich schon instinktiv gegeben ist zwischen zwei Charaktären auf der objektiven Grundlage einer zueinander passenden Besonderheit“, erklärte er.48 Weil die Freundschaft gerade nicht auf Identität, sondern auf einer aufeinander abgestimmten Differenz basiere, müssten die Freunde „beruflich, klassen- und gesinnungsmässig oder weltanschaulich gar keine Kameraden“ sein, ja sie könnten „politisch unter Umständen sogar Gegner“ sein. Dass Freundschaften in 46 Loewenson: 47 Ebd. 48 Ebd.

Ueber die Freundschaft, S. 2.

11.2. Erwin Loewensons Pathos der Freundschaft

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der Realität meistens aber doch eine gewisse milieuspezifische Homogenität aufwiesen, wie sich nicht nur am Beispiel der deutschen Juden zeigen lässt, ignorierte Loewenson. Auch seine eigenen Freundschaften boten nicht wirklich Anschauungsmaterial dafür, dass Menschen, die unterschiedlichen sozialen und politischen Milieus angehörten, zu Freunden wurden. Er übersah, dass der „Charakter“, den er der Freundschaft „objektiv“ zu Grunde legte, seinerseits gesellschaftlich geprägt war und keineswegs der authentische Ausdruck eines intrinsischen, gleichsam naturhaften Wesens der „Einzelindividualität“. Allerdings hing er auch keinem naiven Ursprünglichkeitsglauben an, sondern operierte mit psychoanalytischen Begriffen, allen voran mit der Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Anteilen der Persönlichkeit und ihren Auswirkungen auf die Charakterkonstitution. Nach Freud ist das Unbewusste nicht unmittelbare Natur, sondern bezeichnet all jene Triebregungen, die vom Ich nicht zugelassen und verdrängt werden. Das Ich ist somit eine Vermittlungsund Steuerungsinstanz zwischen Es und Über-Ich, sie moderiert gewissermaßen zwischen den auf Befriedigung drängenden libidinösen Ansprüchen des Es und den Verboten und Vorgaben der Außenwelt. Auf Loewensons Begriff der Persönlichkeit übertragen bedeutet das, den Charakter als Resultat dieser Auseinandersetzung zwischen Natur und Gesellschaft (repräsentiert durch das Über-Ich) zu verstehen. Wenn Loewenson nun die unbewussten Anteile der Persönlichkeit als für die Freundschaft wesentlich betrachtete, dann kam unweigerlich der Eros ins Spiel, und damit auch das Verhältnis von Liebe und Freundschaft. Seiner Ansicht nach bedürfe die „erotische Beziehung zwischen Mann und Weib“ eines freundschaftlichen Moments, wenn sie auf Dauer Bestand haben sollte. Umgekehrt aber könne die Freundschaft ganz oder wenigstens weitgehend ohne erotische Neigungen auskommen. Zwar finde der Charakter eines Menschen auch seinen Ausdruck im Körperlichen, aber dies sei eben nur eine Äußerlichkeit und nicht die Grundlage der wechselseitigen Sympathie, die wesentlich „charakterliche Verwandtheit“ sei.49 Echte Freundschaft sei somit zwischen Kameradschaft und erotischer Liebe angesiedelt: Weder das Füreinander-Einstehen und Füreinander-Handeln der Kameraden, weder ihre Gesinnungs- und Zielgemeinschaft noch die gegenseitige Anziehungskraft der SichLiebenden, noch eine Verbindung beider Seiten enthält das wichtige Element der Freundschaft; das volle Vertrauen des Einen zum Andern; das tritt eben nur ein, wenn der eine Charakter dem andern eine Entfaltungsmöglichkeit bietet; wenn in einer objektiven Zusammengehörigkeit zweier Charakter-Konstitutionen sich in jeder von beiden der wahre Kern durchsetzt. Solche „Zusammengehörigkeit“ braucht, wie gesagt, nicht in einer Gleichheit, Aehnlichkeit oder Parallelität zu bestehen, sondern kann gerade auf der „Ergänzung“, auf der „Polarität“ beruhen. Wie sich in der Erotik die polaren Gegensätze 49 Ebd.,

S. 3.

278

11. Gegensätze ziehen sich an

des Körperlichen anziehen, so auch in der Freundschaft die polaren Gegensätze des Charakterlichen.50

Wie Loewenson erotische Anziehung nur als heterosexuelle denken wollte, so lag sein Augenmerk auch bei der Freundschaft auf dem Widersprüchlichen, Differenten, Nicht-Identischen. Er legte Beispiele für solche Charakterpaare vor – der Aktive und der Passive, der Introvertierte und der Extrovertierte und so weiter  –, daran schloss er eine Betrachtung des Hochmütigen an, der sich selbst genüge und deshalb zur Freundschaft konstitutiv unfähig sei. Gegen die Abgeschlossenheit des Charakters hielt er schließlich „innere Beweglichkeit, Veränderungsfreudigkeit und Offenheit“ als ideale Eigenschaften eines Freundes hoch, abermals an die Idee der „Determinierung“ aus seinem Dramafragment anschließend. Gerade junge Menschen, die noch keine feste Persönlichkeit ausgebildet hätten, seien zur Veränderung fähig und damit in der Lage, sich auf einen Freund wirklich einzulassen. Deshalb würden echte Freundschaften, die bis ans Lebensende hielten, zumeist schon in der Jugend geschlossen, wenn sich die Charaktere noch aneinander rieben und sich in wechselseitiger „Kristallisierung“ herausbildeten.

11.3. Suchende Treue In ihrem Antwortbrief auf Loewensons Überlegungen zur Freundschaft griff Hannah Arendt 1928 den Gedanken der Polarität auf und stimmte ihm zu, dass „das naturgegebene Gegenüber“ in der Liebe nicht „aufgehoben“ werden dürfe.51 Das erfordere aber von den Liebenden, „dass das Phänomen der Hörigkeit, die die Person des Einen auslöscht und damit Liebe gerade unmöglich macht, nicht eintritt“.52 Auch Loewenson hatte betont, dass die Unabhängigkeit beider Pole der Freundschaft gewährleistet sein müsse. Aber er sah auch, dass diese Unabhängigkeit mehr einem permanenten Ausbalancieren glich als einer prästabilierten Harmonie: „In einer echten, das heißt wechselseitigen, Freundschaft“, erklärte er, „stellt sich eine Koordination zwischen den Partnern her: jeder von beiden ist zugleich der ‚Geb[e]nde‘ und der ‚Empfangende‘ und zugleich der ‚Führende‘ und der ‚Geführte‘ (und zwar auf beiden Seiten aufgrund von ‚Freiwilligkeit‘ und zur beiderseitigen ‚Genugtuung‘).“53 Das „Oben- und Unten-sein“ wechsle je nach Gebiet und Zeitpunkt, durch „gegenseitige freiwillige ‚Subordinationen‘“ stelle sich ein gewisses Gleichgewicht her.54 50 Ebd.,

S. 3 f. an Loewenson, 23. Januar 1928.

51 Arendt 52 Ebd.

53 Loewenson: 54 Ebd.

Ueber die Freundschaft, S. 5.

11.3. Suchende Treue

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Arendt nahm diesen Gedanken auf, indem sie zwischen Liebe und Freundschaft unterschied. Was sie mit ihrem Verweis auf die Hörigkeit beschrieb, war exakt das augustinische Problem gewesen: Wer den anderen als unabhängige Person auslöschte, war zur Nächstenliebe nicht mehr in der Lage; wer aber wahrhaft liebte, überließ sich dem anderen auch ganz und löschte damit die eigene Persönlichkeit aus. Anders in der Freundschaft: „Jeder Freundschaft gegenüber u. damit einem noch so [sehr] verbundenen ‚Kooperieren‘ menschlichen Schicksals mit menschlichem Schicksal, erzwingt die Liebe darüber hinaus das Sichaufgeben.“55 Gerade die Selbstaufopferung, das Sich-verlieren im Anderen, sollte für die Freundschaft nicht gelten. Ganz ohne „sentiments“ sei sie zwar „unmöglich u. unwürdig“, aber „Liebe überspringt diese Möglichkeit des Zusammen noch einmal u. konstituiert gegen das eigene Ich u. [für] das Wir, u. damit Ausschließlichkeit.“56 Mit anderen Worten: Während die Freundschaft zwar auch von Gefühlen und wechselseitiger Anziehung gekennzeichnet sei, bleibe sie doch offen für Differenz – und zwar sowohl bezogen auf den Freund als auch auf die außerhalb der Freundschaftsbeziehung Stehenden. Liebe dagegen konstituiere eine abgeschlossene Gemeinschaft des „Wir“, in der die Liebenden „gegen das eigene Ich“ zu einer Einheit verschmelzen. Liebe und Freundschaft seien zwar auf der emotionalen Ebene verwandt, aber doch grundverschieden: „In der Freundschaft sind die Freunde relativ aufeinander bezogen, aber innerhalb dieser Relation bleibt jeder, was er ist, obwohl er in dieser Relation etwas anderes ist als vorher: der Freund.“57 Arendt formulierte hier einen dialektischen Gedanken, der Loewensons Konzeption gar nicht unähnlich war: Die Freunde blieben in der Freundschaft nur dadurch sie selbst, dass diese es ihnen ermöglichte, ihr wahrhaftes Selbst unverhüllt hervortreten zu lassen. In der Freundschaft konnten die Individuen sie selbst sein.58 Hatte Arendt in dem Brief Zweifel geäußert, ob sie überhaupt zur Freundschaft im radikalen Sinne Loewensons in der Lage sei, der ja eine klar abgestimmte Charakter-Konstitution forderte, so wies sie doch darauf hin, dass sie ganz sicher dessen fähig sei, „was Rahel Varnhagen einmal die ‚suchende Treue‘ nannte.“59 Die Bemerkung zeigt an, dass Arendt sich schon Anfang 1928 mit Rahel beschäftigte und besonders das Thema der Freundschaft im Blick hatte – nicht erst 1929, wie in der Forschung gelegentlich behauptet wird. Ein Auslöser für die Auseinandersetzung mit Rahel waren daher offenbar auch die Diskussionen mit Loewenson über Freundschaft und Liebe. Es war jenes Verständnis von Freundschaft als „suchende Treue“, das Arendt in ihrer Rahel-Studie untersuchte. 55 Arendt 56 Ebd.

an Loewenson, 23. Januar 1928.

57 Ebd.

58 Auch Heideggers Treuebegriff, wie er oben diskutiert worden ist, kommt hier zum Tragen. 59 Arendt

an Loewenson, 23. Januar 1928.

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11. Gegensätze ziehen sich an

Die Formulierung selbst stammt aus einem Brief Rahels an David Veit und lautet vollständig so: Man kann nicht veränderlicher als ich sein; sag’ ich Ihnen. Dagegen finden Sie nichts! Was nennen Sie aber Veränderlichkeit? mich dünkt, sie ist nichts als die suchende Treue (wenn Sie dieses Wort brauchen wollen). Da sie nun aber nichts Rechtes findet, so wäre sie ein Narre, nicht weiter zu suchen, und noch ein größerer, dieselbe Unruhe beizubehalten, wenn sie schon etwas gefunden hat. Natürlich sind die treusten Menschen die suchendsten, denn die wissen so recht, was sie wollen, und was alles nicht Treue ist; denn Treue sucht Treue u.s.w.60

Das Motiv des Suchens, das Rahel stark machte, war durchaus ambivalent: Einerseits sagte sie von sich selbst, „veränderlich“ zu sein, was vor allem der Fassade gegenüber der Außenwelt galt, andererseits schrieb sie über die Suchenden, diese wüssten, „was sie wollen“. Zusammengehalten werden diese widerstrebenden Eigenschaften bei Rahel durch die Treue, die eine andere Treue sucht – Freundschaft. Wer einen Treuen zum Freunde hat, der kann sich öffnen, ohne Angst davor zu haben, sich selbst in der Freundschaft zu verlieren.61 Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Freundschaft machte sich Arendt  – parallel zu dem Briefwechsel mit Loewenson  – Ende der zwanziger Jahre ans Werk, Rahels Leben grundlegend neu zu erzählen. Vor allem wollte sie sich von der Perspektive Karl Varnhagens lösen, die ihres Erachtens bisher ein völlig falsches Bild von Rahels Persönlichkeit gezeichnet hatte. Ja, sie ging sogar so weit, ihm vorzuwerfen, in seinem Buch des Andenkens Briefe bewusst manipuliert, retuschiert oder schlicht ausgelassen zu haben, um „Rahels Umgang und Freundeskreis weniger jüdisch und mehr aristokratisch zu machen“.62 Der Vorwurf war nicht aus der Luft gegriffen, schließlich hatte Arendt nicht nur die zu ihrer Zeit verfügbaren Briefeditionen zurate gezogen, sondern auch mit den Originalbriefen in Varnhagens Nachlass in der Preußischen Staatsbibliothek gearbeitet. Sie konnte zeigen, dass jüdische Akteure von Varnhagen in der Briefsammlung vorsätzlich marginalisiert oder durch Chiffrierung unsichtbar gemacht wurden. Aber nicht nur für die jüdischen Freunde  – und vor allem Freundinnen – galt das, sondern noch viel mehr für Rahels „teuerste und einzige Freundin“ Pauline Wiesel (1778–1848).63 Von 167 Briefen an Rahel und 100 60 Rahel Varnhagen an David Veit, 31. Oktober 1794. In: Briefwechsel zwischen Rahel und David Veit. Teil 1. Hrsg. v. Karl Varnhagen von Ense. Leipzig 1861, S. 261. 61 Die Idee der Freundschaft ist im Falle Rahels so komplex, dass ich mich hier im Wesentlichen auf unser Thema beschränke, nämlich auf Arendts Verständnis von Rahels Freundschaftsbegriff. Vgl. zu Rahels Konzept der Freundschaft Heidi Thomann Tewarson: Die „große Freundin“ und Freundschaftsstifterin Rahel Levin Varnhagen. In: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung. Stuttgart 1998, S. 152–168. 62 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik [1958/59]. In: Dies.: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2. Hrsg. v. Barbara Hahn. Göttingen 2021, S. 133. 63 Rahel Levin Varnhagen an Pauline Wiesel, 20. November 1831. In: Rahel Levin Varnhagen:

11.3. Suchende Treue

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Briefen an Pauline hatte Varnhagen nur 18 in leserlicher Handschrift kopiert, sodass sie bis zu Arendts Buch kaum benutzt worden waren. Nach Arendts Meinung war aber die Freundschaft mit Pauline der entscheidende Schlüssel, um auch Rahels Persönlichkeit verstehen zu können. Pauline Wiesel, geborene Cesar, die Rahel im Alter von 16 Jahren das erste Mal begegnete, aber sich erst 1801 in Paris näher mit ihr anfreundete, kam selbst aus einer ungewöhnlichen Familie. Ihre Mutter stammte von Hugenotten ab, ihr Vater dagegen, ein Berliner Bankdirektor, war Katholik und konvertierte vermutlich nach der Hochzeit zum Protestantismus.64 Pauline muss eine besondere Frau gewesen und auch schon den Zeitgenossen als solche aufgefallen sein, denn sie wird in allen Berichten als schön, natürlich und ungewöhnlich direkt beschrieben. Sie war von durchaus zweifelhaftem Ruf, was weniger an ihren teilweise radikal anmutenden Anschauungen etwa im Hinblick auf die Religion lag als vielmehr an ihren zahllosen Liebschaften und Affären. Sie war, dem heutigen Sprachgebrauch nach, eine „emanzipierte“, das heißt selbstbewusste und unabhängige Person, die dadurch – das betonte Arendt immer wieder – außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stand. Exakt diese selbstgewählte Außenseiterposition, die Emanzipation von vorgegebenen gesellschaftlichen Erwartungen, war es laut Arendt, die Rahel so sehr an ihrer Freundin faszinierte. Dieser Lesart zufolge stellte Pauline für Rahel eine notwendige Ergänzung dar. Obwohl charakterlich vollkommen unterschiedlich, waren sie in gewisser Weise Gleichgesinnte: Beide standen zugleich innerhalb wie außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft – Pauline aufgrund ihrer Lebensweise, Rahel wegen ihrer jüdischen Herkunft. Während aber Pauline sich selbstbewusst von den Normen der feinen Gesellschaft absetzte, fand Rahels Emanzipation Arendt zufolge nur im Denken statt. Die Freundschaft zwischen den beiden Frauen habe aber eine gemeinsame Welt geschaffen, eine abgeschirmte Parallelwelt, die im Widerspruch zur allgegenwärtigen Seelenschau in der Romantik stand. In dieser Welt konnten laut Arendt beide sie selbst sein, ohne sich verstellen zu müssen. Das sei vor allem Rahel entgegengekommen, die Arendt als Leidende an einer Welt schilderte, in der sie sich als Fremde fühlte. Sie sei unzufrieden mit sich selbst gewesen, mit ihrem Körper, ihrem Status, ihrem Charakter, ihrem Jüdinsein, und deshalb habe sie immerzu versucht, eine andere zu sein und das Judentum abzuschütteln. Sie habe sich selbst verleugnet, aber auch die Fakten, und habe sich ins Denken zurückgezogen. Nur in der Allgemeinheit der Vernunft habe sie Bestätigung gefunden, im „Hang zum Generalisieren“, aber auch die Vernunft sei als Abstrakte der konkreten Umwelt äußerlich geblieben. Einzig Briefwechsel mit Pauline Wiesel. Hrsg. v. Barbara Hahn. München 1997, S. 445 („tout de Bon chere et Seule amie“). Siehe auch Pauline Wiesel an Rahel Levin Varnhagen, 5. April 1816. In: Ebd., S. 146 („chère amié Meilleur amié“). 64 Vgl. zur Biographie Barbara Hahn: Nachwort. In: Rahel Levin Varnhagen: Briefwechsel mit Pauline Wiesel. Hrsg. v. Barbara Hahn. München 1997, S. 722–728.

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11. Gegensätze ziehen sich an

im Gespräch habe für Rahel die Vernunft aufgeblitzt: „Sie liebt keinen Menschen, aber sie liebt das Sich-Treffen bei der Wahrheit. Sie trifft die Vernunft in jedem Menschen“, so Arendt. „Sie kann keinen Menschen lieben, aber in vielen vieles.“65 Der kurze historische Augenblick, indem sie sich als Gleiche in der Gesellschaft fühlen konnte, war laut Arendt die Umbruchzeit zwischen der Französischen Revolution und der Niederlage Preußens 1806, als Rahel ihren berühmten Salon führte. In diesem Salon  – und nur in ihm  – habe sie sich respektiert gefühlt, als Mensch und Individuum anerkannt. Standes-, Geschlechts- und Religionsunterschiede schienen für einen kurzen Moment keine Rolle zu spielen, doch der Eindruck trog, wie sie im Nachhinein habe feststellen müssen. Als sich nach 1806 ein deutscher Nationalismus nicht zuletzt auch in Abgrenzung von den Juden herausbildete, habe Rahel erfahren müssen, dass sie noch immer als Fremde wahrgenommen wurde. Es sei diese schockhafte Erfahrung gewesen, die ihre Freundschaft mit Pauline wachsen ließ, bis sie mit ihr eine einzigartige Beziehung geknüpft habe, die sich substantiell von all ihren anderen Freundschaften unterschied. Die Freundschaft mit Pauline Wiesel las Arendt demnach vor allem als eine Reaktion auf das Scheitern der sozialen Emanzipation. Die Freundinnen hätten sich stattdessen im abgeschlossenen Schutzraum ihrer vertraulichen Gemeinschaft – ihrer „suchenden Treue“ – emanzipiert. Das, in Kurzform, war Arendts Interpretation dieser durchaus besonderen Freundschaft. Die Parallelen zu Loewensons Freundschaftsverständnis sind nicht zu übersehen, allen voran der Gedanke, dass der Einzelne in der Freundschaft seine Maske abnehmen und sich dem Freund unverstellt als Individuum zeigen konnte. Aber auch die Ähnlichkeiten zu Loewensons Konzeption der „Abgestimmtheit der Charaktere“ werden in Arendts Darstellung deutlich, die sich an diesem Punkt übrigens überraschend einig mit Rahels viel gescholtenem Ehemann war: „Wie tief und heftig eingenommen von Pauline Wiesel der Sinn und das Gemüth Rahels waren, hat sie selbst oft genug lebhaft ausgedrückt“, erinnerte sich Karl Varnhagen von Ense: Sie hatte eine leidenschaftliche Vorliebe für jene, gegründet auf wahre und einzige Eigenschaften derselben, so wie auch [Rahels] auf ihre beste eignen, die mit jenen zusammenstimmten. Pauline hatte ein großes Naturgefühl, das immer neu und frisch hervorströmte; sie hatte einen unbestechlichen Wahrheitssinn, der schlechterdings keinem Wahn, keinem Vorurtheil huldigte, sondern sich an die klarste Wirklichkeit hielt, keine Süßigkeit und keine Härte des Vorhandenen leugnen oder ignoriren konnte; mit jeder sogenannten Bildung entbehrte sie auch jeden Nachtrab und Gräuel derselben, und Verbildung und Ziererei. In der Jugend war dies mit hinreißendem Liebreiz und der anmuthigsten Persönlichkeit verbunden. Dieser Einsicht in Paulinens Wesen und diesen Eindrücken von ihr blieb Rahel 65 Hannah

Arendt: Rahel Varnhagen. Eine Biographie [Berliner Fassung von 1933]. In: Dies.: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2. Hrsg. v. Barbara Hahn. Göttingen 2021, S. 19.

11.3. Suchende Treue

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zeitlebens treu, auch dann noch, als diese Eindrücke nicht mehr in gleicher Art gegeben wurden, sondern mit dem Schwinden der Jugend manches Harte und Unschöne in Paulinen zugenommen hatte.66

Es war also nicht nur die Gemeinsamkeit, außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu stehen, auf der die Freundschaft zwischen Pauline und Rahel basierte, sondern zugleich das Zusammenstimmen ihrer Unterschiede. Diese nicht zuletzt von Loewenson inspirierte Erkenntnis wurde für Arendts Freundschaftsverständnis bestimmend, wie sich in ihren philosophischen Schriften vor allem nach 1945 zeigen sollte.67 Erstaunlicherweise kam die Freundschaft mit Pauline, die sie im Vorwort zur ersten Auflage ihrer Rahel-Biographie so sehr ins Zentrum gerückt hatte, in der unveröffentlichten Berliner Urfassung von 1933 nur ganz am Rande vor. Das hat vor allem damit zu tun, dass das unabgeschlossene Manuskript nur bis zum Jahr 1808 reicht und damit die Lebensphase, in der die Freundschaft am intensivsten war, noch keine Berücksichtigung finden konnte. Um so aufschlussreicher ist allerdings, dass Arendt schon in der Urfassung die Korrespondenz mit Pauline als Schlüssel verwendete, um die unverstellte, echte, „wahre“ Rahel kennenzulernen. Schon in dem 1931 geschriebenen und ein Jahr später veröffentlichten kurzen Aufsatz Berliner Salon, in dem Arendt einen mitabgedruckten, bis dato unbekannten Brief Rahels an Pauline kommentierte, sah sie in ihr die „einzige[ ] wirkliche[ ] Freundin der Rahel“.68 In den Briefen, die Karl Varnhagen bewusst unterschlagen habe, trete „eine erheblich andere Rahel“ hervor „als er herauszupräparieren liebte“. Nachdem der ursprüngliche aufklärerische und emanzipierte Salon Rahels zu existieren aufgehört hatte und sie als zum Christentum übergetretene Ehefrau Varnhagens eine trostlose und einsame, immer prekäre Existenz als geduldetes Mitglied der ehrenwerten Gesellschaft geführt habe, sei es einzig Pauline gewesen, die ihr noch Halt habe bieten können: Der einzige Mensch von ehemals, der ihr blieb, war der, der schon von vornherein jenseits aller bestimmten geistigen, politischen oder gesellschaftlichen Ordnung stand: Pauline Wiesel. Nichts war von der Geselligkeit übriggeblieben als das, was immer außerhalb der Gesellschaft gestanden hatte.69

66 Karl August Varnhagens Aufzeichnungen über Pauline Wiesel. In: Rahel Varnhagen von Ense: Briefwechsel mit Pauline Wiesel, S. 489. 67 Folglich sandte Arendt Loewenson das Rahel-Buch sofort nach Israel, als es erschien. Vgl. Hahn: Nachwort, S. 893. Ihr Freundschaftsbegriff nach 1945 wird exemplarisch ausgeführt in Hannah Arendt: Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten [1959]. In: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten. Hrsg. v. Ursula Ludz. München 32014, S. 11–45. 68 Hannah Arendt: Berliner Salon. Brief Rahels an Pauline Wiesel. In: Deutscher Almanach für das Jahr 1932. Leipzig 1931, S. 173–190. Abgedruckt in: Dies.: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2. Hrsg. v. Barbara Hahn. Göttingen 2021, S. 591, Anm. 2. 69 Ebd., S. 594.

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11. Gegensätze ziehen sich an

Die auf Solidarität und einem „gemeinsamen Leben“ beruhende Freundschaft „zwischen den beiden der ursprünglichen Artung nach so verschiedenen Frauen“ stellte damit aus Sicht Arendts das Erbe der Aufklärung in Zeiten des Nationalismus dar.70 Die, die einst am Rande oder außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft standen, seien nun, nach der Aufklärung, ganz vom sozialen Leben ausgeschlossen, weil die Form der Geselligkeit, die nun vorherrschte, auf Konformismus und nationale Homogenität getrimmt gewesen sei. Frauen wie Rahel und Pauline hätten in diesen Zeiten nur noch in der privaten Form der Freundschaft gesellig sein können. In der Freundschaft sei damit das emanzipatorische Potential der Aufklärung gewissermaßen aufgespeichert, um in besseren Zeiten aktiviert werden zu können. Aus Arendts Sicht war die Freundschaft in der Ära des Nationalismus Statthalterin des besseren Lebens, nicht die eng, rigide und intolerant gewordene nationale Gemeinschaft der Gleichen. Und das galt nicht nur für das reaktionäre Preußen nach den Napoleonischen Kriegen, sondern um so mehr für die Spätphase der Weimarer Republik, in der Arendt ihre Gedanken zur Freundschaft zu Papier brachte. Die Welt, der Augustinus sich verschlossen hatte, um zu Gott zu finden, der anzugehören Rahel misslang, diese Welt hatte sich nun, am Vorabend der Machtübernahme Adolf Hitlers, selbst von den Einzelnen abgewendet. War die Freundschaft lange Zeit ein Experimentierfeld neuer Gemeinschaftsformen gewesen, so wurde jetzt immer stärker ihr Schutzcharakter deutlich. Praktisch rückte damit das Gemeinsame der Freunde – nämlich das Ausgeschlossen- und Verfolgtsein als Jude – in den Vordergrund, aber gerade jene Formen von Freundschaft erwiesen sich als besonders widerstandsfähig, in denen der Differenz eine konstitutive Bedeutung zukam. In der Dialektik von Identität und Nicht-Identität konnte der Einzelne, wie Arendt formulierte, er selbst bleiben und zugleich ein anderer sein. Innerhalb der Beziehung bleibe jeder, „was er ist, obwohl er in dieser Relation etwas anderes ist, als er war: der Freund“.

11.4. Carmen Kahn-Wallersteins Antipoden Der Frage, was die Einheit zwischen dem Differenten stiftet und damit die Grundlage der Freundschaft überhaupt erst bildet, widmete sich 1932 auch die Literaturwissenschaftlerin Carmen Kahn-Wallerstein (1903–1988), und zwar ausgerechnet in zwei Essays über Goethe und Schiller.71 Ähnlich wie Arendt zeitgleich Pauline Wiesel und Rahel Varnhagen als charakterlich ganz verschie70 Ebd.,

S. 596, Anm. 6. Kahn-Wallerstein: Goethe und Schiller. In: Hans Kern (Hg.): Schöpferische Freundschaft. Jena 1932, S. 45–85 und dies.: Jugendfreundschaft als Schicksal im Leben Goethes und Schillers. In: Goethe-Kalender auf das Jahr 1933. Leipzig 1932, S. 80–94. 71 Carmen

11.4. Carmen Kahn-Wallersteins Antipoden

285

den dargestellt hatte, zeichnete auch Kahn-Wallerstein die großen Weimarer Klassiker im äußersten Gegensatz zur harmonistischen Theorie des freundschaftlichen Gleichklangs als seelische Antipoden.72 Und wie Arendt zwar über Rahel geschrieben, aber darin zugleich ihre eigenen Anschauungen über das Wesen der Freundschaft zum Ausdruck gebracht hatte, ist auch bei Kahn-Wallerstein deutlich ein stilisierter, konstruktiver Zug ihrer Analyse der Freundschaft zwischen Goethe und Schiller zu erkennen. Aber anders als Arendt sah sie in der Freundschaft nicht das Erbe der Aufklärung, sondern die Verbindung von germanisch-griechischer und christlich-jüdischer Religion. Diese höchst eigentümliche Konzeption wird verständlicher, wenn man sich Kahn-Wallersteins Begeisterung für die kulturkritische Philosophie Ludwig Klages’ und Friedrich Nietzsches vergegenwärtigt. Als freischaffende Schriftstellerin war sie für die Frankfurter Nachrichten und die Literaturzeitschrift Deutsche Rundschau tätig, außerdem arbeitete sie als Rundfunkredakteurin.73 Ihre ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen beschäftigten sich mit Goethe, doch ihre Interpretation war, keineswegs außergewöhnlich in dieser Zeit, maßgeblich von Klages’ Anthropologie sowie der Philosophie Nietzsches beeinflusst, den sie wohl noch mehr verehrte als Goethe selbst. Wie Steven Aschheim, Friedrich Niewöhner und andere gezeigt haben, war der Nietzscheanismus bei jüdischen Intellektuellen in der Weimarer Republik durchaus populär – mit Karl Löwith beispielsweise, dessen Dissertation sich Nietzsches Selbst-Interpretation widmete, haben wir uns schon ausführlich beschäftigt.74 Dass sich in Nietzsches Werk zahlreiche antijüdische Bemerkungen finden, hielt jüdische Intellektuelle wie Kahn-Wallerstein nicht davon ab, sich mit seinen Schriften zu beschäftigen, zumal den negativen Äußerungen auch durchaus positive gegenüberstehen und Nietzsche zugleich einer der prononciertesten Kritiker des politischen Antisemitismus im Kaiserreich war.75 Mit Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, einer überzeugten Antisemitin, die nach dem Tod ihres Bruders viel dafür getan hat, die völkische Rezeption Nietzsches populär zu machen, pflegte Kahn-Wallerstein seit 1930

72 Varnhagen repräsentiert interessanterweise den ersten Höhepunkt der jüdischen GoetheVerehrung in Deutschland. Vgl. Wilfried Barner: Von Rahel Varnhagen bis Friedrich Gundolf. Juden als deutsche Goethe-Verehrer. Göttingen 1992. 73 Vgl. Renate Weil: Verbrannt, verboten, vergessen. Kleines Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1933 bis 1945. Köln 21988, S. 74. 74 Vgl. Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart 2000. Friedrich Niewöhner: Jüdischer Nietzscheanismus seit 1888 – Ursprünge und Begriff. In: Werner Stegmaier, Daniel Krochmalnik (Hg.): Jüdischer Nietzscheanismus. Berlin, New York 1997, S. 17–31. 75 Vgl. Yovel Yirmiyahu: Nietzsche und die Juden. Die Struktur einer Ambivalenz. In: Jacob Golomb (Hg.): Nietzsche und die jüdische Kultur. Wien 1998, S. 126–142.

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11. Gegensätze ziehen sich an

intensiven Briefkontakt, der erst mit dem Tod ihrer Briefpartnerin 1935 endete.76 Besondere Verdienste um die Nietzsche-Forschung erwarb sich Kahn-Wallerstein durch die Aufzeichnungen ihrer Gespräche mit Paul Lanzky, einem jüdischen Schriftsteller und Weggefährten Nietzsches, auch wenn die 1933 im Schweizer Exil in Lugano geführten Unterhaltungen, die dem biographischen Bild Nietzsches einige bis dahin unbekannte Facetten hinzufügten, erst Ende der vierziger Jahre publiziert wurden.77 Aber Kahn-Wallersteins Interesse an Nietzsche war kein rein historisch-biographisches, sondern sie war vor allem fasziniert von dessen Kritik des abendländischen Denkens. Wenn dieser unnachgiebig und radikal die Tradition der religiösen Überlieferung attackierte und dabei die herrschenden Moralvorstellungen unter Beschuss nahm, dann sprach er gerade der um die Jahrhundertwende geborenen Generation aus der Seele. Auch sie wollte eine „Umwertung aller Werte“ und erkor die décadence – wie wir bereits bei den Expressionisten gesehen haben – zum Feindbild. Oft übersehen wird dabei, dass Nietzsche seinen jüdischen Lesern ein besonderes Angebot machte. In seiner Schrift Der Antichrist widmete er sich ausführlich dem Judentum und betrachtete es, zunächst negativ, als „das verhängnisvollste Volk der Weltgeschichte“.78 Das Christentum sei nur ein schlechter Abklatsch, eine billige „Kopie“ des Judentums, entbehre aber „im Vergleich zum ‚Volk der Heiligen‘“ jeden Anspruches auf Originalität. Damit wies Nietzsche seine Kritik der christlichen Moral zugleich als antijüdische aus. „Die Juden“, heißt es deshalb, sind das merkwürdigste Volk der Weltgeschichte, weil sie, vor die Frage von Sein und Nichtsein gestellt, mit einer vollkommen unheimlichen Bewußtheit das Sein um jeden Preis vorgezogen haben; dieser Preis war die radikale Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen inneren Welt als auch der äußeren. Sie grenzten sich ab gegen alle Bedingungen, unter denen bisher ein Volk leben konnte, leben durfte; sie schufen aus sich einen Gegensatz-Begriff zu natürlichen Bedingungen – sie haben, der Reihe nach, die Religion, den Kultus, die Moral, die Geschichte, die Psychologie auf eine unheilbare Weise in den Widerspruch zu deren Natur-Werten umgedreht.79

Es ist unschwer zu erkennen, dass Nietzsche im Judentum, das allen Verfolgungen und Ausgrenzungen getrotzt hatte, ein widernatürliches Phänomen erblickte. Anstatt unterzugehen wie alle anderen antiken Völker hätten sich die Juden dem Kreislauf der Natur bewusst widersetzt und ihr Sein behauptet.80 76 Universitätsbibliothek Basel, Handschriften, Nachlass Carmen Kahn-Wallerstein, Korrespondenz mit Elisabeth Förster-Nietzsche, Signatur NL 115: A 1–48. Zu Förster-Nietzsches Antisemitismus siehe Ulrich Sieg: Die Macht des Willens. Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre Welt. München 2019. 77 Carmen Kahn-Wallerstein: Paul Lanzky erzählt von Nietzsche. In: Neue Schweizer Rundschau 15, 5 (1947), S. 268–274. 78 Friedrich Nietzsche: Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums [1888]. In: Ders.: Werke in 3 Bänden, Bd. 2. München 1954, S. 1183. 79 Ebd. 80 Ganz ähnlich argumentierte der jüdische Sozialdarwinist Ludwig Gumplowicz bereits

11.4. Carmen Kahn-Wallersteins Antipoden

287

Das sei nicht ohne Folgen geblieben, denn der jüdische Geist der Verdrängung, ja „Fälschung“ der Natur sei in alle Verästelungen der Kultur eingedrungen. Mit der Ausbreitung des Christentums – dieser „Kopie“ des Judentums – habe sich die décadence dann im gesamten Abendland ausgebreitet. Man muss sich klarmachen, dass Nietzsche mit der décadence im Grunde die Gesamtheit zivilisatorischer Errungenschaften meinte, die der Menschheit die Beherrschung der inneren wie äußeren Natur ermöglichte. Anders als in der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers, die sich auch auf Nietzsche beriefen, aber sich explizit der Rettung der Aufklärung vor den ihr selbst innewohnenden regressiven Tendenzen verschrieben, verzichtete Nietzsche auf jede Dialektik. Er stellte der Aufklärungstradition stattdessen eine vermeintlich naturhafte Ordnung als positives Prinzip gegenüber. In dieser naturhaften Ordnung hatten die Juden scheinbar keinen Platz. Allerdings pflegten sie laut Nietzsche lediglich ein instrumentelles Verhältnis zur décadence, keines der tiefen Überzeugung, denn sie sei ihnen von außen aufgezwungen worden. „Psychologisch nachgerechnet“, heißt es weiter, „ist das jüdische Volk ein Volk der zähesten Lebenskraft, welches, unter unmögliche Bedingungen versetzt, freiwillig, aus der tiefsten Klugheit der Selbsterhaltung, die Partei aller décadence-Instinkte nimmt – nicht als von ihnen beherrscht, sondern weil es in ihnen eine Macht erriet, mit der man sich gegen ‚die Welt‘ durchsetzen kann.“81 Aus dieser Perspektive wird einsichtig, warum Nietzsche die Juden im selben Atemzug als „das Gegenstück aller décadents“ bezeichnen konnte: [Die Juden] haben sich darstellen müssen bis zur Illusion, sie haben sich mit einem non plus ultra des schauspielerischen Genies, an die Spitze aller décadence-Bewegungen zu stellen gewußt (– als Christentum des Paulus  –), um aus ihnen etwas zu schaffen, das stärker ist als jede Ja-sagende Partei des Lebens. Die décadence ist, für die im Juden- und Christentum zur Macht verlangende Art von Mensch, eine priesterliche Art, nur Mittel: diese Art von Mensch hat ein Lebens-Interesse daran, die Menschheit krank zu machen und die Begriffe „gut“ und „böse“, „wahr“ und „falsch“ in einen lebensgefährlichen und weltverleumderischen Sinn umzudrehn.82

Selbstverständlich war Nietzsche hier nah an antijüdischen Verschwörungsmythen. Aber nicht nur richteten diese sich im gleichen Maße gegen die Christen, sondern er hob auch die Nötigung hervor, der die Juden ausgesetzt waren. „Krank“ war die Gesellschaft aus seiner Sicht auch deshalb, weil sie die Juden in die Arme der décadence trieb. Ursprünglich, so Nietzsche, habe nämlich „auch Israel zu allen Dingen in der richtigen, das heisst der natürlichen Beziehung gefünf Jahre vor Nietzsche in seinem Hauptwerk Der Rassenkampf. Soziologische Untersuchungen. Wien 1883. Vgl. Philipp Lenhard: Assimilation als Untergang. Ludwig Gumplowicz’ Judentum und die Frage des Antisemitismus. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 64, 2 (2012), S. 105–116, besonders S. 114 f. 81 Nietzsche: Der Antichrist, S. 1183. 82 Ebd., S. 1184.

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11. Gegensätze ziehen sich an

standen“.83 Sein Gott sei „Ausdruck des Macht-Bewusstseins, der Freude an sich, der Hoffnung auf sich“ gewesen: „in ihm erwartete man Sieg und Heil, mit ihm vertraute man der Natur, dass sie giebt, was das Volk nöthig hat“.84 Doch nach dem Untergang des jüdischen Staates und mit der Zerstreuung in die Diaspora hätten „priesterliche Agitatoren“ – er meint wohl die Rabbinen – die ursprüngliche, an die Natur gekoppelte Gottesidee in eine strafende und fordernde Gottheit verwandelt. Damit sei die „widernatürliche Causalität“ von Ursache und Wirkung oder Sünde und Strafe ins Werk gesetzt, die schließlich in der christlichen Sklavenmoral kulminiert sei: Ein Gott, der fordert – an Stelle eines Gottes, der hilft, der Rath schafft, der im Grunde das Wort ist für jede unglückliche Inspiration des Muths und des Selbstvertrauens … Die Moral, nicht mehr der Ausdruck der Lebens- und Wachsthums-Bedingungen eines Volks, nicht mehr sein unterster Instinkt des Lebens, sondern abstrakt geworden, Gegensatz zum Leben geworden, – Moral als grundsätzliche Verschlechterung der Phantasie, als „böser Blick“ für alle Dinge.85

Anders als die protestantische Propaganda des 19. Jahrhunderts stellte Nietzsche nicht dem vermeintlichen jüdischen Rachegott den barmherzigen christlichen Gott der Liebe gegenüber, sondern konfrontierte den strafenden Gott beider Religionen mit der ursprünglichen israelitischen Gottheit. Diese Wendung bot all jenen Juden, die mit dem Judentum ihrer Zeit haderten und die Autorität der Rabbiner infrage stellten, einen Ausweg, sich positiv auf ein noch nicht korrumpiertes, scheinbar authentisches Judentum zu beziehen. Die Verbreitung des „jüdischen Nietzscheanismus“ – ein Ausdruck, den keineswegs zufällig der Kulturzionist Achad Ha’am erfunden hat – lässt sich nicht zuletzt durch diesen Gedanken erklären.86 Carmen Kahn-Wallerstein war eine dieser jüdischen Nietzscheanerinnen und wie sehr sie von der skizzierten Konzeption des Judentums überzeugt war, zeigt sich just an ihren Gedanken zur Freundschaft. Nietzsches „Kritik der Modernität“ beinhaltete eine besondere Wertschätzung der Freundschaft als „therapeutisches Konzept“ der Selbsttransformation.87 Seit dem Tod Gottes, so Nietzsche, habe der Nihilismus die Menschen ergriffen und diese geisterten halt- und orientierungslos in der Welt herum, ohne Sinn, ohne Glauben und ohne Moral. Um den Nihilismus zu überwinden, müssten die Menschen deshalb neue Werte aus sich selbst heraus schaffen. Dies erfordere die Transformation des Selbst vom verkümmerten Individuum mit einer Sklavenmoral zum selbstbewussten „Über83 Ebd. 84 Ebd.

85 Ebd.,

S. 1185. Niewöhner: Jüdischer Nietzscheanismus, S. 22. 87 Friedrich Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist [1888/89]. In: Ders.: Werke in 3 Bänden, Bd. 2. München 1954, S. 1141. Diese treffende Formulierung verdanke ich Willow Verkerk: Nietzsche and Friendship. New York 2019, besonders S. 29–65. 86 Vgl.

11.4. Carmen Kahn-Wallersteins Antipoden

289

menschen“, der durch den „Willen zur Macht“ gekennzeichnet sei. In diesem Transformationsprozess komme der Freundschaft die Aufgabe zu, das Selbst im Freund zu spiegeln, Kritik zu erwidern, Unrecht zu erkennen.88 Besonders durch den sechsten Teil seiner 1878 erschienenen Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches ziehen sich Gedanken über die Freundschaft wie ein roter Faden. In seinen Überlegungen über das „Gleichgewicht der Freundschaft“ stellte Nietzsche nicht die Identität, sondern die Differenz der Freunde in den Mittelpunkt.89 Umso mehr zeigte er sich verwundert, dass die Griechen – „die so gut wussten, was ein Freund sei“ – „die Verwandten mit einem Ausdrucke bezeichnet [haben], welcher der Superlativ des Wortes ‚Freund‘ ist. Dies bleibt mir unerklärlich.“90 Entgegen einer verwandtschaftlichen Nähe ging Nietzsche davon aus, dass Vertrauen und Intimität das Geheimnis jeder guten Freundschaft ausmachen.91 In ihrem Essay Jugendfreundschaft als Schicksal im Leben Goethes und Schillers, den sie in unmittelbarer Nachbarschaft zu Beiträgen von Margarete Susman, Thomas Mann und Benito Mussolini 1932 im Goethe-Kalender veröffentlichte, nahm Kahn-Wallerstein dieses nietzscheanische Freundschaftsverständnis zum Ausgangspunkt. Und so begann sie ihren Essay nach zwei vorangestellten Goethe- und Schiller-Zitaten dann auch mit einem Wortlaut Nietzsches: „Es gab eine ungewöhnliche Menge von Dingen, über die wir nicht zusammenklangen“, schrieb Nietzsche einst über sein Verhältnis zu seinem Freund Erwin Rohde. „Sobald aber das Gespräch sich in die Tiefe wandte, verstummte die Dissonanz der Meinungen und es ertönte ein ruhiger und voller Einklang“.92 Diesen Gedanken, dass der Einklang der Freunde nicht durch oberflächliche Streitigkeiten außer Kraft gesetzt werden kann, identifizierte Kahn-Wallerstein als das Wesen der Freundschaft: „Dies ist das eindeutigste Merkmal einer echten Freundschaft“, schrieb sie, „daß nämlich für die Zeit ihrer Dauer Dissonanzen immer nur Angelegenheit der Oberfläche sein können, sich jedoch nach den Tiefen zu auflösen.“93 Die tiefe Verbundenheit der Freunde sei die Grundharmonie, die von den Dissonanzen und Zwischentönen des Alltags nicht überstimmt werden könnten. „Freundschaft“, folgerte sie, 88 Vgl. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister [1878]. In: Ders.: Werke in 3 Bänden, Bd. 1. München 1954, S. 643 (Nr. 374) und S. 644 (Nr. 376). 89 Ebd., S. 626 (Nr. 305). 90 Ebd., S. 636 (Nr. 354). Anders als Byung Chul-Hang: Hegel und die Macht. Ein Versuch über die Freundlichkeit. München 2005, S. 67 behauptet, ist wahrscheinlich nicht das Wort oikeios (von oikos), das „verwandt, vertraut, befreundet, zur Familie gehörig“ bedeutet, gemeint, sondern vielmehr philtatos (Superlativ von philos). Vgl. Wilhelm Pape: Griechisch-Deutsches Handwörterbuch in 3 Bänden, Bd. 2. Braunschweig 31880, S. 1285. Danke an Hartmut Lenhard für den Hinweis. 91 Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, S. 630 (Nr. 327). 92 Zitiert nach Kahn-Wallerstein: Jugendfreundschaft, S. 80. 93 Ebd.

290

11. Gegensätze ziehen sich an

gehört zu den ursprünglichen Lebenserscheinungen, die, gleich vielen andern, zerredet, mißbraucht und verfälscht werden. An ihre Stelle drängen sich Interessengemeinschaft oder Gesinnungsgenossenschaft, fahle Gespenster, die von der lebenzeugenden Wirkmacht und offenbarenden Kraft echter Freundschaft kaum noch etwas ahnen lassen.94

Das Pathos, mit dem sie über „echte“ Freundschaft schrieb, zeigt bereits an, dass ihrer Ansicht nach keine andere Gemeinschaftsform der Produktivität des Geistes so sehr gerecht wurde wie die Freundschaft. Und sie war überzeugt davon, dass Nietzsche wie kein zweiter das Wesen der Freundschaft auf den Punkt gebracht hatte. Erstaunlicherweise beschrieb sie jedoch die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller als Inversion des nietzscheanischen Freundschaftsbegriffs. Das geschah in zwei Schritten. In ihrer Untersuchung über die Jugendfreundschaften Goethes und Schillers arbeitete sie zunächst heraus, wie prägend diese jeweils auf den Charakter der späteren Geistesgrößen gewirkt hätten. Goethes Freundschaft zu Herder sei noch durch eine Hierarchie gekennzeichnet gewesen, nicht zuletzt aufgrund des Altersunterschieds, aber Goethe habe in der Beziehung zu Herder bereits „das Geheimnis der echten Freundschaft“ erfahren: „Echte Freundschaft ist ein Liebesgefühl, das mit dem Andern eins wird in der Empfindung, mit ihm um die Sonne zu kreisen.“95 Echte Freundschaft sei demnach ein Zusammenklang der Seelen oder, in Nietzsches Worten, „ein ruhiger und voller Einklang“. Der Ungleichheit der Freunde ungeachtet, basiere ihre Beziehung auf einer tiefgreifenden emotionalen Affinität. Auch Schillers Jugendfreundschaft zu Christian Gottfried Körner sei keine Beziehung auf Augenhöhe gewesen, so Kahn-Wallerstein, denn Schiller habe Körner mehr geliebt als umgekehrt: Trotz aller bewundernden Freundesliebe für Schiller war Körner zur Zeit ihrer beginnenden Freundschaft mit allen Gefühlskräften, deren er fähig war, an seine Braut und junge Gattin gebunden. Selbst sein Freundschaftseros hatte die Schwingen nicht frei, und so empfing der glühende Jüngling, der Schiller der „herkulischen Gelübde“, auf seine herrlichen Freundesbriefe oft nur karge Antwort.96

Doch das bedeute nicht, dass Körners Einfluss auf Schillers Entwicklung geringzuschätzen wäre. So sehr Herder das authentische Selbst seines Freundes Goethe entfesselt habe, so sehr habe Körner bei Schiller den Trieb ausgelöst, „die Seelenflammen zu verraten an einen Glauben an die Selbstherrlichkeit der Vernunft“.97 Körner, so Kahn-Wallerstein vorwurfsvoll, sei schuld an Schillers Hinwendung zu Kants Vernunftethik. Sein Freund sei somit verantwortlich dafür, dass Schiller

94 Ebd.,

S. 80 f. S. 86. 96 Ebd., S. 88. 97 Ebd., S. 92. 95 Ebd.,

11.5. Heiden und Juden

291

„vergewaltigt wurde, gegen sein eigentliches Wesen zu leben“.98 Unverkennbar stellte Kahn-Wallerstein die Jugendfreundschaften Goethes und Schillers als Widerspruch zwischen „echter“ und „unechter“ Freundschaft dar. Während Körner Schillers Charakter Gewalt antat, seinen Geist mit der Hybris der Vernunft verstümmelte, habe Herder genau das getan, wozu ein wahrer Freund da sei: Er habe die Entfaltung der Persönlichkeit des Freundes gefördert.

11.5. Heiden und Juden Dieser Dualismus der Freundschaften bildete die Grundlage für ihre ausführlichere Untersuchung über Goethe und Schiller in dem von dem Klages-Jünger Hans Kern (1902–1947) herausgegebenen Band Schöpferische Freundschaft.99 Hier nahm sie die Inversion von Nietzsches Freundschaftsbegriff vor, indem sie die Dissonanz gerade in der Tiefe der Seelen Goethes und Schillers verortete und umgekehrt gerade die Übereinstimmungen zwischen ihnen für ein oberflächliches Phänomen hielt. Goethe und Schiller seien sich oft einig gewesen, aber wenn es um grundsätzliche Fragen gegangen sei, habe ein Abgrund zwischen ihnen gelegen. Nietzsches Verständnis von echter Freundschaft könne man „in bezug auf Goethe und Schiller füglich umkehren: es gab eine ungewöhnliche Menge von Dingen, über die sie zusammenklangen. Sobald aber das Gespräch sich in die Tiefe wandte, ergab sich eine Dissonanz. – Goethe selbst hat gewußt, daß ihn und Schiller niemals eine echte Freundschaft verbunden hat.“100 Keine Freundschaft also? Wieso veröffentlichte Kahn-Wallerstein ihren Aufsatz dann ausgerechnet in einem der Freundschaft gewidmeten Band? Des Rätsels Lösung liegt in der Klassifizierung der „echten“ Freundschaft. Denn laut Kahn-Wallerstein war die Beziehung zwischen Goethe und Schiller ganz anders beschaffen als die zu Herder. Am Anfang habe zwischen ihnen förmlich „Hass“ geherrscht und noch bei ihrer ersten Begegnung im Jahr 1794 „erwies sich die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller als das, was sie im Grunde war: – als schöpferische Gegnerschaft.“101 Und auch wenn die beiden sich im Laufe der Jahre einander angenähert hatten, seien sie in ihrem tiefsten Inneren Fremde geblieben: „Als Menschen blieben die beiden Männer so verschieden, so wesensfremd, so gegensätzlich, wie sie es von Anfang an gewesen sind. Als Geister aber kommen sie einander nah.“102 Ihre Freundschaft der Differenz  98 Ebd.,

S. 93. Kern vgl. Ralf Klausnitzer: Umwertung der deutschen Romantik? Aspekte der literaturwissenschaftlichen Romantikrezeption im Dritten Reich. In: Holger Dainat u. a. (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus. Tübingen 2003, S. 207 f. 100 Kahn-Wallerstein: Goethe und Schiller, S. 75. 101 Ebd., S. 67 und 69. 102 Ebd., S. 64.  99 Zu

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11. Gegensätze ziehen sich an

wurzele in geradezu gegensätzlichen Charakteren, die sich nicht zuletzt unter dem Einfluss ihrer Jugendfreundschaften herausgebildet hätten. Während Schiller als kühler Vernunftmensch gezeichnet wurde, der dem „einseitigen Moralismus einer geistgläubigen, idealistischen Willensreligion“ anhänge, erschien Goethe als Erneuerer einer altgermanischen Naturreligion, der „die unantastbare Vorzugsstellung verschollener Urwerte wieder entdeckt“ habe.103 Der Dualismus zwischen Geist und Natur, den Kahn-Wallerstein hier aufspannte, war genauso wie der Begriff des „Charakters“ eindeutig der Kulturkritik Klages’ entlehnt, dessen Goethe-Essay von 1917 sie als „tiefe Studie“ zur Lektüre empfahl.104 Neben Klages’ 1929 erschienenem dreibändigen Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele war es offenbar vor allem der bereits vor dem Ersten Weltkrieg entstandene Essay Mensch und Erde, der Kahn-Wallerstein stark beeindruckte.105 Klages hatte mit dem Text ein antimodernes Manifest vorgelegt, das wortreich die sozialen und vor allem ökologischen Kosten des Fortschritts benannte. Die europäische Zivilisation war von Klages als zerstörerisch angeprangert und dabei eine scheinbar harmonische germanische Vergangenheit beschworen worden, in der Mensch und Erde noch im Einklang miteinander gelebt hätten: Wie sich die früheren Völker gern Erdentsprossene nannten, so ist in Form und Farbe erdentsprossen alles, was sie schufen, von den Wohnstätten an bis zu den Waffen und Hausgeräten, den Dolchen, Speeren, Pfeilen, Äxten, Schwertern, den Ketten, Spangen und Ringen, den formschönen und zierdereichen Gefäßen, den Kürbisnäpfen und Kupferschalen, den tausendfältigen Geflechten und Geweben. – Schrecklicher noch, als was wir bisher gehört, wenn auch vielleicht nicht ganz im gleichen Maße unverbesserbar, sind die Wirkungen des „Fortschritts“ auf das Bild besiedelter Gegenden. Zerrissen ist der Zusammenhang zwischen Menschenschöpfung und Erde, vernichtet für Jahrhunderte, wenn nicht für immer, das Urlied der Landschaft.106

Zivilisation bedeutete für Klages in Wahrheit „Vernichtung des Lebens“, denn unter „den Vorwänden von ‚Nutzen‘, ‚wirtschaftlicher Entwicklung‘, ‚Kultur‘“ 103 Ebd.,

S. 56 und 49. S. 53, Anm. 1. Es sind nur wenige Übereinstimmungen zwischen Klages’ kurzem Essay und dem Kahn-Wallersteins festzustellen, aber eine besteht in der Annahme eines notwendigen Gleichgewichts in der Freundschaft: „Zur Eigenperson gehört unabtrennbar die Fremdperson, zum Ich der ‚Andre‘, zum ‚Menschen‘ als dem Träger des Ichs der mit-ertragende ‚Nebenmensch‘.“ Ludwig Klages: Bemerkungen über die Schranken des Goetheschen Menschen [1917]. In: Ders.: Mensch und Erde. Zehn Abhandlungen. Erweiterte Neuausgabe. Stuttgart 1956, S. 72. Auch der im Nachlass befindliche unveröffentlichte Text Goethes Selbstkonflikt, der im selben Zeitraum entstanden sein muss, war laut Kahn-Wallerstein von Klages’ Studie angeregt. Carmen Kahn-Wallerstein: Goethes Selbstkonflikt. Ein seelenkundlicher Versuch über GoetheWerther. In: Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, Personen: Literatur, Journalismus, Bestand B. 3/45: Kahn-Wallerstein, Nr. 11, S. 1, Anm. 1. 105 Vgl. Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher der Seele. 3 Bde. Leipzig 1929–1932 sowie ders.: Mensch und Erde, S. 1–25. 106 Ebd., S. 10. 104 Ebd.,

11.5. Heiden und Juden

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betreibe der sogenannte Fortschritt eine gigantische Zerstörung der Natur.107 All diese Begriffe – Zivilisation, Fortschritt, Kultur, Technik, Kapitalismus, „Mammonismus“ – waren für Klages nur Synonyme für den Geist des Christentums, dessen Skandalon er in der Vergöttlichung des Menschen erblickte: Im Christentum also müssen die nächsten Ursachen des weltgeschichtlichen „Fortschritts“ liegen. Nun hat zwar das Christentum immer Liebe gepredigt, allein man betrachte diese Liebe genauer, und man wird finden, daß sie im Grunde nur mit überredendem Wort vergoldet ein bedingungsloses „Du sollst“ der Achtung, und zwar allein des Menschen, des Menschen in vergötterter Gegenstellung zur gesamten Natur.108

Klages konfrontierte das anthropozentrische Christentum mit einer neuheidnischen Mutter Erde-Religion, die von der Einheit von Mensch und Natur ausging. Der menschliche Geist war aus dieser Perspektive eine Bedrohung für den Kreislauf der Natur, weil der Mensch in diese eingriff und sie zu seinen Gunsten veränderte. Schon Klages hatte Goethe als Sprachrohr dieser scheinbar ursprünglichen Naturreligion identifiziert, aber es war Kahn-Wallerstein, die diese Idee nun anhand der dualistischen Freundschaft Goethe/Schiller ausbuchstabierte. Ein „Verständnis der ‚Freundschaft‘ von Goethe und Schiller“ sei möglich nur „durch die Einsicht in beider religiöse Erlebniswelten“, erklärte sie.109 Und hier waren die Rollen klar verteilt: Schiller repräsentierte den von Klages gescholtenen Fortschritt, die Vernunftethik, die Naturbeherrschung und die „Selbstvergottung des Geistes“.110 Goethe dagegen sah im Außergeistigen, in den Lebens- und Naturmächten nichts, worüber der Geist sich zu „erheben“ Grund hätte, nichts, was erst des Geistes im Menschen bedürfe, um Form und Wert zu empfangen. Gerade seiner Weltdeutung erschien der Geist als eine fragwürdige Gabe, deren der Träger, der Mensch, sich erst würdig erweisen mußte durch weisen Gebrauch im Dienste des Lebens, durch frommen Verzicht auf allzu wißbegierige Zergliederungssucht, durch Ehrfurcht vor den „bewußtlos bildenden“ Lebensmächten und dem Nornenspruche der „Notwendigkeit“, dem Schicksal. Dieser uralten Religion erschien das Lebendige als in sich geschlossener Wirkungskreis und Quell alles, auch des menschlichen Schöpferischen, der vom Logos, dem Geiste und Willen, wo er sich hochmütig gebärdete, nur getrübt und keineswegs geheiligt werden konnte.111

Mit dieser Polarität zwischen dem „Lebensverwurzelten“ und dem „Geistfanatiker“ stellte sich unweigerlich die Frage der Kompatibilität: Was war es dann, das Goethe und Schiller zueinander führte?112 Waren es lediglich die oberflächlichen Übereinstimmungen oder gab es nicht doch ein den Freunden gemeinsames 107 Ebd.,

S. 12. S. 19. 109 Kahn-Wallerstein: Goethe und Schiller, S. 47. 110 Ebd., S. 49. 111 Ebd., S. 49. 112 Ebd., S. 58. 108 Ebd.,

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11. Gegensätze ziehen sich an

Drittes? Trotz der Überzeugung, die beiden Charaktere seien zutiefst gegensätzlich, behauptete Kahn-Wallerstein, dass ihre Freundschaft einem gemeinsamen Ziel, einer „Weltsendung“ verpflichtet gewesen sei, nämlich der Erneuerung des deutschen Geistes aus dem Geiste der Antike: eine „heilige Vermählung griechischen und deutschen Wesens“.113 Nicht mehr das Christentum war ihnen das Fundament deutscher Kultur, sondern das „artverwandte“ Heidentum der Griechen. Zwar hätten Goethe und Schiller sich aus verschiedenen Richtungen auf diese gemeinsame Sendung zubewegt, wobei Schiller eindeutig den weiteren Weg habe zurücklegen müssen, aber im Ziel der Neuschöpfung Deutschlands als einer Synthese aus Geist und Natur hätten sie sich beide schließlich getroffen. Allerdings sei dieser Versuch nicht von Erfolg gekrönt gewesen, denn die Frühromantiker hätten ihr Projekt erfolgreich torpediert – übrigens eine interessante Parallele zu Arendts Beschreibung der Zerstörung des deutsch-jüdischen Salons durch die Frühromantik. Gleichen Sinnes schreibt Kahn-Wallerstein, „Rebellisch-wurzellose Nachkömmlinge und neidisch lärmende Altersgenossen“ hätten „in den großen Eroberern eines griechisch-deutschen Kulturbildes starrsinnige Reaktionäre“ gesehen und „alle radikalen Fanatiker von rechts und links“ hätten sie zu Feinden erklärt.114 Diese Diagnose mag in historischer Perspektive als fragwürdig erscheinen, aber für Kahn-Wallerstein repräsentierte das Deutschland Goethes und Schillers ein Ideal, das nun – in ‚Weimar‘ – abermals durch „radikale Fanatiker von links und rechts“ zerstört wurde. Es war das Jahr 1932, nur einige Monate vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, als sie diese Zeilen zu Papier brachte. Sich in diesem Moment zur Idee des wahren Deutschtums zu äußern, war ein politischer Akt. Wie politisch Kahn-Wallerstein ihre Goethe-Studien selbst sah, geht aus der unveröffentlichten Vorstudie Goethes Fuehrerschaft in ihrem Nachlass hervor, die frühestens Ende 1929, wahrscheinlich erst 1930 verfasst wurde.115 Hier rechnete sie schonungslos mit den radikalen Fanatikern von rechts und links ab, den Nationalsozialisten und den Kommunisten, die selbst ernannten Führern nachliefen, die lediglich „mit einer mittelmässigen Rednergabe, der erforderlichen Dosis Verantwortungslosigkeit und Geltungssucht und der nötigen Frechheit ausgerüstet“ seien.116 Besonders kritisierte sie, dass die „begreifliche Enttäuschung und Skepsis der Schützengrabenjugend, die die Entwertung aller 113 Ebd.,

S. 81 und 82. S. 84. 115 Die Datierung ergibt sich aus der Tatsache, dass die Autorin explizit auf die Revue Die drei Musketiere Bezug nimmt, die „zur Zeit über unsere Varieté-Bühnen geht“. Die Uraufführung des Stücks mit Musik von Ralph Benatzky war am 31. August 1929 im Großen Schauspielhaus in Berlin. Siehe Carmen Kahn-Wallerstein: Goethes Fuehrerschaft. In: Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, Personen: Literatur, Journalismus, Bestand B. 3/45: Kahn-Wallerstein, Nr. 12, S. 1. 116 Ebd. 114 Ebd.,

11.5. Heiden und Juden

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überlieferten seelisch-geistigen Wertbegriffe grausig erlebt hat“, nun von jungen Schreihälsen manipuliert und ausgenutzt werde.117 Als Kulturkonservative sah sie in den vermeintlichen Revolutionären vor allem Traditionszerstörer, die es auf die Verbreitung von Chaos und Unordnung abgesehen hätten. Aus dieser Unordnung steige dann der Massenführer als gewissenloser Demagoge hervor: Denn Tradition ist wurzelstarke, nährende Sicherung und Traditionswerte können untrügliche Gradmesser sein. Gelingt es, diese Werte madig zu machen und einem Volk aus den Augen zu rücken, dann wird es weg- und urteilslos und läuft jedem „Führer“ nach, mag der auch selbst keinen Boden unter den Füssen haben. Die Traditionszerstörung ist der sicherste Weg zum Chaos.118

Als Gegenmittel empfahl Kahn-Wallerstein eine „Wiederbelebung der Tradition“. Mit emphatischen Worten beschrieb sie die Notsituation der Jugend, die sich nicht nur Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit gegenübersehe, sondern auch jeden Selbstvertrauens entbehre, das zur Ausbildung einer „starken, gefestigten Persönlichkeit“ beitragen könne. Anstatt mit der Tradition noch die letzte Wurzel abzuschlagen, die den Jugendlichen Kraft geben konnte, sei eine „reaktionäre“ Kulturrevolution erforderlich, die zu einer „Auseinandersetzung mit dem Ueberlieferten, [dem] Kampf gegen überalterte Formen und [dem] Versuch, die Ewigkeitswerte des Inhaltes neu zu beleben“, führe.119 Orientierung in diesem Kampf um die Wiedergewinnung der Tradition könnten „zwei unsterbliche, grosse Menschen“ bieten, die „bewusst als Führer und Erzieher ihrer Nation gelebt haben“: Goethe und Schiller.120 Es braucht wenig Fantasie, um in Kahn-Wallersteins Darstellung der Freundschaft zwischen Goethe und Schiller nicht nur die Synthese von Natur und Geist zu entdecken, sondern zugleich die Vereinigung von deutschem und jüdischem Wesen. Ihre Charakterisierung Schillers deckte sich bis ins Detail mit den antisemitischen Klischees und der völkischen Semantik eines angeblich naturfeindlichen, abstrakt-rationalistischen Geistes der Juden auf der einen Seite und der vermeintlich erd- und naturverbundenen Wesensart der ‚Arier‘ auf der anderen. Im Goethe-Kalender auf das Jahr 1933, in dem Kahn-Wallersteins Jugendfreundschaft-Essay erschien, waren Deutsche und Juden noch einmal vereint. Nur kurze Zeit später war die „heilige Vermählung“ jüdischen und deutschen Wesens, die auch in der Zusammenstellung der Autoren des Kalenders ihren Ausdruck findet, gelöst: Margarete Susman emigrierte unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme in die Schweiz, ihre Schwester würde sich Jahre später das Leben nehmen, um ihrer drohenden Deportation zuvorzukommen. Der Literaturwissenschaftler Ernst Beutler verlor 1937 seinen Lehrauftrag als Honorarprofessor 117 Ebd.

118 Ebd.,

S. 2. S. 3. 120 Ebd., S. 4. 119 Ebd.,

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11. Gegensätze ziehen sich an

an der Frankfurter Universität, weil er den Nationalsozialisten als zu „liberalistisch“ und „individualistisch“ erschien und er sich weigerte, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen.121 Er erhielt Redeverbot und durfte Deutschland nicht verlassen. Auch Thomas Manns Ehefrau Katia, geborene Pringsheim, war nach den verqueren Vorstellungen der NS-Rassegesetze jüdisch, und Mann selbst war den Nationalsozialisten ohnehin als liberaler Schriftsteller und vehementer Verteidiger der Weimarer Republik ein Dorn im Auge – er emigrierte 1933 wie Susman in die Schweiz, 1938 ging er in die USA. Der Kunsthistoriker Ernst Emmerling zog sich aus dem wissenschaftlichen Leben zurück und schloss sich der „Bekennenden Kirche“ an. Der Germanist Hans Kern schließlich, der auch den Band Schöpferische Freundschaft herausgegeben hatte, sollte im Dritten Reich als Klages-Forscher reüssieren und fleißig in völkischen Zeitschriften publizieren.122 Und Carmen Kahn-Wallerstein? Auch sie musste Deutschland verlassen. Unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme gelang ihr die Emigration in die Schweiz, wo sie sich bis 1946 in äußerst prekären Umständen mit Gelegenheitsarbeiten und ohne Arbeitserlaubnis über Wasser hielt. Erst 1953 erhielt sie die schweizerische Staatsbürgerschaft. Sie überlebte den Holocaust, nicht aber ihr Ideal einer deutsch-jüdischen Symbiose.

121 Zitiert nach Christoph Perels: Ernst Beutler, das Freie Deutsche Hochstift und die Universitäts-Germanistik. In: Frank Fürbeth u. a. (Hg.): Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846–1996). Tübingen 1999, S. 585. 122 Vgl. Hans Kasdorff: Ludwig Klages im Widerstreit der Meinungen. Eine Wirkungsgeschichte von 1895–1975. Bonn 1978.

12. Überleben 1 .‫חברותא או מיתותא‬ Talmud Bavli, Taanit 23a

Im Jahr 1944 erschien in einer limitierten Auflage von nur 100 Exemplaren im Pegasos Verlag ein schmales Bändchen mit dem Titel Tyrannis. Scene aus altgriechischer Stadt, allerdings datiert auf das Jahr 1939. Das dialogische Stück in fünfhebigen Jamben und Kreuzreimen war, so verhieß das Titelblatt, von einem gewissen Peter von Uri aus dem Griechischen übertragen worden.2 In dem Drama geht es um einen Tyrannen, der zwei jugendliche Freunde einer Verschwörung gegen seine Herrschaft bezichtigt. Doch der eingesetzte Richter glaubt an die Unschuld der Jünglinge und weigert sich, das Todesurteil zu vollstrecken. Daher schreitet der Tyrann selbst zur Tat und ermordet die beiden Freunde eigenhändig mit dem Schwert. Der Richter legt daraufhin sein Amt nieder und verweigert die Gefolgschaft. Am Ende rächt sich die Willkür des Gewaltherrschers, denn in Reaktion auf die Tötung der Freunde entsteht ein Aufstand, der in der Ermordung des Tyrannen resultiert. Die toten Freunde umstellend, singt der Schlusschor das Lied der Freundschaft: Die toten seht die euern Sie wollen ihren bund Im scheiden noch erneuern Mit ihrem bleichen mund. Umstellt bevor sie scheiden Den leib mit dunklem strauch Mit tüchern weich und seiden Umschling sie totenbrauch. Vereint zum grab sie leitet … Aus ihrem tod gebar Sich freiheit neubereitet Schwingt rasch empor: ein aar.3

1 Aramäisch:

„Freundschaft oder Tod!“ Günter Baumann: Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum-Peregrini. Würzburg 1995, S. 320. 3 Tyrannis. Scene aus altgriechischer Stadt. O. O. [Amsterdam] 1939 [1944], S. 19. 2 Vgl.

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12. Überleben

Unweigerlich liest sich das Stück als Parabel auf die zur Zeit der Veröffentlichung ganz Europa verwüstende Tyrannei Hitlers. Die Figur des Richters verkörpert die gerechte Herrschaft, den Rechtsstaat, und die Rebellion den antifaschistischen Widerstand. Die beiden Freunde schließlich repräsentieren die Opfer des Nationalsozialismus, die als unschuldige Jünglinge gleichsam zu Märtyrern der Freiheit stilisiert werden. Es ist gerade die Freundschaft, der der Tyrann den Kampf erklärt: „Ja grad darum weil ihr euch brüstet freunde / Zu heissen in der stadt von mann und braut!“ rechtfertigt der Herrscher seine Feindschaft gegen die Jünglinge.4 Steht die verschworene Freundschaft jenseits der auf der Ehe aufruhenden Ordnung, so machen sich die Freunde seit jeher verdächtig, die Herrschaft untergraben zu wollen. Die intuitive Vermutung, dass es sich bei dem Stück um eine Parabel auf die Zustände des Jahres 1944 handelt, bestätigt sich mit dem Wissen, dass nahezu alles an dem kleinen Buch chiffriert ist: Den Pegasos Verlag gab es nie, das gedruckte Erscheinungsjahr 1939 war in Wahrheit das Jahr 1944, und das Stück stammte weder aus dem Altgriechischen noch war es von einem Peter von Uri übersetzt worden.5 In Wahrheit war Percy Gothein der Autor, der uns bereits aus dem zehnten Kapitel bekannte George-Jünger und Jugendfreund Karl Löwiths. Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernommen hatten, begann für Gothein wie für alle anderen in diesem Buch vorkommenden Protagonisten ein rastloses Leben in permanenter Unsicherheit. Als einschlägig bekannter „Hundertfünfundsiebziger“ stand er wegen seiner homosexuellen Neigungen im Visier der Gestapo, als „jüdischer Mischling zweiten Grades“ musste er stets befürchten, zu Zwangsarbeit herangezogen zu werden; außerdem stand er zumindest indirekt mit dem Widerstand in Kontakt, etwa mit dem Sozialdemokraten Theodor Haubach (1896–1945), der dem Kreisauer Kreis angehörte.6 Mit dem Motorrad durchquerte Gothein nach Hitlers Machtübernahme halb Europa, vor allem hielt er sich wechselnd an verschiedenen Orten in Deutschland, der Schweiz und Italien auf. Ab 1941 unterhielt er zudem enge Kontakte zur Amsterdamer Stiftung Castrum Peregrini um den befreundeten Schriftsteller Wolfgang Frommel (1902–1986), der in der zur Stiftung gehörenden Wohnung nach dem Einmarsch der Deutschen zahlreiche junge deutsche Juden vor dem Zugriff der Besatzungsmacht versteckte, darunter Claus Victor Bock (1926–2008), Manuel Goldschmidt (1926–2012) und Friedrich W. Buri (1919–1999).7 Nachdem 4 Ebd.,

S. 11. Claus Victor Bock: Castrum Peregrini Amsterdam. Ein Profil. In: Ders.: Besuch im Elfenbeinturm. Reden, Dokumente, Aufsätze. Würzburg 1990, S. 213. 6 Vgl. Michael Philipp: Castrum Peregrini  – Eine deutschsprachige Zeitschrift in den Niederlanden. In: Jattie Enklaar, Hans Ester (Hg.): Ungenaue Grenze. deutsch-niederländische Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 199. Zu Haubach siehe Peter Zimmermann: Theodor Haubach (1896–1945). Eine politische Biographie. München 2004. Zum Kreisauer Kreis vgl. Volker Ullrich: Der Kreisauer Kreis. Reinbek bei Hamburg 2008. 7 Vgl. Claus Victor Bock: Untergetaucht unter Freunden. Ein Bericht. Amsterdam 1942–1945. 5 Vgl.

11.5. Heiden und Juden

299

Gothein längere Zeit in Venedig und Florenz verbracht hatte, besuchte er im November 1943 und noch einmal im Februar 1944 seinen Freund Frommel in Amsterdam.8 In sein Tagebuch notierte er seine Eindrücke von den Versteckten: Ständig bedroht, ertrugen sie den auf ihnen lastenden Druck, indem sie in ihrer mönchischen Abgeschlossenheit doch mit voller Hingabe sich der Entwicklung und Pflege eines musischen Lebens widmeten. Während tagsüber die Marschlieder der vorbeiziehenden Soldaten heraufklagen und nachts der Himmel über der Stadt vom unheimlichen Ton der von Westen kommenden Bombengeschwader dröhnte, wurde hier mit Fleiß und strenger Hingabe gezeichnet und gemalt, übersetzt und gedichtet, geschrieben und auswendig gelernt.9

Es ist unübersehbar, dass Gothein im künstlerischen Schaffen der Untergetauchten einen Akt des Widerstands sah. Gerade in einer solchen Situation, meinte auch sein Freund Frommel, sei es „wichtig, daß man sich fest in der Hand hält und mit äußerster Disziplin zu Arbeit und innerer Bewegung zwingt“.10 Das galt offenbar auch für Gothein selbst. Denn es war hier, in Amsterdam, wo er das Stück Tyrannis schrieb und es mit Unterstützung Frommels unter falscher Identität als Zeugnis und Aufruf zum Widerstand gegen die Naziherrschaft veröffentlichte. Nach dem Scheitern des Hitler-Attentats von Stauffenberg, an dessen Planung sich auch Mitglieder des Kreisauer Kreises beteiligt hatten – Gotheins Rolle ist nicht ganz geklärt11 –, verließ Gothein aus Sicherheitsgründen am 24. oder 25. Juli 1944 Amsterdam und tauchte bei den Freunden Vincent Weyand (1921–1945) und Simon van Keulen (geb. 1926) in Ommen in der niederländischen Provinz Overijssel unter.12 In der Nacht wurden die drei von der niederländischen Polizei angeblich „in flagranti“ erwischt, verhaftet und ins nahe gelegene Lager Erika verbracht.13 Der „jüdische Mischling“ Weyand wurde kurz darauf weiter ins KZ Bergen Belsen und schließlich ins KZ Buchenwald deportiert, wo er im Februar 1945 im Alter von nur 23 Jahren starb. Van Keulen konnte entkommen, Amsterdam 51985; Friedrich W. Buri: Ich gab dir die Fackel im Sprunge. Wolfgang Frommel. Ein Erinnerungsbericht. Berlin 2009. Zu Frommels Rolle siehe Baumann: Dichtung als Lebensform.  8  Vgl. Baumann: Dichtung als Lebensform, S. 75.  9  Percy Gothein: Aus dem Florentiner Tagebuch. In: Castrum peregrini 16 (1954), S. 45. 10 Hier zitiert nach Philipp: Castrum Peregrini, S. 197. 11 Michael Philipp behauptet, Theodor Haubach habe Gothein im Frühjahr 1944 beauftragt, „über einen Geheimsender der britischen Regierung das Angebot eines Separatfriedens nach dem Attentat auf Hitler zu übermitteln“. Ebd., S. 199. 12 Zu Weyand siehe den Erinnerungsband von Corrado Hoorweg u. a. (Hg.): Aan der droomen torentrans. Werk en leven van Vincent Weyand 1921–1945. Westervoort 2008. 13 Zu den Gründen für die Festnahme existieren verschiedene Erzählungen, die sich allesamt nicht restlos beweisen lassen. Baumann: Dichtung als Lebensform, S. 87 spricht von dem Gerücht, Gothein habe Kontakt zur Stauffenberg-Gruppe gesucht, verbannt das aber ins Reich der Legenden. Vgl. zur Festnahme auch Raulff: Kreis ohne Meister, S. 218. Die editorische Notiz in Castrum peregrini 16 (1954), S. 48, Gothein sei „von einem Kommando der SS aufgegriffen, und da er die Adressenangabe seines dortigen Freundeskreises verweigerte, in das Konzentrationslager Neuengamme geschafft“ worden, erscheint unglaubwürdig.

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12. Überleben

indem er aus dem Zug sprang, der ihn nach Deutschland bringen sollte; er überlebte den Krieg im „Castrum“ versteckt in Amsterdam. Percy Gothein schließlich, der noch kurz zuvor in Tyrannis die Ermordung der Freunde durch den Gewaltherrscher beschrieben hatte, wurde ins KZ Sachsenhausen deportiert, von dort im Oktober 1944 als politischer Häftling ins KZ Neuengamme weiterverfrachtet. Dort starb er zwei Monate später am 22. Dezember 1944.

12.1. Freundschaft in finsteren Zeiten So einzigartig Gotheins Schicksal war und so wenig repräsentativ es für das der deutschen Juden gewesen sein mag: Es veranschaulicht dennoch die veränderte Rolle, die der Freundschaft in Zeiten von Diktatur und Verfolgung plötzlich zukam.14 Was als alltägliche Praxis, dann als Lebensreform, als Ideologie, ja bisweilen sogar als Utopie begonnen hatte, wurde zum Residuum der Menschlichkeit in „finsteren Zeiten“, wie Hannah Arendt das genannt hat. Nicht nur für Arendt wurden die Freundschaften, die den Zivilisationsbruch überdauerten, existenziell wichtig – und die meisten dieser Freundschaften basierten, wie die Rahels und Paulines, auf Solidarität und „gemeinsamem Leben“. Auf der Flucht, im Versteck und in der Emigration, in Gestapo-Haft und im Konzentrationslager, war Freundschaft für verfolgte Juden häufig nichts weniger als der letzte Strohhalm, an den sie sich klammern konnten. Andererseits wurden oft, allzu oft, die mit der Freundschaft verbundenen Erwartungen enttäuscht. Kameraden von einst, aus unschuldigeren Tagen, ließen ihre jüdischen Freunde im Stich. Sie wendeten sich von ihnen ab, schienen sie nicht mehr zu kennen und ignorierten ihre Not. Bisweilen wurden sie sogar zu Feinden, die ihre Freunde  – sei es aus weltanschaulicher Überzeugung, Opportunismus oder Gier – willfährig ihren Mördern auslieferten. Die Spannung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Freunden, die es häufig, wenn auch nicht immer, bereits vor 1933 gegeben hatte, verschärfte sich unter nationalsozialistischer Herrschaft und der mit ihr verbundenen antisemitischen Verfolgung. Andererseits waren es gerade auch nichtjüdische Freunde, die aufgrund ihrer privilegierten Stellung als „Arier“ sehr viel mehr für ihre jüdischen Freunde tun konnten – wenn sie denn wollten. Insofern hat die niederschmetternde Geschichte der gescheiterten Freundschaft ihren Gegenpol auch in einer rettenden 14 Gothein selbst sah sein Schicksal durchaus als repräsentativ an, wie aus seinen Tagebuchaufzeichnungen hervorgeht: „Mein Schicksal ist vielleicht für viele andere das Sinnbild. Erst war ich in des Meisters Kreise: unus inter pares, dann trat ich an die Spitze von gleichgesinnten Freunden, da war ich: primus inter pares, dann als durch Krieg und Schicksal diese in alle Richtungen der Windrose verstreut waren, zog auch ich in die Fremde und bin zum: ultimus inter impares geworden.“ Percy Gothein: Aus dem Florentiner Tagebuch. In: Castrum peregrini 6 (1952), S. 22.

12.1. Freundschaft in finsteren Zeiten

301

Funktion von Freundschaft. Aber auch in dieser Hinsicht spielte die Freundschaft unter den Verfolgten, also die Freundschaft zwischen Juden, eine herausragende Rolle, wofür es viele Beispiele gibt. Den meisten der in diesem Buch näher vorgestellten Personen gelang – und das ist durchaus überraschend – die Emigration ins rettende Ausland. Fast immer war dabei die Hilfe und Unterstützung seitens enger Freunde und Verwandte von entscheidender Bedeutung. In der neuen Heimat, die oftmals zunächst ganz fremdartig und nicht selten feindselig war, repräsentierten neben Familienmitgliedern, so diese es denn selbst geschafft hatten zu überleben, vor allem die Freunde Schutz und Sicherheit. Erwin Loewenson beispielsweise, der 1933 über Paris nach Palästina emigriert war, lebte in Jerusalem neben gelegentlichen Zuwendungen durch seinen Bruder hauptsächlich von der Unterstützung durch seine Freunde: „In Palästina konnte ich aufgrund von Arbeits-, Wohnungs- und Sprachschwierigkeiten von meinen früheren freien Berufstätigkeiten kaum mehr etwas ausführen“, gab Loewenson in den fünfziger Jahren im Zuge von Entschädigungsverhandlungen zu Protokoll. Abgesehen „von gelegentlichen (deutschsprachigen) Vorträgen, die oft schlecht besucht, immer schlecht bezahlt wurden, so über Bibel, Nietzsche, Kafka, Thomas Mann (teils privat, teils in der Jerusalemer ‚Volkshochschule‘ u. in den ‚Seminaren‘ in Tel Aviv, Haifa u. a. Städten)“ habe er eigentlich keine Einnahmen gehabt.15 Die „Seminare“ waren, mit wenigen Ausnahmen, schlicht Vorträge vor Freunden, die Eintritt bezahlten, um ihren Freund auf würdige Weise über Wasser zu halten. Beim Kreis um Max Horkheimer war die Situation aufgrund des millionenschweren Stiftungsvermögens, das Horkheimer und Pollock dank ihres Freundes Felix Weil zur Verfügung stand, deutlich komfortabler: Leo Löwenthal, Theodor Adorno, Herbert Marcuse und viele andere, die nicht nur Kollegen, sondern auch Freunde waren, konnten sich mit Unterstützung Horkheimers und Pollocks in der Emigration über Wasser halten oder sogar ganz auskömmlich leben – vor allem natürlich Horkheimer und Pollock selbst, was ihnen nicht selten von anderen Emigranten mit einigem Argwohn vorgeworfen wurde. Andere hatten nicht so viel Glück: Alfred Wolfenstein etwa, der einen Hinweis bekommen hatte, dass er auf einer „schwarzen Liste“ der Gestapo stehe, floh bereits im März 1933 nach Prag, als die Wehrmacht vorrückte 1938 dann weiter nach Paris. Auch er hatte Unterstützung von Freunden, aber es gelang ihm nach der Besetzung Frankreichs nicht mehr, das Land zu verlassen. Der erste gescheiterte Fluchtversuch in den noch nicht besetzten Süden endete 1940 damit, dass er nach Paris zurückkehren musste und dort im Gefängnis La Santé inhaftiert wurde.16 Im November 1942 wurde ihm nach langem Warten endlich ein von Thomas Mann, Franz Werfel und Stefan Zweig vermitteltes Aus15 Erwin 16 Vgl.

Loewenson: Lebenslauf. DLA Marbach, A. Loewenson, 84.313, Blatt 8. Fischer: Alfred Wolfenstein, S. 46.

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12. Überleben

reisevisum in die USA ausgestellt, aber zu diesem Zeitpunkt war die Ausreise schon nahezu unmöglich geworden. Unter dem falschen Namen Albert Worlin lebte Wolfenstein – unterstützt durch Freunde – bis zum Kriegsende versteckt in einem kleinen, unbeheizten Gartenhaus.17 Nur nachts konnte er es für kurze Spaziergänge verlassen. Etliche Bekannte aus seinem Umfeld wurden verhaftet und deportiert, darunter auch eine enge jüdische Freundin, die aus dem Elsass stammte.18 Wolfensteins seelischer und körperlicher Gesundheitszustand verschlechterte sich unter den miserablen Lebensbedingungen im Versteck immer weiter, so dass er sich 22. Januar 1945, fünf Monate nach der Befreiung, im Pariser Hospital Rothschild das Leben nahm. Auch Walter Hasenclever ereilte ein ähnliches Schicksal. Wie Wolfenstein war auch er 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten – der „Bücherverbrennung“ fielen auch einige seiner Werke zum Opfer  – nach Frankreich emigriert, allerdings nicht nach Paris, sondern nach Nizza. Nach Ausbruch des Krieges wurde er zweimal als „feindlicher Ausländer“ interniert, zunächst im Fort Carré in Antibes, dann in Les Milles bei Aix-en-Provence. Als die Deutschen vorrückten und Frankreich besetzten, nahm Hasenclever am Abend des 20. Juni 1940 eine Überdosis Veronal und erlag einen Tag später im Israelitischen Hospital in Aix seiner Vergiftung.19 Nur drei Monate später wählte auch Walter Benjamin im spanischen Portbou aus Verzweiflung den Freitod, da seine Flucht über Portugal in die USA, die unter anderem Horkheimer, Pollock, Löwenthal und Adorno organisiert hatten, zu scheitern drohte.20 Andere überlebten zunächst Diskriminierung, Verfolgung, Terror und Haft, aber erlagen dennoch den psychischen und oft auch physischen Folgen solcher Torturen. Zwei Freunde Otto Weiningers beispielsweise stehen für ein solches Schicksal: Emil Lucka erhielt 1938 Schreibverbot und lebte fortan von einer kleinen Rente in armseligen Verhältnissen, über Wasser gehalten von Freunden und Bekannten, doch 1941 starb er im Alter von nur 63 Jahren. Weiningers Jugendfreund Oskar Ewald wurde 1938 ins KZ Dachau deportiert und kam erst im November 1939 nach massiver Intervention von Freunden im Ausland frei.21 17 Vgl.

Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur 1933–1950, Bd. 3: Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg. Stuttgart 1988, S. 369. Es bleibt rätselhaft, warum der Filmkritiker Hans Sahl (1902–1993), der in Paris mit Wolfenstein in Kontakt war, erzählt, dieser habe „beim Einmarsch der Deutschen“ Selbstmord begangen. Möglicherweise war Wolfensteins Versteck so gut, dass nicht einmal entfernte Bekannte davon wussten. Vgl. Hans Sahl: Das Exil im Exil. Frankfurt am Main 31990, S. 54. 18 Vgl. Fischer: Alfred Wolfenstein, S. 45. 19 Vgl. Kasties: Walter Hasenclever, S. 394 f. 20 Zu den genauen Umständen siehe Eiland, Jennings: Walter Benjamin, S. 881–889. 21 Vgl. Kurt Walter Zeidler: Kantianismus im Wien des 20. Jahrhunderts. In: Violetta L. Waibel (Hg.): Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa. Göttingen 2015, S. 483. Zur Datierung siehe Renate Heuer (Hg.): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 21: Nachträge und Gesamtregister. Berlin, Boston 2013, S. 280.

12.2. Was war Freundschaft?

303

Umgehend floh er nach Großbritannien, aber er starb nur wenige Monate, nachdem er in Oxford angekommen war, an den Langzeitfolgen seiner Inhaftierung. All diese Biographien zeigen, dass sich der Charakter von Freundschaft im Angesicht der Verfolgung tiefgreifend verändert hatte: Von einer Sozialform, die einst an die Stelle der als überkommen und nicht mehr zeitgemäß empfundenen konfessionellen jüdischen Identität getreten war, die stark durch soziale Affinitäten und gemeinsame biographische Erfahrungen geprägt gewesen war, wurde unter dem Eindruck antisemitischer Politik allen voran eine Solidar- und Notgemeinschaft. Das schloss keineswegs das Fortbestehen der alten Freundschaftsideale aus, die um Werte wie Egalität, Freiheit und Gerechtigkeit kreisten und Erwartungen wie Vertrauen, Treue und Wahrheit umfassten, im Gegenteil: Erst in der äußersten Krise zeigte sich, was wirkliche Freundschaft wert war. Auf das neue „Zeitalter der Freundschaft“, das im späten 19. Jahrhundert eingeläutet worden war und in diesem Buch im Zentrum steht, folgte gewissermaßen ein drittes Zeitalter: das von Verfolgung und Drangsalierung, Flucht und Versteck, Folter und Mord. Wie in den beiden Freundschaftsaltern zuvor, die im späten 18. und späten 19. Jahrhundert Ausdruck einer Krise der herrschenden Ordnung gewesen waren, ist auch dieses dritte Zeitalter ein Krisenphänomen. Allerdings in einem viel radikaleren Sinne: Angesichts des Zivilisationsbruchs, den der Holocaust als Gipfelpunkt einer „Zerstörung der Vernunft“ (Lukács) darstellte, besteht die Gefahr, Freundschaft als rettendes Moment zu überhöhen. Denn allzu oft standen die Freunde dem Schicksal ihrer einstigen Gefährten vollkommen ohnmächtig gegenüber. Sie konnten buchstäblich nichts mehr für diejenigen tun, die in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert worden waren. Diese Erfahrung, die engsten Freunde zu verlieren, sie eben nicht mehr schützen zu können, war oftmals genauso erschütternd und traumatisch wie der Verlust von Familienangehörigen und Verwandten. Auch sie gehört zur jüdischen Geschichte der Freundschaft und muss erzählt werden. Der Holocaust war auch eine gigantische Zerstörung der Freundschaft.

12.2. Was war Freundschaft? Der Schatten, den der Holocaust auf das Versprechen der Freundschaft wirft, muss dennoch aufgehellt werden, wenn die deutsch-jüdische Geschichte vor dem Zivilisationsbruch angemessen verstanden werden soll. Ohne die Perspektive der Freundschaft fehlen uns wesentliche Einsichten in das Denken, Fühlen, Hoffen und nicht zuletzt Handeln der deutschen Juden. Gerade für die junge Generation der um 1900 Geborenen, so wurde in diesem Buch herausgearbeitet, repräsentierte die Ideologie, das Versprechen der Freundschaft so vieles, das ihrem alltäglichen Leben Sinn und Bedeutung gab. Die Frage etwa, wie „richtig“ zu leben sei, konnte die Tradition oft nicht mehr beantworten. Stattdessen ver-

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bürgte die Freundschaft ein Leben, das auf Loyalität und Treue, auf Wahrheit und Gleichberechtigung basierte. Man wurde in eine Freundschaft nicht hineingeboren, sondern wählte sie sich aus freien Stücken und demonstrierte damit zugleich Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit. Jenseits von Ehe und Familie war die Freundschaft eine Beziehung, in der man sich nackt und verletzlich zeigen konnte; ein Ort, der Schutz und Intimität bot und zumindest im vertrauten Verhältnis der Freunde das größtmögliche Maß an Freiheit gewährte. Es war dies die Freiheit, anders zu leben und zu denken als es die bürgerliche Moral vorschrieb, und damit zugleich eine Emanzipation von den verknöcherten, sinnlos gewordenen Vorstellungen der Elterngeneration. Bisweilen führte diese Emanzipation zu vielfältigen Versuchen, neue Gemeinschaftsformen wie Kreise, Bünde und Zirkel zu erproben oder sich in die verschiedenen Varianten der Jugendbewegung einzufügen. Sehr häufig aber war es wirklich die intime Zweisamkeit, in der junge deutsche Jüdinnen und Juden Kraft und Halt suchten. In einer Welt, die den Einzelnen fremd und feindlich gegenüberzustehen schien, bot Freundschaft eine Form der Heimat, in der man nicht mehr einsam war, kein Außenseiter, sondern als Individuum mit all seinen Stärken und Schwächen Anerkennung und Zuspruch finden konnte. Waren diese Freundschaften jüdisch? Und wenn ja: inwiefern? Zum ersten, so wurde gezeigt, waren sie eine Möglichkeit, als Jude unter Juden zu leben, ohne dass dies notwendig ein Bekenntnis zu religiösen Glaubenssätzen oder die Befolgung der halachischen Tradition impliziert hätte. Man konnte in der Freundschaft als Jude leben, ohne genauer bestimmen zu müssen, was das eigentlich war – Jüdischsein. Umgekehrt: Gerade weil man sich in Gemeinschaft mit anderen Juden befand, musste das Jüdische nicht permanent thematisiert werden. Zugespitzt ausgedrückt: Nur unter Juden war man nicht „Jude“, sondern Individuum. Das führt unmittelbar zum zweiten Aspekt, der diese Freundschaften in gewissem Sinne „jüdisch“ machte: Der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit steht auch für ein Erstarken des gesellschaftlichen und politischen Antisemitismus und damit für vielfältige Formen der Ausgrenzung, Markierung und Diskriminierung. Die konkreten Erfahrungen mit dem Antisemitismus mochten sehr verschieden sein – die einen nahmen sie als tief traumatisch wahr, andere spotteten selbstbewusst über die Einfältigkeit der Judenfeinde, und wieder andere berichteten, vor 1933 überhaupt keine solchen Erfahrungen gemacht zu haben – aber es lässt sich kaum bestreiten, dass sich in der wilhelminischen Epoche und dann verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg eine judenfeindliche Stimmung in der Gesellschaft breitmachte, die dazu beitrug, dass Juden sich verstärkt auf die eigene Gemeinschaft zurückbesannen – gerade auch im Hinblick auf enge, intime Freundschaften. Doch es war nicht allein der Antisemitismus, der dazu führte, dass Juden sich häufig andere Juden als Freunde wählten. Denn, drittens, war die Affinität

12.2. Was war Freundschaft?

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zwischen Juden auch ähnlichen Lebenswegen geschuldet, die mit der Herkunft aus einem spezifischen sozialen Milieu verbunden waren, aber auch mit tradierten Wert- und Moralvorstellungen, einem ähnlichen Bildungskanon und der Wucht des überlieferten kollektiven Gedächtnisses. Das, wogegen man sich auflehnte und das man mittels der Freundschaft zu überwinden trachtete, war nicht „die Gesellschaft“ per se, sondern das Lebensmodell der Eltern und Großeltern – und alles, wofür es stand. Dieses Lebensmodell kann soziologisch und religionsgeschichtlich als ‚bürgerlich-akkulturiertes, konfessionell verstandenes Judentum‘ zusammengefasst werden. Jüdisch war dieses Lebensmodell nicht nur aufgrund des besonderen soziokulturellen Profils des deutschen Judentums als Gruppe, sondern auch aufgrund der Tradierung religiöser und ethischer Normen, die über das gesamte 19. Jahrhundert hindurch mit dem bürgerlichen Tugend- und Wertekatalog verschmolzen waren. Auch dort also, wo die rabbinische Tradition ihre Kraft verloren zu haben schien, wo der Alltag sich nicht mehr nach dem Takt der Feiertage und religiösen Riten richtete, lebten Ideale, Bilder, Geschichten und Normen des rabbinischen Judentums in veränderter Form fort. In den gelebten Wahlverwandtschaften deutscher Juden und insbesondere in den vielfältigen Ideologien der Freundschaft, die diese zu einem Leitbild des „richtigen Lebens“ machten, finden sich Spuren, Elemente dieser religiösen Tradition. Diese Spuren dürfen nicht überbewertet werden, zugleich aber verraten sie etwas sehr Grundsätzliches über den Wandel des deutschen Judentums im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Für viele Juden bedeutete „Jüdischsein“ nicht mehr konfessionelle, sondern soziale Zugehörigkeit. Den Verfechtern einer „jüdischen Renaissance“, die aktiv die jüdische Tradition für die Moderne fruchtbar machen und dabei auch der Freundschaft ein „jüdisches Leben“ einhauchen wollten, standen auch solche Juden zur Seite, die aufs äußerste zu dieser Tradition auf Distanz gingen. Auch sie aber gehörten zur Totalität dessen, was sich als „deutsches Judentum“ beschreiben lässt, und es ist eine besondere Herausforderung, gerade in ihrem Denken und Handeln die Transformationen des Jüdischen sichtbar zu machen. Die Gefahr der Essentialisierung ist dabei zweifellos immer gegenwärtig. Insofern mag es hilfreich sein, sich permanent vor Augen zu führen, dass Juden niemals nur Juden sind, sondern – wie alle anderen Menschen auch – Individuen, die jedes für sich ein Ensemble mannigfaltiger, sich teilweise auch wiedersprechender Einflüsse sind. Dies gilt auch für die vieldiskutierte jüdische Identität: Ob sich jemand selbst als jüdisch bezeichnete, und was er oder sie konkret darunter verstand, ist von Person zu Person sehr verschieden; zum Teil, das haben wir insbesondere bei denjenigen gesehen, die im konfessionellen Sinne gar nicht jüdisch waren, war die jüdische Identität zunächst sogar lediglich eine von außen aufgezwungene, die erst sekundär, durch Auseinandersetzung mit dieser Zuschreibung, aktiv angeeignet wurde.

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Für alle Protagonistinnen und Protagonisten dieses Buches aber gilt, dass sich ihr Jüdischsein nicht erfassen lässt, wenn nicht Freundschaft als kulturgeschichtliches Phänomen ernst genommen wird – so ernst, wie es die historischen Akteure selbst genommen haben. Insofern mag dieses Buch einen ersten Schritt getan haben, die Geschichte des deutschen Judentums aus der Perspektive der Freundschaft neu zu erzählen. Durch eine solche Perspektive geraten endlich zentrale Aspekte der jüdischen Kultur-, Ideen- und Sozialgeschichte in den Blick, die bislang durch andere Narrative überdeckt wurden. Manchmal ist auch das Unscheinbare und vermeintlich Selbstverständliche ein Schlüssel, um etwas Wesentliches zu verstehen. Ein solcher Schlüssel ist die Freundschaft.

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Quellen und Literatur

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Danksagung Allen Menschen zu danken, die mir in den vergangenen acht Jahren geholfen haben, dieses Buch zu schreiben, ist unmöglich. Denn auch die vielen kleinen Gespräche zwischendurch, in der Straßenbahn oder auf der Autobahn, im Café oder an der Bar, in den Bergen oder am See haben Gedanken reifen und Ideen entstehen lassen. Insofern haben all jene, mit denen ich über meine Forschung gesprochen habe, einen gewissen Anteil an diesem Buch. Trotzdem gibt es zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde, denen ich zu besonderem Dank verpflichtet bin: Zuallererst ist das Michael Brenner, der die Arbeit nicht nur von Anfang an unterstützt und mit kritischen Fragen begleitet, sondern mir in München auch eine faszinierende akademische Heimat geboten hat. Das Historische Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München im Allgemeinen und die Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur im Besonderen waren der wissenschaftliche Rahmen, in dem das Buch größtenteils entstanden ist. Allen Kolleginnen und Kollegen sei herzlich für ihre Unterstützung und produktive Zusammenarbeit gedankt, ganz besonders Daniel Mahla, Julia Schneidawind, Fabian Weber und Evita Wiecki (sel. A.). Auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Oberseminars der Jüdischen Geschichte haben mir stets gute Ratschläge gegeben und mir geduldig zugehört, wenn ich mal wieder über mein „Freundschaftsthema“ erzählt habe. Martin Baumeister und Karsten Fischer haben gemeinsam mit Michael Brenner das Fachmentorat gebildet und das Habilitationsprojekt über die Jahre mit vielen klugen Gedanken und Anregungen kritisch begleitet. Ich bin ihnen zu außerordentlichem Dank verpflichtet, nicht zuletzt angesichts der logistischen Herausforderungen, alle drei Mentoren aus den verschiedenen Himmelsrichtungen immer wieder am selben Ort zu versammeln. Daniel Siemens hat dankenswerterweise das externe Gutachten übernommen und wichtige Hinweise für die nun vorliegende Buchfassung gegeben. Ruth Nattermann und Hartmut Lenhard haben das ganze Manuskript gelesen und wertvolle Verbesserungsvorschläge gemacht. Gespräche, die mir nachhaltige Denkanstöße für mein Projekt gegeben haben, habe ich darüber hinaus unter anderem (in alphabetischer Reihenfolge) mit Lisa Dittrich (†), John Efron, Victoria Frede, Sheer Ganor, Sander Gilman, Friedrich Wilhelm Graf, Ofer Idels, Martin Jay, Caroline Jessen, Marion Kaplan, Iryna Klymenko, Thomas Laqueur, Lisbeth Matzer, Michael Miller, Fania Oz-Salz-

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Danksagung

berger, Martin Schulze Wessel, Katarzyna Person, Till van Rahden, Mathias Schütz, Yossi Schwartz, Andrea Sinn, Alan Steinweis, Maximilian Strnad, Dana von Suffrin, Natan Sznaider, Shulamit Volkov und Liliane Weissberg geführt. Eine besondere Freude war es, in den vergangenen Jahren drei internationalen Forschergruppen anzugehören und an verschiedenen Orten meine Erkenntnisse mit Kolleginnen und Kollegen aus benachbarten Disziplinen zu diskutieren. Federführend im DFG-Netzwerk „Gender – Nation – Emancipation“ war Ruth Nattermann, in der Arbeitsgruppe „Emanzipation nach der Emanzipation. Jüdische Geschichte, Literatur und Philosophie nach 1900“ sind es Bettina Bannasch und George Kohler. Die wichtigsten inhaltlichen Impulse für das Habilitationsprojekt kamen zweifelsohne aus dem Kreis des 2015 gegründeten Netzwerks „Friendship Studies“, in dem Andree Michaelis-König, Tobias Heinrich, Gesa Frömming und Eliah Bures meine wichtigsten Gesprächspartner waren und sind. Mindestens ebenso wichtig war die finanzielle und logistische Unterstützung. Am Historischen Seminar der LMU haben es mir vor allem Wolfgang Piereth, Nicole Singer, Caroline Rupprecht, Petra Thoma und Christine Depta ermöglicht, sicher durch den administrativen Dschungel zu navigieren. Die Gerda Henkel Stiftung hat es mir erlaubt, ein Jahr als Junior Fellow am Historischen Kolleg zu forschen und zu schreiben. Sie hat mit einem Druckkostenzuschuss auch erheblich zum Erscheinen dieses Buches beigetragen. Die Irene BollagHerzheimer Stiftung war so freundlich, ebenfalls einen Druckkostenzuschuss zu gewähren. Die Fritz Thyssen Stiftung hat 2022 die Konferenz „Practices of Friendship in History and Literature“ finanziert, auf der zentrale Apekte freundschaftsgeschichtlicher Forschung diskutiert werden konnten. Der Freundeskreis des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur e.V. hat einen längeren Forschungsaufenthalt in Israel unterstützt, der Forschungsverbund Marbach – Weimar – Wolfenbüttel hat mir Arbeiten im Deutschen Literaturarchiv ermöglicht. Daniel Wildmann und dem Academic Board der Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts danke ich herzlich für die ehrenvolle Aufnahme in diese Reihe, auf die ich schon als Student mit großer Bewunderung geschaut habe, und für weitere konstruktive Anregungen. Elena Müller, Betina Burkhart und Markus Kirchner vom Verlag Mohr Siebeck haben das Buchprojekt von Anfang an unterstützt und dafür Sorge getragen, dass es in dieser Form publiziert werden konnte. Tanja Huber hat dankenswerter Weise die Erstellung eines Namensregisters übernommen. Gewidmet ist dieses Buch meinen Freundinnen und Freunden in München, Köln, Bremen und Wien, von denen ich gelernt habe, was Freundschaft bedeuten kann. Auch meiner Familie bin ich zu großem Dank für die immerwährende Unterstützung verpflichtet. Der wichtigste Mensch in meinem Leben ist Janina Lenhard, mit der ich mein Leben teile, meine Sorgen und mein Glück, und die deshalb auch den größten Anteil an diesem Buch hat. Berkeley, September 2022

Namensregister Abbt, Thomas ​131  f Abraham, Karl ​194 Adler, Alfred ​47, 114 f, 121 Adler, H. G. (Hans Günther) ​100 f Adorno, Gretel (Margarete) → Karplus, Gretel (Margarete) ​201 Adorno, Theodor W. → Wiesengrund, Theodor ​189, 197, 199–201, 203, 210–212, 287, 301 f Amann, Dora ​28 Angelow, Jürgen ​68  f Arendt, Hannah ​17, 239 f, 243–260, 263–268, 270, 273 f, 278–285, 294, 300 Aristoteles ​165, 219, 224, 253, 259 Arlosoroff, Chaim → Arlosoroff, Viktor ​ 16, 141–144, 148 f Arlosoroff, Dora ​28 Arlosoroff, Eliezer ​141 Arlosoroff, Lisa ​143 Arlosoroff, Viktor → Arlosoroff, Chaim ​ 16, 141–144, 148 f Arnd, Friedrich → Bey Al-Raschid, Omar ​ 65 Asch, Arnold ​29 Aschheim, Steven E. ​285 Augustinus ​254, 256–260, 264 f, 267, 273, 284 Badt-Strauss, Bertha ​265 Baeck, Leo ​24 Bandmann, Martin ​139  f Barbaro, Francesco ​231 Becker, Oskar ​232, 240 Beerwald, Martha ​250  f Benatzky, Ralph ​294 Benjamin, Walter ​16, 77, 80, 95, 150–152, 154–162, 169, 185, 231, 302 Berg, Alban ​199 Bernays, Martha ​45

Bertram, Ernst ​94 Beutler, Ernst ​295 Bey Al-Raschid, Omar → Arnd, Friedrich ​ 65 Biale, David ​150 Binswanger, Ludwig ​236 Binswanger, Otto ​127 Bismarck, Otto von ​17 Blass, Ernst ​268 Bleichrode, Isaak ​149 Bloch, Ernst ​81–83, 169 Bloch, Iwan ​128–130, 153 Blüher, Hans ​127, 129 f, 134 Blumenfeld, Kurt ​139 Bock, Claus Victor ​298 Bodstein, Flora ​167 Boehringer, Ernst ​94 Boehringer, Robert ​94 Bona Meyer, Jürgen ​103 Bonaparte, Napoleon ​8, 284 Borchardt, Rudolf ​87 Brann, Eva ​220 Brauer, Lisa ​30 Brecht, Bertolt ​95, 204 Brenner, Michael ​33 Breuer, Stefan ​87, 89 Brill Löwe, Joel ​37 Buber, Martin ​16 f, 81–83, 149, 170, 180–185, 221 Bultmann, Rudolf ​253  f Buri, Friedrich W. ​298 Burschell, Friedrich ​78 f, 81 Caspari, Joachim ​72 Caspary, Adolf ​95, 101 Cassirer, Ernst ​214, 252 f Cesar, Pauline → Wiesel, Pauline ​280–284 Chamberlain, Houston Stewart ​194 Claussen, Detlev ​200

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Namensregister

Cohen, Hermann ​69, 103–106, 214 f, 221, 243 Cohn, Benno ​139 Cordovero, Moses ​184 Cornelius, Hans ​202 Cossmann, David ​31 Cramer, Jenny → Hess, Jenny ​20 f, 26 f Czellitzer, Arthur ​30 Danielsen, Max H. ​134 Däubler, Theodor ​272 David, Josef ​51 Davidsohn, Hans → van Hoddis, Jakob ​ 268 Denker, Alfred ​242 Deserno, Heinrich ​46 Destutt de Tracy, Antoine ​8 Diderot, Denis ​38 Dierse, Ulrich ​7 Diner, Dan ​18 Döblin, Alfred ​95 Dormitzer, Else ​265  f Dostojewski, Fjodor Michailowitsch ​ 141, 155, 220 Dühring, Eugen ​125 Durkheim, Émile ​41 Ehm, Marie ​230 Ehrenreich, Elisabeth ​191  f Einstein, Albert ​243 Eisner, Kurt ​78 Elias, Norbert ​3, 138 f Emmerling, Ernst ​296 Engels, Friedrich ​9 Erikson, Erik H. ​41 f Ettlinger, Jacob ​102 Euchel, Isaac ​37 Eulenburg, Albert ​128 Ewald, Oskar → Friedländer, Oskar Ewald ​119–121, 167, 302 Faye, Emmanuel ​240 Federn, Paul ​47, 55, 85 f, 89 Feiner, Shmuel ​5, 37 Feuchtwanger, Marta ​78 Feuerbach, Ludwig ​237  f Fischer, Fritz ​67 Fishbane, Eitan ​184

Fishberg, Maurice ​58 Fließ, Wilhelm ​45 f, 48, 112 Förster–Nietzsche, Elisabeth ​285 Fraenkel, Ernst ​95, 101 Frank, Jakob Joseph ​99 Frankel, Zacharias ​40 Frankenstein, Carl ​268 Freud, Jacob ​48 Freud, Shlomo → Freud, Sigmund ​45–49, 52, 55, 86, 112–115, 187, 193–195, 243, 274 f, 277 Freud, Sigmund → Freud, Shlomo ​45–49, 52, 55, 86, 112–115, 187, 193–195, 243, 274 f, 277 Freudenthal, Max ​248, 256, 259 Friedlaender, Anna → Nuglisch, Marie Therese Anna ​125 Friedlaender, Benedict ​124–127, 129 f, 134 Friedlaender, Carl Jakob ​124 Friedlaender, Nathan ​124 Friedländer, David ​39 Friedländer, Julius ​167 Friedländer, Magda ​143 Friedländer, Oskar Ewald → Ewald, Oskar ​ 119–121, 167, 302 Friedländer, Saul ​50, 92 Friedrich, Hugo ​265 Fromm, Erich ​107 Frommel, Wolfgang ​298  f Fuchs, Tamara ​95, 99–102 Gadamer, Hans-Georg ​217 Geertz, Clifford ​32 Geiger, Afra Maria Crescentia ​233 Geiger, Moritz ​234, 239 George, Stefan ​16, 65, 87–95, 102, 106, 109, 187, 230 f, 235, 244, 298 Gerber, Artur ​119, 121–123 Gerondi, Jonah ​221 Ghuttmann, Wilhelm Simon (auch: Guttmann) ​95, 101, 268 Gilman, Sander L. ​6, 113 Glatzer, Nahum ​107 Goebbels, Joseph ​143 Goethe, Johann Wolfgang von ​27, 62, 103, 141, 284 f, 289–295 Goitein, Fritz → Goitein, Shlomo Dov ​106 f

Namensregister

Goitein, Shlomo Dov → Goitein, Fritz ​ 106 f Goldberg, Dora ​101 Goldberg, Oskar ​16, 95–102, 106, 109, 268, 270 Goldschmidt, Manuel ​298 Goldstein, Moritz ​50, 96 Gordin, Jacob ​101 Gothein, Eberhard ​230 Gothein, Percy ​228, 230 f, 235, 297–300 → Uri, Peter von Gottheiner, Hugo ​230 Graf Uxkull-Gyllenband, Woldemar ​92 Grajev, Victor ​244 Gray, Glenn ​263 Grosser, Charlotte ​233  f Grumach, Ernst ​244, 250, 252 Grüner, Franz ​268 Gumplowicz, Ludwig ​286 Gundolf, Friedrich ​87, 89–91, 93 Gurwitsch, Aron ​239 Gutkind, Erich ​99 Ha‘am, Achad ​288 Haasis, Lucas ​13 Hackeschmidt, Jörg ​137  f Halberstam, Alice → Lieberg, Alice ​31 Halle-Wolfssohn, Aaron ​37 Hallo, Rudolf ​107, 185 Hamburger, Käte ​173–175 Harden, Maximilian ​111, 114 Hartmann, Nicolai ​217, 253 Hasenclever, Walter ​52–53, 55, 86, 302 Haubach, Theodor ​298  f Hegel, Georg Wilhelm Friedrich ​172 f, 210, 217, 255 Heidegger, Elfriede ​242, 260 Heidegger, Martin ​216–218, 227 f, 232–247, 253–255, 257, 260, 267 f Heimann, Betty ​16, 169, 172–180 Heimann, Dorothea Rosalie ​172 Heimann, Joseph ​31 Heimann, Moritz ​172 Heinemann, Isaak ​107 Heinle, Fritz ​154–160 Hepner, Isidor ​100 Herder, Johann Gottfried ​290 f Herz, Henriette ​177

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Herz, Ida ​175 Hess, Gustave ​20  f Hess, Jenny → Cramer, Jenny ​20 f, 26 f Heuberger, Rachel ​109 Hildebrandt, Kurt ​94 Hildesheimer, Esriel ​102 f, 106 Hiller, Kurt ​101, 113, 268–270 Hirsch, Samson Raphael ​102 Hirschfeld, Magnus ​112 f, 127–129, 134 Hitler, Adolf ​93 f, 232, 240, 242, 284, 295 f, 298 f Hitschmann, Eduard ​47 Horkheimer, Maidon → Riekher, Rose Christine ​205 Horkheimer, Max → Regius, Heinrich ​16, 22 f, 36, 202–208, 210 f, 231, 287, 301 f Horovitz, Jakob ​106 Huch, Friedrich ​66 Hunt, Lynn ​6 Husserl, Edmund ​165, 167, 185, 224, 232, 235, 254 Ibsen, Henrik ​206 Jacobi, Friedrich Heinrich ​8, 214 Jaspers, Gertrud → Mayer, Gertrud ​261 Jaspers, Karl ​254 f, 260 f, 265 Jodl, Friedrich ​114 Jonas, Hans ​239 f, 245, 249, 254 Jung, Carl Gustav ​194 Jung, Franz ​73, 75 Kafka, Franz ​50 f, 55, 301 Kafka, Hermann ​50 Kafka, Ottilie ​51 Kahane, Max ​47 Kahler, Erich von ​87 Kahn-Wallerstein, Carmen ​284–296 Kahn, Mavriki ​140 Kant, Immanuel ​45, 103, 105, 163, 166, 179, 193, 205, 237 f, 244, 290 Kantorowicz, Ernst ​87, 92 f Kantorowicz, Gertrud ​169 Kaplan, Marion ​191, 251 Kaplan, Simon ​220 Karplus, Gretel (Margarete) → Adorno, Gretel (Margarete) ​201 Katunal, Olga ​101

346

Namensregister

Kauffmann, Kai ​88 Kern, Hans ​291, 296 Kinel, Gertrud → Simmel, Gertrud ​167, 180 Klages, Ludwig ​16, 60–67, 69, 115, 285, 291–293, 296 Klein, Else „Dodo“ → Tammann, Else ​ 214, 224 Klein, Jacob ​16, 212–220, 222–225, 227, 249 Klein, Saul ​215 Koigen, David ​220 Kojève, Alexandre ​220 Körner, Christian Gottfried ​290 f Korsch, Karl ​95 Kotowski, Elke-Vera ​61  f, Kracauer, Isidor ​202 Kracauer, Siegfried ​16, 87, 107, 169, 179 f, 183–197, 199–203, 210, 274, 276 Kroner, Richard ​185 Kronfeld, Arthur ​113 Krüger, Gerhard ​219 Kühner, Christian ​3 Kupferberg, Alfred ​144  f Landau, Leo ​30 Landauer, Gustav ​11, 78 f, 233 Landmann, Edith ​87 Landmann, Julius ​87 Lanzky, Paul ​286 Laqueur, Thomas ​6 Lassalle, Ferdinand ​243 Lemke, Harald ​38  f Lepsius, Rainer ​25, 32 Lessing, Theodor ​16, 57 f, 60–67, 70, 75, 114, 252 Levin, Rahel → Levin Varnhagen, Rachel → Robert, Rahel → Robert-Tornow, Rahel → Varnhagen, Antonie Friederike ​ 263–267, 279–285, 300 Levin Varnhagen, Rahel → Levin, Rachel → Robert, Rahel → Robert-Tornow, Rahel → Varnhagen, Antonie Friederike ​ 263–267, 279–285, 300 Levit, Samuel ​145–147 Lichtenstein, Erwin ​26 Lichtenstein, Heinz ​244 Lichtheim, Richard ​139

Lieberg, Alice → Halberstam, Alice ​31 Loewenson, Alexander ​268 Loewenson, Alice Jacob ​273 Loewenson, Erwin ​268–283, 301 Lombroso, Cesare ​58 Lowenstein, Steven ​23 Löwenthal, Ernst ​24 Löwenthal, Leo ​27, 107–109, 179 f, 185, 196, 201, 301 f Löwenthal, Richard ​24 Löwith, Karl ​17, 227–243, 245 f, 252, 255, 257, 285, 298 Löwith, Walter ​228–230, 241 Lucka, Emil ​116, 119 f, 302 Ludowici, Ludwig ​229–232 Lukács, Georg ​10 f, 303 Luther, Martin ​116, 238 Magnus, Lotte ​25 Maimon, Salomon ​201 Maimonides (Moshe ben Maimon) ​97, 106 f, 134, 221 f, 243 Majut, Rudolf ​268 Mann, Katia → Pringsheim, Katia ​296 Mann, Thomas ​95, 175, 289, 296, 301 Mannheim, Karl ​6, 10–12, 15 Marcus, Hugo ​113 Marcuse, Herbert ​11, 21, 23, 240, 301 Marcuse, Ludwig ​21, 23, 25, 55 f, 203 Markus, Joseph ​95, 101 Marseille, Walter ​233  f Marx, Julius ​70 Marx, Karl ​9 f, 243 Mayer, Ernst ​260  f Mayer, Gertrud → Jaspers, Gertrud ​261 Mehlis, Georg ​185 Mehring, Reinhard ​235 Meier, Simon ​184 Melamed, Max Samuel ​194 Mendelsohn, Anne → Mendelsohn, Annelise → Weil, Anne ​248–253, 263 Mendelsohn, Annelise → Mendelsohn, Anne → Weil, Anne ​248–253, 263 Mendelsohn, Georg ​250 Mendelsohn, Zacharias ​250 Mendelssohn, Moses ​250 Mergel, Thomas ​41 Metzger, Arnold ​232

Namensregister

Michalski, Ernst ​143 Montaigne, Michel de ​190 f Morwitz, Ernst ​87 Mülder-Bach, Inka ​202 Müller, Florian ​55 Musil, Robert ​75 Mussolini, Benito ​289 Napoleon Bonaparte ​8 Neumann, Erich ​268 Neumeier, Suzanne ​204 Nietzsche, Friedrich ​57 f, 101, 214, 229, 233 f, 269, 285–291, 301 Niewöhner, Friedrich ​285 Nobel, Josef ​102 Nobel, Nehemia Anton ​16, 95, 102–109, 179 f, 183, 185, 196 Nuglisch, Marie Therese Anna →  Fried­laender, Anna ​125 Offenbach, Jacques ​189 Oppenheim, Hermann ​127 Ostertag, Ferdinand ​139  f Pappenheim, Bertha ​43 Pausanias ​130 Perels, Christoph ​90 Peukert, Detlev ​22 Pfemfert, Franz ​75 Pinthus, Kurt ​52 Placzek, Siegfried ​127–131, 133–135 Planck, Max ​220 Platon ​130, 164 f, 172, 214, 218 f, 222, 224, 252 Pollock, Friedrich ​16, 23, 202–208, 210 f, 301 f Prestel, Claudia ​43 Prévost, Antoine-François ​265 Pringsheim, Katia → Mann, Katia ​296 Propp, Arthur ​56 Pulzer, Peter ​70 Quandt, Günter ​143 Rank, Otto ​47 Rapp, Else ​167 Rappaport, Moritz ​119–121 Rathenau, Walter ​114

347

Reckwitz, Andreas ​14 Regius, Heinrich → Horkheimer, Max ​ 16, 22 f, 36, 202–208, 210 f, 231, 287, 301 f Reitler, Rudolf ​47 Richter, Hans ​95 Richter, Hedwig ​68 Rickert, Heinrich ​185 Riekher, Rose Christine → Horkheimer, Maidon ​205 Rieske, Constantin ​13 Rievaulx, Aelred von ​86 Robert-Tornow, Rahel → Levin, Rahel → Levin Varnhagen, Rahel → Robert, Rahel → Varnhagen, Antonie Friederike ​ 263–267, 279–285, 300 Robert, Rahel → Levin, Rachel → Levin Varnhagen, Rahel → Robert-Tornow, Rahel → Varnhagen, Antonie Friederike ​ 263–267, 279–285, 300 Rohde, Erwin ​289 Ronell, Eva ​24 Rosenberg, Curt ​28 Rosenberg, Elisabeth ​224 Rosenberg, Margarete ​75 Rosenzweig, Franz ​107, 170, 181, 243 Sadger, Isidor ​47 Sahl, Hans ​302 Salin, Edgar ​87 f, 93 Salomon, Gottfried ​169, 172 Saphir, Moritz Gottlieb ​132 Sartre, Jean-Paul ​192 Schäfer, Dietrich ​166 Schiller, Friedrich von ​62, 200, 284 f, 289–295 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst ​ 172, 175–178, 182, 265 Schmitt, Carl ​246, 272 Schoeps, Hans-Joachim ​127 Scholem, Gershom → Scholem, Gerhard ​ 16, 19, 22, 27, 95, 98, 141, 148–155, 160–162, 182, 185, 221, 249 Scholem, Gerhard → Scholem, Gershom ​ 16, 19, 22, 27, 95, 98, 141, 148–155, 160–162, 182, 185, 221, 249 Schopenhauer, Arthur ​59, 103, 205, 214, 233

348

Namensregister

Schottlaender, Bernhard (Baruch) ​138 Schröder, Hans Eggert ​62 Schrödinger, Erwin ​220 Schuler, Alfred ​65–67 Schütz, Alfred ​13 Seligmann, Caesar ​102 Seligson, Carla ​159 Seligson, Rika ​160 Sengoopta, Chandak ​124 Sheppard, Eugene ​221 Simmel, Edward ​167 Simmel, Georg ​16, 164–172, 174, 178–180, 185, 187–190, 196, 202 Simmel, Gertrud → Kinel, Gertrud ​167, 180 Simmel, Hans ​167 Simmel, Isaak ​167 Simon, Alexander Moritz ​63 f Simon, Ernst Akiva ​72, 107, 196, 201 Sokrates ​107, 130, 220 Sombart, Werner ​194 Später, Jörg ​202 Spinoza, Baruch de ​218, 221 f, 243, 270 Stach von Goltzheim, Maria ​65 Steinberg, Aaron ​220 Steinberg, Isaac Nachmann ​220 Stekel, Wilhelm ​47 Sterba, Richard F. ​71 Stern, Selma ​265  f Sternau, Robert ​138, 142–144, 148 Sternberger, Harry ​87 Stirner, Max ​238  f Stöcker, Helene ​128  f Straus, Rahel ​132 Strauss, Herbert A. ​28 Strauss, Hugo ​214 Strauss, Leo ​16, 212–222, 224 f, 227, 240–243, 249 Strauss, Ludwig ​158 Strindberg, August ​206 Susman, Margarete ​16, 169–171, 173, 178, 180 f, 189, 265 f, 289, 295 f Swoboda, Hermann ​119 f, 123 f Tammann, Else → Klein, Else „Dodo“ ​ 214, 224 Taubes, Jacob ​99 f, 102

Tenbruck, Friedrich ​4–6 Thormaehlen, Ludwig ​94 Tillich, Paul ​203 Toller, Ernst ​78 Tömmel, Tatjana Noemi ​245 f Tönnies, Ferdinand ​58–60, 73 Troeltsch, Ernst ​185 Ullrich, Volker ​68 Unger, Erich ​95, 98–101, 268 Unger, Lilly ​95, 101 Uri, Peter von → Gothein, Percy ​228, 230 f, 235, 297–300 van Hoddis, Jakob → Davidsohn, Hans ​ 268 van Keulen, Simon ​299 Varnhagen von Ense, Karl August ​263 Varnhagen, Antonie Friederike → Levin, Rachel → Levin Varnhagen, Rahel → Robert, Rahel → Robert-Tornow, Rahel ​263–267, 279–285, 300 Veit, David ​266, 280 Vogelstein, Hermann ​247 f, 256 Volkov, Shulamit ​27, 32 Wallas, Armin A. ​75 Wassermann, Jakob ​157 Weber, Max ​185, 231, 242 Weil, Anne → Mendelsohn, Anne → Mendelsohn, Annelise ​248–253, 263 Weil, Felix José ​208, 301 Weinberg, Avraham ​184 Weininger, Adelheid ​119 Weininger, Leopold ​118  f Weininger, Otto ​114–125, 127, 129, 131, 167, 243, 302 Weininger, Richard ​118 Weininger, Rosa ​118 Weldler-Steinberg, Augusta ​265 Weltsch, Robert ​143 Werfel, Franz ​52 f, 301 Weyand, Vincent ​299 Whitebook, Joel ​46 Wiese, Benno von ​265, 267 Wiesel, Pauline → Cesar, Pauline ​ 280–284

Namensregister

Wiesengrund, Theodor → Adorno, Theodor W. ​189, 197, 199–201, 203, 210–212, 287, 301 f Wilhelm II. (Kaiser) ​15, 17, 68, 111 Wittels, Fritz ​47 Wolfenstein, Alfred → Worlin, Albert ​5, 16, 72–83, 301 f Wolff, Kurt ​52 Wolfskehl, Karl ​66, 87, 89 f, 95 Wolfsohn, John ​268 Wolin, Richard ​239  f

349

Wolters, Friedrich ​88–91 Worlin, Albert → Wolfenstein, Alfred ​5, 16, 72–83, 301 f Wyneken, Gustav ​150, 156, 158 f Yerushalmi, Yosef Hayim ​47 Young-Bruehl, Elisabeth ​247, 249 f, 258 Zacharias, Edgar ​268 Zondek, Hermann ​25  f Zweig, Stefan ​269, 301

Orts- und Sachregister Aachen ​52 Abhängigkeit, Unabhängigkeit ​3, 14, 173, 237, 245, 278, 304 Abstammung, Ethnizität, ethnisch ​68, 96–98, 104, 141, 167, 240, 242, 259, 276 Affinität ​24, 156, 158, 190, 222, 290, 303, 304 Ahlem ​63 Aix-en-Provence ​302 Akkulturation, akkulturiert ​1, 5, 17, 25 f, 43, 49, 82, 251, 305 Allenstein (Olsztyn) ​250, 253, 263 Alltagsgeschichte ​2, 6, 16 Altona ​102 Amsterdam ​299  f Anarchismus, anarchistisch ​56, 78, 89, 124, 137, 140, 142, 233 Ancien Régime ​1, 38 Angst, Ängste, ängstlich ​28, 41, 44 f, 58, 68, 71, 146, 164, 183, 205 f, 230, 234, 242, 246, 280 Annapolis ​214, 217, 220, 222, 224 Anonymität ​73, 75 Anrede ​13, 109 Antibes ​302 Antibürgerlich ​44, 51 f, 57, 62 Antisemitismus, antisemitisch, Judenfeindschaft, judenfeindlich, Judenhass, antijüdisch ​17 f, 21, 26, 28–30, 33, 43 f, 58, 62, 65–72, 92 f, 107, 113, 116, 118, 124–127, 137 f, 141, 143, 146, 166–169, 178, 194, 196, 201, 210, 228, 231–233, 240, 242, 249–251, 254, 260, 285–287, 295, 300, 303 f Assimilation, assimiliert, assimilatorisch ​ 2, 19, 22, 25, 33, 40, 42, 44, 50, 82, 97, 101, 108, 137 f, 142, 149, 152, 196, 217, 240, 242 f, 247 Aufhausen ​20  f

Aufklärung ​36–38, 41, 45 f, 108, 113, 193, 237, 284 f, 287 Ausbeutung ​10, 42 Außenseiter, Außenstehender ​33, 47 f, 82 f, 95, 98 f, 101, 106, 143, 163, 168 f, 187, 203, 216, 233, 281, 304 Begriffsgeschichte, begriffsgeschichtlich ​ 7, 9, 74, 114 Berkeley ​93 Berlin ​1, 4, 16, 19, 21, 24 f, 28, 30, 37, 46, 50, 73, 78, 92, 95, 99 f, 102, 124, 127 f, 134, 141–143, 148–150, 156, 158, 161, 166, 169, 172, 179, 215–217, 220, 251, 265 f, 268, 273, 281, 283 Bibel, biblisch, Torah ​3, 5, 27, 43, 55, 96–99, 102, 104, 106, 130, 161, 170, 181, 184, 194, 221 f, 224, 248, 253, 258–261, 266, 301 Bisexualität, bisexuell ​112, 116, 124 Blau-Weiß ​137–141, 144, 148 f, 151, 214 Bonn ​64, 103 Breslau ​138, 167 Brieffreundschaft, Brieffreund ​148, 151 Bruder, Bruderschaft, Brüderlichkeit ​19, 47, 51, 56, 70, 80, 83, 85–87, 91, 94, 99, 104, 106, 138 f, 142, 159, 161, 163, 170, 176 f, 190 f, 200, 253, 258, 270, 301 Brüssel ​206, 215 Bund, Bundesschluss, Verbundenheit, verbünden ​16, 31, 35, 46, 59, 72, 77, 81, 83, 87–91 , 96–98, 101–107, 119 f, 124–127, 129, 132, 134 f, 137–140, 144, 149, 152, 156 f, 160, 163, 168–172, 174, 176, 186 f, 189, 206, 236, 239, 259, 260, 264, 268, 270, 276, 279, 289–291, 297, 304 Bürgerliche Gesellschaft, Bürgerlichkeit, bürgerlich ​1 f, 12, 16 f, 19, 21 f, 24 f, 32, 36, 39 f, 41–53, 55, 57, 60, 62, 73, 82, 87,

Orts- und Sachregister

89, 92, 97, 100, 109, 112, 119, 124, 126 f, 129, 132, 137 f, 141 f, 147, 157, 163–166, 174, 191, 193, 197, 201 f, 206 f, 209, 212, 217, 235, 244, 247, 269 f, 275 f, 281, 283 f, 304 f Chevruta ​90, 106, 184, 220, 222, 224 f Chicago ​217 Christentum, Christen, christlich ​3, 16, 26, 29–31, 33, 37 f, 43, 86, 119, 125, 143 f, 154, 177 f, 182, 187, 194, 229, 230, 233 f, 238, 254, 256 f, 259, 261, 264–266, 283, 285–288, 293 f Darmstadt ​89 Dhyernfurth ​167 Dialog, dialogisch, Gespräch ​8, 63, 76, 120, 151 f, 156 f, 158, 161, 169, 177, 179 f, 182–185, 199, 214, 219 f, 222, 231, 247, 252, 261, 266, 270 f, 282, 286, 289, 291, 297 Differenz, das Andere, der Andere, die Andere ​5, 17, 22, 33, 62, 66, 79, 122, 124, 132, 160, 164–166, 171, 175, 178, 188–190, 194, 206, 209, 217, 237 f, 252, 258, 273 f, 276, 279, 284, 289, 291 Du, duzen ​30, 122, 180–182, 185 Egalität, Gleichheit, egalitär, gleichberechtigt ​39, 47, 59, 83, 85 f, 89, 151, 172, 186 f, 235, 259, 267, 277, 290, 303 Ehe, Heirat ​20, 26 f, 37, 46, 51, 58, 65, 108, 126, 133, 143, 157, 164 f, 167, 191 f, 201, 211 f, 215, 224, 233, 239, 261, 264, 273, 298 Eingeweihter ​91, 94 f, 101, 106, 187 Einsamkeit, einsam, Alleinsein ​48, 62, 70, 73–77, 80, 105, 108, 121, 144–146, 152 f, 157, 159–161, 170, 182 f, 209, 211, 272, 274, 283, 304 Einssein, Identität, Einheit ​17, 47, 59, 83, 90 f, 139, 144, 169 f, 173, 178 f, 181, 184, 192 f, 196, 210 f, 246, 270, 276, 279, 284, 289, 293 Elend, Misere, Leid, Schmerz ​42, 45 f, 57, 62, 72 f, 89, 122, 126, 145 f, 148, 151, 156 f, 166, 179, 189, 196, 199 f, 205, 208, 212, 230, 272, 281

351

Eltern, Elternhaus ​2, 9, 19, 22–24, 26–28, 30, 33, 43, 48, 50–52, 54, 61 f, 64, 71, 73, 94, 101, 109, 123, 137–139, 141–143, 149, 163, 167, 185, 191, 196 f, 201, 206–208, 214–216, 228 f, 241, 247, 250 f, 253, 261, 276, 304 f Emanzipation, emanzipatorisch ​1, 8, 12, 17, 21, 27, 36–38, 42, 45, 75, 82 f, 112, 124, 127, 135, 266, 275 f, 281 f, 284, 286, 304 Emigration, Exil, Auswanderung, Flucht ​ 17 f, 54, 73, 82, 101, 143 f, 148, 160, 167, 189, 197, 204, 208, 210–212, 217, 222, 228, 233, 239, 241 f, 263, 296, 300–303 Emotionsgeschichte, Emotionsforschung ​ 2, 4 England ​58, 167 Erlösung ​75, 77, 80, 152 f Eros, Erotik, erotisch ​111 f, 114, 118, 123–125, 127, 129–131, 138, 165, 189, 249, 277 f, 290 Exklusivität, exklusiv ​58, 100, 191, 230, 252 Expressionismus, expressionistisch ​52, 56, 72, 78, 95, 156, 268–270, 286 Familie ​4 f, 12, 16, 20–22, 25–28, 30 f, 36, 38–52, 55 f, 60, 63, 65, 72 f, 82 f, 85, 87–89, 91, 108 f, 111, 114, 118 f, 123, 125–127, 132 f, 141–143, 164, 167, 170, 174 f, 193, 215, 217, 221, 224, 228, 230, 241, 244, 247, 249–251, 261, 268, 281, 289, 301, 303 f Feindschaft, Feind, feindlich, Feindesliebe ​ 25, 28, 33, 44, 54, 66, 68 f, 71 f, 83, 89, 91, 93 f, 98, 107, 113, 115, 125, 127, 171, 204–206, 210, 240, 258, 272, 275, 286, 294 f, 298, 300 f, 304 Festenberg (Twardogóra) ​250 Florenz ​299 Frankfurt am Main ​1, 27, 82, 95, 102 f, 181, 185, 202 f, 296 Frankreich ​58, 111, 301 f Frauenfeindlichkeit, frauenfeindlich, Misogynie, misogyn ​116, 124, 127, 166 Frauenfreundschaft, Freundinnen ​2, 16, 29, 31, 112, 128, 131–135, 173, 175, 248–250, 252 f, 263 f, 266, 280–283

352

Orts- und Sachregister

Freiburg im Breisgau ​23, 64, 156, 205, 232–235, 240 f, 254 Freiheit ​3, 36–39, 42, 48, 51, 55, 66, 76, 89, 125, 130, 139, 159, 164, 168, 171, 173 f, 208, 211, 251, 260, 297 f, 303 f Fremd, Fremder, Fremde, Fremdheit, Entfremdung, entfremdet ​1, 23, 46, 55, 59, 62, 66, 72 f, 76, 82 f, 89, 92, 125, 143 f, 146, 159 f, 168–170, 174 f, 178, 183, 204, 206, 212, 216, 229, 232, 243, 266 f, 281 f, 291 f, 300 f, 304 Freundespaar, Paar ​62, 203 f, 231, 278 Freundschaftsgeschichte, Geschichte der Freundschaft ​2 f, 5–7, 9, 12–14, 17, 228, 303 Freundschaftskult, Kult der Freundschaft ​ 35, 39, 90, 94, 96 Galizien, galizisch ​31, 43, 48 f, 82 Gefährte, Gefährtin ​74, 200, 247, 250, 267 f, 271, 286, 303 Gemeinschaft, Lebensgemeinschaft ​6, 16, 19, 25, 30, 32 f, 37 f, 40, 49, 51, 54, 56, 58–60, 64, 69, 72–75, 81–83, 86–91, 94 f, 97 f, 100–102, 107–109, 120, 122 f, 137–140, 146–149, 152 f, 159, 161 f, 165, 175, 179, 181–183, 186 f, 191, 193, 195, 204, 206, 208, 211, 219 f, 222–224, 231, 233, 235 f, 249, 256, 259 f, 267, 270, 274, 276 f, 279, 282, 284, 290, 303 f Generation, Generationalität, Generationenkonflikt ​2, 6, 9, 11, 17, 20, 26 f, 37 f, 42 f, 45, 47–52, 54, 70, 74, 80, 137–139, 149, 162, 169, 196, 201, 217, 229, 251, 276, 286, 303 f Genosse, Genossin ​44, 59 f, 62, 74, 85, 87, 90, 98, 148, 156, 158 f, 169 f, 174, 183, 186–189, 195, 258, 260, 263, 290 Geschlecht, Geschlechterdifferenz, Geschlechternorm, Geschlechterordnung ​ 16, 73 f, 111–113, 115–117, 119, 125, 127, 130 f, 133 f, 140, 153, 166, 190–192, 282 Geschmack ​166, 172–177 Glaubensgemeinschaft, Religionsgemeinschaft ​1, 40, 43, 60, 97, 176, 193, 266 Glogau (Głogów) ​139, 250

Gott ​5, 25, 43, 57–59, 62, 71, 75, 79–81, 86, 91, 96–98, 104, 106 f, 169–172, 176, 179–184, 201, 229 f, 248, 256, 258 f, 266, 284, 288, 293 Göttingen ​25, 172 Großbritannien ​111, 303 Großeltern, Großvater, Großmutter ​2, 21, 23, 27, 33, 71, 82, 98, 167, 215, 222, 230, 247, 251, 276, 305 Großstadt, Stadt, städtisch, urban ​20–23, 25, 31, 42, 57, 59 f, 73, 75, 77, 215 f, 223 f Habsburger Reich ​1, 17 Haifa ​301 Halacha, halachisch, Religionsgesetz ​1, 23 f, 37, 49, 90, 98, 103, 107, 134, 201, 221, 223, 257 f, 304 Halberstadt ​102 Halle ​72, 102, 172 Hamburg ​103, 135, 172, 214 f, 252 Hameln ​64 Hannover ​63  f Haskalah, Maskil, Maskilim, (jüdische) Aufklärung ​37–40 Haubinda ​159 Hawaii ​125 Heidelberg ​92, 107, 168, 172, 251, 254, 258, 260, 268 Heimat, Heimatlosigkeit ​10, 60, 69 f, 72, 137, 200, 213, 215, 231 f, 241, 245, 249, 267 f, 301, 304 Herrschaft ​39, 52, 56, 85, 87, 89, 91, 119, 210, 255, 297–300 Heterosexualität, heterosexuell, Heteronormativität, heteronormativ ​112, 114, 124 f, 135, 278 Hoffnung ​69–71, 75, 77, 81 f, 212, 230, 288 Holocaust, Shoah ​18, 26, 68, 93, 210, 212, 296, 303 Homosexualität, homosexuell ​16, 94, 111–114, 116 f, 122–127, 130, 132–135, 298 Idee der Freundschaft ​9, 82, 124, 152, 280 Ideologie, Ideologie der Freundschaft ​ 7–12, 14 f, 18, 34, 36, 40, 42, 58, 60, 72, 86, 92, 94, 140, 242, 275, 300, 303, 305

Orts- und Sachregister

In-der-Welt-sein ​236, 239, 257, 259 f Indien ​125 Individuum, Individualisierung, individualistisch, Individuierung ​1, 36, 38–41, 45 f, 52, 56, 60, 74, 96, 115, 123, 129, 169 f, 173 f, 176, 182, 192 f, 219, 227, 236–239, 255, 258 f, 266, 275, 282, 288, 296, 304 Industrialisierung ​21, 60 Intellektuelle ​7, 87, 94, 100, 154, 165, 207, 209, 211, 216, 222, 236, 245, 247, 285 Israel ​106, 143, 283 Italien ​58, 230, 242, 298 Jena ​127 Jerusalem ​100, 218, 301 Jüdische Renaissance ​32 f, 43, 108, 181, 305 Jüdischsein, das Jüdische ​22, 24, 28, 33, 47, 49, 108, 152, 200, 247, 249, 266, 304–306 Jugendbewegung, jugendbewegt ​16, 26, 37, 129, 135, 137, 141, 144, 149–153, 156, 160, 162, 186, 304 Jugendfreundschaft, Jugendfreund ​65  f, 116 f, 119 f, 155, 230, 248, 289–292, 295, 298, 302 Jung Juda ​141, 149 Jünger, Jüngerschaft ​85, 88–92, 94, 106 f, 163, 179, 235, 291, 298 Kabbala, kabbalistisch, (jüdische) Mystik ​ 19, 180, 182, 184, 223 Kaiserreich, Deutsches Kaiserreich ​15, 17, 20, 22, 25, 29 f, 32 f, 41, 44, 48, 60, 67–69, 78, 111 f, 132, 134 f, 138, 185, 285 Kameradschaft, Kamerad, Kameradin, kameradschaftlich ​28, 30, 55, 62 f, 70–75, 87, 90, 92, 107, 117, 137, 159, 183, 186–189, 195 f, 224 f, 251, 276 f, 300 Kapitalismus, kapitalistisch, Industriekapitalismus ​42, 44, 60 f, 165, 179, 182, 211, 293 Karlsruhe ​132 Kehillah, kehillot ​37 Kirchhain ​214 Knabenliebe, Päderastie ​94, 116, 129 f Kogel ​234

353

Köln ​103 Konfession, konfessionell, Konfessionalisierung ​1 f, 17, 29, 32 f, 40, 43–45, 49 f, 125, 139, 149, 167, 178 f, 233, 251, 303, 305 Königinhof an der Elbe ​119 Königsberg ​26, 37, 56, 103, 108, 142, 205, 244, 247, 250 f, 253 f, 273 Konversion, konvertiert, Taufe, Übertritt ​ 1, 25, 28, 65, 111, 116, 119, 124, 127, 143, 167, 201, 214, 230, 233, 264, 266, 281, 283 Konzept der Freundschaft, Freundschaftskonzeption ​3, 7, 9 f, 12, 16, 42, 79, 105, 152, 177 f, 237, 239, 271, 279 f Kreis, Freundeskreis ​16, 18, 21, 24–27, 47 f, 54, 78, 85, 87–95, 98–102, 106–109, 111, 120, 127, 132–134, 138–146, 148 f, 163, 166, 169, 175, 179–183, 185, 187, 196, 200, 204, 210, 227, 230, 232, 235, 243–245, 251, 253 f, 256, 265, 268–270, 273, 280, 298–301, 304 Krise, Krisenerfahrung, Krisenbewusstsein ​1, 16, 21, 33 f, 35, 38, 41–45, 55, 67, 88, 105, 113 f, 142, 168, 212, 268, 270, 303 Kulturgeschichte ​6 f, 129, 306 Kulturkritik, kulturkritisch ​46, 57, 189, 214, 269, 285, 292 Kuss, küssen ​86, 123, 129, 134, 144 KZ Bergen-Belsen ​233 KZ Buchenwald ​299 KZ Dachau ​167, 302 KZ Erika ​299 KZ Neuengamme ​299  f KZ Ravensbrück ​233 KZ Sachsenhausen ​300 KZ Theresienstadt ​51 KZ Westerbork ​233 Lebensentwurf ​1  f, 62 Lebensform ​4 f, 34, 39, 41 f, 56 f, 59, 85 f, 135, 184, 269, 276 Lebensfreundschaft, Lebensfreunde ​63 Lebensgemeinschaft ​6, 120 Lebensreform, lebensreformerisch ​87, 138–140, 300 Leipzig ​31, 52, 64, 82, 103, 140

354

Orts- und Sachregister

Libau, Liepāja ​215, 222 f Liebe, Liebschaft, Liebespaar, lieben, Geliebter, Liebender ​17, 24, 35, 46, 53, 65, 73, 76, 79 f, 82 f, 86, 91, 94, 103–106, 111 f, 117, 120, 122, 125 f, 128–130, 143–146, 153 f, 156–158, 161, 163, 165, 169–173, 175 f, 183 f, 188, 190–192, 200, 204, 208, 217, 227, 236–238, 243–248, 250, 252, 254–261, 264 f, 267 f, 270–272, 274, 277–279, 281 f, 288, 290, 293 Lipetsk ​215 London ​201, 206 Lwiw, Lemberg, Lwów ​82 Macht, mächtig, Ohnmacht, ohnmächtig ​ 3 f, 17, 19, 26, 36, 39, 47, 54–56, 58, 60, 62, 67–70, 75, 77, 92–94, 115, 126, 141, 156, 171, 174, 191, 206, 209 f, 212, 228, 239, 241, 284, 287–290, 293–296, 298, 302 f Manchester ​206 Männerbund, männerbündisch ​16, 87, 89, 124–127, 129, 134 Männlichkeit, maskulin, Maskulinismus ​ 16, 74, 83, 111, 113–117, 124, 127, 129, 131–134, 153 Marburg ​103, 214–217, 227, 231, 239 f, 242–245, 251, 253 f Marxismus, marxistisch ​9 f, 142, 203, 207, 209, 211 Maryland ​217 Masse ​57, 76 f, 87, 153, 159, 175, 187, 190, 222, 246, 295 Meister ​65, 88–95, 100 f, 106 f, 142, 187, 196, 235, 244, 247, 300 Memoiren, Autobiographie ​15, 22, 24, 30, 43, 55, 62, 65, 73, 118, 132, 148, 204, 213 f, 221, 228, 265 Messianismus, messianisch ​54, 72, 75, 77, 80 f, 88, 99, 153, 171, 180 Milieu ​6, 8, 19 f, 24 f, 28 f, 32, 44, 51, 137, 149, 174 f, 233, 277, 305 Minderwertigkeitsgefühl, Minderwertigkeitskomplex ​114  f, 121 Mischehe ​26, 98, 261 Mitdasein, Miteinandersein ​81, 236–239 Mitmenschlichkeit ​16, 227, 233, 236 f

Mitschüler, Mitschülerin ​24 f, 28–30, 61 f, 142–144, 215, 229 Moderne, modern, Modernisierung ​5, 7, 9, 27, 35 f, 40–42, 45, 49, 57–61, 73, 75, 79, 95 f, 102, 104, 111, 126, 128, 165 f, 169 f, 174, 180, 182, 190, 196, 218, 222, 243, 265, 269, 288, 292, 305 Mönchengladbach ​244  f Moral, moralisch, Moralismus ​9, 40–42, 99 f, 125 f, 129, 147, 163 f, 197, 204, 238, 272, 275, 286, 288, 292, 304 f München ​64 f, 78, 122, 172, 203, 228, 230–232, 234, 240 Mutter, mütterlich ​22–25, 27 f, 31, 38, 49, 51 f, 54, 88, 91, 115, 119, 125, 143, 167, 189, 201, 215 f, 229, 241, 250, 261, 266, 281, 293 Nachbarschaft, Nachbar ​31, 37, 58–60, 68, 83, 211, 220, 223 f, 289 Nächstenliebe ​17, 156, 248, 254, 256–260, 264 f, 267, 279 Nagyatád ​102 Nation, Nationalismus, nationalistisch, Patriotismus, patriotisch ​19 f, 33, 36, 47, 58, 60, 67–69, 71, 76–78, 80 f, 93, 96 f, 103, 111, 138, 142–144, 149, 152, 164, 175, 178, 181, 183, 193, 230, 232, 241, 282, 284, 295 Nationalsozialismus, Nationalsozialisten, nationalsozialistisch, Nazi ​17, 26, 28, 92 f, 142 f, 167, 195, 201, 210, 212, 228, 232 f, 239–243, 294, 296, 298–300, 302 Natur, naturhaft, Naturgesetz ​38 f, 54 f, 59–61, 73, 79, 96–98, 115 f, 125 f, 130, 132, 134, 137, 158, 182, 186, 204, 207 f, 219, 229, 277 f, 280–282, 286–288, 292–295 Nervosität, nervös ​58, 115, 124 Netzwerk, Netzwerkanalyse ​3, 25–27, 32, 47, 49, 223 Neukantianismus, neukantianisch ​103, 185, 214 Neuseeland ​125 Nichtjuden, nichtjüdisch ​1, 20, 22, 27, 30, 33, 43 f, 71 f, 93, 101, 120, 127, 139, 142, 146, 154, 191, 195, 201, 233, 260 f, 264, 266 f, 275, 300

Orts- und Sachregister

Niederlande ​233, 299 Nizza ​302 Nordamerika, USA, Amerika ​20 f, 58, 93, 101, 125, 167, 189, 194, 197, 204, 208, 210 f, 213 f, 233, 296, 302 Ödipuskomplex, Ödipuskonflikt, ödipales Modell ​52, 55, 86 Ommen ​299 Opfer, Opferung ​45, 51, 71, 74, 77, 80, 92 f, 98, 104, 133, 146–148, 158, 166, 171 f, 183, 186, 190, 192, 255, 266, 279, 298 Orgie, orgiastisch, Gruppensex ​99 f Ostjuden, ostjüdisch ​43, 108, 141, 143 Oxford ​93, 303 Palästina ​82, 137, 143 f, 148, 151 f, 301 Paris ​21, 213, 217, 241, 281, 301 f Partnerschaft, Partner ​26 f, 44, 62, 90, 101, 133, 135, 161, 164, 169, 191, 243, 261, 266, 271, 273, 278, 286 Perversion, pervers ​127, 129, 133 f Philosophie der Freundschaft ​219, 227, 234, 245, 254, 264 Polis ​219, 224, 256, 259 Portbou ​302 Portugal ​302 Posen ​25, 29, 92, 127, 250 Prag ​52, 301 Praxis, Praktiken ​2, 4, 7–9, 12–16, 18, 24, 28, 34, 45, 50, 59, 72, 99, 108 f, 113, 117, 122, 125, 134, 210, 247, 269 f, 300 Profanität, profan ​49, 89, 94, 102, 105, 152, 190, 206, 216 Proletariat ​10  f, 42 Psychoanalyse, Psychoanalytiker, psychoanalytisch ​41, 45–49, 55, 71, 85, 193, 233, 236, 244, 277 Rabbiner, Rabbinen, rabbinisch ​22, 28, 31, 37, 40, 49, 95, 102 f, 106, 108 f, 141, 149, 181, 184, 215, 220–224, 230, 247 f, 256 f, 266, 274, 288, 305 Racket ​210 Räte, Räterepublik ​78 f, 85, 92, 202, 231 Recklinghausen ​31

355

Reichspogromnacht, Reichskristallnacht ​ 18, 167 Religion, religiös, Religiosität ​1, 4 f, 15, 22–29, 33 f, 37, 40–43, 48–50, 56, 61 f, 69, 72, 80, 82, 88, 96, 98 f, 103 f, 107–109, 125, 139, 142, 144, 150, 156, 164–167, 169, 176–182, 193, 201 f, 215, 217 f, 221 f, 229, 238, 245, 247–249, 253, 256 f, 281 f, 285 f, 288, 292 f, 304 f Revolution, revolutionär ​8, 53–56, 78, 85–87, 89, 97, 120, 161, 202 f, 215, 220, 282, 295 Ritual, Riten ​15, 23, 32, 49 f, 72, 96–100, 108, 116, 181, 305 Rogasen (Rogźno) ​250 Rom ​234, 241  f Romantik, romantisch ​35 f, 39 f, 73, 128 f, 137 f, 149, 263, 265, 281, 294 Romny ​141 Sakralität, Sakralisierung, sakral, sakralisiert, Heiligkeit, heilig ​49, 77, 81, 86 f, 94, 99 f, 102, 105, 138, 145 f, 169, 171 f, 178, 180, 182, 189, 224 f, 270, 286, 293–295 Säkularisierung, säkular, säkularisiert ​1, 5, 23 f, 40, 43 f, 49 f, 156, 183, 224, 251 Samoa ​125 Sankt Moritz ​151 Sankt Petersburg ​65 Schule, Schulfreundschaft, Schulfreunde, Schüler, Mitschüler ​16, 24 f, 28–32, 44, 61–64, 91, 101, 106 f, 109, 130, 138, 142–144, 146, 149 f, 158 f, 166, 169, 172, 174, 177, 179–181, 187, 196, 202, 213, 215 f, 220 f, 223 f, 229, 232, 235–237, 239–241, 245, 247 f, 251, 253, 257 Schutz, Asyl, Geborgenheit, geborgen ​ 36 f, 51, 54–56, 81, 89, 100, 131 f, 134, 152, 159, 169, 180, 195 f, 206, 209–211, 251, 275, 282, 284, 301, 303 f Schweden ​215 Schweiz ​207, 286, 295 f, 298 Schwersenz ​127 Seelenfreundschaft, Seelenverwandtschaft ​ 16 f, 161, 164 f, 172, 180, 185 f, 189 f, 195, 210, 238, 246, 274, 277 Sekte ​56, 98

356

Orts- und Sachregister

Selbstlosigkeit ​3, 80, 171 Sexualität, Bisexualität, sexuell, bisexuell ​ 98 f, 112 f, 116 f, 122–130, 133–135, 154, 158, 250, 278 Sie, siezen ​13 Sinn, Sinnlosigkeit, Sinnsuche, Sinnstiftung ​52, 70, 77, 79, 89, 92, 97, 102, 108 f, 115, 126, 146, 155, 169, 182, 186, 192, 201, 207, 211, 222, 229, 231, 235, 255, 259, 287 f, 303 f Slonim ​184 Soldat, soldatisch ​60, 69, 71 f, 74, 78 f, 87, 92, 107, 186 f, 196, 214, 229, 299 Solidarität, solidarisch ​25 f, 53, 80, 203 f, 208 f, 284, 300 Solipsismus, solipsistisch ​234, 236, 239, 246 Sozialform ​2, 9, 16 f, 35 f, 38 f, 46, 49, 58, 82, 133, 303 Sozialgeschichte, sozialhistorisch ​3, 7, 11, 19, 22, 32, 306 Sozialismus, sozialistisch ​7, 9, 42, 81, 87, 107, 127, 137 f, 144, 148 f Ständeordnung, Feudalsystem ​36, 38 f Stolp (Słupsk) ​250 Straßburg ​168, 172, 179 Student, Studentin, studentisch ​27, 64, 90, 92 f, 106 f, 114, 148, 150, 158 f, 161, 166, 216 f, 222–225, 231 f, 243–245, 253 f, 261 Stuttgart ​20, 22, 26, 203 Symbiose, symbiotisch ​17, 62, 67, 71, 105, 202, 211, 296 Symbol, symbolisch ​5, 14, 49, 54, 56, 80, 85 f, 88, 153 f, 160, 168, 270 f Synagoge ​23, 25, 33, 41, 49, 57, 72, 103, 108, 202, 247 Tagebuch, Tagebücher ​15, 69 f, 76, 125, 145, 152, 155, 161, 242, 264, 299 f Talmud, Mischna ​5, 27, 90, 106 f, 137, 149 f, 199, 221 f, 274, 297 Tel Aviv ​101, 301 Telefon, telefonisch ​252 Telz, Telšiai ​222–224 Theorie der Freundschaft ​79, 179, 185, 189 f, 237, 253 Thorn ​268

Tikwath Zion ​141, 143–146, 148, 150 Tradition, traditionell ​2, 4–6, 15, 22–24, 27, 31–33, 36–38, 40 f, 43, 45, 48–51, 58–60, 73, 81 f, 87, 92, 101, 103, 129, 150, 154, 156, 173, 177, 184 f, 193, 200–202, 217 f, 221 f, 228, 230, 233, 238, 243, 249, 251, 253, 266, 286 f, 295, 303–305 Transsexualität, transsexuell ​112  f Transvestit, Transvestitismus ​113 Treue, treu, Loyalität, loyal ​19, 35, 45, 81, 103–106, 111, 120, 133, 165, 170 f, 186, 195, 200, 204, 224, 245 f, 249, 266–268, 278–280, 282, 303 f Trieb, Triebleben ​45 f, 126, 130, 133, 192, 204, 249, 277, 290 Tugend, tugendhaft ​39 f, 87, 105, 130, 133, 164 f, 184, 186, 275, 305 Tysmenyzja ​49 Über-Ich ​275, 277 Ukraine ​49 Utopie, Utopisten, utopisch, utopistisch ​9, 11 f, 56, 83, 210 f, 300 Utrecht ​172 Vater, väterlich, Patriarch, patriarchal, ­Vaterlosigkeit, vaterlos ​21–25, 27, 31, 38 f, 42–56, 61, 63–65, 70 f, 74, 83, 85–89, 91, 94, 102, 108 f, 114, 118–120, 124, 131, 141, 153, 167, 170, 187, 190, 201–203, 207, 214–216, 228–230, 240 f, 250, 281 Venedig ​299 Verbürgerlichung ​21, 40, 82 Verdun ​92 Verein, Vereinigung ​31–33, 37, 41, 44, 48, 59, 86, 88 f, 91, 101, 133 f, 150, 163, 174, 191 f, 211, 246, 253, 266, 268 f, 276, 295, 297 Verletzbarkeit, Verletzlichkeit, verletzlich, verletzbar ​30, 42, 57, 69, 71, 132, 171, 230, 304 Vertrauen, Vertrauter, Vertraute ​12, 35, 45, 53, 62, 74, 82, 93, 103–105, 111, 117, 131 f, 141, 144, 146 f, 156, 164, 166, 169, 171, 175, 179, 189, 237 f, 245, 251, 253, 258, 260, 277, 289, 303 f

Orts- und Sachregister

Verwandtschaft, verwandt ​5, 25 f, 58 f, 73 f, 168, 194, 233, 251, 258–260, 289, 301, 303 Völkisch, Volksgemeinschaft ​60, 65, 67–69, 94, 137, 178, 285, 295 f Wahl, wählen, Wahlverwandte, Wahlverwandtschaft ​5 f, 24, 26 f, 60, 97, 150, 152, 159, 171, 173–176, 181, 187, 191, 211, 246, 281, 304 f Wandergruppe, Wandervogel ​127, 129, 137 f, 186, 214 Weimarer Republik ​18, 22, 32 f, 77, 88, 134, 181, 214, 265, 284 f, 296 Weltkrieg, Krieg ​16, 18, 25, 31, 40, 48, 50, 52, 56 f, 60 f, 67–81, 83, 85, 87, 91 f, 95 f, 107, 127, 129, 138, 142–144, 149–151, 160–162, 167, 169 f, 183, 185, 196, 212, 214 f, 229 f, 241, 269, 273, 292, 300, 302, 304

357

Werne ​31 Westpommern ​45 Wien ​1, 17, 28 f, 47 f, 71, 82, 85, 114, 119, 123, 199 f, 233 Zeitalter der Freundschaft ​35 f, 39, 41, 45, 48, 303 Zionismus, zionistisch ​19, 24, 33, 56, 65, 97, 101, 103, 107, 137–142, 147–150, 153, 161, 182, 194, 201, 214, 216, 221, 241, 243, 245, 265, 268, 273, 288 Zirkel ​16, 29, 38 f, 56, 87–89, 91, 93, 95, 106 f, 109, 142, 163, 187, 220, 244, 250 f, 269, 304 Zugehörigkeit ​1, 19, 28, 43, 50, 93, 101, 167, 233, 275, 305 Zusammengehörigkeit ​32, 38, 140, 144, 165, 251, 277 Zweisamkeit, zweisam, Zweiheit ​157, 159, 162, 180, 192, 209, 245, 272, 276, 304

Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts Herausgegeben vom Leo Baeck Institut London unter Mitwirkung von Michael Brenner, Astrid Deuber-Mankowsky, Sander Gilman, Raphael Gross, Daniel Jütte, Miriam Rürup und Stefanie Schüler-Springorum

Die Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts ist eines der führenden Publikationsorgane für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums in Europa. Seit der ersten Veröffentlichung im Jahr 1959 sind mehr als 70 Monographien und Sammelbände in der Reihe erschienen. Das Spektrum der Veröffentlichungen ist umfassend: So deckt die Reihe einen Zeitraum von der Aufklärung bis in die Moderne hinein ab, mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Beiträge vereinen klassische politik- und sozialgeschichtliche Ansätze mit modernen Entwicklungen aus den Bereichen der Intellectual History, Kulturgeschichte, Gender Studies, Körpergeschichte, Wissenschaftsgeschichte oder Musikwissenschaft. Unter den Autoren und Autorinnen der Reihe finden sich Namen wie Selma Stern oder Jacob Toury aus der Gründergeneration des Faches wie auch die gegenwärtigen Vertreter der Forschung wie Christian Wiese oder Simone Lässig. Publikationsanfragen können an den Verlag gerichtet werden. Kontakt: Elena Müller im Verlag ([email protected]) ISSN: 0459-097X Zitiervorschlag: SchrLBI Alle lieferbaren Bände finden Sie unter www.mohrsiebeck.com/schrlbi

Mohr Siebeck

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