Medizin und Ärzte im deutschen Judentum der Reformära: Die Architektur einer modernen jüdischen Identität 9783666569432, 9783525569436, 9783647569437


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Medizin und Ärzte im deutschen Judentum der Reformära: Die Architektur einer modernen jüdischen Identität
 9783666569432, 9783525569436, 9783647569437

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525569436 — ISBN E-Book: 9783647569437

Jüdische Religion, Geschichte und Kultur

Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher Band 15

Vandenhoeck & Ruprecht

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Eberhard Wolff

Medizin und Ärzte im deutschen Judentum der Reformära Die Architektur einer modernen jüdischen Identität

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525569436 — ISBN E-Book: 9783647569437

Gedruckt mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds. Umschlagabbildung: Besuch bei einem Kranken, 1773, Öl auf Leinwand, 540 x 1100 mm, Jüdisches Museum Prag. Aus einem Bilderzyklus, der die Tätigkeit der Prager Beerdigungsbruderschaft darstellt. Auf dem Stuhl sitzend dürfte der Prager jüdische und reformerische Arzt Jonas Jeitteles (1735–1806) abgebildet sein.

Die Rechtschreibung dieses Buches folgt, mit Ausnahme der Quellenzitate, den schweizerischen Regelungen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56943-6 ISBN 978-3-647-56943-7 (E-Book) Ó 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

1 Der Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Juden und Medizin: Historisch-kulturwissenschaftliche Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 (Jüdische) Identität: Debatten und Definitionen . . . .

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2 Ärzte zwischen jüdischer Identität und professionalisiertem Berufsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.1 „Gelehrte“ und „Reformer“: Jüdische Ärzte im Berlin des 18. Jahrhunderts als Aktivisten des kulturellen Wandels . . . . . 55 2.2 Die Assimilationserwartungen der christlichen Umwelt: Der Streit Gumprecht–Osiander in Göttingen um 1800 . . . . . 104 2.3 Jüdische Ärzte und professioneller Habitus im frühen 19. Jahrhundert: Das Beispiel Hamburg . . . . . . . . . . . . . . 134 2.4 „Gelebte Moderne“: Die Trennung von ärztlicher und jüdischer Identität in den Schriften des Arzt-Literaten Phoebus Philippson (1830 bis 1860) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3 Gesundheitliche Praxis und jüdische Tradition: Konflikte und Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Beerdigungsfristenstreit im späten 18. Jahrhundert: Religionsverträgliche Verweltlichung und Ansätze eines kulturellen Verständnisses des Judentums . . . . . . . . . . . . . 3.2 Von der Wohltätigkeit zum sozialen Netzwerk: Die Modernisierung der organisierten jüdischen Krankenversorgung in Dresden (1780 bis 1850) . . . . . . . . . . 3.3 Biegen, ohne zu brechen: Das neue jüdische Religionsverständnis in der medizinischen Beschneidungsdebatte (1830 bis 1850) . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Weltliche Experten des Jüdischen: Die Dominanz der Ärzte über die Rabbiner in der Debatte um die Beschneidungsreform (1830 bis 1850) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Die Medizin und der kulturelle Wandel im Judentum . . . . . . . . . 236 4.1 Kompatibles Jüdischsein: Die Medizin als Kristallisationskern eines modernen jüdischen Selbstverständnisses . . . . . . . . . 236

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Inhalt

4.2 Gestaltete Identität statt Assimilation: Jüdischer Kulturwandel und kulturelle Hybridisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Literatur . . . . . . . . . Archivalische Quellen Primärliteratur . . . . Sekundärliteratur . .

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1 Der Rahmen 1.1 Einleitung […] Die Juden teilen sich wieder ein In zwei verschiedne Parteien; Die Alten gehn in die Synagog’ Und in den Tempel die Neuen. Die Neuen essen Schweinefleisch, Zeigen sich widersetzig, Sind Demokraten; die Alten sind Vielmehr aristokrätzig.

Mit diesen zwei ironischen Strophen seines Versepos „Deutschland, ein Wintermärchen“ skizzierte Heinrich Heine im Januar 1844 die hamburgischen Juden im Zeitalter der Reform. Einem kulturwissenschaftlichen Blick wird Heines nicht zufällig gewähltes AperÅu auffallen, dass sich reformerisch orientierte Juden damals offenbar zumindest teilweise von denjenigen Religionsgesetzen abgewandt hatten, die einen Grundpfeiler jüdisch-religiöser Lebensweise im Alltag ausmachten: den jüdischen Speisegesetzen mit ihrem populärsten Segment, dem Verbot des Genusses von Schweinefleisch. Im Verlauf der vorangegangenen Jahrzehnte musste sich unter den Hamburger „Reformjuden“ also ein immenser kultureller Wandlungsprozess vollzogen haben. Aber konnten Juden, die Schweinefleisch assen, überhaupt noch Juden sein? Für Heine waren sie es offensichtlich. Heinrich Heine selbst, bereits 1825 aus pragmatischen Gründen zum Christentum konvertiert, war alles andere als ein gläubiger Jude. Die christliche Umwelt nahm ihn dennoch als Juden wahr, was sich hinderlich auf die berufliche Entwicklung des promovierten Juristen auswirkte. Und er selbst hatte seine Bindungen zum Judentum nicht aufgegeben. Heine war damit im gewissen Sinn selbst ein Beispiel für ein neues jüdisches Selbstverständnis, das sich in diesem kulturellen Wandel manifestierte. Diesem Selbstverständnis geht die vorliegende Arbeit nach. Sie sucht nach seinen frühen Ausdrucksformen in dem Jahrhundert, das dem Erscheinen von Heines „Wintermärchen“ voranging. Und sie sucht es in einem Bereich, in dem es auf besondere Weise in Erscheinung trat: in der Medizin und ganz speziell unter den jüdischen Ärzten.1 1 Die vorliegende Arbeit ist das Produkt eines entsprechenden Forschungsprojektes, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft grosszügig finanziert und von mir durchgeführt wurde.

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1 Der Rahmen

Damit skizziert diese Arbeit gleichzeitig auch Grundlinien des Themas „Juden und Medizin“ im untersuchten Zeitraum und fragt nach der Bedeutung von Ärzten und Medizin in diesem kulturellen Wandlungsprozess. Sie tut dies aus zwei Perspektiven: Erstens fragt sie, wie sich jüdische Ärzte beruflich in der Öffentlichkeit dieser Zeit repräsentierten und in welchem Verhältnis dies zu ihrem Jüdischsein stand. Zweitens analysiert diese Arbeit Konflikte zwischen medizinischen und jüdisch-religiösen Vorstellungen sowie die daraus resultierenden Lösungsvorschläge. Aus beidem kristallisieren sich Werte und Normvorstellungen im Alltagshandeln heraus, welche die Grundlage für die Analyse kultureller Selbstverständnisse, sprich: Identitäten darstellen.

Der Hintergrund Jakob Katz hat den gewaltigen Wandlungsprozess der Juden im deutschen Titel seines grundlegenden Werks ebenso holzschnittartig vereinfacht wie treffend als den Weg „aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft“ bezeichnet.2 Keimzelle war eine jüdische Aufklärungsbewegung unter dem Namen „Haskala“, die parallel zur Aufklärung der christlichen Mehrheitsgesellschaft verlief und als „kulturelle Revolution“ immer wieder die Aufmerksamkeit der jüdischen Geschichtsschreibung auf sich zieht.3 Vorgänger der Haskala datieren ins frühe 18. Jahrhundert zurück.4 Sie richtete sich gegen das traditionelle rabbinisch-talmudische bzw. messianische Verständnis von Judentum. Ihr bekanntester Repräsentant in Deutschland war der Rabbiner und Philosoph Moses Mendelssohn, der den Pentateuch in das Deutsche mit hebräischen Lettern übersetzte. In der Haskala ging es um eine Neubelebung, gleichzeitig aber auch um neue Lesarten des Judentums, die mit den Vorstellungen der Aufklärung vereinbar waren. Dazu zählte etwa die Historisierung des Judentums, also ein Verständnis als historisch gewachsenes und damit auch veränderliches Phänomen. Konkrete Vorhaben waren die Erweiterung der schulischen Erziehung um weltliche Inhalte und Reformen des Gottesdienstes. Die Haskala spiegelte sich in Zeitschriften wie „Ha-Meassef“ (Der Sammler) oder Gesellschaften wie dem „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ (ab 1819), aus dem sich die bis ins 20. Jahrhundert existierende „Wissenschaft des Judentums“ entwickelte. Aus der Haskala ging im Antragsteller und Leiter des Projekts gegenüber der DFG war Prof. Dr. Robert Jütte, Stuttgart. Der offizielle Titel lautete: „Die Bedeutung der Medizin für den kulturellen Wandlungsprozess des Judentums in Deutschland infolge der Aufklärung“. Es war Teil eines Gruppenprojekts, in dem unterschiedliche Aspekte dieses kulturellen Wandels untersucht wurden. Einen Überblick bietet der aus dem Gruppenprojekt entstandene Sammelband Herzig/Horch/Jütte (2002). 2 Katz (1986). Neuerdings auch Lowenstein (2012). 3 Vgl. z. B. Feiner (2012, 2007), Jahrbuch (2007). Zu den eher geistesgeschichtlich-philosophischen Aspekten der Haskala Schulte (2002a). 4 Feiner (2011); Schochat (2000).

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1.1 Einleitung

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frühen 19. Jahrhundert eine Reformbewegung hervor.5 Sie focht für ein liberales Judentum, das sich primär nicht an der Halacha, dem aus dem Talmud und der Tora abgeleiteten Religionsgesetz, sondern an den subjektiven religiösen Bedürfnissen der Juden orientierte. Religiöse Praktiken wurden modifiziert, in die Synagogen zog Orgelmusik und Choralgesang ein, die Rolle der Religion wurde immer mehr auf einen eingeschränkten Lebensbereich begrenzt. Gesetzestreue wurde durch „Innerlichkeit und Erbauung“ ersetzt, der Gottesdienst teils auf deutsch zelebriert, Männer trugen in den Synagogen keine Kippa mehr, Frauen stiegen von der Frauenempore herab. In den 1840er Jahren formierten sich die Reformrabbiner für einige Jahre in liberal ausgerichteten Rabbinerversammlungen.6 (Christliche) Aufklärung und Haskala strebten beide, jeweils auf ihre Art, auch eine Veränderung des stark eingeschränkten Rechtsstatus der Juden an mit dem Ziel einer Einbindung der Juden in den staatsbürgerlichen Gesamtverband. Umstritten waren die Bedingungen einer solchen rechtlichen Gleichstellung der Juden. Von Seiten der christlichen Mehrheitsgesellschaft wurde ein grundlegender kultureller Wandel im wörtlichen Sinne einer weitgehenden Assimilation zur Vorbedingung der Emanzipation gemacht. Konkret wurde die „bürgerliche Verbesserung der Juden“ gefordert, wie es im Titel der zentralen Schrift des preussischen Kriegsrats Christian Wilhelm Dohm hiess.7 Ein extremes Beispiel hierfür ist etwa die Forderung nach Aufgabe der Sabbatruhe und Übernahme des Sonntags als allgemein-religiösem Ruhe- und Feiertag. Die christlichen Assimilationsforderungen überschnitten sich zum Teil mit den inneren Reformzielen der jüdischen Aufklärer, den so genannten „Maskilim“, und später den Anhängern der Reformbewegung. Reformdebatten, wie sie im Folgenden etwa über das jüdische Beerdigungswesen abliefen, waren damit in der Regel gleichzeitig Ausdruck innerjüdischer Reformwünsche wie auch Anpassungen an die christlichen Reformforderungen. Innerhalb des Judentums wurde bereits damals debattiert, welche Auswirkung dieser kulturelle Wandel auf das Selbstverständnis der Maskilim als Juden habe. Eine Frage besitzt bis heute in der jüdischen Welt einen zentralen Stellenwert: Bedeutete dieser Wandel eine assimilatorische Selbstaufgabe der Gruppenidentität, wie sie sich etwa in Form einer Konversion zum Christentum und deren konsequenter Umsetzung im praktischen Leben spiegeln kann, oder war er notwendiger Prozess einer Anpassung dessen, was das Jüdischsein ausmacht, an die Moderne mit dem Ergebnis einer modernen jüdischen Identität? Schliesslich darf bei alledem nicht übersehen werden, dass diese Prozesse 5 Vgl. hierzu das bereits ältere, aber immer noch aktuelle Übersichtswerk Meyer (2000, das englische Original von 1988). 6 Vgl. hierzu vor allem Meyer (1996), S. 135 – 176. 7 Vgl. Dohm (1781/83).

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1 Der Rahmen

vor dem Hintergrund der kontinuierlichen Existenz antijüdischer Vorstellungen und Vorwürfe in der christlichen Umwelt abliefen. Unter dem Mantel der Aufklärung lebten Vorstellungen weiter, etwa diejenige von der grundsätzlichen moralischen Verderbtheit der Juden, sei sie nun deren Charakter oder den Umständen geschuldet.8 Forderungen nach einer „bürgerlichen Verbesserung“ bedeuteten nicht zuletzt auch Forderungen an die Juden, dass sie „den Juden“ in sich überwinden sollten. Damit wurde „Jude sein“ und „einen schlechten Charakter haben“ gleichgesetzt. Darüber hinaus brachte gerade die Emanzipationsdebatte in ihrer speziellen deutschen Ausprägung auch viele antijüdische Ressentiments hervor, und die judenfeindlichen so genannten „Hep-Hep“-Unruhen von 18199 signalisierten ein vorläufiges Ende des Emanzipationsprozesses. Ein weiterer zentraler Hintergrundfaktor unserer Untersuchung ist speziell im Bereich der Medizin angesiedelt: der Eintritt der Juden in den akademischen Arztberuf.10 Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts konnten sich die ersten Juden an deutschsprachigen Universitäten einschreiben. In der Regel standen ihnen lediglich die medizinische und die philosophische Fakultät offen. Ab den 1720er Jahren wurden Juden an einzelnen deutschen Universitäten wie Halle und Göttingen auch häufiger zur Promotion zugelassen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich alle deutschen Universitäten jüdischen Promotionen geöffnet. Seit der Mitte des 18. Jahrhundert stieg ihre Zahl dann steil an. Folge war, dass vor allem in den Städten die Gruppe der praktizierenden jüdischen Ärzte stark zunahm. Die jüdische Bildungselite allgemein wuchs Richarz zufolge vom späteren 18. bis ins frühere 19. Jahrhundert von einigen dutzend Personen auf circa 2000.11 Ab dem 19. Jahrhundert waren sie in manchen Städten im Verhältnis zum Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung bald überrepräsentiert. Der Eintritt der Juden in den akademischen Arztberuf bedeutete innerjüdisch, dass Ärzte nun den Hauptteil der jüdischen Akademiker ausmachten und somit ebenso quantitativ wie qualitativ zur jüdischen Bildungselite aufstiegen – neben oder zum Teil noch vor den Rabbinern. Der Aufbau Die vorliegende Studie setzt zeitlich um 1750 mit der Endphase der (jüdischen) Frühen Neuzeit12 ein, deckt die Hauptphase von Haskala und daraus entstehender Reformbewegung ab und endet um die Mitte des 19. Jahrhunderts, da sich danach mit gewaltigen politischen, ökonomischen wie auch 8 9 10 11 12

Vgl. Erb/Bergmann (1989). Herzig (1997), S. 164 f. Siehe hierzu vor allem Richarz (1974) und Komorowski (1991). Richarz, Wissenschaft (1982), S. 64 f. Zur Frage der Periodisierung siehe Ruderman (2007).

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1.1 Einleitung

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jüdisch-geistigen Entwicklungen wiederum neue Rahmenbedingungen bilden, die einer gesonderten Untersuchung bedürften. Die Arbeit ist inhaltlich in vier Teile untergliedert. Der erste Teil gibt im an diese Einleitung anschliessenden Kapitel 1.2 zunächst einen Einblick in die Forschung der letzten Jahrzehnte zum breiten, allgemeinen Forschungsfeld „Juden und Medizin“ im untersuchten Zeitraum. Gefragt wird speziell, wie weit die Forschung kulturwissenschaftliche Ansätze verfolgt. Das Folgekapitel (1.3) skizziert den neueren Umgang der allgemeinen Forschung zur Frage, mit welchen Begriffen oder Konzepten der kulturelle Wandlungsprozess der fraglichen Zeit am treffendsten zu beschreiben ist. Hier spannt sich ein Bogen von den Termini „Assimilation“ und „Akkulturation“ über „jüdische Subkultur“ bis hin zu neueren Konzepten hybrider Identität. Das Kapitel führt, kurz gesagt, auf die Aussage hin, dass in den Debatten unterschiedlicher Jahrzehnte über einen angemessenen Zugang zum Thema „kultureller Wandel, Kulturkontakt und Identitätswandel“ unter wechselnden Schlagwörtern meist ähnliche Forderungen formuliert wurden. Auf der anderen Seite besitzt die Literatur ihre Stärke nicht darin, konkrete und hier brauchbare Operationalisierungsmodelle zur Untersuchung der Hybridität von Identitäten anzubieten. Für die nachfolgenden Detailstudien steht demnach in Bezug auf diesen Teilaspekt kein die Analyse leitender Rahmen zur Verfügung. Er wird stattdessen im Schlusskapitel der Arbeit aus den Ergebnissen der Detailstudien heraus entwickelt. Eine mögliche konkrete Rekonstruktion historischer Gruppenidentitäten soll in den auf die Einleitung folgenden, empirisch angelegten Detailstudien der nächsten beiden Teile dieser Arbeit geschehen. In den vier Kapiteln des chronologisch aufgebauten zweiten Teils der Arbeit stehen die jüdischen Ärzte im Mittelpunkt. Das erste (Kap. 2.1) widmet sich mit dem 18. Jahrhundert der Frühphase unseres Untersuchungszeitraums. Es analysiert die Gesamtheit jüdischer Ärzte, die im Berlin des besagten Jahrhunderts tätig waren. Anhand ihrer 17 Biografien und ihren jeweiligen Aktivitäten im medizinischen wie auch im jüdischen Umfeld kann gezeigt werden, wie verbreitet das Gedankengut der Haskala und der Reform bei ihnen war. Sie vertraten zu je unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Rollenmodelle, vom „Gelehrten“ über den „professionellen Arzt“ hin zum „Reformer des Judentums“, die bereits hier einige in der gesamten Arbeit zentrale Fragen wie die der Berufsidentität oder auch der inhaltlichen Neubestimmung des Jüdischen aufscheinen lassen. Das Kapitel hat aufgrund seiner thematischen Breite auch die Funktion eines Überblicks über die Breite der Problemfelder des Untersuchungsgegenstands. In der Folge wird ein Streit dargestellt, der um 1800 in Göttingen zwischen dem christlichen Medizinprofessor Friedrich Benjamin Osiander und seinem ehemaligen Schüler, dem jüdischen Arzt und Privatdozenten Johann Jakob Gumprecht ablief (Kap. 2.2). Das Beispiel zeigt mit besonderer Deutlichkeit den Anpassungsdruck, dem jüdische Ärzte (oder allgemeiner : Juden bei ihrem Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft) von christlicher Seite unter-

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1 Der Rahmen

worfen waren. Um als gleichwertige Menschen anerkannt zu werden, durften die jüdischen Ärzte nicht „als Juden“ in Erscheinung treten. Was darunter zu verstehen war, definierte die christliche Mehrheit nach eigenem Dafürhalten. Das Kapitel fällt insofern aus der Reihe, als es nicht wie die anderen das jüdische Selbstverständnis untersucht, sondern den Blick der christlichen Mehrheitsgesellschaft auf die Juden. Da die folgenden Kapitel diesen Aspekt bewusst weitestgehend ausklammern, ist es die Aufgabe dieses Abschnittes, deutlich zu machen, dass der jüdische Kultur- und Identitätswandel nicht im freien, luftleeren Raum stattfand. Auf der anderen Seite soll aber nicht der Eindruck entstehen, als sei dieser Kulturwandel mehrheitlich durch die christliche Gesellschaft forciert worden. Im Gegenteil legt diese Arbeit den Schwerpunkt auf die eigenständige Leistung von Juden im Bereich der Medizin, die eigene Kultur ohne Aufgabe der eigenen Identität zu wandeln und damit eine neue Lesart des Jüdischen zu schaffen.13 Das nachfolgende Kapitel (2.3) nimmt sich die jüdischen Ärzte Hamburgs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Thema. Ihre hervorstechenden Aktivitäten im Rahmen des damals gegründeten Ärztlichen Vereins und als Herausgeber medizinischer Zeitschriften zeigen ein überproportionales professionspolitisches Engagement und damit die ebenso starke wie aktive Aneignung eines professionalisierten ärztlichen Habitus bzw. Standesbewusstseins. Sie bauten für sich demnach eine zusätzliche, ausserkonfessionelle bürgerlich-akademische Identität auf. Parallel dazu waren viele dieser jüdischen Ärzte auch in Fragen jüdischer Kultur aktiv, etwa in dem von Heine angesprochenen „Tempel“. Beide Aktivitätsbereiche stellen sich strikt voneinander getrennt dar, so dass daraus auf die bewusste Trennung des „beruflichen“ und des „jüdischen“ Lebensbereiches geschlossen wird. Eine anschliessende einzelbiographische Studie (Kap. 2.4) soll diese These erhärten. Auch der im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts agierende Arztliterat Phoebus Philippson praktizierte in seinen Publikationen diese Trennung zwischen „ärztlichem“ und jüdischem Lebensbereich. Dass dies eine bewusste Entscheidung darstellte, machte er in seinem literarischen Werk deutlich, in dem er sich explizit mit der Stellung des Jüdischen in der modernen Welt auseinandersetzte. Die bei den Hamburger jüdischen Ärzten ebenso wie bei Philippson gefundene „Segregation der Lebensbereiche“ war demnach ein Versuch jüdischer Selbstbehauptung in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie 13 Sicherlich entwickelte sich jüdische Identität auch in einem Austausch mit der nichtjüdischen Bevölkerung. Die Analyse des „interaktionalen Verhältnisses“, wie sie Hödl (2006), S. 30, postuliert, sehe ich indes nicht als einzig möglichen Weg an. Im Gegenteil, wenn Hödl (2006) das Vordringen medizinisch-rationaler Argumente innerhalb der Debatte um die frühe Beerdigung (siehe das entsprechende Kapitel in dieser Arbeit) als Eindringen aus dem nichtjüdischen in den jüdischen Kontext bezeichnet (S. 38), spricht er der jüdischen Kultur die eigene Fähigkeit zur Rationalität, die eigenständige Innovationskraft ab. Das grundsätzlich richtige Postulat, Kulturdynamiken im Kontakt unterschiedlicher Kulturen zu untersuchen, schlägt in diesem Fall ins Gegenteil um.

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1.1 Einleitung

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trennten ihre professionelle und ihre jüdische Identität bewusst voneinander, nicht zuletzt um im Berufsleben nicht über ihre Religion definiert zu werden. Der dritte Teil der vorliegenden Arbeit behandelt die gesundheitliche Praxis im Judentum in einigen der Bereiche, in denen sie in Konflikt mit der jüdischen Tradition14 geriet. Die Reihenfolge der Darstellung ist am chronologischen Ablauf orientiert. Sie beginnt mit dem „Beerdigungsfristenstreit“ im späten 18. Jahrhundert, als die traditionelle religiöse Praxis einer schnellen Beerdigung der Toten auf die in der Aufklärung verbreitete Furcht traf, lebendig begraben zu werden (Kap. 3.1). Viele von der Haskala beeinflusste Ärzte forderten die Aufgabe des Brauches. Betrachtet man die Beiträge zu dieser Debatte aus der Perspektive, ob hier jüdisches Selbstverständnis einfach preisgegeben werden sollte oder nicht, zeigt sich ein vielfältiges und starkes Bemühen, einen Umgang mit dem Problem zu finden, der einerseits den „aufgeklärten“, weltlichen Anforderungen entgegenkam und andererseits die jüdische Tradition nicht einfach fallen liess. Die an der Debatte Beteiligten versuchten stattdessen, sie mit zeitgemässen Interpretationsweisen neu zu fundieren und daraus ein neues Verständnis des Judentums zu entwickeln. Andere Lösungsansätze dieser Art zeigten sich im Bereich des traditionellen und in Bruderschaften organisierten jüdischen Krankenbesuchswesen. Ausgehend von einem Streit im entsprechenden Dresdener Verein um das Jahr 1800 wird im Kapitel 3.2 gezeigt, wie sich die Bedürfnisse junger Juden gewandelt hatten und sie viel mehr an einer Versicherung des Krankheitsrisikos auf Gegenseitigkeit interessiert waren als an den traditionellen religiös-karitativen Vereinigungen. Die gewandelten Bruderschaften wurden so zur Keimzelle eines jüdischen Krankenkassenwesens. Formell knüpften sie an die jüdische Tradition an, indem die äussere Form, etwa der Name, erhalten blieb, während der Kern mit modernen Inhalten gefüllt wurde. Die Vereine blieben so ein Teil der jüdischen Kultur, doch diese selbst wurde mit ihnen verweltlicht und den zeitgenössischen Interessen angepasst. Die beiden letzten Detailstudien untersuchen die Debatten um die Reform des jüdischen Beschneidungsrituals zwischen 1830 und 1850 aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Das erste Kapitel (3.3) zeichnet nach, wie die traditionelle Beschneidungspraxis immer mehr zur Zielscheibe medizinischer Kritik wurde. Eine genaue Analyse zeigt allerdings, wie wenig die durchweg reformerischen jüdischen Ärzte die jüdische Tradition einfach „vom Tisch wischen“ wollten. Im Gegenteil ging es ihnen darum, ihre Forderungen nach einer medizinisch angemessenen Beschneidung mit der jüdischen Tradition in Einklang zu bringen. Es ist nahe liegend, dass dies nur auf der Basis von weitgehenden Uminterpretationen dieser Tradition möglich war. Das zweite Kapitel zur Beschneidungsdebatte (3.4) nähert sich über die Kritik am Ritual wiederum dem ärztlichen Berufsstand. In dieser Debatte wird 14 Die hier relativ pauschale Verwendung des Begriffs „Tradition“ soll nicht über deren grundsätzliche Komplexität und ständige Gebrochenheit hinweg täuschen. S. Bodenheimer (2012b).

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1 Der Rahmen

nämlich auch die erstarkende Stellung der Ärzte in der jüdischen Gesellschaft deutlich. Während jüdische Ärzte vordergründig nur die Definitionskompetenz für die medizinischen Aspekte des Themas beanspruchten, „bemächtigten“ sie sich in ihren Schriften immer mehr auch der rituellen Aspekte des Beschneidungswesens und gaben eigene religionsgesetzliche Deutungen. Rabbiner wurden in dieser Debatte immer mehr in die Defensive gedrängt. Hier wird deutlich, wie sich Ärzte nun auf Kosten der Rabbiner zu allgemeinen Experten des Jüdischen machten, was wiederum einen Einfluss auf das Verständnis des Judentums hatte. Wenn Ärzte nun in diesem Bereich über eine Art Meinungsführerschaft über das Jüdische verfügten, war die Lesart des Jüdischen automatisch auch weltlicher ausgerichtet. Es muss an dieser Stelle noch auf eine wichtige Grundeigenschaft hingewiesen werden, welche alle sieben konkreten Detailstudien kennzeichnet. Sie sind auf eine Art angelegt, die ich mit dem in der Volkskunde / Kulturwissenschaft häufiger verwendeten Begriff der „Tiefenbohrung“ bezeichnen möchte. Die Kapitel untersuchen in der Regel kleine, streng abgegrenzte Bereiche: systematisch ausgewählte Personengruppen, einzelne Streitfälle oder punktuelle literarische Debatten, jeweils in definierten Zeiträumen. Der Fokus ist bewusst verhältnismässig scharf begrenzt, im letztgenannten Fall etwa werden ausschliesslich Beiträge jüdischer Ärzte zur Beschneidungsreform analysiert, dafür aber auch alle nachweisbaren Veröffentlichungen von ihnen. Eventuelle Ausgriffe werden explizit benannt. Dieser Ansatz war zunächst eher der Quellenlage und einer daraus resultierenden Recherchestrategie geschuldet, entwickelte sich im Forschungsprozess aber zu einer bewusst gewählten und inhaltlich begründeten Analysemethode, und dies aus zwei Gründen. Indem die Arbeit klar abgegrenzte Felder untersucht, umgeht sie zum einen die Gefahr einer zufälligen Quellenauswahl und letztendlich eines assoziativ-essayistischen Einsatzes von Belegstellen. Mittels des klar abgegrenzten Fokus kann die Beispielhaftigkeit (von Repräsentativität im strengen Sinne kann man nicht sprechen) der Ergebnisse zwingender plausibel gemacht werden. Ein Beispiel: Der professionelle Habitus jüdischer Ärzte im frühen 19. Jahrhundert wird anhand der Hamburger Kollegen dargestellt. Es könnten viele Einzelbeispiele von jüdischen Ärzten anderer Städte und Regionen gegeben werden, welche die These plakativ illustrieren. Aber erst die Darstellung der Intensität der Phänomene innerhalb eines abgegrenzten Feldes kann deutlich machen, dass es sich hier um eine Erscheinung mit einer relativ breiten Relevanz handelt. Zum anderen ermöglicht es die Methode der „Tiefenbohrung“ anhand klar abgegrenzter Samples oder Fälle, diese detaillierter zu analysieren, als es mit einer Reihe paralleler, aber weniger gründlich untersuchter Beispiele möglich gewesen wäre. Die Methodik der Arbeit orientiert sich bei diesen Tiefenbohrungen bewusst an einer in der Volkskunde bzw. den Kulturwissenschaften verbreiteten „ethnohistorischen“ Vorgehensweise (Kaschuba), der „Beobachtung des kleinen, überschaubaren Untersuchungsfeldes, in dem

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1.1 Einleitung

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räumliche, zeitliche und soziale ,Nahaufnahmen‘ mit hoher Tiefenschärfe erzielt werden sollen“, denn Kultur wird vor allem „über Einblicke in exemplarische und charakteristische Situationen“ fassbar bzw. „über die Beobachtung konkreter Praxen von identifizierbaren Individuen und Gruppen“. Die Ausschnitthaftigkeit der „Tiefenbohrung“ bedeutet indes nicht die Belanglosigkeit, wie sie der Mikrohistorie in ihrer unreflektierten Ausformung immer wieder vorgeworfen wird. Der Ansatz entspricht dem einer „fotografische(n) Ausschnittvergrösserung, die mehr Details freigeben kann als der gesamte Prospekt, jedoch immer vor dessen Hintergrund betrachtet werden muss“.15 In exakt diesem Sinne versteht sich die vorliegende Arbeit nicht als blosse Reihung von Detailstudien. Ihr roter Faden besteht in einer mehrschichtigen übergreifenden Fragestellung, welche im vierten Teil der Arbeit dann auf einer allgemeineren und abstrakteren Ebene zu beantworten versucht wird. Dabei postuliert das Kapitel 4.1. zunächst die Bedeutung der Medizin als zentralen Brennpunkt und frühen Implementationsbereich im bezeichneten kulturellen Wandlungsprozess. Ein grosser Teil der städtisch-bürgerlichen Juden ging den Weg, der von Ärzten oder in medizinischen Debatten vorgezeichnet worden war : Sie suchten bewusst einen neuen Platz des Jüdischen in der modernen Gesellschaft und rangen damit um eine modernisierte jüdische Identität. In Anlehnung an Arbeiten von David Sorkin und Simone Lässig wird diese neue Identität zunächst nicht als Anpassung an die christliche Mehrheitsgesellschaft mit dem Ziel der Integration und Anerkennung interpretiert, sondern als eigenständige kulturelle Leistung, die es vermochte, gängige Werte und Normen der Zeit im Umfeld von „Bürgerlichkeit“ bzw. „Aufklärung“ oder „Bildung“ mit einem reformierten Verständnis von Judentum zu verbinden. Da ein einfaches Modell der reinen Aufnahme bürgerlicher Kultur in das jüdische Selbstverständnis aber zu eng ist, um die Komplexität dieser Verbindung aus unterschiedlichen Werten und Normen bzw. Teilidentitäten angemessen abzubilden, wird in einem letzten Kapitel (4.2) noch einmal auf das Deutungskonzept „hybrider Identitäten“ zurückgegriffen, um ein differenzierteres Modell des entsprechenden kulturellen Wandels wie auch möglicher Feinstrukturen von Identitätskonstellationen zu entwickeln, welches die Skizze von kultureller Hybridität, die der Kulturhistoriker Peter Burke gezeichnet hat, an denjenigen Stellen ausbaut, an denen sie an ihre Grenze kommt.16 „Hybride Identität“ wird auf der Basis der gewonnenen Ergebnisse der Detailstudien nicht einfach als kulturelle Verschmelzung betrachtet. Es wird am Ende der Arbeit ein Modell hybrider jüdischer Identität in der Moderne herausgearbeitet, das die verschiedenen Varianten von wechselseitiger Aufnahme, Vereinnahmung, Verschmelzung, verbleibender Trennung inklusive möglicher funktionaler und situativer Differenzierungen einschliesst. Da 15 Alle Zitate aus Kaschuba (2003), S. 214. 16 Burke (2009).

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einfache im Umfeld des Hybridisierungskonzepts verwendete Metaphern wie die einer „Verknotung“ oder der „Bricolage“ nicht vermögen, dieses Modell griffig zu fassen, wird auf die titelgebende Metapher der Architektur zurückgegriffen, um Binnenstrukturen von Hybridität besser greifen zu können. Moderne jüdische Identität gleicht in diesem Sinne einem komplex gestalteten Haus aus verschiedenen Bauteilen, mit unterschiedlicher Verarbeitung, heterogenem Erscheinungsbild sowie vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten wie auch Funktionen. Die vorherrschende Funktion dieses „Identitäts-Hauses“ war in diesem Sinne, mit einem veränderten Verständnis des Jüdischseins auf die Anforderungen der Zeit einzugehen, ohne Traditionen einfach abzubrechen, mithin Stabilität im historischen Wandel zu erreichen. Man könnte der Architektur-Metapher gegenüber den wichtigen Einwand formulieren, sie würde zu statische Bilder evozieren, und statt dessen die beliebte und Dynamik versprühende Metapher der „Baustelle“17 bemühen. Ich habe mich dagegen entschieden, weil die Baustellenmetapher zu wenig deutlich macht, dass hier etwas bis zur „Bewohnbarkeit“ fertiggestellt wurde. Zudem bezeichnet Architektur spätestens auf den zweiten Blick nichts Endgültiges, Unveränderliches, sondern gleichzeitig etwas Beharrendes wie auch etwas Dynamisches – ebenso wie es sich bei Identitäten in der Regel um Phänomene mit relativer Stabilität und einer gewissen Dynamik handelt. Die Metapher der Architektur ist für mich somit ein heuristischer Begriff von zumindest mittlerer Reichweite. Es wäre vermessen, mit dieser Arbeit zu beanspruchen, „die“ moderne jüdische Identität in ihrer frühen Ausformung herausgearbeitet zu haben. Dazu ist das Thema „Medizin“ viel zu spezifisch – umso mehr in seiner weiteren Einengung auf eine Reihe von Detailstudien. Zudem untersucht die Arbeit nur ein ganz spezifisches Segment der gesamten jüdischen Gesellschaft ihrer Zeit: gut gebildete, im Wesentlichen „verbürgerlichte“, bildungsorientierte, „mittelständische“ städtische und zudem noch männliche Juden in deutschen Gebieten. Die vorgelegten Ergebnisse zur modernen jüdischen Identität sind selbst wiederum nur eine „Tiefenbohrung“ im unüberschaubaren Feld jüdischer Identität. Doch gerade an ihnen zeigen sich einige der zentralen Strukturmerkmale moderner jüdischer Identität vom 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert sowie – abgesehen vom prägenden Einfluss der Shoa – auch noch bis in die Gegenwart. Eine weitere wichtige Klärung muss an dieser Stelle gemacht werden. Wenn in dieser Arbeit nach „jüdischer Identität“ gesucht wird, so handelt es sich nicht um das Ziel, die vollständigen Vorstellungen einzelner Individuen von sich selbst zu bestimmen. Das wäre anhand des untersuchten Materials auch überhaupt nicht möglich. Es geht hier zum einen um kollektive Vorstellungen, die für die einzelnen untersuchten Personen und Gruppen einmal mehr, 17 So tut es Burke (2009), S. 103, wenn er Traditionen als „building sites, under constant construction and reconstruction“ beschreibt.

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einmal weniger zutreffen, insgesamt aber dennoch einen gewissen Grad von Typik aufweisen. Zum anderen wäre es ein grosses Missverständnis, wenn der hier verwendete Begriff moderner jüdischer Identität als etwas Klares, Abgeschlossenes, sozusagen als hermetischer Block verstanden würde. Spätestens vor dem Hintergrund postmoderner Theorie kann ein in diesem Sinne „essentialistisches“ Verständnis von Identität keinen Bestand mehr haben, auch und gerade im Untersuchungsfeld „jüdische Identitäten“.18 Identitäten sind bereits auf der individuellen Ebene immer unscharf, sind immer ein System von Teilidentitäten, die in einem komplexen Verhältnis zueinander stehen. Umso mehr trifft dies für kollektive Identitäten zu. Identitäten lassen sich nie trennscharf definieren. Auch sind sie in der Regel keine völlig statischen Gebilde. Alle diese notwendigen Relativierungen dürfen aber wiederum nicht zu der Überzeugung führen, dass es unmöglich sei, kollektive Identitäten überhaupt beschreiben zu können. Notwendig ist im Gegenteil, sich klarzumachen, dass es sich bei Modellen kollektiver Identität wie etwa der hier untersuchten „modernen jüdischen Identität“ um nicht mehr als Annäherungen, bestenfalls Idealtypen, aber auch nicht um weniger als diese handelt. Die Verortung zwischen verschiedenen Disziplinen Die vorliegende Arbeit ist eine von der Historisch-Philosophischen Fakultät der Universität Basel angenommene Habilitationsschrift für das aus der Volkskunde entstandene Fachgebiet „Kulturanthropologie“, die für den Druck vorsichtig überarbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht wurde. Inhaltlich ist sie im Überschneidungsbereich dreier Disziplinen angesiedelt: der Jüdischen Geschichte, der Medizingeschichte und der Volkskunde/Kulturwissenschaft. Die Arbeit kann erstens als genuiner Beitrag zur jüdischen Historiographie verstanden werden, indem ihr Forschungsgegenstand der jüdischen Geschichtsschreibung entnommen ist. Gerade die Haskala und die jüdische Reformbewegung stellen einen traditionellen Forschungsschwerpunkt jüdischer Geschichtsschreibung dar. Die vorliegende Arbeit kann zweitens genauso gut auch als Beitrag zur Disziplin der Medizingeschichtsschreibung verstanden werden, richtet sie ihren Fokus doch auf Medizin im Allgemeinen und ganz speziell auf Ärzte. Die Themen „Judentum und Medizin“ oder „jüdische Ärzte“ stellen seit vielen Jahren und bis in die Gegenwart einen etablierten Spezialbereich der Medizingeschichte dar. Von beiden Disziplinen ist diese Arbeit stark beeinflusst. Doch drittens und vor allem ist sie als volkskundlich-kulturwissenschaftliche Forschung gedacht, und zwar mehr vom Ansatz als vom eigentlichen Gegenstand her. Denn 18 Vgl. hierzu grundlegend Goldberg/Krausz (1993), insbesondere S. 1 – 12.

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der hier verwendete Ansatz besitzt eine Reihe von Eigenschaften, die zwar alles andere als exklusiv der Volkskunde bzw. den Kulturwissenschaften zugerechnet werden können, aber doch für sie überaus typisch sind. So zählt die Untersuchung von Identitäten zu den angestammten Fragestellungen der reformierten Disziplin der letzten Jahrzehnte. Die erläuterte Methode der „Tiefenbohrungen“ entspricht einem qualitativen, exemplarischen Ansatz, der in dieser Disziplin besonders häufig zum Tragen kommt. Die Analyse einzelner konkreter Fälle verspricht eine grosse Alltagsnähe und gleichzeitig die Chance, der Komplexität der Realität gerechter zu werden als ein von der Theorie ausgehender Ansatz. Schliesslich stehen bei einigen „Tiefenbohrungen“ jüdische „rites de passage“ wie die Beschneidung im Mittelpunkt, womit ein weiterer typischer Ansatzpunkt des Faches „Volkskunde/Kulturwissenschaft“ gewählt wurde. Insgesamt ist die Arbeit so angelegt, dass sich die unterschiedlichen disziplinären Perspektiven gegenseitig stützen. Der zusätzliche Erkenntnisgewinn des multidisziplinären Ansatz gleicht m. E. die damit einhergehenden Grenzen, die Ansätze einzelner Disziplinen in aller Tiefe zu verfolgen, mehr als aus. Vorveröffentlichungen Im Verlauf des Forschungsprozesses wurden einige Kapitel bereits in anderem Zusammenhang veröffentlicht, aber für die vorliegende Arbeit überarbeitet und der Gesamtfragestellung angepasst.19 Die überwiegende Mehrheit des Textes ist allerdings bislang unpubliziert. Weitere Veröffentlichungen des Projekts flossen allenfalls am Rande oder gar nicht in die vorliegende Arbeit ein.20 Dank Ein Forschungsprojekt, das sich über viele Jahre hinzieht, ist wesentlich mehr Personen und Institutionen zu Dank verpflichtet, als aufzulisten möglich ist. An vorderster Stelle ist Prof. Dr. Robert Jütte, Stuttgart, zu nennen, der mir das Forschungsprojekt anvertraute, und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die es im Umfang von fünf Jahren finanzierte. Prof. Dr. Walter Leimgruber, Basel, danke ich neben wichtigen inhaltlichen Anregungen herzlich für die Unterstützung, diesen Text als Habilitationsschrift einzureichen. Viele anre19 Wolff (1998a); Wolff (1999). Vorstudien dieses Beitrags und Berichte für die Forschungsgruppe stellen dar: Wolff (1998b); Wolff (1998c); Wolff (2003), in einer früheren Version veröffentlicht als Wolff (2000a); Wolff (2001); Wolff (2002). Der kleine Aufsatz Wolff (2004a) über die frühen Berliner jüdischen Ärzte ist lediglich eine deskriptiv angelegte Vorstudie über einen Teilbereich. Der Aufsatz Wolff (2008) ist eine über die Fragestellung der vorliegenden Studie hinausgehende Arbeit. Ähnliches wie das zuvor Gesagte gilt für den kleinen Aufsatz Wolff (1996). 20 Wolff (2000b); Wolff (2004b).

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gende Diskussionen verdanke ich den Treffen der interdisziplinären Forschergruppe des DFG-Gruppenprojekts, in das diese Forschung am Anfang eingebettet war. Stellvertretend für mehrere ehemalige Hilfskräfte, die mich in dem Projekt unterstützten, möchte ich Herrn Wigbert Lehner (mittlerweile Pfarrer in Oberampfrach) ganz herzlich danken. Stellvertretend für viele Kolleginnen und Kollegen, die sich mit dem jüdischen Kulturwandel befasst haben, möchte ich Prof. Dr. Simone Lässig, Braunschweig, für einen anregenden Austausch danken. Eine Vielzahl von Archiven und Bibliotheken bot mir die Möglichkeit, mich in die Quellen einzuarbeiten, auch wenn die Ergebnisse teils nur implizit in die Forschung eingeflossen sind. Viele wissenschaftliche Einrichtungen der Volkskunde, Medizingeschichte und der jüdischen Geschichte gaben mir die Möglichkeit, Zwischenergebnisse immer wieder zu referieren und zu diskutieren. Dr. Daniel Jütte, z. Zt. Cambridge MA, las das Manuskript dankenswerterweise vor seiner ersten Einreichung kritisch. Ganz besonders möchte ich schliesslich meiner Frau Prof. Dr. med. Iris Ritzmann sowie unseren beiden Töchtern Miriam und Leoni dafür danken, dass sie der Familie einen Alltag ermöglichten, in dem Wissenschaft und Familienleben gleichberechtigte Freunde sein konnten.

1.2 Juden und Medizin: Historisch-kulturwissenschaftliche Perspektiven Wenn diese Arbeit im breiten historischen Forschungsfeld zum Thema „Juden und Medizin“ angesiedelt ist, so muss sie in diesem auch genauer situiert werden. Das Thema hat in den letzten Jahrzehnten durchaus eine Konjunktur erlebt.21 Angesichts der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung dieser Arbeit ist hier von besonderem Interesse, in welchem Umfang und auf welche Art die neuere Literatur ebensolche Fragestellungen und Erklärungsansätze verfolgt hat. Das besondere Augenmerk liegt auf Arbeiten, die in den letzten drei Jahrzehnten erschienen sind und den hier untersuchten Zeitraum von etwa 1750 bis 1850 behandeln. Einzelne Ausgriffe in jüngere Zeiträume, etwa das 21 Das zeigt sich auch an einer Reihe von selbstständigen thematisch breiteren Veröffentlichungen bzw. Versuchen, einen Überblick über die Thematik zu vermitteln. Vgl. aktuell Jütte (2013). Zum Thema Deutschland verfolgt Efron (2001) einen breiten Ansatz und deckt den Zeitraum vom Mittelalter bis in die Weimarer Republik ab. Vom analytischen Ansatz her ist diese Arbeit der vorliegenden am engsten verwandt. Siehe auch den thematisch vielfältigen, v. a. internationalen Ansatz des Ausstellungskatalogs Berger (1997). Thematisch breit angelegt auch die u. a. von Albrecht Scholz und später lediglich Caris-Petra Heidel unter dem Reihentitel „Medizin und Judentum“ seit 1994 herausgegebenen Tagungsbände. Erschienen 1995 – 2000 in Dresden, seit 2002 in Frankfurt/M.

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Kaiserreich, kommen hinzu, wenn sie methodisch interessant erscheinen.22 Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass auch eine ausgiebige Literatur zu Juden und Medizin in Mittelalter und Früher Neuzeit existiert.23 Intendiert ist kein autoritativer und vollständiger Literaturbericht (auch keine Literaturkritik), sondern eine Übersicht von hier interessierenden Forschungsschwerpunkten und Fragestellungen anhand beispielhafter Veröffentlichungen. Die primär historische Beschäftigung mit dem Thema „Juden und Medizin“ reicht bis tief ins 19. Jahrhundert zurück24, hat seitdem eine kaum überschaubare Literatur hervorgebracht25 und ist selbst bereits Thema der Historiographie geworden.26 Sie ist ein Forschungsfeld, das im Wesentlichen von den Disziplinen „(Jüdische) Geschichte“ und Medizingeschichte bestritten wird. Die deutschsprachige volkskundliche Forschung zur jüdischen Geschichte hat sich kaum mit dem Einzelaspekt „Medizin“ befasst.27 Eine Ausnahme stellt die Münchner volkskundliche Dissertation von Christoph Maria Leder über den Berliner jüdischen Arzt des späten 18. Jahrhunderts Marcus Herz, seinen Berufsalltag und seine Identität dar, auf die unten noch genauer eingegangen wird.28 Die spezielle soziokulturelle Realität der Juden in der Geschichte als Gruppe mit einer besonderen rechtlichen Stellung, einer eigenen Religion und zum Teil eigenen Kultur sowie dem Umstand, dass sie von der Bevölkerungs22 Der Zeitraum des Nationalsozialismus wird hier ganz ausgelassen, weil er eine eigene, mittlerweile bibliotheksfüllende Literatur hervorgebracht hat. Ebenso wird hier das bisweilen apologetische Forschungsfeld nicht betrachtet, das eine auf der jüdischen Religion basierende Medizinethik untersucht. Häufig geht diese von einem ahistorischen Verständnis jüdischer Religion aus. Vgl. für dieses Forschungsfeld z. B. Rosner (1972), Feldmann (1986), Jage-Bowler (1999), Steinberg (2003), Kottek (1997). 23 Siehe zum Beispiel Ruderman (2010), Riedler-Pohlers (2011), Shatzmiller (1994), Jütte (1995), Jankrift (2004), Ritzmann (1998), Treue (1998), Hortzitz (1994), Rudermann (1995). 24 Z.B. Carmoly (1844). 25 Vgl. z. B. Koren (1973), S. 272 – 275, der lediglich allgemeinere Veröffentlichungen auflistet. 26 Jütte (2001), als Teil jüdischer Apologetik und Selbstverteidigung auch Efron (2001), S. 190 – 197. 27 Die Beschäftigung der deutschen Volkskunde mit dem Thema Juden war lange verbunden mit den Namen Christoph Daxelmüller, Utz Jeggle und Klaus Guth, geht aber weit darüber hinaus. Der erstere hat sich vor allem mit regionaler jüdischer Geschichte, jüdischer Erzählliteratur, jüdischer Volkskunde, der Kultur in Konzentrationslagern und regionalen Studien befasst. Als jüngeres Beispiel siehe etwa Daxelmüller/Flade (2005). Siehe auch Raphael (2001). Am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft existiert ein Arbeitskreis für Jüdische Studien. Vgl. Tübinger Korrespondenzblatt (2002). Neuerdings wurde dort die Analyse des Antisemitismus aus kulturwissenschaftlicher Perspektive angegangen. Vgl. Hoffmann u. a. (Hg.) (2006). Der Arbeitsschwerpunkt von Klaus Guth lag, ebenso wie der von Utz Jeggle, auf dem Thema „Landjuden“. Vgl. Guth (1988), Guth/Groiss-Lau (1995), Guth/Groiss-Lau (1999). Schliesslich hat sich Franziska Becker eingehend mit den Themen „lokale Erinnerung an die nationalsozialistische Judenverfolgung“ (Becker 1994) sowie der biographischen Erfahrung russisch-jüdischer Einwanderer nach Deutschland in der Gegenwart (Becker 2001) befasst. 28 Leder (2007).

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mehrheit in der Regel als etwas „Anderes“ angesehen wurde, hat die Thematik des Forschungsfeldes „Juden und Medizin“ entscheidend geprägt, so dass es kaum möglich ist, Arbeiten in diesem Forschungsfeld zu finden, die überhaupt keinen Bezug zu kulturwissenschaftlichen Fragestellungen haben. Die kulturwissenschaftlichen Ansätze sind lediglich sehr unterschiedlich stark ausgeprägt und differieren auch dahingehend, wie explizit sie ausgesprochen werden. Hinzu kommt der allgemeine historiographische Trend zu kulturgeschichtlichen Ansätzen. Er hatte zur Folge, dass auch in diesem Forschungsfeld typische Fragestellungen des Fächerkomplexes „Volkskunde, Ethnologie, Kulturwissenschaft“ deutlicher in den Vordergrund traten. Abstrakt gesprochen sind es im Wesentlichen Fragen nach Fremdstereotypen, Körperbildern oder kulturellen Wandlungsprozessen, welche die vorliegende Literatur auszeichnen. Konkret befassen sich neuere Arbeiten im Bereich „Juden und Medizin“ vor allem mit drei Themenkomplexen: mit jüdischen Ärzten, mit den Vorstellungen über eine spezielle Körperlichkeit von Juden, insbesondere den so genannten „Judenkrankheiten“, und mit religiös-rituellen Praktiken, die eine medizinische Relevanz besassen. Weitere Themen des Forschungsfelds „Judentum und Medizin“ sind in der Regel noch weiter von hier relevanten kulturwissenschaftlichen Fragestellungen entfernt und interessieren deshalb allenfalls am Rande, so etwa die Geschichte der jüdischen Hospitäler bzw. Krankenhäuser29 und Institutionen der Krankenversorgung30, jüdische Apotheker31, nichtärztliche Heiltätige32, die jüdische Krankenpflege33 oder jüdische Patienten34. Jüdische Ärzte

Ältere Arbeiten über jüdische Ärzte waren immer wieder geprägt von einer überkommenen kontributorischen und apologetischen Herangehensweise. Diese findet sich in neueren Veröffentlichungen nur noch selten so explizit wie etwa im Buch von Michael Nevins von 1996, das „den“ jüdischen Arzt durch die Geschichte als eine „universally admired figure“ und seinen Ruf als „intelligent, honest, and principled“ bezeichnet sowie die wissenschaftlichen Erfolge jüdischer Ärzte wie die Entdeckung des Salvarsans durch Paul Ehrlich anpreist. Selbst dieser Autor erkennt die Begrenztheit seiner Feststellung, wenn er die – allerdings erst am Schluss des Buches aufgeworfene – Frage offen lassen muss, „to what extent their Jewishness was instrumental in their ge29 Becker-Jakli (2004), Bolzenius (1994), Hartung-von Doetinchem/Winau (1989), Murken (1993/ 94). 30 Reinke (1999), Reichert (1993). 31 Leimkugel (1999). 32 Vgl. z. B. Kossoy (1992); s. a. Efron (2001), S. 87 f. 33 Z.B. Steppe (1997), Stürzbecher (1995), Käppeli (2004). 34 Vgl. z. B. Zinger (2009), Jütte (2005a), Goldberg (1996).

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nius“35. In der Tat erweist sich die etwas breiter formulierte Frage, wie weit der jüdische Hintergrund jüdischer Ärzte (bzw. Wissenschaftler) einen Einfluss auf ihre medizinische (bzw. wissenschaftliche) Praxis bzw. Existenz hatte, als ein bis in die jüngste Zeit letztlich ebenso ungelöstes wie zentrales methodisches Problem36 derjenigen Forschung über jüdische Ärzte, die über die Deskription hinausgehen will. Diese Problematik zieht sich auch durch die Bände der Dresdener Buchreihe „Medizin und Judentum“, insbesondere dem letzten. Während einige der Forschenden argumentieren, die medizinische Praxis bestimmter jüdischer Ärzte sei durch kulturelle jüdische Traditionen, Denkweisen oder ihre jüdische Erziehung beeinflusst, hegen andere hier deutliche Zweifel an solchen Traditionsketten und argumentieren, dass z. B. sozialpolitische Überzeugungen und Verhaltensweisen jüdischer Ärzte etwa auf zeitgenössische soziale oder politische Umstände zurückzuführen sind.37 Ein Problem des Aufbaus von Traditionsketten ist dabei die Annahme (oder Konstruktion) eines essentialistischen Begriffs des Jüdischen, der in diesem Band an zentraler Stelle infrage gestellt wird. Veröffentlichungen über jüdische Ärzte seit dem 18. Jahrhundert untersuchen in der letzten Zeit in der Regel38 deren stufenweisen „Aufstieg“ aus dem „Ghetto“ ins (Bildungs-)Bürgertum39 sowie deren „Eintritt“ in die akademische Medizin von der Studienmöglichkeit bis hin zu ersten regulären Universitätsprofessuren im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die 40 Jahre alte, aber immer noch grundlegende Studie von Monika Richarz über den Eintritt der Juden in die akademischen Berufe40 vertritt einen für ihre Zeit klassischen sozialhistorischen Ansatz, nämlich die detaillierte Dokumentation eines sozialen Prozesses, die auch vor Ausgriffen in alltagsgeschichtliche Fragen nicht zurückscheut, etwa die begrenzten Möglichkeiten jüdischer Studenten, am Studienort koscher zu essen. Richarz skizzierte darüber hinaus an einem Beispiel, wie neuzeitliche jüdische Ärztedynastien entstanden.41 Weitere, mehr deskriptiv orientierte Arbeiten wie die Biographie über den Celler jüdischen Arzt Philipp Simon Dawosky (1809 – 1885)42 oder seinen Lemförder Kollegen Philipp Wolfers (1796 – 1832) beschreiben darüber hinaus stärker das typische Aktivitätsspektrum dieser Ärzte: ihre medizinische Tätigkeit, 35 Nevins (1996), Klappentext, S. 125 f. 36 Siehe neuerdings die Arbeit zu den „jüdischen“ Gehalten von Albert Einsteins Wissenschaft Gimbel (2012) und die vernichtende Kritik daran durch Israel (2013). 37 Siehe meine Auseinandersetzung mit der Problematik und Warnung vor kurzschlüssig postulierten Zusammenhängen in Wolff (2012) am Beispiel von Heidel (2011). 38 Andere Herangehensweisen sind z. B. die dokumentarische (z. B. Komorowski 1991). Das Buch über den Arzt, Kant-Schüler und Philosophen Marcus Herz verfolgt eher einen geistes- bzw. philosophiegeschichtlichen Ansatz (Davies 1995). 39 Schlich (1990b). 40 Richarz (1974); vgl. auch die jüngere Zusammenfassung Richarz (1998). Als ähnlich gelagerte Lokalstudie vgl. Schlich (1990a). 41 Richarz (2005). 42 Hofmann/Lutteroth (2013).

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ihre Veröffentlichungen sowie ihr häufiges Engagement für die typischen Themen der Aufklärungsmedizin oder für jüdische Reformen sowie die Emanzipation allgemein.43 Eine Übersicht über neuere Forschungen dieser Art findet sich bei Jütte.44 Auch Leders einzelbiographische Darstellung von Marcus Herz kann am ehesten in die Gattung deskriptiver Arbeiten über jüdische Ärzte eingeordnet werden, und dies, obwohl sie den analytischen Anspruch verfolgt, die Identität dieses Arztes zu untersuchen. Trotz grossflächiger thematischer Überschneidungen der von Leder untersuchten Themen mit denen der vorliegenden Arbeit bieten sich doch praktisch keine systematischen Ansatzpunkte, sie für die letztere nutzbar zu machen. Leder interpretiert das Selbstverständnis von Herz als „Grenzgänge“ zwischen „fliessenden“ Identitäten, nämlich jeweils verschiedenen religiösen, medizinischen, politischen bzw. akademischen Identitäten und belässt es dabei weitgehend, ohne sie analytisch weiter nutzbar zu machen.45 Die Arbeit findet in diesem Sinne ihren Wert vor allem als detailreiche „mikrohistorische Berufsalltagsstudie“, als die sie der Autor an einer Stelle auch selbst bezeichnet.46 Wesentlich tiefer geht im Gegensatz dazu eine der jüngsten einschlägigen Arbeiten, der Aufsatz von Lois C. Dubin über den Trienter jüdischen Aufklärer-Arzt Benedetto Frizzi, der ganz in das Rollenmodell der in dieser Arbeit untersuchten jüdischen Ärzte passt.47 Dobin versucht das Nebeneinander von Frizzis medizinisch-aufklärerischem bzw. traditionskritischem Engagement und seiner apologetischen medizinischen Interpretation von Tora und Talmud (in seinen eigenen Worten: „un vero filosofico, e insieme religioso“) zu deuten, worauf zurück zu kommen sein wird. Der Zusammenhang zwischen der medizinischen Tätigkeit und dem jüdischen Hintergrund der Ärzte lässt sich bei den „jüdischen“ Themen noch einfacher herstellen. Er entsprang ihrer spezifischen Situation und ihren Interessen als (aufgeklärte) Juden. Ebenso stehen die komplementären Behinderungen dieses Eintritts und Aufstiegs und die beruflichen Zurücksetzungen dieser Ärzte wegen ihres jüdischen Hintergrunds bis hin zum allgemeinen medizinischen Antisemitismus in einem deutlichen kausalen Zusammenhang mit dem Judentum dieser Ärzte.48 Dieser Themenbereich stellt eine weitere 43 Storz (2005). Vgl. auch die Arbeiten über den westfälischen Arzt Alexander Haindorf: Herzig (1983), Brilling (1981/82). Die Übertragung der typischen Themen der Aufklärungsmedizin auf die Juden anhand einiger Beispiele in Efron (2001), S. 90 f. und davor. 44 Jütte (2005b). 45 Leder (2007), S. 294 f. Die hier zitierte Zusammenfassung beschränkt sich deshalb auch auf gut eine Druckseite. 46 Ebd., S. 42. 47 Dubin (2012). 48 Vgl. den historischen Übersichtsartikel von Kümmel (1998). Siehe auch das Kapitel „Before the Storm. Jewish Doctors in the Kaiserreich and the Weimar Republic“. In: Efron (2001), S. 234 – 264, zusammenfassend S. 11 f.

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typische Frageperspektive der Forschung dar. Zu nennen wäre etwa die Verweigerung von Positionen und Ämtern wie im Falle des Trierer Arztes Lion Nathan Bernkastel im frühen 19. Jahrhundert.49 Ein anderes, späteres Beispiel unter vielen wäre der versperrte Weg zur Professur für den ersten an der Berliner Universität habilitierten jüdischen Arzt Robert Remak (1815 – 1865).50 Eine stärker kulturwissenschaftliche Fragestellung zeigt sich dann, wenn diese Behinderungen nicht nur konstatiert, sondern etwa vor dem Hintergrund von Fremdstereotypen interpretiert werden oder die Reaktionsweisen der zurückgesetzten Juden darauf als Reaktionsmodelle untersucht werden, was allerdings seltener der Fall ist.51 Schwieriger wird es, den Konnex zwischen medizinischer Praxis und jüdischem Hintergrund (etwa bei der Vorliebe für den Arztberuf), die Art und Weise seiner Ausübung oder (eher für die Zeit ab dem Kaiserreich) für die Orientierung auf medizinische Spezialfächer52 bzw. den eventuellen medizinischen Erfolg herzustellen. Die auf Einzelbiographien basierende Literatur kann explizite oder direkte Verbindungen bzw. Kausalitäten dieser Art in der Regel kaum bis gar nicht plausibel machen.53 Die kollektivbiographische Literatur findet solche Verbindungen eher. So etwa ein Ansatz, der die Aktivitäten der Ärzte mehr oder weniger im Rahmen eines allgemeinen Akkulturations- oder Verbürgerlichungsprozesses interpretiert.54 Simone Lässig zum Beispiel untersuchte nicht primär Ärzte, sondern die allgemeine „Verbürgerlichung“ der Juden im frühen 19. Jahrhundert. Der Beruf des Arztes war ihr zufolge für die verbürgerlichungswilligen Juden eines der typischen Instrumente dieses Prozesses, nicht nur weil er den Juden offen stand, sondern auch 49 Kasper-Holtkotte (1993); Schlich (1993). Ein anderes Beispiel bietet wiederum Philipp Wolfers und die ihm versperrte Amtsarzt-Stelle. Vgl. Storz (2005), S. 71 – 76. 50 Schmiedebach (1995). Die Perspektive eines erfolgreichen Weges von Juden in die Universitäten vertritt Ebert (2008). 51 Dies macht in einem ersten Ansatz z. B. Kasper-Holtkotte (1993), indem sie die letztliche Konversion des Arztes Lion Nathan Bernkastel als Reaktion auf die Zurücksetzungserfahrungen deutet. 52 S. z. B. Baader (1997), Teichler (1996), Krauss (1995). 53 Beispiele hierfür liefern immer wieder die biographischen Beiträge zur Reihe „Judentum und Medizin“ für die Zeit des Kaiserreiches und die Weimarer Republik. Vgl. Scholz/Heidel (1995 ff.). Explizit eine Verbindung herzustellen versucht Kreft (2005). In einem weiteren Beitrag des Bandes kann Kreft die Goethe-Begeisterung von Ludwig Edinger, auch im Zusammenhang mit seinem wissenschaftlichen Arbeiten, ebenfalls nur kollektivbiographisch über die allgemeine „Goethe-Begeisterung“ der Juden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mit Edingers jüdischem Hintergrund zusammenbringen und nicht direkt aus den biographischen Quellen schliessen. Zum Teil intendieren die Autoren das schwierige Unterfangen einer Verbindung zwischen medizinischer Existenz und jüdischem Hintergrund auch gar nicht. So z. B. Schmidt (2002). 54 Siehe z. B. Kasper-Holtkotte (1993). Sie beschränkt sich z. B. darauf, die Biographie Bernkastels als „repräsentativ“ (141), später nur noch als „beispielhaft“ (160) für die jüdischen Ärzte dieser Zeit zu bezeichnen, aber benennt kaum, was daran nun repräsentativ ist. Sie nennt seine Aktivitäten „Akkulturationsbemühungen“, ohne diese weiter zu analysieren.

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weil er sozialen Aufstieg ins Besitz- oder Bildungsbürgertum ermöglichte, über das doppelte Prestige von Arzt und Akademiker viel kulturelles Kapital lieferte und mit nur geringem Startkapital einen Einstieg in einen selbständigen bürgerlichen Beruf offerierte.55 Dies ist auch eine Antwort auf die Frage nach der Attraktivität des Arztberufes für die Juden dieser Zeit. Auch die ausgesprochen starke Verinnerlichung des ärztlichen Rollenmodells bei jüdischen Ärzten wird in Verbindung mit ihrem jüdischen Hintergrund gebracht. Efron etwa hat dies anhand der Distanzierung von Vertretern nichtakademischer Heilberufe nachgezeichnet.56 Der Wandel des jüdischen Arztes vom „Rabbiner-Arzt“, der um die Legitimation der Wissenschaft durch die Religion bemüht war, zum säkularen jüdischen Intellektuellen seit den Anfängen der Haskala war ein Vorbote der Modernität für die jüdische Gesellschaft, indem er ein neues, modernes jüdisches Rollenmodell vorlebte.57 Dies wird in der vorliegenden Arbeit ein Thema sein. Für die Kaiserzeit wurde darüber hinaus besonders die Übernahme wissenschaftlicher Standards wie der medizinischen Statistik durch jüdische Ärzte hervorgehoben und in Zusammenhang mit Akkulturationswünschen gestellt.58 Ein weiterer Ansatz, eine Verbindung zwischen beruflicher Praxis und jüdischem Hintergrund zu ziehen, zielt ebenfalls auf den Zeitraum seit dem Kaiserreich und soll hier ausführlicher dargestellt werden, weil er methodisch interessant ist. Es handelt sich um den breit rezipierten Versuch von Shulamit Volkov aus den 1980er Jahren, den aussergewöhnlichen Erfolg von Naturwissenschaftlern allgemein (nicht nur Ärzten) mit jüdischer Abstammung seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung zu erklären.59 Die um diese Publikation entstandene Debatte kann hier nur in sehr groben Zügen skizziert werden. Volkov referiert und kritisiert zunächst ältere Versuche, den Konnex zwischen dem Erfolg von Wissenschaftlern und ihrem jüdischen biographischen Hintergrund zu erklären. Diese Versuche haben eine lange Tradition und greifen teils auf „Kultur“ als Erklärungsmuster zurück: etwa die jüdische Tradition von Bildung und Gelehrsamkeit, den „schöpferischen Skeptizismus“ der Juden als Randgruppe, der sie weniger abhängig von Dogmen gemacht habe, oder die gleichzeitig im Judentum verbreiteten wie in der Wissenschaft geforderten Werte eines „normativen Universalismus“ und der

Lässig (2004), v. a. S. 596 – 614. Efron (2001), S. 82 – 86. Efron (2001), S. 31 und davor, 61 f., 265. John Efron und Klaus Hödl haben diese Akkulturationswünsche als so stark bezeichnet, dass die jüdischen Wissenschaftler sogar solche zeittypischen medizinisch-wissenschaftlichen Denkmodelle verinnerlicht hätten, die gemeinhin gegen Juden gerichtet waren, wie das Rassenkonzept und die damit verbundene Vorstellung typischer Judenkrankheiten. Allerdings hätten die jüdischen Ärzte sie anders interpretiert. Vgl. Efron (1994), Hödl (1998). 59 Volkov (1990). Vgl. auch Gilman (1998).

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Unvoreingenommenheit.60 Volkov zieht diese Erklärungsversuche mehr oder weniger in Zweifel und setzt ihnen eine zwischen Sozial- und Kulturgeschichte angesiedelte Deutung entgegen. Mitverantwortlich für den Erfolg sei eine Kombination von Aufnahme und Ausschluss dieser Forscher in der deutschen Wissenschaft gewesen. Ressentiments gegen sie als Juden hätten ihnen berufliche Chancen nur in marginalen Forschungsgebieten und weniger zentralen Forschungsinstitutionen eröffnet. Hier seien aber kreative Nischen entstanden, welche die Fächer und Orte dann wiederum im Verlauf der damaligen dynamischen Entwicklung der Naturwissenschaften zu Innovationszentren gemacht hätten. Diese Forscher hätten so die Vorteile der Diskriminierung nutzen können und dadurch wiederum überdurchschnittlichen Erfolg in der Wissenschaft gehabt. Eine Illustration dieser These könnte die Person des neuerdings genauer untersuchten Hirnforschers Ludwig Edinger (1855 – 1918) abgeben. Als er nach seiner erfolgreichen Giessener Habilitation merkte, dass er als nicht konvertierter Jude kaum Aussichten auf einen Lehrstuhl hatte, liess er sich in Frankfurt/M. als Neurologe nieder und arbeitete parallel in der nicht universitären Senckenbergischen Gesellschaft mit, wo er seinen Forschungen zur Hirnanatomie nachgehen und wissenschaftliche Anerkennung erwerben konnte. Vier Jahre vor seinem Tod erhielt er dann doch noch eine Professur, und zwar das erste Ordinariat für das Fach Neurologie in Deutschland an der neu gegründeten Universität Frankfurt/M.61 So eingängig Volkovs Erklärungsansatz ist, so sehr wurde er in der Folge zwar nicht verworfen, aber seinerseits der Kritik unterzogen und weitergedacht, nicht zuletzt von der Autorin selbst.62 Dabei übernahm sie aus der Wissenschaftsforschung ein Modell zweier unterschiedlicher „Wissenschaftskulturen“ bzw. „intellektueller Profile“, nämlich die Unterscheidung von wissenschaftlich breit ausgerichteten „Generalisten“ oder „Comprehensives“, die gleichzeitig auch ein besonderes Interesse an Hochkultur gezeigt hätten, und „Pragmatikern“ bzw. „Spezialisten“, die Traditionen eher ablegten. Im Gegensatz zu anderen Forschern fand Volkov unter den erfolgreichen Wissenschaftlern mit jüdischem Hintergrund eher „Generalisten“ und schloss daraus: Jüdische Wissenschaftler konnten ihre Diskriminierung „auch deshalb überwinden […], weil sie meist genau darauf achteten, kulturell innerhalb des Mainstreams der deutschen Wissenschaftsgemeinde zu bleiben“. Dies habe sie bis zur zweithöchsten Stufe wissenschaftlichen Erfolgs gebracht. Auf der höchsten Stufe waren sie weniger vertreten, dort war der Platz für die „Pragmatiker“ und Spezialisten.63 Eine Auseinandersetzung jüngeren Datums mit den ersten Thesen von 60 61 62 63

Volkov (1990). So auch von ihr selbst referiert in: Volkov (2001b), hier S. 139 f. Kreft (2005), passim. Volkov (2001b) , S. 142 ff. Volkov (2001b), S. 163 f.

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Volkov hat der Wissenschaftshistoriker Mitchell Ash vorgelegt64. Ohne ihre Ergebnisse ganz verwerfen zu wollen, formuliert er zunächst starke methodologische Zweifel, etwa an Volkovs Begriff der Peripherie, fordert eine Differenzierung nach einzelnen Disziplinen und warnt davor, entwickelte Erklärungsmuster deterministisch zu verstehen.65 Als Parallele zu den Naturwissenschaftlern untersucht Ash Psychologen und Sozialwissenschaftler mit jüdischem Hintergrund. Allerdings rückt Ash im Verlauf seines Aufsatzes von der Frage des wissenschaftlichen Erfolgs ab und orientiert sich an der Frage nach der Attraktivität dieser Fachrichtungen für Wissenschaftler und für Karriereverläufe mit jüdischem Hintergrund. Methodisch geht Ash noch einen Schritt weiter als Volkov in Richtung auf die Untersuchung der wissenschaftlichen Inhalte. Während Volkov bei formalen Karriereverläufen begonnen und sich dann zu Wissenschaftsstilen weitergearbeitet hat, legt Ash den Schwerpunkt noch mehr auf die Forschungspraxis. Die untersuchten Sozialwissenschaftler mit jüdischem Hintergrund zeichneten sich Ash zufolge dadurch aus, dass sie im Gegensatz zu nichtjüdischen Kollegen eher die gesellschaftliche Modernisierung in ihre Wissenschaft mit einbezogen, etwa mit einer technologischen Sicht auf die soziale Sphäre. Jüdische Psychologen z. B. beteiligten sich enthusiastisch an Rationalisierungs- und Technologisierungstendenzen der Bildungs- und Sozialpolitik, die nur in Kooperationen mit ausseruniversitären Einrichtungen erreicht werden konnten. Damit ergriffen jüdische Wissenschaftler die Möglichkeit, die Inhalte und Praktiken dieser dynamischen Disziplinen zu modernisieren. Eine Verbindung dieser Forschungspraxen mit ihrem jüdischen Hintergrund stellt Ash her, indem er diese mit einem sehr allgemein formulierten Modernisierungstrend des deutschen Judentums verbindet, der sich neben einer Säkularisierung in einer starken Identifikation mit dem Staat, in dem sie lebten, zeigte. Es kann hier nicht darum gehen, die Plausibilität der vorgestellten Ansätze zu bewerten. Angesichts ihrer offensichtlich hohen Kritikanfälligkeit und der geringen Strukturiertheit der Debatte kann man sich aber doch des Eindrucks schlecht erwehren, dass dieser Forschungsbereich noch weit davon entfernt ist, allgemein akzeptierte Erklärungen hervorgebracht zu haben. Auch Volkov hat sich 2008 zu dieser Frage eher resignativ geäussert.66 Es ging in unserem Fragezusammenhang auch eher darum zu zeigen, wie die Forschung auf der einen Seite gerne auf kulturwissenschaftliche Ansätze wie jüdische Traditionen und Modernisierungsprozesse oder wissenschaftliche Kulturen bzw. Praxen zurückgreift, um Zusammenhänge – hier zwischen Judentum und 64 Ash (2004). 65 Die von Volkov als „Peripherie“ bezeichneten Forschungsorte seien z. T. wissenschaftlich keineswegs peripher gewesen. Ash (2004), S. 248, 267. 66 Volkov (2008), S. 665: „ (…) hinsichtlich der bemerkenswerten Fälle, in denen die Juden sowohl klar überrepräsentiert als auch besonders sichtbar schienen, (…) gab und gibt es, meines Erachtens, keine allgemein- und alleingültige Erklärung. Wahrscheinlich wird es eine solche auch nie geben.“

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Wissenschaft – zu ergründen. Auf der anderen Seite ging es darum zu illustrieren, wie schnell dieser Weg methodisch problematisch werden kann. Wenn es in der vorliegenden Arbeit nun ebenfalls um jüdische Ärzte geht, so soll als methodische Konsequenz aus dieser Forschungssituation einerseits darauf geachtet werden, nicht bei der sicheren, aber weniger erkenntnisfördernden historischen Deskription zu verharren, andererseits aber auch nicht in ein methodisch problematisches Fahrwasser zu gelangen. Am vielversprechendsten und dem Thema am meisten angemessen erscheint es somit, die einigermassen sicheren Ansätze weiterzuführen, die mit dem Begriff der „Akkulturation“ verbunden sind.

Der „jüdische Körper“ und „Judenkrankheiten“ Der zweite grosse thematische Schwerpunkt der Forschungen im Zusammenhang mit Judentum und Medizin befasst sich mit den Vorstellungen über eine spezielle Körperlichkeit von Juden, insbesondere den so genannten „Judenkrankheiten“. Hier ist in den letzten Jahren eine grosse Anzahl von Untersuchungen erschienen. Eine Nähe zu kulturwissenschaftlichen Ansätzen haben viele von ihnen alleine schon durch die Körper-Thematik. Aussagen, dass bestimmte Krankheiten unter Juden verbreiteter oder weniger verbreitet seien als in der restlichen Bevölkerung, ziehen sich durch die Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart.67 Sie wurden ebenso von Nichtjuden wie auch von Juden geäussert und konnten ebenso negativ wie positiv konnotiert sein. Die Begründungen waren ebenso vielfältig wie z. T. auch widersprüchlich und erscheinen aus einer heutigen (wiewohl ahistorischen) Perspektive vielfach aberwitzig. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde die Frage der „Judenkrankheiten“ verstärkt diskutiert. Während bis dahin eher soziale Ursachen für bestimmte Krankheitsprävalenzen unter Juden verantwortlich gemacht wurden, waren es aufgrund der sich ausbreitenden Ideen der Rassenlehre nun vor allem biologische. Mitverantwortlich für die vermehrte Beschäftigung mit dem Thema waren auch neue Methoden der sich etablierenden Sozialstatistik. Historische Untersuchungen über „Judenkrankheiten“ stehen vor dem nicht immer explizit gemachten Problem, ob sie die historischen Behauptungen etwa einer bestimmten Krankheitsprävalenz als Faktum oder lediglich als Ausdruck bestimmter Sichtweisen auf den jüdischen Körper ansehen.68 Viele der Arbeiten beschränken sich auf den letzteren Aspekt. Wer beides gleichzeitig macht, steht vor dem Problem, entscheiden zu müssen, welche 67 Vgl. die Übersicht von Jütte (1998). 68 Eine der umfangreichsten Darstellungen der Untersuchungen über „Judenkrankheiten“ versucht in Ihrer Zusammenfassung, die Verlässlichkeit des dargelegten Materials einzuschätzen. Tschoetschel (1990).

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Quellen nun einen wesentlichen Realitätsgehalt haben und welche vor allem Ausdruck a priori bestehender Stereotype vom jüdischen Körper sind.69 Durch die historische Literatur zu den „Judenkrankheiten“ zieht sich – explizit oder implizit – die Fragestellung, wie „der jüdische Körper“ als angenommene Entität zum Ort der Definition des typisch Jüdischen gemacht wurde. Die Untersuchungen zeigen, wie dieser gedachte Körper zum Feld wird, auf dem Sichtweisen und Stereotype vom Jüdischsein verhandelt werden. Mit der Fragestellung nach Fremd- und Selbstbildern weist sich diese Literatur zusätzlich deutlich als kulturwissenschaftlich aus. Die untersuchten Stereotype betreffen häufig eine höhere Krankheitsanfälligkeit als in der nichtjüdischen Bevölkerung und beinhalten damit herabsetzende Vorstellungen über Juden, doch auch eine angenommene geringere Krankheitsdisposition wurde als Konstruktion einer (diesmal positiven) Andersartigkeit und damit als vorurteilsgeladenes Stereotyp interpretiert.70 Einige Beispiele: Darstellungen einer besonderen Häufigkeit, mit welcher Juden in Osteuropa 1830 von der Cholera heimgesucht wurden, zementierten das Klischee des armen und schmutzigen Juden dort. Solche antijüdischen Klischees korrespondierten auch mit anderen Klischees wie denen von Armen und von Osteuropäern.71 Um 1900 war der Topos des „nervösen Juden“ verbreitet. Die neuere Literatur deutete ihn nicht nur als antisemitisches Stereotyp, sondern auch allgemeiner als Teil der generellen Konstruiertheit psychiatrischer Krankheitsbilder.72 Viele Autoren konzentrieren sich mehrheitlich auf das Fremdstereotyp der christlichen Gesellschaft vom krankheitsanfälligen Juden. In unserem Fragezusammenhang nach dem jüdischen Selbstverständnis sind jedoch diejenigen Arbeiten von Interesse, welche das Selbststereotyp, also etwa Vorstellungen jüdischer Ärzte vom jüdischen Krankheitszustand und vom jüdischen Körper untersuchen. Eine neuerdings häufiger, aber nur in Ansätzen körpergeschichtlich untersuchte jüdische Quelle dieser Art ist das Buch des Arztes Elcan Isaac Wolf „Von den Krankheiten der Juden“ von 1777, die erste selbständige Schrift dieses Genres: Wolf beschreibt zum einen das Bild des sozial benachteiligten, daher armen und deshalb schliesslich kranken Juden, der z. B. eine schlechte Verdauung habe, weil er aus notwendiger Geschäftigkeit hastig essen oder gar Mahlzeiten überspringen müsse, sich zu wenig bewege und ein Nervenhypochonder sei. Zum anderen malt Wolf als Maskil bzw. jüdischer Reformer das Negativbild des traditionellen und wegen der damit verbundenen „Missbräuche“ kranken Juden, der Hautausschläge wegen seiner 69 Vor allem Efron (2001) nutzt die Quellen, die über jüdische körperliche Befindlichkeiten schreiben, auf der einen Seite, um sie als Stereotype und Konstrukte zu demaskieren, andererseits, wie z. B. beim Thema des offenbar geringeren Alkoholismus unter den Juden, um diesen als Realität nachzuweisen. 70 Vgl. z. B. Hödl (2002), Hödl (2001). 71 Vgl. z. B. Wolff (2000b). 72 Kury (2008), Kaiser u. a. (2003). S.a. Efron (1992).

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Kopfbedeckung habe oder wegen seiner Art zu beten in der Gefahr stehe, wahnsinnig zu werden.73 John Efron hat diese Quelle mehr als andere Autoren körpergeschichtlich interpretiert. Er spannt einen Bogen über 125 Jahre von Wolf bis zur Zeit um 1900, in der Schriften zionistischer und nichtzionistischer jüdischer Ärzte über das spezifisch jüdische Krankheitsspektrum entstehen. Auffallend sei, wie ähnlich in diesen Schriften Juden auf der Basis ihrer Körperlichkeit als etwas physisch Anderes, häufig Minderwertiges dargestellt wurden. Der jüdische Körper wurde mit den Attributen „krank, schwach und verweiblicht“ assoziiert und dies oft auf die Nerven der Juden bezogen. Juden hätten dabei vielfach die Vorstellungen von Nichtjuden über die spezielle Körperlichkeit der Juden übernommen, jedoch unterschiedlich gedeutet und versucht, den kranken jüdischen Körper zu „verbessern“. Es sei vor allem der Zionismus gewesen, der ein neues, ins Positive gewandeltes jüdisches Körperbild mit Begriffen wie „Gesundheit, Stärke, Männlichkeit“ proklamiert hätte.74 Diese Ärzte nutzten auch Statistiken, die eine geringere Anfälligkeit von Juden für bestimmte Krankheiten postulierten (z. B. Tuberkulose oder Geschlechtskrankheiten) und erklärten diese etwa mit der medizinischen Wirkung der jüdischen Reinheitsgesetze oder der Ernährungsvorschriften.75 Für die vorliegende Arbeit mit ihrer Frage nach jüdischer Identität und jüdischem Selbstverständnis ist hier die These Efrons von Bedeutung, die sich durch sein gesamtes Buch zieht: dass nämlich seit dem späten 18. Jahrhundert das Judesein von aussen wie von innen nicht mehr nur geistig (als „Volk des Buches“), sondern von der Haskala bis ins Kaiserreich zunehmend auch über den Körper (und später zudem psychologisch76) definiert wurde.77 Allerdings umfasst unser Untersuchungszeitraum den Anfang dieses Prozesses, der sich erst mit dem Kaiserreich und der damaligen breiten Debatte um die Judenkrankheiten voll entfaltet. Sozusagen als Antwort auf vielfältige Forschungen über Bilder vom „kranken Juden“ hat Mitchell B. Hart zusammengefasst, wie jüdische Kultur und Religion seit biblischen Zeiten, vor allem aber ab dem späten 19. Jahrhundert, als gesundheitsförderlich dargestellt wurden und wie die moderne Medizin auf jüdische Gesundheitskonzepte zurückgriff.78 73 Kottek (2000), insbesondere S. 12 – 14, Efron (2001), S. 69 – 77, Jütte (1998), S. 135, Efron (1995). Indes haben diese Arbeiten keine elaboriert körpergeschichtlichen Ansätze. 74 Efron (2001), S. 63 – 104, 105 – 150. 75 Nikolow (1998), S. 45, Jütte (1998), S. 139. Die Verbindung aus Ernährungsvorschriften und Tuberkuloseanfälligkeit bei Efron (1998), S. 84. 76 Hinzu komme eine neue, zwischen Körperlichem und Geistigem angesiedelte Definition des Juden, diejenige des „Psychological Jew“. Der Diskurs über den mentalen Zustand der Juden hätte nämlich dazu geführt, dass Juden zunehmend über ihre psychischen Eigenschaften definiert worden seien. Psychologen hätten so zu einer neuen Dimension jüdischer Identität beigetragen, die letztlich in den oft beschworenen jüdischen „Selbsthass“ gemündet sei. Efron (2001), S. 151 – 185, vor allem S. 184 f. 77 Efron (2001), S. 4, 63, 105. 78 Hart (2007).

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Ein anderer Forschungsstrang nähert sich den Bildern vom „jüdischen Körper“ nicht über Krankheiten, sondern über angebliche körperliche Merkmale. In der breiten historischen Forschung darüber steht das Nachzeichnen und die Untersuchung speziell antijüdischer Stereotype im Vordergrund. Sander Gilman, bekanntester Vertreter dieser Forschungsrichtung, untersuchte etwa die historischen Äusserungen über „den jüdischen Fuss“. Sei es nun wegen ihrer falschen Lebensweise oder ihrer evolutionären Zurückgebliebenheit, die Juden hätten häufiger Plattfüsse, eine schwächere Wadenmuskulatur und dadurch einen typisch jüdischen Gang. Später wurde die Argumentationskette bis hin zur psychischen Schwäche und Hysterie der Juden weitergeführt.79 In der Debatte des 19. Jahrhunderts stand besonders im Vordergrund, dass Juden aufgrund ihrer speziellen Fussbeschaffenheit keine guten Soldaten abgäben und deshalb auch nicht gleichberechtigt in den Staat integriert werden könnten. Auch Gilman versucht zu zeigen, wie der jüdische Körper im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund des Antijudaismus und Antisemitismus als etwas „Anderes“ und im Vergleich zu dem Christen Minderwertiges, ja Degeneriertes konstruiert wurde. Ebenso zeichnet Klaus Hödl nach, wie der Antisemitismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Juden als körperlich „anders“ dargestellt hat. Allerdings hebt Hödl nicht wie Gilman darauf ab, wie die Juden über ihren Körper als staatsbürgerlich minderwertig hingestellt werden, sondern wie die (männlichen) jüdischen Körper als verweiblicht dargestellt werden.80 Auch für Hödl geht es in erster Linie um das Nachzeichnen des Antisemitismus als Teil des Stereotypendenkens anhand von Körperbildern. Auf den Körper bezogene Stereotype über Juden und ihre angenommene Andersartigkeit mussten nicht allein Pathologisierungen sein, wie die Bilder vom schmutzigen Juden81, von der „schönen Jüdin“82 oder dem „hässlichen Juden“83 zeigen. Das Letztere bezeugt nach Gilman die Vorstellung, dass der schlechte Charakter der Juden in ihrem Körper eingeschrieben sei. Als Beispiele nennt er etwa abstehende Ohren, eine typische „jüdische“ Nase oder eine weibliche „jüdische“ Fettleibigkeit. Das Thema ist eines der nicht so häufigen Beispiele, in dem die Forschung über die Diagnose von Fremdstereotypen hinausgeht in Richtung historischer Körperpraxis. Nach Gilman haben nämlich viele Juden diese Vorstellungen selbst verinnerlicht. Aus dem Wunsch, nicht mehr „jüdisch“ auszusehen, sei die im frühen 20. Jahrhundert entstehende ästhetische Chirurgie durch Juden forciert worden.84 Eine weitere Reaktionsweise war wiederum die Proklamation eines Gegenmodells: die zionistische Forderung nach einer Art jüdischer „Wiedergeburt“, dem neuen 79 80 81 82 83 84

Gilman (1990). Siehe auch allgemeiner in Gilman (1991a); Picard (2012). Hödl (1997). Efron (1998). Kohlbauer-Fritz (1998). Gilman (1998). Gilman (2001).

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„Muskeljuden“ (im Gegensatz etwa zum Klischee des unsportlichen, schwächlichen „Talmudschülers“), wie ihn der Arzt und Vizepräsident des ersten Zionistenkongresses Max Nordau forderte.85 Selten nur geht die Literatur über den Ansatz hinaus, Stereotype über den jüdischen Körper zu untersuchen. Einen Versuch dieser Art hat Thomas Schlich mit einem Aufsatz über den „lebenden und den toten Körper“ im Judentum gemacht.86 Er untersucht innerjüdische Vorstellungen vom Körper und entsprechende Praktiken an Beispielen wie der jüdischen Beschneidung als körperlichem Merkmal des Jüdischseins oder der jüdischen Beerdigungskultur (inklusive Autopsien und Kremation). So erreichte die schnelle Beerdigung zeitweise den Status eines Symbols jüdischer Identität. Allerdings konzeptualisiert und differenziert Schlich die Einzelbefunde nicht weiter. Hier scheint ein eigenes Forschungsfeld auf mit Fragen wie: Welche Umgangsweisen mit dem Körper zeigen sich unter Juden zu bestimmten Zeiten und in bestimmten jüdischen Gruppen? Welche Vorstellungen über den Körper bestehen? Wie spezifisch sind sie für die Juden? Wie weit spiegelt sich jüdische Identität in Vorstellungen vom Körper und Umgang mit ihm?87 Die vorliegende Arbeit wird diese Fragen allerdings kaum behandeln können. Forschungen über angebliche jüdische Körpermerkmale sind damit weitgehend Forschungen über Fremdstereotype des Jüdischen. Für die vorliegende Arbeit mit ihrer Fragestellung nach dem Erhalt bzw. der Modernisierung jüdischer Identität bildet die sonst wichtige Frage nach Fremdstereotypen allenfalls einen Hintergrund des untersuchten innerjüdischen Prozesses, etwa in dem Kapitel, in dem an einem Beispiel der christliche Assimilationsdruck auf jüdische Ärzte untersucht wird (2.2). Als Selbstbilder waren diese Stereotype vor allem in einem späteren Zeitraum als dem hier untersuchten wirksam, weshalb sie in dieser Arbeit nicht wieder aufgegriffen werden. Die vorliegende Arbeit ist deshalb streng genommen keine über den „jüdischen Körper“. Religiöse Praktiken / religiös-rituell bestimmte Lebenspassagen Der dritte und letzte Themenkomplex, der in der Forschung zu „Medizin und Judentum“ in der neueren Zeit besondere Beachtung gefunden hat, sind religiös-rituelle Praktiken, die mit Fragen der Medizin und Gesundheit in Verbindung gebracht wurden. Konkret sind es im Wesentlichen die Beschneidung der Knaben am achten Tag nach ihrer Geburt, die schnelle Beerdigung der 85 Gilman (1998), S. 69, Nikolow (1998), S. 54. Vgl. auch Todd (2007) sowie Wildmann (2006, 2009); Mendelsohn (2009); Presner (2007). 86 Schlich (1998). 87 Fragen wie diesen nähert sich ansatzweise Sylvie-Anne Goldberg in ihrer von der AnnalesSchule beeinflussten Arbeit über den Tod im Judentum im Spiegel der Prager Beerdigungsbruderschaft vom 16. bis ins 19. Jahrhundert. Goldberg (1996).

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Toten, die jüdischen Ritualbäder (Mikwen)88 und die Speisevorschriften. Gemeinsam ist ihnen, dass sie spätestens seit dem 18. Jahrhundert in den Strudel der Kritik jüdischer wie nichtjüdischer Aufklärer und damit in den Diskurs um die so genannte „bürgerliche Verbesserung der Juden“ gerieten. Anhand dieser Beispiele wurden Modernisierungsdebatten geführt und ganz speziell das Verhältnis von Medizin und Religion verhandelt. Die Themen sind unter diesem Aspekt zentrale Fragen von Akkulturation und kulturellem Wandel. Wie sehr die Beschneidung und die schnelle Beerdigung vor dem medizinischen Hintergrund innerjüdisch diskutiert wurden und wie weit diese Debatten zu einer Modernisierung jüdischer Identität beitrugen, behandeln eigene Kapitel dieser Arbeit (3.3, 3.4). Dort findet sich dann auch eine spezifische Auseinandersetzung mit der entsprechenden bestehenden Forschungsliteratur. Hier geht es, soweit die Abtrennung möglich ist, lediglich um die Bereiche der Literatur, die über den Gegenstand und die Fragestellung dieser Arbeit hinausreichen. Die Darstellung beschränkt sich dabei im Wesentlichen auf die Literatur zur Beschneidung. Die Forschungen über andere Praktiken wie die frühe Beerdigung sind vom Umfang her geringer und stellen sich hinsichtlich Ausrichtung und Fragestellungen verhältnismässig ähnlich dar. Die vielfältige Literatur über die jüdische Beschneidungsfrage89 untersucht schwerpunktmässig die grosse Debatte für und wider die Beschneidung um das Jahr 1844, die dadurch ausgelöst wurde, dass ein reformorientierter Vater in Frankfurt/M. sich geweigert hatte, seinen Sohn beschneiden zu lassen, aber trotzdem Mitglied der jüdischen Gemeinde bleiben wollte.90 Ähnliche Fälle hatte es vorher bereits gegeben und sollten später auch noch vorkommen, allerdings wurden sie dann nicht so umfangreich debattiert. Der Fall und sein Umfeld wurden von der neueren Forschung bereits mehrfach detailliert dargestellt. Die spezifischen Fragestellungen und Ergebnisse, die sie aus diesen Fällen ableitet, sind indes nicht immer so klar und müssen für diese Darstellung zugespitzt werden. Das erste wesentliche aus der Frankfurter Beschneidungsverweigerung entstehende Problem war, ob ein unbeschnittener Jude als Jude anzusehen sei oder nicht. Robin Judd untersuchte in einem Aufsatz, wie die Beschneidungsfrage dementsprechend Fragen nach dem jüdischen Selbstverständnis als Gruppe (allerdings jenseits medizinisch-gesundheitlicher Fragen) hervorbrachte: Sollen die Juden nun als Volk, als Nation oder als Religion verstanden werden?91 Jacob Katz hat sich in seinem Buch über halachische Flexibilität mit der Frage befasst, wie sehr die Beschneidungsdebatte Ausdruck eines gewandelten 88 89 90 91

Schlich (1995c). Siehe allgemein z. B. Gollather (2002). Z.B. Meyer (1990). Judd (2003); s.a. Judd (2007a/b).

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Umgangs mit dem jüdischen Religionsgesetz war.92 Katz will zeigen, welchen Autoritätsverlust die Halacha oder halachische Argumentationsweisen innerhalb des Judentums dieser Zeit erlebten. Im Frankfurter Fall ging es vor allem um die Frage, ob der renitente Vater exkommuniziert werden könne und solle. Hierzu war es notwendig, den halachischen Status der Beschneidung zu bestimmen, denn nur wenn diese eine höhere Bedeutsamkeit hatte als andere Religionsgesetze, die immer wieder und ohne schwerwiegende Konsequenzen übertreten wurden, konnte die harte Massnahme der Exkommunikation legitimiert werden. Der Frankfurter Oberrabbiner holte deshalb in einem Rundschreiben eine grosse Anzahl rabbinischer Gutachten ein, die die Quellenbasis der Analyse von Katz ausmachen. Reformrabbiner stellten demnach die halachische Bedeutung der Beschneidung in Frage, indem sie sie etwa als einen aus anderen Religionen übernommenen Brauch verstanden. Konservative Verteidiger der herkömmlichen Beschneidungspraxis hatten demgegenüber Probleme, die von ihnen favorisierte und für die Exkommunikation notwendige grundsätzliche Bedeutung der Beschneidung alleine halachisch zu begründen, weshalb sie zusätzlich auch auf ideologische Argumente oder auf das christliche Konzept des „Sakraments“ zurückgriffen.93 An dieser Stelle zeigt sich Katz zufolge der Autoritätsverlust halachischer Argumentation am deutlichsten. Solche konkurrierenden Interpretationen des jüdischen Religionsgesetzes und Verschiebungen der Einflusskräfte werden auch in dieser Arbeit Thema sein, allerdings nur wenn sie enger auf medizinische Fragen bezogen sind. Untersuchungen wie die von Katz werden dann einen wichtigen Hintergrund bilden. Parallel dazu behandelt Katz aber auch einen weiteren, in unserem Zusammenhang wichtigeren Umstand, nämlich dass die Beschneidung mit der Debatte um ihren Status und ihre Reform keinesfalls dabei war, ihre allgemeine Bedeutung im Judentum zu verlieren: Er weist darauf hin, dass nur wenige Reformer damals nämlich eine generelle Abschaffung der Beschneidung forderten. Die strenggläubigen Juden wiederum hätten die Beschneidung verteidigt, weil sie ihre Wichtigkeit jenseits formaler halachischer Regeln erkannt hätten. Katz nennt dies ihren „ritual instinct“.94 Damit verfolgt Katz – eher nebenbei – die Fragestellung nach dem Bedeutungswandel der Beschneidung im Judentum dieser Zeit von der selbstverständlichen religiösen Praxis zu einem der wesentlichen Zeichen des Judeseins – und zwar genauso auf reformerischer wie auf orthodoxer Seite. Er wirft so, ohne dies explizit zu machen, eine noch mehr kulturwissenschaftlich ausgerichtete Frage auf, die 92 Katz (1998). Kapitel „The Struggle Over Preserving the Rite of Circumcision in the First Part of the Nineteenth Century“ (S. 320 – 356). 93 Hier widerspricht Gotzmann (1997) allerdings mit dem Argument, dass die Gutachten an den Frankfurter Senat gerichtet waren und keine innerrabbinische Diskussion darstellten (S. 296 – 298). Er kommt danach aber wieder auf die gleiche Argumentationsrichtung wie Katz. 94 Katz (1998), S. 355.

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für die vorliegende Arbeit wichtig ist: die Frage nach dem Erhalt und Wandel jüdischen Selbstverständnisses. Ähnlich argumentiert Andreas Gotzmann in seiner Untersuchung über die Entwicklung des jüdischen Rechts im kulturellen Prozess anhand desselben Quellenmaterials.95 Die Beschneidungsdebatte sei der Scheitelpunkt der Reformdiskussion gewesen. Die Reformer hätten die Gefahr einer Auflösung jeglicher religiöser Norm erkannt, was sie wieder näher an die Orthodoxie gebracht habe. Sie stritten nun wieder auf einer gemeinsamen Plattform mit den Orthodoxen um die Grenze zwischen Devianz und Häresie und fanden Berührungspunkte, etwa indem sie auch in dieser Hochphase der Reform dem traditionellen System, also der halachischen Argumentationsweise, verpflichtet blieben96 und die Beschneidung grundsätzlich verteidigten. Hintergrund sei bei ihnen aber nicht der Respekt vor dem Sakralrecht gewesen, sondern die Erkenntnis, dass es sich bei der Beschneidung um eines der für das jüdische Selbstverständnis wichtigen rites de passage, einen Teil des jüdischen Lebenslaufs handle. In unserem Zusammenhang kann diese Diagnose als wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem eher kulturell als religiös geprägten Verständnis von Judentum gelten. Einen grösseren Zeitraum als die vorangegangenen Arbeiten behandelt Klaus Hödl in seinem Aufsatz über die deutschsprachige Beschneidungskritik im 19. Jahrhundert.97 Er teilt sie in drei Phasen. In der ersten sei die Beschneidung als irrelevant für das Judesein angesehen worden, in der zweiten (nach 1848) seien nur noch Modifikationen der Beschneidung gefordert worden. In der dritten Phase (ab 1890) habe die Beschneidung im Zuge einer jüdischen „Selbstbesinnung“ dann wiederum eine Wertschätzung in jüdischen Kreisen als „säkularisiertes nationales Merkmal“ erfahren.98 Dass er diese neue Bedeutung der Beschneidung nicht wie Gotzmann oder Katz bereits in der Zeit um 1844 erkennt, liegt an seinem spezifischen Ansatz, die jüdische Debatte in der frühen Phase vor allem als Reaktion auf die christliche

95 Gotzmann (1997), hier Kapitel 7: Die Beschneidungskontroverse: Berührungspunkte zwischen Orthodoxie und Reform, S. 251 – 302. 96 Auch am Beispiel der frühen Beerdigung zeigt Gotzmann in einem anderen Kapitel auf, wie wenig sich einzelne Reformer von der halachischen Diskursebene lösen konnten. Die Debatte habe die gemeinsame Basis des Sakralrechts eher bestärkt als in Frage gestellt. Vgl. Gotzmann (1997), S. 107 – 124. 97 Hödl (2003). Ein Exkurs von Hödl über die Vorstellung von „beschnitten geborenen“ Judenkindern führt wieder zurück auf die bereits im Kapitel über den jüdischen Körper behandelte Tendenz, jüdische Differenz von aussen rassisch-biologisch zu definieren. Ebd., S. 200 – 202. Vgl. zu dieser Frage auch Gilman (1991b). 98 Ebd., S. 209. Das Kapitel über die neue Wertschätzung der Beschneidung und ihre positive hygienisch-medizinische Interpretation in dieser dritten Phase stellt ein ähnliches Phänomen jüdischer „intellektueller Selbstverteidigungsbemühungen“ im Zeichen des Zionismus dar wie die bereits im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Beispiele des „gesunden“, „starken“ und „hygienischen“ Juden.

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Beschneidungskritik99 und damit praktisch ausschliesslich als Ausdruck jüdischer „Assimilations- und Akkulturationshoffnungen“100 zu verstehen. Explizit will Hödl damit zeigen, „wie sehr die Selbstdefinition der Juden durch eine Aussenperspektive bestimmt war“.101 In einer Arbeit jüngeren Datums weitete Hödl seine Interpretation der Beschneidungsdebatten allerdings aus. Zusätzlich sieht er in der allgemeinen Medikalisierung jüdischer Gebräuche, speziell dem Postulieren positiver gesundheitlicher Wirkungen von Riten wie der Beschneidung, der koscheren Ernährung oder auch der Praxis des Schabbat den Versuch, säkular orientierten Juden ein nichtreligiöses Identifikationsangebot zu machen, damit sie nicht vom Judentum abfielen. Diese taktische Deutung mag für die von ihm untersuchten musealen Präsentationen von Judentum um 1900 durchaus plausibel sein, nicht aber für die in dieser Arbeit analysierten Reformdebatten in den 1840er Jahren.102 Auch John Efron103 interpretiert die innerjüdischen Beschneidungsdebatten vor allem als Reaktion auf äussere Einflüsse, „to satisfy the demands of German society“, weshalb er sie fast ausschliesslich als Selbstverteidigung versteht.104 Er geht von der Feststellung aus, dass die Juden wegen der Beschneidung (wie auch wegen anderer ritueller Praktiken) von den Christen in ihrem Anderssein wahrgenommen und dafür kritisiert wurden. Die Beschneidung sei aber spätestens im Fin de SiÀcle ein zentrales Zeichen jüdischer Identität gewesen. Um diese Praktiken und auch sich selber als Juden zu verteidigen, forderten die jüdischen Ärzte in der Debatte der 1840er Jahre medizinisch motivierte Modifikationen der Beschneidung.105 Um 1900 bedienten sie sich medizinischer bzw. wissenschaftlicher Argumente, um jüdische rituelle Praktiken zu rechtfertigen.106 Ihr Ziel war, die Beschneidung als etwas medizinisch Wertvolles darzustellen, da sie z. B. vielfältige gesundheitliche Vorteile bringe, etwa den Schutz vor Geschlechtskrankheiten oder vor der als gefährlich bewerteten Onanie. Ähnlich wurde damals im Übrigen auch die zeitgenössische Ernährungswissenschaft eingesetzt, um die jüdischen

99 Die Tradition nichtjüdischer Beschneidungskritik reicht bis in die Antike zurück. Vgl. Kaufmann (1997), insbesondere S. 115 f. Brenner u. a. (1996) S. 49, 181 f. 100 Hödl (2003), S. 209. Hödl meint wohl eher „Emanzipationshoffungen“ oder „Akkulturationswünsche“. 101 Hödl (2003), S. 209. 102 Hödl (2006), v. a. S. 115. 103 Efron (2001), S. 222 – 233. 104 Efron (2001), S. 225. Kaufmann (1997) diagnostiziert in seiner Darstellung der Beschneidungsdebatte die Kritik an der Beschneidung vor allem bei den Christen. Innerjüdische Kritik an der Beschneidung stellt er eher als marginales Phänomen einiger radikaler jüdischer Gruppen dar. So kommt ihm der breite innerjüdische reformerische Impetus fast völlig aus dem Blick. 105 Efron (2001), S. 225. 106 Efron (2001), S. 267.

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1.2 Juden und Medizin

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Speisegesetze als besonders gesundheitsförderlich zu rechtfertigen.107 Dies habe den Juden ermöglicht, ihre alten Traditionen zu rechtfertigen und ihr Selbstwertgefühl zu bestärken.108 Damit beziehen Hödl und Efron eindeutig Stellung in einem Problemfeld, das in dieser Arbeit von zentraler Bedeutung ist: den Ursachen der Reformdebatten und damit den Triebkräften dieses kulturellen Wandels. Die genannten Autoren verorten sie weitgehend ausserhalb der jüdischen Gesellschaft. Selbst den Beerdigungsstreit um 1780 interpretiert Efron unter dem Aspekt des antijüdischen Fremdbildes von den Juden, das von diesen teils übernommen wurde: als eine Diskussion vor allem unter dem Aspekt, dass der jüdische Körper abstossend sei und die Juden nicht wüssten, wie man damit umgehen solle.109 Und Krochmalnik interpretiert den Beerdigungsfristenstreit als Phänomen christlich-aufklärerischer Anwürfe gegen die Judenschaft, dem sich jüdische Aufklärer angeschlossen hätten.110 Die vorliegende Arbeit stellt diese Position nicht grundsätzlich in Zweifel, doch geht sie von der entgegengesetzten Grundannahme aus, dass die wesentlichen Triebkräfte des kulturellen Wandels im Judentum dieser Zeit – gerade im Bereich der Medizin – aus dem Judentum selber kamen.111 Sicherlich gab es diesen Einfluss von aussen. Besonders deutlich stellt ihn Sander Gilman etwa am Beispiel des Alkoholkonsums an Purim dar. Den hätten die Juden aufgrund der Kritik christlicher Aufklärer reduziert, um ihnen gegenüber „Wohlanständigkeit“ („Decorum“) zu signalisieren.112 Doch zeichnet eine ausschliessliche Interpretation des kulturellen Wandels als von aussen verursacht ein Bild einer vornehmlich reaktiv agierenden jüdischen Kultur. In der vorliegenden Arbeit soll im Gegensatz untersucht werden, wie gross der innerjüdische, eigenständige Gehalt dieses Kulturwandels war. Es sollen die internen Modernisierungswünsche und die autonome Arbeit an einem neuen Verständnis von Judentum herausgearbeitet werden. Hierfür ist ein kulturwissenschaftlicher Ansatz am ertragreichsten, der einerseits mit dem Begriff der jüdischen Identität, andererseits dem Konzept jüdischen kulturellen Wandels im Umfeld des Begriffes „Akkulturation“ operiert. In der bestehenden Literatur zum Thema „Judentum und Medizin“ ist dieser Ansatz – wie in diesem Überblick bereits skizziert – erst in Ansätzen umgesetzt worden. Am ehesten wird das Thema „Identität“ noch durch Efron 107 Schlich (1995a). Verkürzt auf Deutsch Schlich (1995b). S.a. Efron (2001), S. 197 – 205. Ähnlich die wissenschaftliche Verteidigung des Schächtens, ebd., S. 206 – 222. 108 Efron (2001), S. 186 – 190, 222 – 233. 109 Efron (2001), S. 95 – 104, vor allem S. 104. 110 Krochmalnik (2011, 1997). 111 Vgl. ähnlich auch Judd (2007a). 112 Gilman (2006), v. a. S. 27, 29, 35. Gilman kritisiert an dieser Stelle auch die Deutung von Efron, dass die geringe Verbreitung des Alkoholismus unter bestimmten Teilen der Judenschaft auf biologische, genetische Ursachen zurückzuführen sei (S. 24). Sie sei stattdessen eine kulturelle „response to external forces“ (S. 35).

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als ein Stichwort angesprochen, ohne allerdings die Argumentation zentral zu bestimmen. Efron verwendet den Begriff der Identität in zwei unterschiedlichen Bedeutungen. Zum einen ist es für ihn eine Art Synonym für „Selbstbewusstsein“, das sich in quantitativer Abstufung als grössere oder kleinere Identität darstellt und keinen Blick auf eine qualitative, inhaltliche Dimension dieser Identität in verschiedenen Ausformungen erlaubt. So vermochte für ihn die medizinische Verteidigung etwa der von Christen kritisierten Beschneidung die zurückgegangene jüdische Identität zu stützen.113 In seiner anderen Verwendungsart des Begriffes im Sinn von „Selbstverständnis“ gibt es diese inhaltliche Dimension dann doch. Efron untersucht hier den Wandel des jüdischen Fremd- und, darauf aufbauend, des Selbstverständnisses, allerdings nur unter dem bereits dargestellten Aspekt, dass die jüdische Identität durch die medizinischen Debatten zunehmend über den Körper als krankheits- und mängelbehaftetem, „minderwertigem“ Wesen definiert worden sei, um dessen Überwindung sich die Juden zu bemühen hätten.114 Aus dem bereits angeführten Grund, dass er die medizinischen Debatten lediglich als Selbstverteidigung deutet, geraten ihm viele weitere Dimensionen eines inhaltlichen Wandels des jüdischen Selbstverständnisses zum grössten Teil115 aus dem Blick. Die vorliegende Arbeit macht gerade diese Lücke zu ihrem eigentlichen Thema. Identität, auch Tradition, sind dann nichts Statisches, sondern Fragen, um die gerungen wird und die unterschiedlich interpretiert werden. Identitäten können sich in einem offenen Modell auch in mehrere Teilidentitäten aufgliedern. Efron blickt nur auf diejenigen Ärzte, die sich auch mit Fragen des Judentums befasst haben, das heisst mit Ärzten, denen ihr Judentum in jedem Falle sehr bewusst war.116 Ein Ansatz, der auch nicht in der jüdischen Angelegenheit aktive Ärzte untersucht, kann aber eher herausarbeiten, wie ihr Judentum lediglich einen Tei ihrer eigenen Identität ausmachte und in welchem Verhältnis sie zu anderen Identitäten stand. Bezeichnenderweise benützt Efron auch häufig den Gegensatz „Jewish physicians“ und „Germans“, womit ihm das Phänomen doppelter Identitäten, etwa als Jude, Arzt und Deutscher gerade nach der formalrechtlichen Emanzipation aus der Sicht gerät. Das Buch von John Efron „Medicine and the German Jews“ von 2001 ist der vorliegenden Arbeit thematisch am nächsten, weshalb es nun schon mehrfach herangezogen worden ist. Es stellt die immer noch breiteste, reichhaltigste und methodisch anregendste Darstellung des Themas „Juden und Medizin“ dar. Nichtsdestotrotz blendet es mit seinem Ansatz – wie dargestellt – für den Zeitraum 1750 bis 1850 ganz wesentliche, wenn nicht die wichtigsten Be113 Efron (2001), S. 3, 189, 233. 114 Efron (2001), S. 4, 8, 104, 184 f. 115 Eine Ausnahme ist etwa seine Bemerkung über die Ärzte als Vorboten des säkularen Rollenmodells (s. o.). 116 Efron (2001), S. 64.

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1.3 (Jüdische) Identität

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deutungsdimensionen der damaligen Debatten und Entwicklungen aus. Die vorliegende Arbeit will dies nachholen. Abschliessend darf aber nicht übersehen werden, dass Efron auch dadurch einen wichtigen Beitrag zur Forschung geleistet hat, dass er sich von einer überkommenen Perspektive gelöst hat, nämlich die Reformdiskurse z. B. über die Beerdigung oder die Beschneidung als Vorstufe einer Verabschiedung aus dem Judentum und Aufgabe der eigenen Identität zu verstehen. Stattdessen weist er extra darauf hin, wie die jüdischen Ärzte innerhalb des Religionsgesetzes argumentierten.117 Eines der Hauptziele dieser Arbeit liegt darin, nachzuzeichnen, wie weit ein bewusstes jüdisches Selbstverständnis in diesen Debatten verteidigt wurde. Hierfür ist die kulturwissenschaftliche Frage nach der Neuformierung jüdischer Identitäten der zentrale Schlüssel. Zu diesen gibt es allerdings – jenseits der Forschungen über Fragen von Medizin, Körper und Gesundheit – in der jüdischen Geschichtsschreibung eine jahrzehntelange Debatte, die Thema des folgenden Kapitels ist.

1.3 (Jüdische) Identität: Debatten und Definitionen Vor einigen Jahren wurde der Künstler Moritz Daniel Oppenheim (1800 – 1882) aus Hanau bzw. Frankfurt/M. als wichtigster jüdischer Genremaler des 19. Jahrhunderts sozusagen „wiederentdeckt“.118 Oppenheim komponierte Szenen des traditionellen jüdisch-rituellen Jahreslaufs wie das Bild „Das Laubhüttenfest“, das sich gleichzeitig als Hommage an die bürgerliche Kleinfamilie lesen lässt. Er malte die jüdischen „Museumsbesucher“, die sich in moderner Bildungsbeflissenheit ausweisen. Er schuf Szenen des christlichjüdischen Aufeinandertreffens wie den fiktiven Besuch von „Lavater und Lessing bei Moses Mendelssohn“. Er porträtierte moderne zeitgenössische jüdische Schriftsteller wie Heine und Börne, denen man ihr Judesein äusserlich, etwa durch ihre Kleidung oder Haartracht, nicht mehr ansah. Und er malte Szenen von Juden, die mitten in der nationalistischen Moderne des 19. Jahrhunderts stehen und doch gleichzeitig verbunden mit ihrer jüdischen Herkunft sind – so etwa der jüdische Soldat in dem Bild „Die Heimkehr des Freiwilligen aus den Befreiungskriegen zu den nach alter Sitte lebenden Seinen“. Oppenheim wurde aber nicht einfach als Genremaler wiederentdeckt, sondern darüber hinaus als „erster jüdischer Maler der Neuzeit, der es vermochte, bewusst gelebte jüdische Identität mit seiner Arbeit als Künstler zu vereinen“.119 In der Tat brachte Oppenheim, wie an den Beispielen deutlich 117 Z.B. Efron (2001), S. 71 f. über Elcan Isaac Wolf oder S. 225 Joseph Bergson zur Beschneidung. 118 Heuberger/Merk (1999), Wolff (2007). 119 Heuberger/Merk (1999), Zitat von der vierten Umschlagseite.

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wird, weder nur das traditionelle Judentum noch ausschliesslich das „assimilierte“ zeitgenössisch-moderne Bürgerleben der Juden auf die Leinwand. Es war beides und mehr noch: eine neue Einheit aus beidem, eben eine für ihre Zeit moderne jüdische Identität. Dass die Interpreten des ausgehenden 20. Jahrhunderts gerade diesen Aspekt von Oppenheims Werk in den Mittelpunkt stellten, ist kein Zufall.120 Auch die jüdische Geschichtsschreibung löste sich in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher von der Vorstellung, die deutschen Juden des 19. Jahrhunderts hätten sich einfach nur entweder in orthodoxer Erstarrung abgeschottet oder unbedingt der Mehrheitskultur angepasst und damit ihre eigene Geschichte und Herkunft preisgegeben. Oppenheims Werk, selbst wenn es nur Utopie abbilden sollte, ist ein augenfälliges Beispiel dafür, wie Juden nach ihrem „Austritt aus dem Ghetto“ den Spagat wagten, in der Moderne zu leben und gleichzeitig die eigene Geschichte nicht zu verlieren. Mit anderen Worten: die „Vision eines modernen Judentums“121, eines modernen jüdischen Selbstverständnisses oder : moderner jüdischer Identität. Die Frage nach der jüdischen Identität ist, bei aller Vagheit des Begriffs,122 eine der am häufigsten gestellten Fragen in der jüdischen Geschichtsschreibung der Neuzeit und allgemeiner : den „Jüdischen Studien“. Seit dem Jahr 2008 erscheint sogar eine eigene Zeitschrift zu diesem Thema.123 Wie weit fühlten sich Juden nach ihrem „Eintritt“ in die bürgerliche Gesellschaft in ihrem Selbstverständnis noch als Juden? Die Aussage von der „doppelten Identität“ der Juden seit dem späten 19. Jahrhundert, in Deutschland vor allem als „Juden“ und/oder „Deutsche“, ist einer der grossen Fragen neuerer jüdischer Geschichtsschreibung.124 Die hinter dieser Arbeit stehende Frage ist diejenige nach dem Verlust, Erhalt oder Wandel jüdischer Identität beim Übergang in die Moderne. Sie steht hier in dem Komplex, der mit den Begriffen „Kulturwandel“, „Assimilation“, „Akkulturation“, „Transformation“ verhandelt wird. Hinter der traditionellen Sichtweise auf das Problem steht in der Regel noch die Vorstellung von der singularen, in sich geschlossenen Identität des Menschen, bei welcher die Doppelung notgedrungen ein Problem darstellt.125 Lange Zeit, und vor allem bis in die 1960er Jahre, wurde der kulturelle Wandel im Judentum der fraglichen Zeit im Wesentlichen als „Assimilation“ 120 Vorher war diese Interpretation bereits vorgelegt worden von Ismar Schorsch: Art as Social History : Oppenheim and the German-Jewish Vision of Emancipation. In: The Israel Museum (1983). Vgl. Gotzmann (1999), S. 235. 121 Gotzmann (1999). 122 Brubaker/Cooper (2000). 123 Journal of Jewish Identities (2008). 124 Vgl. etwa: Mendes-Flohr (2004). 125 Mendes-Flohr (2004) ist ein Beispiel für den Übergang. Er beginnt sozusagen mit der klassischen Problematik der doppelten Identität und endet mit einem Ausblick und Bekenntnis zu einem pluralen, hybriden Identitätsmodell, das er dann aber nicht weiter konkretisiert.

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1.3 (Jüdische) Identität

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an die christlich-bürgerliche Mehrheitsgesellschaft beschrieben, nicht zuletzt aus der damaligen Sicht auf den angeblichen kulturellen „melting pot“ der Vereinigten Staaten. Aber jüdische „Assimilation“ war immer auch ein hochgradig normativ aufgeladener Kampfbegriff,126 ging es doch um nichts Geringeres als die zentrale Frage von Juden des 20. Jahrhunderts und eine fundamentale innerjüdische Debatte der Zwischenkriegszeit, nämlich diejenige, ob die Juden sich, zugespitzt dargestellt, in der Diaspora-Existenz an der Kultur der Länder, in denen sie lebten, orientieren und ihre jüdische Identität aufgeben sollten oder, z. T. mit zionistischem Hintergedanken, ob sie ihre jüdische kulturelle Eigenständigkeit bewahren sollten.127 Entsprechend wurde der Assimilationsbegriff gemäss Till van Rahden vor allem normativ verwendet, und zwar mit drei unterschiedlichen Konnotationen: Von einer ersten Gruppe als „Verrat“, weil die Assimilation eine Zersetzung jüdischer Existenz bedeute, von einer zweiten Gruppe als unvermeidliches „Schicksal“, das ebenso die Gefahr eines Verlustes von jüdischem Selbstverständnis wie auch die Möglichkeit der Befreiung aus den Zwängen des traditionellen Judentums beinhalte, und von einer dritten Gruppe als Chance für neue „Vitalität“ und „Kreativität“ der Juden. Im Umfeld des Leo Baeck Instituts lebten die Konzepte im „stillschweigenden Dissens“ nebeneinander. Die fundamentale Bedeutung der Frage für die Beteiligten hätte zu einem inneren Bruch führen können. Erst mit dem Rücktritt der „Zeitgenossen“-Generation war eine grundsätzliche Kritik möglich.128 Spätestens in den 1980er Jahren entwickelte die Forschung in Teilen ein Unbehagen an der Enge dieses eindimensionalen Konzepts: Es sehe zum einen nur das Angleichen, die Aneignung der Mehrheitskultur bis hin zum Extrem der Aufgabe der bisherigen eigenen Identität. Doch hätten Juden – zum Beispiel – auch bei äusserlicher oder formaler Angleichung an die deutsche bürgerliche Gesellschaft eine enge innere, emotionale Bindung mit dem Judentum behalten.129 Zum anderen übersehe es den Einfluss, den die Minderheitskultur auf diejenige der Mehrheit hatte. Damit gehe es an der Realität dieses komplexen Kulturwandels vorbei.130 In der Folge hat die Forschung kontinuierlich und bis heute mit den erkannten Mängeln des Assimilationsbegriffes gerungen. Andersherum: Die Geschichtsschreibung des jüdischen Kulturwandels in Zentraleuropa infolge der Aufklärung ist bis in die jüngste Zeit gezeichnet von einer ständigen Hinterfragung vereinfachter Modelle dieses Wandels. Einen ersten Schritt der Öffnung stellte der Wechsel vom Begriff der „Assimilation“ zu dem bereits länger bestehenden, anthropologisch-sozialwis126 Siehe hierzu van Rahden (2005); Morris-Reich (2011). 127 Ein Nachklang dieser engen Perspektive findet sich bei Hertz (2010), die gleichwohl das Extrembeispiel, die Konversion, untersucht. 128 Van Rahden (2005), S. 245 – 257. 129 Kaplan (1982), S. 4 f. 130 So als Beispiel unter vielen: Maurer (1992), S. 171.

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senschaftlichen Terminus der „Akkulturation“ dar, weil der letztere den vielfältigen Wegen der Juden, auf die (Heraus-)Forderungen des modernen Europas zu reagieren, mit grösserer Flexibilität entgegenkam.131 Dieser meinte eine partielle Übernahme der Mehrheitskultur bei gleichzeitiger Bewahrung eigener ethnischer und religiöser Strukturen.132 In diesem Sinn übernahm ihn etwa Marion Kaplan als „the acceptance of many of the customs and cultural patterns of the majority of society and the simultaneous commitment (conscious or unconscious) to the preservation of ethnic and/or religious distinctiveness“.133 Nach Herbert A. Strauss war Akkulturation ein Konzept, „das die Begegnung von Elementen verschiedener Kulturen und ihre Synthese zu einer neuen Einheit in einem instabilen Gleichgewicht von verschiedener Dauer bedeutet“.134 Anders ausgedrückt, ist Akkulturation in diesem Verständnis ein „Kulturwandel im Kontakt zweier Kulturen und bei ihnen beiden“.135 Dieses bewusst offene Konzept ermögliche es, „sowohl die Bewahrung des Eigenen wie den Wandel dieser Kultur durch ihre Verbindung mit Elementen der anderen darzustellen“.136 Zudem habe es den Vorteil, dass es kein Urteil über seinen Nutzen oder Nachteil und keine Vorannahmen über eventuelle Hierarchien der Kulturen impliziere.137 In der Folge und bis heute hat die Forschung sehr häufig auf den Begriff der „Akkulturation“ zurückgegriffen. Vor allem eine mittlerweile schon wieder ältere Generation von Historikern der jüdischen Geschichte nutzte ihn oder verteidigt ihn gar bis in die jüngere Zeit wie selbstverständlich.138 Shulamit Volkov verteidigte 1994 diesen Terminus, da er sich vor allem wegen seines weiten Kulturbegriffs „als analytisch nützlich erwiesen“ habe und „in diesem Kontext wohl weiter benutzt“ werde.139 In der Masse der einschlägigen Publikationen wurden die theoretischen Implikationen des Begriffes allerdings oft allenfalls implizit verwertet. Die Verwendung des Terminus „Akkulturation“ sollte und soll in der Regel lediglich eine grössere Offenheit und Wertfreiheit signalisieren, ohne dass deren konzeptuelle Konsequenzen benannt werden mussten. Dies führte mit der Zeit dazu, dass eine jüngere Generation von Forschern dem Akkulturationsbegriff wiederum eine ähnliche konzeptionelle Enge vorwarf wie dem Assimilationsbegriff. Eine solche, breit wahrgenommene Kritik am Modell der Akkulturation 131 132 133 134 135 136 137 138

Rechter (2002), hier S. 376. Vgl. van Rahden 2005, S. 257. Dort auch weiterführende Literatur. Kaplan (1982), S. 4. Zit. nach Maurer (1992), S. 172. Strauss in den Worten von Maurer (1992), S. 179. Maurer (1992), S. 172. Van Rahden (2005), S. 258. So z. B. Meyer (1996), lediglich eingangs spricht er einmal von der „Transformation des Judentums“ (S. 135). 139 Volkov (1994), S. 89 f., Zitate S. 90. Volkov hat recht behalten, dass der Begriff „in diesem Kontext wohl weiter benutzt werden“ wird (S. 90). Der Begriff ist ebenso etabliert wie mittlerweile auch umstritten.

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1.3 (Jüdische) Identität

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formulierte 1987 David Sorkin in seinem programmatisch betitelten Band „The Transformation of German Jewry“. Dabei geht er zunächst noch einen Schritt zurück: Bereits das Konzept der „Assimilation“ basiere auf statischen und anachronistischen Kategorien und impliziere die Selbstaufgabe der eigenen (jüdischen) Identität.140 Die von ihm untersuchten und so genannten jüdischen „Ideologen“ (die Reformer) hätten aber nicht nach Assimilation, aber auch nicht nach Akkulturation getrachtet. Sie hätten im Gegensatz dazu die eigenständige soziale Welt („independent social world“) der deutsch-jüdischen „Gebildeten“ mit einer eigenen kulturellen Identität („separate cultural identity“) geschaffen, die allenfalls als (wiederum eigenständige) Subkultur der gesamten bürgerlichen Welt des frühen 19. Jahrhunderts zu sehen sei.141 In der Folge von Sorkin formulierte Simone Lässig diese Kritik nochmals schärfer : Der Begriff der „Akkulturation“ sei gekennzeichnet von einem selektiven Blick auf „Anpassung und Lernprozesse“ und sehe nur eine Dimension der kulturellen Transformation, den der Annäherung an die Mehrheitsgesellschaft. Er übersehe den genuinen kulturellen Beitrag der Minderheit an diesem Prozess sowie die Rückwirkung der Minderheit auf die Mehrheit und lasse keine komplexeren Modelle kulturellen Wandels zu.142 Zudem sei der Wandlungsprozess unter der Perspektive der Annäherung an die Mehrheitsgesellschaft zu eng mit Wertungen verbunden, sei es nun im positiven Sinn mit ihrem Effekt der „Integration“ oder im negativen Sinn mit dem Verlust eigener kultureller Identität. Die Vorstellung, die Juden hätten sich unkritisch an die christlich-bürgerliche Mehrheit assimiliert, entspräche einem „Tunnelblick“. Dementsprechend sei auch die Erklärung des Kulturwandels lediglich als Versuch der Integration in die Mehrheitsgesellschaft nicht tragbar.143 Aus der Skepsis gegenüber zu einfachen Assimilations- und Akkulturationsthesen entstanden weitere komplexere Herangehensweisen zur Beschreibung dieses kulturellen Wandels. Ihre grösste Gemeinsamkeit besteht in dem Postulat, dass die Juden mit diesem Wandlungsprozess allenfalls zum kleinen Teil ihre jüdische Identität aufgegeben hätten. Im Wesentlichen hätten sie diese an moderne Erfordernisse angepasst. Eine Richtung der Forschung beschreibt diese neue Identität nichtorthodoxer Juden144 vor allem konkret an einer Vielzahl von Beispielen, ohne sie zu einem Modell moderner jüdischer Identität zusammenzuführen. Michael A. Meyer etwa betonte 1996 das vertiefte jüdische Selbstverständnis, welches aus den Modernisierungskonflikten in Schulen, Synagogen und andernorts letztlich resultierte. Es spiegele sich in Phänomenen wie 140 141 142 143 144

Sorkin (1987), S. 4. Siehe weiterführend auch Sorkin (1990). Sorkin (1987), S. 134. Lässig (2004), S. 20. Ähnlich auch Hödl (2006), S. 30 ff. Lässig (2004), S. 663 – 665. Zum Phänomen des Entstehens einer neuen orthodoxen jüdischen Identität siehe Ferziger (2005).

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einem historisch-kritischen Zugang zur Halacha, Verweltlichung (Rückgang religiöser Observanz, etwa der Sabbatruhe bzw. Einhaltung der Speisegesetze oder der Feiertage), den Rückgang der Rolle der Religion im Alltagsleben generell; innerhalb der Religion der Trend zu einer „intellektuell konsistenten und emotional ansprechenden“ Reform der Religion, etwa in der Abkehr vom talmudisch-rabbinischen Verständnis, der Einführung der deutschen Sprache in der Liturgie der Synagoge, der Aufhebung der Trennung von Mann und Frau in der Synagoge, der Infragestellung von Riten wie der Beschneidung, aber auch neuen Werten, z. B. dem der Wohltätigkeit als Ersatz für Frömmigkeit. Das Judesein sei auf bestimmte Alltagsbereiche reduziert worden. Dies habe die Möglichkeit eröffnet, sich gleichzeitig als Juden und Deutsche zu verstehen.145 Auch Marion Kaplan beschrieb 2003 das neue Verständnis des Jüdischseins im jüdischen Alltag des deutschen Kaiserreichs anhand einer Vielzahl von Beispielen. Im Mittelpunkt steht der Umstand, dass neben die jüdische Identität auch eine nationale, deutsche, ein deutscher Patriotismus treten konnte. Mehr noch, über diesen bekannten Dualismus hinaus konnten auch weitere, z. B. regionale Identitäten wie die als Bayern oder Badener treten. Ihre jeweilige Bedeutung konnte im steten Wandel sein, so dass Kaplan von „fliessenden“, „wechselnden“ und „verwickelten“ Identitäten spricht.146 Neue Werte hätten alte ersetzt, „Bildung“ etwa den der „Religion“. Religiöse Gebote, etwa die Feiertage oder die Ernährungsvorschriften, seien nur selektiv übernommen worden. Eine jüdische Presse und ein jüdisches Vereinswesen hätten als neue identitätsstiftende Angebote den Wechsel vom religiösen zum kulturellen und ethnischen Verständnis von Judentum unterstützt.147 Dass dies übrigens nicht erst ein Phänomen der Moderne ist, betonte David B. Ruderman, indem er die Herausbildung zunehmend vermischter Identitäten (mingled identities) als wesentliches Charakteristikum einer jüdischen Kulturgeschichte bereits der Frühen Neuzeit bezeichnete.148 Am Beispiel deutscher Juden während des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 plädiert auch Christine Krüger für eine Pluralisierung der Identitäten. Dieses einschneidende historische Ereignis habe nicht, wie Shulamit Volkov 1992 behauptet hatte, die jüdische Identität durch die nationale, deutsche ersetzt. Gängig war selbst hier ein Nebeneinander beider Loyalitäten – mit wechselnden Hierarchien. Eine Lösungsstrategie bei möglichen Konflikten war einerseits, „die nationale und die religiöse Sphäre scharf voneinander zu trennen“ oder über alles einen dritten, harmonisierenden Bezugspunkt, den „übergeordneten Wert der Humanität“ zu stellen.149 145 146 147 148 149

Meyer (1996), vor allem S. 136, 159, 167 – 170. Kaplan (2003), S. 233, 322, 335. Kaplan (2003), S. 314 – 318. Ruderman (2010), S. 159 – 189. Krüger (2005), Zitate S. 156 und 165.

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1.3 (Jüdische) Identität

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Shulamit Volkov argumentierte 1991 (neu 2001) anhand verschiedener Beispiele, wie Juden darüber hinaus ganz bewusst versuchten, „für sich eine neue Identität zu erfinden“. Ihr hervorragendstes kollektives „Projekt der Moderne“ sei die Erfindung einer neuen Tradition, einer neuen Interpretation des Judentums, die wie eine neue Darstellung des Alten aussehen sollte, in der Tat aber etwas Neues war. Diese neue Interpretation war mehr als die einer zur Konfession reduzierten jüdischen Religion. Zu ihr gehörte etwa der Ersatz der Religion durch die „Wissenschaft“ bzw. durch eine wissenschaftliche, historisierende Deutung jüdischer Geschichte (etwa im „Verein für Cultur und Wissenschaft des Judentums“) oder die Neuerfindung einer spezifisch jüdischen Ethik. Vermittelt wurde diese neue Tradition in der breiten jüdischen populären Presse und mit den Mitteln der deutschen Sprache.150 Ein anderer Teil der einschlägigen Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass er die konkreten Befunde einer neuen jüdischen Identität stärker in ein theoretischeres Modell des kulturellen und gesellschaftlichen Wandels einbaut und vor dem Hintergrund der Assimilationsproblematik diskutiert. Vor allem David Sorkin ist ein Beispiel hierfür. Auch für ihn steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich die (in seiner Begrifflichkeit) „transformierte“ jüdische Kultur bzw. Identität darstellte. Konkret findet Sorkin sie in einer neu entstandenen deutsch-jüdischen Öffentlichkeit (z. B. dem Vereins- und Zeitschriftenwesen), bzw. einer neu entstandenen „community“, deren Werte vor allem auf dem bürgerlichen Bildungsideal basierten. Obwohl sie zu grossen Teilen aus Elementen der Mehrheitskultur bestanden habe, sei sie nicht einfach eine Assimilation, weil diese Kultur von der Mehrheitskultur deutlich unterscheidbar war und ein eigenständiges System von Ideen und Symbolen darstellte. Sorkin definierte diese deutsch-jüdische Kultur mit der Bezeichnung „Subkultur“, die auf der einen Seite Teil der Gesamtkultur, auf der anderen Seite von ihr abgegrenzt war. Eben diese weltlich dominierte Subkultur sei es, welche die transformierte jüdische Identität darstelle. Sorkin entwickelt kein differenziertes Modell jüdischer Identität, sondern ein Modell für den kulturellen Wandel, das sich der gängigen Sichtweise von Assimilation und daraus resultierendem Identitätsverlust entgegenstellt. Selbst die Übernahme kultureller Werte aus der Mehrheitskultur muss für ihn keinen Identitätsverlust nach sich ziehen, wenn daraus eine eigenständige Gemeinschaft gebaut werde.151 Simone Lässig hat Sorkins Gegenentwurf zum Assimilationsmodell 2004 noch radikalisiert, indem sie das Hauptaugenmerk auf Prozesse der Verbürgerlichung der Juden legte. Sie interpretiert die transformierte jüdische Kultur nicht als „Subkultur“, sondern als „Parallelkultur“. Die reformorientierten Juden in Deutschland hätten sich nicht an Deutschen oder Christen orientiert, sondern an Bürgerlichkeit. Sie entwickelten im frühen 19. Jahrhundert einen 150 Volkov (2001c), Erstveröffentlichung 1991. 151 Sorkin (1987), passim, vor allem S. 5 f., 178.

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typisch bürgerlichen Habitus, der dem des deutschen Bürgertums weitgehend entsprach. Da das deutsche Bürgertum zu dieser Zeit aber ebenfalls noch in der Herausbildung begriffen war, gab es gar kein allgemeingültiges Modell, auf das hin sich die Juden hätten assimilieren können. Statt einer einseitigen Anpassung habe eine parallele Orientierung auf ein weitgehend gemeinsames Ziel stattgefunden. Darüber hinaus seien Bürgerlichkeit und Jüdischsein derart kompatibel gewesen, dass man nicht von einer Anpassung, sondern eher von einer Gleichheit beider Faktoren sprechen müsse. Juden hätten so das entstehende Bürgertum mit geformt. Aus diesem Grund sei der Begriff der „Subkultur“ auch nicht treffend, weil er auf dem hegemonialen Modell einer „Leitkultur“ basiere.152 Im Jahre 2008 hat Gerlind Rüve diese These an einem Beispiel plastisch illustriert, das auch in der vorliegenden Arbeit behandelt wird (Kap. 3.1). Die aufklärerische Forderung nach einer Modernisierung der traditionellen jüdischen Begräbnispraktiken sei nicht einfach die Forderung nach einer Anpassung an die christliche Mehrheitskultur gewesen, sondern eine Forderung nach Anpassung an zeitgemässe medizinische Standards. Diese Anpassungsleistung sei von der christlichen Kultur auch verlangt worden.153 Und Susanne Bennewitz diagnostizierte bei den Basler Juden, um ein Beispiel jenseits der deutschen Grenze heranzuziehen, dass diesen bei „Neuerungen im jüdischen Kult keineswegs die konservative, bilderfeindliche Ortskirche als Vorbild diente, sondern bürgerliche Formensprache adaptiert und erstmals in den religiösen Raum übertragen wurde“.154 Lässig entwickelt ihre Thesen aus breiten Untersuchungen verschiedener jüdischer Alltagsbereiche, im Wesentlichen den Bildungseinrichtungen, der religiösen Praxis und der entstehenden deutsch-jüdischen Öffentlichkeit. Wie die vorangegangenen Forschungen führt der kritische Umgang mit dem Assimilationskonzept dazu, den kulturellen Wandel nicht einfach als Identitätsverlust darzustellen. Im Gegenteil: die modernisierte jüdische Kultur ist aus dieser Sicht eine eigenständige kulturelle Leistung und ein aktiver Beitrag zum Gesamtprojekt der bürgerlichen Gesellschaft, ja sogar eine „beispiellose Erfolgsgeschichte“ und ein Weg der Wahrung einer eigenständigen Identität. Die sich modernisierenden Juden hätten die Emanzipationsforderungen auch nur selektiv erfüllt.155 „Das alles beherrschende Ziel (der Kultusreformen, E.W.) bestand darin, eine ehrwürdige Religion auch in der Moderne zu erhalten.“156 Lässig definiert die transformierte jüdische Identität vor allem inhaltlich, einerseits als eine alte jüdische Kultur, die mit dem Bürgertum kompatibel gemacht wurde, und andererseits als verbürgerlichte Kultur mit Lässig (2004), S. 23. Rüve (2008), S. 190 – 199. Bennewitz (2008), S. 399. Lässig (2004), S. 663, vgl. im Gegensatz dazu die skeptischere Erfolgsbewertung in Volkov (2001b), S. 135 – 137. 156 Lässig (2004), S. 272.

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ihrer Vielfalt von Einzelaspekten wie der Säkularisierung oder dem bürgerlichen Wertekanon.157 Wie Sorkin entwickelt sie kein explizites Strukturmodell moderner, verbürgerlichter jüdischer Identität. Zwar verwendet sie den strukturellen Begriff „hybrider Identität“, bestimmt ihn jedoch nicht genauer. Eine für diese Arbeit wichtige Differenzierung macht sie jedoch, wenn sie bei Reformen kultureller Praktiken mehrfach zwischen der äusseren, oft erhaltenen Form und den der Moderne angepassten Inhalten unterscheidet. Dies sei ein Weg, der weitgehende Reformen ermöglicht habe, ohne ganz auf Traditionen und ihren identitätsfördernden Charakter zu verzichten.158 Nochmals einen anderen Ansatz verfolgte 1993 Till van Rahden.159 Während sich viele Historiker vor allem der jüdischen Identität der Juden in der Moderne annahmen und z. B. auch ihre Übernahme bürgerlicher Kultur, etwa das Bildungsideal, darunter subsumierten, hob er die bekanntermassen „pluralistisch angelegte“160 Identität deutscher Juden im Kaiserreich, etwa als Juden und Deutsche, hervor. Welche Identität im Alltagsleben jeweils im Vordergrund stand, sei von der spezifischen Situation, etwa dem familiären Kreis oder dem Vereinsleben, abhängig gewesen. Van Rahden bezieht sich hier auf das der sozialwissenschaftlichen Forschung entlehnte Modell der „situativen Ethnizität“. Er beschränkt sich im Konkreten aber weitgehend darauf, Beispiele von Juden des deutschen Kaiserreiches zu geben, die gleichzeitig Mitglieder bzw. Aktivisten in jüdischen Vereinen und solchen der deutschen Mehrheitskultur waren, etwa in politischen Vereinen. Dennoch ist das Konzept an sich ein viel versprechender Weg, weiter zu fragen, etwa in welchen spezifischen Situationen welche Identität vorherrschte, welche Funktionen die einzelnen Identitäten hatten oder wie weit sie aufeinander bezogen waren. Es klingt fast wie eine Ironie der Geschichte, aber in den letzten Jahren findet der Assimilationsbegriff in der jüdischen Geschichtsschreibung wieder verstärkte Sympathie.161 Van Rahden verweist darauf, dass die Vertreter des „Akkulturationsbegriffes“ sich besser von dem der Assimilation absetzen konnten, indem sie sich nur auf seine normative Interpretation als „Verrat“ bezogen und die Interpretation als „Schicksal“ oder „Chance“ ausser Acht liessen, an denen ihr Konzept der Akkulturation eigentlich anknüpfte. Bereits Vertreter dieses Assimilationskonzeptes hätten in dieser nämlich nicht allein eine Anpassung, sondern eine Quelle neuer jüdischer „Vitalität“ und „Krea157 Lässig (2004), S. 665 – 669. 158 Lässig (2004), S. 289. 159 Van Rahden (1996), S. 409 – 434. Sein eigentliches Ziel ist es, nachzuweisen, dass die deutschen Juden im Kaiserreich kein geschlossenes Sozialmilieu darstellten wie etwa die Katholiken, sondern eine ethnische Gruppe, die sich offener nach aussen verhielt als ein Sozialmilieu, ablesbar etwa an Mitgliedschaften in nichtjüdischen Vereinen, dem Fehlen einer jüdischen Milieupartei, einer jüdischen Tageszeitung oder der Nutzung nichtjüdischer Bildungsangebote. 160 Van Rahden (1996), S. 423. 161 S. z. B. Özkan (2013).

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tivität“ gesehen und Beispiele gegeben, dass „auch in der Blütezeit der Assimilation […] Reformjuden weder ihre eigenen religiösen Traditionen verleugnet noch das Christentum als dominierende Religion nachgeahmt“ hätten.162 Auch heute gelte es, Assimilation als Form kreativen Handelns zu begreifen, das nicht nur Anpassung, sondern aktive Aneignung, Übersetzung und Verhandlung meine. Zudem müsse man auf die teleologischen und kulturimperialistischen Annahmen des linearen Assimilationsmodells verzichten und auch keine asymmetrische und hierarchische Beziehung voraussetzen.163 David N. Myers tat dies mit der Unterscheidung zwischen einer selbstverleugnenden Assimilation und einer konkurrierenden bzw. mimetischen Assimilation. Wenn im zweiten Fall eine kulturelle Gruppe, etwa die Juden, von einer anderen Kultur etwas übernähme, so gebe sie damit nicht ihre kulturelle Besonderheit auf. Vielmehr entstehe eine neue „Legierung“ oder Hybride, die stärker als jede ursprüngliche Komponente für sich allein sei.164 Im Rahmen dieser „Wiederbesinnung“ auf den Assimilationsbegriff formulierte van Rahden noch eine ähnliche, die meisten der vorgestellten Konzepte betreffende Kritik: Diese Modelle gingen von der inadäquaten Vorstellung aus, dass es das „Eigene“ und das „Fremde“ in Reinkultur und bipolarer Gegenüberstellung gäbe oder gegeben habe. Diese essentialistische Sicht nehme die Existenz von überzeitlichen jüdischen „Wesenselementen“ an. Doch die Trennung in eine „eigene“, jüdische, und eine „fremde“ Kultur sei meistens falsch und ahistorisch. Stattdessen gelte es, die immer vorhandenen gegenseitigen Beeinflussungen der Kultur der Juden und ihrer jeweiligen Umgebung im Blick zu behalten.165 Es bleibt allerdings zu überlegen, wie weit die Trennung in Eigenes und Fremdes heuristisch notwendig ist und das Problem lediglich darin besteht, den gedachten Idealtypus mit dem Realtypus zu verwechseln.166 „Identität“ in Diskursen jenseits Jüdischer Studien: Postkoloniale Kritik, Interethnik, Interkulturelle Kommunikation Parallel zu dieser Debatte um ein neu formiertes jüdisches Selbstverständnis stand der traditionell ebenso inflationär wie häufig auch unscharf gebrauchte Begriff der (kulturellen167) Identität168, speziell derjenige der „hybriden

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Van Rahden (2005), S. 248, 255, 258 (Zitat), 259. Van Rahden (2005), S. 261 f. Myers (2002). Van Rahden (2005), S. 262 f.; Biale (2002); Hödl (2006), S. 39. Vgl. zur Illustration dieses Ansatzes anhand eines anderen Beispiels Wolff (1998d). Unter „kultureller Identität“ versteht z. B. Hall die ethnische, sprachliche, religiöse und nationale Identität (Hall 2002), S. 180. Es dürfte sich allerdings kaum eine Form von Identität fassen lassen, die nicht auch „kulturell“ ist. Gemeint ist also eher die Analyse von Identität aus

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Identität“, auch in einem anderen Diskussionszusammenhang im Mittelpunkt, dem so genannten „postkolonialen Diskurs“.169 Als Weiterführung und Kritik der Vorstellungen von Multikulturalität170 wurde unter Sozial- und häufig auch Literaturwissenschaftlern seit den 1980er Jahren die These entwickelt, dass Migranten von ehemaligen Kolonien in die Kolonisatorenländer heute in der Regel weder die Identität ihres Herkunftslandes bzw. dessen Kultur aufgeben und sich vollständig assimilieren, noch diese unverändert beibehalten. In ihrer typischen Situation des Dazwischenseins und der Heimatlosigkeit entwickelten sie eine Mischform, eine hybride Kultur und Identität, die nicht nur Teile beider Kulturen enthalte, sondern ein eigenes Drittes, ein eigener Lebensstil sei.171 Stuart Hall beschrieb dies sogar in der Begrifflichkeit der Grundfragestellungen dieser Arbeit: „Solche Menschen erhalten starke Bindungen zu den Orten ihrer Herkunft und zu ihren Traditionen, jedoch ohne die Illusion, zur Vergangenheit zurückkehren zu können. Sie sind gezwungen, mit den Kulturen, in denen sie leben, zurechtzukommen, ohne sich einfach zu assimilieren und ihre eigene Identität vollständig zu verlieren. Sie tragen die Spuren besonderer Kulturen, Traditionen, Sprachen und Geschichten, durch die sie geprägt wurden, mit sich. Der Unterschied ist, dass sie nicht einheitlich sind und sich auch nie im alten Sinne vereinheitlichen lassen wollen, weil sie unwiderruflich Produkt mehrerer ineinander greifender Geschichten und Kulturen sind und zu ein und derselben Zeit mehrerer ,Heimaten‘ und nicht nur einer besonderen Heimat angehören.“172 Dieses „Dritte“ sei allerdings keine weitere in sich geschlossene Entität, sondern ein variables Produkt aus Einflüssen der anderen Kulturen sowie Aneignungen und Auseinandersetzungen mit ihnen. Sie sei in sich plural angelegt und bestehe durch den Kontakt mit anderen Kulturen oder Identitäten. Ihre Pluralität sei kein paralleles Nebeneinander mehrerer Identitäten, sondern ein neues „Amalgam“, „zusammengebastelt“ aus Teilen der anderen Identitäten.173 In der Abstraktion eines Lexikonartikels zusammengefasst liest sich dieses Konzept so: Hybridität „fasst Kulturkontakte nicht mehr essentialistisch bzw. dualistisch, sondern entwirft einen ,dritten Raum‘, in dem die Konstitution von Identität und Alterität weder als multikulturelles Nebeneinander noch als dialektische Vermittlung, sondern als unlösbare und wechselseitige Durchdringung von Zentrum und Peripherie, Unterdrücker und Unterdrücktem modelliert wird“.174 Die Diktion macht einen weiteren

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kulturwissenschaftlicher Perspektive. Im Folgenden wird in dieser Arbeit deshalb einfach von Identität gesprochen, da ihre kulturwissenschaftliche Fragestellung ohnehin gegeben ist. Bausinger (1978), S. 204. Vgl. z. B. Bronfen (1997). Als grundlegender Beitrag s. Hall (2002). Vgl. auch Gilman (2006). Niedermüller (2003). Hall (2002), S. 218. Niedermüller (2003), S. 78. Nünning (2004), S. 269.

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Umstand deutlich: Es geht dem postkolonialen Diskurs nicht allein um Gesellschaftsanalyse, sondern um eine gezielte Kritik an in seiner Sicht überkommenen Modellen kultureller Repräsentation wie nationaler Kultur oder nationaler Identität. Eine besondere Bedeutung erhielt der Diskurs darüber hinaus durch den Umstand, dass diese postkoloniale hybride Identität als Beispiel oder Modell für das Wesen moderner Identitäten schlechthin verstanden wird. Häufiges Illustrationsfeld für solche hybride Identitäten ist die Literatur postkolonialer Migranten. Wie sehr diese Hybridität auch in den Alltag der Mehrheit eindringt, zeigen Beispiele wie die Pop-Musik, die verschiedenste kulturelle Einflüsse aufnimmt, oder das so genannte „Fusioncooking“, in das unterschiedliche kulinarische Stile eingehen.175 Das Modell wurde in der Folge zunehmend auch zur Untersuchung historischer Beispiele angewandt,176 etwa im Vielvölkerstaat des Habsburgerreichs.177 In verschiedener Hinsicht geht dieses „postkoloniale“ Modell der hybriden Identität an dem vorbei, was in der vorliegenden Arbeit untersucht werden soll. Zu nennen ist vor allem, was im postkolonialen Diskurs unter den Begriffen „Zentrum“ und „Peripherie“ verhandelt wird, übersetzt in unsere Diktion etwa: das Verhältnis zwischen Mehrheits- und Minderheitskultur. So wird in dieser Untersuchung nicht gefragt, wie die jeweiligen Machtverhältnisse zwischen jüdischer und nichtjüdischer Kultur verteilt sind, wie weit die Minderheitskultur diejenige der Mehrheit transformiert hat oder gar der wesentliche Entstehungsort von Moderne ist.178 Auch teilt diese Untersuchung nicht den „subversiven“179 Impetus postkolonialer Kritik, der hybriden Kultur der Peripherie zu mehr „repräsentativer Macht“180 zu verhelfen und sie als positiv besetzten Gesellschaftsentwurf hinzustellen.181 Gemeinsamkeiten finden sich eher im analytischen Verständnis hybrider Identität. Für unser Beispiel, die bereits skizzierte Debatte um die Neuformierung jüdischer Identität, sind die Überschneidungen vordergründig frappierend. Genauer betrachtet ist der Erkenntniszugewinn der postkolonialen Kritik für unsere Fragestellungen aber begrenzt. Wenn der postkoloniale Diskurs einen „dritten Ort“ ausmacht zwischen der traditionalen, aus dem Kolonialland stammenden Identität und der differenten Kultur des Migrationszieles, dann sind die Parallelen zum Modell jüdischen Identitätswandels mit erstens herkömmlichem jüdischem Selbstverständnis, zweitens „hegemonialer“ nichtjüdischer Mehrheitskultur und dem daraus entstehenden „Dritten“, einer neuen jüdischen Identität, offensichtlich. Auch die Grundannahme, Identität nicht als einen einzigen geschlossenen und starren 175 176 177 178 179 180 181

Bronfen (1997), S. 14. Viele internationale Beispiele in Burke (2009). Vgl. Feichtinger (2003). Bronfen (1997), S. 7 – 15. Nünning (2004), S. 269. Bronfen (1997), S. 12. Niedermüller (2003), S. 75.

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Block anzunehmen, sondern als vielfältiges, wandelbares System mit unscharfen Grenzen und wechselseitigen Beeinflussungen („relational, relativ und prozessual“182), besteht gemeinsam. Gerade die Vorstellung der Übernahme von Elementen der Mehrheitskultur korrespondiert eng mit dem Verständnis, die „Verbürgerlichung“ der Juden nicht allein als Assimilation, sondern als Teil einer eigenen Identität zu betrachten. Insofern wären sie ein historisches Beispiel für eine hybride Identität in diesem Sinne. Entsprechend wird der „postkoloniale Diskurs“ vor allem in der jüdischen Geschichtsschreibung angloamerikanischer Provenienz in den letzten Jahren durchaus als Anregung gewertet, „dass die Kultur des Kolonisators von den Kolonisierten nicht unverändert aufgenommen“, statt dessen „adaptiert, modifiziert, ja unwiderruflich transformiert“ wird (Myers). Dies bedeute einen Prozess des kulturellen Austausches und der unaufhörlichen Dynamik, des Aushandelns, auch in der jüdischen Geschichte. Damit reduziere sich aber auch die Perspektive der mit dem Assimilationskonzept verbundenen „Selbstverleugnung“ und der „kulturellen Kapitulation“.183 Andersherum liesse sich allerdings auch sagen, dass demnach in der jüdischen Geschichtsschreibung, namentlich bereits in der weiten und offenen Akkulturationstheorie, bereits seit langem mit ähnlichen theoretischen Annahmen wie denjenigen der postkolonialen Kritik gearbeitet wird, selbst wenn dies dort häufig nicht explizit und nicht so theoretisch ausformuliert ist. Auch im Hinblick auf die volkskundliche Disziplin sind einige der Postulate des postkolonialen Diskurses über Identitäten nicht völlig neu. In der Volkskunde beispielsweise finden sich seit langem Stimmen, die Ähnliches fordern. Bezeichnenderweise war es ein volkskundlicher Vertreter des Vielvölkerstaates der Habsburgermonarchie, der bereits vor über einhundert Jahren, nämlich 1896, forderte, die „Wechselbeziehungen in Sitten und Gebräuchen, Sagen und Lied, von Volk zu Volk“ zu untersuchen, „besonders wo die unmittelbare Nachbarschaft ein sehr begreifliches Bindeglied abgibt“.184 Man kann dies frei in die heutige Sprache übersetzt als ein Bekenntnis zur wechselseitigen Hybridisierung von Kultur lesen, auch wenn der Gedanke andere Intentionen als die heutigen barg. 1978 hat Hermann Bausinger den Begriff der Identität als eines der Zentren volkskundlicher Forschung proklamiert und dabei (in aus der heutigen Sicht dezenter Form) auf die Komplexität zeitgenössischer Identitätsmodelle und ihr Gemachtsein hingewiesen, auf fliessende Grenzen und Hybridisierungsphänomene, die damals noch nicht so genannt wurden, etwa bei Umsiedlern.185 Volkskundliche For182 Vgl. Niedermüller (2003), S. 70, 76. 183 Myers (2002). 184 Es handelt sich um Alexander Helfert, damals erster Vizepräsident des Vereins für österreichische Volkskunde, geschrieben in der Zeitschrift für Österreichische Volkskunde. Zitiert nach Schenk (2001), hier S. 366, 382. 185 Bausinger (1978). Auch Gisela Unterweger konstatierte, dass sich die Volkskunde schon lange

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schungsfelder wie die Interethnik und die Interkulturelle Kommunikation befassen sich mit dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen und haben sich mehr oder weniger intensiv mit Fragen dynamischer Identitäten auseinandergesetzt. Interkulturelle Kommunikation ist dabei immer ein interaktiver, aber meist asymmetrischer Prozess.186 Identitäten sind im Verständnis der Interethnik nicht essentialistisch, sondern flexibel, mischbar und entwickeln sich in der wechselseitigen Konfrontation.187 Das Forschungsfeld setzt sich hier dezidiert von der eigenen Geschichte, etwa der Sprachinselforschung mit ihrem Verständnis einer abgeschlossenen Nationalkultur, oder assimilatorischen Ideen des „Melting pot“ ab.188 Bedingt originell ist der postkoloniale Diskurs also am ehesten damit, einen Schritt über die Pluralisierung des Identitätsmodells hinauszugehen und speziell auf den Prozess des Zusammenkommens verschiedener Elemente zu achten, etwa mit dem Modell des Zusammenbastelns bzw. der Möglichkeit unterschiedlicher, sich situativ ändernder Identitätskonstellationen.189 Fragt man jedoch danach, wie dieses Konzept hybrider Identitäten für die konkrete Forschung instrumentalisiert werden soll, stösst zumindest die Übersichtsliteratur schnell an Grenzen. Es ist üblich, sich in diesem Diskurs auf Metaphern wie der des „verknoteten“ Subjekts oder der „Übersetzung“190 von Identitäten abzustützen, was literarisch eindrucksvolle Beschreibungen ermöglicht, aber wenig konkrete Anwendungsvorschläge gibt. In der Folge werden dort auch weder klarere Strukturmodelle hybrider Identitäten gegeben noch Fragenkataloge, nach welchen Mustern Hybridisierungsprozesse ablaufen können. Vereinzelt wird aufgrund der Gefahr, mit solchen Modellen und Mustern neue essentialistische Vorstellungen von Kultur oder Identität zu produzieren, sogar explizit davon abgeraten, „Hybridität als analytisches Instrument zu verwenden, mit dem systematisch zu rekonstruieren wäre, welche differenten Einflüsse zu welchen Handlungsweisen führen.“191 Dies übersieht m. E. aber, dass Modelle und Konzepte immer mit Vereinfachungen arbeiten müssen, sie aber auch immer nur als Annäherungen an die Realität verstanden werden können und nicht als deren Abbild. Aus diesem Grund wird die vorliegende Arbeit das angehen, was die einschlägige Literatur nur zu oft vermissen lässt: Strukturen und Muster von Hybridität zu suchen mit Fragen wie: In welchem hierarchischen Verhältnis stehen bestimmte Identitätsteile, wie explizit werden Identitäten z. B. situa-

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mit den Phänomenen befasst, die neuerdings mit dem Begriff „Hybridität“ bezeichnet werden. Unterweger (2002), S. 7. Roth/Roth (2001), vor allem S. 391, 394. Tschernokoshewa (2009, 2011). Eisch (2001), vor allem S. 145. Schenk (2001). Niedermüller (2003), S. 78. Hall (2002), S. 217 – 219. Weißköppel (2005), S. 338.

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tiv192 repräsentiert, an welchen Orten treten sie in Erscheinung? Welche Identitätsteile können besser, welche schlechter kombiniert werden? Fragen wie diese lassen sich viele finden. Antworten werden in der Literatur eher in Stichworten denn in Modellen gegeben. Die Folge ist, dass das Konzept der Hybridität bei der Anwendung schnell wieder z. B. in das der Pluralität193oder der einfachen „Vermischung“194 zurückfällt. Auch an der Begrifflichkeit wird die Unschärfe deutlich. So ist zum Teil unklar, ob die Autoren begrifflich von einer (hybriden) Identität sprechen, die sich aus vielfältigen Faktoren zusammensetzt, oder von einem Modell multipler Identitäten ausgehen, die in einem Verhältnis zueinander stehen. Man kann zusammenfassen: Disziplinen, die sich mit dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen und einem damit verbundenen Kultur- und Identitätswandel befassen, haben in den letzten Jahrzehnten nach und nach unterschiedliche Theorien und Begriffe auf den Markt gebracht. So vielfältig allerdings die Begriffe sind, so ähnlich sind doch die damit verbundenen Aussagen. Sei es nun die Kritik der „Akkulturisten“ an den „Assimilisten“, die Kritik der Vertreter einer mehr oder weniger eigenwertigen, wenngleich hybriden modernen jüdischen Kultur (Sorkin, Lässig) an den „Akkulturisten“ oder wiederum die Verteidiger des geläuterten Assimilationsbegriffs: Wie ein roter Faden zieht sich durch die Konzepte die Kritik an der Annahme von Essentialität, Natürlichkeit, Singularität, Statik und Abgeschlossenheit von Identität. Was den Kontakt unterschiedlicher Kulturen miteinander betrifft, eint die Konzepte die Kritik am Modell der generellen Identitätsaufgabe. An ihre Stelle tritt die Betonung der relativen Bedeutung von Wandlung und gegenseitiger Beeinflussung der Kulturen (selbst in einem Zeitalter der National-Kulturen) sowie dem Entstehen neuer Identitäten aus veränderten Versatzstücken älterer Selbstverständnisse. Sicherlich wurde das Modell mit der Zeit verfeinert, die Richtung blieb jedoch die gleiche. Für die vorliegende Untersuchung und ihre Frage nach einer „modernen jüdischen Identität“ können aus dieser Zusammenstellung einschlägiger theoretischer und konzeptioneller Überlegungen einige Schlussfolgerungen gezogen werden. • Diese Arbeit untersucht nicht in erster Linie den Kontakt und Austausch zweier Kulturen. Sie muss sich daher nicht für einen Begriff, der das Verhältnis zur Mehrheitskultur bestimmt (wie „Assimilation“, „Akkulturation“ oder „Transformation“), entscheiden. • Es ist verkürzend, kulturellen Wandel nur als Identitätsverlust zu begreifen. Er wird adäquater beschrieben, wenn er unter der Perspektive des Wandels 192 Niedermüller (2003), 78: „individuelle, sich situativ ändernde Identitätskonstellationen“. 193 Z.B. Kovacs (2003), S. 202 f.: Hybridität wird hier vor allem als Pluralität der Identitäten dargestellt. Die beschriebene Person versteht sich als Jude, National-Ungar und Kosmopolit. 194 Z.B. Bronfen (1997), S. 14.

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von Identität verstanden wird. Dazu kann auch die Entstehung einer neuen, z. B. einer modernen jüdischen Identität zählen. Der Begriff der Identität sollte nicht wertend verstanden werden. Eine moderne jüdische Identität ist somit für die vorliegende Arbeit weder ein Idealmodell noch ein Negativbeispiel. Es ist statt einer Bewertung der Versuch, die historischen Entwicklungen in einem Modell zu erklären. Das Konzept einer im Singular bezeichneten modernen jüdischen Identität ist ein heuristisches Konstrukt. Identitäten existieren in der Regel nicht in Reinkultur, sondern in Mischformen. Reine Formen sind als gedachte Idealtypen allerdings wichtige heuristische Instrumente, um einzelne Wesensmerkmale von komplexen Identitätskonstellationen herauszuarbeiten. Identität ist immer ein plurales Phänomen. Wie jede Identität ist auch eine (moderne) jüdische Identität gleichzeitig aus verschiedenen Einzelteilen zusammengesetzt, wie sie auch nur eine Identitätsform neben anderen darstellt. Identitätsteile lassen sich nicht trennscharf voneinander abgrenzen. Teilidentitäten stehen in einem Verhältnis zueinander wie etwa Hierarchie, Konflikt, Koexistenz oder gegenseitiger Ergänzung. Solche Identitätskonstellationen können sich unter veränderten Bedingungen wandeln, im Zeitverlauf oder je nach Situation. Identitäten zeigen sich in äusseren Formen und in Inhalten kultureller Phänomene. Beides muss sich nicht gleichzeitig wandeln. Der Wandel der Inhalte eines Phänomens bei gleichzeitiger Bewahrung der äusseren Form kann ein Stabilisierungsfaktor im Wandlungsprozess sein. Identitäten einer Kultur können sich wandeln, wenn Vorstellungen der Aussenwelt übernommen werden. Der Identitätswandel kann aber genauso auch innerhalb der eigenen Kultur ausgelöst worden sein. Die Übernahme von Teilen einer fremden Kultur führt nicht einfach nur zu einer Übernahme der fremden Identität in Form einer blossen „Anpassung“. Aus dem Nebeneinander von eigenen Identitätsteilen und der Übernahme fremder Identitätsteile entsteht in der Regel mehr als ein Nebeneinander, es entsteht durch Aneignung eine eigene, neue, dritte, häufig als „hybride“ bezeichnete Identität. Da solche Übernahmen ständig stattfinden, ist Hybridität in diesem Sinne kein neues oder einzelnes, sondern ein ubiquitäres Phänomen. Aus einer fremden Kultur übernommene Phänomene können somit Teil der eigenen Identität sein, auch wenn sie äusserlich als blosse Übernahme der fremden Kultur erscheinen.

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2 Ärzte zwischen jüdischer Identität und professionalisiertem Berufsverständnis 2.1 „Gelehrte“ und „Reformer“: Jüdische Ärzte im Berlin des 18. Jahrhunderts als Aktivisten des kulturellen Wandels Das folgende Kapitel untersucht die Biographien von 17 Berliner jüdischen Medizinern, die zwischen 1735 und 1800 in der preussischen Metropole als akademische Ärzte tätig waren. Es verfolgt damit eine mehrfache Zielsetzung. Indem es zeitlich auf das frühere 18. Jahrhundert zurückgreift, blickt es auf den ungefähren Ausgangspunkt des zu untersuchenden Wandlungsprozesses. „Ungefähr“ ist er, weil es absolute Ausgangspunkte in kulturellen Prozessen in der Regel nicht gibt. Das Kapitel beginnt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in dem der Eintritt der Juden in den akademischen Arztberuf noch in der Frühphase war, jüdische Ärzte zwar bereits Attitüden der bürgerlichchristlichen Mehrheit annahmen, aber noch mehr oder weniger fest in der jüdischen Kultur und Tradition verhaftet waren. Es ist auch ein Zeitpunkt, zu dem weder die Aufklärung noch die Haskala in Berlin Fuss gefasst hatten und auch die Debatten um Emanzipation und „bürgerliche Verbesserung“ der Juden noch anstanden. Mit dem Zeitraum bis 1800 und einigen Ausgriffen kann der Prozess, der als Verbürgerlichung, Eintritt in die bürgerliche wie auch die wissenschaftliche Gesellschaft oder Akkulturation bezeichnet wird, dann detailliert nachgezeichnet werden. Spätestens mit dem Ende des Jahrhunderts waren alle diese Bewegungen in voller Blüte. Zweitens steht das Kapitel am Anfang, weil mit ihm eine Grundlage dieser Arbeit dargelegt werden kann: der Umstand, dass die Gruppe der jüdischen akademischen Ärzte eine ganz bedeutende Rolle im untersuchten kulturellen Wandlungsprozess gespielt hat und als einer seiner Vorreiter bezeichnet werden kann. Das herausragendste Merkmal dieser Gruppe ist nämlich, dass sie sich praktisch vollständig im Sinne der Haskala, der so genannten „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden bzw. der Reformbewegung engagierte. Der dritte Grund schliesslich, warum dieses Kapitel in dieser Art am Anfang der konkreten „Tiefenbohrungen“ der Untersuchung steht, ist der Umstand, dass in ihm – man ist versucht zu sagen: als Ouvertüre – ein grosser Teil der Themen, Fragestellungen und Phänomene der gesamten Arbeit bereits angesprochen wird. Die von den Ärzten repräsentierten Rollenmodelle etwa des „Gelehrten“ oder des „professionellen Arztes“ verweisen auf die Bedeutung ihrer Berufsidentität, deren Zusammenhang mit der jüdischen Identität in späteren Kapiteln vertieft wird. Das Rollenmodell des „Reformers“ zeigt

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2 Ärzte zwischen Identität und Berufsverständnis

bereits die Spannung auf, die sich zwischen einer Distanzierung vom traditionellen Judentum, vom Judentum überhaupt und den Versuchen einer Neubestimmung des Jüdischen auftut, was auch später noch ein durchgängiges Thema sein wird. In einem Aspekt schliesslich geht das Kapitel über die anderen hinaus. Der lokale Ansatz ermöglicht im Gegensatz zum thematischen (etwa der Beerdigungsfristenstreit), nicht nur medizinisch relevante Reformdebatten, sondern darüber hinaus die Beiträge von jüdischen Ärzten zur gesamten Frage der „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden zu verfolgen. Die ersteren erscheinen damit eingebettet im grösseren Zusammenhang der allgemeinen jüdischen Reformbewegung. Das Beispiel Berlin wurde schliesslich gewählt, weil sich an ihm dieser Prozess aus Quellengründen besonders plastisch aufzeigen lässt. Die neuzeitliche jüdische Gemeinde Berlins1 wurde, eineinhalb Jahrhunderte nach der Vertreibung der Juden aus der Mark Brandenburg, 1671 gegründet, als diese Bevölkerungsgruppe aufgrund der Peuplierungspolitik des Grossen Kurfürsten wieder eine begrenzte Niederlassungserlaubnis erhalten hatte. Die Zahl ihrer Mitglieder stieg allmählich auf einen Höchststand von 3800 oder knapp drei Prozent der Bevölkerung, um bis zum Ende des Jahrhunderts um 3300 und um die zwei Prozent der Bevölkerung zu schwanken. Berlin wurde so zur bedeutendsten der preussischen Judengemeinden. Der rechtliche Status blieb bis zur Emanzipation der Juden im Jahre 1812 ein schlechter, und auch die Gleichstellung wurde nach den Napoleonischen Kriegen teilweise wieder zurückgenommen. Bis spät ins 18. Jahrhundert war die Berliner Jüdische Gemeinde im Ganzen eher traditionell orientiert. Nichtsdestotrotz stellte Berlin einen der Entstehungskerne der deutschsprachigen Haskala dar und wurde zu ihrem eindeutigen Zentrum. Reformbefürworter fanden sich allerdings eher in bildungsorientierten, gehobeneren Teilen der Gemeinde.2 Auch wenn bereits für die 1690er Jahre ein Judenbarbier, ein jüdischer Zahnarzt sowie ein (wahrscheinlich nicht akademischer) jüdischer Arzt namens Loebel in Berlin verzeichnet sind,3 stellten jüdische Mediziner hier doch erst ab 1735 ein kontinuierliches Phänomen dar. Im Berlin des späten 18. Jahrhunderts finden wir dann bereits eine erstaunlich grosse Anzahl von Ärzten aus der dortigen jüdischen Gemeinschaft. Ab dem Jahr 1765 sind die jüdischen Ärzte mit einiger Vollständigkeit sogar namentlich im Berliner Adress-Kalender mit Wohnort und möglichen zusätzlichen Funktionen aufgelistet.4 Manfred Stürzbecher hat diese Verzeichnisse auf die Frage nach der 1 2 3 4

Vgl. hierzu Scheiger (1990), Lowenstein (1994). Lowenstein (1994), S. 140 – 142, 256. Vgl. Geiger (1871), S. 57. Adress-Kalender der Königlich-Preußischen Haupt- und Residenz-Stadt Berlin, besonders der daselbst befindlichen hohen und niederen Collegien, Instanzien und Expeditionen (…). So der

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2.1 „Gelehrte“ und „Reformer“

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medizinischen Versorgung Berlins hin ausgewertet und das medizinische Personal, darunter auch die jüdischen Ärzte, im Anhang seines Beitrages in einer Tabelle wiedergegeben.5 Demnach stieg die Zahl der jüdischen Ärzte in Berlin von drei im Jahre 1765 über dreieinhalb Jahrzehnte bis zum Ende des Jahrhunderts relativ kontinuierlich auf durchschnittlich zehn, maximal zwölf an. Die Zahl der christlichen Ärzte wuchs im gleichen Zeitraum mit weniger Kontinuität von 25 auf 40.6 Der Anteil der jüdischen Ärzte an der Gesamtzahl der Mediziner wuchs innerhalb der genannten 35 Jahre von einem runden Zehntel auf ein gutes Fünftel bis zu etwas mehr als einem Viertel. In jedem Fall waren jüdische Ärzte damit im Vergleich zum Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung Berlins dieser Zeit stark überrepräsentiert, was bekanntermassen auch auf die hohe akademische Aspiration und die Wertschätzung des Arztberufs in der Judenschaft der Zeit zurückzuführen ist. Der Status der jüdischen Ärzte war im Vergleich zu dem anderer Berufsgruppen nicht der schlechteste. So hielt einer von ihnen über die Gruppe fest: „Sie haben zwar das Vorrecht, dass sie, wenn sie sich verheirathen, keiner Privilegien bedürfen, und auch in solchen Städten wohnen können, wo sonst kein Jude gelitten wird, allein sie müssen doch ihre Immatrikulation, und Erlaubniss zum Curiren theurer bezahlen, als die christlichen Ärzte; sie können keine Physikate erhalten.“7 Insgesamt konnten 17 Juden nachgewiesen werden, die bis einschliesslich dem Jahr 1800 in Berlin als Ärzte in eigener Praxis oder am Jüdischen Krankenhaus8 tätig waren. Es sind einige bekanntere Namen oder Angehörige prominenter Berliner Juden darunter wie Marcus Herz, der Kantschüler, spätere Philosophie-Professor und Ehemann der SaloniÀre Henriette Herz, weiter der begeisterte und bis heute bekannte Ichthyologe Marcus Elieser Bloch, dann Aron Gumpertz, der Mitbegründer der Berliner Haskala,9 Privatgelehrte und frühe Mentor von Moses Mendelssohn, welcher den Letzteren mit Lessing bekannt machte. In der Gruppe findet sich Isaak (bzw. Carl Eduard, teils Bernhard) Fließ, der Komponist von „Schlafe, mein Prinzchen“ und Sohn des preussischen Bankiers und Hofjuden Beer Fließ, weiterhin der Freund und Biograph des jüdischen Philosophen Salomon Maimon namens

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Titel im Jahre 1787. Der Titel des Periodikums wechselt verschiedentlich. Im Folgenden wird er zitiert als „Adress-Kalender“. In dem Kalender wurden vor allem königliche und andere öffentliche Bediente aufgelistet. Die Ärzte als „Particulair-Personen“ wurden wegen der Nachfrage nach den Adressen aus der Bevölkerung hinzugefügt. Zwischen 1808 und 1817 erschien dieses Periodikum allerdings nicht. Eingesehen wurden alle mit vertretbarem Aufwand verfügbaren Ausgaben. Stürzbecher (1966), S. 74, 146 f. Um 1780 fällt die Anzahl der christlichen Ärzte auf minimal 22 ab und steigt danach langsam wieder an. Davidson (1798a), S. 98. Kotowski/Schoeps (2007). Freudenthal (2003, 2005).

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2 Ärzte zwischen Identität und Berufsverständnis

Sabattia Joseph Wolff und schliesslich Michael Friedländer, der Neffe des Reformers und ersten jüdischen Berliner Stadtverordneten David Friedländer. Ihr Beitrag zur Berliner Haskala ist bedeutend. Über viele dieser Doktoren liegen auch mehr oder weniger ausführliche Quellen vor. Forschungen zur Geschichte der Juden in Berlin, zu jüdischen Ärzten sowie zur Berliner und allgemeinen Medizingeschichte haben immer wieder einzelne oder mehrere der einschlägigen Personen herausgegriffen und untersucht.10 Eine detaillierte Gesamtdarstellung steht meines Wissens jedoch bis heute noch aus. Diese 17 Ärzte stellen mit ihren Aktivitäten im Berlin dieses Zeitraums die Materialbasis und den Kern der Untersuchungsgruppe. Integriert wurden allerdings auch Aktivitäten, die sie in Berlin vor ihrer Promotion, vor ihrem Zuzug nach Berlin oder während zeitlich befristeter Abwesenheiten von der Stadt unternommen haben. Einschlägige Aktivitäten nach 1800 wurden zum Teil ebenfalls übernommen. Da sich das Kapitel im Kern auf eine Gruppe von Einzelbiographien stützt, haben die gesamten Lebensläufe der untersuchten Ärzte eine spezielle Bedeutung als informativer Hintergrund. Aus diesem Grund werden die jeweiligen Biographien im Folgenden zur Einführung der jeweiligen Person als solcher im Text zusammenhängend dargestellt, auch wenn die Einzelinformationen für den Argumentationsgang nur teilweise von direkter Bedeutung sind. Um der Übersichtlichkeit des Textes willen sind diese biographischen Abrisse grafisch abgesetzt. Zur Vervollständigung der Zusammenhänge werden auch Aktivitäten einzelner jüdischer Studenten am Berliner Collegium medico-chirurgicum bis 1800 erwähnt, sie selber sind aber nicht Teil des Samples. Das „Collegium“ war eine nichtuniversitäre medizinische Ausbildungsstätte, die viele Medizinstudenten als (praktische) Station ihres Studiums nutzten bzw. als künftige preussische Ärzte besuchen mussten, an der sie ihr Studium abschliessen konnten, aber nicht mit der Promotion. Zu einem anderen Teil war es eine Ausbildungsstätte für (Militär-)Chirurgen.11 Einer der Ärzte unseres Samples beschrieb dies so: „Der Arzt der sich im Preußischen setzen will, muss zuerst einen anatomischen Cursum machen; er bekommt nehmlich 6 anatomische Lectionen auf, welche er in der Natur ausarbeiten und sie dann demonstrieren muss, eine, die Öffentliche genannt, in Gegenwart aller Professoren, und die andern fünfe, jede unter einem einzelnen Professor. Wenn dieses geschehen ist, wird er von 4 Professoren in allen Theilen der Arzneikunde examinirt und dann muss er einen casum oder eine ihm aufgegebene Krankengeschichte ausarbeiten, und dann erst wird er approbirt.“12 10 Insbesondere kann auf die Dissertation von Sebastian Panwitz (2005/2007) über die „Gesellschaft der Freunde“ hingewiesen werden. In der Gesellschaft spielte eine Reihe jüdischer Berliner Ärzte eine Rolle. 11 Zu dieser Einrichtung und ihrem Verhältnis zu den Juden sowie der Zahl der jüdischen Studenten dort siehe Richarz (1974), S. 51 f. Vgl. auch Rüster (1987). 12 Davidson (1798b), S. 41.

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2.1 „Gelehrte“ und „Reformer“

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Verbreitung der Haskala Das herausragendste Merkmal dieser Gruppe ist, dass sich ihr allergrösster Teil im Sinn der Haskala oder anderer Bestrebungen einer Modernisierung des Judentums engagierte.13 Man kann einwenden, dass dies im Zentrum der Haskala und der deutschen Aufklärung nahe liegend ist. Doch es geht um mehr als eine besondere Häufigkeit. Es geht um eine fast vollständige Durchdringung dieser Gruppe mit den neuen Ideen. Die Biographien der wenigen Ärzte des Samples, von denen keine solchen Aktivitäten nachweisbar waren, sind ohnehin nur minimal dokumentiert, so dass fehlende Hinweise gut mit der Quellenlage zusammenhängen können. So etwa bei den beiden ab 1798 in Berlin praktizierenden Ärzten Moses Marcuse14 und Marcus Moddel15, über die biographisch kaum etwas bekannt ist. Moddel ist nur für zehn Jahre in Berlin als Arzt verzeichnet, Marcuse nur für acht, er starb zudem bereits 1808. Von Jeremias Jacob Wolff ist ein ausführlicher Lebenslauf überliefert,16 aus dem seine Einstellung zu einem modernen Judentum aber nicht hervorgeht. J.J. Wolff wurde 1759 in Harzgerode geboren und hat sich offenbar bereits in jungen Jahren in Berlin aufgehalten.17 17jährig schrieb er sich an der Universität Göttingen ein, um vier Jahre später (1780) dort zu promovieren. Ab 1782 praktizierte er in Berlin. Er heiratete im Jahre 1788 mit Hanna Marcuse eine Jüdin, die zuvor von ihrem zum Christentum konvertierten Mann geschieden worden war.18 Er war langjähriger

13 Diese These vertritt auch Lowenstein (1994), S. 207, Fussnote 8. Für ihren Zusammenhalt als Gruppe spricht auch das Heiratsverhalten untereinander. Vgl. Lowenstein (1994), S. 36. 14 Komorowski (1991), S. 76, schreibt ihn „Markuse“. Er wurde in Hannover geboren, schrieb sich 1792 im Berliner Collegium medico-chirurgicum ein, wechselte zwei Jahre später an die Universität Göttingen (siehe hierzu das folgende Kapitel) und promovierte 1796 an der Viadrina in Frankfurt/Oder. Vgl. Richarz (1974), S. 53, 62, 229. 1798 wurde er erstmals als jüdischer Arzt im Berliner Adress-Kalender verzeichnet, letztmals 1805. Es gibt keine Indizien, dass er konvertiert und danach als christlicher Arzt aufgelistet war. Marcuse starb offenbar bereits 1808 in Berlin. Vgl. Levin (1921), S. 2. Vgl. auch Storz (2005), S. 206. Es handelt sich offensichtlich nicht um den Maskil und jüdischen Arzt Moses Marcuse, der bei Feiner (2007), S. 93 f., erwähnt wird. 15 Komorowski (1991), S. 63, schreibt seinen Vornamen „Markus“. Marcus Moddel gab bei seiner Immatrikulation an, in Berlin geboren zu sein. Seine Promotion in Frankfurt/Oder datiert auf das Jahr 1783. Vgl. Komorowski (1991), S. 63 f. Er wurde allerdings erst fünfzehn Jahre später erstmals und bis 1807 als jüdischer Arzt in Berlin aufgelistet. In der nächsten Ausgabe des Adress-Kalenders aus dem Jahr 1818 wird sein Name nicht mehr genannt. 16 Siehe die ausführlichsten biographischen Angaben im Nachruf auf ihn in: Neuer Nekrolog (1835). Detaillierte biographische Daten auch in Jacobson (1968), S. 311. 17 Es „wurde ihm der erste wissenschaftliche Unterricht in Berlin zu Theil. Späterhin begab er sich nach Würzburg, wo er sich während seines dreijährigen Aufenthaltes die zum Studium der Arzneiwissenschaften erforderlichen Vorkenntnisse einsammelte“. Vgl. Neuer Nekrolog (1835). 18 Jacobson (1968), S. 311.

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2 Ärzte zwischen Identität und Berufsverständnis

Arzt bzw. Leiter des Jüdischen Krankenhauses,19 wurde 1814 zum Hofrat und 1830 im hohen Alter zum geheimen preussischen Hofrat ernannt. Wolff starb 1833 in Berlin.

Bei allen anderen ist die allgemeine Zuordnung zu Haskala, Reform oder einem modernen Verständnis von Judentum eindeutig.20 Auch die Gegenprobe bestätigt diese Annahme: Distanzierende Äusserungen und Einstellungen gegenüber diesen Bewegungen waren in keiner der eingesehenen Quellen nachweisbar, und unter den Berliner orthodoxen Juden fand sich in diesem Zeitraum kein Arzt.21 Es versteht sich fast von selbst, dass diese Ärzte mit ihren Tätigkeiten nicht nur „Maskilim“ waren, welche die jüdische Aufklärung voranbringen wollten, sondern auch „Aufklärer“ im Wortsinn der bürgerlichen Bevölkerungsmehrheit, zu der sie zwar nur teilweise, aber doch zunehmend zählten, und im Sinne der typisch deutschen Ausprägung von „Aufklärung“ (d. h. eher pädagogisch-rationalistisch orientiert als politisch egalitär). Sie betrieben „aufgeklärte“ Naturforschung bzw. Philosophie und (medizinische) Volksaufklärung, machten Vorschläge für die „medicinische Polizey“,22 engagierten sich in aufklärerischen Gesellschaften und schrieben in aufklärerischen Zeitschriften. Rollenmodelle Der Prozess kulturellen Wandels lief unter den Berliner jüdischen Ärzten des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Phasen ab, für die jeweils bestimmte Aktivitäten bzw. Rollenmodelle bezeichnend waren. Diese brachen am Ende der Phase nicht unbedingt ab, wurden aber von anderen überlagert. Im Wesentlichen lassen sich zwei solcher Hauptmodelle unterscheiden, die in einer früheren und einer späteren Phase auftraten: zunächst das des „Arztes“ und „Gelehrten“ im Sinne eines akademisch gebildeten und publizistisch tätigen sowie seiner Profession bewussten Mediziners. Es wurde abgelöst vom Modell des „Reformers“ des Judentums, zu dem auch das Engagement als Propagandist der Emanzipation gehört. Was diese Verhaltensweisen zu Rollenmodellen macht, ist der Umstand, dass sie nicht nur auf einzelne der untersuchten Ärzte zutreffen, sondern immer auch für eine grössere Anzahl, insbesondere auch die weniger prominenten Personen. Hier beweist die Methode der lokal begrenzten „Tiefenbohrung“ eine wesentlich grössere Argumentationskraft 19 Im Jahre 1803 folgt Wolff dem verstorbenen Marcus Herz auf dessen Stelle als erstem Arzt am Jüdischen Krankenhaus. Vgl. Jacobson (1968), S. 311. Für das Jahr 1826 wird er als „Hauptarzt“ der Einrichtung bezeichnet. Vgl. Stürzbecher (1970), S. 69. Eine andere Quelle schreibt ihm die Funktion eines dirigierenden Arztes in diesem Haus ab 1820 bis zu seinem Tod zu. Vgl. Zur Geschichte (1887), S. 36. 20 Eine minimale Einschränkung: Bei Jakob Warburg (ab 1798 Arzt in Berlin) lässt sich dies nur daraus schliessen, dass er im frühen 19. Jahrhundert zum Christentum konvertiert sein dürfte. 21 Lowenstein (1994), S. 142. 22 Siehe z. B. Wahrig/Sohn (2003).

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2.1 „Gelehrte“ und „Reformer“

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als die des breiten Überblicks mit mehr oder weniger zufälligen, meist prominenten Beispielen. Deutlich wird der Wandel des zeittypischen Rollenmodells vor allem, wenn er gegen vorangegangene abgesetzt wird. Als aussagekräftiges Beispiel für die Ausgangsbasis, wenn auch als Einzelperson und nicht als eigenes „Rollenmodell“, kann die Biographie des ersten akademischen23 jüdischen Arztes unseres Zeitraums, Benjamin de Lemos,24 gelten. Dieser liess sich 1735 an der Spree als Arzt nieder, nachdem er im gleichen Jahr in Halle promoviert hatte.25 De Lemos kam damit ein Jahrzehnt vor den ersten Anzeichen der Haskala nach Berlin. Er zählt zu den ersten Juden, die an einer deutschen medizinischen Fakultät promovieren konnten.26 De Lemos war 171527 in Hamburg als Sohn eines sephardischen Maklers geboren worden.28 Nach kurzer Tätigkeit in Dessau liess er sich im selben Jahr in Berlin nieder und wurde 174729 Arzt am jüdischen Krankenhaus.30 1744 ist er als Gemeindearzt der Berliner Judenschaft bezeugt.31 Er dürfte bis kurz vor seinem Tod 1789 in dieser Stadt als Arzt tätig gewesen sein.32

Die Erinnerungen von Henriette Herz (1764 – 1847), seiner ersten Tochter aus zweiter Ehe33, skizzieren Benjamin de Lemos als einen im Privatleben sehr frommen Juden: „Mein Vater lebte streng im Gesetz seines Glaubens […]. Das Haus war völlig nach jüdischen Gesetzen und Gebräuchen eingerichtet.“34 Von der Arbeit nach Hause gekommen, las er – so Henriette über die Zeit ihrer Kindheit, d. h. wohl die frühen 1770er Jahre – gewöhnlich „in den heiligen Büchern“35. Henriette wurde von den Eltern bereits im Alter von 12 Jahren mit dem 15 Jahre älteren Marcus Herz verlobt, was ebenso traditionellen jüdischen Gewohnheiten entsprach.36 23 Dieses Ergebnis eigener Recherchen wird auch bestätigt von Herz (1984), S. 14. Der genannte jüdische Arzt namens Loebel in Berlin (vgl. Landau 1895, S. 119) dürfte nicht akademisch gebildet gewesen sein. 24 Biographische Basisdaten zu de Lemos finden sich vor allem bei Jacobson (1968), S. 111. 25 Vgl. Kaiser/Völker (1979), S. 13. 26 In der chronologischen Liste jüdischer medizinischer Promotionen von Komorowski (1991) nimmt er die Nummer 102 ein. Nur rund 15 medizinische Pomotionen von Juden fanden vor ihm an einer deutschen Universität statt. Vgl. Komorowski (1991), S. 33 – 44, insbesondere S. 44. 27 Richarz (2005), S. 149. 28 Richarz (1974), S. 50. 29 Dies schreiben zumindest Berndt/Andree (1987), S. 37. 30 Jacoby (1989), S. 32. 31 Jacobson (1968), S. 111. 32 In den späteren Auflagen des Adress-Kalenders wird er bis 1788 recht kontinuierlich erwähnt. 33 Seine erste Frau war 1762 gestorben. De Lemos verheiratete sich im Folgejahr wieder. Jacobson (1968), S. 111, zweifelt allerdings an, dass de Lemos’ zweite Frau die Mutter der Henriette gewesen ist. 34 Herz (1984), S. 14 f. 35 Herz (1984), S. 19. 36 Herz (1984), S. 21 f.

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2 Ärzte zwischen Identität und Berufsverständnis

Auch die vorliegenden Informationen über seine berufliche Tätigkeit zeigen stärkere traditionelle Orientierung nach innen auf die jüdische Gemeinde als bei Kollegen späterer Generationen. Berufliche Kontakte zu Christen hat de Lemos zweifellos regelmässig gehabt, aber überliefert sind doch diejenigen zu Juden. Zu Beginn seiner Berliner Zeit „bekam er schon bald Praxis bei seinen Glaubensgenossen“.37 Bekannt ist seine Tätigkeit am jüdischen Hospital Berlins über ein halbes Jahrhundert38 und als Arzt der jüdischen Gemeinde sowie seine Förderung der jüdischen Studenten am Collegium medico-chirurgicum.39 Dennoch gab sich Benjamin de Lemos nach aussen nicht ganz traditionell und abgeschottet. In der Kleidung, der er viel Aufmerksamkeit entgegenbrachte und für die er viel Geld ausgab, orientierte er sich an seinen (christlichen) Berufskollegen. „Seine Kleidung war, nach damaliger Zeit, elegant, feine tuchene und seidne und samtne Kleider, mit Tressen besetzt, immer Schuh und seidene Strümpfe, seidne Westen und der gleichen, feinste Wäsche, eine Knotenperücke und feinen dreieckigen Hut – und fing dieser Anzug auch schon damals an, altmodig zu werden, so stand er ihm doch sehr gut, und die älteren Ärzte zeichneten sich in der Zeit alle in ihrem Anzuge auf diese Weise aus.“40 Als sephardischer Jude sprach er grundsätzlich hochdeutsch und keinen „Jargon“41. Die Familie hatte, das lässt sich aus den Jugenderinnerungen vermuten, Kontakte mehrheitlich zu anderen Juden, es werden aber auch christliche Kreise genannt, etwa „Offiziere“ oder Adelsvertreter. Theaterund Opernbesuche gehörten schliesslich durchaus zum Leben der Familie.42 Vom Gros der nachfolgenden jüdischen Ärzte Berlins unterschied sich de Lemos darüber hinaus auch dadurch, dass er sich offenbar auch in späteren Lebens- und Berufsjahren nicht wie die meisten seiner jüngeren Kollegen im Rahmen der Haskala, der Aufklärung, Emanzipation oder der „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden engagierte.43 Auch ist von ihm keine Auseinandersetzung über das Verhältnis von Religion und z. B. Wissenschaft überliefert. Von de Lemos sind schliesslich keine „gelehrten“ Aktivitäten überliefert, wie sie für seine Nachfolger fast selbstverständlich waren. De Lemos muss damit zu einer älteren Generation gerechnet werden als die nachfolgenden frühen Aktivisten der Haskala.

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Herz (1984), S. 14. Jacoby (1989), S. 32, 38 f. Kaiser/Völker (1979), S. 13. Herz (1984), S. 15. Allerdings ist es in der Berliner jüdischen Gemeinde dieser Zeit nur noch wenig verbreitet gewesen, sich traditionell zu kleiden. Siehe Lowenstein (1994), S. 44. 41 Herz (1984), S. 14. 42 Herz (1984), S. 16 f. 43 Lowenstein (1994), S. 207.

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2.1 „Gelehrte“ und „Reformer“

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Gelehrte Am Anfang des kulturellen Wandlungsprozesses dieser Ärzte stand die ausserjüdische Bildung. Übung im Deutschen, Lateinischen und anderen Fremdsprachen, der Besuch von höheren Schulen und Universitäten waren ohnehin die Grundbedingungen für die Etablierung als „Arzt“ bzw. „Akademiker“. Die Ärzte und Medizinstudenten der Berliner Früh-Haskala waren bereits in den 1740er Jahren bestrebt, sich naturwissenschaftliches bzw. naturkundliches Wissen anzueignen und dieses weiterzuverbreiten. Aus diesem Engagement für die Wissenschaft entwickelten sie den auch öffentlichkeitswirksamen Typus des weltlich-wissenschaftlichen, eben nicht mehr religiösen „Gelehrten“. An ihm orientierte sich der grösste Teil der früheren Berliner jüdischen Ärzte wie Aron Gumpertz ab den 1740er Jahren, Marcus Elieser Bloch und Leon Elias Hirschel ab bzw. in den 1760er Jahren oder Marcus Herz als Person des Übergangs zum neuen Rollenmodell des „Reformers“ ab den späten 1770er Jahren. Auch in den folgenden Jahrzehnten gab es natürlich noch jüdische Ärzte, die als typische „Gelehrte“ den akademischen Wissenstausch pflegten und unterstützten44 oder viel und regelmässig zu medizinischen Themen publizierten45, doch repräsentierte dies dann nicht mehr das vorherrschende Modell. Der Typus des „Gelehrten“ zeigt sich bei den jüdischen Ärzten in drei Phänomenen: dem intensiven wissenschaftlichen Selbststudium, dem Aufbau umfangreicher Kontakte in der „Scientific Community“ und schliesslich in akademisch-medizinischen, naturkundlichen oder medizinisch-philosophischen Veröffentlichungen oder Übersetzungen. Am Anfang dieses Prozesses, genauso biographisch wie auf der allgemeinen Zeitachse, stand der eigenständige Erwerb wissenschaftlicher Bildung über das universitäre Studium hinaus. Das früheste und herausragende Beispiel ist hier der aus sehr reicher Bankiersfamilie46 gebürtige Berliner Aron Salomon Gumpertz47 (1723 – 1769). Er war eine der zentralen Personen der frühen Haskala in Berlin.48 Die Jahre vor 1750 hatte er wohl mehrheitlich in Berlin verbracht und einen Teil seiner medizinischen Studien in

Z.B. Michael Friedländer (s. u.). Z.B. Wolf Davidson (s. u.). Zur Gumpertz-Familie siehe Lowenstein (1994), S. 90. In Quellen und Literatur wird sein Nachname auch „Gumperz“, „Gumperts“, „Gompertz“, oder „Gomperz“ etc. geschrieben. Ebenso bestehen viele Varianten seiner Vornamen, etwa „Aaron“ statt „Aron“ oder das Hinzufügen des Vornamens „Emmerich“, dem Herkunftsort seines Vaters Salomon. 48 Hierzu vor allem Freudenthal (2003, 2005). Gumpertz ist in den meisten jüdischen Nachschlagewerken und in der biographischen Literatur über Moses Mendelssohn wegen der Kontakte und Freundschaft zwischen beiden vertreten. Die in unserem Fragezusammenhang einschlägigste biographische Darstellung findet sich bei Eschelbacher (1916).

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seiner Heimatstadt selbst privat absolviert.49 Nach seiner medizinischen Promotion in Frankfurt/Oder 1751 lebte er für weitere drei Jahre als Arzt in Berlin, war nicht praktizierend, aber medizinisch-wissenschaftlich tätig.50 Gumpertz nutzte das Medizinstudium offensichtlich als Instrument für den Einstieg in die ausserjüdische Bildung wie auch ganz konkret die Wissenschaftswelt. Die letzten Jahre seines Lebens wohnte er in Hamburg.

Christoph Schulte zählt den Gelehrten Gumpertz zu denjenigen Juden, die „aus Neugier und Wissensdurst gelernt und studiert [haben], auch ohne dass eine Aussicht auf Verbesserung ihres politischen Status als unterdrückte Minderheit bestanden hätte“.51 Zunächst vor allem traditionell religiös erzogen und ausgebildet52 (Isaak Euchel bezeichnete ihn einmal als Rabbiner53), beschäftigte sich Gumpertz zeit seines Lebens nicht nur mit religiösen, sondern gleichzeitig auch intensiv mit wissenschaftlichen, speziell naturwissenschaftlichen Fragen. Nach eigener Aussage hatte er einen „angeborene[n] Zug zu den Wissenschaften und den freien Künsten“.54 Eine Biographie präzisiert allerdings, dass er „mehr ein Liebhaber als ein Vorkämpfer der Wissenschaft“ gewesen sei.55 Ab 1742, etwa 19jährig, erhielt er Unterricht nicht nur in Religionsphilosophie, sondern auch in Mathematik und Naturwissenschaften von dem Rabbiner Israel Samosz, der im Vorjahr aus Osteuropa über Frankfurt/ Oder nach Berlin gekommen war. Samosz selbst war mit seinem Versuch, den Wissenschaften innerhalb des jüdischen Religionsgefüges einen Stellenwert zu verschaffen, einer der wichtigen Vertreter der sehr frühen Berliner Haskala. Um 174856 lernte Gumpertz den fünf Jahre zuvor nach Berlin gekommenen, sechs Jahre jüngeren Moses Mendelssohn kennen. Er vermittelte ihm Unterricht in hebräischer Literatur und Mathematik beim besagten Israel Samosz, in Latein bei dem damaligen Medizinstudenten Abraham Kisch (s. u.) sowie in Englisch und Französisch bei ihm selbst. Diese Gruppe wird mit ihrer Verbindung von naturwissenschaftlichen und religionsphilosophischen Interessen gemeinhin als der Ursprung der Berliner Haskala angesehen. Immerhin zwei von ihnen waren auf dem Weg, Ärzte zu werden. Die Bedeutung dieses Unterrichts beschrieb Mendelssohn selbst: „Allhier 49 So auch Eschelbacher (1916), S. 175. Allerdings scheint Gumpertz nicht am Collegium medicochirurgicum immatrikuliert gewesen zu sein. 50 Freudenthal (2003). 51 Schulte (2002), S. 37. 52 Den allergrössten Teil seines Lebens, so Gumpertz 1745 in einem Brief, „habe ich auf die Studien gewandt, die bei meinen Glaubensgenossen in Gebrauch eingeführt sind“. Vgl. Kayserling (1862), S. 18. 53 Mendelssohn (1998), S. 118. 54 Kayserling (1862), S. 18 – 22. 55 Kaufmann/Freudenthal (1907), S. 189. 56 So gemäss Mendelssohn (1998), S. 13, 82. Es ist anzunehmen, dass das erste Treffen bereits 1747 oder früher stattgefunden hat, weil der genannte Abraham Kisch ab 1747 bereits in Halle studierte. Mehr zu dessen Biographie unten.

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gewann ich durch den Umgang mit dem nachherigen Doktor der Arzneigelahrtheit, Herrn Aron Gumperz (der vor einigen Jahren zu Hamburg verstorben) Geschmak an den Wissenschaften, dazu ich auch von demselben einige Anleitung erhielt.“57 Gumpertz ermöglichte Mendelssohn auch die Teilnahme an philosophischen Kursen des Joachimsthalschen Gymnasiums.58 Gumpertz machte Mendelssohn später mit Friedrich Nicolai und Gotthold Ephraim Lessing bekannt. Der Letztere nahm Gumpertz dann möglicherweise als Vorbild für die Hauptperson seines Theaterstücks „Die Juden“ von 1749, nämlich den begüterten „Reisenden“ und unerkannten Juden, welchen Lessing als guten Menschen schlechthin darstellte.59 Zumindest fand Lessing in Gumpertz nach eigenen Worten all diejenigen guten Eigenschaften vereinigt, mit denen er den Protagonisten seines Theaterstückes ausgestattet hatte.60 Bei einem späteren Besuch Mendelssohns bei Gumpertz in Hamburg lernte der erstere dann im Übrigen die Tochter von Gumpertz’ Vermieter kennen: seine spätere Gattin Fromet Gugenheim.61 Zum gleichen kleinen frühaufklärerischen, mit Selbstbildung in Philosophie und Naturwissenschaften befassten Zirkel wie Gumpertz zählte auch der bereits erwähnte Abraham Kisch.62 Dieser hielt sich aller Wahrscheinlichkeit 57 58 59 60 61 62

Brief Moses Mendelssohns an Johann Jakob Spiess, Berlin 1.3.1774, in Mendelssohn (1998), S. 7. Eschelbacher (1916), S. 175. Vgl. zum Beispiel Battenberg (1990), Bd. 2, S. 70 f. Kaufmann/Freudenthal (1907), S. 188 f. Mendelssohn (1997), S. 108. Siehe zu seiner Biographie vor allem Kaiser/Völker (1979), S. 15 – 19, Altmann (1998), S. 22 f., Reinke (1999), S. 61 – 64. Kisch wurde 1725 oder 1728 in eine etablierte jüdische Apothekerfamilie in Prag geboren. Er verliess die Stadt 1744 oder 1745 im Zusammenhang mit den Ausweisungen der Prager Juden durch Maria Theresia und ging offensichtlich nach Berlin. Über diesen Aufenthalt sind die Quellen verhältnismässig unklar bzw. widersprüchlich. Die Mehrheit beschreibt ihn dort als Medizinstudent. Allerdings ist auch Kisch nicht in der publizierten Liste der damaligen Studenten des Collegium medico-chirurgicum aufgeführt (Richarz 1974, S. 227). Vereinzelt wird er für diesen Zeitraum bereits als Arzt bezeichnet. So schrieb Isaak Euchel in seinem Mendelssohn-Nachruf sogar dezidiert, dass Kisch „in Berlin als Arzt und Chirurg tätig war“ (Mendelssohn 1998, S. 116). Der Widerspruch zieht sich wie ein roter Faden durch mehr als zwei Jahrhunderte Mendelssohn-Biographik, in der Kisch bis heute teils als Medizinstudent, teils als Arzt, und manchmal, wie bei Nicolai (s. u.), als promovierter Medizinstudent bezeichnet wird. Mendelssohn (1998) S. 12, 81, 116, 271, 342, 368, 412). Als Beispiele vgl. etwa Lowenstein (1994), S. 21 („Dr. Kisch“ im Gegensatz zum damaligen Medizinstudenten „Gumpertz“) und Sorkin (1999), S. 29 („Medizinstudent“). Sicher ist allerdings, dass Kisch ab 1747 in Halle Medizin studierte und dort zwei Jahre später als erster gebürtiger Prager Jude promovierte. Anscheinend war er nach der Promotion noch einmal in Berlin, wo er am „Theatrum Anatomicum“ seine Studien vervollständigte. Vgl. Reinke (1999), S. 62, Altmann (1998), S. 22. Ihm zufolge blieb Kisch bis 1755 in Berlin. Dem widerspricht allerdings, dass Kisch bereits im Jahre 1754 von Prag aus eine Petition an den preußischen König verfasst hat mit der Bitte, in Breslau als Arzt tätig sein zu dürfen, sich also damals in Prag und nicht in Berlin aufhielt. Reinke (1999), S. 62. Fest steht weiterhin, dass er 1756 – 1758 und nochmals 1767 – 1771 in Breslau Leiter des Hospitals der dortigen Chewra Kadischa und Gemeindearzt war. In der Zwischenzeit (1758 – 1767) leitete er in Prag das jüdische Hospital, ebenso nach seinem zweiten Breslauer Aufenthalt

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nach zwischen 1745 und 1747 als Medizinstudent und nicht als Arzt in Berlin auf, zählt also nur zu unserem erweiterten Sample. In der jüdischen Geschichtsschreibung ist er vor allem als einer der damaligen Lehrer Mendelssohns bekannt. Friedrich Nicolai beschrieb die Umstände folgendermassen: Mendelssohn sprach über die neuere Philosophie „mit Dr. Kisch, einem jungen jüdischen Arzte aus Prag, der in Berlin studirte. Dieser zeigte ihm die Nothwendigkeit, lateinisch zu lernen, wenn er die neuere Philosophie wolle kennen lernen. Moses war so dürftig, dass er eine ziemliche Zeit lang sparen musste, um eine Grammatik und ein schlechtes Lexikon alt zu kaufen. Da gab ihm Kisch ungefähr ein halbes Jahr lang täglich etwa eine Viertelstunde Unterricht in der Sprache.“63 Auch der Fischkundler Marcus Elieser Bloch hatte seine in den 1770er Jahren erreichte Position als anerkannter und breit wahrgenommener „Gelehrter“ auf intensives Selbststudium aufgebaut. Zunächst jedoch eine Skizze seiner Biographie: Obwohl Bloch64 als Ichthyologe eine für die Wissenschaftsgeschichte wichtige Person darstellt, ist speziell über seine frühe Biographie wenig bekannt. Geboren wurde er 1723 in oder bei Ansbach65 in sehr ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater war ThoraSchreiber, seine Mutter betrieb einen kleinen Trödelladen. Im Alter von 19 Jahren (also etwa 1742) ging er nach Hamburg, wo er bei einem jüdischen Wundarzt Hauslehrer wurde und sich dort anatomische Kenntnisse als Helfer seines Arbeitgebers aneignen konnte. Später wechselte er zu Verwandten nach Berlin, wo er weitere anatomische Kenntnisse erwarb. Spätestens im Jahr 1760 war er mit Mendelssohn und Ephraim Lessing bekannt.66 Im gleichen Jahr, also etwa 37jährig, ging Bloch an die Universität Frankfurt/Oder und promovierte dort 1762.67 Wann genau er nach Berlin zurückging, ist unklar.68 Erst ab 1765 wurde er als jüdischer Arzt in Berlin erwähnt. Er heiratete eine Berliner Jüdin (die erste von drei Ehen69) und erhielt dadurch die „Konzessionierung“, das ständige Aufenthaltsrecht am Ort.70 Bloch baute sich in der Folge eine über Jahrzehnte hin florierende Arztpraxis auf,71 die ihm

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70 71

bis zu seinem Tode 1803. Veröffentlichungen jenseits der Dissertation sind von ihm nicht bekannt. Nicolai (1844), S. 206. An biographischen Übersichtsartikeln siehe vor allem Karrer (1980) und Lesser (1999). S.a. Leder (2007), S. 100 ff. Lesser (1999), S. 238. Mendelssohn erwähnt Bloch in einem Schreiben an Lessing. Vgl. Mendelssohn (1844), S. 158. In der Literatur findet sich vereinzelt das wohl falsche Jahr 1747 für den Studienabschluss. Mendelssohn schreibt 1760 in einem Brief an seine Frau, er wolle Bloch zum Essen einladen, Vgl. Jütte (2005), S. 164. Am 25. 8. 1765 die erste Hochzeit mit Breinche Rintel, gestorben Berlin 22. 9. 1769. Am 17. 1. 1774 zweite Ehe mit Cheile, Tochter des vornehmen Gemeindeältesten und reichen Bankiers Joseph Veitel Ephraim, geb. 1757 gest. 1780. Am 23. 2. 1784 dritte Ehe mit Rahel Bendix (1767 – 1833). Vgl. Jacobson (1968), S. 149, 217, 291. Jacobson (1968), S. 149, Lesser (1999), S. 239. Karrer (1980), S. 171.

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für seine naturkundlichen Studien wenig Zeit liess. Seit dem April 1771 zählte Moses Mendelssohn zu seinen Patienten.72 1774 fasste er seine medizinischen Erfahrungen in einer Publikation zusammen.73 Eine weitere Quelle schreibt ihm ab 1777 bis zu seinem Tod die Stelle als „dirigierender Arzt“ des Jüdischen Hospitals neben dem ein Jahr früher in diese Position gekommenen Marcus Herz zu.74 Bloch starb als vielfach geehrter Naturforscher am 6. 8. 1799 bei der Kur in Karlsbad und wurde auf dem jüdischen Friedhof im nahen damaligen Lichtenstadt beerdigt.75

Seine ichthyologischen Arbeiten hatte Bloch in einer Art Selbststudium bereits lange vor seiner Gelehrtenkarriere begonnen. Als unter seiner Mitwirkung76 im Jahre 1773 die Gesellschaft Naturforschender Freunde in Berlin gegründet wurde, besass er nämlich schon eine ansehnliche ichthyologische Sammlung.77 Mit seinen jahrzehntelangen naturkundlichen Forschungen, insbesondere seinen zoologischen Systematisierungsbemühungen im Sinne von Linn¦, entwickelte sich Bloch zum „Musterbeispiel einer aufgeklärten jüdischen Persönlichkeit“.78 Selbst für das Gelehrtentum von Marcus Herz79, der erst später im Mittelpunkt stehen wird, war die intensive Selbstbildung eine Grundvoraussetzung. Sein wissenschaftliches Studium ging weit über den Rahmen der Universität hinaus. Seine spätere Frau Henriette schrieb in ihrer Autobiographie sogar, dass Herzens spätere Jugend, also die in Königsberg verbrachten 1760er Jahre „in bloß wissenschaftlichem Umgang“ verflossen seien.80 Für das Rollenmodell des „Gelehrten“ war das notwendige Pendant zum Selbststudium das Heraustreten in die gelehrte Öffentlichkeit. Dies geschah auf verschiedene Arten. Auch hier zeigen die frühen Berliner jüdischen Ärzte eine besonders auffällige Aktivität. Aron Gumpertz hatte bereits zu einem historisch sehr frühen Zeitpunkt, den 1740er Jahren, und schon in frühen Lebensjahren sehr enge Kontakte zu Bildungseinrichtungen und Wissenschaftlern der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Er verkehrte mit Vertretern der Akademie der Wissenschaften in Berlin und wirkte als Sekretär zweier ihrer Mitglieder. Er war damit bereits mehr oder weniger ein Teil der Berliner „Scientific Community“ geworden. 1751 als Arzt nach Berlin zurückgekehrt, führte Gumpertz seine Kontakte zu den zentralen Figuren der Berliner Auf72 73 74 75 76 77 78 79 80

Jütte (2005), S. 164 ff. Bloch (1774). Zur Geschichte (1887), S. 36. Karrer (1980), S. 178. An anderer Stelle heisst es, der christliche Naturforscher Friedrich Wilhelm Heinrich Martini (1729 – 1778) habe ihn zum Mitglied der von ihm initiierten Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin gemacht (vgl. zu Martini auch den Abschnitt über Leon Elias Hirschel). Karrer (1980), S. 176. Lesser (1999), S. 238, Karrer (1980), S. 173. Zu Bloch und Herz siehe auch Jütte (2005). Zu Herz siehe auch Davies (1995) und Leder (2007), insbesondere als Gelehrter (passim). Davies (1995), S. 161.

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klärungsbewegung und in die Akademie der Wissenschaften weiter. Zusätzlich verkehrte er viel mit christlichen Schriftstellern, war Mitglied in der „Kaffeehausgesellschaft“ und dem „Montagsklub“. Wesentlich breiter noch hatte sich seit den 1760er Jahren Marcus Elieser Bloch mit seiner Forscher- und Sammlertätigkeit in das wissenschaftliche Kommunikationssystem des späten 18. Jahrhunderts hinein gearbeitet. Bloch war Mitglied einer Vielzahl europäischer wissenschaftlicher Gesellschaften und Mitbegründer der Gesellschaft Naturforschender Freunde in Berlin im Jahre 1773.81 Die königliche Akademie der Wissenschaften blieb ihm als Juden allerdings versperrt.82 Wie sehr er jenseits formaler Mitgliedschaften ein Netz von Wissenschaftskontakten aufgebaut hatte, zeigt einerseits der Umstand, dass ihm Exemplare von Fischen aus Übersee von ebenfalls interessierten (christlichen) Bekannten, Missionaren, Predigern und anderen Ärzten besorgt wurden.83 Andererseits war es ihm nur über gute Kontakte möglich, die Kupferstiche in den letzten sechs (nach 1789, ab der Tafel 271) erschienen Bände seiner Enzyklopädie „Naturgeschichte der Fische“ von Interessierten und Gönnern finanzieren zu lassen, worauf er mangels finanzieller Möglichkeiten angewiesen war. Der wissenschaftliche Austausch unter Kollegen war eines der erklärten Lebensziele eines weiteren Berliner jüdischen Arztes mit Namen Leon Elias Hirschel. Hirschel, ein Neffe von Gumpertz, wurde 1741 in Berlin geboren und erhielt eine traditionell jüdische Erziehung.84 Als er sich zwanzigjährig im Sommer 1761 an der Universität Halle einschrieb, um dort zwei Jahre später seine medizinische Promotion abzulegen, konnte er bereits auf einen vielfältigen Bildungsgang im christlichen Umfeld zurückblicken: Mit ungefähr vierzehn Jahren, so bemerkt er selbst, „fing ich zugleich an, die lateinische und deutsche Sprache zu erlernen, von welcher letzten ich vorher keinen Buchstaben lesen konnte“85. Bereits mit fünfzehn Jahren war er einerseits am Berliner Collegium medico-chirurgicum, andererseits auch (über familiäre Beziehungen) am dortigen Joachimsthalschen Gymnasium eingeschrieben.86 Für zwei Jahre praktizierte der junge Arzt in seiner Heimatstadt, bevor er nach Posen, Graetz und Lissa ging. Kurz vor seinem frühen Tod mit 31 Jahren im Dezember 1772 kam er nach Berlin zurück.

Spätestens seit seiner ersten Rückkehr nach Berlin als frischgebackener Arzt stand Hirschel „aufs Eifrigste“ im gelehrten Briefwechsel mit bekannten auswärtigen Fachgenossen, darunter auch mit dem deutsch-schweizerischen 81 82 83 84 85 86

Karrer (1980), S. 176. Karrer (1980), S. 178. Karrer (1980), S. 183. Freudenthal (1906), S. 428. Hirschel (1772), S. 146. Richarz (1974), S. 227, 76; Freudenthal (1906), S. 429.

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Leibarzt Friedrichs des Grossen Johann Georg Zimmermann87. Sein Wegzug von Berlin war vor allem ökonomisch motiviert. Den Kontakt zur Gelehrtenmetropole hielt er so weit wie möglich aufrecht.88 Seine Rückkehr aus Polen war veranlasst durch „vornehmlich die Lust mich mit den neuern Schriftstellern bekannt zu machen.“89 Ein Biograph sah die Rückkehr in einer Art Heimweh nach dem Gelehrtenkontakt begründet.90 Allgemein bekannt ist zudem, wie Marcus Herz ab den späten 1770er Jahren mit den bei ihm zu Hause veranstalteten Kollegien zu einem Angelpunkt der Berliner „Scientific Community“ und mehr noch der gehobenen Berliner Gesellschaft wurde. Marcus Herz91 stellt die prominenteste Persönlichkeit unseres Samples dar, ja er dürfte mit Recht als bekanntester jüdischer Arzt im Deutschland des 18. Jahrhunderts gelten. Herz repräsentiert den ärztlichen Teil der Berliner Haskala auf eine zentrale Weise. Das Haus des Ehepaars Herz gilt als eines der Zentren der Berliner Aufklärung überhaupt. Herz als gebürtiger Berliner Jude verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in dieser Stadt, als Arzt war er dort von 1774 bis zu seinem Tod 1803 tätig. Herz wurde 1747 in ärmlichen Verhältnissen geboren, begann 15jährig in Königsberg eine Handelslehre, schrieb sich 1766 an der dortigen Universität in Medizin und Philosophie ein, hatte als Jude dort aber keine Chance zu promovieren. Die Bekanntschaft mit dem jungen Immanuel Kant legte das Fundament für eine lebenslange Neigung zur Philosophie und philosophischen Aspekten der Medizin. 1770 kehrte er nach Berlin zurück92 und schrieb sich neben seiner nichtmedizinischen Erwerbstätigkeit am Collegium medico-chirurgicum ein.93 In diese Zeit fallen erste Schriften zur Philosophie und Fragen der Stellung der Juden.94 1772 konnte er seine medizinischen Studien in Halle weiterführen und dort 1774 promovieren. Nach Berlin zurückgekehrt wurde Herz dort seit 1777 als Arzt aufgelistet. Parallel dazu etablierte sich auch die eigene ärztliche Praxis.95 Wohl im Jahre 1782 übernahm er dann von seinem Schwiegervater die Leitung des jüdischen Hospitals.96

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Freudenthal (1906), S. 433, 438 f. Krauss (1930), S. 153. Hirschel (1772), S. 148. Freudenthal (1906), S. 436. Siehe zu Herz Leder (2007), aus eher ideengeschichtlich-philosophischer Perspektive vor allem Davies (1995), Biographie (1811). Aus eher medizinhistorischer Sicht Ibing (1984). Er erscheint im Berliner Adress-Kalender 1771 trotzdem bereits einmal als Arzt. Richarz (1974), S. 228. Pastenaci (1993). Bis zur Heirat sei er ein geachteter, nach der Heirat auch ein gesuchter Arzt gewesen. Herz (1984), S. 27. Er habe nun gesellschaftliche Beziehungen zu vielen „größtenteils sehr achtbaren Familien“ der Stadt gehabt. Davies (1995), S. 90. Es kursieren aber unterschiedliche Jahreszahlen. Ibing (1984), S. 16, spricht von 1783. Nach der Enzyklopädie von Krünitz (1791) fand die Übernahme bereits Ende der 1770er Jahre statt (zitiert in Jacoby 1989, S. 39). Allerdings ist überliefert, dass Herz seinen Schwiegervater noch im November 1780 vertreten musste, die Stelle also noch nicht fest in-

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Eine lebensbedrohliche Erkrankung bremste den Aufstieg zeitweilig. Die Genesungsreise nach Bad Pyrmont hatte allerdings den Nebeneffekt, dass Herz 1785 zum Leibarzt und Hofrat des Fürsten von Waldeck ernannt wurde. In diesem wie dem nachfolgenden Jahr engagierte sich Herz im Bereich der „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden, indem er gegen die frühe Beerdigung Stellung bezog.97 In den letzten Jahren seines Lebens war Herz vor allem als Arzt tätig. Im Jahre 1801 ging er nochmals an die Öffentlichkeit mit einer Kritik an der neu eingeführten Pockenschutzimpfung.98

Um 1777 begann Herz99 seine berühmt gewordenen philosophischen und physikalischen Vorlesungen und Experimente in seinem Privathaus, an denen über die Jahre grosse Teile der aufgeklärten christlichen Berliner Gesellschaft teilnahmen. Diese hatten, wie seine Frau sich erinnerte, „eine förderliche Ausdehnung unserer Verbindungen zur Folge“.100 Seine Frau Henriette, die er 1779 heiratete, schrieb über diese „öffentlichen Collegia“: „Sie wurden von Personen aus den höchsten Ständen besucht, sowohl Wissbegierigen als allerdings auch bloß Neugierigen, und führten unseren Gesellschaften viele der ausgezeichnetsten Nobilitäten zu. Diesen Vorträgen wohnten selbst die jüngeren Brüder des Königs bei, und auch den damals etwa fünfjährigen Kronprinzen brachte späterhin dessen Erzieher Delbrück mit sich, um ihn einige interessante Experimente sehen zu lassen.“101 1787 erfolgte dann die Ernennung zum Professor durch den Preussischen König Friedrich Wilhelm II, die erste Verleihung eines Professorentitels an einen Juden in Deutschland, die von einem seiner Hörer, dem preussischen Kultusminister Freiherr Zedlitz angeregt wurde.102 Herz kann damit als ein jüdischer Gelehrter seiner Zeit par excellence bezeichnet werden. Den dritten Faktor der klassischen Gelehrten-Rolle schliesslich bilden natürlich die Veröffentlichungen. Bei Gumpertz sind sie im Ensemble seiner einschlägigen Aktivitäten noch wenig bedeutend. Der erste publizistische Aktivist der „Gelehrten“-Generation unter den Berliner jüdischen Ärzten war Leon Elias Hirschel. Er zeichnete sich insbesondere durch seine emsige literarische Tätigkeit und viele deutschsprachige medizinische Veröffentlichungen aus. In den zehn Jahren zwischen seiner Promotion (1763) und seinem Tod veröffentlichte er zehn eigenständige Schriften, zwei davon erschienen

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nehatte. Eine weitere Quelle schreibt, Herz sei bereits ab 1776 dirigierender Arzt am jüdischen Krankenhaus. Zur Geschichte (1887), S. 36. Siehe hierzu die ausführliche Analyse der Argumentation von Herz im Kapitel über die Beerdigungsdebatte. Vgl. hierzu vor allem Münch/Lammel (1997). Davies (1995), S. 7. Seine spätere Frau schreibt, diese Vorlesungen hätten erst nach der Heirat (1779) begonnen. Vgl. Herz (1984), S. 27. Kaiser (1993), S. 144. Herz (1984), S. 28. Biographie (1811), S. 90.

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auch in zweiter Auflage, eine wurde ins Französische übersetzt.103 Bei der aufklärerischen Berliner Zeitschrift „Mannigfaltigkeiten“ übernahm er zudem im ersten Erscheinungsjahr (1769) das medizinische Ressort und betreute es bis zu seinem Tode.104 In typischer Manier griff er bei allen diesen Veröffentlichungen die aktuellen medizinischen Themen seiner Zeit auf, etwa die Pockeninokulation oder Nervenkrankheiten. Hirschels Generationskollege Marcus Elieser Bloch hingegen veröffentlichte (nach einer Kasuistik-Sammlung im Jahre 1774105) den ersten Band seines publizistischen Grossprojekts einer „Allgemeinen Naturgeschichte der Fische“106 erst 1782, also 20 Jahre nach seiner Promotion und im Alter von über sechzig Jahren. Er trieb das Projekt bis 1792 voran. Dafür sollte ihn seine enzyklopädische, für damalige Verhältnisse einzigartige Beschreibung und Systematisierung der Fische Deutschlands und des Auslands, illustriert mit hunderten von kolorierten Kupferstichen, international berühmt machen. Dass Marcus Herz natürlich auch mit seinen Veröffentlichungen meist in den späten 1770er und den 1780er Jahren (etwa mit dem „Versuch über den Geschmack“, dem „Grundriss der medizinischen Wissenschaften“ oder dem „Versuch über den Schwindel“) dem Rollenmodell des „Gelehrten“ entsprach, muss hier kaum betont werden. Es ist auffällig, dass nach den genannten „Gelehrten“ nur noch zwei jüdische Ärzte mit mehr als nur vereinzelten akademisch-medizinischen Veröffentlichungen hervortraten.107 Der Typus des „Gelehrten“ hatte offenbar auch in dieser Hinsicht an Bedeutung verloren. Die jüdischen Ärzte im Berlin der 1750er bis 1770er Jahre bauten damit eine frühe eigene professionelle Identität als „Gelehrte“ jenseits ihrer religiösen bzw. ethnischen Herkunft auf. Wenn ihr Ziel die Integration in die bürgerliche Gesellschaft dieser Zeit war, dann haben sie dies sicherlich ein Stück weit geschafft. Sie wurden nicht nur als Juden, sondern – je stärker ihre Rolle war – auch als „Gelehrte“ jenseits des Judeseins wahrgenommen. Über Bloch schreibt dies sein Schwiegersohn, der später noch genauer vorzustellende Berliner jüdische Arzt Wolf Davidson: „Ob nun gleich Bloch als Naturforscher wohl eben so viel Verdienst, als Mendelssohn als Philosoph hat, so ist es doch merkwürdig, dass man bei jenem eher den Juden vergaß, als bei diesem“108. 103 104 105 106

Eine genauere Darstellung findet sich bei Freudenthal (1906). Lammel (1991), S. 92. Bloch (1774). Die Reihe begann mit der „Ökonomischen Naturgeschichte der Fische Deutschlands“ in drei Teilen (1782 – 1784) und wurde fortgesetzt mit der „Naturgeschichte der ausländischen Fische“ (1785 – 1795) in neun Teilen. Siehe Karrer (1980), S. 176. 107 Es waren dies Wolf Davidson zwischen 1792 und 1799 sowie Michael Friedländer, der allerdings erst im 19. Jahrhundert und von Paris aus viel publizierte. Einzelne medizinisch-akademische Veröffentlichungen sind darüber hinaus von David Oppenheimer und Sabattia Joseph Wolff bekannt. Jenseits unseres Samples muss für das beginnende 19. Jahrhundert noch Jacob Aronssohn genannt werden (s. u.). 108 Davidson (1798a), S. 91 f. Bloch erscheint auf einem in Öl gemalten Porträt aus dem Jahre 1789

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Lediglich von einem der jüdischen Ärzte dieser „Gelehrten“-Generation, deren Einstieg in die medizinische Praxis zwischen den 1750er und den 1770er Jahren lag, sind keine dieser typischen „Gelehrten“-Aktivitäten überliefert. Der Rest repräsentierte dieses Rollenmodell zwar mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aber doch sehr ausgeprägt. Dies taten natürlich auch viele nichtjüdische Ärzte. Die dargestellten Aktivitäten sind für diese Zeit nur zu typisch. Doch die Intensität, mit der die jüdischen Ärzte diese Rolle spielten, zeigt, dass sie das allgemeine Rollenmodell sogar überdurchschnittlich ausfüllten. Natürlich wurden von aussen auch Grenzen gesetzt. Marcus Herz erhielt als Jude zwar den preussischen Professorentitel, aber er erhielt ihn nicht wie seine entsprechenden christlichen Kollegen an der Charit¦ oder im Collegium medico-chirurgicum, sondern als Professor der Philosophie und als Ehrentitel (mit Salär) direkt vom preussischen König. Ausserdem blieb ihm – ebenso wie Bloch – die Aufnahme in die Berliner Akademie der Wissenschaften verwehrt.109 Professionelle Ärzte Ein weiteres Rollenmodell, das die jüdischen Ärzte Berlins deutlich übernahmen, war das des professionellen Arztes, also eines, das relativ nahe bei dem des „Gelehrten“ liegt. Als „professioneller Arzt“ inszenierten sich viele Vertreter unseres Samples, indem sie ebenso laute wie demonstrative Kritik an laienmedizinischen Praktiken und nichtärztlichen Therapeuten übten und sich damit als Verteidiger der ärztlichen Profession darstellten.110 So üblich die Klagen über „Kurpfuscher“, „Quacksalber“ und die „Vorurteile“ des einfachen Volkes in Fragen der Gesundheit zu dieser Zeit in der gesamten akademisch-medizinischen Welt auch waren, so auffällig ist doch, dass diese Klagen von vielen der Berliner jüdischen Ärzte vorgetragen wurden. Anders als der Typus des „Gelehrten“ brechen die Hinweise für das „Professionsbewusstsein“ auch nicht ab, sondern ziehen sich bis ins 19. Jahrhundert. Am Beispiel des Hamburgischen Ärztevereins werden sie im Kapitel 2.3 für diesen Zeitraum dann noch genauer untersucht. Die Kritik an Laienheilern beginnt bereits mit den ersten medizinischwissenschaftlichen Veröffentlichungen der Untersuchungsgruppe, nämlich denen von Leon Elias Hirschel um 1770. Hans Uwe Lammel hat herausgearbeitet, wie die populärmedizinischen Artikel Hirschels in der aufklärerischen Zeitschrift „Mannigfaltigkeiten“, typisch für diese Literaturgattung, auf die ohne jüdische Attribute, in Haartracht und Kleidung ganz der christlichen Mehrheitskultur der friderizianischen Zeit entsprechend. Vgl. Karrer (1980), S. 176. 109 Vgl. Bourel (1984). 110 So ausführlich auch Feiner (2007), S. 92 – 94. Er interpretiert dies allerdings nicht als Professionspolitik, sondern als Kampf für „Volksgesundheit“ und „Rationalität“.

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Durchsetzung eines bürgerlichen Wertekanons hin ausgerichtet waren, zu dem auch die Etablierung ärztlicher Autorität zählte. Sie konnte besonders dadurch erreicht werden, sich von nichtärztlichen Heilern abzusetzen. Hirschel nennt die Letzteren einmal sogar „privilegierte Todtschläger“.111 Mit Benjamin de Lemos und Marcus Elieser Bloch zusammen veröffentlichte Hirschel im gleichen Jahr 1770 Feiner zufolge auch eine hebräische Anweisung, wie man sich vor einer aus dem Osten nahenden Seuche verhalten solle, und berief sich auf die akademische Autorität.112 Ein ähnliches Engagement ist von dem Arzt Moses Böhm überliefert, aber nur ungefähr auf die Zeit zwischen 1770 und 1792 datierbar. Böhm ist der einzige Arzt der frühen Generation, bei dem keine Quellen für ein öffentliches Auftreten als „Gelehrter“ nachweisbar sind. Moses Böhm113 (z. T. auch „Böhme“) wurde in Prag geboren. Sein Geburtsjahr ist nicht bekannt. 1738 immatrikulierte er sich an der Universität Frankfurt/Oder114 und promovierte dort im Jahre 1745.115 Allerdings ist er bereits für das Jahr 1740 als Gemeindearzt in Halberstadt belegt, womit er zu den ersten akademisch gebildeten jüdischen Ärzten in Brandenburg-Preussen überhaupt zählt.116 Spätestens 1770, er war nun bereits um die fünfzig Jahre alt, wechselte er nach Berlin,117 heiratete 1776 und starb am 21. 9. 1792.118 Im Briefwechsel zwischen Moses Mendelssohn und seiner Frau Fromet Guggenheim ist Böhm in den 1770ern einige Male erwähnt.119 Darüber hinaus ist wenig von Böhm bekannt.

Sein professionsspezifisches Engagement ist in einem seiner Briefe aus Berlin an den Vorstand der Halberstädter jüdischen Gemeinde überliefert. Darin 111 Lammel (1991), S. 92 – 96, Zitat S. 93. 112 Feiner (2007), S. 93, 471. 113 Diese Schreibweise wurde übernommen, weil er sich in seiner Dissertation so schreibt und bei Jacobson (1968) so geschrieben wird. Sein Name wird ebenso in den Quellen wie in der Sekundärliteratur einmal mit und einmal ohne „e“ geschrieben, ohne dass sich ein festes System hierfür erkennen liess. 114 Jacobson (1968). 115 Komorowski (1991), S. 47. Dieser Quelle gemäss gab er dort an, er käme aus Lipno/Böhmen. 116 Jacobson (1968) und Richarz (1974), S. 174 f. Es ist unwahrscheinlich, dass es sich um zwei unterschiedliche Personen handelt, weil die Halberstadt betreffende Quelle auch den Weggang nach Berlin bestätigt. Vgl. Auerbach (1866), S. 111 – 116. 117 Ab diesem Jahr ist er verzeichnet im Adress-Kalender. Fromet Gugenheim, die Frau Moses Mendelssohns, schreibt ihrem Gatten in diesem Jahr von Böhm als dem „Doctor aus Halberstadt“: Mendelssohn (1994), S. 207. 118 Jacobson (1968). Allerdings wird er ab 1772 für einige Jahre nicht im Adress-Kalender aufgeführt. Spätestens 1777 erscheint er dort wieder. 119 Seine Frau Fromet Gugenheim richtete Mendelssohn am 25.10. 1770 in einem Brief aus, dass Böhm ihn in Halberstadt habe treffen wollen. Er machte Fromet in Berlin zwei Stunden lang die Aufwartung. Sie kommentierte dies: „Der Man ist sehr gut, nur ein bischen zu langweilig.“ Mendelssohn (1974), S. 207. Auch in den Jahren 1774 und 1777 sind im Briefwechsel des Ehepaars Mendelssohn wechselseitig ausgerichtete Grüsse von und an Böhm verzeichnet. Vgl. Mendelssohn (1974), S. 296, 338.

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„erhob Böhm seine Stimme“ gegen nichtärztliche fahrende Händler jüdischer Amulette, so genannter „Kameot“.120 In den 1780er Jahren benützte Marcus Herz mehrfach die ihm eigene Form von Ironie, um gegen nichtärztliche Heiler Front zu machen. So 1783 in einem Aufsatz „Die Wallfahrt zum Monddoktor in Berlin“ für die Berlinische Monatsschrift.121 Herz ist wahrscheinlich auch der Autor des Textes: „Tägliches Gebet eines Arztes, bevor er seine Kranken besucht“, das im gleichen Jahr erstmals im „Deutschen Museum“ erschien und bis ins 20. Jahrhundert immer wieder publizistisch verwertet wurde. Es enthält unter anderem die Bitte, die Scharlatane von den Betten der Patienten des Arztes zu vertreiben. Das Gebet wurde damals schon im Titel indirekt dem mittelalterlichen jüdischen Arzt Moses Maimonides zugeschrieben, was allerdings nicht bestätigt werden kann.122 1790 dann veröffentlichte Herz in der Haskala-Zeitschrift „Ha-Meassef“ eine hebräische Version des ursprünglich deutschen „Gebetes“.123 Für John Efron ist Herz mit diesen Aktivitäten nur ein Beispiel in einer langen Kette jüdischer Ärzte, die ihre Modernität auch damit befestigten, sich von traditionellen nichtakademischen jüdischen Heilern abzusetzen und den professionellen „Esprit de Corps“ zu übernehmen.124 Dieser „Esprit“ findet sich auch bei den Berliner jüdischen Ärzten, die schon nicht mehr zur „Gelehrten“-Generation, sondern zur Gruppe der „Reformer“ zählen, etwa David Oppenheimer. Dieser verbrachte wie einige seiner Kollegen den grössten Teil des Lebens in seiner Geburtsstadt Berlin. Dort 1753 oder 1757 auf die Welt gekommen,125 schrieb er sich 1777 am Berliner Collegium medico-chirurgicum ein,126 um drei Jahre später an die Universität Halle zu wechseln, wo er weitere zwei Jahre später, 1783, promoviert wurde.127 Spätestens ab 1786 praktizierte er als Arzt in Berlin,128 wo er am 18. 11. 1815 auch starb.129

Oppenheimer veröffentlichte zwei Texte, in denen er sich gegen vom ihm so wahrgenommene Missstände des Gesundheitswesens aussprach. Gleich im Jahr nach seiner Niederlassung in Berlin publizierte er eine Kritik an damals 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129

Auerbach (1866), S. 113. Herz (1783). Auch als Nachdruck in: Herz (1997a), S. 24 – 32. S.a. Leder (2007), S. 188 – 194. Rosner (1967). Efron (2001), S. 92. Efron (2001), S. 82 – 86, 265. Nach Jacobson (1968), S. 257, ist Oppenheimer am 25. 2. 1753 als Sohn des Lazarus Oppenheimer als zweites von sieben Kindern geboren; gemäss dem nachgedruckten Lebenslauf in seiner Dissertation am 21. 4. 1757. Vgl. Kaiser/Völker (1979), S. 40. Richarz (1974), S. 228. In Kaiser/Völker (1979) findet sich zudem einiges über den Fortgang seines Studiums in Halle. Im Adress-Kalender ist er im Jahr 1786 erstmals nachgewiesen, im Vorjahr noch nicht. Es wäre nicht untypisch, wenn er in der Zwischenzeit auch seine akademische Reise gemacht hätte, aber dies ist nicht belegbar. Jacobson (1968).

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häufig von Nichtärzten angepriesenen „Universalmitteln“, ganz konkret dem so genannten „Luftsalz“.130 Das „Luftsalz“ war zuvor von dem Freiherrn Leopold von Hirschen als Universalmittel wie auch als alchemischer Stoff, in dem sich Gold erzeuge, dargestellt worden.131 In einer weiteren Veröffentlichung zwölf Jahre darauf (1799) brachte Oppenheimer in der „Neuen Berliner Monatsschrift“ den Aufbau einer Krankenwärterschule und das Abfassen eines allgemeinverständlichen Lehrbuchs der Krankenpflege in Vorschlag.132 Der Aufsatz basierte auf einer ähnlichen Kritik an „Quacksalbern“ und „Afterärzten“ wie die vorangegangene an den Universalmitteln. Bereits im Jahr zuvor hatte sein Kollege Wolf Davidson (s. u.) in den „Berlinischen Blättern“ die damals verbreitete Theorie des „tierischen Magnetismus“ und der Praxis des „Magnetisierens“ zur Zielscheibe seiner Kritik gemacht und sich echauffiert, dass diese „Charlatanerie“ bzw. dieser „Aberglaube“ nun auch in ärztliche Kreise und wissenschaftliche Zeitungen Einzug gehalten habe.133 Und noch ein weiterer Reformer-Kollege äusserte sich, nämlich Sabattia Joseph Wolff (s. u.), im Jahre 1811 in seiner Schrift „Die Kunst, krank zu sein“. Er plädierte hierin für die Professionalisierung der ärztlichen Praxis und ein hierarchisches Arzt-Patient-Verhältnis.134 Die Kritik an Laienheilern war eine Art „kultureller Code“ von Ärzten dieser Zeit. Wenn die Berliner jüdischen Ärzte häufig entsprechend handelten, dann war es ihr Interesse, dem damaligen Bild des professionellen Arztes dieser Zeit zu entsprechen. Für das Rollenmodell „professioneller Arzt“ gilt damit etwas Ähnliches wie für das des „Gelehrten“. Es ermöglichte diesen Ärzten, ihre berufliche Identität als Arzt neben der religiösen zu festigen. Sie verstanden sich nicht mehr als „Judenärzte“, also Ärzte, deren berufliche Rolle fest in die jüdische Gemeinschaft eingebunden war, sondern als Ärzte einer akademischen Gemeinschaft, die über religiöse oder konfessionelle Grenzen hinweg geht. In Einzelfällen hatte es dies auch bereits in der Frühen Neuzeit gegeben. Nun war es ein allgemeines Phänomen. Dieses Nebeneinander mehrerer Rollen zeigt, dass die Rolle des „Jüdischseins“ sich nicht mehr über das ganze Leben dieser Juden legte. Dies stellt ein typisches Phänomen des modernen Judentums und mithin moderner jüdischer Identität dar.

Reformer Ab den späten 1780er Jahren brach sich dann öffentlich ein neues Rollenmodell Bahn, das sich schon seit längerem langsam angekündigt hatte, das des 130 131 132 133 134

Oppenheimer (1787). Von Hirschen (1786). Oppenheimer (1799). Davidson (1798c), S. 1 f. Wolff (1811). Vgl. hierzu auch Davies (2003), S. 145.

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„Reformers“ des Judentums. Es steht zweifellos im Zusammenhang mit Vorstössen in Richtung einer gesellschaftlichen und rechtlichen Emanzipation der Juden, hat aber auch eine nicht geringe eigenständige Wertigkeit. Sicherlich hatte es bereits zuvor über Jahrzehnte Ansätze in dieser Richtung gegeben. Schon Aron Gumperz war mit seinem Früh-Haskala-Kreis ab den späten 1740er Jahren Repräsentant eines neuen Verständnisses des Judentums. Aber er und seine Kollegen praktizierten dieses neue Judentum eher für sich, als dass sie es nach aussen lautstark propagierten. Sie lebten vor, dass ein Jude gleichzeitig und nebeneinander Jude und professioneller Arzt, Jude und weltlicher Naturforscher, Jude und „Aufklärer“ sein konnte und am bürgerlichen Berliner Leben teilnahm. Erst die Jüngeren in der „Gelehrten“-Generation, nämlich der „späte“ Leon Elias Hirschel und der „frühe“ Marcus Herz begannen um 1770, dieses gewandelte Verständnis von Judentum auch in Schriften, die an ein breites Publikum gerichtet waren, vorsichtig zu erwähnen und von der Möglichkeit eines besseren rechtlichen Status der Juden in der Gesellschaft zu sprechen. Hirschel begann zu diesem Zeitpunkt in seinen medizinischen Werken das traditionelle Judentum ironisch zu kritisieren und gleichzeitig unterschwellige Propaganda für die Juden zu machen. Er spottete etwa in seiner am meisten verbreiteten Schrift, welche die „fallende Sucht“ zum Thema hatte, über das Fasten am Versöhnungstag, konkret „über die Leute, die noch so sehr in der Finsternis leben, dass sie dem höchsten Wesen mit körperlichen Kasteiungen, als fürnehmlich durch Fasten und Enthaltsamkeit von Essen und Trinken, einen sonderbaren Dienst zu erweisen glauben“.135 Doch war dies eine Nebenbemerkung nicht in einer Reformschrift, sondern einer medizinischen Abhandlung. In seine medizinischen Beiträge in den „Mannigfaltigkeiten“ bezog Hirschel häufiger die Religionsthematik mit ein. So machte er sich 1771 etwa über den „Religionshass“ eines englischen Geistlichen lustig, der die Pockeninokulation ablehnte, weil sie bei den Heiden gelernt worden sei. Dann dürfe man aber auch kein Brot mehr essen, weil die „Heiden und Türken“ sich damit vor dem Verhungern schützten. Zudem berief er sich auf historische jüdische Ärzte, beklagte en passant deren frühere Zurücksetzung aus Glaubensgründen und stellte fest, dass dies heutzutage nicht mehr der Fall sei.136 Weil Hirschel bereits kurz darauf starb, konnte er seine Beiträge in diese Richtung nicht weiter entwickeln. Auch Marcus Herz zeigte bereits in dieser Anlaufphase ein entsprechendes Engagement. Er dankte 1770 seinem geistigen Idol Kant noch privatim, dieser habe ihn aus dem „viehischen Leben“ am „Wagen der Vorurtheile“ befreit, an 135 Freudenthal (1906), S. 343. Er zitiert aus: Leon Elias Hirschel: Gedanken, die Heilungsart der fallenden Sucht betreffend. Ihm zufolge erschienen in Berlin 1768 sowie in weiteren Auflagen 1770 und 1774 in Mitau. Eigenen Nachforschungen gemäss war die erste Auflage bereits 1767. Hinzu kommt eine französische Übersetzung (1769). 136 Lammel (1991), S. 94 f.

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den so viele seiner Mitbrüder gefesselt seien. Im Folgejahr veröffentlichte er eine erste Schrift gegen antijüdische Vorurteile.137 Herz war damals in seinen frühen 20ern und stand am Anfang seiner Laufbahn. Dies ermöglichte ihm, als Person des Übergangs gleichzeitig ein „Gelehrter“ wie auch einer der prominentesten „Reformer“ unter den Berliner jüdischen Ärzten zu werden. Zehn Jahr später, 1781, erschien dann der erste Teil von Christian Wilhelm Dohms „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“. Marcus Herz war hier bereits am Rande an der Debatte beteiligt. Er übersetzte die apologetische Schrift „Rettung der Juden“ des Amsterdamer Rabbiners Manasseh ben Israel (1604 – 1657) ins Deutsche. Moses Mendelssohn versah sie mit einem eigenen Vorwort und veröffentlichte beides.138 Dies war eine direkte Antwort auf Dohm, aber auch die erste Veröffentlichung, in der Mendelssohn einem deutschsprachigen Publikum seine neuen Auffassungen des Judentums darlegte.139 Im gleichen Jahr begann sich ein etwa vierzehnjähriger Junge, der später zeitweise als jüdischer Arzt in Berlin wohnen sollte, in Königsberg im Schlepptau seines Lehrers bereits als Reformaktivist zu betätigen: Michael Friedländer. Gemeinsam mit seinem „Erzieher“ Isaak Euchel, einer prominenten Figur der Haskala und einem Mitherausgeber ihrer Zeitschrift HaMeassef, und anderen gründete er die „Gesellschaft hebräischer Literaturfreunde“. Ziel der Gesellschaft war es, die Juden mit der Welt der Aufklärung vertraut zu machen und den Reformern innerhalb der jüdischen Gemeinden ein Podium zu geben.140 Aus der zunächst sprachpflegerischen Gesellschaft wurde auf Anregung des Onkels David Friedländer dann eine jüdische „Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Edlen“, ganz im aufklärerischphilanthropischen Sinne der Zeit.141 Michael Friedländer142 wurde 1769 (nach anderen Quellen 1767143) in Königsberg sozusagen bereits in die Haskala hineingeboren. Er entstammte der „assimilierten“ Königsberger Familie Friedländer144 und war ein Neffe der „treibenden Kraft“ der jüdischen Reform, David Friedländer.145 1782 schrieb er sich in die Artistenfakultät 137 Marcus Herz an Immanuel Kant am 19. 3. 1770. In: Kant (1922), S. 99 f. Hier zitiert nach Pastenaci (1993), S. 155. 138 Manasseh Ben Israel (1782). Zu Herz’ Übersetzung siehe Ibing (1984), S. 66. Kaiser/Völker (1979), S. 36. 139 Martyn (2001), insbesondere S. 142. Mendelssohn wendet sich gegen Dohms Vorschlag eines kirchlichen Zwangsrechts und plädiert für die Trennung von Kirche und Staat. Eine Religion sei „lauter Geist und Herz“. Zudem appelliert er an die innerjüdische Toleranz. 140 www.haskala.net. 141 Maurer (1999), S. 46. 142 Vgl. zu ihm vor allem: Friedländer (1826) sowie Kaiser/Völker (1979), S. 55 – 57. 143 So im nachgedruckten Lebenslauf aus seiner Dissertation in Kaiser/Völker (1979), S. 57 – 59, insbes. S. 58. Die Unklarheit nennt auch Krüger (1966), S. 98. 144 Richarz (1974), S. 57 f. 145 Der Onkel (1750 – 1834) aus bedeutender Königsberger Familie kam 1771 nach Berlin, war Mitbegründer der jüdischen Freischule Berlin (1778), Aktivist der Emanzipationsbestrebun-

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der Universität Königsberg ein146, ging 1787 nach Berlin, begann im Folgejahr ein zweijähriges Studium am Collegium medico-chirurgicum,147 stand dort im Kontakt mit Marcus Herz und ging 1789 an die Universität Göttingen,148 um nur für seine Promotion (1791) nach Halle zu wechseln. Nach einer dreijährigen wissenschaftlichen Reise liess er sich, spätestens 1795, als Arzt in Berlin nieder.149 Als einer der ersten Ärzte Berlins praktizierte er die gerade erst auf dem Kontinent eingeführte Pockenschutzimpfung, die der Pockeninokulation als Impftechnik folgte. Bereits im Jahre 1800 fasste er den später realisierten Vorsatz, wohl aufgrund persönlicher Beziehungen und da er in Deutschland keine öffentliche Stelle erwarten konnte, nach Paris zu gehen.150 1804 ist er letztmals im Berliner Adress-Kalender aufgeführt, doch gehen verschiedene Quellen bereits von einer früheren Umsiedlung aus.151 Von Paris aus publizierte er in Frankreich wie auch Deutschland intensiv und setzte sich für den literarisch-wissenschaftlichen Ideenaustausch zwischen Frankreich und Deutschland ein. Rahel Levin überlieferte, er sei ein „thätiger Arzt in Paris, hülfreiche Hand für alle Deutschen dort, vielseitiger Kommissionär, Berichtschreiber für deutsche Blätter. Es ging ihm stets nur mittelmäßig; seine wissenschaftliche und örtliche Kenntniss wurde viel benutzt, trug ihm aber wenig ein. Kleine, komische Figur, jüdisch lächelnd, närrisch klug, unermüdlich betriebsam.“152 Anscheinend war Friedländer in Paris auch Hausarzt der Madame de StaÚl.153 Er starb als Jude, d. h. ohne zum Christentum konvertiert zu sein, 1824 in Paris.154

Gegen Ende der 1780er Jahre flammte das schwelende Thema der „Reform“ unter den Berliner jüdischen Ärzten dann richtig auf. Den Wendepunkt stellt Marcus Herz’ radikale Kritik an der religiösen Tradition der frühen Beerdigung unter den Juden von 1787 bzw. 1788 dar.155 Die darauf folgende Reformdebatte, bei der Herz zunächst im Mittelpunkt stand, wird in einem eigenen Kapitel untersucht (3.1). Neu war – für die Berliner jüdischen Ärzte – die explizite Ansprache der Juden, die ausschliessliche Reformforderung der Schrift und der polemische Ton, mit dem Herz offen gegen das etablierte

146 147 148 149 150 151 152 153 154 155

gen, verhandelte über bedingte Gruppenkonversionen und war im Jahre 1809 erster jüdischer Stadtverordneter in Berlin. Während viele seiner Verwandten bedingungslos konvertierten, verfocht er als Jude ein – wiewohl stark modernisiertes – Judentum. Vgl. den Artikel über ihn in: Jüdisches Lexikon (1928). Richarz (1974), S. 58. Richarz (1974), S. 229. Richarz (1974), S. 70. In diesem Jahr ist er erstmals im Adress-Kalender verzeichnet. Friedländer (1826), S. 751. Friederike Liman will ihm für diese geplante Reise keinen Brief an ihre Brieffreundin Rahel Levin, spätere Varnhagen, mitgeben, da er als „neugieriger Reisender“ bekannt sei und den Brief öffnen würde. Vgl. Bosold (1996), S. 47. Die Jahreszahl 1804 findet sich in Kaiser/Völker (1979), S. 59. Krüger (1966) sagt, dies sei um 1800 geschehen. Vgl. Levin Varnhagen (2001), S. 627. Krüger (1966), S. 98, auch Friedländer (1826), S. 751. S. z. B. Friedländer (1826), S. 755. Herz (1788). Die erste Auflage erschien 1787.

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jüdische Beisetzungsritual anschrieb. Es dürfte in dieser Zeit gewesen sein, als auch Herzens Kollege Moses Böhm versuchte, die Kritik an der frühen Beerdigung zu verbreiten, und zwar in einem Brief von der Metropole aus in seine ehemalige Halberstädter Gemeinde.156 In den folgenden Jahren arbeiteten etwa zwei Drittel der Berliner jüdischen Ärzte der späteren Generation öffentlich an der „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden und entsprachen so dem Rollenmodell des „Reformers“ des Judentums nach aussen hin. Genauer : Bei acht von dreizehn sind solche Aktivitäten nachweisbar. Jeweils drei von ihnen waren in der frühen Phase der Reformära (um 1790) ca. 35157 bzw. etwa 20 Jahre158 alt. Die beiden Aktivisten des Anfangs, Herz und Böhm senior, waren mit 45 bzw. ca. 70 Jahren etwas oder deutlich älter. Höhepunkt der Reformaktivitäten ist das Jahr 1792, in dem zum einen die ersten entsprechenden Schriften aus der Feder Berliner jüdischer Ärzte erschienen. Zum anderen wurde in diesem Jahr in Berlin die jüdisch-aufklärerische „Gesellschaft der Freunde“ gegründet, deren Ziel es war, ein reformiertes Judentum nach innen zu leben und nach aussen zu verbreiten.159 Die Gesellschaft wurde zwar von Unternehmern und Bankiers dominiert, doch bestimmten die Mediziner das Profil des Vereins deutlich mit.160 Zu den 88 Gründungsmitgliedern zählten fünf damalige oder spätere Ärzte. Ein weiterer Arzt stiess im Lauf des Jahres als Königsberger Mitglied dazu. Unter den genannten fünf Ärzten fand sich der grösste Teil unseres Samples, dem ein Beitritt zu diesem Junggesellenverein offen stand. Es sind dies erstens der bekannte David Oppenheimer, zweitens der Sohn von Moses Böhm, Benedict Böhm und drittens ein Arzt namens Abraham Herz Bing. Benedict Böhms161 Vorname war vermutlich zunächst Baruch.162 Ein Geburtsjahr konnte nicht nachgewiesen werden. Nach dem Studium am Berliner Collegium medico-chirurgicum in Berlin ab 1778 ging er an die Universität Halle, wo er 1784 promovierte.163 Bereits seine Dissertation veröffentlichte er unter dem Vornamen „Benedict“ bzw. „Benedictus“. Ab 1786 ist er in Berlin als jüdischer Arzt verzeichnet. In den beiden Folgejahren erschienen von ihm aus dem Lateinischen übersetzte Auerbach (1866), S. 112 – 114. David Oppenheimer, Benedict Böhm und Sabattia Joseph Wolff waren um 1755 geboren. Michael Friedländer, Abraham Herz Bing und Wolf Davidson waren um 1770 geboren. Lesser (1842); Panwitz (2005). Panwitz (2005), S. 103. Siehe zu ihm vor allem Jacobson (1968), S. 232 f. Wie sein Vater wird er in den Quellen zum Teil „Böhme“ genannt. 162 Der einzige Hinweis darauf ist bei Richarz (1974), S. 53, 228, zu finden. Dort ist die Einschreibung eines Baruch Böhm aus Berlin im Collegium medico-chirurgicum im Jahre 1778 verzeichnet. Richarz sieht ihn als identisch mit Benedict Böhm an. 163 In den Arbeiten von Wolfram Kaiser und anderen über die Hallenser jüdischen Medizinstudenten des 18. Jahrhunderts ist er nicht aufgeführt, wahrscheinlich weil sein hier bereits verwendeter Vorname Benedict nicht auf einen Juden schliessen lässt. 156 157 158 159 160 161

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„Vermischte Beobachtungen“ des eher konservativ aufgeklärten jüdischen Traditionalisten und Arztes Marx Jacob Marx.164 Benedict Böhm liess sich zwischen 1803 und 1811 taufen.165 Zwei seiner Patientinnen gehören um 1806 zu eben denjenigen Juden, die wie Böhm selber kurz vor dem Übertritt zum Christentum standen: Die eine ist Rebecca Friedländer, spätere Regina Frohberg, Tochter von Jacob Salomon, Juwelenhändler am preussischen Hof, und Schwiegertochter des Reformers David Friedländer.166 Die andere ist ihre zeitweise intensive Brieffreundin, die bekannte SaloniÀre und Schriftstellerin Rahel Levin, spätere Varnhagen. Kontakte sind zwischen 1805 und 1813 nachweisbar. Rahel Levin hatte Böhm anscheinend viel Honorar bezahlt, war über dessen Therapie aber nicht sehr glücklich.167 Sie hatte ihn zudem bereits 1805 ebenso ausführlich wie vernichtend als einen der eitelsten Menschen charakterisiert, den sie kenne.168 Im letzten Jahrzehnt seines Lebens erschien Böhm im Adress-Kalender für einige Jahre als „Arzt am Theater“. Benedict Böhm starb im Jahre 1828.

Das dritte ärztliche Gründungsmitglied der Gesellschaft ist der damals bereits promovierte, aber noch nicht unter den Berliner Ärzten verzeichnete Abraham Herz Bing. Abraham Herz Bing169 wurde 1769 bzw. 1770 geboren. Er schrieb sich 1785 am Collegium medico-chirurgicum ein,170 studierte in Frankfurt/Oder171, ab 1788 in Göttingen172. Von dort ist überliefert, dass Wilhelm von Humboldt seinen ausserordentlichen Fleiss lobte.173 1790 wechselte er nach Halle, um dort im Folgejahr die Promotion abzulegen.174 Die Niederlassung als Arzt in Berlin ist im Adress-Kalender erst für 1796 nachgewiesen, doch hielt er sich spätestens seit 1792 in Berlin auf, wie durch seine breiten Aktivitäten in der „Gesellschaft“ klar wird (s. u.). 1801 heiratete er mit Rahel Bendix in eine der schon länger reichen und führenden Berliner jüdischen Bankiersfamilien ein. Ihr Vater Hirsch Nathan Bendix war zeitweise Gemein164 Marx (1786/87). Siehe über Marx das Kapitel über den Beerdigungsstreit. 165 Im Adress-Kalender ist er 1803 das letzte Mal unter den jüdischen Ärzten aufgeführt. 1811 ist er bereits Christ. Vgl. Jacobson (1968). 166 Hertz (1988), S. 29 f., 33. 167 Varnhagen (1967), S. 142 (rückblickend auf das Jahr 1810). Hertz (1988), S. 33, 62, 124, 146, 155, 198, 243 f. Siehe auch Levin Varnhagen (2001), S. 69, 114. Sie liess sich 1813 von ihrem Bruder aus Berlin Pulver von Böhm nach Breslau schicken. 168 Ausführlich in: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Erster Theil, Berlin 1834, S. 274. Neudruck als Varnhagen (1983). 169 Zu Bing siehe vor allem Jacobson (1968), S. 440, und Kaiser/Völker (1979), S. 61 f. Der jüdische Arzt Israel Herz Bing dürfte sein Bruder gewesen sein. Israel wurde geboren in Berlin, immatrikulierte sich am Collegium medico-chirurgicum 1777, war Medizinstudent in Halle, Göttingen und wiederum in Halle und promovierte dort 1783. Siehe Kaiser/Völker (1979), S. 41 – 44, Komorowski (1991), S. 179. Sein weiterer Verbleib ist unklar. 170 Richarz (1974), S. 229. 171 Jacobson (1968), S. 440. 172 Richarz (1974), S. 229. 173 Jacobson (1968), S. 440. 174 Kaiser/Völker (1979), S. 61, Komorowski (1991), S.179.

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deältester und Schwager von David Friedländer.175 Rahel Bendix starb bereits 1810. Aus den folgenden Jahren ist überliefert, dass Bing zu den prominentesten Ärzten Berlins im frühen 19. Jahrhundert gezählt haben muss.176 Er starb wahrscheinlich als Jude 1835.177

Die zwei Autoren der „Verbesserungs“-Schriften dieses Jahres 1792 fehlen als Mitglieder der „Gesellschaft der Freunde“ zwar, doch zog der eine, Wolf Davidson, in diesem Jahr zum Studium nach Halle, was ein Grund für seine Abstinenz sein könnte. Der andere, Sabattia Joseph Wolff, war 1792 wohl in Berlin,178 stiess aber wahrscheinlich erst später als Pflegebruder zur Gesellschaft.179 1813 äusserte Wolff sich in einer Veröffentlichung verständnisvoll über die Gesellschaft.180 Bei Marcus Moddel schliesslich ist unklar, ob er hätte Mitglied werden können.181 Moses Marcuse, der andere Arzt, über den wenige biographische Angaben vorliegen, wird ebenfalls nicht unter die Gründungsmitglieder gezählt. Im selben Jahr hatte er sich am Collegium medicochirurgicum in Berlin eingeschrieben. Da er in Hannover geboren wurde, kann es sein, dass er noch nicht sehr in die Berliner Judenschaft integriert war, aber dies ist kaum mehr als eine Spekulation. Zwei weitere Namen fehlen ebenfalls. Michael Friedländer liess sich erst 1795 in Berlin nieder. Isaak Beer Fließ hatte bereits 1791 geheiratet. Jenseits unseres Samples zählten zwei angehende Ärzte und ein examinierter Arzt zu den Mitgliedern des ersten Jahres. Der erste ist der damals 19jährige Ludwig Wilhelm (bzw. Lewin Wulf) Rintel. Ludwig Wilhelm Rintel182 wurde (wohl unter dem Namen Lewin Wulff Rintel183) im Jahre 1773 in Berlin geboren. 1792 und 1797 ist er in Berlin wohnend nachgewiesen. Wahrscheinlich promovierte er erst 1808 unter dem Vornamen „Ludwig“ in Göt-

175 Jacobson (1968), S. 440, Lowenstein (1994), S. 32, 90, 220, 239, 206. 176 Panwitz (2005), S. 103. 177 Jacobson (1968), S. 440. A.H. Bing dürfte zumindest bis 1825 nicht konvertiert sein, denn seine Tochter Julie tat dies in diesem Jahr 19jährig und sein älterer Sohn Heinrich Herz Bing hatte diesen Schritt bereits 1822 18jährig unternommen (ebd.). Beide wären bei einem vorhergehenden Übertritt des Vaters mit grosser Wahrscheinlichkeit als Kind oder Jugendliche mitkonvertiert. 178 In der Einleitung seiner in Halle erschienenen „Freymüthigen Gedanken“ (Wolff 1792) verortet er sich selbst in Berlin. 179 Er dürfte der genannte Pflegebruder „Studiosus Wolff Halle“ sein. „Pflegebrüder“ waren Medizinstudenten, für die medizinische Betreuung der Kranken der Gesellschaft zuständig, allerdings dem Pflegevater unterstellt. Lesser (1842), S. 30 f., Panwitz (2005), S. 104. 180 Sabattia Joseph Wolff (2003), S. 88. 181 Marcus Moddel war seit 1783 Arzt, aber es ist nicht bekannt, ob er sich zu diesem Zeitpunkt in Berlin aufhielt. Im Adress-Kalender ist er erst ab dem Jahre 1798 aufgelistet. Ausserdem ist nicht klar, ob er damals verheiratet oder Junggeselle war. 182 Siehe zu Rintel vor allem Jacobson (1968), S. 198 f. 183 Vgl. Lohmann (2001), S. 31 (für 1797).

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2 Ärzte zwischen Identität und Berufsverständnis

tingen184 und liess sich darauf, spätestens 1818, in Berlin als Arzt nieder.185 1821 konvertierte Rintel zum Christentum und starb 1861186.

Der zweite angehende Arzt ist der damals 18jährige Jacob (Ezechiel) Aronsso(h)n: Aronssohn187 wurde 1774 geboren, studierte in Göttingen sowie 1794 – 98 in Königsberg. Dort beteiligte er sich an der Eröffnung eines Zweigvereins der Gesellschaft der Freunde188 und promovierte im Jahre 1800.189 In den Folgejahren veröffentlichte er viele medizinische Schriften. Von 1802 bis 1806 ist er im Berliner Adress-Kalender als Arzt nachgewiesen. Er unterrichtete am dortigen Collegium medico-chirurgicum, starb allerdings bereits 1807.

Schliesslich bleibt der damalige Königsberger Arzt Aron Joel, der als externes Mitglied nie in Berlin praktiziert haben dürfte.190 Von den ärztlichen Mitgliedern der Gesellschaft ist eine ausgesprochen intensive Beteiligung an der Vereinsarbeit überliefert. Böhm, Bing und Oppenheimer beteiligten sich an der Kommission zur Erarbeitung der Statuten.191 Der Letztere (sein Bruder war einer der Initiatoren der Gesellschaft192) hatte den Vorsitz in den Jahren 1793/94 und 1804 inne. 1795 erarbeitete er ein Gutachten zur Frage des von der Gesellschaft der Freunde geplanten Leichenhauses, das dem prominenten Mediziner und Aktivisten in der Scheintod-Frage Christian Wilhelm Hufeland zur Begutachtung zugesandt wurde. Nachdem Ende 1796 Hufelands positive Antwort eingetroffen war, wurde ein 184 Rintel (1808). 185 Eine erste Nennung dort kann für das Jahr 1818 nachgewiesen werden, dem ersten Jahrgang, in dem der Kalender seit 1807 wieder erschien. 186 Jacobson (1968), S. 199. 187 Siehe zu ihm z. B. Komorowski (1991), S. 70. Die Schreibweisen seines Namens sind sehr unterschiedlich. In Veröffentlichungen inklusive der Dissertation schreibt er sich in der Regel „Aronsson“, ebenso im Adress-Kalender, bei der Gesellschaft der Freunde ist er als „Aronssohn“ verzeichnet (Lesser, 1842, S. 18). So hat er sich anscheinend in jüngeren Jahren geschrieben (s. Toury, 1986). In einer emanzipatorischen Schrift schreibt er sich „Aronsohn“. Die Angabe von Toury (1986), dass er sich später „Aronson“ schrieb, konnte nirgends nachgewiesen werden. 188 Toury (1986), S. 45. 189 Jakob Aronsson: De febre conjecturae. Diss. Med. Königsberg 1800 190 Bei Steinschneider (1914/17, Nr. 1149) ist er aufgrund einer falschen Interpretation der Quelle (= Lesser 1842) als Berliner Arzt angegeben. 1804 lebte er in Königsberg und starb in diesem Jahr auch (Lesser, 1842, S. 20, 40). Nach Koren (1973), S. 71 starb er in Berlin, was vielleicht ein Folgefehler ist. Möglicherweise ist er identisch mit Aron Joel, der 1749 in Halberstadt geboren wurde (Steinschneider 1914/17, Nr. 1148), sich 1773 in Königsberg immatrikulierte und 1778 das Berliner Collegium medico-chirurgicum belegte und 1780 in Frankfurt/Oder promovierte. Richarz (1974), S. 228. Komorowski (1991), S. 62. 191 Lesser (1842), S. 14. 192 Sein Bruder Nathan (geboren 1755), späterer Besitzer einer Lackier-Fabrik (Jacobson 1968, S. 257), gehörte zum kleinen Kreis der vier Juden, unter denen die erste Idee für die Gründung der Gesellschaft der Freunde entstand. Lesser (1842), S. 8.

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überarbeiteter Plan eines Leichenhauses gedruckt. Schliesslich engagierte sich Oppenheimer für die Verbesserung der Krankenpflege innerhalb der Gesellschaft.193 Bing wurde noch im Jahr 1792 Assessor der Gesellschaft, 1794 Sekretär und 1803 (bereits verheiratet) ihr erster Sekretär.194 Von Böhm sind keine weiteren Aktivitäten bekannt, aber er blieb der Gesellschaft auch als Konvertit bis zu seinem Tod treu.195 Aus dem erweiterten Sample war Rintel bis 1803 dort in verschiedenen herausgehobenen Positionen ausgesprochen aktiv, gerade auch in der Beerdigungsfrage.196 Hinzu kam, dass er 1797 Inspektor der Berliner jüdischen Freischule war und somit ein Bindeglied zwischen den beiden Einrichtungen der jüdischen Reform darstellt.197 Von Aronssohn ist schliesslich eine emanzipatorische Ansprache überliefert, die er 1798 im Königsberger Zweig der Gesellschaft hielt, in der er sich auf das Bürgerrecht im Sinne der Französischen Revolution berief: „Bürger eines Staates ist jeder einzelne Mensch, der mit ihm den gleichen Zweck hat und gleiche Mittel dieses Zweckes anwendet. Mit der Pflicht, Bürger zu werden, ist auch das Recht, es zu sein, innigst verwandt. Jene ist ohne dieses nicht denkbar […].“198 Damit lässt sich anhand der „Gesellschaft der Freunde“ und der Aktivitäten ihrer ärztlichen Mitglieder insbesondere zeigen, dass auch viele derjenigen jüdischen Ärzte Berlins reformerisch gesonnen waren, die ihre Überzeugungen nicht in Veröffentlichungen festhielten. Auf der anderen Seite gab es diejenigen jüdischen Ärzte, die ihr Ansinnen in solchen Publikationen vertraten. Sie erschienen ab 1792. In diesem Jahr veröffentlichten gleich zwei Berliner jüdische Ärzte Plädoyers für die „Verbesserung“ der Juden. Der eine, Sabattia Joseph Wolff, befasste sich bis 1819 relativ kontinuierlich mit dem Themenkomplex der „bürgerlichen Verbesserung“, der Emanzipation und schliesslich der Abwehr des Antijudaismus. Von Sabattia Joseph Wolff199 ist zwar eine Reihe von Schriften überliefert, die in der jüdischen Geschichtsschreibung wohlbekannt sind, doch ist seine Biographie bis zur Promotion nur bruchstückhaft rekonstruiert. 1757 (laut anderen Quellen 1756200) in 193 194 195 196

197 198 199 200

Lesser (1842), S. 19, 27, 29 f., 32; Panwitz (2005), S. 103 f. Lesser (1842), S. 23, 28, 38. Lesser (1842), S. 21. Er war 1794 zweiter Sekretär, 1797 in einem Ausschuss zur Statutenrevision, 1802 Vorsteher und kam im Folgejahr auf eine Ehrentafel der Gesellschaft. Lesser (1842), S. 20, 28, 32, 37 f. Er starb 1861 als letztes Gründungsmitglied der Gesellschaft. Neben David Oppenheimer engagierte er sich durch Vorträge und Publikationen in der Debatte um die frühe Beerdigung und um die geplante Leichenhalle. Vgl. Panwitz (2005), S. 103. Lohmann (2001). Toury (1986), S. 45 f. Teilweise wird sein Vorname „Sabbatia“, „Sabattja“, „Sabbathia“ und anders geschrieben. Jacobson (1968), S. 432, verzeichnet ihn als „(Schabse) Sabbathai“. Jacobson (1968), S. 432: 12. 9. 1757 geb. Berlin. Davies (2003), S. 141: September 1756.

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Berlin in eine Krankenwärterfamilie geboren und religiös erzogen201, promovierte er offensichtlich erst über vierzigjährig 1799 in Frankfurt/Oder.202 Zuvor hatte er möglicherweise auch in Halle studiert203 und bereits 1792 in diesem Ort eine erste, mindestens teilweise in Berlin verfasste anonyme Schrift zur „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden veröffentlicht.204 Bereits Ende der 1780er Jahre hatte er den jüdischen Philosophen und eigenwilligen Charakter Salomon Maimon kennen gelernt. Aus dem langjährigen Kontakt entstand 1813, dreizehn Jahre nach Maimons Tod, eine bis heute beachtete Biographie Wolffs über ihn.205 Relativ kurz nach der Promotion begann Wolff in Berlin als Arzt zu praktizieren.206 Er heiratete die Witwe des offenbar nicht in Berlin ansässigen, möglicherweise Frankfurter Arztes Joseph Wolff.207 Aus seinem weiteren Leben sind vor allem Veröffentlichungen zu Fragen der „Verbesserung“ der Juden und ihrer Emanzipation, allerdings nur eine Schrift medizinischer Natur, bekannt. Ab 1815 verlegte er sich auf literarisch-satirische Zeitbetrachtungen. 1832 starb Wolff als Jude in Berlin.208

1792 veröffentlichte Wolff in Halle anonym die 34seitige Schrift „Freymüthige Gedanken über die vorgeschlagene Verbesserung der Juden in den preußischen Staaten. Von einem Juden mit Zusätzen eines Christen.“209 Es war seine erste Veröffentlichung. Er war bereits 35jährig, aber noch kein Arzt. Ebenso wie eine Reihe weiterer Veröffentlichungen der frühen 1790er Jahre steht die Schrift im Zusammenhang mit den Verhandlungen über konkrete Bedingungen für eine Emanzipation der preussischen Juden in der „Reformkommission“ (1787 – 1793). In den Schriften zeigt sich eine Radikalisierung des Kampfes der Reformer gegen die traditionalistische Judenschaft.210 Wolff legte hier eine klassische Reformschrift vor. Sein Hauptargument ist, dass die breite Masse der Juden nicht vollwertige, dem Staate nützliche Bürger werden könnten, solange sie ihre traditionelle, überkommene Religion voller Vorurteile und Aberglauben nicht aufgegeben hätten. Würden sie die ihnen noch versperrten Handwerke lernen oder Soldaten werden, würde sie dies in 201 „Er entstammte einer Berliner Krankenwärterfamilie, kannte also von Kind auf den primitiven, doch erfolgreichen Sanitätsdienst der jüdischen Gemeinde und wollte sich über die Situation seines Vaters emporheben.“ Toury (1986), S. 31. 202 Der Promotionsort so genannt bei Jacobson (1968), S. 432. In diesem Fall ist es offenbar : Joseph Wolff: De prodromis morborum. Frankfurt/O. 1799. Das einzige nachgewiesene Exemplar in Deutschland konnte von der Bibliothek nicht beigebracht werden. 203 Die „Gesellschaft der Freude“ stellte 1796 den „Studiosus Wolff, Halle“ als Pflegebruder an. Lesser (1842), S. 30. 204 Wolff (1792). Die Vorrede ist als Brief datiert „Berlin, im April 1792“. 205 Davies (2003). 206 Jacobson (1968), S. 432: 1800 erhält er die „Approbation“ in Berlin. Der Adress-Kalender nennt ihn 1801 erstmals als jüdischen Berliner Arzt, letztmals konnte er dort für das Jahr 1826 nachgewiesen werden. 207 Jacobson (1968), S. 432. 208 Jacobson (1968), S. 432. Nach Toury (1986), S. 31, ist er 1833 gestorben. 209 Vgl. hierzu auch Davies (2003), S. 143. 210 Lowenstein (1994), S. 78 – 82, 99.

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2.1 „Gelehrte“ und „Reformer“

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einen grossen Konflikt mit ihrer religiösen Praxis bringen. Aus diesem Grunde müssten sich die Juden erst selbst einer Reform dieser Praxis unterziehen, bevor sie emanzipierbar seien. Der andere Autor des Jahres 1792, Wolf Davidson, setzte sich in diesem Jahr und nochmals 1798 engagiert mit dem Problemkomplex „bürgerliche Verbesserung der Juden“ bzw. der Emanzipation auseinander. Wolf Davidson211 wurde 1772 in Berlin geboren, schrieb sich 1789 am Collegium medico-chirurgicum ein212 und studierte von 1792 bis zur Promotion 1794 in Halle. Bereits 1793 soll er sich erfolglos um ein Kreisphysikat in den 1793 neu erworbenen polnischen Provinzen beworben haben.213 Der Adress-Kalender verzeichnet ihn fünf Jahre nach der Promotion (1799) erstmals als jüdischen Arzt in Berlin, doch ist es wahrscheinlich, dass er sich in den Jahren davor auch häufig oder ganz dort aufgehalten hat.214 1796 begann er eine eifrige, bis zu seinem frühen Tod reichende medizinische Publikationstätigkeit, wobei seine Abhandlung über den Schlaf am bekanntesten ist.215 1797 heiratete er Rose Bloch, die Tochter vor Marcus Elieser Bloch, die allerdings eineinhalb Jahre später verstarb.216 1800 starb auch Davidson selbst im Alter von nur 28 Jahren.217

1792, erst zwanzigjährig und im Jahr seines Studienorts-Wechsels von Berlin an die Universität Halle, veröffentlichte Wolf Davidson seine erste Schrift über die Reform des Judentums. Die 22seitige und anonym veröffentlichte Publikation ist betitelt „Ein Wörtchen über die Juden“.218 Davidson gibt sich dort als Jude zu erkennen und beschreibt zunächst mit drastischen Worten den angeblichen historischen Niedergang des Judentums in den talmudischen Rabbinismus bis zur jüngsten Vergangenheit, anschliessend aber auch eine Art jüdischer „Wiedergeburt“ durch Personen der Haskala und der Aufklärung, der „Assimilation“ und der „Verbürgerlichung“. Schliesslich malt er das Schreckgespenst einer erneut das Wort erhebenden traditionell-fundamentalistischen Religiosität an die Wand und appelliert an den Monarchen, den Juden dennoch die Bürgerrechte zu schenken. Für Martin L. Davies ist das Werk eine allgemeine Klage über das Scheitern der Reformierung des Judentums, ähnlich David Friedländers „Aktenstücken zur Reform der jüdi211 Vereinzelt auch „Wolff“ oder „Davidsohn“ geschrieben. Zu Davidson siehe vor allem Jacobson (1968), S. 393 f., jetzt auch Osten (2013). 212 Richarz (1974), S. 229, verzeichnet für dieses Jahr einen Wulff Davidsohn aus Berlin. 213 Jacobson (1968), S. 394. 214 Alle seine Veröffentlichungen seit der Hallenser Dissertation (1796 ff.) erscheinen in Berlin, mit der einzigen Ausnahme der anonymen „Briefe über Berlin“ (Landau 1798), in denen er aber auch seine gute Kenntnis der Stadt beweist. Hinzu kommt seine Heirat in Berlin 1797. 215 Davidson (1796). Zwei ihm als Autor zugeschriebene Lustspiele aus dem Jahr 1797 entstammen nach seinen eigenen Angaben offenbar nicht seiner Feder. S. DBA 224/26. 216 Jacobson (1968), S. 394. 217 Jacobson (1968), S. 393. 218 Davidson (1792). Dr. Martin L. Davies, Leicester, stellte mir dankenswerterweise eine Kopie dieser seltenen Schrift zur Verfügung.

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2 Ärzte zwischen Identität und Berufsverständnis

schen Gemeinde“, auf die sich Davidson im Untertitel auch bezieht.219 Gleichzeitig ist es aber eben auch ein Appell, in der Hoffnung auf „Bürgerrechte“ weiter gegen das traditionelle, in seinen Augen degenerierte Verständnis von Judentum zu kämpfen. Allerdings ebbten diese radikalen Reformpamphlete, wie man sie zugespitzt nennen könnte, bald ab. Im Jahre 1798, als 26jähriger Arzt, legte Davidson noch ein eigenständiges, mehr als hundertseitiges Buch mit dem programmatischen Titel „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ nach, mit dem er explizit an die Schrift Dohms anschloss.220 Das Buch ist eine Bitte, ja fast ein Appell oder gar eine Forderung221 an den neuen preussischen König Friedrich Wilhelm III. aus Anlass seiner Thronbesteigung im vorangegangenen November, den Juden nun die Bürgerrechte zu erteilen. Davidson argumentiert weitläufig, wie sehr sich die Juden in den 17 Jahren seit Dohms Veröffentlichung bereits „verbessert“ hätten. Die als Hindernisse für die Emanzipation (z. B. durch die Verunmöglichung des Militärdienstes) angesehenen jüdischen Religionsgesetze wie die Einhaltung des Schabbats, der jüdischen Feiertage, ja auch der Speisegesetze hätten an Bedeutung verloren. Ein anderer Beweis für die „bürgerliche Verbesserung“ ist für ihn sein eigener Berufsstand: „Bloch und Herz waren auch die ersten jüdischen Ärzte, denen angesehene christliche Familien ihr Vertrauen als Arzt schenkten […]. Jetzt sind hier in Berlin acht jüdische Ärzte, und alle haben so wohl unter den Christen, als unter den Juden ihre Praxis, ein Beweis, dass das Zutrauen der Christen gegen die Juden sich vermehrt hat, und dass diese sich dieses Zutrauens nicht unwürdig gemacht haben.“222 Andererseits sei die „Verbesserung“ noch nicht vollendet. An den König gerichtet beteuert er, dass die Juden sich unter emanzipierteren Umständen auch noch weiter „bürgerlich verbessern“ würden. Er richtet sich aber ebenso an die Juden, z. B. mit der Forderung, dass sie jetzt auch Soldaten werden müssten.223 Aus diesem Blickwinkel ist das Buch auch noch eine späte Reformschrift. Mit eigenen Interpretationen versucht Davidson etwa Bedenken zu zerstreuen, dass die Reformen nicht mit dem jüdischen Religionsgesetz kompatibel seien – etwa dass das Fechten am Schabbat gar nicht verboten und somit der Kriegsdienst für Juden auch dann möglich sei.224 Fünf Jahre später greift Davidsons Kollege Wolff die Thematik noch einmal auf, allerdings in völlig gewandelten Zusammenhängen. Das von ihm offiziell herausgegebene, aber sicher auch selbst verfasste „Sendschreiben eines Christen an einen hiesigen Juden: über den Verfasser der Schrift ,Wider die 219 220 221 222 223 224

Davies (1995), S. 206. Davidson (1798a). Davidson (1798a), S. 6. Davisdon (1798a), S. 95 f. Davidson (1798a), S. 24. Davidson (1798a), S. 18.

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2.1 „Gelehrte“ und „Reformer“

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Juden‘“ von 1803225 ist eine Antwort auf die judenfeindliche Schrift von Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer226 und eine jüdische Selbstverteidigung. Die Vorwürfe Grattenauers, so Wolff, stammten aus vergangenen Jahrhunderten. Wolff selber hingegen versucht zu beweisen, „wie sehr sich die Nation seitdem kultivirt hat“227. Der Reformprozess ist für ihn in diesem Sinne also bereits abgeschlossen. Einige Jahre zuvor war ein anderer „Reformer“, nämlich Marcus Herz, im Übrigen bereits sehr hellhörig gegenüber antijüdischen Vorwürfen und Untertönen. Als ihm vorgeworfen wurde, er halte sein „Judenlazarett“ nicht rein, verbat er sich dies und fügte an, ein solcher „gassenbübischer Nachruf: Judenmauschel!“ sei in seiner aufgeklärt christlichen Umwelt nicht üblich.228 Noch einmal wehrt sich Wolff 1819, nun über 60 Jahre alt, gegen antijüdische, speziell gegen ihn gerichtete Vorwürfe in der Schrift „Wieder Juden. Sendschreiben an Herrn Julius v. Voß“.229 Die Schrift steht im Zusammenhang der damaligen antijüdischen, so genannten „Hep-Hep“-Ausschreitungen. Eine etwa notwendige „bürgerliche Verbesserung“ der Juden ist hier kein Thema mehr. Im Gegenteil, Wolff versucht sogar Verständnis für von Voß angeprangerte traditionelle jüdische „Eigenschaften“ wie den Geld- oder Hausierhandel zu erwecken.230

„Konvertiten“ Von den siebzehn jüdischen Ärzten Berlins im 18. Jahrhundert entsprachen elf entweder dem Rollenmodell „Gelehrter“ oder dem Rollenmodell „Reformer“, Benjamin de Lemos repräsentierte eine Art „Ausgangspunkt“ des kulturellen Wandels. Bei drei Ärzten konnten aus Quellengründen keine Indizien des kulturellen Wandels beigebracht werden. Es bleiben zwei Ärzte (Isaak Beer Fließ und Jakob Warburg), die bislang noch nicht im Mittelpunkt standen. Sie konnten nicht dem typischen Rollenmodell ihrer Generation, dem des „Reformers“ zugeordnet werden, haben aber die Gemeinsamkeit, dass sie wohl beide zum Christentum konvertierten. Da sich unter den anderen Ärzten des Samples nur ein weiterer Konvertit fand, kann hier durchaus von einem eigenen, relativ eigenständigen Rollenmodell des „Konvertiten“ gesprochen werden, das sich eben nicht allzu sehr mit den anderen Modellen überschnitt.

225 226 227 228 229 230

Wolff (1803). 3. Aufl., Berlin 1803. Wolff (1803), S. 6. Herz (1997b), S. 59. Wolff (1819). Wolff (1819), S. 37.

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2 Ärzte zwischen Identität und Berufsverständnis

Isaak (Beer) Fließ231 wurde im 1770 im Haag geboren, doch stammte sein Vater, ein Bankier,232 ursprünglich aus Berlin. Der Vater fungierte als Geldbeschaffer für Friedrich den Grossen zur Finanzierung der Kriege gegen Österreich, Frankreich und Russland. Die Familie Isaac-Fließ stieg so in die Gruppe der drei vermögendsten und einflussreichsten Berliner jüdischen Familien auf.233 Der Sohn besuchte das Gymnasium im Haag sowie die Universität in Leiden und folgte 1788 18jährig seinem Vater, der in Berlin ein besonders günstiges General-Privileg erhalten hatte.234 Im gleichen Jahr schrieb er sich dort am Collegium medico-chirurgicum ein,235 wechselte an die Universität Göttingen und schliesslich an die Universität Halle, um dort bereits nach zwei Monaten die Promotion zu beantragen und 1791 abzuschliessen.236 Im gleichen Jahr heiratete er in Berlin. Unter den Berliner jüdischen Ärzten ist er erstmals im Jahre 1795 aufgelistet. 1802 liess er sich taufen (wie es in seiner Familie häufiger vorkam237) und nannte sich Carl Eduard Fließ.238 Er verliess Berlin später239, wurde möglicherweise Stadtphysikus in Posen, lebte dann in St. Petersburg und starb etwa 1829.240 Fließ war neben seinem Arztberuf zu seiner Zeit ein bekannter Berliner Musiker und Teil einer musikalisch recht aktiven Familie.241 Davidson nahm sein „großes musikalische Talent“ 1798 als eines der Beispiele, wie sehr sich die Juden bereits bürgerlich verbessert hätten.242 Fließ ist allem Anschein nach die Person, die das Volkslied „Schlafe, mein Prinzchen“ im Jahre 1796 komponiert hat und nicht der mit dem Lied oft in Verbindung gebrachte Mozart. Als Komponist wird allerdings ein (Dr.) Bernhard Fließ (1770 – 1751) angegeben. Angesichts des jüdischen Vornamens „Beer“ und

231 Siehe zu ihm hauptsächlich Jacobson (1968), S. 345 f. und Kaiser/Völker (1979), S. 59 f. Möglicherweise ist er auch gemeint, wenn Feiner (2007), S. 327, einen wohlhabenden “Dr. Feliss“ nennt. 232 Der 1753 geborene Bankier Beer Fließ, der anscheinend mit 17 Jahren Vater geworden war. Vgl. Jacobson (1968), S. 346. 233 Vgl. Lowenstein (1994), S. 26. 234 Jacobson (1968), S. 346. 235 Richarz (1974), S. 229. 236 Fließ ist nicht in Komorowski (1991) aufgelistet. 237 Lowenstein (1994), S. 230, Fussnote 15; Jacobson (1968), S. 346. 238 Jacobson (1968), S. 345. Spätestens im Jahre 1802 ist er im Adress-Kalender unter den nichtjüdischen Ärzten Berlins aufgelistet. Siehe auch Lowenstein (1994), S. 207, Fussnote 8. 239 Spätestens 1818 ist er nicht mehr im Adress-Kalender genannt. 240 Jacobson (1968), S. 345. 241 Vgl. Gerhard (1999a). Ich danke Dr. Daniel Jütte (Cambridge MA) herzlich für diesen Literaturhinweis. 242 Davidson (1798a), S. 108. Vgl. auch Davidson (1798b), S. 90 „Ich stand einmal bey dem Doktor Flies, dessen musikalisches Talent Du auch kennst. Dieser musste aus Ärger über das Kritisieren, bey den schönsten Stellen im Don Juan seinen Platz verlassen. Er hat jetzt eine Operette componirt, die ganz vortrefflich seyn soll, wie es sich auch aus seinen übrigen Arbeiten erwarten lässt. Sie ist noch nicht gegeben worden, und zwar aus Ursachen, die gar nicht schön sind.“

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2.1 „Gelehrte“ und „Reformer“

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des gleichen Geburtsjahres könnte es sich um die gleiche Person gehandelt haben.243 Der Widerspruch beim Todesdatum liess sich nicht klären.

Die andere zu den „Konvertiten“ gerechnete Person ist Jakob Warburg. Jakob Warburg244 wurde 1771 in Berlin geboren245, promovierte 1794 in Frankfurt/ Oder246 und wurde 1798 erstmals im Adress-Kalender unter den jüdischen Ärzten und bis 1807 mit dem Vornamen „Jakob“ aufgelistet.247 In der nächsten erschienenen Ausgabe des Adress-Kalenders vom Jahre 1818, der die jüdischen Ärzte nicht mehr separat aufführte, wird er unter dem Namen „Ernst Ludwig Jakob Warburg“ geführt. Er dürfte demnach konvertiert sein. Warburg ist wahrscheinlich nach 1845 gestorben.248

Konvertiert ist schliesslich auch Benedict Böhm, und zwar zwischen den Jahren 1803 und 1811. Ausserhalb des engeren Samples war es noch der früh schon in der Gesellschaft der Freunde und der jüdischen Freischule engagierte Ludwig Wilhelm Rintel, der 1821 zum Christentum übertrat. Im frühen 19. Jahrhundert grassierte die so genannte „Taufepidemie“ unter Berlins Juden. In diesem Zeitraum praktizierte jedoch nur noch ein Teil unseres engeren Samples als Ärzte. Was aber war mit ihren jüngeren Kollegen? Erlagen sie der „Epidemie“? Unter acht weiteren jüdischen Ärzten Berlins, die zwischen 1801 und 1810 hier zu praktizieren begannen, liessen sich zwei Konversionen nachweisen. Es sind dies Ludwig Wilhelm Rintel und Carl Joseph (nach der Konversion im Jahre 1810: Carl Wilhelm) Pinder249. Beide sind auch bei Lowenstein genannt, der feststellte, dass die jüdischen Ärzte bei den Übertritten überrepräsentiert seien.250 Die anderen verblieben entweder im Judentum, oder über sie konnten keine einschlägigen Quellen gefunden wer243 Diese Verbindung macht Gerhard (1999a), S. 12. 244 Siehe zu ihm Jacobson (1968), S. 36. Lewin (1921 ff.), hier 16 (1924), S. 59. Sein Vater Gumpel Warburg aus Halberstadt, auch genannt „der gelehrte Gumpel“, wurde in Berlin 1760 als Papierhändler konzessioniert und starb in Berlin 1779 (Jacobson 1968, S. 36). Eine Verbindung zur berühmten jüdischen Familie der Warburgs liess sich nicht rekonstruieren. S. Chernow (1993). 245 Bei der Promotion gibt er seine Herkunft mit „Berlin“ an. Vgl. Komorowski (1991), S. 74. 246 Komorowski (1991), S. 74. 247 Irrig sind allem Anschein nach die Angaben in DBA 1332, 356, er sei 1795 in Berlin promoviert und seit dem gleichen Jahr als praktischer Arzt in Berlin tätig. 248 Im Adress-Kalender wird er unter 1837 noch, 1842 nicht mehr aufgelistet. Allerdings spricht das „Gelehrte Berlin“ für das Jahr 1845 (erschienen 1846) noch nicht von seinem Ableben und zitiert eine Veröffentlichung von ihm aus dem Jahre 1838 (zitiert nach DBA 1332, 356). Bibliographisch allerdings als anonyme Schrift für 1836 nachgewiesen: „Der Magen, oder wie kann man um seine Gesundheit zu bewahren, den Genuss der Speisen und Getränck nach einem richtigen Maasstabe leiten?“ Berlin 1836. 249 Lowenstein (1994), S. 207. Er ist nicht im Adress-Kalender aufgelistet, wohl aber in Jacobson (1968), S. 485 verzeichnet. Demnach hat er 1806 geheiratet. Seine Dissertation oder andere Veröffentlichungen konnten nicht nachgewiesen werden. Auch in den üblichen Nachschlagewerken findet er sich nicht. 250 Lowenstein (1994), S. 36, 220.

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den. Angesichts der extremen Verbreitung reformerischen Gedankenguts unter den Ärzten scheint mir das auch für diesen Zeitraum nicht auf eine richtige „Epidemie“ hinzudeuten. Konversion zum Christentum war bekanntermassen ein mögliches Ergebnis des kulturellen Wandlungsprozesses im Judentum. Es war der stärkste Ausdruck einer (oft immer noch relativen) Distanzierung vom Judentum und mithin eines relativ weitgehenden Verlustes jüdischer Identität. Es erscheint mir bezeichnend, dass bei zwei von drei „Konvertiten“ des eigentlichen Samples kein weiteres Engagement in der Reform nachgewiesen werden kann und nur ein offenbar wenig aktiver „Reformer“ diesen Schritt ging.251 Dies legt den Rückschluss nahe, dass die aktive Auseinandersetzung mit der Reform des Judentums alles andere als eine Distanzierung von ihm oder einen schnellen Verlust von jüdischer Identität bedeutete. Steven Lowenstein hat in seiner Arbeit über den Reformprozess in der Berliner jüdischen Gemeinde die Frage gestellt, ob die Reformdebatte ursächlich für die „Taufepidemie“ unter den Berliner Juden des frühen 19. Jahrhunderts gewesen ist. Er hat in diesem Zusammenhang die nahe liegende Annahme quantitativ bestätigen können, dass es vor allem (wenngleich nicht ausschliesslich) Juden aus dem reformerischen Umfeld gewesen sind, die zum Christentum übertraten. Allerdings hat er nicht nach aktiven und passiven Anhängern des Reformprozesses unterschieden. Möglicherweise finden wir in dem Umstand, dass die aktiven Reformer seltener konvertierten, ein weiteres Argument gegen die Annahme, dass Reformen im Judentum letzten Endes auf einen Verlust jüdischen Selbstverständnisses hinausliefen. Die aktiven Reformer hatten nämlich eher bereits die positive Alternative eines modernen Verständnisses von Judentum, das den anderen, Lowenstein zufolge, fehlte.252 In einem letzten Absatz soll deshalb untersucht werden, wie sich das Verhältnis zum Judentum innerhalb des Samples der siebzehn Berliner jüdischen Ärzte von etwa der Mitte des 18. bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts wandelte.

251 Ein Gegenbeispiel findet sich allerdings ausserhalb des engeren Samples, nämlich Ludwig Rintel, der in der Reform sehr aktiv war und 1821 konvertierte, sich allerdings auch noch später mit dem Judentum auseinandersetzte. 1830 subskribierte er das Buch von Günzburg: Geist des Orients: Lewin (1917), S. 10, Nr. 690. Sein Sohn, der spätere Berliner Arzt, Sanitätsrat und Komponist Wilhelm Rintel (1818 – 1899), geboren demnach noch als Jude, war sicherlich fest im Christentum verhaftet, da er neben anderer Kirchenmusik eine Passions-Kantate unter dem Titel „Golgatha“ schrieb und dem Gymnasium zum „Grauen Kloster“ widmete (DBA 1040, 372 f.) 252 Lowenstein (1994), S. 189 – 195.

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Auf dem Weg zu einem modernen Verständnis von Judentum Parallel zu den sich wandelnden Aktivitäten der siebzehn Ärzte, sei es als „Gelehrte“ oder als „Reformer“, wandelte sich auch deren Sichtweise auf die jüdische Religion, das Judentum allgemein und damit auch ihr jüdisches Selbstverständnis, ihre jüdische Identität. Der grössere Teil des Samples dürfte noch in einem relativ strengen religiösen Milieu erzogen worden sein. Selbst einige der „Reformer“ finden sich unter diesen Ärzten.253 Die von Benjamin de Lemos, unserem „relativen Ausgangspunkt“, überlieferten Quellen erwecken den Eindruck, dass dieser noch verhältnismässig fest in seinem traditionellen jüdischen Glauben verankert war und noch ein weitgehend ungebrochenes Verhältnis zu diesem hatte. Konflikte und Auseinandersetzungen mit dem traditionellen Judentum sind von ihm nicht bekannt. Dies änderte sich aber bereits mit der Generation der Ärzte und Medizinstudenten der Berliner Früh-Haskala. Auch sie waren noch religiös gebildet und blieben in der Regel ihr Leben lang fromme Juden.254 Doch hatten sie das Interesse an den Wissenschaften entdeckt. Konflikte waren vorprogrammiert, denn die orthodoxen Juden Berlins sahen das Studium der Wissenschaften auch noch in späteren Jahrzehnten „als etwas der Religion und den guten Sitten Gefährliches“ an.255 Also war es ihr Ziel, die Wissenschaft als vereinbar und im Einklang mit dem jüdischen Glauben darzustellen.256 Nachdem etwa Aron Gumpertz wohl aus Gründen seiner persönlichen Sicherheit als Jude 1761 ganz nach Hamburg gezogen war,257 veröffentlichte er 1765 ein religionsphilosophisches Werk, nämlich einen Superkommentar zu Ibn Esras Kommentar zu den Megillot und in dessen Anhang eine Abhandlung über die Wissenschaften und ihre geschichtliche Entwicklung,258 in dem er seinen Glaubensgenossen das Studium wissenschaftlicher Disziplinen empfahl und es gegen Vorwürfe verteidigte. Das Ziel der Veröffentlichung bestand, im Geiste seines Lehrers Israel Samosz, darin, „der jüdischen Geistestätigkeit auch das weite Gebiet des allgemeinen Wissens [zu] erschließen“.259 David Ruderman hat dies vor einigen Jahren genauer analysiert und in den Kontext 253 Für Sabattia Joseph Wolff etwa Neuer Nekrolog der Deutschen 1834 für 1832, S. 128. 254 Zu Gumpertz etwa in dieser Hinsicht: Eschelbacher (1916), S. 172. 255 So Salomon Maimon bei seinem ersten Aufenthalt in Berlin, also noch etwa in den 1770er bzw. 1780er Jahren. Nach Wolff (2003), S. 32. 256 Schulte (2002b), Wolff (2003), S. 259 f. 257 Kaufmann/Freudenthal (1907), S. 190. Eine Abschrift des Testaments von Gumpertz von 1769 liegt im Archiv des Instituts für Geschichte der deutschen Juden, Hamburg (Sig. 04 – 010.7). Darin vermacht er 1000 Mark banco dem neuen Hekdesch der Gemeinde Altona. Im Vergleich zum restlichen Erbe ist dies allerdings kein erheblicher Betrag. 258 Encyclopaedia Judaica (1928 – 34), Bd. 7, Sp. 520. 259 Eschelbacher (1916), S. 176.

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der Arbeiten anderer jüdischer Ärzte gestellt.260 Gumpertz befasste sich speziell mit den damals aktuellen Experimenten über das Vakuum und das Gewicht der Luft. Da das Studium der Naturwissenschaften, so Gumpertz, in keiner Beziehung zu den göttlichen Wissenschaften stehe, sei es auch für den jüdischen Glauben nicht schädlich. Grundlage für diese Überzeugung von Gumpertz sei dessen Trennung zwischen Weltlichem und Metaphysischem. Aus diesem Grunde dürfe der Gläubige die Natur losgelöst vom Religiösen erforschen. Gumpertz sei bei weitem nicht der erste, der so argumentierte. Doch er ging nach eigenen Aussagen weiter : Die Beschäftigung mit weltlichen Dingen über Beobachtung und Experimente könne lediglich Erkenntnisse über diese weltlichen Dinge erbringen und keine Erkenntnisse über Metaphysisches. Gumpertz habe heftig dementiert, „that information about such an experiment could be perilous to one’s faith“.261 Diese strikte Trennung von religiösen und weltlichen Sphären wird in der vorliegenden Arbeit noch mehrfach Thema sein. Gumpertz diente auch Moses Mendelssohn auf diese Art „als Vorbild eines frommen Juden, der in der großen intellektuellen Welt engagiert war“.262 Wenn Gumpertz die Wissenschaft vor der Religion zu legitimieren versuchte, so zeigte er, wie sehr er, ähnlich einem Teil seiner „Gelehrten“-Kollegen, noch mit dieser verbunden war und sich dieser verpflichtet fühlte. Noch der „späte Gelehrte“ Bloch entsprach diesem „Harmonie“-Modell. Wenn er in zweiter Ehe 1774 die Tochter des vornehmen Gemeindeoberältesten263 und in dritter Ehe die Tochter des Armen-Vorstehers264 heiratete, wenn er Arzt von Moses Mendelssohn war und eine Funktion im Jüdischen Krankenhaus hatte, muss er trotz allen Wandlungen zum „Gelehrten“ fest in der jüdischen Gemeinde verankert gewesen sein. Anderen Quellen zufolge veröffentlichte Bloch auch ein hebräisches religiöses Buch265 und trug ein Vorwort zu einem weiteren hebräischen Buch bei.266 Bereits Hirschel ging mit seinem Spott über das religiöse Fasten eine Stufe weiter, indem er weltliche und religiöse Fragen nicht mehr miteinander zu harmonisieren versuchte, sondern in Ansätzen die Notwendigkeit einer anderen Religionspraxis andeutete. Damit zählte Hirschel sicherlich noch nicht zu den Juden, die „mit dem Eintritt in die weite Kulturwelt den Blick für ihr Judenthum darum verloren, weil sie es nur im Bild der engen Judengasse kannten“.267 Freudenthals Einschätzung stellt die klassische Interpretation 260 261 262 263 264 265 266

Ruderman (1995), S. 332 – 351. Ruderman (1995), S. 343 f., Zitat S. 344. Sorkin (1999), S 29. Jacobson (1968), S. 217. Lesser (1999), S. 244. Karrer (1980), S. 175. Es konnte mangels genauerer Angaben nicht nachgewiesen werden. Lesser (1999), S. 244. Der Titel ist „Anfang des Lernens“, Berlin 1788, in dem der Autor auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse darstellt. S.a. Leder (2007), S. 103. 267 Freudenthal (1906), S. 433.

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dar, die ein verändertes Verhältnis zum Judentum vor allem als Verlust wahrnimmt. Allein schon die subtile Emanzipationspropaganda macht klar, dass das Judentum und seine Lage für Hirschel ein wichtiges Thema waren. Allerdings repräsentiert auch er bereits ein gewandeltes Verständnis von Judentum. Obwohl Hirschel nicht konvertierte, ist bei ihm bereits ein enger Kontakt zu Repräsentanten des Christentums nachzuweisen, etwa zu dem freisinnigen, dogmenkritischen christlichen Prediger Johann August Eberhard, dem er eine seiner Schriften mit dem üblichen Pathos der Zeit widmete und der versuchte, ihm Patienten zu vermitteln.268 Die kritische Distanz zu einem traditionsgebundenen Judentum schlug in den späten 1780er und frühen 1790er Jahren in einen offenen Bruch um, nicht zuletzt natürlich auch vor dem Hintergrund der Ereignisse um die Französische Revolution. Im Vordergrund stand zunächst das Ziel, den herkömmlichen Umgang mit dem Jüdischen zu skandalisieren, und noch nicht so sehr die Neuformulierung des jüdischen Selbstverständnisses. Betrachtet man Marcus Herz aus der Perspektive des medizinischen Reformers, so steht seine antitalmudische Kritik an der jüdischen Orthodoxie, wenn man für diesen Zeitpunkt dies bereits so nennen kann, im absoluten Vordergrund. Dies wird im Kapitel über den Beerdigungsstreit (3.1) genauer dargestellt. Ähnliches dürfte auch für die damaligen ärztlichen Initiatoren der „Gesellschaft der Freunde“ gelten, zeigten diese doch auch ein besonderes Engagement im Kampf gegen die traditionelle frühe Beerdigung unter den Juden. Wenn Wolfram Kaiser und Irina Völker Herzens Kritik an der um 1800 eingeführten Pockenschutzimpfung auf dessen „jüdische Grundhaltung“ zurückführen, darin einen Eingriff in das göttliche Walten zu sehen,269 so kann dies nur eine Fehlannahme sein. Derart traditionalistische Gedankengänge widersprechen der aufgeklärten Denkweise von Herz diametral.270 Eine frühe posthume Biographie der jüdischen Zeitschrift „Sulamith” bezeichnet Herz denn auch nicht als frommen Menschen, sondern als „achtungerzwingenden Repräsentant einer niedergedrückten Nation und Gemeinde“.271 John Efron beschreibt Herz noch stärker in diese Richtung: „Herz became a worldly, cultivated man, increasingly detached from his observant Jewish roots […]. Yet Herz’s abandonment of ritual was accompanied by neither a departure from the Jewish community nor a neglect of pressing issues of Jewish concern. […]. In fact, Herz was the quintessential modern, secular Jew : he remained within the fold and expressed communal solidarity and activism, yet ritual for him now more often than not entailed the performance of laboratory experiments rather than time-honored Jewish customs. The source of his authority within Jewish society was also new. It derived from an intricate combination of 268 269 270 271

Freudenthal (1906), S. 424 f. Kaiser/Völker (1979), S. 36. Eine ausführliche Begründung der Impfkritik von Herz findet sich in Münch/Lammel (1997). Biographie des Herrn Marcus Herz (1811), S. 78.

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social standing, wealth, Jewish literacy, and his status as respected physician.”272 Ganz so säkular muss Herz aber dennoch nicht gewesen sein, obwohl wenig über seine persönlichen religiösen Bindungen bekannt ist. Immerhin, auf dem Höhepunkt einer lebensbedrohlichen Krankheit Anfang der 1780er Jahre wurde er in Erwartung seines Todes „mit allen Sterbe-Ceremonien seiner Glaubensgenossen“ versehen.273 Das Jüdische Krankenhaus führte er anscheinend streng nach jüdischen Gesetzen.274 Der Gedanke an eine Konversion muss ihm fremd gewesen sein, nahm er doch die offensichtlichen beruflichen Nachteile dieser Entscheidung in Kauf. Während seine bedeutend jüngere Frau sich eher schon als Deutsche verstand und nach dem Tod ihrer Mutter zum Christentum konvertierte, sah sich Herz zumindest als Mittler zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Gesellschaft.275 Bezeichnend hierfür ist das Zitat von Wolf Davidson: „Die physikalischen Versuche, die er […] anstellte, waren vielen neu und auffallend, und gaben ihnen Anlass, über die Naturerscheinungen nachzudenken; ich kenne manchen orthodoxen Juden, der, als er aus Herz Physik kam, die Lehre von den Wundern zu bezweifeln anfing“.276 Wichtiger noch als das „quantitative“ Verhältnis zwischen Religiosität und Säkularität ist jedoch, dass Herz als erster der Berliner jüdischen Ärzte eine sehr deutliche aufgeklärte Vorstellung von Religion vertrat: In der Beerdigungsdebatte wurde die jüdische Religion sozusagen „entthront“ und der Vernunft unterworfen. Religiöse Praktiken waren für Herz allein durch ihre fromme Tradition nicht mehr ausreichend legitimiert. Erst musste die Vernunft ihnen sozusagen die Unbedenklichkeit bescheinigt haben. Und so sah er die grösste Gefahr von Religion auch darin, der Vernunft entgegenzuarbeiten. „So sehr manche geoffenbarte [Religion, E.W.] an sich der Vernunft Gewalt anthut, und subjektivisch durch Verletzung der sittlichen Verhältnisregel das Haltungsgefühl verstümmelt; so sind sie doch alle der erheblichen Eigenschaft des Geschmacks, der Einbildungskraft, beförderlich, und zwar in umgekehrten Verhältnisse ihrer Verträglichkeit mit der Vernunft“.277 In einer eindimensionalen Sichtweise bedeutet die fortschreitende Kritik an der jüdischen Religion eine zunehmende Distanzierung von ihr, die im Extremfall den Austritt, die Konversion zur Folge hat. Dass ein kleiner Teil der weniger reformerisch aktiven Ärzte diesen Weg ging, wurde bereits dargestellt. Aber auch ohne den formellen Austritt konnte es zu einer relativen Aufgabe des jüdischen Selbstverständnisses kommen, und dies nicht nur im Sinne vom Judentum als Religion, sondern auch im Sinne von Judentum als 272 273 274 275 276

Efron (2001), S. 94. Biographie des Herrn Marcus Herz (1811), S. 86. Ibing (1984), S. 16. Davies (1995), S. 151. Zitiert nach Davies (1995), S. 294. Zur Mittlerfunktion des jüdischen Krankenhauses, das er leitete, siehe Davies (1995), S. 90 – 92. 277 Herz (1790), S. 158, zitiert nach Davies (1995), S. 292.

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Nation oder, in modernerer Begrifflichkeit im Sinne von Kultur oder Ethnizität. Wie weit dieser Verlust jüdischer Identität ging und welche Grenzen er hatte, dafür sind die Reformveröffentlichungen von Wolf Davidson und Sabattia Joseph Wolff von 1792 und später überaus erhellend. Wolf Davidson etwa machte keinen Hehl daraus, dass er von der jüdischen Religion, genauso aber auch von den anderen Religionen, insgesamt wenig hielt.278 Dies musste aber noch nicht bedeuten, dass er seinem Judesein generell den Rücken kehrte. Eine Selbstaufgabe jüdischer Identität war vor allem in der Reformdebatte angelegt. Appelle für eine „bürgerliche Verbesserung“ der Juden von christlicher Seite beinhalteten zum Teil diese extreme Forderung nach einer kulturellen Selbstaufgabe. Dies kam in Formulierungen wie dem Ruf nach der „sittlichen Ausrottung“ der Juden oder nach der Aufgabe des „jüdischen Charakters“ der Juden als Bedingung für die Emanzipation zum Ausdruck. Im Kapitel 2.2 über den Göttinger Streit zwischen Joseph Jacob Gumprecht und Benjamin Osiander wird dies genauer ausgeführt. Nun sind es gerade die beiden Veröffentlichungen von Davidson und Wolff, die Ansätze solcher Gedankengänge enthalten. Bereits die speziellen Reformschriften gegen die frühe Beerdigung, insbesondere die von Marcus Herz, waren Pamphlete nach innen, gespickt mit Tiraden gegen das traditionelle, talmudisch orientierte Judentum. Ähnlich verhielt es sich mit den allgemeineren Schriften. Ein plastisches Beispiel gibt Wolf Davidsons „Ein Wörtchen über die Juden“ von 1792. Er beschreibt das unaufgeklärte Judentum mit den Worten: „Seit achtzehn Jahrhunderten kleben sie hartnäckig an ihrem von müßigen Rabbinern, Schwärmern und Tollhäuslern verfälschten und verdorbenen Glauben, wagen es nicht, die Fesseln zu zerbrechen, die Religionstyrannen ihnen geschmiedet haben, glauben noch immer, dass in einem Journal von Rechtshändeln, Sentenzen, Fabeln, Sophistereien, Spitzfindigkeiten und Hirngespinsten die Quintessenz aller Weisheit enthalten sey […].“279 Über neuerliche jüdische Stimmen gegen die Reform schreibt er : „Aber nun droht uns ein neues Ungewitter, eine schwarze Wolke verjährter Meinungen und Vorurtheile zieht am Horizont herauf und droht unserem schönen Gebäude mit Einsturz: Männer mit verbranntem Gehirn von falschem Religionseifer beseelt, durch Rabbinertücke gehetzt […] Männer, über deren Scheitel der Wuchergeist schwebt, und die aus Geiz und Neid nicht wenige Thaler um das ewige Wohl ihrer Nachkommen wagen wollen; diese wollen sich mit aller möglichen Gewalt der neuen Reform widersetzen, und sollte unsere Hoffnung getäuscht werden, sollte dieser unwissende Haufe über die Vernunft siegen, sollte meine obige Bemerkung, dass der Jude noch immer Jude sey, wahr seyn, sollte noch hier in Berlin, in dieser 278 Davidson (1792), S. 12 f. notiert etwa positiv, dass Reichtum ein weniger religiöses Judentum hervorbringen werde. 279 Davidson (1792), S. 4.

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großen Pflanzschule der vernünftigen und weisen Aufklärung so viel Unkraut wachsen und gedeihn, und nicht vielmehr ausgerottet werden, sollte es ungeahndet bleiben, dass man die Gnade des Monarchen missbraucht? Nein! Gewiss nicht!“280 Traditionelle Juden sind für ihn ein „Unkraut“ mit „verbranntem Gehirn“, das „ausgerottet“ werden müsse, weil es durch „falschen Religionseifer“ und „Rabbinertücke“ voller Vorurteile, „Wuchergeist“, „Geiz“ und „Neid“ sei. Wirklich bemerkenswert ist allerdings, dass er mit der zentralen Befürchtung, „dass der Jude noch immer Jude sey“, alle diese „schlechten“ Eigenschaften mit dem „Judesein“ gleichsetzt. Wichtig ist hier neben der Übernahme antijüdischer Stereotype, dass es Davidson mit diesem Gedanken letzten Endes darum geht, die Juden sollten ihr eigenes „Judesein“ überwinden. Ähnliches finden wir im gleichen Jahr auch bei Wolff: Dieser schreibt, dass die Juden erst ihre überlebten religiösen Praktiken ablegen müssten, bevor sie die für die Emanzipation notwendigen, staatsbürgerlich nützlichen Berufe ausüben könnten. In diesem Zusammenhang klagt er über das „lästige Ceremoniel unserer Religion“, „Vorurtheil“ und „Aberglauben“, „unnötige Gesetze, die talmudischen Ursprungs sind“, „abgeschmackte äußerliche Gebräuche“, „unnutze Ceremonien“.281 Später fragt er dann: „Kann der Jude, als Jude, Professionist werden, Soldat seyn? Wird er als Jude dem Staate dadurch nützlicher? Wird er sich dadurch glücklicher sehen? Ich glaube, als Jude nie! Er wird vielmehr eben dadurch dem Staate schädlicher, muss sich selbst unglücklicher fühlen, als er sich bisher fühlte.“282 Auch Wolff ist also der Meinung dass der traditionelle Jude „der Jude“ sei und die Juden „den Juden“ in sich erst überwinden müssten, um dem Staate nützlich und damit emanzipierbar zu sein. Der Jude „als Jude“ sei es eben nicht. Wolff fordert mit diesen Sätzen wie einige seiner Kollegen eine absolute kulturelle Selbstaufgabe. Wenn man weiter liest, differenziert sich seine Argumentation allerdings noch aus. Mit „dem Juden“, den die Juden hinter sich lassen sollten, meint er nicht alle Juden, sondern den „Juden im strengsten Sinne“, identisch mit dem „grössern Haufen“ der Juden.283 Immerhin gibt es also noch Juden im nicht so strengen Sinne, die er nicht benennt, die aber demnach auch noch in gewissem Sinne Juden sind, wenn auch nicht mehr so stark. Doch so real diese Forderung nach einer jüdischen Selbstaufgabe ist, so sehr setzen sich die Autoren auch mit einem Ziel der Reform auseinander, das eben gerade keine Selbstaufgabe beinhaltet, sondern ein gewandeltes Verständnis des Jüdischseins. Wolff will das Judentum trotz der anderen Bemerkungen sicherlich nicht einfach hinter sich lassen. So stellt er die hypo280 281 282 283

Davidson (1792), S. 19 f. Davidson (1792), S. 6 – 8. Davidson (1792), S. 11. Davidson (1792), S. 21.

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thetische, für ihn aber grundsätzlich bedeutsame Frage: Wenn ein jüdischer Junge zu einem christlichen Meister geschickt wird und dort auf dessen Drängen Schweinefleisch isst: „Bleibt er dann noch Jude?“284 Eine Antwort gibt er an dieser Stelle nicht, dafür aber implizit in seiner gesamten Argumentation. Ja, er kann es bleiben, wenn er mit allen „lästigen Ceremonien“ aufräumt. Es bestehe dann aber die Gefahr, dass jeder „seine Religion willkührlich nach seinem Vortheil“ forme. „Eine solche Reform, oder Aufklärung dieser Art, wird denn also gewiss ein jeder, der es mit dem Wohl der Nation aufrichtig meint, mehr fürchten als wünschen. […] Was ist bei einer so schönen Reformation unausbleiblicher, als dass endlich das Wesentliche der Religion selbst von dem Unwesentlichen nicht mehr unterschieden, sondern mit diesem aufgegeben wird?“ Wer so handelt, „wird seinen Vortheil endlich allein zum Maasstabe seiner Handlungen machen. Und ich erblicke schon das Thier, das fürchterliche Ungeheuer in der Ferne. Ich fürchte seine Klauen! Kerker, Eisen und Henker mögen es von mir entfernen.“285 In nüchterneren, heutigen Worten heisst dies: Wolff will doch keine Aufgabe des Jüdischen, sondern ein neues Verständnis von dem, was die jüdische Religion ausmache. Und dies sind die Kriterien einer aufgeklärten Vernunftreligion, wie er sie am Anfang seiner „Freymüthigen Gedanken“ skizziert. Es geht um „das Wesentliche der Religion“: „Wer die Religion, ohne ihr im Wesentlichen Gewalt anzutun, so zu bilden weiß, dass ihre Gesetze und Gebräuche die Glückseligkeit der Menschen befördern, anstatt sie zu stören, sie zu guten und brauchbaren Bürgern zu machen, nicht aber ihre Fähigkeit rauben, solche Bürger zu werden, der hat den grössesten Segen des Himmels zu hoffen.“ Man solle etwa „in den Synagogen den Vortrag einer vernünftigen Moral an die Stelle jener unnützen Ceremonien setzen, welche jetzt allein den Gottesdienst ausmachen.“286 Die der Schrift angefügten „Zusätze eines Christen“ heben am Ende sogar noch explizit auf die kulturelle Eigenständigkeit der Juden ab: Der Autor kritisiert die schlechte Erziehung der jungen Juden durch Christen. Dadurch würden sie „immer mehr zu einem elenden Mitteldinge zwischen Juden und Christen“. Er fordert stattdessen eine jüdisch-aufgeklärte Erziehung, die sozusagen eine jüdisch-aufgeklärte Nation schaffen würde.287 Auch bei Davidson geht es in der Gesamtheit des Textes in keiner Weise um eine Aufgabe des Judentums. Im Gegenteil: Während Wolff die Utopie einer aufgeklärten israelitischen Religion, besser : Konfession skizziert, malt Davidson das Bild eines kommenden säkularen Judentums. Juden waren für ihn in alten Zeiten „wohlgebildet, stark, muthig, tapfer und streitbar, selbst die Römer gaben ihnen das Zeugnis guter Krieger ; auch waren ihnen Wissen284 285 286 287

Davidson (1792), S. 13. Davidson (1792), S. 32 – 34. Davidson (1792), S. 8. Davidson (1792), S. 35 – 56, hier S. 55 f.

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schaften und Künste nicht ganz fremd“.288 Nicht zuletzt aufgrund von Verfolgung und Zerstreuung in der Diaspora hätten die Juden seitdem einen Niedergang durchgemacht und seien „ausgeartet“.289 Dies sei jetzt aber vorbei: „Der Geist der jüdischen Nation, der lange in tiefem Todesschlaf lag, erwacht allmählig.“290 Davidson listet mit sichtlichem Stolz alles auf, was Juden an Aufklärung und moderner Kultur ihrer Zeit vorweisen konnten, von Mendelssohn über Herz und Bloch, Euchel und David Friedländer, über jüdische Maler, Komponisten, Bildhauer, Schauspieler bis zur Zeitschrift „Der Sammler“ und die über Seiten dargestellte moderne jüdische Erziehung durch die Berliner Freischule.291 „[…] Und schon sehn wir Jünglinge jüdischer Nation [Hervorhebung im Original, E.W.], die wissenschaftliche Kenntnisse besitzen, und in allen Fächern der Literatur bewandert sind. Auch die Mädchen bekommen eine bessere Erziehung […]“. Schliesslich hält er fest, „dass einige Weiber und Mädchen unter uns den Christen den Rang ablaufen […]“292. Das Negativbild des Juden „als Juden“ ist für Davidson also nur für die Zeit des Niedergangs gültig: Er lobt den jetzigen „Geist der jüdischen Nation“, nicht den Geist assimilierter293 ehemaliger Juden, und zählt seine Beispiele mehrfach mit der identifikatorischen Wendung „wir haben“ auf. Seine Darstellung der ,guten neuen Zeit‘ liest sich wie ein Idealtyp positiver Identifikation des angehenden Medizinstudenten mit den kommenden Zeiten: „Aber, gütiger Monarch! Schenk uns auch Bürgerrechte, durch mich spricht die Stimme der wohlgesinnten aufgeklärten Jünglinge.“294 Mit ähnlichem Stolz, nur noch viel umfangreicher zählt Davidson auch 1798 die Erfolge von Juden als Juden in Wissenschaft und Künsten auf.295 Mit grossem Selbstbewusstsein als Jude bittet er den Regenten um die Emanzipation: „Frevler bitten um Gnade, wir bitten um Gerechtigkeit“.296 Über die „Wir“-Form identifiziert er sich auch explizit mit seinen so bezeichneten „Mitbrüdern“297. Wiederum nur an einer einzigen Stelle verwendet er die Formulierung „der Jude“ synonym mit traditionellen Juden, die er dem

288 289 290 291 292 293

294 295 296 297

Davidson (1792), S. 5. Davidson (1792), S. 7. Davidson (1792), S. 10. Davidson (1792), S. 14 f. Davidson (1792), S. 18. Immerhin interpretiert er den Kulturwandel als „Nachahmung“ des christlichen Vorbilds, aber eben ohne jüdische Selbstaufgabe: „Da kein Thier so gerne nachahmt als der vernünftige Affe, der Mensch, so ahmten die Juden durch Umgang mit den Christen ihnen bald nach, und so entstand Liebe zu den Wissenschaften und Künsten (…).“ Davidson (1792), S. 13. Davidson (1792), S. 21. Davidson (1798a), S. 89 – 116. Davidson (1798a), S. 6. Davidson (1798a), S. 41.

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„Bürger“ gegenüber stellt.298 In der Regel ist dies für ihn kein Gegensatz. Es sei zwar notwendig, die jüdische „Nation“ erst „zu guten und fleißigen Bürgern“ zu erziehen.299 Dabei müssten sie ihr Judesein aber nicht aufgeben, denn Davidson will, dass „Christen und Juden als Bürger eines Staates“ auftreten.300 Davidson spricht zwar von der „völligen Vereinigung“ von Juden und Christen, aber nicht von ihrer „Verschmelzung“. Im Gegenteil: Juden und Christen müssten heiraten können, „ohne die Religion zu verändern“. Sie sollten also ausdrücklich Juden bleiben.301 Ihr Anderssein bezieht sich aber im Wesentlichen auf ihre andere Religion. In ihren staatsbürgerlichen und aufgeklärten Tugenden unterscheiden sie sich nicht mehr. Auch in seinen medizinischen Schriften versucht Davidson deutlich den Eindruck zu vermitteln, ein selbstverständlicher Teil der bürgerlich-akademischen Berliner Gesellschaft zu sein. Nicht nur, dass diese Veröffentlichungen von Stil und Inhalt her ganz denen der Medizin der Zeit entsprechen. Neben seinen selbständig erschienenen Schriften publiziert er in der aufklärerischen „Berlinischen Monatsschrift“302, nennt den Leibmedikus Ludwig Formey „mein Gönner und Freund“303 und titelt eine Kritik an gängigen bürgerlichen Kleidermoden die „Kleidertracht unserer Damen“.304 Dennoch besitzen die Juden für ihn Eigenheiten, die sie in die aufgeklärte Gesellschaft einbringen können. Genau diesen Gedankengang veröffentlicht Davidson im gleichen Jahr 1798 an anderem Ort, nämlich anonym in „Briefen über Berlin“305 an einen wahrscheinlich fiktiven Freund und Medizinstudenten. Er schlüpft dabei in die Rolle eines welterfahrenen Besuchers von ausserhalb und nennt sich selbst einen „Fremden“, der Berlin und die Berliner Gesellschaft kritisch-wohlwollend beschreibt, vom Hof über das Theater bis zu den aufgeklärten Gesellschaften und medizinischen Ausbildungsstätten. Seine Identität als Jude gibt er den Lesern nicht preis. Dennoch dürfte die Schrift einer der Schlüssel zu Davidsons gesellschaftlichem Selbstverständnis und seinen Utopien sein. Davidson inszeniert sich hier als aufgeklärter Bürger. Seine Ideale sind die Moralvorstellungen der Aufklärung: Menschenfreundlichkeit, „Bildung“, Selbstkontrolle, Mässigkeit und eine gute „Polizey“ sowie der Verzicht auf Prunk, Luxus und französische „Etiquette“.306 Seine grosse gesellschaftliche Utopie macht er an eine positiven Beispiel fest, einem gebildeten Verein bzw. einer aufklärerischen Gesellschaft, nämlich der „Res298 „Der Bürger wird alsdann nach den Waffen greifen, wenn es auch der Jude verbietet“. Davidson (1798a), S. 27. 299 Davidson (1798a), S. 57. 300 Davidson (1798a), S. 119. 301 Davidson (1798a), S. 114 f. S.a. Meyer (1967), S. 74. 302 Davidson (1798c). 303 Davidson (1801), S. 93. 304 Davidson (1798d), S. 41 – 43. 305 Davidson (1798b). Weitere Ausgaben sind nicht bekannt. 306 Davidson (1798b), S. 1, 4 f., 7 f., 13 f..

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source“ des Herrn Professor Fessler, in der auch viele Juden wie Marcus Herz, David Friedländer und „Herr Euchel“ verkehrten: „Von einer Gesellschaft solcher Männer lässt sich viel Gutes erwarten. Da sie Menschen von verschiedener Religion, verschiedenem Stande, verschiedenen Talenten und verschiedenen Gesinnungen sind, so entsteht ein wechselseitiger Tausch der Ideen, wodurch eine lehrreich angenehme Unterhaltung, und ein von aller Groben Sinnlichkeit entferntes Vergnügen erzeugt wird.“307 Der jüdische Beitrag ist ein Teil des vielfältigen Ganzen, der für den „Tausch der Ideen“ auf einer untergeordneten Ebene notwendig ist. Davidson starb drei Jahre nach dem Erscheinen dieser Ausführungen. Nochmals zwei Jahre später griff sein Kollege Sabattia Joseph Wolff die jüdische Thematik wieder auf, indem er sich gegen die antijüdischen Äusserungen Grattenauers zur Wehr setzte.308 Die Notwendigkeit einer „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden ist für ihn nun genauso wenig ein Thema wie der Gedanke, dass die Juden „den Juden“ in sich überwinden müssten. Im Gegenteil: wie Davidson verteidigt Wolff die Juden mit grossem Selbstbewusstsein. Wolff geht als Verfasser des „Sendschreibens“ auf einen Satz Grattenauers ein, in dem dieser sich über die „minderjährigen Judenjungens“ ereifert, „welche zum Beweise ihrer Kultur im Thiergarten auf Stelzen gehen, am Schabbas öffentlich Speck fressen, auf den Promenaden Kiesewetters Logik laut auswendig lernen, und die Arien aus dem ,Herodes vor Bethlehem‘ absingen.“309 Doch das sei, so Wolff, nicht eigentlich das jüdische Feindbild Grattenauers: „Der Jude hingegen, welcher unserm Verfasser die Zunge gelöset hat, ist ein ganz anderer! Das ist der gebildete, aufgeklärte, mit dem Zeitalter fortgeschrittene Jude, der an der Bahre seines christlichen Freundes eine herzliche Thräne weinen kann, der wohl an jedem unserer Freudenmale, wie wir täglich sehen, wenn wir nicht mit Gewalt blind sein wollen, Theil nimmt; der gebildete Jude, der jedem gebildeten, rechtschaffenen Christen, lieb und werth ist, mit dem er sich freundschaftlicher und brüderlicher, als mit manchem Christen, umarmt; der gebildete Jude, der in allem Betracht es gar sehr auf sich nimmt, sich mit unserm Verfasser zu messen, und gegen den er gar sehr zurück stehn dürfte; der dahingehende, in dem neuesten Geschmacke gekleidete Jude, der ihm vorüberreitende, oder in einer Carosse fahrende Jude; der ist es, welcher dem guten Manne ein Dorn im Auge ist; gegen den lässt er eigentlich die Sprache seines Herzens hören; der ist es, der ihm Ekel, Abscheu und Widerwillen erregt. Merken Sie nun bald, lieber Freund! Dass die auf Stelzen gehenden, jüdischen Jünglinge, nicht wie Sie glauben, so weit hergeholt sind? Denn dem, der die ganze Nation, so wie kleine Insekten zu seinen 307 Davidson (1798b), S. 18 f. siehe hierzu auch Panwitz (2005), S. 30. Davidson selber gehörte zusammen mit David Oppenheimer einer ähnlichen Runde, der „Humanitätsgesellschaft“, an. S. ebd. 308 Wolff (1803). 309 Wolff (1803), S. 41.

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Füssen auf dem Boden herumkriechen sehen möchte, dem sollte der Anblick der jüdischen Jünglinge auf Stelzen, nicht ein Dorn gewesen seyn? Verachtung und Fluch dem Menschen, der es nicht sehen kann, dass sein Mitbruder aus einem lästigen, verachteten Geschöpfe ein nützlicher Staatsbürger werde. So ruft der Verfasser der freymüthigen Gedanken, über die vorgeschlagene Verbesserung der Juden in den preußischen Staaten 1792.“310 Sein Argumentationsgang ist allerdings nicht nur in Hinsicht auf das grosse Selbstbewusstsein als Juden erhellend. Wolff skizziert hier nebenbei auch, wie er sich den modernen, zeitgemässen Juden vorstellt, nämlich als gebildeten, aufgeklärten, toleranten und empfindsamen Bürger jüdischen Glaubens. Juden sind damit eine Gruppe, die sich nicht mehr durch allgemeine Charaktereigenschaften von der restlichen Bevölkerung unterscheidet. Und sie sind dennoch Juden. Zu sein wie die sie umgebende christlich-bürgerliche Mehrheit, ist nicht einfach Assimilation. Es ist (auch) ein Teil ihrer Identität als Juden. Lediglich durch ihre Konfession unterschieden sich die jüdischen Bürger von den christlichen. Dieser Unterschied ist aber bedeutend und ein weiterer Beweis, dass es bei diesem neuen Verständnis von Judentum keinesfalls um den Ersatz jüdischer Identität durch eine allgemeine bürgerliche geht. In einem weiteren, medizinischen Werk311 mahnt Wolff die Wichtigkeit des Glaubens an: ein guter Krankenwärter solle „religiös ohne Aberglauben, und tolerant dabei“ sein.312 Zudem spricht er sich mit aller Entschiedenheit gegen Konversionen aus: „Auch sind die Zeiten vorbei, wo man durch den Übergang von einer Religion zur andern sich in Ruf, oder vielmehr ins Gespräch bringen konnte. Man weiß jetzt nur allzu gut, dass der Jude durch die bloße Taufe nicht nur nicht mehrere Kenntnisse erhält, und untauglich zu hohen Ämtern bleibt, wenn er es vor der Taufe war, sondern man weiß auch, dass er durch die Taufe kein besserer moralischer Mensch wird, als er es etwa vorher war ; niemand nimmt mehr Notiz davon, man lässt den Überläufer laufen.“313 Wolffs Biographie seines früheren Freundes, des eigenwilligen jüdischen Philosophen Salomon Maimon von 1813,314 steht nicht genau in dieser Linie. Maimon hatte sich vom jüdischen Glauben und der jüdischen Gemeinde in weiten Teilen entfernt. Wolff löst sich mit dem Werk aus der Tradition jüdischer Biographik, vorbildliche Lebensgeschichten nachzuzeichnen, indem er „sehr freimütig Maimon als versoffenes Genie charakterisiert“, ohne sich von ihm zu distanzieren.315 Wie weit die Biographie als Beitrag zur „bürgerlichen 310 Wolff (1803), S. 16 f. 311 Wolff (1811). Der Titel „Die Kunst, krank zu sein“ ist an Hufelands bekanntestes Werk „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“ (1796) angelehnt. Wolff widmet sein Werk auch Hufeland. 312 Wolff (1811), S. 245. 313 Wolff (1811), S. 123. 314 Wolff (2003). 315 Schulte (2002b), S. 260, Zitat S. 267.

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Verbesserung“ der Juden und ihre Modernisierung gesehen werden kann, ist zumindest nicht eindeutig.316 Noch einmal greift Wolff 1819 das Thema auf, allerdings unter geänderten Vorzeichen. Seine Antwort „Wieder Juden. Sendschreiben an Herrn Julius v. Voß. Veranlasst durch die von ihm mir gewidmete Schrift ,Die Hep-Heps. Zur Vertheidigung der Christen‘“317 steht unter dem Zeichen eines neuen Antijudaismus, der sich gegen alle Juden richtet. So gibt es auch wenig Anlass, ein modernes gegen ein traditionelles Judentum abzusetzen. Wolff verteidigt nun alle seine „Glaubensbrüder“ gegen die antijüdischen Angriffe.318 Sie können in diesem Sinne eine nach innen homogenisierende Wirkung gehabt haben. Von der Mitte des 18. bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts haben die Berliner jüdischen Ärzte damit einen weiten Weg zurückgelegt, was die Wandlung ihres Verständnisses von Judentum betraf. Er begann mit dem Versuch, das traditionelle Judentum mit der Moderne zu harmonisieren, aber nicht anzugreifen, schritt weiter über vorsichtige Kritik bis hin zu deutlichen und manchmal extremen Distanzierungen vom traditionellen, talmudischen Judentum. Es waren eher die reformerisch weniger aktiven jüdischen Ärzte, für die dieser Prozess in einem Abschied vom Judentum in Form der Konversion endete. Reformer benützten vereinzelt Formulierungen, dass mit der Reform des Judentums auch „der Jude“ überwunden und durch den „Bürger“ ersetzt werden sollte, doch sind diese Äusserungen überlagert von gegenteiligen Ausführungen, nach denen der reformierte, modernisierte, emanzipierte Jude nicht nur Staatsbürger werden, sondern gleichzeitig Jude bleiben solle. Die Autoren formulierten ein deutliches Selbstbewusstsein als Juden und feierten die Fortschritte des „jüdischen Geistes“. Das neue Verständnis des Judentums orientierte sich im Wesentlichen an den Idealen der Aufklärung. Als konfessionelles Verständnis stellte es die „Vernunft“ über die „Tradition“ im Sinne einer moralisch und sittlich bestimmten Vernunftreligion. Im Wesentlichen zeichnen die Autoren das Bild des Bürgers jüdischer Konfession, der sich äusserlich nur noch in dieser von den anderen Bürgern unterscheidet. Aber dennoch sollen die Juden auch in kultureller Hinsicht nicht als identifizierbare Gruppe verschwinden. Was jenseits der Konfession wirksam bleiben soll, ist ihr Selbstverständnis als Gruppe, mit dem sie sich selbstbewusst verteidigen. Wenn sie gebildete, aufgeklärte, tolerante und empfindsame Bürger sind, dann ist dies nicht einfach eine selbstverleugnende 316 Davies (2003), S. 140. Davies zufolge präsentierte Wolff in Maimon die „verkörperte Aufklärung“, eine beispielhafte Person „für die eigenartige psychische Befindlichkeit einer modernen, von der Tradition losgelösten jüdischen Existenz“. Maimon „dient als Figur, die es ihm ermöglicht, seine eigene Weltauffassung darzustellen“ (S. 148). Davies stellt Wolff hier als einen von der jüdischen Konfession weitgehend distanzierten Menschen dar, was durch dessen zitierte Äusserungen zur Notwendigkeit der Religiosität, seinem Plädoyer für „das Wesentliche“ der Religion nicht gedeckt wird. 317 Wolff (1819). 318 Vgl. auch Davies (2003), S. 144.

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Assimilation, es ist auch Teil ihrer jüdischen Identität, die sie in die bürgerliche Gesellschaft einbringen. Der um 1800 nach Paris ausgewanderte Berliner jüdische Arzt Michael Friedländer illustrierte diese moderne jüdische Identität in einer sehr persönlichen und eindrucksvollen Formulierung. Friedländer war fast ein Paradebeispiel für einen modernen Juden dieser Zeit: Bereits in die Aufklärung geboren und in ihr erzogen sowie von Beruf Akademiker und Wissenschaftler mit breiten Kontakten in die christliche Kultur und Wissenschaft. Dennoch blieb er Jude. Was ihm dieses Judesein bedeutete, hielt er im Jahre 1824 in Anweisungen für seinen Tod fest. Sein Onkel David veröffentlichte sie im Nachruf auf ihn. Michael Friedländer wollte unter anderem mit der jüdischen Gebetsdecke beigesetzt werden. Sie sollte für seine Glaubensgenossen ein Symbol des Judentums sein, in das die Vorsehung ihn hatte geboren werden lassen und die ihm genauso vorteilhaft wie jede andere für die Perfektionierung der Sitten und der Freiheit des Denkens erschien.319 Steven Lowenstein hat in seiner grundlegenden Studie über die Berliner jüdische Gemeinde herausgearbeitet, wie diese zwischen 1770 und 1830 in eine „Krise“ geriet. Die Debatte um Reformen war gefolgt von der so genannten „Taufepidemie“, die allerdings nur jeden zwölften Berliner Juden oder jede vierte Berliner jüdische Familie betraf.320 Lowenstein fragt nun, ob es die Reformbewegungen gewesen seien, die zu dieser breiteren Abkehr vom Judentum führten.321 Er kommt zu dem Ergebnis, dass man genauso auch der alternativen Erklärung anhängen könne, dass damals einfach noch die Alternative eines deutlich herausgearbeiteten und institutionalisierten modernen Judentums gefehlt habe. Dieses sei erst ab den 1830er Jahren etwa mit Reformrabbinern und Reformgottesdiensten entstanden. Die theoretischen Modelle, welche die frühen Führer der Reform entworfen hatten, seien damals nicht wirklich existent gewesen. An dieser Stelle kann die vorliegende Untersuchung anschliessen. Sie hat anhand der Ideen und Aktivitäten der Berliner jüdischen Ärzte gezeigt, dass ein solches Reformmodell bzw. ein modernes Verständnis von Judentum nicht nur theoretisch existierte, wie Lowenstein sagt, sondern bereits praktisch gelebt und offen verfochten wurde. Häufig waren es aber auch hier noch eher Wunschvorstellungen. Andererseits war die quantitaive Bedeutung dieses Reformmodells begrenzt, stellten diese Ärzte doch lediglich eine kleine Elitegruppe innerhalb der Berliner Judenschaft dar. In diesem Sinne leuchtet Lowensteins Argument ein, dass die Reform noch keine Breitenwirkung erzielen konnte. 319 „(…) pour servir a mes co religionnaires comme symbole de la religion dans quelle la providence m’a fait na„tre, et qui m’a paru etre aussi favorable, que toute autre au perfectionnement moral et des plus favorable — la libert¦ de la pens¦e“. Vgl. Friedländer (1826), S. 755. 320 Lowenstein (1994), S. 188. 321 Lowenstein (1994), S. 189 – 195.

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Umso mehr kann man mit Hilfe von Lowenstein aber die Bedeutung der Berliner jüdischen Ärzte in diesem Prozess hervorheben: diejenige als Vordenker eines modernen Judentums.

2.2 Die Assimilationserwartungen der christlichen Umwelt: Der Streit Gumprecht–Osiander in Göttingen um 1800322 Der am Beispiel der Berliner jüdischen Ärzte herausgearbeitete überaus starke Wunsch nach einer Annäherung an die bürgerliche Kultur der christlichen Bevölkerungsmehrheit ist nicht allein auf interne jüdische Erneuerungs-Bestrebungen zurückzuführen, sondern auch auf die Forderung dieses Kulturwandels als Bedingung einer rechtlichen Gleichstellung. Die Frage der Assimilationserwartungen an die jüdischen Ärzte von Seiten der christlichen Mehrheitsgesellschaft kann anhand eines sehr speziellen, aber auch besonders aussagekräftigen Falles aufgezeigt werden. Bereits die Debatte um die „bürgerliche Verbesserung der Juden“ macht offensichtlich, wie sehr die in Aussicht gestellte Gleichberechtigung der Juden mit harten Forderungen verbunden war, die mit Akkulturation schon fast beschönigend beschrieben sind. Die Forderungen an die Juden gingen nicht allein dahin, ihr Verhalten so zu verändern, dass es u. a. wirtschaftlichen oder militärischen Anforderungen entspreche und z. B. die Sabbatruhe aufzugeben. Von den Juden wurde auch verlangt, ästhetisch als störend empfundene Eigenschaften wie die Art des Gebets oder den jüdischen Dialekt abzustellen. Im Ganzen zielten die Forderungen zur „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden stark in die Richtung ihrer kulturellen Selbstaufgabe. Sie sollten zumindest nicht mehr als Juden erkennbar sein. Daran zeigt sich, im Sinne von Sander Gilman, wie sehr der Umgang mit den Juden der „Lackmustest“ für die Multikulturalität einer Gesellschaft war.323 Im vorliegenden Fall wird deutlich, wie gross die Erwartungen an einen jüdischen Arzt in dieser Hinsicht waren. Die Frage, wie sich die christliche Mehrheitsgesellschaft in der Aufklärungszeit gegenüber Juden verhielt, wird in der Geschichtswissenschaft bisweilen mit einem mehr oder weniger dichotomischen Modell beantwortet: Darin stehen auf der einen Seite diejenigen, die sich im Sinne von religiöser Toleranz und Menschenrechten für die Gleichberechtigung der Juden ein322 Freundliche Unterstützung erhielt ich speziell für die Forschung an diesem Fall vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen, insbesondere von Prof. Dr. Claudia Wiesemann, und dem Universitätsarchiv Göttingen. Prof. Dr. Jürgen Schlumbohm, ehemals Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen, verschaffte mir dankenswerterweise einige von ihm aufgefundene Einträge Osianders über Joseph Jacob Gumprecht in zwei Tagebüchern des Göttinger Entbindungshauses. 323 Gilman (2006), passim.

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setzten; auf der anderen Seite finden sich diejenigen, die diesen Prozessen aus der antijüdischen Überzeugung, dass Juden schlechte Menschen seien, entgegenstanden.324 Zentrale historische Ereignisse scheinen dies auch zu bestätigen. Zwanzig Jahre vor dem hier untersuchten Zeitraum, den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, hatte der preußische Kriegsrat Christian Wilhelm Dohm (1751 – 1820) seine Ideen über die „bürgerliche Verbesserung der Juden“325 veröffentlicht. Sein Vorschlag einer Gleichberechtigung der Juden unter der Bedingung, dass diese sich kulturell an die christliche Mehrheitsgesellschaft anpassen, hatte der damaligen Emanzipationsdebatte einen entscheidenden Anstoss gegeben. Antijüdische Stimmen waren damit aber nicht verstummt. Ausgehend von Grattenauers Schrift „Wider die Juden“ (1803) sollte die Zahl der Schriften von Emanzipationsgegnern kurz nach dem hier untersuchten Göttinger Fall einen vorläufigen Höhepunkt erreichen.326 Das untersuchte Beispiel soll diese Sichtweise jedoch in Frage stellen. Der Kern des Falles ist ein teilweise publizistisch ausgetragener Streit zwischen dem Göttinger Geburtshelfer Friedrich Benjamin Osiander (1759 – 1822), einem der Begründer der modernen Geburtshilfe, und seinem ehemaligen Schüler, dem jüdischen Arzt und Privatdozenten Joseph Jacob Gumprecht. Dieser Streit, der sich inhaltlich um die angemessene Lehre und Praxis der Geburtshilfe drehte, ist für seine Zeit unter Medizinern, Wissenschaftlern, selbst zwischen Juden und Nichtjuden, nichts Aussergewöhnliches. Seine Bedeutung erhält der Fall nicht als Streit, sondern als Quelle, die zeigt, dass eine aufklärerisch motivierte Religionstoleranz im Sinne eines Bekenntnisses zur Gleichberechtigung der Juden (hier im Wissenschaftsbereich) und der Rückgriff auf herabsetzende antijüdische Stereotype sich keinesfalls gegenseitig ausschliessen. Wie zu sehen sein wird, können sie bei ein und derselben Person nahezu gleichzeitig auftreten. Erklärbar ist das Phänomen mit den nicht nur zeitgenössisch durchaus verbreiteten Vorstellungen von der Emanzipation der Juden: Gleichberechtigung sollte den Juden unter der Bedingung gewährt werden, dass sie ihren als schlecht angenommenen „jüdischen“ Charakter ablegen.

324 In jeweils recht unterschiedlicher Stärke findet sich dieses Bild etwa in Greive (1983), S. 14 – 18; Battenberg (1990), S. 85 – 134; Katz (1989), S. 55 – 105. Ziel des Kapitels ist es nicht, diese Interpretation grundsätzlich zu verwerfen, sondern auf die Notwendigkeit einer mehr oder weniger darüber hinausgehenden Differenzierung hinzuweisen. Stärker hingegen ist der in diesem Artikel thematisierte kritische Aspekt der frühen Judenemanzipation hervorgehoben in Rürup (1975), S. 24, 41 f., 85 f.; Berding (1988), S. 52 – 55; Erb/Bergmann (1989), S. 28 – 65; teils auch in Poliakov (1983) und Herzig (1997), S. 146 – 149. 325 Dohm (1781/83); siehe dazu auch Battenberg (1990), S. 90 – 94. 326 Jersch-Wenzel (1996), S. 30.

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Die Vorgeschichte Die Wurzeln des Göttinger Falls reichen weit ins 18. Jahrhundert zurück. Erst im Jahre 1737 gegründet, war die Universität Göttingen ein Produkt aufklärerischer Gedanken: dem Wunsch nach Loslösung aus scholastischen und klerikalen Zwängen sowie aus dem System der Zensur, zugleich ein Ergebnis der Wertschätzung der freien Meinungsäusserung und der nützlichen Wissenschaften. Gemeinsam mit der Universität in Halle und in steter Konkurrenz zu dieser preussischen Gründung repräsentierte die Georgia Augusta das damalige Paradebeispiel einer Reformuniversität der Aufklärungszeit.327 Der aufklärerische Geist der Göttinger Gründung zeigte sich auch darin, dass diese Universität, ähnlich der in Halle, von Anfang an Studenten ohne Ansehen ihrer Religion aufnahm und promovieren liess. Dies hiess zu dieser Zeit vor allem, dass auch Juden Zugang zu ihr hatten.328 Mit dieser Politik nahm die Universität sogar eine gewisse Vorbildfunktion in Deutschland ein.329 Nicht einmal in der Matrikel wurde das Religionsbekenntnis der Studenten notiert.330 Es waren vor allem akkulturationswillige junge, natürlich männliche Juden aus bildungsorientierten, häufig wohlhabenden Familien, die dieses Angebot zum bedingten Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft annahmen. Anhand ihrer Namen konnte Monika Richarz bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 41 jüdische Studenten an der Georgia Augusta ausmachen. Ihre wirkliche Zahl war aber sicherlich grösser.331 Joseph Jacob Gumprecht,332 geboren am 17. Juli 1772 in Göttingen, war einer von ihnen und einer von immerhin drei dort ansässigen jüdischen Gumprechts, die vor 1800 dort studierten.333 Als er sein Studium begann, hatte 327 328 329 330

Bueltzingsloewen (1997), S. 27 ff., zur Zensur: S. 34. Wilhelm (1973), S. 84. Richarz (1974), S. 31, 39 f. Selle (1937a). In den Promotionsakten der medizinischen Fakultät allerdings wurde eine jüdische Herkunft bis 1759 noch vermerkt. Siehe Mildner-Mazzei (1993), S. 91 – 237. 331 Richarz (1974), S. 61. 332 In einigen Nachschlagewerken wird er fälschlicherweise als „Johann Jacob“ geführt. Siehe z. B. Pütter (1820), S. 248. Dies dürfte mit seinem späteren Taufnamen Johann Justus zusammenhängen. Vgl. am Ende dieses Kapitels. 333 Einer von ihnen, der spätere Hamburger Arzt Ignatz Isaac Gumprecht, scheint der Bruder Joseph Jacobs gewesen zu sein. So schreibt es Michael (1896), S. 267. Wenn Ignatz Isaac seinen Vater als „Moses Gumprecht“ angibt (siehe seinen Lebenslauf in den Promotionsakten im Universitätsarchiv Göttingen), könnte damit der Vater von Joseph Jacob, Jacob Moses Gumprecht gemeint sein. Allerdings nennen die Quellen unterschiedliche Mütter: Für Joseph Jacob: Anna, geborene Detmold (im Lebenslauf in dessen Promotionsakte, ebenfalls im Universitätsarchiv Göttingen); für Ignatz Isaac: Rosalia, geborene Alexander (in Schröder [1851 – 83], Bd. 3, S. 18). In einer Gesamtaufstellung Göttinger Juden bis 1796 ist ein Jacob Moses Gumprecht mit nochmals einer anderen Ehefrau erwähnt: Hanne Hertz aus Hameln (Wilhelm [1973], S. 63). Der dritte Göttinger jüdische Student war der spätere Jurist Aaron Jacob

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2.2 Die Assimilationserwartungen

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die Göttinger Judengemeinde mit elf Familien (von denen gleich mehrere den Familiennamen Gumprecht trugen) und etwa einhundert Köpfen gerade ihren quantitativen Höhepunkt erreicht. Trotz dieser überschaubaren Zahl lässt sich jedoch nicht sicher rekonstruieren, welche dieser Familien die von Joseph Jacob war. Sicherlich kam er aber aus keinem armen Elternhaus.334 Die elf Göttinger Familien lebten im rechtlich unsicheren Status von Schutzjuden.335 Jacob Moses Gumprecht, höchstwahrscheinlich sein Vater,336 der ein Pfandgeschäft und verschiedenen Handel betrieb, hatte 1768 erstmals einen Schutzbrief erhalten, für den er 61/4 Reichstaler Schutzgeld jährlich zu bezahlen hatte.337 Elf Jahre später wurde er zur Festsetzung der städtischen Abgaben in die mittlere Einkommensklasse eingestuft.338 Joseph Jacobs Lebensweg führte zielstrebig auf eine akademische Karriere hin. Ab dem 15. Lebensjahr besuchte er das traditionsreiche, früher humanistisch und damals auch deutlich aufklärerisch geprägte339 Göttinger Gymnasium.340 Drei Jahre später, 1790, begann er sein Medizinstudium.341 Er besuchte unter anderem Vorlesungen bei dem berühmten Mediziner und Naturforscher Johann Friedrich Blumenbach (1752 – 1840) und dem Experimentalphysiker und Philosophen Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799).342 Er beendete sein Studium am 23. Dezember 1793 mit der Promotion. Daran schloss sich ein mehrjähriger akademischer Aufenthalt in Kopenhagen an. 1798 oder 1799 kehrte Gumprecht wieder in seine Heimatstadt zurück, um

334 335 336 337 338 339 340

341 342

Gumprecht, der als erster Jude Doktor beider Rechte in Deutschland wurde. Nach Richarz gehörte er zur gleichen Familie wie die ersteren beiden und zur reichsten der elf Göttinger Judenfamilien (Richarz [1974], S. 62). Die beiden letzteren begannen ihre Studien im Jahre 1795, also nach Joseph Jacob. In der Matrikel ist nicht wie bei anderen vermerkt, dass er ein Stipendium erhalten hatte. Siehe Selle (1937a), S. 303. Zum sozialen Hintergrund jüdischer Medizinstudenten vgl. Richarz (1998). Mit Ausnahme der Zeit unter der Herrschaft des Königreichs Westfalen dauerte dieser rechtliche Status der Göttinger Juden bis in den Vormärz. Siehe Richarz (1974), S. 122. Siehe die Widmung an seinen Vater gleichen Namens in der Druckfassung seiner Dissertation. Gumprecht (1793). So die Zahl für das Jahr 1769. Wilhelm (1973), S. 70, 80, 94. Wilhelm (1973), S. 72. Wecker (1936), S. 13. So der Lebenslauf in seiner Promotionsakte im Universitätsarchiv Göttingen. Der Immatrikulationseintrag in der Matrikel der Universität vom 12. 9. 1787 (Selle [1937a], S. 303) dürfte den Zugang zu dieser Lehranstalt gemeint haben, aus der die Universität hervorgegangen war. Für das Jahr 1770 ist belegt, dass ein Moses Jacob Gumprecht, möglicherweise der Vater, in seinem Haus einen Privatlehrer (wohl für religiösen Unterricht) beherbergte. Wilhelm (1973), S. 68. Schröder (1851 – 83), Bd. 3, S. 20. Siehe seinen Lebenslauf in der Promotionsakte im Universitätsarchiv Göttingen. Lichtenberg hatte engeren geschäftlichen und begrenzten privaten Kontakt mit dem Göttinger Bankier Moses Gumprecht. Lichtenberg (1987 – 1992), verschiedentliche Nennungen nach Personenregister. Siehe zu diesem Thema auch Schäfer (1998).

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sich dort als Arzt niederzulassen. Und mehr noch: Ungefähr mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts, so sollte er später angeben, fasste er den Plan, sich „dem akademischen Leben zu widmen“.343 Die Stadt Göttingen hatte sich gemeinsam mit ihrer Universität indes kurz zuvor eines Grossteils ihrer Juden entledigt, indem deren 1796 abgelaufene Schutzverträge nicht verlängert worden waren.344 Allgemeine Judenfeindschaft, Konkurrenzneid um das Geschäft mit Universität und Studenten sowie die angebliche Furcht, dass sich die Studenten bei den Juden zu sehr verschuldeten, bildeten den Hintergrund für eine deutlich spürbare antijüdische Haltung in der Stadt und der Universität schon in Gumprechts Schul- und Studienjahren.345 Zwischen 1770 und 1790 sind in den Akten des Universitätsgerichts acht Misshandlungen jüdischer Händler durch Studenten verzeichnet.346 Weit über Göttingen hinaus bekannt war damals auch das judenfeindliche Engagement eines der berühmtesten Göttinger Professoren, des Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717 – 1791). Er hatte sich vor allem als einflussreicher Kritiker der Emanzipationsbestrebungen Dohms und Lessings einen Namen gemacht, indem er auf der „Verderbtheit“ der Juden und deren Absonderung von der christlichen Mehrheitsgesellschaft beharrte.347 Ob sich Joseph Jacobs Familie unter den schliesslich ausgewiesenen Juden befand, ist unklar.348 Er selbst zumindest erreichte an der Universität ganz im Gegenteil etwas, das für diese Zeit des Übergangs von der Ausgrenzung der Juden aus der akademischen Medizin zu ihrer relativen Integration349 als aussergewöhnlich tolerant gegenüber Juden gewertet werden muss: Auf seinen Antrag hin wurde er im Sommersemester 1800 zur Lehre an der medizinischen Fakultät zugelassen. Er durfte sich, wie damals noch üblich ohne

343 UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 68r. 344 Wilhelm (1973), S. 85 f., 91 – 95. Je mehr die beim Adel beliebte Universität wuchs, umso mehr liess sie auch den Göttinger Handel wachsen. Göttinger jüdische Händler waren anfangs bei der Professorenschaft ihrer niedrigen Preise und des guten Angebots wegen beliebt. Doch wurden die jüdischen Händler und Geldverleiher im späten 18. Jahrhunderts für den aufwendigen Lebensstil und viele Schulden der Studenten verantwortlich gemacht. Wilhelm (1973), S. 85. Jahrzehntelang hatte zuvor die christliche Händlerschaft Göttingens versucht, die Konkurrenz der Schutzjuden zu vermindern. Wilhelm (1973), S. 91 – 95. In der Folge wurden 1793 die 1796 auslaufenden Schutzverträge von acht der elf Familien für die Stadt Göttingen nicht verlängert. Wilhelm (1973), S. 86. Ihnen wurden Verträge in anderen Orten des Kurfürstentums angeboten. 345 Brüdermann (1990), S. 364 – 372. Einen Eindruck vermitteln auch die Briefe Georg Christoph Lichtenbergs, vor allem die Äusserungen im Zusammenhang mit seinem Bankier Moses Gumprecht. Lichtenberg (1987 – 1992). 346 Brüdermann (1990), S. 370. 347 Löwenbrück (1995); Brüdermann (1990), S. 368 f.; Battenberg (1990), S. 71 f., 91. 348 Der vermutliche Vater Moses Jacob wird bei Wilhelm weder unter den Dagebliebenen noch unter den Ausgewiesenen genannt. Wilhelm (1973), S. 96. 349 Siehe hierzu Richarz (1974); Kümmel (1988); Brenner (1996), S. 276 – 284.

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Habilitation,350 von nun an „Privatdozent“ nennen, was er auf dem Titel späterer Veröffentlichungen auch mit offensichtlichem Stolz tat. Joseph Jacob Gumprecht zählt damit zu den ersten jüdischen Privatdozenten auf deutschem Boden.351 Zuvor bereits hatte sich der Geist der Aufklärung an dieser Fakultät in einer anderen Frage gezeigt. Seit der Gründung der Universität war es das Ziel bei der Medizinerausbildung, von der Tradierung des alten, teils realitätsfernen Bücherwissens abzukommen. Neben eigener Beobachtung und Experiment sollte der Demonstration und dem praktischen Einüben der Lehrinhalte am Krankenbett nun besonderer Vorzug gegeben werden.352 Insbesondere war dies in eben dem Spezialbereich geschehen, für den sich Gumprecht entschieden hatte: die Geburtshilfe. 1751 hatte die Universität auf Initiative Albrecht von Hallers den ersten deutschen Lehrstuhl für dieses Fachgebiet und eines der ersten so genannten „Accouchierhäuser“ eingerichtet.353 Das bedeutet, dass hier den Medizinstudenten erstmals in Deutschland die Geburtshilfe institutionalisiert „am Krankenbett“ gelehrt wurde.354 Hintergrund war, dass sich vor allem im 18. Jahrhundert die akademische Medizin des Themas Geburt „bemächtigte“. Sie strebte eine Hegemonie über die Ausbildung der Hebammen an, die nun nach Möglichkeit, vor allem bei Problemgeburten, auch männliche, ärztliche Geburtshelfer beiziehen sollten.355 Vor allem deren Ausbildung (sowie der von Hebammen356) sollten die Accouchierhäuser dienen. In diesen Einrichtungen konnten nämlich arme, meist ledig schwanger gewordene Frauen kostenfrei und unter Erlass allfälliger Strafen357 niederkommen.358 Mit diesen Einrichtungen sollte die hohe Kindersterblichkeit gesenkt und 350 Die Rolle des Privatdozenten war damals noch nicht genau definiert. Jedoch galt die Institution des Privatdozenten bereits als „Pflanzschule künftiger Professoren“. Vgl. Busch (1959) S. 14 – 17. 351 Siehe zum Vergleich die Liste in Richarz (1974), S. 208, in der Gumprecht nicht verzeichnet ist. Dort ist die früheste Nennung N. Friedländer in Berlin (1810) und für Göttingen Alexander Haindorf (1815). 352 Bueltzingsloewen (1997), S. 35 – 38; Tröhler (1988), S. 13, 15 – 20. Bei der Gründung der Universität beantragte ihr geistiger Vater Werlhoff jedoch zunächst vergeblich ein medizinisches Klinikum. Vgl. auch Puschmann (1889), S. 343. 353 Siehe hierzu Schlumbohm (1998); Karenberg (1997), S. 42 – 45. Auch in Kuhn/Tröhler (1987), S. 173. 354 Bueltzingsloewen (1997), S. 102. Schlumbohm (2007). 355 So z. B. Georg Roederer, der erste Inhaber des genannten Lehrstuhls in Göttingen. Vgl. Schlumbohm (1996), S. 659 f. Wie relativ der Verdrängungsprozess in der Praxis war, ist nachgezeichnet bei Seidel (1998), S. 74 – 231, Zusammenfassung S. 420 f. 356 Hampe (1998). 357 Schlumbohm (1988), S. 153. 358 Der Aspekt des Umgangs mit den Gebärenden in diesen Einrichtungen ist mit der Zeit häufiger Gegenstand historischer Darstellungen gewesen, hier allerdings nicht von Interesse. Siehe zu Göttingen Schlumbohm (1998); für Marburg Metz-Becker (1997); aus kritischer Perspektive Seidel (1998), zusammenfassend S. 423; Hampe (1998), S. 21 f.

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dem Kindsmord Einhalt geboten werden. Dies entsprach ganz der merkantilistischen Gesinnung der Hannoveraner Regierung – nämlich die wirtschaftliche Blüte des Landes durch ein Anwachsen der Bevölkerungszahl anzustreben. Dieses Ziel rechtfertigte den enormem Geldaufwand für den Neubau des Göttinger Accouchierhauses, der 1791/92 fertig gestellt wurde. Als Leiter der prestigeträchtigen Anstalt und Professor der Geburtshilfe hatte man ganz im Sinne der Universitätsausrichtung einen Praktiker mit viel Erfahrung in der Geburtshilfe, aber ohne jegliche Lehrerfahrung verpflichtet, den damals gerade 33jährigen schwäbischen Arzt Friedrich Benjamin Osiander.359 Der Neid eines Kollegen, der einer anderen Fakultät angehörte, spricht aus Georg Christoph Lichtenbergs damaliger Charakterisierung des Neubaus als „Accouchir-Pallast“.360 Osiander konterte ganz im aufklärerischen Duktus, Hospitäler seien eben die „Denkmäler der Menschenliebe und der Wohltätigkeit“.361 Auch der Medizinstudent Joseph Jacob Gumprecht sollte sich für die damalige ärztliche „Modebeschäftigung“362 der Geburtshilfe interessieren, im dritten Jahr seines Medizinstudiums (1793) in dem neuen Haus bei dem noch relativ frisch gebackenen Professor Osiander dessen „Collegium über Entbindungskunst“ hören und vom Professor schliesslich ein wohlwollendes Zeugnis ausgestellt bekommen.363 Generell scheint Osiander jüdischen Studenten keine Steine in den Weg gelegt zu haben. In den vorliegenden Listen der von ihm unterrichteten Studenten und Ärztekollegen lassen sich mehrfach Juden ausmachen. Ähnlich den Matrikeln der Universität hob Osiander sie nicht als Juden hervor. Unter den zwölf Teilnehmern, die im Wintersemester 1793/94 an Osianders Lehrkursus teilgenommen und sich durch Fleiss ausgezeichnet hatten, waren mindestens zwei Juden, und zwar Theodor Salomon Anschel, der aus Bonn bzw. Halle nach Göttingen gekommen war, und Moses Markuse aus Hannover bzw. Brandenburg.364 Osiander lobte Anschels geburtshelferische Fähigkeiten 359 360 361 362 363

Egenolf (1937). Vgl. Schlumbohm (1997), S. 326. Osiander (1794), Einleitung, S. LI; siehe auch Schlumbohm (1997), S. 327. Seidel (1998), S. 419. UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 65. Darüber hinaus ist Gumprecht als Teilnehmer im Tagebuch des „Clinischen Instituts zu Göttingen“ vermerkt, und zwar für den Monat Juni 1793 sowie zahlend von November 1793 bis Februar 1794, seit der Jahreswende als „Doktor Gumprecht“. 364 Selle (1937a). Zu Markuse siehe auch das vorangegangene Kapitel 2.1. Beide studierten aufgrund eines Armenstipendiums gratis an der Universität. Zum Armenstipendium vgl. Richarz (1998), S. 12. Bei weiteren Teilnehmern ist eine jüdische Herkunft möglich. Osiander (1795a), S. 27. Vgl. auch die Nennung der Hörer Detmold und Leeser neben denen Gumprechts und Anschels unter insgesamt 18 Personen. In Osiander (1795b), S. 329 – 331. Für das Jahr 1800 verzeichnete Osiander einen Vertreter der jüdischen Ärztefamilie Gerson aus Hamburg als Kursteilnehmer. Siehe Osiander (1801a), S. 93. Zu den Gersons siehe Michael (1896), S. 259. In späteren Listen, nachdem Osiander sich öffentlich judenfeindlich geäussert hatte, konnten keine Juden mehr nachgewiesen werden. Siehe z. B. die 18 Namen in Osiander (1816). Die

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öffentlich.365 Schliesslich sollte Osiander seinen Schüler Gumprecht auch nach dessen Promotion noch fördern und unterstützen. Ähnlich offen, wie die Universität ihre Studenten zuliess, wollte Osiander auch den Zugang schwangerer Frauen zum Entbindungshaus im aufklärerischen Sinne geregelt wissen. Osiander war sicherlich kein „Denker der Aufklärung“, eher deren partieller Praktiker. Um so bedeutender ist es, wenn er sich einmal zu einer ihrer zentralen Fragen äusserte, wie er es in programmatischen Äusserungen zu der von ihm geleiteten Anstalt tat: „Zur Aufnahme in dieses Institut ist […] jede Schwangere, Verheurathete oder Unverheurathete, Inländerin und Ausländerin, Christin und Jüdin, Weiße und Negerin fähig.“366 Dass es Osiander mit diesem Programm ernst war, hat Jürgen Schlumbohm in einer Analyse der Patientinnenschaft des Entbindungshauses detailliert beschrieben.367 Insbesondere in der Frage der Religionszugehörigkeit wird das evident. Bis 1808 wurde diese nicht einmal im Aufnahmebuch der Anstalt notiert. In den Jahren danach gehörten fast 40 Prozent der Patientinnen nicht der im Kurfürstentum Hannover herrschenden lutherischen Konfession an, sondern waren reformiert oder katholisch. In etwa einem Prozent der Fälle waren sie jüdisch.368 Auch wenn sich für die Zeit vor 1808 keine genauen Zahlen berechnen lassen, finden sich in Osianders Tagebüchern der Anstalt sowie im vom Verwalter geführten „Hauptbuch“ für diesen Zeitraum ebenfalls einige jüdische Patientinnen. Am 18. Januar 1797 etwa gewährte Osiander der 20jährigen Barbara Gottschalk aus Korbach die Aufnahme. Sie gab an, von Moses Hirsch aus Kassel schwanger zu sein und gebar knapp zwei Monate später ein Mädchen, das sie „Röschen“ nannte. Der Aufenthalt dieser Patientin überschnitt sich mit dem der Rebekka Moses aus Treysa im Fuldaischen, deren Tochter »Blümchen« am 21. März zur Welt kam. Der Vater war ihren Angaben nach ein preussischer Offizier namens Finke. Eine weitere Jüdin, die 26jährige Merle Moschel aus Sülzdorf bei Würzburg, zählte zu den nur etwa zwei Prozent369 Frauen im Accouchierhaus, die angaben, von ihrem Ehemann schwanger zu sein. Sie wurde am 10. Februar 1795 aufgenommen und kam bereits zwei Tage später mit einer Tochter nieder. Da sie arm war, erhielt sie vom Verwalter überdies noch 3 Groschen geschenkt.370

365 366 367 368 369 370

kleine und unsichere Quellenbasis lässt indes keinen Schluss zu, dass jüdische Studenten und Ärzte Osiander gemieden hätten oder er diese nun nicht mehr aufnahm. Es gibt auch keine Hinweise, dass diese nach Ausbruch des Streits vermehrt zu Gumprecht als Lehrer gingen. In einer Liste von 21 Studenten, die sich Ende 1802 für Gumprecht einsetzten (s. u.), liess sich nur ein Jude, nämlich Nathan Benedix aus Bleicherode, nachweisen. UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 96. Vgl. Lichtenberg, Bd. 4, S. 428. Osiander (1794), S. XC. Schlumbohm (1997), S. 327 ff. Schlumbohm (1997), S. 328. Der Untersuchungszeitraum reicht bis 1829, also sieben Jahre nach dem Ende von Osianders dortiger Tätigkeit aufgrund seines Todes. Siehe Schlumbohm (1997), S. 330. Alle Angaben aus dem „Hauptbuch“ der Entbindungsanstalt.

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Von besonderer Wichtigkeit war Osiander auch, dass die jüdischen Patientinnen nicht in ihrer Religionsausübung behindert würden. So schrieb er bereits 1794 explizit: „[…] eine jüdische Frauensperson kann […] ungestört nach ihren Religionsgebräuchen leben, und während der Schwangerschaft ihre Speisen in der Küche des Instituts selbst bereiten. Gebiehrt sie einen Knaben, so kann sie ihn, (wie sich im vergangenen Sommer der Fall ereignete) auf dem Hause mit den gewöhnlichen Ceremonien durch einen Verwandten ihrer Religion beschneiden lassen. Während dem Wochenbette steht es ihr frey, die im Institut bereiteten Speisen zu genießen, oder sich von der hiesigen Judengemeinde andere kommen zu lassen.“371 Dieser Vermerk ist umso bedeutender, als die Persönlichkeit und die Interessen der Patientinnen im Allgemeinen für Osiander kaum eine Bedeutung hatten. Nach seinen eigenen Worten war die Anstalt nicht der schwangeren Frauen wegen, sondern diese Frauen der Anstalt und ihres Ausbildungszieles wegen da.372 Dass Osiander seine Worte dennoch ernst gemeint hatte, bestätigen die überlieferten Aufzeichnungen. Die Schwangere Feilchen Feiglmann etwa hatte bei der Aufnahme am 20. März 1811 ihren Namen und ihre Herkunft falsch angegeben, so dass ihre Umgebung anfangs nichts von ihrer jüdischen Herkunft wusste. Nachdem diese aber bekannt geworden war,373 bot Osiander ihr an, „daß sie von hiesigen Juden essen bekäme, um Ostern hier halten zu können“. Alles deutet darauf hin, dass sie während des Pessachfestes wirklich „bei der Judenschaft“ ass.374 Männliche jüdische Neugeborene wurden tatsächlich in der Anstalt dem Religionsgesetz entsprechend am achten Tag vom örtlichen „Mohel“ beschnitten, so etwa der am 23. Juni 1805 von der 28jährigen Johanne Simon geborene Israel375 oder am 11. Juli 1817 der von Marianna Abraham geborene Jacob.376 371 Osiander (1794), S. LXX, XCIX – C; siehe auch Schlumbohm (1997), S. 328 – 330. Der genannte Fall konnte in den vorhandenen Tagebüchern der Institution nicht verifiziert werden. 372 Siehe z. B. Schlumbohm (1998), S. 178, 181, wo dieser beschreibt, wie die Schwangeren durch Osiander „Schritt für Schritt zum Gegenstand ärztlich-geburtshilflicher Kunst“ gemacht wurden. S.a. Brockmann (1982), S. 170 f. 373 Osiander notierte: „da ich ihr nach einigen Tagen ins Angesicht sagte, daß sie eine Jüdin sey, so gestand sie solches.“ Siehe das „Tagbuch“ 1809 ff. Osianders barscher Umgang mit der Schwangeren basierte offensichtlich nicht darauf, dass diese Jüdin war, sondern dass sie ihren Namen und ihre Herkunft falsch angegeben hatte. Eine „Verhörsituation“ schuf Osiander auch im Kontakt mit nichtjüdischen Schwangeren, die sich entgegen seinen Erwartungen verhalten hatten. Vgl. Schlumbohm (1998), S. 178. 374 „Tagbuch“ 1809 ff., „Hauptbuch“ 1791 – 1812. Der Verwalter vermerkte dies, weil Feilchen Feiglmann wegen ihres vorzeitigen Abgangs die dann üblicherweise anfallenden Logierkosten bezahlen musste. Vgl. Schlumbohm (1998), S. 180, dies war aber bis 1829 nur sieben Mal der Fall. In diesem Einzelfall wurden die Kosten für die auswärtige Verpflegung über Pessach abgezogen. 375 „Hauptbuch“ 1791 – 1829. 376 „Tagbuch“ 1816 – 1818. Mädchen wurden bald nach ihrer Geburt im Beisein u. a. des „Juden

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Nun muss diese Liberalität nicht Osianders Überzeugung entsprochen haben. Sie kann auch aus der taktischen Überlegung entstanden sein, auf diese Weise möglichst viele schwangere Frauen in sein Entbindungshaus zu ziehen. Ähnliches beschrieb er selbst mit einem Erlebnis aus seiner Studienzeit in Strassburg: Als der Protestant Osiander das katholische Brauchtum bei einer Geburt nicht respektiert hatte, wurde ihm der Zutritt zu einer Gebärenden verwehrt. Diese Erfahrung habe ihn „tolerant gemacht“.377 Dass sich hinter dieser Haltung nicht nur taktische Überlegungen verbergen, legen die Äusserungen in seinem „Lehrbuch der Hebammenkunst“ von 1796 nahe. Anlässlich der Darstellung von Taufe und Beschneidung plädiert er vehement für eine weitgehende religiöse Freiheit. Es werde „jeder Mensch, dessen Herz frey von Haß und Schwärmerey nur Gottes- und Menschenliebe kennet, jeder Religion, welche die Verehrung Gottes und die geistige Veredelung des Menschen zum Zweck hat, mit Achtung begegnen […]. Keiner Hebamme kommt es daher zu, den religiösen Gebräuchen, welche irgend ein Vater oder eine Mutter mit ihrem neugebornen Kinde vornehmen lassen will, das geringste in [den] Weg zu legen, oder daran hinderlich zu seyn.“378 Dass er damit vor allem die Beschneidung meinte, wird an deren ausgesprochen neutralen Darstellung in diesem Buch deutlich.379 Osiander geht darin sogar weiter als viele Ärztekollegen, die die in ihrer Sicht gesundheitsschädlichen Teile der Zeremonie anprangerten.380 Zwar schrieb Osiander im allgemeinen Teil des Kapitels, dass die Grenze der Religionsfreiheit dort sei, wo „Gesundheit und Leben des neugebornen Kindes oder der Mutter“ darunter litten.381 Bei den Gesundheitsrisiken der Beschneidung griff er jedoch nicht darauf zurück, während er an einigen Details der christlichen Taufe durchaus etwas auszusetzen hatte. Die Chancen standen also für Gumprecht im grossen und ganzen gut: Ein junger, ehrgeiziger und anpassungsfähiger, vom universitären Leben begeisterter jüdischer Arzt schaffte es, Privatdozent an einer Universität zu werden, deren von der Aufklärung geprägte Ausrichtung diesen Schritt erst ermöglicht hatte. Sein akademischer Lehrer auf seinem später bevorzugten Fachgebiet förderte nicht nur ihn, den Juden, sondern bekannte sich auch allgemein zu Toleranz und Respekt gegenüber der jüdischen Religion. Doch sollte sich dieser Zustand jäh verändern.

377 378 379 380 381

und Vorsängers Lämlein“ in das Geburtsregister aufgenommen; später nannte Osiander dies den „Civilakt“.Vgl. verschiedene Hinweise in den „Tagbüchern“. Egenolf (1937), S. 37. Osiander (1796), S. 650. Osiander (1796), S. 666 f. Vgl. z. B. Schlich (1998), S. 147. Osiander (1796), S. 650.

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Der Fall Am dritten September des Jahres 1800 brach die erbitterte akademische Feindschaft zwischen Osiander und seinem ehemaligen Schüler Gumprecht aus. An diesem Tag nämlich schickte der damals 28 Jahre junge Gumprecht seinem 41jährigen akademischen Lehrer seine eine gute Woche zuvor fertig gestellte und eben aus der Druckerei gekommene erste Veröffentlichung seit der Dissertation: eine 31seitige Broschüre mit dem Titel „Über einige Ursachen der Unvollkommenheit der Geburtshilfe“. Mit dieser Schrift lud er, wie damals nicht unüblich, vor dem Beginn seines zweiten Semesters als Privatdozent zum Besuch seiner Vorlesungen ein.382 Gumprecht hatte bereits am 29. März 1800 für das einen Monat später beginnende Sommersemester einige Veranstaltungen an der medizinischen Fakultät seiner Alma Mater in den „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen“ angekündigt: das berühmte Journal besass damals auch die Rolle eines lokalen Vorlesungsverzeichnisses. In der Sektion „Heilkunde“ fand er sich inmitten von Hofräten und Professoren und sehr wenigen Privatdozenten-Kollegen.383 Eine Bezahlung für die Lehre erhielt Gumprecht als freier Dozent von der Universität, wie es damals üblich war, zwar nicht, wohl aber in der Regel von den Studenten.384 Deren Gebühren konnten allenfalls eine Nebeneinkunft bedeuten, und um sie musste ein Privatdozent noch mit den ordentlichen Professoren konkurrieren.385 Sozusagen als „Appetithappen“ für sein beitragspflichtiges Unterrichtsangebot kündigte Gumprecht eine einstündige unentgeltliche Vorlesung jeweils samstags (!)386 über die „Kunst, Recepte zu schreiben“, an. Gegen entsprechende Semestergebühren wollte er vier Mal in der Woche Geburtshilfe lesen und praktische Übungen dazu am „Fantom“, dem geburtshilflichen Übungsmodell, durchführen. Schliesslich erbot er sich zu einem praktischen „Examinatorium und Disputatorium der Pathologie und Therapie“.387 Gumprecht wusste von Anfang an, dass es notwendig war, sich und seine 382 Gumprecht (1800). Abschrift des Begleitschreibens an Osiander in UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 84. 383 Neben dem Prosektor finden sich im Sommersemester 1800 zwei Dozenten, die im Folgejahr bereits beide als Professoren auftreten. Erst ab dem Sommersemester 1802 sind wieder Lehrveranstaltungen von mehreren Privatdozenten angekündigt. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 3. April 1802, S. 534 – 536. 384 In dieser Frage herrschte auch an der Universität Göttingen ein relativ freies System von Angebot und Nachfrage, das den Preis bestimmte. Vgl. Brüdermann (1990), S. 310 – 316. 385 Vgl. Busch (1959), S. 15. Osiander verdiente jährlich 500 Reichstaler und hatte zusätzlich das Recht zur Privatpraxis. Siehe Egenolf (1937), S. 43. 386 Während seiner gesamten Göttinger Lehrtätigkeit bot Gumprecht einen Teil seiner Veranstaltungen auch am Schabbat, zu jeweils wechselnden Tageszeiten, an. Es ist unwahrscheinlich, dass er von der Universität dazu gezwungen wurde, weil die Termine seiner Veranstaltungen immerhin so offen waren, dass er sie teils von der Absprache mit den Studenten abhängig machte. 387 Göttingische gelehrte Anzeigen vom 29. März 1800, S. 503.

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Vorlesungen den potentiellen Studenten interessant zu machen. In der Tat sollten sich am Anfang seines Engagements als Dozent, als er wenig Erfahrung und noch weniger Reputation besass, die zahlenden Studenten nicht von alleine einfinden. In seinem zweiten Lehrsemester, so erzählte es später sein mittlerweile zum Intimfeind gewordener Lehrer Osiander mit einiger Häme, habe Gumprecht weder ein „Privatcollegium“ noch ein „Privatissimum“ oder ein „Klinikum“ zustande gebracht.388 Erst mit dem vierten Semester scheinen sich seine Veranstaltungen dann so gefüllt zu haben, dass er kaum hinter den Dozentenkollegen nachstand.389 Um seinen akademischen Ruf zu begründen, musste Gumprecht, wie er selbst später schrieb, „nach der fast zum Gesetz gewordenen Gewohnheit irgend einen wissenschaftlichen Gegenstand abhandeln“.390 Das tat er für das Wintersemester 1800/01 in der besagten Einladungsschrift zu seinen Veranstaltungen. Gumprecht empfahl sich den Studenten jedoch nicht mit irgend einem wissenschaftlichen Gegenstand, sondern damit, dass er eindeutig Gegenposition zu Osiander bezog. Dieser „regierte“ die Geburtshilfe in Göttingen zwar nicht unangefochten, doch nur zu Beginn seiner Amtszeit hatte eine Hebamme gewagt, eine öffentliche Fehde mit ihm vom Zaun zu brechen.391 Anders war es in der wissenschaftlichen Gemeinschaft dieses jungen akademischen Faches allgemein. Grob gesagt standen sich zwei Schulen gegenüber. Während die einen das Prinzip verfolgten, Geburten so weit wie möglich dem Lauf der Natur zu überlassen und nur im Notfall in den Geburtsvorgang einzugreifen, wollten die anderen viel eher die damals verfügbaren medizinischen Techniken, vor allem die Zangenoperation, einsetzen. Gerade Osiander war der bekannteste Fürsprecher dieser letzteren Gruppe der „aktiven“ Geburtshelfer392 in Deutschland und führte eine „literarische Fehde“ mit dem

388 Gumprecht hatte zum Wintersemester 1800/1801 ein Privatissimum über den praktischen Teil der Heilkunde angeboten. Vgl. Gumprecht (1800), S. 31, und Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen vom 20. September 1800, S. 1503. Osianders Äusserung in UAGö Kur 4 IVa 20, Bl. 32v. 389 UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 65r. Gegenüber der Regierung in Hannover unterschlug er den ersten, offensichtlich missglückten Versuch, einträgliche Privatvorlesungen durchzuführen. Nun aber, im Wintersemester 1801/2, unterrichtete er 13 Medizinstudenten und immerhin neun Doktoren privatim und privatissime. Im Folgesemester waren es 19 Studenten und vier Ärzte. UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 66, 83. In seinen Vorlesungen hatte Osiander zu diesem Zeitpunkt durchschnittlich 25 – 35 Hörer. Martius (1951), S. 30. Um 1800 studierten jeweils etwa 100 Medizinstudenten an der Universität Göttingen. Siehe die Graphik von Andreas-Holger Maehle in 250 Jahre (1987), S. 112. 390 UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 68r. 391 Vgl. Klocke(n) (1793). Siehe dazu auch Hampe (1998), S. 103, 124, 129 – 131; Schlumbohm (1988), S. 155. 392 Z.B. Martius (1951), S. 16; Schlumbohm (1998), S. 183. Genau genommen waren die Gegensätze nicht so krass. Vgl. für Osiander Winkelmann (1983). Im hier referierten publizistischen Streit jedoch wurden die Positionen durchaus polarisiert.

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bekanntesten Repräsentanten der natürlichen Geburtshilfe, dem Wiener Professor Johann Lukas BoÚr (1751 – 1837).393 Wenn Gumprecht sich nun auf die Seite der abwartenden Geburtshelfer schlug, dann dürfte dies neben der persönlichen Überzeugung vor allem an seiner Profilierung als Gegenpart zu Osiander gelegen haben. Ein jüdischer Kollege mit einer ähnlichen Biographie wie Gumprecht, der Arzt und Geburtshelfer Lion Nathan Bernkastel, profilierte sich dagegen bei der Niederlassung in seiner Heimatstadt Trier mit einem Bekenntnis zu der dort innovativen eingreifenden Geburtshilfe, die er auf der Universität Jena gelernt hatte.394 Gumprecht führte mit seiner Schrift über die Unvollkommenheit der Geburtshilfe sozusagen einen gelehrt formulierten Frontalangriff auf seinen „verehrungswürdige(n) Lehrer“395 Osiander aus. Zwar nennt der Autor diesen in keinem seiner Kritikpunkte direkt, meint ihn aber, verstehbar für alle, in praktisch jedem Abschnitt. Gumprechts Schrift teilt sich in zwei Teile. Im ersten geisselt er die Selbstherrlichkeit der Lehrer und die praxisfernen Inhalte der allgemeinen Vorlesungen in der Geburtshilfe: „Einer der wichtigsten Fehler der meisten Lehrer der Geburtshülfe ist Eigensinn mit Eigendünkel verbrüdert“.396 In der Tat war Osiander weit über Göttingens Grenzen hinaus für seinen eigenmächtigen und selbstherrlichen Stil bekannt.397 Der Unterricht verharre zu lange in „weitläufigen anatomischen und physiologischen Beschreibungen“398, so dass für die eigentliche Geburtshilfe, insbesondere die praktischen Übungen am „Fantom“, kaum noch Zeit bleibe. Diese Fertigkeiten müssten die Studenten dann in zusätzlichen bezahlten Unterrichtsstunden erlernen: „Wie manches artige Stückchen Geld könnte auf Academien für Privatissima erspart werden“, „wenn die Lehrer ihre Zuhörer nicht erst in den letzten vier Wochen zum Fantom führten, sondern schon in den ersten vierzehn Tagen“399. Obwohl Osiander vor allem als Praktiker berühmt war, warf man ihm auch von anderer Seite vor, dass er in seinen Lehrveranstaltungen die praktischen Übungen vernachlässigen würde. Solche Vorwürfe kamen später sogar der Hannoveraner Staatsregierung400 zu Ohren. Diese schrieb 1801 an den Professor, dass „verschiedentlich in publico schon die Rede gegangen, daß in Euren collegio privato über die Ausübung der Entbindungskunst die Studierende zu wenig Gelegenheit hätten, selbst Hand 393 394 395 396 397 398 399 400

Vgl. Wehl (1931), S. 13; Egenolf (1937), S. 46. Kasper-Holtkotte (1993), S. 146 f. Gumprecht (1800), S. 17. Gumprecht (1800), S. 7. Siebold (1845), S. 613. Gumprecht (1800), S. 12. Gumprecht (1800), S. 16 f. Dies war der so genannte „Geheime Rat“ bzw. das darin zuständige „Universitäts- und SchulDepartement“ mit seinen Sekretären. Vgl. Brüdermann (1990), S. 65 – 68. Die Schreiben der Regierung waren jeweils mit drei Namenskürzeln gezeichnet.

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anzulegen und daher zu der Nehmung eines Privatissime bey euch genöthigt würden“. Er solle daher alles vermeiden, „was so ausgelegt werden könnte, als wolltet ihr zu der Hörung eines Privatissime anreizen“.401 Genau dieses hatte Gumprecht gefordert: „Jeder von den Zuhörern sollte alle Handgriffe in Gegenwart des Lehrers einige Mahl wiederholen und sie sammt den Cautelen gleich anwenden lernen“.402 Seine Äusserungen waren somit ein allseits verständlicher Seitenhieb gegen Osianders Lehrpraxis. Im zweiten Teil seiner Schrift plädiert Gumprecht für eine „Entbindungswissenschaft“ anstelle einer „Entbindungskunst“. Die Geburtshilfe solle weniger nach mechanischen Mitteln zur Hilfe bei schweren Geburten („Kunst“) suchen, als durch eine bessere Kenntnis der natürlichen Vorgänge der Schwangerschaft („Wissenschaft“) solchen schweren Geburten vorbeugen. Die Kräfte der Natur seien allein imstande, „das Geburtsgeschäft auf die leichteste und gefahrloseste Art zu befördern und zu vollenden“403. Mit der Unterscheidung von Entbindungskunst und Entbindungswissenschaft griff Gumprecht explizit ein elementares Prinzip in Osianders Theorie auf, wollte aber gerade die entgegengesetzte Seite unterstützen. Osiander plädierte in seinem gesamten Werk für die Wichtigkeit der „Kunst“, sprich: den handwerklichen Teil des Entbindungsgeschäfts mit den mechanischen Eingriffsmöglichkeiten.404 Osiander war gerade für seinen häufigen Gebrauch der Geburtszange bekannt und hatte verschiedene Instrumente, insbesondere eine eigene Zangenart, entwickelt.405 Gezielt schreibt Gumprecht von der „Kleingeisterei“ derjenigen, die den Geburtshelfer nur als „mechanisches Genie“ sähen. Er lässt sich über diejenigen Geburtshelfer aus, die ihre Energie in die Entwicklung von „unbedeutendsten Instrumentchen“ steckten. Die „Ehre, ihren Nahmen in den erfundenen Instrumenten verewigt zu sehen“, würde sie dazu verleiten. Unzertrennlich hinge mit dieser „Erfindungssucht“ der Trieb zusammen, „von den Instrumenten so oft und so unnöthig Gebrauch zu machen.“ Gerade die Zange werde „zur Unzeit gebraucht und mit ihr der meiste Unfug getrieben“.406 In seinem persönlichen Anschreiben an Osiander vom dritten September räumte Gumprecht selbst die Möglichkeit ein, dass „hier und da ein Gedanke oder eine Meinung“ seiner Schrift dem „hochverehrten Professor“ „aufstoßen“ könne. Doch hätte er keineswegs gegen diesen, sondern nur für die Sache geschrieben. Osianders Ruf, so der Absender, sei „unerschütterlich, und es konnte mir nicht einfallen, ihn durch eine so junge Stimme wie die meinige

UAGö Kur 4 IVa 20, Bl. 9. Zum Aufbau von Osianders Unterricht siehe auch Wehl (1931), S. 12. Gumprecht (1800), S. 16. Gumprecht (1800), S. 27. Siehe etwa die programmatischen Titel von Osianders Werken, etwa Osiander (1796). Siehe auch Winkelmann (1983). 405 Siehe z. B.: Kuhn/Tröhler (1987), S. 102 f.; Wehl (1930), S. 8 – 13. 406 Gumprecht (1800), S. 21 – 26.

401 402 403 404

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verdunkeln zu wollen“.407 Im übrigen sei Gumprecht ebenso an Osianders Freundschaft wie auch an dessen Urteil über ihn interessiert. Mit seinem ersten Wunsch hatte Gumprecht keinen Erfolg. Osiander sah es im Gegenteil als eine „Dreistigkeit“ an, ihm sein „höchst beleidigendes und hämisches Programm“ „sogar mit einem Brief zuzusenden“.408 Dagegen ging Gumprechts zweiter Wunsch in Erfüllung. Osiander äusserte sein Urteil – wie sein Widersacher – gedruckt und öffentlich: in einer ebenso ausführlichen wie scharfen Rezension der Einladungsschrift in den von ihm selbst herausgegebenen „Annalen der Entbindungs-Lehranstalt“.409 Doch liess sich Osiander mit seiner Antwort bis ins nächste Jahr Zeit.410 Er dürfte über den Vorstoss auch nicht allzu überrascht gewesen sein, hatte er sich doch schon zuvor darüber geärgert, dass sein ehemaliger Schüler ihn zwei Mal um Gefälligkeiten gebeten, ihn danach aber gegenüber Dritten offen kritisiert hatte.411 Osianders Rezension ist eine vielschichtige Replik. Sie greift gekonnt die Schwachstellen von Gumprechts Argumentation heraus, etwa dass sich die Studenten anatomische und physiologische Kenntnisse nicht von alleine und nicht schnell aneignen könnten. Osiander verteidigt die Notwendigkeit der Ausbildung nicht allein am Phantom, sondern im privaten Unterricht bei Entbindungen. Er legt dar, dass die „Entbindungskunst“ viel mehr als ein rein mechanisches Handwerk sei. Schliesslich nimmt er die Geburtszange gegen Gumprechts Verdacht in Schutz, bleibende Gesundheitsschäden hervorzubringen. Das ganze ist durchsetzt mit ironischer Jovialität und beissendem Spott. Wenn Gumprecht vermutet, dass das Hirn eines zur Welt kommenden 407 UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 84. 408 So Osiander in einem Brief vom 16. September 1801 an die Hannoveraner Staatsregierung. UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 31r. 409 Osiander (1801b). 410 Der Erscheinungstermin der Rezension lag wohl in der ersten Jahreshälfte, da das Folgeheft „Annalen“ zu dem, in denen sie erschien, in den „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen“ bereits am 31. August 1801, S. 1393 f., rezensiert wurde. 411 Dies legte Osiander in einem ausführlichen Schreiben vom 16. September 1801 dar. Siehe UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 30 – 39. Gumprecht habe nur aufgrund eines von ihm erbetenen Empfehlungsschreibens aus der Feder Osianders in Kopenhagen an der Entbindungsanstalt von Mattias Saxtorph arbeiten dürfen, dort angekommen aber angeblich schlecht über Osiander geredet. Nach seiner Rückkunft hatte er Osiander gebeten, ihn bei einer Geburt zugegen sein zu lassen, damit er die Anwendung der neuen Osianderschen Geburtszange sehen könne. Dem hatte Osiander zugestimmt. Gumprechts Anwesenheit ist auch in der Tat im entsprechenden Tagebuch der Anstalt bei der Entbindung der „Catharina Dilin“ am 1. August 1800 festgehalten. Trotz dieser „unverdienten Gefälligkeit aber schämte er sich nicht, gleich beim Weggehen vom Accouchirspital gegen meine Zuhörer sich auf eine so hämisch tadelnde Weise über den Geburtsfall und meine Behandlung desselben auszulassen, daß den folgenden Tag einige zu mir kamen und sagten, sie hofften, daß ich den Dr. Gumprecht nicht wieder bey Geburten zulassen würde.“ Zudem habe Gumprecht zu diesem Zeitpunkt die schmähliche Einladungsschrift bereits in den Druck gegeben. Die Quellen legen allerdings nahe, dass die Schrift erst elf Tage später fertig gestellt wurde. Die Entbindung der „Catharina Dilin“ unter Gumprechts Anwesenheit ist im Tagebuch des Accouchirhauses für den 14. August protokolliert, die Fertigstellung der Schrift erst für den 25. August 1800.

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Kindes von der Zange einen Schaden nehmen könne, dann fragt Osiander zurück, ob dies angesichts von Gumprechts Schrift bei diesem selbst so geschehen sein könne. Schliesslich kehrt der Rezensent den Vorwurf der Selbstgerechtigkeit gegen Gumprecht selbst um, dieser kritisiere „die meisten“ Geburtshelfer, nehme sich selbst hingegen davon aus. Zusätzlich aber, und das ist hier das Wichtige, ist die Rezension gespickt mit Bemerkungen über Gumprechts jüdische Herkunft. Osiander beginnt bereits mit den Worten: „Der Herr Dr. Gumprecht, jüdischer Nation, […]“.412 Die dem Privatdozenten vorgeworfene Selbstgerechtigkeit stellt er als typisch jüdisch dar, indem er in der Fussnote eine entsprechende Anekdote über Juden zitiert.413 Er spekuliert ironisch über einen von Gumprechts Argumentationsgängen: „Ob diese Logik des Herrn Doctors etwan aus dem Talmud ist?“414 Lediglich eine Spitze am Rande mag es sein, dass er schliesslich das MatthäusEvangelium für eine indirekte Anspielung auf die geringe Frequenz in Gumprechts Arztpraxis zitiert.415 Sechs Seiten nach der Rezension, in der Miszellensammlung seiner „Annalen“, macht Osiander eine weitere Bemerkung, die mit grosser Sicherheit auf Gumprecht gemünzt war und von diesem auch als solche verstanden wurde.416 Eine Nachricht, dass Ureinwohner der Südsee bei europäischen „Heidenbekehrern“ um Hilfe bei schweren Geburten nachgefragt hätten, nimmt Osiander zum Anlass, diesen Ort Geburtshelfern zu empfehlen, „die keine Praxis in Europa finden“. „Nur dürfen es keine Juden seyn, denn das Sostrum [Arztlohn, E.W.] besteht bei diesen Insulanern gewöhnlich aus einem Schweinebraten.“417 Osiander greift damit auf typisch antijüdische Stereotype zurück: Er grenzt Gumprecht mit der bezeichneten Zugehörigkeit zur „jüdischen Nation“ aus der Mehrheitsgesellschaft der Christen bzw. Hannoveraner aus.418 Er wirft ihm einen selbstsüchtigen Charakter sowie eine „talmudische“ Verkehrung der Logik vor. Schliesslich macht er sich über die Andersartigkeit der jüdischen Religionsgesetze lustig, deren fast bedingungsloses Respektieren er zuvor andernorts mehrfach eingefordert hatte. Die nächste Runde im Streit läutete wiederum Gumprecht ein. Ein Jahr 412 Osiander (1801b), S. 152. 413 Die Fussnote lautet: „Es versteht sich von selbst, daß der Herr Privat-Docent unter den Meisten nicht begriffen ist. – Wem fällt hierbey nicht die Anecdote von dem Juden ein, welcher zu einem Beamten sagte: ›Wenn Ein ehrlicher Mann im Orte ist, so bin ichs und der Herr Amtmann‹.“ Osiander (1801b), S. 153. 414 Osiander (1801b), S. 156. 415 Osiander (1801)b, S. 152. 416 Siehe Gumprechts Klage darüber in UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 70r. 417 Osiander (1801c), S. 164. 418 Im Gegensatz dazu stellt Gumprecht sich im Folgejahr gegenüber dem Ministerium als Hannoveraner Patriot dar. Ursache seiner Rückkehr aus Kopenhagen sei „der Wunsch, in meinem Vaterlande zu leben und demselben vielleicht nützlich zu sein“, gewesen. UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 65r. Vgl. ähnlich auch der Trierer jüdische Arzt Lion Nathan Bernkastel. Kasper-Holtkotte (1993), S. 152.

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nach der ersten Veröffentlichung, im August 1801, verfasste er seine zweite Einladungsschrift „Ein Beitrag für die gerichtliche Geburtshülfe“, die diesmal auch die Ankündigung eines „Entbindungs-Klinikums“ enthielt.419 Mit dem „Klinikum“ war, kurz gesagt, eine halbprivate bis private Ausbildung der Studenten „am Krankenbett“ in der Regel armer Patienten gemeint, die nicht zwingend in den Räumlichkeiten irgendeines Hospitals, sondern häufig auch in der Wohnung des Arztes oder des Kranken stattfand. Solche Kliniken stellten frühe Formen späterer Polikliniken dar.420 Sie gerieten schnell in eine Konkurrenz zu den etablierten universitären Krankeneinrichtungen.421 „Klinische Institute“, auch ausserhalb von Kliniken, waren in Göttingen422 und nicht nur dort damals durchaus üblich. Mit diesem Angebot Gumprechts an die Studenten, gegen Bezahlung beobachtend und helfend bei Entbindungen in der Praxis mit dabei zu sein (während er gleichzeitig arme Schwangere mit unentgeltlicher Behandlung und einer Prämie unterstützen wollte), trat er in eine noch deutlichere Konkurrenz zu Osiander und seinem Entbindungshaus. In der Zwischenzeit hatte nämlich auch Gumprechts ärztliche Praxis ausserhalb der Universität merklich Aufschwung genommen. Besonders stolz war er darauf, mindestens eine Entbindung pro Woche durchzuführen.423 Die teils impliziten, teils expliziten Vorwürfe Gumprechts gegen Osiander in dieser zweiten Broschüre sind denjenigen der ersten ähnlich, nur sind sie schärfer formuliert. Osianders Primat der Entbindungskunst bezeichnet der Verfasser als „falsch und verderblich“. „Nur Ruhmsucht, niedriger Egoismus, gewissenlose Eitelkeit und Eigennutz“ würden manchen Geburtshelfer zu unnötigen Operationen verleiten.424 Das Schwergewicht liegt auf der Kritik am „geburtshilflichen Terrorismus“425 mit zu häufigen Operationen. Gumprecht waren die antijüdischen Spitzen Osianders beim Abfassen dieser Schrift bekannt. Im Nachhinein erklärt und entschuldigt er seinen zu 419 Gumprecht (1801). 420 Vgl. Kumsteller (1958), S. 10 ff. 421 Siehe Bueltzingsloewen (1997), S. 242 – 254. Ab den 1820er Jahren wurden die poliklinischen Einrichtungen zu einer beliebten Ausbildungsalternative zu den stationären Entbindungshäusern. Seidel (1998), S. 305 – 307. 422 Vgl. Kumsteller (1958), S. 14 – 40. Johann Peter Frank hatte ein Klinisches Institut im Jahre 1784 mit wenig Erfolg angeboten. Frank (1784); Bueltzingsloewen (1997), S. 243. Osiander führte sein geburtshilfliches Klinikum im Accouchierhaus durch. Seit 1796 bot der Chirurg und Physiologe Justus Arnemann ein chirurgisches Klinikum an. S. a. Arnemann (1796). Georg Wardenburg begann sein allgemeinmedizinisches Klinikum im gleichen Semester, in dem Gumprecht dies ankündigte. Wardenburg (1800). Der Mediziner Ludwig Christoph Wilhelm Cappel richtete seines 1801/2 ein. Vgl. auch Cappel/Jordan (1802). Es wurde 1803 von der Regierung nochmals ausdrücklich gutgeheissen, wenn auch nicht finanziell unterstützt. Im gleichen Jahr aber wurden die Einrichtungen zugunsten der Einrichtung im akademischen Hospital unter dem neuen Direktor Himly geschlossen. Vgl. UAGö Kur 4 IV a 20, Bueltzingsloewen (1997), S. 249. 423 UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 66r. 424 Gumpecht (1801), S. 4 f. 425 Gumpecht (1801), S. 9.

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„bitteren“ Ton in dieser Schrift als Reaktion darauf, dass Osiander ihn „auf eine in der literärischen Welt fast beispiellose Art“ wegen seiner Religion lächerlich gemacht habe.426 Doch im Gegensatz zu seinem Kontrahenten beschränkt er sich im weiteren Sinn auf eine medizinische Argumentationsebene. Lediglich wo er einige Äusserungen über den „Verfolgungsgeist der Kollegen“ macht, klagt er : „Trägt doch ein Schwabe kein Bedenken, die Religion seines Kollegen öffentlich lächerlich zu machen […]“.427 Für alle verständlich meint er damit Osianders Rezension, ohne diesen aber namentlich zu nennen. Gleichwohl versteckt er darin eine „Retourkutsche“ gegen Osiander, indem er diesen sozusagen an dessen „Ethnizität“ bzw. Fremdheit in Göttingen erinnert. Mit dieser Veröffentlichung ist der publizistisch ausgetragene Teil des Streites bereits weitgehend beendet und mit ihm die öffentliche und explizite Dimension des Antijudaismus. Nichtöffentlich und implizit geht die Geschichte indes noch weiter. Denn kaum war Gumprechts zweite Schrift erschienen, unter den Studierenden verteilt und durch einen Lehrbedienten „in mehrere Häuser gebracht worden“, da erhielt die Hannoveraner Regierung von dritter, Osiander nahe stehender Seite ein „Memoria“, dass diese Veröffentlichung „leicht in einen Scandal für die Universität ausschlagen“ könne. Gumprecht hatte die Schrift überdies ohne Genehmigung im „Ausland“ drucken lassen, weil die Fakultät in Person des Professors Wrisberg sie nur mit Streichungen durch die Zensur hatte passieren lassen wollen. Vier Tage später wurde auch Osiander selbst aktiv. Er beschwerte sich an gleicher Stelle über den Angriff auf seine Ehre und legte dem Ministerium nahe, Gumprecht damit zu bestrafen, dass ihm das angekündigte Klinikum verweigert werde – zumal er seine Fähigkeit dazu in Göttingen noch nicht nachgewiesen habe. Osianders Schreiben enthält lediglich einen sehr impliziten Hinweis auf die jüdische Herkunft Gumprechts.428 Osiander hatte allem Anschein nach Erfolg damit, sich nun auf diese Weise für die Angriffe zu revanchieren. Bereits am Folgetag, dem 1. September 1801,429 erliess das Ministerium die Weisung an die Universität, dass in Zukunft Collegia Clinica einer speziellen Genehmigungspflicht durch die Regierung unterstellt würden. Gumprecht blieb jedoch der einzige Dozent, dessen Antrag nicht genehmigt wurde. Einmal eingeschaltet, zog das Ministerium als Aufsichtsbehörde der Universität die Angelegenheit schnell an sich. Zusammen mit der Universitäts426 UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 71v. 427 Gumprecht (1801), S. 9. 428 Osiander bezeichnete den gebürtigen Göttinger mit den Worten „der hier als Privat-Docent sich aufhaltende“ Gumprecht und spielte damit darauf an, dass er kein Bürger, sondern ein geduldeter jüdischer Akademiker sei. UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 7. 429 Es ist durchaus möglich, dass der Behörde Osianders Schreiben bereits vorlag. Vgl. für die Kommunikations- und Entscheidungsgeschwindigkeit zwischen der Universität und der Regierung in Hannover Brüdermann (1990), S. 68 f.

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verwaltung als ausführendem Organ wurde es zum kommunikativen Zentrum der folgenden Entwicklungen. Es leitete die Einziehung der inkriminierten Schrift und die Bestrafung Gumprechts zu 100 Reichstalern wegen des unerlaubten Druckes ein. Zudem verhinderte es nunmehr, dass Gumprecht das vom Dekan eigentlich schon genehmigte Entbindungs-Klinikum abhalten konnte.430 Darüber hinaus rügte die Regierung auch Osiander, wo sie dies für notwendig hielt. Das Ministerium teilte zwar dessen Meinung über die „tadelnswerten Ausfälle des Dr. Gumprecht“.431 Ihm war aber auch Osianders Rezension der ersten Schrift bekannt geworden, und so teilte es dem Autor mit, „ daß wir die von Euch […] gebrauchten Anspielungen auf seine Religion sehr gemißbilligt haben“. Die Behörde mahnte ihn, „daß Ihr Euch in Zukunft aller Persönlichkeiten enthalten und Euch einer anständigen und gesitteten Schreibart befleißigen werdet.“432 Osianders zwei Wochen später verfasste Antwort darauf zeigt, dass es sich bei seinen Äusserungen um keinen einmaligen Ausrutscher im Affekt gehandelt hatte, sondern um ein wohl abgewogenes Vorgehen. Osiander beharrte fast trotzig auf dem Recht, die Persönlichkeit Gumprechts blossstellen zu dürfen – auch wenn er dies der Quellenlage nach nicht mehr öffentlich tat. Der Professor zählte detailliert auf, wie oft er Gumprecht gefördert hatte, und wie oft dieser durch öffentliche Kritik an ihm Undank gezeigt habe. Mehr aber noch führte er seine Erfahrungen auch in dieser Replik auf jüdische Eigenarten zurück. So beginnt der Brief, Gumprecht habe sich im Jahre 1793 „auf eine seiner Nation eigene und bekannte Weise bei mir einzuschmeicheln gewußt […]“, auf sein Entgegenkommen aber mit dem entsprechenden Undank reagiert. Dafür sei die höchst beleidigende und hämische Schrift aus dem vorangegangenen Jahr das jüngste Beispiel. „Darauf glaubte ich nun, daß er mit Spott und Verachtung abgefertigt zu werden verdiene und daß ihm, da er sich auf die seiner Nation allgemein schuldgegebene unredliche Weise gegen mich wiederholt benommen habe, zu verstehen gegeben werden dürfte, er bestätigte vollkommen die üble Meynung von seiner Nation.“433 Mit dem Wiederaufbringen einer Jahre zurückliegenden, in Osianders Augen bereits beglichenen Geldforderung an ihn habe Gumprecht schliesslich „einen neuen Beweis seiner Denkungsart“ abgelegt.434 Die weitere Auseinandersetzung zwischen Gumprecht und Osiander bzw. der Hannoveraner Regierung zog sich noch bis ins Frühjahr des Jahres 1803 hin. Argwöhnisch beobachtete Osiander das geburtshilfliche Verhalten Gumprechts und versuchte ihn in seiner Tätigkeit zu behindern. So zeigte er 430 UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 21, 23. Seine sonstigen universitären Veranstaltungen durfte Gumprecht weiterhin durchführen. 431 UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 9. 432 UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 9. 433 UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 31r. 434 UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 32v.

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diesen bei der Staatsregierung an, wenn nur der Verdacht bestand, sein Schüler hätte das „Klinikum“ trotz des Verbotes in Ansätzen abgehalten. Die Regierung verfolgte Gumprecht in Osianders Sinn mit ausgesprochener Härte, nämlich einer weiteren Geldstrafe von 20 Reichstalern wegen Beleidigung und der Androhung des „consilium abeundi“. 21 von Gumprechts Studenten setzten sich offen für ihn ein. Gumprecht verteidigte sein Verhalten u. a. mit der Berufung auf gängige universitäre Praxis, hatte damit aber keinen Erfolg. Gumprechts jüdische Herkunft war bei all dem jedoch kaum noch explizit angesprochen. Treibende Kraft dieser letzten Phasen war das Hannoveraner Ministerium. Auffällig ist, dass es gegen Gumprecht mit ausgesprochener Härte und Konsequenz vorging und ihn dabei zum Teil wesentlich rigider behandelte als seine Dozentenkollegen. Auch wenn es letzten Endes nicht nachgewiesen werden kann,435 ist es doch durchaus möglich bis wahrscheinlich, dass das Ministerium mit seinem Verhalten auch den Juden Gumprecht meinte, ohne dies offen anzusprechen.436 Im Gegensatz zu den öffentlichen Anwürfen gegen Gumprecht als Juden würde in diesem Fall die systematische bürokratische Behinderung, wenn nicht gar Verfolgung Gumprechts, eine subtile, nicht aber eine schwächere Form des Antijudaismus bedeuten. Einfacher ist die Einordnung von Osianders Verhalten, weil er an zwei Stellen explizit die jüdische Dimension seines Streites mit Gumprecht anführt. Nun war Osiander für seine rigide Ausdrucksweise bekannt, doch blieben Vorwürfe in medizinischen Streitigkeiten in der Regel auf das Medizinische beschränkt.437 Zweifellos hatte Gumprecht den Professor von Kollege zu Kollege äusserst hart angegriffen, worüber dieser entsprechend aufgebracht war. Und zweifellos stellten die langsam zunehmenden Aktivitäten Gumprechts eine immer grössere Konkurrenz für ihn dar. Nicht dass der Privatdozent dem Professor und Klinikleiter den Rang hätte ablaufen können. Aber Gumprecht als einziger weiterer Lehrender der Geburtshilfe an der Universität Göttingen war sicherlich eine gewisse Bedrohung für die Position Osianders dort. Als gleichzeitiger Leiter des akademischen Krankenhauses erlebte Osiander etwa im gleichen Zeitraum die Konkurrenzsituation verschiedener paralleler Collegia Clinica und beklagte sich darüber.438 Sicherlich auch aus 435 Vgl. ähnliche Schwierigkeiten des Nachweises im Fall der verspäteten Habilitation und Berufung zum Extraordinarius bei dem jüdischen Mediziner Robert Remak. Schmiedebach (1995), passim, zusammenfassend S. 287 – 290. 436 Lediglich eine Formulierung des Ministeriums steht im Zusammenhang mit Gumprechts fehlendem Bürgerrecht als Jude. Das Ministerium drohte in einem Schreiben an, er würde im Fall einer weiteren Zuwiderhandlung „von Göttingen ohnfehlbar entfernt“. UAGö Kur 4 IVa 20, Bl. 51r. 437 Vgl. etwa Osiander (1799), Darstellung, vor allem S. 50 – 60. Es war indes nicht möglich, im gedruckten Werk Osianders einen ähnlichen Fall zu finden, in dem er von einem christlichen Arzt angegriffen wurde. Zur Polemik in Osianders Werk vgl. Kumsteller (1958), S. 43. 438 Vgl. Kumsteller (1958), S. 40 f.

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diesem Grund kanzelte er den Nachwuchswissenschaftler in der Rezension ab, drängte darauf, dass er für seine Handlungen bestraft und in seinen akademischen Aktivitäten erheblich eingeschränkt wurde. Doch tat er dies auch, weil Gumprecht Jude war. So antijüdisch die spezifischen Äusserungen Osianders einerseits waren, so verhältnismässig untypisch sind sie andererseits als Beispiele für Polemiken gegen jüdische Ärzte. Solche Polemiken haben eine lange, ins Mittelalter zurückreichende Tradition. Doch sie richteten sich in der Regel gegen jüdische Ärzte allgemein und verblieben nicht so ausgesprochen eng an dem einen persönlichen Beispiel, wie Osiander es tut. Diese Polemiken warfen jüdischen Ärzten etwa Inkompetenz wegen des Fehlens einer universitären Ausbildung oder den Gebrauch illegitimer Therapien vor. Dies war im Falle Gumprechts als „normalem“ studiertem Arzt nicht möglich. Bezeichnenderweise waren solche Polemiken in der Aufklärungszeit, als Juden zunehmend die Möglichkeit zu einer universitären medizinischen Ausbildung bekamen, auch verhältnismässig selten. Überhaupt fehlen bei Osiander alle auf die medizinische Praxis bezogenen Vorwürfe gegen den Juden Gumprecht, bis auf einen: die Herabsetzung als einen typisch jüdisch handelnden Menschen, der in diesem Fall angeblich jüdische Eigenschaften wie Überheblichkeit und Eigennützigkeit verkörpere.439

Ein vermeintlicher Widerspruch Damit stehen wir vor einem deutlichen Widerspruch: Einerseits forderte Osiander offensichtlich aus Überzeugung eine Toleranz gegenüber der Religionsausübung und praktizierte dies auch bei seinen jüdischen Patientinnen. Er half gleichzeitig aktiv dabei mit, dass jüdische Mediziner sich in der Geburtshilfe mit einer gewissen Gleichberechtigung gegenüber ihren christlichen Kollegen betätigen konnten. Mit all dem repräsentierte er typische Vorstellungen der Aufklärung. Andererseits würdigte Osiander seinen Schüler Gumprecht wegen seines Judeseins in der Öffentlichkeit mit pauschalen antijüdischen Stereotypen herab. Er machte sich über seine religiöse Praxis lächerlich und versuchte ihn symbolisch wie auch praktisch aus der akademischen Gemeinschaft auszugrenzen. Wie aber erklärt sich dieser Widerspruch? Eine einfache Erklärung könnte sein, dass Osianders Vorstellungen über die Juden nur oberflächlich am Geist von Toleranz und Gleichberechtigung orientiert waren. Dies reichte für den alltäglichen Umgang mit Juden. Darunter aber hatten überlieferte Bilder von der moralischen Minderwertigkeit der Juden latent überlebt. Sie konnten in einer extremen Situation wieder aufbrechen. Eine solche entstand für Osian439 Siehe als Überblick über die Geschichte der Polemiken gegen jüdische Ärzte Kümmel (1998) und die darin herangezogene Literatur, etwa Hortzitz (1994).

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der offensichtlich durch den recht scharfen Angriff. Der Gegner war zudem geographisch nah, sogar persönlich bekannt. Gumprecht verschlüsselte die harten Angriffe so, dass es dem Wortlaut nach keine persönlichen Beleidigungen waren, aber jeder sehen konnte, dass Osiander gemeint war. Trotzdem konnte Osiander sich nur bedingt darauf berufen, angesprochen zu sein. Schliesslich konnte er vermuten, dass Gumprecht ihm am Ort mit seinem Vorstoss als Konkurrent seinen Platz als Meinungsführer der Geburtshilfe streitig machen wollte. Von einem Juden unter solchen akademischen Druck gesetzt, vielleicht sogar überfordert, brachen die alten, hier bestätigt geglaubten Stereotype vom moralisch schlechthin minderwertigen Juden wieder auf. Seine jüdischen Patientinnen hingegen hatten weder die Machtmittel, ihn in eine solche Bedrängnis zu bringen, noch wurden sie von ihm als individuelle Persönlichkeiten wahrgenommen. So plausibel diese Erklärung (nicht: Rechtfertigung) erscheinen mag und so zeittypisch etwa die Zurücksetzung eines jüdischen Ärztekollegen aus Konkurrenzdenken gewesen ist,440 so scheint sie mir den Kern des Osianderschen Verhaltens nicht ganz zu treffen. Eine viel nüchternere zusätzliche Erklärung findet sich, wenn man den Fall vor dem Hintergrund seiner Epoche sieht. Er passt sich nämlich vorbildlich in die christliche Diskussion dieser Zeit über die Judenemanzipation ein. Religionstoleranz und Emanzipation waren zwei unterschiedliche Teile der aufklärerischen Debatte um die Juden, und jeder konnte in gewissem Masse auch ohne den anderen auskommen: Toleranz ohne Emanzipation und Emanzipation ohne Toleranz. Gerade bei Osiander wird das besonders deutlich, weil beide Teile, soweit sie in den Quellen dokumentiert sind, jeweils anderen Adressaten bzw. anderen Lebensbereichen galten. Religionstoleranz thematisierte Osiander vor allem im Umgang mit den (weiblichen) Patientinnen der Accouchieranstalt. Zwischen diesen und den Geburtshelfenden bestand in seinen Vorstellungen, und de facto bei einer Persönlichkeit wie ihm selbst, ein extrem hierarchisches Verhältnis, egal, ob die Patientinnen nun Jüdinnen oder Christinnen waren. Jüdinnen waren so allenfalls das Objekt von Toleranz. Die Frage der Gleichberechtigung stellt sich ihm hier erst gar nicht, nicht zuletzt, weil diese Jüdinnen bzw. die neugeborenen Judenkinder in seinen Augen „anders“ waren als Christen. Osiander zeigt nämlich deutlich, dass er die jüdischen Patientinnen der Gebäranstalt als etwas anderes als die Mehrheitsgesellschaft wahrnahm. Immer wieder verzeichnete er bei diesen Patientinnen im Tagebuch der Anstalt, dass es sich um „eine Jüdin“ oder „eine Israelitin“ bzw. gar „eine getaufte Jüdin“ handelte, während die Religion oder Herkunft der anderen, auch aus der katholischen 440 Siehe etwa die Biographie des Trierer Arztes Lion Nathan Bernkastel, eines Geburtshelfers mit recht ähnlichen Lebensdaten, der an seinem Wirkungsort zwar als niedergelassener Arzt sehr erfolgreich war, bei der Besetzung öffentlicher Ämter aber immer wieder mit Angriffen und Zurücksetzung konfrontiert wurde. Siehe Kasper-Holtkotte (1993), passim.

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Minderheit, nicht besonders hervorgehoben wurden. Die Anzahl der jüdischen Patientinnen benannte er zum Teil in gedruckten Berichten.441 Er notierte bei Juden auch mehr Umstände des Aufenthalts als bei den nichtjüdischen Patientinnen. Das mag zum Teil daran gelegen haben, dass die Geschichten der jüdischen Patientinnen mehr Berichtenswertes enthielten als die anderen.442 Die Häufung dürfte aber auch an Osianders erhöhter Wahrnehmung der Juden als etwas in seiner Sicht Aussergewöhnlichem liegen. Deutlich wird der Übergang zwischen beidem im Fall der jüdischen Schwangeren Jette Meyer etwa ein Jahr vor Osianders Tod. Die Tochter des Petschierstechers aus der Grafschaft Hohnstein kam am 27. April 1821 mit einem Sohn nieder, der statt einer Vorhaut nur einen kleinen „wulstigen Rand“ hatte.443 Osiander hielt nicht nur dies im Tagebuch detailliert fest, sondern auch die Physiognomie des Kindes: „völlig jüd. Kopf; schmale Stirne, schwarze Haare, verknöcherte Fontanelle, großer Mund, besonders breite Oberlippe“.444 Sonst beschränkte Osiander sich allenfalls auf eine knappe Beschreibung anatomischer Besonderheiten des Neugeborenen, ohne sie zu klassifizieren. Damit stellte er Juden in der Regel eher als aussergewöhnlich hin, ohne jedoch eine direkte Wertung einzubauen.445 Dies kommt sogar in den oben angeführten, grundsätzlich rücksichtsvollen Äusserungen zur Beschneidung in seinem Hebammenlehrbuch zum Ausdruck: Während er die Taufe generell als „ehrwürdig“ bezeichnet, sagt er von der Beschneidung indirekt, dieses Ritual sei „sonderbar“.446 Die (männlichen) jüdischen Ärzte oder Medizinstudenten hingegen hatten bei Osiander einen grundsätzlich anderen Status als die armen schwangeren Jüdinnen. Er hob ihre jüdische Herkunft in den Berichten nicht hervor und stellte sie eben nicht als etwas Besonderes hin. In seinen Augen müssen sie demnach in erster Linie Ärzte jenseits ihrer Religion gewesen sein. In diesem Sinne waren sie für Osiander emanzipiert, eben Berufskollegen. Auf diese Weise würde sich auch der Unterschied zu denjenigen Autoren erklären, die Judenärzte pauschal herabwürdigten, weil sie sie generell aus der Medizin ausgegrenzt wissen wollten. Dass es ihm speziell bei den Medizinern um die Emanzipationsfrage ging, machte Osiander auch deutlich, wenn er Gumprecht 441 Osiander (1795a), S. 27. 442 So wurde das Neugeborene einer der Jüdinnen später tot aufgefunden. Siehe das „Tagbuch“ ab Ende September 1809 (Magdalena Benjamin). Von einer anderen wurden Streitigkeiten mit den anderen Schwangeren berichtet und dass sie „eine öffentliche Hure in Geismar gewesen“ sei. Siehe das „Tagbuch“ ab Ende September 1809 (Feilchen Feiglmännin). Über wieder eine andere schrieb Osiander : „Die Juden nahmen sich ihrer nicht an, weil sie sagten, sie sei schon zum zweiten Mal von ihrem Schwager schwanger“. Siehe „Tagbuch“ ab Juni 1820 (Jette Meyer). 443 Siehe „Tagbuch“ ab Juni 1820. Zu diesem Phänomen siehe Gilman (1991). 444 Ähnlich die (nicht wertende) Beschreibung jüdischer Schädel bei seinem Göttinger Kollegen Johann Friedrich Blumenbach. Poliakov (1983), S. 157 f. 445 Ähnlich das Herausheben des Andersseins bei den von ihm so genannten „wilden Völkern“, deren Darstellung bei Osiander allerdings häufig herabwertend ist. Vgl. Loytved (1995), S. 15 f. 446 Osiander (1796), S. 650 f.

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in der Rezension und mehrfach gegenüber der Regierung nicht – entsprechend den Patientinnen – als „Jude“ bezeichnete, sondern schrieb, er sei „jüdischer Nation“. Osiander griff damit gezielt den Terminus heraus, der im Gegensatz zum Begriff des Juden die Staatsbürgerschaft bzw. das Bürgerrecht und damit den Kern der Emanzipationsfrage implizierte.447 Osiander aber unterliess es nicht nur, die jüdischen Medizinerkollegen als etwas Besonderes darzustellen. Im Gegenzug durften diese in der Ausübung ihres Berufs auch nicht weiter als aussergewöhnlich auffallen. Weil es zumindest im öffentlichen Raum der medizinischen Berufsausübung für Osiander kein Anderssein der Juden geben durfte, war Toleranz bei den Medizinerkollegen für ihn keine Frage, es wurde auch nicht thematisiert. Privat liess Osiander diese jüdischen Ärzte wahrscheinlich ihrer Religion nachgehen. Dieses System hätte „konfliktfrei“ funktionieren können, hätte Gumprecht in Osianders Augen nicht die Regeln übertreten und etwas „Jüdisches“ hineingebracht. Dass Osiander Gumprechts Verhalten als typisch jüdisch ansah, zeigt allerdings, dass seine Vorstellungen von Toleranz und Emanzipation eines überhaupt nicht beinhaltete, was wir heute wie selbstverständlich zur Abkehr vom Antijudaismus zählen: die Abkehr vom religiös-ethnischen, abwertenden Stereotyp „des Juden“. Im Gegenteil bauten Osianders „aufgeklärte“ Vorstellungen von den Juden notwendig darauf auf. Für ihn gab es allem Anschein nach zwei Sorten Juden: die einen, die „jüdisch“ sein durften, aber dafür nicht emanzipiert wurden, und die anderen, die emanzipiert waren, aber dafür nicht „jüdisch“ sein durften. Beide Vorstellungen basierten auf der grundsätzlichen Annahme, dass Juden, wenn sie „Juden“ waren, a priori ganz bestimmten Charakteristika entsprächen. In diesem Fall waren sie hintertrieben, schmeichelten sich ein und nutzten die Christen aus, weil sie es vor allem auf deren Geld und Einfluss abgesehen hatten, wie Osiander das Hannoveraner Ministerium ohne grosse Emotionen belehrte. Diesem Stereotyp hatte Gumprecht in Osianders Augen entsprochen. Es steht allerdings zu überlegen, ob Gumprecht, hätte er sich auf eine andere Art ebenso provozierend verhalten, nicht von Osiander auf eine andere Art als „jüdisch“ dargestellt worden wäre. Es ist anzunehmen, dass die Regelübertretung Gumprechts überhaupt darin bestand, als Jude sich anders zu verhalten als Osiander es von ihm erwartet hatte, oder einfach: ihm negativ aufzufallen. Dies wiederum führt zu Osianders Vorstellungen über die Gleichberechtigung der Juden. Juden sollten in diesem Sinne nur unter der Bedingung emanzipiert werden, dass sie (ausserhalb des Privatlebens) nicht als „Juden“ auffielen. Im Grunde hielt sich Gumprecht an diese Vorgaben: Er versuchte, als Kollege unter Ärzten wahrgenommen zu werden und thematisierte mit einer kleinen und späten Ausnahme sein Judesein in dem Streit nicht. Doch die Definition des Jüdischen lag bei den Christen und war grundsätzlich variabel. In christlichen Augen durften also Juden nicht negativ auffallen, weil 447 Erb/Bergmann (1989), S. 18.

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dies ihr „Jüdischsein“ bewiesen hätte und sie dadurch ihr Recht auf Emanzipation ,verscherzt‘ hätten. Eben dies aber hatte Gumprecht gegenüber Osiander in extenso getan, indem er womöglich Osianders Hilfestellungen nicht genug respektiert hatte, ihn vor allem aber fachlich und darüber hinaus auch persönlich attackiert hatte. Osianders antijüdische Bemerkungen gegenüber Gumprecht waren in diesem Sinne kein Ausfall im Affekt, sondern eine logische Konsequenz seiner Vorstellung über die Emanzipation der Juden. Mit ausgesprochener Deutlichkeit erklärte Osiander dies dem Ministerium gegenüber, und die Behörde scheint es verstanden zu haben, weil sie dem nicht mehr widersprach: Gumprecht hatte sich auf eine „seiner Nation eigene und bekannte“ bzw. „seiner Nation allgemeine schuldgegebene unredliche Weise“ verhalten – mit anderen Worten, er hatte sich als „Jude“ verhalten. „Darauf glaubte ich nun, daß er mit Spott und Verachtung abgefertigt zu werden verdiene und […] zu verstehen gegeben werden dürfte, er bestätigte vollkommen die üble Meynung von seiner Nation“.448 Weil Gumprecht sich nicht unauffällig verhalten hatte, wie es von den „emanzipierten“ jüdischen Ärzten und Medizinstudenten erwartet wurde, wurde er in Osianders öffentlicher Darstellung zumindest zeitweise von der Gruppe der emanzipierten Juden in die Gruppe der „Juden“, d. h. der lediglich tolerierten „anderen“ symbolisch zurückversetzt: er wurde als „Jude“ dargestellt. Es wäre aber unzureichend und zu grob beschrieben, dies nur im klassischen Sinne als antijüdische, ablehnende Bemerkungen zu verstehen. Denn Osiander ging ja eigentlich davon aus, dass Gumprecht als Arzt „den Juden“ bereits hinter sich gelassen hatte. So schrieb Osiander selber, dass er ihm damit spielerisch, sozusagen in der Form eines Rügebrauchs, in der Öffentlichkeit einen Zerrspiegel vorhalten wollte. In diesem sollten er und die Leser das Klischee des Schacherers und Talmudisten sehen, dem Gumprecht sich angeblich selbstverschuldet wieder angenähert habe. Auch die Bemerkung mit dem Schweinefleisch ist damit im direkten Sinne keine religiöse Intoleranz (und damit kein Widerspruch zu seinen Äusserungen über die Beschneidung), sondern als „Spott“ gedacht. Damit wird es auch verständlicher, warum sich Osianders Anwürfe gegen Gumprecht verhältnismässig schwer in die Tradition der Polemiken gegen jüdische Ärzte allgemein einpassen. Sie sind nämlich keine platte Polemik gegen jüdische Ärzte, sondern eine Art Erziehungsakt gegenüber einem einzelnen jüdischen Arzt. Eine solche „Pädagogik“ scheint letztlich auch das Hannoveraner Ministerium akzeptiert zu haben. Zwar kritisierte es Osiander zunächst wegen seiner publizierten Bemerkungen über Gumprechts Religion. Die zitierte

448 UAGö Kur 4 IV a 20, Bl. 31r.

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Deutung seines Vorgehens nahm das Ministerium dann aber „wohlgefällig“449 und ohne Widerspruch auf. Ein Rügebrauch ist aber auch hier mehr als ein Spiel: Zwischen den Zeilen steht die Erinnerung an die Vorläufigkeit der relativen Emanzipation geschrieben: Gumprecht solle nicht vergessen, dass er immer noch zur „jüdischen Nation“ gehöre, auch wenn er zwischenzeitlich Aufenthaltsrecht in der „Gelehrtenrepublik“ habe. Es ist die Drohung, den einseitig formulierten, sektoralen Emanzipationsvertrag aufzukündigen und ihn sozusagen zurück ins Ghetto zu schicken. Dass dem so war, zeigt Osianders Reaktion, nachdem Gumprecht ihn darauf folgend ein zweites Mal angegriffen hatte. Bezeichnenderweise ermahnte er Gumprecht nun nicht mehr, sondern unternahm lediglich die ihm möglichen konkreten Schritte, Gumprecht die deutlichsten Errungenschaften der bürgerlichen Gleichberechtigung bzw. der Gleichheit mit ihm wieder wegzunehmen: zunächst das Klinikum und dann den Dozentenstatus an der Universität. Die Regierung in Hannover trug ihren Teil zu dieser Politik bei und sorgte lediglich für die Begrenzung, dass die Anwürfe gegen die Religion Gumprechts nicht öffentlich geäussert wurden. Die Göttinger Medizinische Fakultät dürfte sich über die Kritik an ihrem nicht sehr geliebten Kollegen Osiander gefreut haben, hielt sich mit einer Unterstützung Gumprechts der Aktenlage nach aber zurück. Lediglich Gumprechts Studenten setzten sich in einer Petition für ihn ein. Was eingangs wie ein Widerspruch aussah, ist damit Ausdruck einer kohärenten Überzeugung: Aufklärerische Toleranz und aufklärerisches Emanzipationsdenken bedingten hier keine Abkehr vom antijüdischen Stereotyp, von der Überzeugung, dass Juden, solange sie „Juden“ sind, moralisch schlechte Menschen seien. Solche schlechteren Menschen werden lediglich auf einer unteren Ebene geduldet. Auf der gleichen Ebene müssen sie aufhören, schlechtere Menschen, d. h. „Juden“ zu sein, sonst werden sie wieder deklassiert. Diese Interpretation von Osianders Verhalten könnte spekulativ oder der Fall selber als untypisch erscheinen, würde er sich nicht der Form und in der vorgeschlagenen Betrachtungsweise dem Inhalt nach auffallend gut in seine Zeit einpassen. In vielerlei Hinsicht stellt dieser wissenschaftliche Streit nämlich nichts Ungewöhnliches dar. Obwohl jeder damalige medizinischwissenschaftliche Disput anders als die anderen ablief, weisen doch die meisten von ihnen mehr oder weniger ähnliche Einzelbestandteile auf, die sich auch hier wieder finden.450 Damit steht der antijüdische Hintergrund von Osianders Verhalten in einem relativ zeittypischen Rahmen von Streitkultur. Auch inhaltlich passt sich Osianders Argumentation in der vorliegenden Interpretation gut in die damalige Debatte um die Emanzipation der Juden 449 Dies bezog sich auf den gesamten Brief Osianders und nicht nur auf die antijüdischen Passagen darin. 450 Harley (1990); Loytved/Wahrig-Schmidt (1998).

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ein. Christian Wilhelm Dohm und andere Verfechter der Judenemanzipation hatten die Gleichstellung der Juden mit den Vorstellungen über ihren Charakter in Verbindung gebracht. Unverschuldet hätten sie Eigenschaften angenommen, die ihrer Nützlichkeit im Staat als gleichberechtigte Bürger entgegenstünden. So übten sie z. B., physiokratisch gesehen, keine produktiven Berufe aus. Somit basierten nicht nur die Vorstellungen der Emanzipationsgegner, sondern auch die Dohms und seiner Mitstreiter auf gängigen negativen Stereotypen über die moralische oder kulturelle Minderwertigkeit der „Juden“.451 Die Forderung nach Emanzipation basierte damit, pauschal gesprochen, nicht auf der Überwindung von Vorurteilen, sondern auf deren Bestätigung.452 Lediglich aufgrund dieses Negativbildes von „den Juden“ konnten Dohm und seine Geistesgenossen das Emanzipationsziel nicht als Selbstverständlichkeit und Menschenrecht betrachten, sondern mit der Forderung nach einer „bürgerlichen Verbesserung“ verbinden. Da „Verbesserung“ aber im Kern die Aufgabe „jüdischer“ Eigenschaften meinte, war der aufgeklärt-etatistische453 Weg der Emanzipation einmal mehr, einmal weniger mit der Forderung oder Erwartung verbunden, dass die Juden für ihre Gleichstellung das „Jüdische“ und damit ihre Gruppenidentität aufgeben müssten.454 Explizit bestand das Ziel etwa darin, „daß der Jude entjudet werde“.455 Dementsprechend hat die Forschung zu Judenemanzipation und Antijudaismus dieser Zeit mehrfach darauf hingewiesen, dass es in der Emanzipationsdebatte vor allem um die Emanzipation von einzelnen Juden456 als Individuen ging, nicht aber um die Emanzipation des Judentums als sozialer Gruppe mit ihrer eigenen Kultur.457 Ähnlich hatte sich im Göttingen des ausgehenden 18. Jahrhunderts im Übrigen auch Georg Christoph Lichtenberg gegenüber Juden verhalten.458 451 Vgl. z. B. Jersch-Wenzel (1996), S. 20. Ausführlicher in Erb/Bergmann (1989), S. 28 ff. 452 Aus dieser Perspektive ist die damals zentrale Frage, ob die Juden selbst schuld an ihrer Verderbtheit seien, hier von nachgeordneter Bedeutung. 453 Im Gegensatz zur „liberal-revolutionären“ Variante, die die rechtliche Gleichstellung nicht an Bedingungen knüpfte. Vgl. Battenberg (1990), S. 86 – 90. 454 Erb/Bergmann (1989), S. 29, 46; Battenberg (1990), S. 108; Sorkin (1990), insbesondere S. 20. 455 Rürup (1975), S. 24, einen Kommissionsbericht der II. Kammer des württembergischen Parlaments von 1828 zitierend. Allgemein hierzu Rürup (1975), S. 85 f. 456 Rürup (1975), S. 24. Im Gegensatz zum individualisierten Recht auf Emanzipation wurde den Juden für die Erfüllung der Bedingungen für die Gleichstellung, nämlich der Akkulturation, allerdings eine Kollektivverantwortlichkeit auferlegt. Erb/Bergmann (1990), S. 57. 457 Siehe Poliakov (1983), S. 215. Zuvor zeigt der Autor am Beispiel Immanuel Kants den Gegensatz zwischen einem abwertenden Bild von den „Palästinensern“ und der gleichzeitigen Wertschätzung einzelner Juden unter seinen Kollegen bzw. Schülern, siehe Poliakov (1983), S. 202 – 204. Auf eine ähnliche Art charakterisierte Poliakov auch Lessings Bemühungen um die Anerkennung der Juden. In dessen Theaterstück „Die Juden“ sei es diesem weniger darum gegangen, „für die Sache einer sozialen, durch das Judentum gebildeten Gruppe einzutreten, als gegen das Vorurteil zu kämpfen, daß auf Grund dessen alle Juden notwendigerweise schlecht sein müßten“, siehe Poliakov (1983), S. 188. 458 Anhand seines Briefwechsels zeigt sich, wie Lichtenberg die Juden als Gruppe in der Regel

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Sicherlich waren solche Forderungen in den allgemeinen Wunsch eingebettet, den alten Ständestaat mit dem Ziel einer einheitlichen Bürgergesellschaft zu überwinden. Nur war die Judenemanzipation eben kein Zurückdrängen einer gesellschaftlichen Untergruppe, sondern die Integration vormals Aussenstehender unter der Bedingung, sozusagen in eine neue Kultur überzutreten. Nicht allein in der Forderung nach Aufgabe des „Jüdischseins“ zeigt sich, wie typisch Osianders Argumentation war. Auch in dem von ihm beschrittenen Weg der Beobachtung und ggf. der Erziehung Gumprechts ist dies der Fall. Emanzipation war zumindest in den Augen der etatistischen Fraktion der Emanzipatoren ein „Erziehungsprozess“, in dem die Juden gezielt dazu gebracht werden sollten, ihren „verdorbenen Charakter“ zu „verbessern“. Emanzipationsschritte sollten nur in dem Masse zugestanden werden, in dem sich die Juden wirklich „verbesserten“. Auch Osianders „Rügebrauch“ kann als ein solcher Erziehungsversuch verstanden werden, nur dass die kontrollierende und erziehende Instanz hier keine staatliche Einrichtung,459 sondern ein akademisch über ihm stehender Kollege war. Schliesslich kann man Osianders weitere Reaktion als „Enttäuschung“ über das Scheitern eines persönlichen Erziehungsprojekts verstehen und auch hier die Parallele zur „Verbesserung“ der Juden im Allgemeinen feststellen. Denn aufgrund der fast unerreichbar hochgesteckten und verhältnismässig beliebig formulierten Ziele erwies sich dieses Erziehungsprojekt ohnehin als enttäuschungsanfällig.460 Antijüdische Stereotype und kulturelle Intoleranz stehen damit nicht grundsätzlich im Widerspruch zu Emanzipationsvorstellungen. Sie sind stattdessen ein integraler Bestandteil eines Emanzipationsverständnisses, das gesellschaftlich Aussenstehenden nur unter der Bedingung der Selbstverleugnung ihrer Kultur Zutritt zur Mehrheitsgesellschaft ermöglicht.461 Oder noch allgemeiner : Eine Überzeugung, einzelnen Individuen Toleranz und ablehnte. In seinen Briefen finden sich verschiedentliche Ironisierungen der kulturellen Besonderheit der Juden (Beschneidung, Speisegesetze). Auf der anderen Seite steht die relative Wertschätzung einzelner Juden, zeitwiese etwa seines Göttinger Bankiers Moses Gumprecht, mit dem er einen philosophischen Briefwechsel über Moses Mendelssohn führte. Vgl. Lichtenberg (1983 – 1992). Im Jahre 1795 verwandte sich Lichtenberg zudem stark für den frisch examinierten jüdischen Arzt Salomon Anschel (s. o.), um ihm bei dessen Suche nach einer Anstellung zu helfen. Indes pries Lichtenberg Anschel als positive Ausnahme unter den Juden, etwa was seine Bescheidenheit betreffe. Lichtenberg, Band 4 (1992), S. 399, 425 – 429. 459 Erb/Bergmann (1989), S. 37 f.; Rürup (1975), S. 16 – 18, 23. 460 Erb/Bergmann (1989), S. 37 f., 45, 53. 461 Rürup (1975), S. 24; Berding (1988), S. 54. Erb/Bergmann sehen die antijüdischen Vorstellungen darüber hinausgehend nicht nur als einen Bestandteil dieser Form von Emanzipation, sondern zumindest zum Teil als deren Triebkraft, wenn sie sagen, dass die Idee einer solchen Emanzipation, die das Judentum auslöschen will, teils gerade aus dem antijüdischen Impetus entstanden sei, die „schädlichen“ Juden auf diese Weise unschädlich zu machen. Rürup (1975), S. 35 f.

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Gleichberechtigung entgegenzubringen, bedeutet noch nicht automatisch, eine Bevölkerungsgruppe in ihrer Kultur zu respektieren. Dies ist heute noch genauso aktuell wie damals, auch und gerade was Juden betrifft. So zog Michael Brenner einmal eine Linie wohlmeinender Beiträge zur „Judenfrage“ von Theodor Mommsen bis Martin Walser und Rudolf Augstein. Ihren Verteidigungen der Juden sei eine Weigerung gemein, „das Fremde in den deutschen Juden anerkennen zu können […]. Als Menschen mag man sie wohl tolerieren, nicht jedoch als Juden“.462 Die Geschichtswissenschaft hat solche antijüdischen Vorstellungen in den theoretischen oder allgemein gehaltenen Plädoyers für die Emanzipation und „Verbesserung“ der Juden nicht immer sehr deutlich gesehen. Das mag daran liegen, dass das ebenso humanistisch wie judenfreundlich verstandene Ziel der Gleichberechtigung und die „Leuchtkraft“ der „guten Seiten“ innerhalb dieses Erziehungsprozesses (etwa die Unterstützung im Bildungswesen oder die Öffnung von Berufsfeldern) diese Stereotype häufig überstrahlten. Zudem mögen die antijudaistischen Teile der Emanzipationsdebatte in den Schriften dieser Quellengattung auch seltener so deutlich formuliert worden sein. Was nämlich passieren müsste, falls das Ablegen des „Jüdischen“ nicht ausreichend erfolgen sollte, hätte sich nicht so freundlich ausgenommen. Eben dieser Umstand macht die Bedeutung des hier untersuchten Falles aus. Gerade der Medizinbereich erweist sich als fruchtbar, den Prozess der Emanzipation von beiden Seiten zu betrachten. Ärzte bzw. Medizinprofessoren dieser Zeit waren nämlich ausgesprochen konkret mit dem damaligen Geschehen konfrontiert: Die gesellschaftlichen Debatten um Religionstoleranz und Judenemanzipation stellten für sie als Vertreter der Bildungselite in der Regel etwas Bekanntes dar. Als Ärzte kamen sie, wie in diesem Fall, eher in Kontakt mit nichtakademischen Juden unter ihren Patienten. Als Akademiker standen sie aber auch in Verbindung mit aufstiegswilligen Juden, da die medizinischen Fakultäten zentrale Orte darstellten, an denen der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe und damit der gesellschaftliche Aufstieg stattfand. Als geübter Praktiker (nicht nur der Geburtshilfe) setzte Osiander in seinem Wirkungsfeld im Wesentlichen das konkret um, was andere theoretisch entworfen hatten – auch die unangenehme, negative Seite, die in den Schriften nicht so praktisch ausgedrückt wurde: den Umgang mit denen, die zwar emanzipiert sein wollten, sich aber in den Augen derer, die die Emanzipation gewährten, nicht ausreichend „verbessern“ liessen. Es mag Osianders Charakter zuzuschreiben sein, dass er diese Ausgrenzung nicht nur betrieb, sondern auch reichlich ungeschminkt in Worte fasste. Das Beispiel illustriert, wie immens der Assimilationsdruck speziell für die jüdischen Ärzte war. Für die Gruppe, die sich mit besonderem Engagement auf die bürgerliche Gesellschaft zu bewegte, galten die Bedingungen im Sinne 462 Brenner (1998).

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Dohms und anderer in besonderem Masse. Juden sollten für ihre Emanzipation ihre vorgeworfene moralische und kulturelle Minderwertigkeit überwinden. „Verbesserung“ meinte aber aus christlicher Seite einen Erziehungsprozess mit dem Ziel, in letzter Konsequenz, die individuelle oder kollektive jüdische Identität aufzugeben oder, wie anderswo ausgedrückt, es meinte die „sittliche Ausrottung“ des Judentums. Nur unter der Bedingung der Selbstverleugnung ihrer Kultur wurde den Juden ein Zutritt zur Mehrheitskultur zugestanden. Dieser Druck war eine der Ursachen dafür, dass jüdische Ärzte dieser Zeit und später grossen Wert darauf legten, im beruflichen Bereich nicht als „Juden“, sondern vor allem als „Ärzte“ in weitesten Wortsinn in Erscheinung zu treten. Dies ist Thema des nachfolgenden Kapitels am Beispiel der jüdischen Ärzte Hamburgs. Die Nachgeschichte Dass Osiander kein Einzelfall war, zeigt auch die weitere Geschichte der Göttinger Medizinischen Fakultät. Friedrich Benjamin Osiander arbeitete in seiner Position in Göttingen noch bis zu seinem Tode im Jahre 1822. Joseph Jacob Gumprecht lehrte noch bis zum Wintersemester 1805/6 an dieser Universität.463 Vereinzelt war er schriftstellerisch tätig.464 Indizien sprechen dafür, dass seine Praxis in Göttingen gut lief.465 1806 wechselte er, wahrscheinlich weil er an der Universität Göttingen keine Zukunft mehr sah, nach Hamburg und war dort als Geburtshelfer praktisch wie schriftstellerisch tätig.466 Ein Beinleiden, das er sich angeblich bei der französischen Belagerung Hamburgs zugezogen hatte, beeinträchtigte seine Gesundheit zunehmend. Im Jahre 1819 zog er nach Hannover.467 Am 9. März 1828 liess er sich taufen und erhielt die neuen Vornamen Johann Justus.468 Möglicherweise steht eine Ehescheidung, 463 Seine letzte Lehrankündigung findet sich in Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen vom 21. September 1805, S. 1504 f. 464 Siehe Gumprecht (1803); ders. (1804); ders. (1805). 465 Nach eigenen Angaben hatte er bis zum Jahre 1804 50 – 60 Zangengeburten gemacht. Gumprecht (1804), S. 414. Die Gesamtzahl der Geburten dürfte für Gumprecht als Anhänger der natürlichen Geburt ein Vielfaches betragen haben. In den letzten beiden Semestern hatte er sein Lehrangebot eingeschränkt. Das mag an den Anforderungen seiner Arztpraxis gelegen haben, denn er legte seine Veranstaltungen zunehmend auf die frühen Morgenstunden. 466 Zu Gumprechts Hamburger Tätigkeit siehe das nachfolgende Kapitel. 467 Dort war Johann Hermann Detmold seit 1820 Leibarzt. Es ist gut möglich, dass es sich hierbei um einen Verwandten Gumprechts, etwa seinen Cousin, handelt. Detmold, 1772 in Hameln geboren, hatte unter seinem jüdischen Namen „Isaac Herz Detmoldt“ 1797 in Göttingen promoviert und war wohl kurz darauf konvertiert. Mildner-Mazzei (1993), S. 224. 468 Stadtarchiv Hannover, Bestand Repro Kirchenbücher V Hannover 166, 1815 – 1828 I. Diese Angaben sowie die der folgenden Fussnote wurden mir dankenswerterweise von Herrn Dr. Peter Schulze (Hannover) mitgeteilt. An zwei Stellen wird Gumprecht mit einem anderen Vornamen tituliert. Im Jahre 1831 veröffentlicht Gumprecht einen Artikel unter dem abgekürzten Vornamen „W.“. Gumprecht (1831), S. 68. In einem Nachruf wird er als „J. F.“ Gum-

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die in seinem Sterbeeintrag vom 1. Januar 1838 vermerkt ist, in diesem Zusammenhang.469 Juden hatten es auch in der Folgezeit an der Göttinger Medizinischen Fakultät, wie anderswo,470 nicht einfach. Ab 1814, als Göttingens Juden unter westfälischer Herrschaft die formelle Gleichberechtigung besassen, wirkte der gebürtige Westfale Alexander Haindorf als Oberassistenzarzt sowie stellvertretender Leiter des akademischen Hospitals und als habilitierter Privatdozent in Göttingen. Mit dem Ende der napoleonischen Ära und der Rückkehr zum alten Rechtsstatus im Jahre 1815 wurde allerdings Haindorfs Berufsziel einer Professur unerreichbar, weshalb er ins preussische Münster wechselte.471 Noch Jahrzehnte später erwies sich die Offenheit der Göttinger Medizinischen Fakultät gegenüber Juden als überaus brüchig. Zwar wurde 1852 der gebürtige Jude Friedrich Gustav Jacob Henle als Professor für Anatomie und Physiologie berufen, doch waren seine Eltern in seiner frühen Jugend bereits zum evangelischen Glauben übergetreten. Vor seinem Amtsantritt hatte er zudem bereits zwölf Jahre lang als etablierter Professor in Zürich und Heidelberg gewirkt.472 Drei Jahre später wurde der Physiologe Moritz Schiff, wie Henle gebürtiger und konvertierter Jude, trotz erfolgreicher Prüfungen nicht als Privatdozent zugelassen, und zwar wegen seiner politischen und wissenschaftlichen Einstellung, vor allem aber wegen seiner jüdischen Abstammung. Eine der Begründungen für seine Ablehnung erinnert an die Äusserungen Osianders über Gumprecht. Schiff sei „jeder Zoll ein Jude“.473

2.3 Jüdische Ärzte und professioneller Habitus im frühen 19. Jahrhundert: Das Beispiel Hamburg Am 2. Januar 1866 feierte der Hamburgische Ärztliche Verein den 50. Jahrestag seiner Gründung. Nach dem Festbankett brachten zwei Ärzte Toaste auf den Verein aus. Einer von ihnen war Sigismund Samuel Hahn474, dessen

469 470 471 472 473 474

precht bezeichnet. Nekrolog (1838). An dritter Stelle werden diese veränderten Vornamen, offensichtlich fälschlich, als „Taufnamen“ bezeichnet. Callisen (1840), S. 322. Stadtarchiv Hannover, Bestand Repro Kirchenbücher V Hannover 167, 1829 – 1841 II. Aus der Inschrift auf seinem Grabstein auf dem Nikolai-Friedhof in Hannover geht ausserdem hervor, dass Gumprecht Vater war. Vgl. Schmiedebach (1995). Brilling (1981/82), S. 69 f. Siehe Wilhelm (1978), S. 101; Dross, Salimi (2009). Heintel (1980), S. 379. Andere Fakultäten der Georgia Augusta waren offener. Vgl. Wilhelm (1973), S. 105. Richarz (1974), S. 124. Geboren 1791 in Hamburg, promoviert in Berlin 1816, starb in Hamburg 1870. Michael (1896), S. 269.

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Mitgliedschaft fast so alt wie der Verein selbst war. Hahn war in Hamburg einerseits bekannt als beliebter und geübter Festredner bei verschiedensten Anlässen475 und andererseits als reformorientierter Jude476. Er beendete seine Rede mit dem Appell: „Freiheit der Wissenschaft! Freiheit des Gewissens! Freiheit des Bürgerthums! Amen!“477 Das Zitat leitet direkt auf die Fragestellung dieses Kapitels hin: Welche Rolle spielte die medizinische Wissenschaft bzw. der Arztberuf mit seiner speziellen Berufsidentität478 bei dem Versuch von Ärzten mit jüdischem Hintergrund, nicht nur ihren Platz in der bürgerlichen Gesellschaft zu festigen, sondern dabei auch einen Ort für ihr Judesein zu finden? Konkret soll es hier um das bislang kaum beachtete Engagement von Ärzten mit jüdischem Familienhintergrund in Ärztevereinen sowie in der medizinischen Publizistik im Raum Hamburg gehen, das heisst in Hamburg selbst sowie im nahe gelegenen, damals dänischen Altona. Der Zeitausschnitt umfasst die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der methodische Ansatz des Kapitels ist im Überlappungsbereich zwischen quantitativen und qualitativen Methoden angesiedelt. Während statistische Angaben die Repräsentativität des Phänomens abstützen, sollen die einzelnen biographischen Beispiele die Thesen illustrieren, inhaltlich füllen und erhärten. Bis zum Jahre 1811 besass Hamburg mit dem damals dänischen Altona und Wandsbek eine gemeinsame jüdische Gemeinde, die bei weitem grösste in Deutschland, mit zu diesem Zeitpunkt etwa 9.000 Mitgliedern, von denen rund 6.500 in Hamburg wohnten.479 Dies zu einer Zeit, als Hamburg (ohne Altona) etwa 100.000 Einwohner zählte.480 Der jüdische Bevölkerungsanteil lag demnach bei etwa fünf bis sechs Prozent.481 In Altona lag der Anteil bei etwa

475 1844 hielt er etwa die Grabrede auf seinen verstorbenen jüdischen Kollegen Georg Hartog Gerson. Vgl. Warburg (1866), S. 51. 476 Hahn war ab 1820 und nochmals ab 1829 im Vorstand der israelitischen Freischule. Vgl. Kley (1841), S. 37. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt ist seine Zugehörigkeit zum Judentum unzweifelhaft. 1836 richtete er „Worte an Gabriel Riesser bei Überreichung seiner Ehrendenkmünze“ (s. u.), was darauf schliessen lässt, dass er noch Jude war. Hahn ist auch als Jude verzeichnet in Koren (1973), S. 57 und der dort zusammengetragenen Literatur. 477 Zwei Festreden (1866), S. 11. 478 Bausinger (1978), S. 245. 479 Zur bereits existierenden vielfältigen Literatur über die Geschichte der Juden im Raum Hamburg siehe die äusserst wertvolle Bibliographie von Studemund-Hal¦vy (1994). Als klassische ältere Studie siehe Grunwald (1904), Krohn (1967), insbesondere S. 9. Zu den hier angegebenen Zahlen siehe Grunwald (1904), S. 55. Klessmann (1981), S. 362. Zu Altona vgl. Kopitzsch (1994), hier S. 28 f. Zum Vergleich: Berlin zählte damals etwa 3.500 Juden. S. Lowenstein (1994), S. 3. 480 1800 waren es etwa 130.000, im Zusammenhang mit der französischen Besatzung sank die Zahl bis 1814 auf 100.000, um bis 1820 wieder auf 125.000 Einwohner anzusteigen. Vgl. Klessmann (1981), S. 329. 481 Zimmermann (1979), S. 25.

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10 Prozent482. Die Juden lebten in Hamburg zwar nicht hinter abgeschlossenen Ghettomauern, aber doch eher geduldet als anerkannt. Die rechtliche Gleichstellung, welche die französische Besatzung 1810 brachte, wurde noch unter dieser Herrschaft im Jahre 1814 wieder zurückgenommen.483 Auch und gerade in Hamburg gab es 1819 und 1836 Ausschreitungen gegen Juden.484 Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden entwickelten sich seit dem späten 18. Jahrhundert zunächst in den jeweiligen höheren Gesellschaftsschichten. 1802 öffnete sich die Eliteschule Johanneum485 den jüdischen Schülern. Das Altonaer Christianeum hatte schon früher jüdische Schüler, und ihre Zahl war auch grösser.486 Ärzte zählten zu den ersten jüdischen Mitgliedern in Vereinen der christlichen Mehrheitsgesellschaft, etwa in der für Hamburg in dieser Hinsicht fortschrittlichen „Patriotischen Gesellschaft“, in der zwischen 1800 und 1805 die Doktoren David Veit487, Joseph (Isaak) Levy488 und Joseph Hirsch Gerson489 aus der Hamburger jüdischen Ärztedynastie der Gersons zu finden sind.490 Ärzte hatten unter den hamburgischen Juden schon seit langem eine ebenso qualitativ wie quantitativ bedeutende Rolle gespielt.491 Bereits Max Grunwald hatte in seinem zentralen Werk über die hamburgischen Juden im Jahre 1904 angemerkt, wie stark der Arztberuf in dieser Gesellschaftsgruppe vertreten war.492 Im 17. Jahrhundert lebte etwa die sephardische Ärztedynastie de Castro mit dem berühmtesten Vertreter der Familie Roderigo de Castro in der Hansestadt.493 Ende 482 1780: 9,88 % der 24.400 Einwohner; 1835: 7,63 % der 26.393 Einwohner. S. Kopitzsch (1990), S. 233. 483 Zimmermann (1979), S. 22. 484 Zimmermann (1979), S. 48. 485 Allerdings ist für den nachmaligen jüdischen Arzt Joseph Hirsch Gerson überliefert, er habe bereits vor 1794 das Johanneum und später das Hamburger Gymnasium besucht. Vgl. Schröder (1851 – 83), Bd. 2, S. 484. 486 In Altona gab es seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert einen stärker werdenden Kontakt zwischen Juden und Nichtjuden, vor allem unter den jeweiligen Eliten. Z.B. besuchten zwischen 1778 und 1815 110 jüdische Schüler das Christianeum, die Gelehrtenschule. Kopitzsch (1990), S. 235. 487 Geboren in Breslau 1771 in eine den Mendelssohns nahe stehende Familie und wenig religiös erzogen, promoviert in Halle 1797, liess sich 1799 in Hamburg nieder und starb dort 1814. Veit konvertierte nicht, obwohl er dem Judentum nicht gerade nahe stand und 1804 mit einem Übertritt liebäugelte. Zondek (1976), u. a. S. 60, 74. 488 Geboren 1776 in Norden, gestorben 1847, Promotion in Halle 1795. Vgl. Michael (1896), S. 2, 279, Koren (1973), S. 84. 489 Geboren in Hamburg (Geburtsjahr unbekannt), promovierte 1801 in Göttingen, liess sich in Hamburg nieder und verstarb dort bereits 1806. Schröder (1851 – 83), Bd. 2, S. 484. Er ist der Bruder des später häufiger erwähnten Georg Hartog Gerson. 490 Kopitzsch (1990), S. 562. 491 V. Villiez (2009), S. 30 ff. 492 Grunwald (1904), S. 61. 493 Geboren 1555 in Lissabon, seit 1594 praktizierend in Hamburg, gestorben 1627. Autor eines 1603 erschienenen frühen Werks über Geburtshilfe und des „Medicus Politicus“ (Hamburg 1614) über ärztliches Berufsverhalten. Leibarzt mehrerer Regenten. Er und sein Sohn Benedict

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des 17. Jahrhunderts liess sich Simon Leffmann in Hamburg nieder und praktizierte dort über vierzig Jahre. Er hatte zu den ersten jüdischen Medizinstudenten an einer deutschen Fakultät gezählt.494 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das Wirken jüdischer Ärzte – ähnlich wie in Berlin – dann über Einzelpersonen hinaus zu einem kontinuierlichen Phänomen.495 Eine weitere in der jüdischen Geschichte bekannte hamburgische Person aus dieser Zeit ist der Maskil Mordechai Gumpel Sch(n)aber alias Georg Levison.496 Insgesamt lassen sich für die Zeit zwischen 1750 und 1850 etwa einhundert Ärzte mit jüdischem Familienhintergrund nachweisen. Im frühen 19. Jahrhundert war die Zahl der jüdischen Ärzte im Raum Hamburg wohl höher als in den meisten anderen grossen Städten Deutschlands.497 Es konnten etwa für das Jahr 1818 allein in Hamburg 20 promovierte Ärzte nachgewiesen werden, die Juden waren oder aus jüdischen Familien stammten.498 Bei 85 in diesem Jahr in Hamburg zugelassenen Medizindoktoren überhaupt499 bedeutet dies den Anteil von fast einem Viertel.500 Unter den Hamburger Juden war der Arztberuf demnach stark überrepräsentiert, selbst dann, wenn man die Konver-

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(geboren in Hamburg 1597, gestorben ebendort 1684, ebd., S. 195) standen dem Christentum sehr nahe. Vgl. Schoeps (1967), Michael (1896), S. 68, Gernet (1869), S. 136 f. Geboren in Essen, Studium unter anderem in Duisburg, Promotion in Utrecht 1685, gestorben nach 1733 in Hamburg. Vgl. Komorowski (1991), S. 83, 112, Koren (1973), S. 81. Mitte des 18. Jahrhunderts befanden sich unter 858 jüdischen Steuerzahlern vier Ärzte. Vgl. Grunwald (1904), S. 60. Geboren in Berlin zwischen 1730 und 1745, gestorben 1797 in Hamburg. Im Jahre 1782 liess sich Levison in Hamburg nieder. Dies markiert gleichzeitig einen wesentlichen Bruch in seiner Biographie, das Ende einer „abenteuerlichen“ Karriere. Levison hatte in England und Schottland studiert und gearbeitet, unter anderem am General Medical Asylum in London, war in Uppsala zum (Titular-)Professor der Medizin und Leibarzt des schwedischen Königs ernannt worden. Aus nicht ganz rekonstruierbaren Gründen musste er jedoch Schweden verlassen, war 1781 wieder nach Deutschland zurückgekehrt und gab in den beiden Folgejahren deutsche Übersetzungen seiner in den 1770er Jahren in England geschriebenen Werke heraus. Den Rest seines Lebens betrieb er eine offensichtlich zunehmend florierende Praxis in Hamburg. Es existieren sehr unterschiedliche Schreibweisen seines Namens. Zu seiner Person siehe Graupe (1962), Schoeps (1952), Pelli (1979), S. 131 – 150, Shoham (1989), Ruderman (1995), Huppmann (2005), Jütte (2011), S. 358 f. In letzterer Schrift wird das Geburtsjahr 1741 genannt. In manchen Quellen wird fälschlicherweise behauptet, Levison habe sich taufen lassen. S. Schoeps (1952), S. 161. Eine Ausnahme stellt hier allenfalls Berlin dar (vgl. das Kapitel 2.1). Helga Krohn hingegen fand in einer Einwohnerliste der Juden Hamburgs lediglich zehn Ärzte und zwei Zahnärzte. Vgl. Krohn (1967), S. 39. Die Differenz kann daher rühren, dass diese Liste nur Mitglieder der jüdischen Gemeinde enthält, in diesem Beitrag jedoch auch konvertierte jüdische Ärzte mit eingerechnet sind. Siehe Rodrega (1979), S. 210 – 212. Für die Wende zum 19. Jahrhundert ist auch die Zahl von einhundert promovierten Ärzten überliefert, unter denen jedoch einige gewesen seien, die ihr Diplom nicht rechtmässig erworben hätten. Vgl. Michael (1896), S. 79. Zum Vergleich: Im März 1933, vor der „Ausschaltung“ der jüdischen Ärzte durch die Nationalsozialisten, lag der Anteil der „nichtarischen“ Kassenärzte in Hamburg bei 30,3 %. Vgl. Hadrich (1934), hier S. 1244.

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tierten nicht mit einrechnet. Im benachbarten Altona dürfte das Verhältnis ähnlich gewesen sein. Eben diese 20 Ärzte stehen mit ihren rekonstruierten Biographien501 im Mittelpunkt des folgenden Kapitels. Bereits die Generation ihrer Väter hatte in der Regel die ersten Schritte sozusagen „aus dem [kulturellen] Ghetto“ gemacht, waren teils die eigentlichen Maskilim, also Anhänger der jüdischen Aufklärung, gewesen.502 Die jüngere Generation versuchte ihre Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft zu festigen. Sie waren durchweg entweder Anhänger eines reformierten Judentums oder zum Christentum konvertiert. Eine Reihe von ihnen befasste sich mit allgemeineren Problemen der erwarteten oder erhofften Emanzipation der Juden in Staat und Gesellschaft. Auf der anderen Seite machte einigen aber bereits stärker die Frage zu schaffen, ob sie bei aller Akkulturation nicht ihrer Identität als Juden verlustig gehen würden. Für die Niederlassung jüdischer Ärzte herrschte in Hamburg ein verhältnismässig günstiges Klima – anders als etwa für die Juristen.503 Es ist keine Ablehnung speziell jüdischer Ärzte bekannt.504 Schwieriger war es mit öffentlichen Ämtern. Erst in den 1840er Jahren vertrat mit Georg Hartog Gerson505 ein Jude den abwesenden Johann Carl Georg Fricke506 im offiziellen Medizinalgremium, dem „Gesundheitsrat“ der Hansestadt.507 Einige der jüdischen Ärzte im eigentlichen Untersuchungszeitraum zählen zu den bekannteren Namen in der jüdischen Geschichte, etwa der Arzt und 501 Die folgenden biographischen Skizzen basieren, wenn nicht anders angegeben, auf einschlägigen Lexika wie: Schröder (1851 – 83); Hirsch (1962); Wininger (1927 – 36) sowie Michael (1896). Hinzu kommen einschlägige Artikel in den genannten Zeitschriften, meist in den „Rand“-Ausgaben oder wenn Änderungen etwa der Herausgeberschaft stattgefunden hatten. Bibliographische Hinweise wurden auch entnommen: Studemund-Hal¦vy (1994); Koren (1973). 502 So z. B. der Vater von David Veit (s. o.), Joseph Veit (1745 – 1831), der Mitarbeiter der frühen Haskala-Zeitschrift „Ha-Meassef“ war. Vgl. Zondek (1976), S. 51. 503 Jüdische Rechtsanwälte konnten sich bis zur Mitte des Jahrhunderts in Hamburg nicht niederlassen, wie das Beispiel Gabriel Riessers zeigt. Vgl. Arnsberg (1991), S. 83. 504 Lediglich in der 1830er Jahren bildete sich im Hamburgischen Gesundheitsrat ohne rechtliche Grundlage aus der Furcht vor Übersetzung des Berufes die Praxis heraus, auswärtigen Ärzten gewöhnlich den Antrag auf Niederlassung abzulehnen. Die Regelung bezog sich aber nicht speziell auf Juden. Gernet (1884), S. 17, 43; Rodregra (1979), S. 59. 505 Mitglied der bekannten jüdischen Ärztedynastie der Stadt. Georg Hartog Gerson (geboren 1788 in Hamburg, gestorben 1844 ebendort). Siehe über ihn Oppenheim (1845), Unna (1846). Er blieb zeit seines Lebens Jude, vertrat aber, wie die meisten seiner Kollegen, reformjüdische Ideen: Sein Leichnam wurde seinem letzten Willen gemäss seziert und erst fünf Tage nach seinem Tod bestattet. Vgl. Necrolog (1845), S. 142 f. Gerson hatte Verbindungen in die Reformbewegung, da er an die Israelitische Freischule spendete (s. u.). Siehe Schröder (1851 – 83.), Bd. 2, S. 480. Sein Wille zur Annäherung an die Mehrheitsgesellschaft drückte sich auch darin aus, dass er als „Gerson Hirsch Gerson“ geboren wurde und sich später Georg Hartog Gerson nannte. S. Schröder (1851 – 83), Bd. 2, S. 480. 506 Dieser christliche Arzt war eine prominente Figur im hamburgischen Gesundheitswesen. Vgl. Rodegra (1983). 507 Gernet (1884), S. 46.

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Lyriker David Assing508 (vor seiner Konversion: Assur), der freundschaftlich mit dem Dichterkreis um Justinus Kerner und Adalbert von Chamisso und dazu verwandtschaftlich mit Rahel Levin und ihrem Mann Karl August Varnhagen von Ense verbunden war. Ebenso praktizierte hier von 1799 bis zu seinem frühen Tod 1814 der bereits erwähnte David Joseph Veit, der intime Jugendfreund von Rahel Levin Varnhagen.509 Schliesslich lebte und arbeitete im benachbarten Altona der Arzt, Religionsphilosoph und Emanzipationspolitiker Salomon Ludwig Steinheim.510 Diese Personen werden im vorliegenden Kapitel aufgrund der Fragestellung jedoch nicht im Vordergrund stehen. Was heisst in unserem Zusammenhang „jüdisch“ angesichts der Tatsache, dass einige der hier genannten Ärzte im Untersuchungszeitraum zum Christentum konvertiert waren? Von sieben als Juden geborenen Ärzten etwa, die im Raum Hamburg als Herausgeber und Redakteure medizinischer Zeitschriften tätig waren (s. u.), sind immerhin vier als Christen gestorben. Muss man sie nun als Juden oder als Christen zählen? Der Zeitpunkt ihrer jeweiligen Konversion reicht vom Säuglingsalter (so bei Friedrich Alexander Simon511) über den Abschluss des Medizinstudiums (Nikolaus Heinrich Julius512), die Zeit zwischen dem Beginn des Studiums und dem Anfang einer zweiten Hamburger ärztlichen Schaffensperiode (Friedrich Wilhelm Oppenheim513) 508 Geboren in Königsberg 1787, Promotion in Göttingen 1807, seit 1812 in Hamburg als Arzt niedergelassen, seit 1815 endgültig in Hamburg wohnend, Taufe 1816 im Zusammenhang mit der Heirat mit Rosa Maria von Varnhagen. Die Arzttochter war Schwester seines Freundes, des Diplomaten und Dichters Karl August Varnhagen von Ense und damit auch Schwägerin seiner Frau Rahel geb. Levin, die bereits 1814 zum Christentum übergetreten war. Vgl. u. a. Hirsch (1962), Bd. 1, S. 228 f. Assing starb 1842 in Hamburg. 509 Veit hatte seinen Freundeskreis im gehobenen Hamburger Bürgertum. Er war Biograph des bekannten Hamburger Arztes Johann Albert Heinrich Reimarus. Zondek (1976), S. 49 – 77. 510 Geboren in Bruchhausen 1789, Promotion in Kiel 1811, gestorben 1866 in Zürich. Vgl. auch Schoeps (1993), Stoll (1994). 511 Geboren 1793 in Königsberg, promoviert in Göttingen 1819, praktizierte dann in Hamburg, gestorben ebendort 1869. Vgl. Schröder (1851 – 83), Bd. 7, S. 199 – 201. Zur Taufe vgl. Simon (1819), S. 25. Michael (1896), S. 298 – 300. 512 Geboren 1783 als Heymann Julius in Altona, Promotion in Würzburg 1809, danach Niederlassung in Hamburg, 1828 – 36, 1840 – 1849 meist in Berlin, gestorben 1862 in Hamburg. Er genoss bereits einen Teil seiner voruniversitären Ausbildung im Berliner katholischen „Grauen Kloster“. Nach seinem Studium in Heidelberg und Würzburg, um 1809, konvertierte er zum Katholizismus. Damit war Julius in Hamburg Mitglied einer quantitativ noch kleineren Minderheit denn als Jude. Hinter diesem Glaubensbekenntnis stand er offenbar nicht nur äusserlich. Julius’ Biographen vermerken mehrfach, er sei ein eifrig gläubiger katholischer Christ gewesen. Vgl. Maser (1988), Beneke (1881). Vgl. auch Hoffmann (1864) S. 1, Schröder (1851 – 83), Bd. 3, S. 513 – 517. Julius’ schriftlicher Nachlass, mittlerweile auch die ehemaligen Bestände der Berliner Universitätsbibliothek, liegt in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky. Er wurde für diese Arbeit nicht eingesehen. 513 Geboren 1799 in Hamburg, Promotion Heidelberg 1821, praktizierte 1824 – 1829 in Hamburg, danach als Militärarzt in russischen und türkischen Diensten. 1832 bis 1850 wieder in Hamburg, danach Wegzug krankheitshalber, gestorben 1852 in Achern. Vgl. Hirsch (1962), Bd. IV,

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bis zur Endphase des medizinischen Schaffens, zehn Jahre vor dem Tod, lange nach dem Wegzug von Hamburg (so der aus dem letzten Kapitel bereits bekannte Joseph Jacob Gumprecht). Doch selbst mit genauen Konversionsdaten ist nicht einmal klar, wann sich die betreffenden Ärzte innerlich vom Judentum gelöst haben, wie weit sie dies taten und ob überhaupt. Nikolaus Heinrich Julius etwa, der als Jude eine katholische Erziehung und Schulausbildung erhalten hatte, konvertierte in höherem Alter als Friedrich Alexander Simon. Dennoch hatte Julius als später gläubiger und praktizierender Katholik weniger verbleibende Bindungen zum Judentum als sein im Säuglingsalter getaufter Kollegen Simon. Dieser veröffentlichte noch als Student u. a. in der jüdischen Zeitschrift „Der Orient“ Gedichte.514 Nach den antijüdischen Ausschreitungen von 1819 verteidigte er die Juden in einer Schrift und identifizierte sich explizit mit ihnen: Er verwies auf berühmte jüdische Ärzte und führte weiter aus: „Und sind auch einige im späteren Alter zur christlichen Kirche übergegangen, so bleiben sie doch immer – dess schäme sich keiner – gebohrne Juden.“515 Von Julius hingegen ist an Kontakten mit der jüdischen Kultur lediglich seine vierzehnjährige Zusammenarbeit mit dem Kollegen Georg Hartog Gerson, einem gläubigen Juden, als Herausgeber eines medizinischen Magazins zwischen 1821 und 1835 bekannt. Auch privat bedeutete eine Konversion offensichtlich keinen Abbruch der Beziehungen mit anderen Juden. Die Braut von Friedrich Wilhelm Oppenheim konvertierte 1832 wenige Wochen vor ihrer Hochzeit zum Christentum.516 Der damals bereits christliche Bräutigam muss also private Kontakte in die jüdische Gesellschaft gehabt haben. Schliesslich war der grösste Proteg¦517 des konvertierten Juden Friedrich Wilhelm Oppenheim der genannte, religiös orientierte Jude Georg Hartog Gerson. Ähnlich dürfte es sich mit der Fremdwahrnehmung verhalten haben: So wurde der Vater des als Säugling getauften Friedrich Alexander Simon in einer Ärzteliste von 1818 unter seinem ehemaligen jüdischen Vornamen „Mendel Aaron“ geführt,518 wo er doch mindestens ein viertel Jahrhundert zuvor zum Christentum übergetreten war und den Namen „Martin Anton“ angenommen hatte.519

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S. 434; Toepke (1904), S. 156. Dort der Hinweis auf seine jüdische Religionszugehörigkeit. Oppenheims Promotionsakte enthält keinen Lebenslauf. Dem Universitätsarchiv Heidelberg sei an dieser Stelle für freundliche Hinweise gedankt. Ein Todeseintrag Oppenheims findet sich auch im Kirchenbucheintrag der katholischen Kirche seines Sterbeortes Achern (Baden). Archiv der Katholischen Kirche Achern. Die Information erhielt ich durch freundliche Hilfe der Acherner Stadtarchivarin Frau Rumpf. Schröder (1851 – 83) Bd. 7, S. 199. Simon (1819), S. 99. Schröder (1851 – 83), Bd. 5, S. 606 – 609, am 14. Mai 1832. Gernet (1884), S. 46. Rodrega (1979), S. 211. Simon senior und seine Frau haben ihren Sohn Friedrich Alexander ja in dessen Geburtsjahr 1793 taufen lassen (s. o.). Allerdings taucht ein „Dr. med. M.A. Simon“ noch in der Liste der

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Es kann also keine scharfe Grenze zwischen „echten“ Juden und konvertierten, ehemaligen Juden gezogen werden. Was bedeutet das aber für die Untersuchung? Sicherlich wäre es falsch, konvertierte Juden einfach als „Juden“ zu bezeichnen. Es wäre aber noch weniger sinnvoll, alle Konvertierten aus der Untersuchungsgruppe auszuschliessen.520 Speziell für die hier angewandte Frageperspektive ist es dagegen wichtig zu sehen, dass die Konvertierten noch in gewissem Masse jüdisch sozialisiert und emotional gebunden waren. Sie hatten sicherlich ähnliche, wenn nicht die gleichen Ausgrenzungserfahrungen wie die nicht Konvertierten gemacht und ein mindestens ebenso grosses Bedürfnis nach einer kulturellen Integration in die bürgerlichchristliche Mehrheitsgesellschaft. Schliesslich standen sie unter einem vergleichbaren, vielleicht noch grösseren Anpassungsdruck von Seiten der christlichen Umwelt. Das Kapitel befasst sich deshalb nicht einfach mit hamburgischen jüdischen Ärzten, sondern mit hamburgischen Ärzten, die die Gemeinsamkeit eines jüdischen Familienhintergrunds haben.

Hamburgische jüdische Ärzte und der professionelle Habitus Im Verlauf des 19. Jahrhunderts machte der Arztberuf eine schnelle Entwicklung in Richtung auf eine Profession im soziologischen Sinne durch.521 Ein professionalisierter Beruf zeichnet sich in diesem Sinne – idealtypisch gesehen – vor allem dadurch aus, dass ihm die Ausübung bestimmter Tätigkeiten, hier die Diagnose und Therapie von Krankheiten, monopolartig zusteht. Der Zugang zum jeweiligen Beruf ist strengen Regeln unterworfen (z. B. das Universitätsstudium, das Examen). Zudem übt der Berufsstand selbst die Kontrolle über die eigenen Tätigkeiten aus (Autonomie), etwa mittels Ehrengerichten. Die Gewährleistung der Qualität der Dienstleistungen soll über einen bestimmten Ehrenkodex kontrolliert werden. Grundlage wie auch Ergebnis dieses Systems ist das häufig zitierte ärztliche Standesbewusstsein. Eine der wichtigsten Begleiterscheinungen dieses Prozesses ist die Entstehung von Standesorganisationen, in denen die Berufsbelange intern geregelt und die Interessen gegenüber der Gesellschaft geschlossen nach aussen vertreten werden. Die deutschen Ärztevereine wurden zwar erst im späten 19. Jahrhundert in diesem Sinne machtvolle „Pressure Groups“ z. B. gegenüber dem Staat und den Krankenkassen. Ihre Gründung geht allerdings meist auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, in Einzelfällen auf das ausgehende Gründer der „Neuen Beerdigungsgesellschaft“ der Hamburger Juden von 1804. auf. S. Zürn (2001), S. 151. 520 Volkov (1990), S. 319, zählt auch diejenigen Ärzte in ihre Untersuchungsgruppe, die zum Christentum konvertierten, sowie darüber hinaus auch solche, deren Eltern kurz vor der Geburt des Kindes konvertiert waren. 521 Siehe hierzu vor allem Huerkamp (1985).

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18. Jahrhundert zurück.522 Zu den ersten modernen Einrichtungen dieser Art (jenseits rein akademischer Gesellschaften oder staatlich eingerichteter Medizinalkollegien) zählte der Hamburgische Ärztliche Verein, der 1816 gegründet wurde, nachdem seit 1814 bereits eine lose Gruppierung bestand.523 Schon damals zeigten diese Ärztevereine typische Aktivitäten, die diesen professionellen inneren Zusammenhalt der Ärzteschaft, ihren „Corpsgeist“ bestärkten und nach aussen das Bild eines geschlossenen akademischen und damit weitgehend autonomen Berufsstandes erzeugten. Bereits in den Gründungsstatuten des Hamburger Vereins setzten sich die Stifter das Ziel, „Gelegenheit zu wechselseitiger wissenschaftlicher Unterhaltung, sowie auch zur Benutzung der gesammten literarischen Hülfsmittel“ zu geben.524 Das heisst, sie schufen sich eine umfangreiche Fachbibliothek.525 Der von Beginn an hohe jährliche Mitgliedsbeitrag von 40 Mark diente zu grossen Teilen ausdrücklich dem Zweck der Buchanschaffung. Die Mitglieder trafen sich regelmässig und diskutierten medizinische Vorträge, und nicht zuletzt trafen sie sich zum Abendessen, rauchten Zigarren und spielten Schach zusammen. Wenn jüdische Ärzte in diesem Aktivitätsspektrum nun besonders hervortraten, dann heisst dies, dass sie mehr als ihre nichtjüdischen Kollegen sich das Image einer professionellen und akademischen Berufsausübung geben und um so mehr Teil des medizinischen Standes sein wollten. Es erscheint sehr bezeichnend, dass der „intellektuelle Urheber“ des Ärztlichen Vereins in Hamburg ein jüdischer Arzt war, und zwar Leo Wolf526, von dem hier noch öfters die Rede sein wird. An der Spitze des Vereins stand jedoch zunächst ein Christ: Der Vereinschronist schrieb, dass Wolf, „weil er erst kürzlich von Altona nach Hamburg zog und sich hier als homo novus nicht als die passende Persönlichkeit für den Zweck betrachtete, sich mit dem durch persönliche Liebenswürdigkeit in hohem Ansehen stehenden Johann Heinrich Chaufepi¦ vereinigte und in der Oberleitung des Unternehmens Vgl. Jütte (1997). Michael (1896); Warburg (1866). Michael (1896), S. 87. Gumprecht (1817), S. IX. Bereits im Jahre 1819 besass die Bibliothek 700 Bände, ohne dass darin die Zeitschriften enthalten waren. Warburg (1866), S. 18. 1836 waren es über 12.000. Warburg (1866), S. 36. Die Bibliothek war 1842, als sie beim Grossen Brand von Hamburg zerstört wurde, 40.000 Mark Courant wert. Nach ihrer Zerstörung erreichte sie diesen Umfang erst in den 1860er Jahren wieder. Warburg (1866), S. 95. Die aussergewöhnliche Wertschätzung, die viele hamburgische Ärzte dem gedruckten Wort allgemein entgegenbrachten, mag sich auch daraus erklären, dass die lange Zeit als wissenschaftsfeindlich angesehene Stadt Hamburg zu dieser Zeit keine Universität besass. 526 Geboren als Wenzeslaus Leo Wolf 1780 in Alt-Strelitz. Sein Name findet sich in den Quellen in vielen Varianten geschrieben. Promotion in Erlangen 1799, Niederlassung in Altona (dem Heimatort seiner Mutter), 1815 Übersiedlung nach Hamburg, 1829 Auswanderung in die Vereinigten Staaten (bis 1830 in Philadelphia, 1831 – 36 in New York). Dort nennt er sich William Leo-Wolf. 1836 Rückkehr nach Hamburg. Tod ebendort 1850. Vgl. neben den üblichen Quellen auch Schröder (1851 – 83) Bd. 4, S. 438 – 440. Callisen (1830ff), Bd. 11, (1832), S. 249; Dworak (1984), Krauss (1930), S. 170.

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hinter diesen zurücktrat“.527 Dem vierköpfigen Gründungskomitee gehörten gleich zwei jüdische Ärzte an, neben Wolf noch der aus seinem Göttinger Streit mit Friedrich Benjamin Osiander bereits bekannte Joseph Jacob Gumprecht.528 Von den 64 Mitgliedern des Vereins in seinem ersten Lebensjahr waren mindestens 16, d. h. ein exaktes Viertel, jüdisch oder hatten zumindest einen jüdischen Familienhintergrund, was damit noch knapp über ihrem Anteil an allen Ärzten Hamburgs lag.529 Wenn sie einmal Mitglied waren, blieben sie es eher als ihre christlichen Kollegen. Während fast ein Drittel von diesen aus dem Verein wieder austrat, ohne dass der Grund hierfür im Wegzug in eine andere Stadt lag (14 von 49), tat dies lediglich ein Siebtel derer mit einem jüdischen Familienhintergrund (2 von 15). Im ersten Jahrzehnt war sogar ein Drittel des Vorstands des Vereins jüdisch oder zumindest jüdisch geboren.530 Auch in den folgenden Jahrzehnten waren im Vorstand kontinuierlich jüdische Ärzte vertreten.531 Die eminente Bedeutung dieser Personen für die frühe Phase des Vereins wurde später, zur Jahrhundertmitte, dann visuell eindrucksvoll umgesetzt: Im damaligen Vereinslokal waren lediglich zwei Porträts von Mitgliedern aus der Gründerzeit aufgestellt, und zwar die der beiden jüdischen und nie konvertierten Ärzte Leo Wolf und Georg Hartog Gerson.532 Noch deutlicher als in trockenen Zahlen zeigt sich das überdurchschnittliche Interesse der untersuchten Ärzte an einer Standesvereinigung allerdings, wenn wir die Aktivitäten qualitativ betrachten. Enorm ist nämlich der Anteil der Ärzte mit jüdischem Hintergrund an medizinischen Debatten innerhalb und ausserhalb des Vereins. Es waren vorherrschend sie, die in den regelmässigen Vereinsversammlungen Vorträge hielten, etwa in grösseren Diskussionen während der in den Jahren 1831/32 auch über Hamburg ziehenden Choleraepidemie. Durch den Verein ging, wie damals nur zu typisch, ein tiefer Riss zwischen den Anhängern der Miasmen- und der Kontagienlehre, die ihre „Scharmützel“ untereinander ausfochten.533 Der grösste Teil der Beitragenden zählt zu unserem Sample: Teils mehrfach fallen die Namen von Julius Samson534, David Assing, Friedrich Wilhelm Oppenheim und nicht zuletzt des überzeugten Kontagionisten Salomon Ludwig Steinheim. 527 Michael (1896), S. 84, ähnlich ausführlich auch Warburg (1866), S. 12 f. Sich selbst nennt er „Stifter“ des ärztlichen Vereins. Wolf (1822), S. 25. 528 Warburg (1866), S. 14. 529 Für spätere Zeiträume nimmt der Anteil dann ab. Unter den danach bis 1830 eingetretenen Ärzten (insgesamt 76 Personen), finden sich mindestens 15 mit jüdischem Hintergrund, also etwa 20 %. Michael (1896), S. 4 – 11. 530 Michael (1896), S. 104. Zwischen 1821 und 1830 waren es drei von zehn Ärzten (plus einem Chirurg und einem Apotheker). Sie waren bis 1834 im Verein mit organisiert (s. ebd., S. 106). 531 Michael (1896), S. 105, 109. 532 Warburg (1866), S. 66. 533 Michael (1896), S. 124 – 126, Zitat S. 124. 534 Geboren in Altona 1801. 1825, noch während seines Studiums in Berlin, wurde ihm der erste Platz in der Lösung einer medizinischen Preisfrage über die Theorie von Broussais zuerkannt

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Bereits 1830 begann eine sich über mindestens ein Jahrzehnt erstreckende publizistische Debatte meist von Mitgliedern des Ärztlichen Vereins über das Für und Wider der Homöopathie. Auch hier hatten die meisten Beteiligten einen jüdischen Hintergrund. Im genannten Jahr veröffentlichte Friedrich Alexander Simon erstmals eine Schrift gegen die Homöopathie, in der er seinen jüdischen Bildungshintergrund nicht verbarg und den Begründer Hahnemann bissig „Pseudomessias Medicus“ nannte.535 Es folgte bis 1838 eine ganze Reihe ähnlicher Schriften von ihm, darunter das Periodikum „Antihomöopathisches Archiv“ (1836 – 1838), zu dem auch viele jüdische Kollegen, unter anderem Salomon Ludwig Steinheim, beitrugen. 1834 veröffentlichte der eingangs erwähnte Sigismund Samuel Hahn eine homöopathiefreundliche Schrift.536 Leo Wolf meldete sich 1835, damals gerade in den Vereinigten Staaten, mit einem Buch über die Homöopathie als „Abracadabra des 19. Jahrhunderts“ zu Wort, das im Folgejahr auf deutsch erschien,537 übersetzt und bearbeitet von Wolfs Hamburger Kollegen Daniel Rudolph Warburg.538 Schliesslich hielt Elias Nathan539 1847 einen homöopathiekritischen Vortrag im Verein.540 Erst für das Jahr 1861 ist dann ein Autor nachgewiesen, der offenbar keinen jüdischen Familienhintergrund hatte.541 In einer vereinsinternen Diskussion über den Status der Medizin als Wissenschaft im Jahre 1850 beteiligten sich zur Hälfte jüdische Ärzte, nämlich der genannte Elias Nathan und Eduard Cohen (der später zeitweise der Hausarzt Bismarcks werden sollte)542. Die augenheilkundlichen Vorträge im ärztlichen

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und seine Schrift 1826 veröffentlicht. Promotion in Kiel 1827, ab 1828 in Altona praktizierend, mindestens bis 1849, gestorben 1861 (Ort unbekannt). Vgl. Alberti (1868), Lübker/Schröder (1829), Hirsch (1962). Der Titel lautet: Friedrich Alexander Simon: Samuel Hahnemann, pseudomessisas medicus, kat exochen der Verdünnerer, oder kritische Ab- und Ausschwemmung des medicinischen Augiasstalles, Organon der Heilkunst, auch homöopathische Heilkunst genannt, für Ärzte und gebildete Nichtärzte. Hamburg 1833. Siehe hierzu auch Michael (1896), S. 139, 299. Michael (1896), S. 139, Hahn (1834). Leo-Wolf (1833/1835). Wolf (1836). Daniel Rudolf Warburg (Altona 1804 – Hamburg 1883). Sein Vater war mit dem Vornamen „Ruben Daniel“ sicherlich jüdischer Herkunft. Daniel Rudolf studierte ab 1824 in Berlin und promovierte 1828 in Halle. Danach praktizierte er in Hamburg. Zunächst auch als Armenarzt. Indirekter Vorfahre des späteren Nobelpreisträgers Otto Heinrich Warburg. Siehe das Typoskript: Eduard Duckesz und Otto Hintze: Geschichte des Geschlechts Warburg 1828/29 bzw. 1941/42. In: Leo Baeck Institute Archives, New York, Collection Warburg Familie ME 664. Er wurde als Jude geboren und im Jahre 1859 in Quellen als „jüdischer Mitbürger“ bezeichnet. Nicht aufgeführt wird er in: Chernow (1994). Geboren 1807 in Eutin von offensichtlich jüdischen Eltern, Promotion in Kiel 1830, danach in Hamburg praktizierend und 1862 dort gestorben. Vgl. Schröder (1851 – 83), Bd. 5, S. 479. In Nathan (1836) bezeichnet er sich indirekt als Jude. Michael (1896), S. 139. Grabau (1861). Zu dieser Debatte vgl. Michael (1896), S. 136 f. Vage Angaben zu seiner Person in ebd., S. 16, 250 f. 1820 in Hamburg geboren, Promotion Heidelberg 1842, gestorben Hamburg 1884. Über den Namen hinaus gibt es allerdings keine Hinweise auf einen jüdischen Hintergrund Cohens.

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Verein in den 1850er Jahren und folgenden Jahrzehnten wurden praktisch ausschliesslich von jüdischen Ärzten gehalten.543 Wie gross die Identifikation mit dem Verein gerade bei den Ärzten mit jüdischem Hintergrund war, zeigte sich nach 1850 auch in der Vereinsgeschichtsschreibung. Zwei der drei historischen Abrisse des Hamburgischen Ärztlichen Vereins wurden von jüdischen Ärzten abgefasst, nämlich von Daniel Rudolph Warburg im Jahre 1866 und dreissig Jahre später von J. Michael.544 Auch wenn es um den Grundpfeiler ärztlicher Professionalität, das Standesbewusstsein, ging, waren die jüdischen Berufskollegen besonders eifrig. Ein plastisches Beispiel ist hier gerade Leo Wolf. 1822 nämlich, vier Jahre nach der Vereinsgründung, veröffentlichte Wolf ein umfangreiches Buch, in dem er die damals seit rund zwei Jahrzehnten praktizierte Pockenschutzimpfung einer scharfen Kritik unterzog.545 Genau genommen war es nicht die Immunisierung selbst, sondern die Art ihrer Durchführung. Wolf warnte vor den grossen Gefahren der damaligen Impftechnik „von Arm zu Arm“, nämlich von einem geimpften Kind Lymphe aus der aufgeblühten Impfpustel zu nehmen und als Impfstoff für ein weiteres Kind zu nutzen. Damit könnten die verschiedensten Krankheiten übertragen werden, insbesondere durch Unachtsamkeit in den öffentlichen Impfanstalten. Auch der Ärztliche Verein von Hamburg betrieb eine solche Einrichtung auf freiwilliger Basis. Doch Wolf war sehr daran gelegen, nicht den Eindruck zu vermitteln, mit dieser Kritik seinen Hamburger Vereinskollegen in den Rücken fallen zu wollen und sich mithin unkollegial zu verhalten. Auch wenn die meisten öffentlichen Vakzinationsanstalten, so Wolf, „die wahren Werkstätten des unendlichen Verderbens“546 seien, so treffe dies nur „zum Theil“ auf die hamburgische Anstalt zu, und dies „obgleich ihr Männer von der gründlichsten wissenschaftlichen Bildung in ihrem Berufe und dem reinsten Patriotismus vorgestanden haben und noch vorstehen“.547 Wolfs Signal wurde wohl verstanden. Der Leiter der Hamburgischen Impfanstalt und Vereinskollege Buek widersprach zwar in einer Antwortschrift inhaltlich, bescheinigte dem „mit Recht sehr geschätzten Arzt Dr. Leo Wolf“ allerdings ein kollegiales Verhalten, da er den Streit nicht selbst 543 Michael (1896), S. 170. Caesar Hartog Gerson (1823 – 1887) firmiert im Adressbuch ab 1858 u. a. als Augenarzt und gründete zwei Jahre zuvor die erste Klinik für Augenkranke in der Stadt als privates Institut. Brandis (1981), S. 20. Bereits im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert hatte sich der hamburgische Arzt und Arztsohn Meyer Abrahamson (1764 – 1817), der auch am jüdischen Krankenhause tätig war, vor allem mit Augenkrankheiten beschäftigt. Michael (1896), S. 237. 544 Geboren 1848, promoviert in Würzburg 1872 gestorben 1897. Er war Vorsteher der HNO (ORL)-Abteilung des Hamburgischen Jüdischen Krankenhauses. Vgl. Koren (1972), S. 221. Sein Vater, Michael Isaak, war in der israelitischen Gemeinde Hamburgs engagiert. Michael (1896), S. 281. Zur Aktivität jüdischer Ärzte in der Medizingeschichte siehe Jütte (1999). 545 Wolf (1822). 546 Wolf (1822), S. 24. 547 Wolf (1822), S. 25.

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aus den Reihen der Fachöffentlichkeit heraus getragen habe.548 Dies war nämlich erst geschehen, als Wolfs Schrift in der Hamburger Presse angezeigt und auf die Hamburger Verhältnisse übertragen worden war. Im Gegenteil präsentierte sich Wolf in diesem Buch an vielen Stellen als idealer Standesvertreter und nahm ärztliche Berufsidentität und Kollegialität immer wieder zum Massstab seines Handelns. Er beschrieb sich als Arzt, der sich selbst für seine Patienten aufopfere,549 als seriöser, erfahrener Impf-, Hospital- und Armenarzt, der damit seinem Staate diene, und nannte die Kollegen „Amtsgenossen“, als sei er Staatsbeamter und nicht lediglich geduldeter Jude.550 Wolf ereiferte sich darüber, dass in den Anfängen der Pockenschutzimpfung sogar Laien geimpft hätten,551 und widmete sein Buch einem der berühmtesten deutschen Kollegen dieser Zeit, Ernst Ludwig Heim.552 Seine Kritik an der Impfpraxis legitimierte Wolf sogar mit der Berufung auf ärztliche Berufspflichten, „die mehr erforderten, als die nackte Anwendung erlernter technischer Normen“.553 Er setzte sich genauer mit der Frage auseinander, wie weit die „zünftige Collegialität“ gehen dürfe: „Die gegenseitige Nachsicht unter den Ärzten sollte nur verzeihliche Irrthümer, sowie die aus strengem Pflichtgefühle zuweilen vernachlässigte collegiale Convenienz, nicht aber offenbar pflichtwidrige Handlungen treffen. Diesen haben es die Ärzte zu verdanken, dass […] die äussere Achtung dieses Standes immer mehr abnimmt.“554 Auch wolle er keine konkreten Fälle öffentlich nennen, sondern „im allgemeinen“ sprechen.555 Schliesslich sicherte sich Wolf nochmals gegen den Vorwurf ab, es werde ihn wegen der Kritik an wenigen „wohl niemand einer ungerechten oder gar feindseligen Gesinnung gegen meine Amtsgenossen im Allgemeinen mich beschuldigen“.556 In der Folge hob Wolf zu einer sich über vier volle Seiten hinziehenden Fussnote über das Wesen des Arztberufes in Bezug auf Pflichterfüllung und Sittlichkeit an.557 Wolfs ausschweifende Argumentation macht im Ganzen gesehen nicht nur 548 549 550 551 552 553 554 555

Dworak (1984), S. 39. Wolf (1822), S. XII. Wolf (1822), S. V. Wolf (1822), S. VII. Wolf (1822), S XX. Wolf (1822), S. V. Wolf (1822), S. 19, Fussnote. Wolf (1822), S. 19. Ähnlich verzichtete der Vereinshistoriograph Daniel Rudolf Warburg im Jahre 1866 „geflissentlich“ darauf, auf „collegiale Zerwürfnisse“ innerhalb des Vereins einzugehen. Warburg (1866), S. IV. 556 Wolf (1822), S. 53. 557 „Ein so grosses Verhältnis der treuen und gewissenhaften Pflichterfüllung zu dem Gegentheile, möchte wohl kein Stand aufzuweisen haben, und wäre, wenn es sich bestätigte, schon in moralischer Hinsicht ein weit wichtigerer Grund, die Erlangung der höchsten Würden in der Heilkunde als das sicherste Palladium der Sittlichkeit noch viel allgemeiner zu empfehlen (…)“. Wolf (1822), S. 53.

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den Eindruck, dass ihm das Standesbewusstsein wichtig war, es spricht aus ihr m. E. sogar eine ausgesprochene Furcht, ihm könne dieses Bewusstsein von Kollegen abgesprochen werden. Dies macht noch deutlicher, was für einen hohen Stellenwert es für ihn hatte, als ehrenwerter Berufsvertreter angesehen zu werden. Wolfs Identifikation mit der Standesvertretung reichte sogar über seinen Tod hinaus. In seinem Testament vermachte er deren „Fonds zur Unterstützung hilfsbedürftiger hiesiger Ärzte“ eine ansehnliche Stiftung in Höhe von 1.000 Mark Courant.558 Für seine wissenschaftlich-professionelle Identität ist dies um so bedeutender, als er damit – wohl der jüdisch-religiösen Tradition folgend – eine mildtätige Stiftung bedachte, allerdings eine professionelle und keine jüdische Einrichtung. Anders sein Bruder, der Kupferstecher Loeser Leo Wolf (1781–ca. 1820). In dessen Testament vermacht er insgesamt 1.200 Mark Courant an verschiedene israelitische mildtätige Einrichtungen.559 Wolf war kein Einzelfall. Auch der konvertierte Friedrich Alexander Simon gab an, mit seinen Tiraden gegen die Homöopathie die „Würde und Wahrheit der Arzneywissenschaft“ zu retten, denn die Homöopathie habe „den Layen mehr als zu viel Anlass gegeben, sich in die innersten und heiligsten Angelegenheiten der Kunst zu mischen, wobey ihr Ansehen und ihre Ehre nie gewinnen wird“.560 Und als Arztpersönlichkeit par excellence beschrieb der Arzt Moritz Adolf Unna561 seinen verstorbenen Kollegen und Schwiegervater Georg Hartog Gerson in einem Nekrolog im Jahre 1846: „G. vertrat stets den ärztlichen Stand auf die würdigste Weise, und denselben zu heben, war eine der Aufgaben seines vielbewegten Lebens, die er theils durch Aussprechen in den ärztlichen Versammlungen, theils durch privatim geübte Einwirkung zu lösen suchte“.562 Selbst falls damit eher Unnas Wunschbild als Gersons Charakter beschrieben sein sollte, zeigt dieses Zitat doch in jedem Fall, wie jüdische Ärzte als typische Standesvertreter wahrgenommen werden wollten und dieses Selbstverständnis zweifellos einen wichtigen Teil ihrer Identität ausmachte. All dies illustriert die ganz besondere Bedeutung, die es für diese Juden gehabt haben muss, Arzt im Sinne des ärztlichen Berufsstandes zu sein. Dass gerade Juden so aktiv waren, lässt darauf schliessen, dass es ihr jüdischer Hintergrund war, der einen Hintergrund für die besondere Aktivität bildete. Einer der wichtigsten Faktoren für ein typisch professionalisiertes ärztliches Image war und ist es, Wissenschaft zu betreiben. Am Beispiel der Berliner 558 Staatsarchiv Hamburg, Sig. 232 – 3 Testamentsbehörden. Alphabetische Serie, Testament LeoWolf, William vom 6. 11. 1848. S. a. Warburg (1866), S. 66, Michael (1896), S. 97. 559 Staatsarchiv Hamburg, Niedergericht B 756. Zum Wandel von Testamenten von Juden siehe auch Zürn (2002). 560 Simon (1834), S. XIVf., XX. 561 Geboren 1813 in Hamburg, promoviert 1835 in Heidelberg, später als Arzt in Hamburg praktizierend, heiratete 1845 eine Tochter von Georg Hartog Gerson und starb 1888. Vgl. Schröder (1851 – 83), Bd. 7 f, S. 461, Michael (1896), S. 308. 562 Unna (1846), S. 803.

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jüdischen Ärzte war bereits ihr frühes Rollenmodell des „Gelehrten“ herausgearbeitet worden. Dies liesse sich auch für einige ihrer Hamburger Kollegen aufzeigen, im späten 18. Jahrhundert etwa Georg Levison. Für das frühe 19. Jahrhundert ist auffällig, welche Bedeutung wissenschaftliche Beschäftigungen für die jüdischen oder die konvertierten Ärzte in Hamburg hatten und wie häufig dies in den Biografien hervorgehoben wurde. Für Leo Wolf etwa sei die Wissenschaft bis in die letzten Lebensjahre eine „alte Liebe“563 gewesen. Solange er es körperlich konnte und bis kurz vor seinem Tode besuchte Wolf die wissenschaftlichen Versammlungen des Vereins und beteiligte sich aktiv an ihnen.564 Der Biograph von Georg Hartog Gerson überhöhte dieses Phänomen sogar ins Psychologische, wenn er schrieb, Gerson habe seit seiner frühen Jugend einen ausgesprochenen „Trieb zu wissenschaftlichen Beschäftigungen“ gezeigt.565 Einer der wichtigsten Orte für die wissenschaftliche Praxis war und ist die Universität. In Hamburg fiel diese Möglichkeit weg, nicht nur für die jüdischen Ärzte, sondern auch für die christlichen, weil in dieser Stadt erst im 20. Jahrhundert eine Universität gegründet werden sollte. Einen weiteren Ort für wissenschaftliche Praxis stellt das Publikationswesen dar. Das Veröffentlichen von medizinischer Fachliteratur gehörte damals zu den am meisten verbreiteten Ausdrucksformen medizinischer Professionalität. Allgemein zeichneten sich die Ärzte Hamburgs mit jüdischem Familienhintergrund durch sehr rege literarische Aktivitäten aus, allerdings ist dies nicht einfach zu quantifizieren. So könnte man etwa auf eine nicht ganz verlässliche Zusammenstellung des literarischen Wirkens hamburgischer Ärzte zurückgreifen.566 Filtert man aus ihr die „Vielschreiber“ aus, also diejenigen, die mit 20 oder mehr Titeln vertreten sind, so hat die knappe Hälfte der Kollegen (sieben von 16) einen jüdischen Familienhintergrund.567 Dies liefert zumindest einen groben Hinweis darauf, dass das Publizieren unter den Ärzten unseres Samples überproportional verbreitet war. Unter ihnen waren unermüdliche Schriftsteller wie Nikolaus Heinrich Julius. Friedrich Alexander Simon war nach Aussage des Vereinschronisten Michael „einer der fruchtbarsten Schriftsteller, nicht allein unter den Hamburger Ärzten, sondern von den Ärzten überhaupt“.568 Wissenschaftliche Tätigkeit, das Sammeln und Darstellen nicht nur medizinischer Wissensbestände und Praktiken, war beinahe der ausschliessliche Lebensinhalt des „Philanthropen und Polyhistor“,569 für Michael (1896), S. 144. Warburg (1866), 65 f. Unna (1846), S. 801. Michael (1896), S. 236 ff. Es sind dies Meyer Abrahamson (s. o.), Hirsch Marcus Cohen (s. u.), Nikolaus Heinrich Julius, Friedrich Wilhelm Oppenheim, Friedrich Alexander Simon, Salomon Ludwig Steinheim und Daniel Rudolph Warburg. 568 Michael (1896), S. 298. 569 Maser (1988), S. 191. 563 564 565 566 567

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den er in den 1820er Jahren seine medizinische Praxis aufgab und ein Leben in wirtschaftlich recht wechselhaften Umständen in Kauf nahm. Seine Publikationsliste reicht über mehrere Seiten. Besser lässt sich die publizistische Aktivität in einem anderen Segment quantifizieren, der Herausgeberschaft von Zeitschriften. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert bildete sich neben dem Buch langsam die Zeitschrift in unserem heutigen Verständnis einer regelmässig erscheinenden Publikation, zu der unterschiedliche Autoren zu einem bestimmten Fachgebiet beitragen, als zweites wissenschaftliches Medium heraus. Gerade Zeitschriften, die sich speziell an Ärzte richteten, waren im frühen 19. Jahrhundert im Vergleich zu Büchern ein überaus modernes Medium. Nicht zuletzt als Reaktion auf die fehlende Universität entwickelte sich in Hamburg schon im ausgehenden 18. Jahrhundert ein reges medizinisch-wissenschaftliches Zeitschriftenwesen. Zwischen 1720 und 1850 wurden im Raum Hamburg mehr als 20 unterschiedliche medizinische Zeitschriften herausgegeben.570 Die meisten, vor allem die frühen dieser Periodika, waren recht kurzlebig und erschienen nur in einigen wenigen, über einen längeren Zeitraum verstreuten Heften. Gerade die Titel des 18. Jahrhunderts reihen sich zum Teil in das Genre der so genannten „moralischen Wochenschriften“571 ein und richteten sich statt an die Ärzteschaft vor allem an ein medizinisches Laienpublikum. Zu ihnen zählt die in der Medizingeschichte recht bekannte Wochenschrift „Der Arzt“ des christlichen Hamburger Arztes Johann August Unzer.572 Erst das 19. Jahrhundert brachte dann Zeitschriften hervor, die diesen Namen in unserem heutigen Verständnis eher verdienten und länger überlebten. Dieses Bild ist indes für den medizinischen Zeitschriftenmarkt dieser Zeit allgemein recht typisch.573 Und auch hier zeigt sich wieder eine Überrepräsentanz der Ärzte unseres Samples. Seit den 1780er Jahren engagierten sich Ärzte aus jüdischen Familien im medizinischen Zeitschriftenwesen Hamburgs und Altonas. Während generell jeder vierte hamburgische Arzt einen jüdischen Familienhintergrund hatte, war der Anteil an Herausgebern medizinischer Zeitschriften grösser, insgesamt nämlich ein Drittel. Nach 1817 lag der Anteil sogar noch höher. Und rechnet man nicht einfach nur die Herausgeberschaft an sich, sondern ihre 570 Gemeint sind Zeitschriften, die einen nennenswerten Bezug zu Hamburg haben, indem sie aus dem hamburgischen medizinischen Milieu stammten bzw. ihre Herausgeber oder Redakteure zumindest zum Teil in Hamburg oder Altona lebten. Aus diesem Grunde wurden Zeitschriften, bei denen nur der Verlagsort einen Bezug zu Hamburg zeigte, nicht aber die Herausgeberschaft, ausgenommen. Nicht aufgenommen wurden auch allgemein naturwissenschaftliche und gelehrte Periodika aus dem Raum Hamburg, deren Titel nicht explizit auf Medizinisches verweisen und deren Inhalt nur zum Teil medizinischer Natur ist. Diverse Cholera-Zeitungen aus den Jahren 1831/32 wurden ebenfalls nicht berücksichtigt. 571 Loetz (1988), hier S. 191. 572 Loetz (1988). 573 Vgl. Garrison (1934). Allgemein dazu auch Bynum et al. (1992).

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Dauer, wird die Sache noch offensichtlicher, denn die Ärzte mit jüdischem Familienhintergrund agierten jeweils besonders lange in ihrer jeweiligen Funktion: Der Anteil an „jüdischen Herausgeberjahren“, wenn man das so nennen will, geht über 50 Prozent hinaus. Die Bedeutung dieses Anteils ist um so grösser, als Juden im Hamburg dieser Zeit generell kaum eine Rolle im Pressewesen spielten.574 Hier einige Beispiele: Der jüdische Arzt und Religionsphilosoph Gumpertz bzw. Georg Levison gab zwischen 1785 und 1790 zwei medizinisch-moralische Wochenschriften heraus – zunächst unter dem Titel „Die Ärzte“, dann als „Die Deutsche Gesundheits-Zeitung“, die sich ebenso an Ärzte wie auch an medizinische Laien wandten und damit dem typischen Genre der „Volksaufklärung“ entsprachen.575 Die Zeitschriften enthielten Krankengeschichten und gaben medizinisch-diätetische Ratschläge in populärer Form.576 Levison zählte damit zu den ersten Juden, welche eine deutschsprachige Zeitschrift edierten.577 Der hier bereits häufiger genannte Leo Wolf gehörte nicht zu den sieben Zeitschriftenherausgebern, wohl aber sein aus Göttingen zugezogener Kollege Joseph Jacob Gumprecht. Gumprecht gab nicht nur eine der ersten medizinischen Fachzeitschriften für Geburtshilfe heraus („Hamburgisches Magazin für Geburtshülfe“), er war auch einige Jahre verantwortlich für die Zeitschrift des ärztlichen Vereins, die zunächst unter dem Titel erschien: „Hamburgisches Magazin für die ausländische Literatur der gesammten Heilkunde“578. Diese Zeitschrift berichtete penibel und ausführlich über Aufsätze, die in medizinischen Zeitschriften des Auslands erschienen waren und veröffentlichte diese zum Teil in deutscher Übersetzung. Bei dieser Zeitschrift war die Aktivität jüdischer Ärzte enorm. Ein anderer ihrer Herausgeber war Georg Hartog Gerson. Während 18 Jahren finden sich in jeder Nummer dieser Zeitschrift ein oder mehrere Literaturberichte aus seiner Feder. Ein weiterer Lieferant solcher Artikel, der seit 1821 auch zum Herausgeber wurde, war der „Vielschreiber“ Nikolaus Heinrich Julius, der das Vereinsblatt später unter anderem Titel über längere Zeit herausgab. Dass die sieben Kollegen zu Herausgebern medizinischer Zeitschriften wurden, war Ausdruck der äusserst hohen Wertschätzung, die sie ohne Ausnahme der medizinisch-wissenschaftlichen Betätigung jenseits der ärztlichen 574 Siehe Zimmermann (1979), S. 29. 575 Böning (1990). Weitere Beispiele volksaufklärerisch tätiger jüdischer Ärzte siehe KasperHoltkotte (1993), S. 145, 149 f. 576 Schoeps (1952), S. 161. 577 Vgl. Römer (1995), S. 46. 578 Unter diesem Titel 1 (1817) bis 3 (1819). Fortgesetzt unter dem Titel „Magazin der ausländischen Literatur der gesammten Heilkunde und Arbeiten des Ärztlichen Vereins zu Hamburg. 1 (1821) – 20 (1830), Neue Folge 1 = 21(1831) bis 10 = 30 (1835). Dies fortgesetzt unter dem Titel „Zeitschrift für die gesammte Medicin. Mit besonderer Rücksicht auf Hospitalpraxis und ausländische Literatur“ 1(1836) bis 15 (1851). Damit Erscheinen eingestellt.

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Praxis entgegenbrachten. Die Herausgabe von Zeitschriften und die damit verbundene Redaktionsarbeit haben für mich aber noch eine weitere Bedeutung als nur diejenige, Symbol von wissenschaftlicher Reputation zu sein. Im Gegensatz zur Veröffentlichung von Büchern ist die Herausgeber-Tätigkeit wesentlich kommunikativer. Nicht nur, dass viel Kontakt mit einer grösseren Anzahl von Autoren gehalten werden muss. Zeitschriften sprechen in der Regel auch einen breiteren Leserkreis an als den eines in der Regel spezialisierten Buches. Das gilt insbesondere für die Zeitschrift des ärztlichen Vereins, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, über Artikel aus ausländischen Zeitschriften zu berichten und sie zu übersetzen. All dies sind weitere Indizien, dass es bei diesen Aktivitäten insbesondere auch um eine demonstrative Teilhabe an der wissenschaftlichen Community ging. Schliesslich kann auch noch erwähnt werden, dass sich einige der Ärzte des Samples stark für hamburgische medizinische Bildungseinrichtungen engagierten. Schon vor 1818 leitete Georg Hartog Gerson als Arzt zusammen mit einem Apotheker die „Pharmazeutische Gesellschaft“, die sich um die Fortbildung der Apothekergehilfen bemühte.579 Gerson, Oppenheim und drei christliche Ärzte initiierten in Hamburg eine anatomisch-chirurgische Lehranstalt für die Ausbildung der Handwerkschirurgen und wirkten dort über Jahre als Dozenten.580 Joseph Jacob Gumprecht betrieb in Hamburg eine Hebammenschule.581 Gumprecht erklärte sich 1817 darüber hinaus bereit, die Einrichtung einer Ammenanstalt zu übernehmen, die allerdings nie realisiert wurde.582 In der Zusammenschau all dieser Aktivitäten wird offensichtlich, dass jüdische Ärzte oder solche mit jüdischem Familienhintergrund eine überproportionale Aktivität dort zeigten, wo medizinische Tätigkeit mit einer öffentlichen Demonstration akademischer Professionalität oder professioneller Berufsidentität verbunden war. Welcher Zusammenhang aber kann zwischen diesem besonderen Engagement und ihrem Jüdischsein bzw. ihrer jüdischen Herkunft bestehen? Diese Frage lässt sich zunächst lediglich indirekt beantworten. Zwischen Bürgertum und Judentum Hamburgische Ärzte mit jüdischem Familienhintergrund waren in diesem Zeitraum noch „typischere“ Ärzte und noch „typischere“ Wissenschaftler als ihre christlichen Arzt- und Wissenschaftlerkollegen. Meine These ist, dass einer der Hauptgründe für die Übernahme dieser Rolle der Wunsch war, ein 579 Rodrega (1979), S. 101. 580 Rodegra, (1979), S. 98. S.a. ders. (1983), S. 49 ff. Siehe die Angaben im Abschnitt über Friedrich Wilhelm Oppenheim. Die Angabe in Wininger (1927 – 36), er sei dort Professor gewesen, ist offensichtlich falsch. 581 Schröder (1851 – 83) Bd. 3, S. 20. 582 Michael (1896), S. 96, Warburg (1866), S. 16.

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etablierter Teil der wissenschaftlich-akademischen und damit auch der bürgerlichen Hamburger Gesellschaft zu sein. Der Arztberuf sollte ihnen dafür eine Plattform bieten. Diese Ärzte wollten damit zeigen, dass sie ganz „normale“ Hamburger Bürger sein konnten. Sigismund Samuel Hahn hatte mit seinem eingangs zitierten Toast zum 50. Jubiläum des ärztlichen Vereins in wenigen Worten formuliert, was ihnen allen von Bedeutung war : „Freiheit der Wissenschaft! Freiheit des Gewissens! Freiheit des Bürgerthums! Amen!“ Mit anderen Worten: Es ging um die Wissenschaft als Hort bürgerlicher Freiheit. Dass er dies mit einer religiösen Bekräftigungsformel, dem „Amen“ beendete, ist eher eine Ausnahme, spielte die Religion im Ärzteverein doch praktisch keine öffentliche Rolle. Der Grund für das „Amen“ dürfte in seiner integrativen Bedeutung gelegen haben, da es ebenso eine jüdische wie eine christliche Formel ist. Der jüdische Integrationswunsch in die christlich dominierte bürgerliche Gesellschaft ohne eine völlige Aufgabe der jüdischen Identität wird hier deutlich wie sonst kaum. In begrenztem Umfang hatten diese Ärzte damit auch Erfolg, wie sich gerade am Beispiel des Ärztlichen Vereins zeigt. Sie waren Teil des medizinischen Establishments in Hamburg. Sie waren Vorstandsmitglieder, Herausgeber der Vereinszeitschriften, Festredner auf Jubiläen, Vereinshistoriographen. Ihre Porträts wurden im Vereinslokal aufgehängt. Möglicherweise wurden sie gerade deshalb in diesem Umfang akzeptiert, weil sie die bürgerlichen und, als Teil davon, die akademischen Werte der Ärzte explizit lebten. Georg Hartog Gerson repräsentierte in den Augen eines seiner Biographen die Kombination aus Fleiss und Bescheidenheit, also typischer bürgerlicher Werte.583 Andere verkörperten den bürgerlichen Wert der Trinkfestigkeit. Einige Ärzte mit jüdischem Familienhintergrund waren nämlich Mitglieder in dem hamburgischen „Veronica-Verein“, einem gutbürgerlichen MännerFreizeit-Club, in dem neben Essen und dem Kartenspiel der Alkoholgenuss alles andere als eine geringe Rolle spielte. „Mitstifter“ und seit der Gründung 1839 Vorstand war Daniel Rudolf Warburg. Die Mitglieder besangen ihn, die „Seele des Vereins“, bei einer Feier 1844 mit einem längeren Gedicht, in dem es unter anderem heisst: „Sein Stamm soll ewiglich bestehn und sich entfalten reich und schön, wie das Geschlecht von Abraham und wie der Maccabäerstamm“.584

Sein Judesein war also mehr als bekannt in seinen Kreisen. Ein weiteres Gedicht auf ihn im Jahre 1880 lobt Warburg als Tierfreund: 583 In seinem Nachruf wird er als leidenschaftslos und uneigennützig bezeichnet. S. Necrolog (1845), S. 139. 584 Veronicabüchlein, (1861), S. 48.

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„Sonst liebt er manche Thiere, natürlich gar decent, (Fisch, Austern, Vögel, Stiere etc.) als Thierschutz-Präsident.“585

Warburg war in der Tat Gründer und langjähriger Präsident des örtlichen Tierschutzvereins.586 Jenseits des ironisch bemerkten Widerspruchs von Tierschutz und Fleischverzehr lobt das Gedicht zwei typisch bürgerliche Tugenden dieser Zeit: Den Tierschutz und das Feinschmeckertum. Vor allem die Liebe zu den genannten, alles andere als koscheren Austern dürfte in Hamburg in hohem Masse als bürgerliche Tugend gegolten haben. Bereits Heinrich Heine hatte in seinem eingangs zitierten „Wintermärchen“ ja gespottet, dass die jüngeren Hamburger Juden nun Schweinefleisch ässen. Ein anderes Beispiel ist der Umstand, dass Georg Hartog Gerson sich in seiner aktiven Zeit zu einer Art Integrationsfigur des Ärztlichen Vereins entwickelte, etwa als es 1841 zu einem internen Streit über die Zahl der Ehrenmitglieder kam.587 Sicherlich war diese Integration aber auch überaus brüchig. Gerson etwa hatte trotz grosser Wertschätzung seiner Person während seines Lebens in Hamburg mit Ressentiments zu kämpfen, wie sein Biograph in allerdings eher vagen Andeutungen bemerkte.588 Im 18. Jahrhundert war Georg Levison nicht zuletzt als Jude von Kollegen offen angefeindet worden. Und Leo Wolf emigrierte auch wegen der „Reaction“ und Unterdrückung seine Glaubensgenossen im Jahre 1829 zeitweise in die Vereinigten Staaten.589 Dass sich diese Ärzte nicht nur als „Bürger“, sondern auch als „Deutsche“ bzw. „Hamburger“ Patrioten fühlten, zeigt das hinlänglich bekannte Phänomen einer verbreiteten Teilnahme an militärischen Aktionen dieser Zeit gegen Frankreich. Gerson und Julius kämpften auf englischer Seite in der „Deutschen Legion“ gegen das napoleonische Frankreich. Hahn war in der „hanseatischen Legion“, Assing zog in einem preussischen Kavallerieregiment in die sog. „Befreiungskriege“.590 Ignatz Gumprecht, der Bruder von Joseph Jacob, verliess Hamburg während der Zeit der Belagerung 1813 und 1814 und war teils in Lüneburg in einem Hospital der Alliierten tätig.591

Veronicabüchlein (1880), S. 53. Michael (1896), S. 308. Warburg (1866), S. 42. Unna (1846), S. 793, 806 f. Michael (1896), S. 309. Allerdings fand er auch in den USA Ressentiments gegen Juden vor. Kahn (1986), hier S. 431 – 434. 590 Grunwald (1904), S. 64; zu Gerson: Unna (1846), S. 797 ff.; zu Hahn: Michael (1896), S. 269, zu Assing: Hirsch (1962), Bd. 1, S. 228. Vgl. dazu Kümmel allgemein (1988), S. 19. 591 Grunwald (1904), S. 63. Geboren Göttingen 1780, dort 1800 promoviert und danach in Hamburg praktizierend, erhielt in seinem späteren Leben viele öffentliche Ehrungen. Starb 1863. In seiner Dissertation, die aber offenbar nie erschienen ist, setzte er sich mit dem 585 586 587 588 589

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Allerdings war das Verhalten der jüdischen Ärzte keine bedingungslose Assimilation. Eine ganze Reihe von ihnen fühlte sich nämlich fest im Judentum verwurzelt. Das eindrücklichste Beispiel hierfür ist wiederum Leo Wolf. Im öffentlichen Leben war Wolf nämlich nicht nur als Arzt bekannt, sondern (bis zu seiner Abreise in die USA592) genauso als Aktivist in jüdischen Angelegenheiten. So zählte er (neben Joseph Jacob Gumprecht) zu den 65 Hausvätern, die am 11. Dezember 1817 den Hamburger Tempel, eine der frühen Organisationen des Reformjudentums, ins Leben riefen. Wolf wurde in die Direktion gewählt und blieb dort bis 1825.593 Zeit seines Lebens muss Wolf ein religiöser Jude gewesen sein, nicht zuletzt nannte der Tempelprediger S. Salomon ihn anlässlich seines Todes „einen Weisen und Frommen“ und „ächten Israeliten“, der „fast jedem Frühgottesdienst an Sabbat- und Festtagen“ beigewohnt habe.594 Darüber hinaus war er ein aktives Mitglied des hamburgischen Ablegers des Berliner „Kulturvereins“, genauer des „Vereins für Kultur und Wissenschaft der Juden“,595 einer der frühen Organisationen, die auf der Basis eines jüdischen Geschichtsbewusstseins eine moderne jüdische Identität propagierten. Er trat diesem 1821 gegründeten Zweigverein um den Reformrabbiner Gotthold Salomon596 mit sechs anderen Hamburger Tempelvereinsmitgliedern nach einigen Wochen bei.597 Schliesslich war Wolf in Hamburg korrespondierendes Mitglied des jüdischen Siedlungsprojektes „Ararat“ in den USA.598 Auch von anderen jüdischen Ärzten ist ein Engagement für jüdische, meist reformerische Belange bekannt. Zur Direktion der israelitischen Freischule Hamburg zählten die jüdischen Ärzte Joseph (Isaak) Levy, Sigismund Samuel Hahn, Georg Hartog Gerson und Salomon Elias Nathan. Diese und ihre Kol-

592 593

594 595 596 597 598

Judentum auseinander: „De rituum religionis judaicae in sanitatem influxu“. Weitere Bezüge zum Judentum sind nicht bekannt. Vgl. Michael (1896), S. 267. Die aufgelisteten Aktivitäten gelten nur für die Zeit bis zu seiner Rückkehr aus den USA im Jahre 1836. Danach war er nicht mehr öffentlich tätig. Vgl. Nachruf am Grabe des Dr. W. Leo Wolf (1850). Wolf war Mitbegründer und „Direktor“ (meint: Vorstandsmitglied) des „Neuen Israelitischen Tempelvereins“ in Hamburg von 1817 bis 1825. Reissner (1965), S. 68. Er verteidigte den Tempel gegen Angriffe von aussen, wie bei Salomon (1844), S. 20 ff. dargestellt. Der Tempel bestand aus einer vierköpfigen Direktion, einer fünfköpfigen Deputation und einem 15köpfigen, durch Los jährlich zusammengesetzten „Comit¦“. Die Mitglieder, eine schmale und elitäre Avantgarde, setzten hier ein Stück bürgerlicher Kultur um. Vgl. Brämer (2000), S. 13 f., 125. 1823 ist Wolf Präses der Tempeldirektion (S. 29). Vgl. Nachruf (auf William Leo-Wolf) (1850). Briegleb (1989), S. 113. Wolf forderte gegenüber den Berliner Vereinsmitgliedern ein konfrontativeres Verhalten gegenüber Behinderungen der Juden und deren Reformbewegung ein. Mehr zum Verhältnis des Hamburger Zweigvereins zur Zentrale in Berlin in ebd., S. 109 ff. Nach Reissner (1962), S. 27. Reissner (1962).

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legen Hirsch Marcus Cohen599, ein Dr. med. Japha, wahrscheinlich Maximilian Benedict Jaff¦600, Wilhelm Ries601, Immanuel Ruben602, Hermann Salomon603 und Moritz Adolph Unna unterstützten die Schule regelmässig mit Geldbeträgen.604 Sigismund Samuel Hahn setzte seine Begabung als Festredner auch im jüdischen Umfeld öffentlich ein, etwa bei einer Jubiläumsfeier für Moses Mendelssohn oder anlässlich einer Ehrung für den Juristen, Emanzipationsaktivisten und Politiker Gabriel Riesser.605 Salomon Elias Nathan schliesslich veröffentlichte 1835/36 Schriften zu jüdischen Themen, in denen er sich auch als Jude bezeichnete.606 Alle diese Ärzte thematisierten ihren jüdischen Hintergrund in ihrem medizinischen Tätigkeitsbereich praktisch nicht. Diese scharfe Aufteilung der Lebensbereiche – hier in einen professionell-medizinischen und einen kulturell-religiösen – ist ein ganz typisches Phänomen für die jüdischen Ärzte dieser Zeit. Fragen ihrer jüdischen Herkunft, Fragen der jüdischen Emanzipation etwa, waren für die meisten von ihnen durchaus wichtig, wurden aber systematisch von allem Medizinischen abgetrennt. Solange sie im Rahmen ihres Arztberufs in die Öffentlichkeit traten, vermieden sie es, offensichtlich, diesen in Zusammenhang mit ihrem Verhältnis zum Judentum zu bringen. Ihrem Wissenschaftsverständnis nach hätten Fragen der Religion darin möglicherweise auch gar keinen Platz gefunden. Doch diese Erklärung greift zu kurz. Dazu können wir noch einmal auf Leo Wolf zurückkommen. Auch er erwähnte etwa in seinen medizinischen Veröffentlichungen seine enge Verbindung zum Judentum praktisch mit keiner Zeile, selbst wenn dies an der einen oder anderen Stelle nahe gelegen hätte. Auf der anderen Seite findet sich in seiner Schrift, in der er die Impfpraxis kritisiert, eine lange, sich über vier Seiten hinziehende Passage, in der er sich über die grosse Bedeutung der

599 Geboren 1800 in Hamburg, promovierte 1820 in Berlin, danach Arzt in Hamburg, starb ebenda 1874. Vgl. Michael (1896), S. 251. 600 Max Jaff¦, geboren in Hamburg 1820, promoviert in Berlin 1844, danach in Hamburg praktizierend. Seit 1847 Armenarzt der israelitischen Gemeinde. Gestorben 1882. Vgl. Michael (1896), S. 271, Schröder (1851 – 83), Bd. 3, S. 466 – 469. schrieb ein Stück unter dem Titel „Die heldenmüthige Jüdin“, das in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums veröffentlicht wurde, das Jahr ist nicht bekannt. 601 Geboren 1800, promoviert in Breslau 1824, gestorben 1874. Vgl. Michael (1896), S. 8. Über seinen etwaigen jüdischen Hintergrund ist allerdings nichts bekannt. 602 Geboren in Hamburg 1801, gestorben ebenda 1864. Vgl. DBA 1062/165 und Michael (1896), S. 8. 603 Geboren in Hamburg 1811, Promotion Berlin 1833, 1835 – 1872 Mitglied des Ärztlichen Vereins. Vgl. Michael (1896), S. 12. 604 Vgl. Kley (1841) S. 37, 47 – 50. 605 Sigismund Samuel Hahn: „Rede zur Säcularfeier Moses Mendelssohn’s“, Hamburg 1829, und „Worte an Gabriel Riesser bei Überreichung seiner Ehrendenkmünze“, Berlin 1836. Zitiert nach Michael (1896), S. 269. 606 Vgl. Michael (1896), S. 283. In Nathan (1836) bezeichnet er sich verklausuliert selbst als Jude und will ermöglichen, „in das nackte Innere eines Juden einen Blick zu werfen“ (S. IV).

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Religion für die Medizin auslässt.607 Wolf hebt hervor, „wie nothwendig vorzüglich dem Arzte eine lebhafte durch philosophische Besonnenheit gezügelte Phantasie und wahre Religiosität als die schönsten Blüthen der reinsten Humanität sind“.608 Diese „wahre Religiosität“ zähle zu den wichtigen Eigenschaften des Arztberufs. „Wer die Heilkunde bloß als Mittel zum Erwerbe betrachtet, ohne ganz von der Heiligkeit seines Berufs durchdrungen zu sein, wird es selten weit darin bringen.“609 Wer in diesen Ausführungen nun aber einen Hinweis auf seinen jüdischen Glauben sucht, wird enttäuscht. Den Wunsch dazu muss Wolf wohl gehabt haben. Denn nur höchst verklausuliert macht er in einem Gedankengang für das Judentum Werbung. „Vielleicht ist dieses eine der vorzüglichsten Ursachen der großen National-Verschiedenheiten, durch welche eine Nation mehr große Ärzte in einem Jahrzehnde aufzuweisen hat, als eine andere in Jahrhunderten, und dass der Stand der allgemeinen religiösen und philosophischen Bildung bei einer Nation auch stets der ihrer Heilkunde ist.“610 Mit anderen Worten: Dass es so viele berühmte jüdische Ärzte gibt, mag daran liegen, dass Juden eine hohe religiöse und philosophische Bildung haben. Ganz offensichtlich wollte Wolf das Judentum, sein Judentum, nicht explizit benennen. Wenn die Verbindungen aus Medizin und Religion seiner Ansicht nach aber so eng waren, warum nahm seine Religion dann keinen grösseren Stellenwert in seinem medizinischen Denken ein? Meine Deutung ist, dass Wolff und seine anderen jüdischen Kollegen ihren medizinischen Beruf und ihr jüdisches Glaubensbekenntnis ganz bewusst in zwei voneinander segregierte Lebensbereiche getrennt haben. Und dies aus zwei Gründen, die sozusagen zwei Seiten einer Medaille darstellen. Zunächst bot der Arztberuf ihnen die Möglichkeit einer Teilhabe an der bürgerlichen, christlich dominierten Gesellschaft, aber nur unter der Bedingung, dass ihr Judesein darin keine Rolle spielte. Hier waren sie in ihrer Vorstellung nur Ärzte, nur Wissenschaftler und keine Juden. Im Arztberuf und in der Wissenschaft hofften sie, Orte gefunden zu haben, in denen ihre Herkunft und religiöse Überzeugung keine Rolle spielen sollten. Gleichzeitig hatten viele von ihnen nicht im Sinn, ihr Judentum generell aufzugeben. Sie mussten also einen anderen Ort dafür finden. Dieser Ort konnte etwa ein separater Lebensbereich der religiösen Praxis sein oder ein Lebensbereich, in dem sie jüdische Kultur in einem moderneren Sinne ausübten. Auf diese Weise lässt sich der offensichtliche „Eiertanz“ deuten, seitenlang völlig allgemein über Religion zu schreiben, ohne das eigene Glaubensbekenntnis, das ohnehin allgemein bekannt ist, offen zu benennen. Mit diesem Argument allein liesse sich die „Segregations“-Strategie aber einfach als ausschliessliche Reaktion auf christliche Akkulturationserwar607 608 609 610

Wolf (1822), S. 53 ff. Wolf (1822), S. 56. Wolf (1822), S. 54. Wolf (1822), S. 54 f.

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tungen reduzieren, die nicht von den jüdischen Ärzten selbst intendiert war. Doch es gab noch ein anderes, ein selbst bestimmtes Motiv. Wolf und offenbar auch seine Kollegen vertraten ein Verständnis von Religion, das deren Rolle nicht mehr wie im traditionellen Judentum als lebensumspannend und alle Alltagsbereiche betreffend ansah. Religion war für sie zunehmend Konfession. Ein Verständnis, wie es Andreas Brämer gerade anhand des Hamburger Tempels zusammengefasst hat: Ein Judentum, das sich durch die Trennung einer profanen und einer heiligen Sphäre auszeichnete. Das Heilige war reduziert auf die Privatheit und den öffentlichen Bereich des Gottesdienstbesuches, der allerdings weniger der strengen Observanz religiöser Traditionen diente als der inneren Erbauung und Vergeistigung (nicht zuletzt mit deutscher Predigt, Choralgesang und Orgelmusik). Die Praxis des Jüdischseins betraf demnach nur noch einen begrenzten Lebensbereich.611 Gleichzeitig sollte das Jüdischsein das Leben nicht mehr direkt im Sinn konkreter Verhaltensregeln formen, wie es das herkömmliche, talmudisch geprägte Judentum vorsah. Und genau so wurde Wolf auch in seinem Nachruf beschrieben: „Nicht in leeren Worten und Ceremonien suchte und fand der würdige Greis das Wesen und den Kern des Israelitenthums.“612 Das Judentum sollte wie alle Religionen nur noch einen allgemeinen, moralischen Einfluss auf die Lebensführung besitzen. Religion war in den Worten von Wolf kaum mehr als eine Überhöhung allgemeiner zeitgenössischer Moralvorstellungen. Seine Ideale, so der Nachruf, seien Menschenwürde und Humanität gewesen. Dies passt auch zu dem Umstand, dass sich Wolf den „Philaleten“ zugehörig fühlte, einer überkonfessionellen deistischen Religionsanschauung.613 Und in diesem Sinne sind Wolfs Ausführungen über den Zusammenhang von Religion und Moral auch wieder vollkommen stimmig: Nicht eine einzelne Konfession solle das medizinische Handeln direkt mit einem konkreten Regelwerk bestimmen. Alle Konfessionen sollten, jede auf ihre Art, aber mit dem gleichen Ziel, der moralischen Vervollkommnung des Menschen dienen, und diese wiederum sei die Grundlage ärztlichen Handelns. Und schliesslich ist dieses Phänomen, das man als „Segregation der Lebenswelten“ bezeichnen kann, auch eine Möglichkeit, gleichzeitig ein überkonfessioneller Bürger zu werden wie auch ein Jude zu bleiben, der sein Selbstverständnis als Jude nicht über Bord kippt, sondern ihm einen neuen Platz zuweist. In diesem Sinne greift es auch zu kurz, „Wissenschaft“, „Bildung“ oder „Bürgerlichkeit“ lediglich als typische „Ersatzreligionen“ moderner Juden zu bezeichnen, da sie ein jüdisches Selbstverständnis, ja, ein konfessionelles Judentum nicht in jedem Fall einfach ablösten. Sie waren ein wesentlicher Teil des neuen jüdischen Selbstverständnisses, auch wenn sie

611 Brämer (2000), S. 13. 612 Nachruf (auf William Leo-Wolf) (1850), S. 91. 613 Zum Deismus unter Juden des 18. Jahrhunderts vgl. Feiner (2011), S. 84ff, 111.

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äusserlich des „Jüdischen“, also des expliziten Bezugs auf das Judentum, entkleidet waren. Das Modell der „Segregation der Lebenswelten“ stellt somit eine sehr wichtige Dimension jüdischer Selbstbehauptung und mithin moderner jüdischer Identität dar, die der Forschung über Judentum und Medizin bislang praktisch nicht in den Blick gekommen ist.614 Dies lag entweder daran, dass dieses Verhalten unter die problematische Deutung der „Assimilation“ geriet oder diese Ärzte der Forschung erst gar nicht in den Blick kamen. Efron zum Beispiel untersucht die Selbstbehauptung jüdischer Identität in einer bewussten Auswahl nur anhand der jüdischen Ärzte, die sich in ihrer medizinischen Tätigkeit mit jüdischen Themen auseinandergesetzt haben, etwa den sog. „Judenkrankheiten“.615 Dieses, ich nenne es das „apologetische“ Selbstbehauptungsmodell, dürfte aber vor allem im 19. Jahrhundert nicht das primäre gewesen sein, da sich nur ein kleiner Teil der jüdischen Ärzte aktiv mit diesen Fragen auseinandergesetzt hat. Er wird im dritten Teil der Arbeit genauer untersucht. Quantitativ verbreiteter und bedeutsamer dürfte das Selbstbehauptungsmodell „Segregation“ gewesen sein. Ihm auf die Spur zu kommen, war möglich, indem man sich nicht auf einzelne Beiträger zu einschlägigen Debatten konzentrierte, sondern die Gesamtheit von jüdischen oder aus dem Judentum stammenden Ärzten eines Zeitraums bezog. In diesem Kapitel konnte das Modell der „segregierten Lebenswelten“ implizit aus einigen Biographien herausgearbeitet werden. Es könnte damit der Verdacht entstehen, dass es sozusagen in die Quellen hineininterpretiert worden ist. Dass dem nicht so ist, sondern dass das Modell bereits von den historischen Subjekten selbst explizit reflektiert und propagiert wurde, soll im nachfolgenden Kapitel anhand der Biographie eines weiteren jüdischen Arztes aufgezeigt werden.

2.4 „Gelebte Moderne“: Die Trennung von ärztlicher und jüdischer Identität in den Schriften des Arzt-Literaten Phoebus Philippson (1830 bis 1860) In einer Untersuchung über jüdische Ärzte, die mehr tut als deren Aktivitäten positivistisch aufzulisten, wird man zunächst Antworten auf die Frage erwarten, welche Bedeutung für diese Ärzte ihr jüdischer Hintergrund hatte. Welchen Einfluss hatte etwa ihr jüdischer Glauben oder ihre kulturelle jüdische Prägung auf ihre ärztliche Tätigkeit? Wie brachten sie spezifische Interessen und Perspektiven als Juden in ihr medizinisches Tätigkeitsfeld ein? 614 Jenseits dieses Themenfeldes ist es allerdings durchaus Teil der Forschung, wie es im Einleitungskapitel über jüdische Identität etwa am Beispiel der „situativen Ethnizität“ erläutert wurde. 615 Vgl. Efron (2001), z. B. S. 32, 64.

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Der dritte Teil dieser Arbeit geht auf solche Fragen an Beispielen wie dem Beerdigungsfristenstreit und der Beschneidungsdebatte ein. Doch so wichtig und legitim diese Aspekte qualitativ sind, so sehr können sie doch zu dem Missverständnis führen, eine Mehrzahl der jüdischen Ärzte habe sich in ihrer öffentlichen medizinischen Tätigkeit mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Im Gegenteil, die grosse Mehrheit der jüdischen Ärzte zwischen der Haskala und zumindest der Mitte des 19. Jahrhunderts griff in ihren medizinischen Publikationen „jüdische Themen“ überhaupt nicht auf.616 Die Frage nach den „jüdischen Themen“ blendet damit das entgegengesetzte Phänomen aus, das bereits am Ende des vorangegangenen Kapitels am Beispiel der hamburgischen jüdischen Ärzte angesprochen wurde und das für das Verständnis der Bedeutung der Medizin für jüdische Ärzte in unserem Untersuchungszeitraum eine ganz zentrale Rolle einnimmt: das bewusste Ausklammern jüdischer Belange in der medizinischen Tätigkeit. Dieses Kapitel vertieft die Untersuchung des verbreiteten Phänomens. Es versucht zu zeigen, dass das Fehlen „jüdischer Themen“ nicht immer einfach nur ein Zufall oder eine Selbstverständlichkeit war, sondern häufig eine sehr bewusste Entscheidung, die im Zusammenhang mit dem kulturellen Wandlungsprozess der Juden in dieser Zeit stand. Dies ist allerdings nicht einfach nachzuweisen. Ein möglicher Lösungsweg wird in diesem Kapitel beschritten mit der Untersuchung eines Einzelbeispiels, des jüdischen Arzt-Literaten Phoebus Philippson, der sich explizit mit dieser Frage auseinandergesetzt hat. Das Beispiel soll zeigen, wie es Philippson ganz bewusst vermied, religiöse Themen oder jüdische Fragen in seinen medizinischen Arbeiten anzusprechen, und dies, obwohl er in seinem belletristischen Werk unter den Juden dafür warb, bewusst und offen zu seinem Judesein zu stehen. Den darin aufscheinenden Widerspruch löst Philippson selbst auf. Jüdische Ärzte nutzten den Arztberuf als einen nahe liegenden Ort, um ihr neues Verständnis des Judentums in die Praxis umzusetzen. Nicht jeder jüdische Arzt, der jüdische Fragen im medizinischen Bereich ausliess, tat dies auch absichtlich. Doch bei denjenigen, die sich in anderen Lebensbereichen mit Fragen des jüdischen kulturellen Wandels, der „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden, ihrer Emanzipation oder einer Reform des Judentums befassten, kann man davon ausgehen, dass sie dies auch in medizinisch relevanten Bereichen problemlos hätten tun können. Einige zeigten entsprechende Aktivitäten ausschliesslich in aussermedizinischen Bereichen. Sie unterstützten etwa die Ausbildung junger Juden in so genannten „nützlichen“, „produktiven“ Berufen wie den Handwerken, um sie von den „anrüchigen“ Karrieren des Händlers und Kaufmanns wegzubringen. Dies tat etwa

616 Dies war das Ergebnis einer breiten Recherche in den umfangreichen Beständen deutschsprachiger medizinischer Publikationen jüdischer Ärzte des frühen 19. Jahrhunderts in der National Library of Medicine, Bethesda MD, USA.

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der westfälische jüdische Arzt Alexander Haindorf.617 Ein anderes Beispiel ist der bereits dargestellte Berliner Arzt Wolf Davidson, der in seiner „bürgerlichen Verbesserung der Juden“ nur nichtmedizinische Bereiche ansprach, die für einen kulturellen Wandel notwendig seien, etwa die Befähigung der Juden, als Soldaten zu dienen.618 Themen, die einen Bezug zur Medizin hatten und für die ein Arzt besondere Kompetenz hätte beanspruchen können, wären ausreichend vorhanden gewesen. Ein Einzelbeispiel kann genauere Anhaltspunkte geben, welche Ursachen sich hinter diesem Phänomen verstecken konnten. Phoebus Philippson619 war ein jüdischer Arzt, der als Schriftsteller in zwei Bereichen tätig war, der Medizin und der schöngeistigen Literatur. Er wurde 1807 in Dessau als Sohn eines überzeugten Maskil geboren. Sein Bruder war der Rabbiner Ludwig Philippson, prominenter Vorkämpfer eines reformierten Judentums und über fünf Jahrzehnte Herausgeber der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“. Phoebus studierte Medizin in Halle, promovierte dort 1828 und praktizierte darauf sechs Jahre lang in Magdeburg, wo er seine meisten medizinischen Arbeiten verfasste. 1835 zog er in die nahe gelegene Kleinstadt Kloetze, wo er bis zu seinem Tode im Jahre 1870 blieb. Parallel zu seiner ärztlichen Praxis schrieb er hier den grössten Teil seines erfolgreichen belletristischen Werks, einige Kurzgeschichten und einen umfangreichen Roman.620 Sein gesamtes Leben über war Phoebus Philippson ein bewusster und gläubiger Jude. Ähnlich seinem Bruder war er um eine angemessene Reform der deutschen Judenschaft bemüht. Hierfür setzte er sich allerdings nicht mit seinen medizinischen Schriften ein, obwohl man dies nach eigenen Aussagen durchaus von Philippson hätte erwarten können. 1837 veröffentlichte Phoebus Philippson nämlich die Novelle „Die Marannen“ (sic!), die im Spanien des ausgehenden 15. Jahrhunderts während der Verfolgung und Vertreibung der Juden spielt.621 Kurz zusammengefasst versuchte Philippson mit der Geschichte ein Beispiel zu geben, wie diese Sefarden versuchten, gleichzeitig Spanier und Juden zu sein. Die zentrale Aussage der Novelle richtete sich ganz direkt an Philippsons Zeit- und Geistesgenossen, die reformierten deutschen Juden des 19. Jahrhunderts: Um ein emanzipierter Bürger zu werden, muss man sein Judentum weder verlassen noch verstecken. Juden, so Philippson, sollten sich demnach im allgemeinen öffentlichen Leben durchaus zu ihrem Judentum bekennen, und hierzu konnte durchaus auch sein medizinischer Aktivitätsbereich zählen.622 Dies tat Philippson allerdings nicht, wie man an seiner wichtigsten medi617 Herzig (1983); Brilling (1981/82). 618 Davidson (1798). 619 Artikel „Phoebus Philippson“ in Wininger (1927 – 36), Bd. 5, S. 25; Philippson (1962); J.C. (1907). 620 Siehe auch Glasenapp (2003). 621 Philippson (1855). 622 Vgl. Horch (1985), S. 131 – 139.

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zinischen Schrift, einem Buch über die Cholera, illustrieren kann. 1831, im Jahr der grossen von Osten über Europa ziehenden Cholera-Pandemie, veröffentlichte Philippson wie viele seiner Kollegen623 ein ausschweifendes Buch über die Geschichte, Ätiologie, Diagnose und Therapie dieser Krankheit.624 Hierin spielt sein Judentum so gut wie keine explizite Rolle. Dabei hätte es eine Vielfalt von Ansatzpunkten gegeben, seine allgemeine Forderung nach selbstbewusstem Auftreten als Jude in dem Buch umzusetzen, und andere Kollegen haben dies in der Tat getan. Er hätte etwa (reale oder angenommene) jüdische Essgewohnheiten oder Hygienepraktiken als hilfreich oder schädlich für die Bekämpfung der Krankheit hervorheben können, gab es doch zu dieser Zeit durchaus eine Debatte, warum Juden in manchen Gegenden besonders häufig, in anderen Gegenden offenbar besonders selten von dieser Krankheit befallen wurden.625 Er hätte Juden gegen den damals häufigen Vorwurf, mit ihrer Unreinlichkeit Verbreiter der Cholera zu sein, verteidigen können. In den 230 Seiten des Buchs finden sich nur wenige Stellen, an denen die Thematik ausgesprochen knapp und zurückhaltend behandelt wird, und zwar im Kapitel über die „skizzirte Geschichte der Weltseuchen“. Der einzige jüdischapologetische Satz des Buches ist ein kurzer Hinweis, wie „der israelitische Gesetzgeber die diagnostischen Merkmale“ des Aussatzes „sehr richtig“ angegeben habe.626 Zwei Mal wird kurz erwähnt, dass Juden für den Ausbruch der Pest und die Verbreitung der Syphilis verantwortlich gemacht wurden.627 Den Vorwurf der Brunnenvergiftung beim Schwarzen Tod erwähnt Philippson nüchtern und eher nebenbei als letzte von sieben damaligen Erklärungen der Epidemie. Die damit im Zusammenhang stehende Verfolgung und Ermordung der Juden628 erwähnt er mit keinem Wort, während sie in seinem literarischen Werk eine vorherrschende Rolle einnimmt. Ein Kommentar hätte durchaus in das gesamte Design des Textes gepasst, da er an vielen anderen Stellen Werturteile wie selbstverständlich unterbringt, etwa indem er den Sittenverfall in Epidemiezeiten beklagt629 oder das wohltätige Wirken von Papst Clemens VI. (sic!) in den Zeiten des Schwarzen Todes ausführlich lobt.630 Im Kapitel über die Prophylaxe der Cholera empfiehlt Philippson eine gemischte und gemässigte Diät, nämlich Rind, Kalbfleisch und Geflügel. Er rät, wie andere, christliche Autoren von Cholera-Schriften dieser Zeit ebenfalls, vom Schweinefleisch ab und gibt lediglich medizinische Gründe hierfür an.631 623 624 625 626 627 628 629 630 631

Vgl. zum Umfang der Literatur z. B. Cholera (1832). Philippson (1831a). Vgl. dies detailliert in Wolff (2000b). Tschoetschel (1990). Philippson (1831a), S. 67. Ebd., S. 78, 93. Vgl. hierzu Ritzmann (1998). Philippson (1831a), S. 71. Ebd., S. 84. Ebd., S. 196 f.

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2 Ärzte zwischen Identität und Berufsverständnis

Er zieht keine Verbindungen zu den jüdischen Speisegesetzen, der Kaschrut. Das wäre zwar nicht notwendig gewesen, aber für ihn als gläubigen Juden doch ein idealer Aufhänger, die gesundheitlichen, diätetischen Vorzüge der jüdischen Speisegesetze zu preisen, wie es andere Autoren gerne und ausführlich getan haben.632 An einer Stelle stellt er sich sogar gegen die Kaschrut. In einer gleichzeitig mit dem Cholera-Buch erschienenen Volksaufklärungs-Broschüre, gedacht vor allem für christliche Geistliche, empfiehlt er wie mehrere seiner christlichen Arztkollegen Wild als Teil einer Vorbeugungsdiät der Cholera.633 Obwohl Wild kaum als koscher bezeichnet werden kann,634 erwähnt er diesen Konflikt nicht einmal. In seinem akademischen Werk über die Cholera nennt er das Wild als Speise erst gar nicht. Möglicherweise hat er es auf diese Weise bewusst umgangen, hier auf den religiösen Konflikt aufmerksam zu machen. Schliesslich macht Philippson wie seine Kollegen den übermässigen Alkoholgenuss dafür verantwortlich, die Empfänglichkeit für die Cholera zu erhöhen. Anders als einige christliche Kollegen erwähnt er allerdings nicht die geläufige Deutung, dass ein seltenes Auftreten der Cholera bei den Juden von deren begrenztem Alkoholkonsum herrühre.635 Einer dieser Kollegen beschrieb das Phänomen sogar in der direkten Umgebung von Philippson, nämlich für die Stadt Madgeburg.636 Auch wenn es bis hier nicht letztendlich bewiesen werden kann, scheint mir mit diesen Beispielen doch überaus deutlich, dass Philippson nicht einfach nur unterlassen hat, „jüdische Themen“ in seinem medizinischen Buch anzusprechen, sondern sie bewusst umgangen hat. Als letzten und wichtigsten Anhaltspunkt für eine bewusste Unterlassung kann schliesslich wiederum das literarische Werk Philippsons herangezogen werden. Speziell sein Roman „Der unbekannte Rabbi“637 ermöglicht es, besser zu verstehen, wie Philippson und andere jüdische Ärzte des frühen 19. Jahrhunderts sich als Ärzte in der Öffentlichkeit verhielten. Die Handlung des Romans ist die Rekonstruktion der Biographie eines fiktionalen Juden namens Salomo im 18. Jahrhundert, der sich auf der Suche nach einem angemessenen Ort in der Gesellschaft und nach seinem eigenen jüdischen Seelenfrieden durch diese unruhige Zeit kämpft. Was Philippson damit bezweckte, war etwas Ähnliches wie in den „Marannen“. Die deutschen Juden sollten ihr traditionelles Verständnis vom Judentum überwinden und ihren Weg in die aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft finden. Doch lauere auf diesem Weg die Gefahr, die eigene jüdische Identität aufzugeben oder gar zu leugnen. Die Lösung, die Philippson für diesen „Zwiespalt“ anbietet (es ist gleichzeitig die zentrale Botschaft für seine jüdischen Leser), war, dass sie 632 633 634 635 636 637

Schlich (1995a). Philippson (1831b), S. 14. So der Artikel „hunting“ in: Encyclopaedia Judaica, Bd. 8, Sp. 1110 – 1112. Dettke (1995), S. 265. Efron (2001), S. 108 – 117. Heyfelder (1832), S. 152. Philippson (1859).

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ihren Platz in der Gesellschaft mit einer reformierten jüdischen Tradition und mithin einer reformierten jüdischen Identität finden sollten. Die Rolle des Judentums sollte auf die einer reinen Konfession reduziert werden, in genau dem Sinne, in dem die bürgerliche Gesellschaft zunehmend gesehen wurde: eine vergeistigte, wenig formalisierte sittliche Frömmigkeit, die ihren Ausdruck eher im privaten Leben denn beispielsweise in der Berufsausübung findet. Obwohl Ärzte in diesem Roman nur eine nachgeordnete Bedeutung haben, liefern Wissenschaft und Medizin doch ganz zentrale Beispiele, um das darzustellen, was Philippson „Welt“ oder „äussere Welt“ nennt und was frei von „Jüdischem“ sein solle. Aus diesem Grund sieht er Religion und Wissenschaft in diesem Roman stets als deutliche Gegensätze. Wissenschaft sei das Hauptinstrument für eine Reformierung des Judentums. Jossel, Salomos Pflegevater und Vorbild, legt zum Beispiel in einem Gespräch mit Moses Mendelssohn folgendes Bekenntnis ab: „Die Bildung des Volkes muss über den jüdischen Kreis hinausschreiten, die Theilnahme am öffentlichen und geselligen Leben muss erweckt und erweitert werden, das Licht der Wissenschaft muss die Geister erleuchten und die Herzen erwärmen. […] Diese Reform kann aber weder Bibel noch Talmud schaffen, sie kann nur durch die Wissenschaft, durch das erweckte Bedürfnis nach einem Anschluss ans Bürgerthum herbeigeführt werden.“638 An einer anderen Stelle des Romans formuliert Salomo nochmals seine Überzeugung einer strikten Trennung zwischen wissenschaftlicher Medizin und Religion. Während er unter dem nichtjüdischen Pseudonym „Franz Neuendorf“ als Privatlehrer bei einem Pfarrer lebt, rettet er das Leben der Pfarrerstochter mit einer neuen Behandlungsmethode. Als er dann schliesslich sein Judesein bekennt, wirft ihm der Pfarrer dieses Versteckspiel vor. Zur Verteidigung argumentiert Salomo, er habe geglaubt, seine religiöse Überzeugung nicht bekennen zu müssen: „Ich glaubte um so eher, mein Bekenntnis nicht zur Schau tragen zu brauchen, da dasselbe mit meinem Thun und Treiben in dieser Einsamkeit nichts gemein hat.“639 Und in der Tat hatte es bis dahin niemand bemerkt. Der einzige, der in diesem Roman jüdische Philosophie und Medizin zusammenbringt, ist Salomos „Magister“, der die überkommene Medizin repräsentiert. Es ist nur konsequent, wenn dieser schliesslich als „irrsinniger Spinozist“ dem Wahnsinn anheim fällt.640 Seine mystische Mischung von Spinozas Philosophie und Medizin ist das Hauptsymptom seines Wahnsinns. „Der unbekannte Rabbi“ erklärt somit, warum es überhaupt kein Widerspruch ist, einerseits die Mitjuden dazu aufzurufen, zu ihrem Judentum zu stehen, dies in der eigenen beruflichen Tätigkeit aber nicht umzusetzen. Die 638 Ebd., S. 202. 639 Ebd., S. 173. 640 Ebd., S. 260 f.

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2 Ärzte zwischen Identität und Berufsverständnis

ärztliche Tätigkeit war für Phoebus Philippson und viele seiner jüdischen Kollegen nicht der angemessene Ort, um sein Judentum offen zu zeigen. Ihr Jüdischsein und ihr Arztsein praktizierten sie in unterschiedlichen, voneinander getrennten Lebensbereichen. Als Ärzte wollten sie „jüdische Themen“ nicht ansprechen, weil die medizinische Praxis und die medizinische Wissenschaft ihrem Verständnis nach jenseits religiöser Fragen standen, ebenso wie die Medizin in dieser Zeit mehr und mehr als eine weltliche Angelegenheit betrachtet wurde. Im Gegenzug war die Religion etwas, was aus dem weltlichen Leben herausgehalten werden sollte. Der Arztberuf mit seinem starken professionellen Image und das gewöhnlich starke professionelle Selbstbewusstsein der Ärzte boten diesen reformorientierten Juden einen Ort jenseits religiöser Bindungen an – einen Ort, an dem Religion einfach keine Rolle spielen sollte. Bezeichnenderweise veröffentlichte Philippson 1832 ein weiteres Buch, eine „Propädeutik und Methodik der Medicin, für Gymnasiasten und angehende Studierende der Medicin“641, in der er das typische professionelle Image eines akademischen Arztes beschrieb. Darin dachte er der Religion, verstanden in einem transkonfessionellen Sinne, lediglich die Aufgabe zu, den abstrakten ethischen Hintergrund der Medizin in Form von Liebe und Mitgefühl zu liefern.642 Ähnlich hatte es zehn Jahre zuvor auch der Hamburger Arzt Leo Wolf formuliert, der ebenfalls ein deutliches Beispiel für die „Segregationsthese“ abgab. Das Judentum konnte sich anderswo wiederfinden, bei Wolf etwa in seinem „Tempel“-Engagement und bei Philippson in den belletristischen Werken. Diese Deutung passt recht gut in die allgemeine Entwicklung des Verständnisses von Judentum dieser Zeit. Das Jüdischsein sollte im Sinne der Reformer nicht mehr alle Lebensbereiche abdecken.643 Jüdischsein wurde eine „Subkultur“644 innerhalb eines grösseren kulturellen Settings, gemeinhin dem Bürgertum. Allerdings zeigt unser Beispiel, dass die Grenze zwischen den Bereichen nicht, wie üblicherweise angenommen, nur zwischen Privatheit und Öffentlichkeit verlief, sondern auch innerhalb unterschiedlicher Öffentlichkeiten. Bedeutet dies dann aber, dass das Arztsein und der Arztberuf nichts mit ihrem Selbstverständnis als Juden zu tun hatten? Die Antwort ist nur dann „ja“, wenn man ein sehr enges Verständnis von jüdischer Identität als Massstab anlegt, das vor allem religiöse oder konfessionelle Praxis darunter versteht. Ein breiteres Verständnis von jüdischer Identität, dem ich mich anschliessen möchte, muss auf die Frage mit „nein“ antworten. Die bewusste Trennung von Arztsein und jüdischem Hintergrund ist aus dieser Perspektive 641 642 643 644

Philippson (1832). Ebd., S. 114 f. Rahe (1990). Sorkin (1987).

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2.4 „Gelebte Moderne“

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nämlich ein ganz wesentlicher Teil ihres gewandelten, komplexer gewordenen jüdischen Selbstverständnisses. In diesem Sinne boten die Medizin und mehr noch der Arztberuf einen bedeutenden Ort, um das moderne und reformierte Verständnis des Jüdischseins nach aussen hin sichtbar zu leben. Das Phänomen der bewussten Segregation der Lebenswelten ist ein deutliches Signal, das Jüdischsein nur noch als Teil des gesamten Lebens zu verstehen. In seiner Extremform zeigt sich dieses Phänomen dann in der immer wieder festgestellten Bedeutung und Wertschätzung der Wissenschaft, die für bestimmte Zeiträume bei Juden als besonders ausgeprägt diagnostiziert wurde. Die „Segregation der Lebenswelten“ ist damit eine häufig übersehene, aber nichtsdestotrotz wichtige Variante, mit denen Juden auf die entsprechenden Modernisierungsprozesse reagiert haben. Man könnte sie als die „gelebte Moderne“ bezeichnen. Eine andere Variante ist die bei Efron im Mittelpunkt stehende „legitimatorische“ Strategie, Spezifika jüdischer Kultur mit modernen Argumenten zu verteidigen, also die koschere Ernährung, die Beschneidung oder die Mikwen als besonders gesund oder hygienisch zu preisen. Obwohl diese Strategie bereits in unserem Untersuchungszeitraum (1750 – 1850) nachweisbar ist, kommt sie doch erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als Reaktion auf den modernen Antisemitismus zur vollen Blüte.645 Eine dritte Variante hingegen, die auch in unserem Untersuchungszeitraum eine grosse Bedeutung hatte, war diejenige der „Reform“, nämlich der Versuch, jüdische kulturelle Praktiken den modernen Erfordernissen anzupassen. Hiervon handelt der dritte Teil dieser Arbeit.

645 Efron (2001), S. 186 – 233. Als plastische Quelle siehe Grunwald (1911).

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3 Gesundheitliche Praxis und jüdische Tradition: Konflikte und Lösungen 3.1 Der Beerdigungsfristenstreit im späten 18. Jahrhundert: Religionsverträgliche Verweltlichung und Ansätze eines kulturellen Verständnisses des Judentums Der kulturelle Wandel im Judentum dieser Zeit, soweit er sich auf Medizin, Gesundheit oder Körper bezog, beschränkte sich nicht auf ein reformiertes und professionalisiertes Verständnis der ärztlichen Berufsausübung, wie es im zweiten Teil dieser Arbeit abgehandelt wurde. Während der Debatten von Haskala, „bürgerlicher Verbesserung“ der Juden und jüdischer Reform wurden rituelle religiöse Praktiken wie die schnelle Beerdigung, der Krankenbesuch oder die Beschneidung kritisiert, verteidigt, neu interpretiert und schliesslich auch verändert praktiziert. All dies trug zu einem Wandel des jüdischen Selbstverständnisses im Allgemeinen bei. Darum geht es in diesem dritten Teil der Arbeit. Der Zeitraum dieser Debatten erstreckt sich von etwa 1770 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Dass auch hier häufig Ärzte im Vordergrund standen, ist nahe liegend. Ziel ist allerdings eine Reform, die sich nicht allein auf die Ärzte selber, sondern auf alle Juden bezieht. Der Aufbau ist wie im vorangegangenen Teil chronologisch. Der „Beerdigungsfristenstreit“1 war eine der frühesten und wichtigsten Debatten über die Reform des Judentums im Zuge der Aufklärung bzw. der Haskala. Dem jüdischen Religionsgesetz – bzw. seiner zeitgenössischen Auslegung – gemäss mussten verstorbene Juden in der Regel noch an ihrem Sterbetag beerdigt werden. Eine Ausnahme stellte etwa der Beginn des Schabbats oder eines Feiertags dar. Referenz für die schnelle Beisetzung war die Tora. Im 5. Buch Mose 21, 23 heisst es, dass Gehenkte nicht über Nacht am Galgen hängen bleiben sollen. Die talmudische Auslegung dieser Stelle sah in ihr das Gesetz, alle Verstorbenen bereits am Tag ihres Ablebens beizusetzen.2 Bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts galt die frühe Beerdigung nicht allein als unhinterfragtes halachisches Gesetz, sie war auch ein wie selbstverständlich tradierter jüdischer Brauch. Und in der Tat wurden verstorbene Juden in 1 So die m. E. treffende Benennung des Streits durch Gabriele Zürn. Vgl. Zürn (2001), Zürn (2002). In den letzten Jahren wurde der Beerdigungsfristenstreit öfters untersucht. Vgl. Freedman (2011), Efron (2001), S. 95 – 104; Heinrich (1998); Gotzmann (1997); Wiesemann (1992); Krochmalnik (2011, 1997); Feiner (2007), S. 415 – 422, kurz auch bei Hödl (2006), S. 35 – 38. 2 Krochmalnik (1997), S. 120.

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3.1 Der Beerdigungsfristenstreit

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Aschkenas bis zum Beginn des Beerdigungsfristenstreites in der Regel auf diese Weise meist von den Vertretern der ubiquitären Beerdigungsbruderschaften beigesetzt. Aus der säkularisiert-polemischen Sicht eines jüdischen Arztes von 1798 liest sich diese Praxis folgendermassen: „Kaum ist die letzte Röthe von den Wangen, kaum die letzte Wärme von der Oberfläche des Kranken entflohen, als er für todt aus dem Betten genommen, platt auf den Boden des Zimmers hingestreckt, und mit einem dicken schwarzen Tuch ganz bedeckt wird. Nun wird in größter Eile, als wäre Zögerung hier Verbrechen, das Maß zu einem Leichenkittel genommen; Leinwand wird herbey geschafft […]; rüstige Männerarme umwühlen indessen mit scharfen Spaten die willige Erde […]. Kaum sind diese Arbeiten beendigt, als mehrere andere geschäftige Männer […] mit einer Bahre herbeieilen, um [den Toten] zu reißen und dem dumpfen sich auf ewig schließenden Grabe zu übergeben. Alle Scenen dieses Trauerspiels folgen, leider, sehr rasch aufeinander, und wenn die erste Handlung des Sterbens am Morgen beginnt, so ist sicher die Catastrophe des Begrabens geendigt ehe noch die Sonne im Westen herabsinkt!!!“3 Zum Konfliktfall geriet die frühe Beerdigung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in einer spezifischen historischen Konstellation, die mit der Aufklärung und der Haskala zusammenhing: die Angst vor dem Scheintod und der damit verbundenen Gefahr des Lebendig-Begraben-Werdens. Sie zieht sich zwar durch die gesamte Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart. Ganz besonders aber bewegte das Thema zwischen 1740 und 1850 die Gemüter,4 also von der Aufklärung bis in die Romantik, als eine Art kollektiver Scheintod-„Panik“5 Europa durchzog. Eine Welle gelehrter medizinischer und populärer Schriften bislang unbekannten Ausmasses erschien. Am Anfang stand das publizistische Engagement des französischen Arztes Jacques Jean Bruhier d’Ablaincourt (gestorben 1756), der 1742 eine 14seitige Dissertation aus dem Lateinischen übersetzte und kommentiert veröffentlichte.6 Die mit einer Kompilation von Fallgeschichten sowie Darstellungen des medizinischen Wissens um Tod und Wiederbelebungsmassnahmen auf mehrere hundert Seiten angewachsene, zweibändige Neuausgabe erschien 1749 und wurde mehrfach übersetzt. Die erste deutsche Ausgabe erschien 1754 in Leipzig unter dem Titel „Abhandlung von der Ungewissheit der Kennzeichen des Todes […]“ und zählte 800 Seiten. Auf diesem Werk bauten die folgenden 3 Zadig (1798), S. 30 f. 4 Die historische Literatur zum Thema „Scheintod“, speziell im 18./19. Jahrhundert, ist ebenso umfangreich wie vielfältig. Stellvertretend seien genannt: Patak (1967); Stoessel (1983); Pernick (1988); Koch (1990); Schäfer (1994); Brink (2001); Köhler-Zülch (2001); Kessel (2001): Reill (1999) und insbesondere Rüve (2008). 5 Pernick (1988), S. 20. 6 „Dissertation sur l’incertitude des signes de la mort et l’abus des enterrements et embaumements pr¦cipit¦s“. Paris 1742. Die Dissertation war von Leander P¦aget bei Jacques B¦nigne Winslow geschrieben.

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3 Gesundheitliche Praxis und jüdische Tradition

deutschsprachigen Veröffentlichungen in Stil und Inhalt im Wesentlichen auf. Martin Pernick konnte in seiner bereits älteren Forschung zu dieser Debatte 50 einschlägige Titel nachweisen, die vor 1800 erschienen.7 Der Scheintod wurde zu einem zentralen Topos der medizinischen Aufklärungsliteratur wie der Aufklärung insgesamt. Johann Peter Frank schätzte ihn in seinem „System einer vollständigen medicinischen Polizey“ als eines der wichtigsten Probleme ein.8 Und der „Klassiker“ der Volksaufklärungsliteratur, Rudolf Zacharias Beckers „Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute“, beginnt mit einem Fall von Scheintod.9 Gegen die Jahrhundertwende engagierte sich mit Christoph Wilhelm Hufeland einer der bekanntesten deutschen Ärzte seiner Zeit für das Erkennen von Scheintoten und propagierte die Einrichtung von Leichenhäusern, in denen die Toten einige Tage bei angemessener Temperatur aufgebahrt waren und sich im Falle eines Wiederauflebens bemerkbar machen konnten.10 Vielfältig sind die Erklärungen, warum das Thema in dieser Zeit so breit und engagiert debattiert wurde. Zeitgenössische vitalistische, nicht mehr mechanistische Theorien gingen von einer dem Körper innewohnenden Lebenskraft aus, die sich in Irritabilität und Sensibilität äusserte. Der Tod war aus dieser Perspektive kein abruptes Ende des Lebens, sondern ein Übergang bei langsam abnehmender Lebenskraft. Sie konnte auch noch als vorhanden geglaubt werden, wenn der Körper keine physiologischen Lebenszeichen mehr aufwies. Das Sterben wurde zu einem Prozess, dessen Abschluss erst mit der Verwesung als sicher gelten konnte.11 Damit verschwamm die zuvor viel schärfer geglaubte Grenze zwischen Leben und Tod. Forschungen über todesartige Zustände niederer Tierarten zeigten, dass die üblichen physiologischen Funktionen (Atmung, Herzschlag, Puls) nicht immer wesentlich für das Überleben waren und mithin ihr Fehlen auch keine eindeutigen Todesbeweise darstellten. So wurde es notwendig, eine neue Definition des Todes zu finden. Auch Ansätze der Wiederbelebung von Erfrorenen oder Ertrunkenen (durch neue Techniken der künstlichen Beatmung) verunsicherten die Vorstellung von der Unumkehrbarkeit des Todes und einem gottgewollten Todeszeitpunkt.12 Der „Rettungsgedanke“ war zudem ein Anliegen der Aufklärungsmedizin, deren ebenso philanthropischer wie merkantilistischer Ansatz sich gegen das „Vergeuden“ von Menschenleben wandte, wie es auch beim Lebendig-Begraben-Werden der Fall war. Die Medienentwicklung der Aufklärung mit massenhaft verbreiteten populären Schriften und einem vielfältigen Zeitschriftenwesen half mit, den Scheintod zu einem der zeitgenössischen Modethemen zu machen. Schliesslich wurde das Thema von einer sich eta7 8 9 10 11 12

Pernick (1988), S. 20. Vgl. Patak (1967), S. 51; Kessel (2001), S. 146. Becker (1788). Hufeland (1791); Hufeland (1808). Brink (2001), S. 475. Pernick (1988), S. 21; Brink (2001), S. 470.

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3.1 Der Beerdigungsfristenstreit

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blierenden modernen Verwaltung angeheizt, die sich des Themas „Tod und Beerdigung“ bemächtigte, auch um sich gegen religiöse (ebenso christliche wie jüdische) Autoritäten durchzusetzen.13 Ob die Scheintodfurcht ein Ausdruck der verdrängten Irrationalitäten im damals säkularisierteren Umgang mit dem Tod ist, wie Patak schreibt, oder ein Ausdruck der ausgeblendeten Todesfurcht, ebenso in der Aufklärung wie später in der Romantik, liess sich noch nicht zufriedenstellend klären.14 In unserem thematischen Zusammenhang ist insbesondere das Spannungsverhältnis von Rationalität und Irrationalität bei diesen Debatten von Bedeutung. Die selbsternannten Vertreter der Aufklärung traten nach aussen hin lautstark mit dem Anspruch auf, der Vernunft Bahn zu brechen, indem sie die Vorurteile alter Beerdigungspraktiken mit der Gefahr des Lebendig-BegrabenWerdens aus dem Weg räumten. Ihr Umgang mit dem Phänomen war jedoch gleichzeitig hochgradig irrational. Nicht nur, dass sie ein quantitativ marginales, eher gefühlsmässig besetztes Problem zu einer Art Überlebensfrage der aufgeklärten Gesellschaft hochstilisierten. Ihr Umgang mit dem Thema selbst war getrieben von höchsten Emotionen. Viele der Veröffentlichungen sind kaum mehr als aufgelistete Schauererzählungen von angeblich lebendig begrabenen Menschen. Die Autoren – unter ihnen neben Christen genauso der jüdische Aufklärer-Arzt Marcus Herz15 – kolportieren Geschichten, deren Wahrheitsgehalt alles andere als sicher war, und legitimieren sich damit, dass auch die unwahren Fälle eine erzieherische Wirkung auf die Leserschaft hätten.16 Gerade die jüngere volkskundliche Forschung zum Thema hat herausgestellt, wie die rationale Aufklärung hier Sagen, Wunder- und Schauergeschichten bzw. typische Muster von Wander-Legenden über „Untote“ aufgriff, in ein rationales Gewand kleidete und sie so auf neue Art weiterleben liess.17 Auch wenn sich retrospektiv nie wird klären lassen, wie viele Fälle von Lebendig-Begraben-Werden sich wirklich zugetragen haben, dürfte es nicht übertrieben sein, in der Scheintoddebatte neben rationalen Ideen Anklänge einer Paranoia zu finden, die von den Kritikern zeitgenössisch durchaus erkannt wurde. Und dies wiederum hat eine entscheidende Bedeutung für die heutige Bewertung dieser Akkulturationsforderung von Seiten christlicher und jüdischer Aufklärer. Es wäre nämlich ein Fehlschluss, deren Perspektive zu übernehmen und den Beerdigungsfristenstreit lediglich als Versuch zu sehen, die traditionelle jüdische Kultur mit Vernunft zu „verbessern“, ebenso wie die Gegenargumente der Befürworter der frühen Beerdigung nicht einfach richtig oder angemessen sein müssen. Beide Positionen sind für diese Un-

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Haas (2005). Patak (1967), S. 30; Stoessel (1983), S. 10 f. Ausführlich dazu Krochmalnik (1997), S. 109 f. Köhler-Zülch (2001), S. 117, oder Brink (2001), S. 473. Brink (2001), S. 473; Stoessel (1983), S. 43 f., 48 f.

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3 Gesundheitliche Praxis und jüdische Tradition

tersuchung lediglich Ausdruck ganz spezifischer zu untersuchender Denkund Argumentationsweisen. Die Reformforderungen trafen die jüdische Tradition an einem sehr empfindlichen Punkt. Nicht nur, dass es sich bei der Beerdigung um ein wesentliches rite de passage handelte, das für sich genommen schon eine hohe Kontinuität aufwies. Ein halachisch korrekter Umgang mit dem Toten war in der jüdischen Religion und Kultur von ganz eminenter Bedeutung. Dies illustriert bereits die Existenz der Beerdigungsbruderschaften, welche die rituellen Aufgaben der Sterbebegleitung, Todesfeststellung, Totenwache, Waschung, Leichenfolge und Beisetzung übernahmen. Ein verwesender Leichnam verletzt zudem im traditionell-jüdischen Verständnis die Würde des Toten bzw. der Trauernden und ist eine Quelle für Unreinheit im rituellen Sinn.18 Die frühe Beerdigung sollte zudem Körper und Seele für die Auferstehung schneller wieder zusammenführen. Schliesslich verzögerte eine verspätete Beerdigung den Beginn der sieben auf die Beerdigung folgenden Trauertage („Schiwa“), in der die Angehörigen die meisten alltäglichen Verrichtungen unterliessen. Zusammenfassend schreibt Krochmalnik: „Die frühe Beerdigung ist vom jüdischen Standpunkt demnach ein Gebot der Menschlichkeit, der Würde und der Reinheit.“ „Angriffe auf diese Durchgangsriten mussten den Hütern der Tradition als Eingriff in den empfindlichsten und intimsten Bereich der Religion erscheinen.“19 Seinen Anfang nahm der Beerdigungsfristenstreit mit einem Vorstoss des Herzogs von Mecklenburg-Schwerin, der auf Anregung des christlichen Orientalisten Olof Gerhard Tychsen am 30. April 1772 eine Verordnung erliess, die Schweriner Jüdische Gemeinde solle ihre Verstorbenen zur Verhinderung des Lebendig-Begraben-Werdens erst am dritten Tage beisetzen.20 Die so in Bedrängnis geratene Gemeinde wandte sich im Mai dieses Jahres an Rabbi Jakob Emden in Altona (1697 – 1776) mit der Bitte, in einem Gutachten dem Herzog darzulegen, dass die frühe Beerdigung eine halachische Verpflichtung sei und die Verordnung somit einen Eingriff in die Religionsautonomie darstelle. Emden gab den Auftrag an seinen Schüler Moses Mendelssohn in Berlin weiter, da dieser deutsch spreche und sich geschickter gegenüber den weltlichen Autoritäten verhalten könne.21 Mendelssohn antwortete in zwei entgegengesetzt lautenden Gutachten. Die Gemeinde versuchte er von der halachischen Notwendigkeit einer verzögerten und nicht der von ihnen bevorzugten frühen Beerdigung zu überzeugen.22 Dem Schweriner Herzog gegenüber hob er die frühe Beerdigung als halachische Pflicht hervor,23 worauf 18 Krochmalnik (1997), S. 120 f. 19 Krochmalnik (1997), S. 122, s.a. Zürn (2002), S. 92 f., Schlich (1998), S. 152. 20 Text des Reskriptes in Friedländer (1787), S. 324 f. Zum gesamten Fall Schwerin siehe: Heinrich (1998), S. 140; Krochmalnik (1997), S. 124 ff. 21 S. Brief an Mendelssohn vom 26. Juni 1772, Mendelssohn (1994), S. 228. 22 Text abgedruckt in Friedländer (1787), S. 325 – 329, sowie Mendelssohn (1994), S. 224 – 227. 23 S. Mendelssohn (2004).

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3.1 Der Beerdigungsfristenstreit

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dieser die Verordnung nach kurzer Zeit wieder so weit zurückzog, dass er lediglich, wie von Mendelssohn vorgeschlagen, eine ärztliche Todesbescheinigung vor der Beisetzung verlangte.24 Mendelssohn legte seine Auslegung für die Gemeinde auch Emden vor, woraus sich ein konfrontativer Briefwechsel zwischen beiden über die Angelegenheit entwickelte. Eine zweite Phase des Beerdigungsfristenstreits wurde im folgenden Jahrzehnt eingeläutet. Das Publikationsorgan der Maskilim „Ha Meassef“ (Der Sammler) veröffentlichte die Kontroverse zwischen Emden und Mendelssohn 1785 in Teilen, nachdem Mendelssohn der Veröffentlichung zugestimmt hatte. Schon zuvor hatte der Maskil Isaak Euchel das Thema im „Sammler“ in anonymen Schriften sowie einer eigenen Veröffentlichung immer wieder aufgegriffen.25 Und von christlicher Seite war das Thema als Akkulturationsforderung bereits 1783 mehrfach angesprochen worden.26 Nun entstand eine öffentliche Debatte um das Thema in jüdischen wie nichtjüdischen Zeitschriften und selbständigen Publikationen. Angelpunkt ist dabei das Jahr 1788, als der Berliner jüdische Arzt und Philosoph Marcus Herz die zweite, erweiterte Auflage seiner Schrift „Über die frühe Beerdigung der Juden. An die Herausgeber des hebräischen Sammlers“ herausgab.27 Im gleichen Jahr erschienen auch Abhandlungen der jüdischen Ärzte Jakob Marx aus Hannover28 und Hirsch Wolf29 aus Hamburg, die als Reaktion auf die Schrift von Herz das frühe Beerdigen verteidigten. Nicht zuletzt durch diese öffentliche Debatte ausgelöst, begann eine dritte Phase, die sich zum Teil noch mit der zweiten überschnitt. Diese Phase ist dadurch charakterisiert, dass an einzelnen Orten gegen und für die frühe Beerdigung gekämpft wurde. Regierungen erliessen Verordnungen, die eine längere Aufbahrungszeit vorsahen, oder versuchten zumindest, diese durchzusetzen, so in Altona 178530, Prag 178631, Galizien 178732. An manchen Orten unternahmen Juden eigenständige Vorstösse wie ein Hamburger Makler und Freimaurer 178733 oder die „Gesellschaft der Freunde“ in Berlin (1795 – 1798),

24 Zürn (2001), S. 134; Gotzmann (1997), S. 110. 25 Kennecke (2001). 1797 erschien dann: Euchel (2001b). 26 Christian Wilhelm Dohm zitierte im zweiten Teil seines „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (Berlin 1783) den Göttinger Orientalisten Michaelis, die Juden sollten davon abgehalten werden, ihre übereilt beerdigten Totgemeinten lebendig zu begraben. Vgl. Krochmalnik (1997), S. 137 f. Friedrich Traugott Hartmann äusserte sich im selben Jahr vernichtend über die frühe Beerdigung der Juden in seiner Schrift: „Untersuchung, ob die bürgerliche Freiheit den Juden zu gestatten sei“. 27 Herz (1788). Die erste Auflage war im Jahr zuvor erschienen. Vgl. auch Leder (2007), S. 220 ff. 28 Marx (1788). Bereits 1784 hatte er Ähnliches veröffentlicht. Vgl. Marx (1784). 29 H(irsch) W(olf) (1788a); Wolff (1788b). 30 Zürn (2002), S. 98. 31 Friedländer (1787), S. 331 – 333. 32 www.jewishencyclopedia.com, Artikel „Galicia”. 33 Zürn (2001), S. 145. Zu Hamburg allgemein Rehwinkel (2007).

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3 Gesundheitliche Praxis und jüdische Tradition

in welcher der erwähnte Isaak Euchel eine zentrale Rolle spielte.34 In Breslau scheint der Streit am heftigsten ausgefochten worden zu sein und ist in Quellen und Literatur auch gut dokumentiert.35 1793/94 richtete der jüdische Lehrer an der Breslauer Wilhelmsschule Joel Löwe bzw. Joel Bril (1763 – 180236) ein Schreiben an die Mitglieder der Beerdigungsgesellschaften mit dem Plädoyer für Reformen auf der Basis der Schrift von Marcus Herz. Gegenstimmen äusserten sich 1794 in der Person des jüdischen Rabbinatsassessors und Schriftstellers Solomon Pappenheim (1740 – 1814) sowie mit einem Gutachten des Berliner Oberrabbiners Hirschel Levin und der Breslauer Beerdigungsbruderschaft. 1797 brach der Streit offen aus, als der Arzt Abraham Zadig seinen verstorbenen Vater erst nach drei Tagen beerdigen wollte. Der angebliche Fall eines verstorbenen und wieder zum Leben erwachten Judenkindes erhitzte die Gemüter. Die Breslauer Kriegs- und Domänenkammer erliess um den Wechsel zum Jahr 1798 eine Drei-Tages-Frist,37 was zu umfangreichen Protesten seitens der traditionellen Juden Breslaus, insbesondere der Beerdigungsbruderschaft führte. Ihr Protest bei der preussischen Regierung in Berlin hatte immerhin den Erfolg, dass zugestanden wurde, mangels eines Gesetzes dürften die Behörden in Breslau nur belehren, aber keinen Zwang ausüben. Im Frühjahr 1798 war der Breslauer Beerdigungsbruderschaft bereits eine Konkurrenzorganisation entstanden (wie 1804 auch in Altona38), deren Hauptziel es war, eine verzögerte Beisetzung zu organisieren. Die alte Chewra Kadischa verweigerte beim ersten Fall, einem verstorbenen neugeborenen Kind wiederum des Arztes Zadig, der sich nun auch in einer Schrift zum Thema geäussert hatte,39 die Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof. Auf eine Bitte Zadigs hin verfügten die Polizeibehörden eine ungestörte Beerdigung des Kindes dort und boten den Schutz durch Polizei und notfalls Militär an. In der Folge wurde der Leichnam – in Anwesenheit des Oberpolizeidirektors Geheimrat Senfft von Pilsach und einiger Polizeiinspektoren – ungestört zu Grabe getragen. Am 25. September 1798 erliess die Preussische Regierung dann allgemein eine Drei-Tages-Frist für die Beerdigung Verstorbener.40 Doch auch diese führte zu vielen heftigen Protesten von Seiten schlesischer Beerdigungsgesellschaften.41 34 Krochmalnik (1997), S. 147. Lesser (1842), S. 23 ff. Die Gesellschaft nahm sich vor, ein Leichenhaus zu erstellen und ging mit der traditionellen Beerdigungsgesellschaft eine Abmachung ein, dass die Mitglieder der Gesellschaft, die erst verzögert beerdigt werden wollten, bei ihrem Tod nicht von der Beerdigungsgesellschaft selbst bestattet würden, sondern von ihren armen Mitgliedern und gegen eine Zahlung von zehn Talern (ebd., S. 27). Siehe auch Panwitz (2005), S. 33 – 37. 35 Freudenthal (1893); Wiesemann (1992); Reinke (1999), S. 97 ff.; „Fdr“ (1798); „ts“ (1798). 36 Euchel (2001a), S. 119. Löwe war Mitherausgeber des „Sammlers“ und in seiner Berliner Zeit Erzieher im Hause David Friedländers. Heinrich (1998), S. 150. 37 Abgedruckt in „Fdr“ (1798). 38 Zürn (2002), S. 99. 39 Zadig (1798). 40 Heinrich (1998), S. 155; Krochmalnik (1997), S. 149.

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Im 19. Jahrhundert ebbte die Debatte sichtlich ab. Bis etwa 1820 hatten alle deutschen Staaten eine Beerdigungsfrist von einem bis drei Tagen verordnet. Übertretungen wurden zumindest in Franken42 und Preussen, insbesondere Posen43, energisch verfolgt. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts lebte die Beerdigungsdebatte begrenzt nochmals auf.44 Wie weit bzw. schnell sich mit der Debatte die Einstellungen der Bevölkerung zur Beerdigungsfrist wandelten, ist schwer zu sagen, da bislang vor allem Einzelbeispiele vorliegen und diese recht widersprüchlich sind. Hinweise, dass die Verordnungen des 18. Jahrhunderts auf heftige Widerstände stiessen, lassen vorsichtig darauf schliessen, dass damals an vielen Orten noch eine grosse Mehrheit der frühen Beerdigung anhing. Als die späte Beerdigung 1787 in Mecklenburg erneut verordnet wurde, sei dies ohne jede Wirkung gewesen.45 Das preussische Reskript, das im Dezember 1797 die Drei-Tages-Frist einführte, blieb in zeitgenössisch-christlicher Diktion „ohne alle Wirkung bei dem größten Theil der hiesigen jüdischen Gemeinde, die sich mit dem Panzerhemde einer vorgeblichen Religiosität umkleidet hatte, und die Leichen wurden nach wie vor, noch an demselben Tage des Absterbens ins Grab gesenkt“46. In Schlesien ist einzig aus der Stadt Brieg überliefert, die Judenbevölkerung habe nach Erlass des Gesetzes von 1798 die frühe Beerdigung abgestellt.47 Eine Zeitungsmeldung aus Hamburg konstatierte 1804 zwar, dass hier nun die Mehrheit der Juden erst am dritten Tag begraben sein wolle.48 Im ländlichen Franken und Baden sind aus dem frühen 19. Jahrhundert jedoch noch häufige Versuche verzeichnet, die Verordnungen zu umgehen und schneller als erlaubt zu beerdigen.49 Aus Württemberg dagegen ist ein Wandel nach den 1820er Jahren verzeichnet.50 Gabriele Zürns quantitative Untersuchungen zu Altona ergaben, dass sich dort erst auf die Mitte des 19. Jahrhunderts hin vereinzelt eine Praxis etablierte, Verstorbene am Folgetag beizusetzen, obwohl das Gesetz eine Dreitagesfrist verordnet hatte.51 In den 1830er Jahren lebte die Debatte um die Beerdigungsfristen im neoorthodoxen Umfeld nochmals öffentlich auf. 1862 wies in Graetz im preussischen Posen der Arzt Markus Mosse52 den Rabbiner-Publizisten Ludwig Philippson auf das frühe Beerdigen als „einen in unserer Provinz noch sehr verbreiteten Missbrauch“ hin – und dies, obwohl die preussische Regierung vehement gegen 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

Freudenthal (1893), S. 578. Vgl. Wiesemann (1992), S. 23. Vgl. Heinrich (1998), S. 155. Zürn (2002), S. 106. Krochmalnik (1997), S. 148. „ts“ (1798), hier S. 241. Freudenthal (1893), S. 578. Marwedel (1994), S. 122 ff. Wiesemann (1992), S. 23 f. Schlich (1998), S. 154. Zürn (2001), S. 163. Er war der Vater des Begründers des Presse-Imperiums Rudolf Mosse.

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3 Gesundheitliche Praxis und jüdische Tradition

diese Praxis vorgegangen war. „Es ist unglaublich, mit welcher Hast die Leiche fortgeschafft wird.“ Halbherzige Massregeln der Regierung hätten keinen Erfolg gezeigt.53 Ähnliches ist für Halberstadt überliefert.54 Für Ludwig Geiger, Herausgeber der „Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland“, war die frühe Beerdigung 1889 allerdings bereits ein historisches Phänomen.55 Ausgehend von diesen Grundlagen war der Beerdigungsstreit ein paradigmatisches Beispiel für den Kulturwandel der jüdischen Gesellschaft dieser Zeit. Die Kritik an der frühen Beerdigung stellte das erste praktische Beispiel für den jüdischen Reformprozess im Rahmen der Haskala dar, einen der ersten Angriffe auf das traditionale, rabbinische und talmudisch orientierte Judentum.56 In dieser Hinsicht können an den Beerdigungsfristenstreit viele Fragen gestellt werden. Inwieweit bedeutete er einen Machtkampf rivalisierender Gruppen innerhalb der Judenschaft, einen Machtkampf zwischen Autoritäten der religiösen Tradition, einzelnen Rabbinern, den Beerdigungsgesellschaften und den Reformkräften? Von wem ging der Anstoss zu einem Kulturwandel aus? Entstanden die Reformanstösse eher aus genuinem Reformwillen der Maskilim? Trieben diese die Reformforderungen nur wegen der Hoffnung auf ihre damit beschleunigte bürgerliche Gleichstellung voran? Gingen die Reformanstösse vor allem von der christlichen Herrschaft und christlichen Eliten aus, die die Aufgabe identitätsstiftender Traditionen und die Assimilation bzw. „bürgerliche Verbesserung“ bei den Totenbräuchen zur Grundbedingung für die Gleichstellung – ohne deren Garantie – machten?57 Lässt die Debatte auf eine christliche und von jüdischen Aufklärern teilweise übernommene Sicht schliessen, wonach der jüdische Körper abstossend sei und die Juden nicht wüssten, wie man damit umzugehen habe, worauf Efron den Hauptaspekt setzt?58 Ging es darum, die Autonomie jüdischer Gemeinden von Seiten der christlichen Herrschaft zu untergraben?59 In diesem Sinne wäre die Debatte auch ein Beitrag zur Geschichte des Antijudaismus im Zeitalter der Aufklärung. Die Quellen bieten in der Tat vielfältige Hinweise, wie sich anti53 Brief vom 24. 2. 1862. Er bittet Philippsohn, sich dieses Misstandes in seinem Blatte (Allgemeine Zeitung des Judentums) anzunehmen, ohne ihn selbst dabei zu nennen. Leo Baeck Institute, New York, Collection Mosse Family, AR 99, Markus Mosse Box. Maschinenschriftliche Transkription. Ebendort auch ein Schreiben vom 2. 8.1865, kurz vor seinem Tod am 10. November, worin er bittet, „mich nicht frühzeitig beerdigen zu lassen, wie es leider in Graetz noch Sitte“. 54 Auerbach (1866), S. 114: „Da man in einigen Gegenden noch immer die frühe Beerdigung selbst gegen den Willen des Arztes für Pflicht hält (…)“. 55 Er spricht rückwirkend von der „damals bei den Juden übliche Sitte“ der frühen Beerdigung; Geiger (1889), hier S. 211. Ebenso schrieb Lowenstein, die frühe Beerdigung sei „Tradition bei den Juden überall auf der Welt“ gewesen. Lowenstein (2002), S. 125. 56 Gotzmann (1997), S. 107. 57 Heinrich (1998), S. 138. Hintergrund der Schrift von Marcus Herz sei der Akkulturationsdruck gewesen. Dem widerspricht, wie im Kapitel 1.3 bereits erwähnt, Rüve (2008), S. 190 – 199, die christliche Tradition sei hier auch unter Modernisierungsdruck geraten. 58 Efron (2001), S. 104. 59 Heinrich (1998), S. 138.

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3.1 Der Beerdigungsfristenstreit

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jüdische Emotionen gerade an der Beerdigungsfrage festmachten.60 Schliesslich könnte auch gefragt werden, wie weit jüdische Aufklärer und christliche Obrigkeiten hier Hand in Hand arbeiteten. Solche Fragen, die von der bestehenden Literatur zum Thema öfters angesprochen werden, stehen eher im Hintergrund dieser Untersuchung. Stattdessen soll es im Kern darum gehen, ob und wie sich in der Debatte ein langsamer Wandel des jüdischen Selbstverständnisses im ausgehenden 18. Jahrhundert zeigt. Angesichts der in der Beerdigungsfrage angelegten Spannung zwischen traditioneller religiöser Lehre und modernen weltlichen Ansichten wie denen der Medizin sind die Argumentationsgänge immer auch Bekenntnisse, welches Verständnis die Autoren jeweils von der Rolle des Judentums im jüdischen und allgemeinen Leben hatten. Dazu sollen im Folgenden die Argumentationslinien einer Reihe von Beteiligten dieser Debatte genauer untersucht werden. Es ist dabei nicht von Interesse, wie angemessen oder unangemessen diese waren. In allen Texten finden sich nebeneinander aus heutiger Perspektive mehr und weniger einleuchtende Argumente bzw. mehr oder weniger konstruierte, ja diametral entgegengesetzte Interpretationen. Während der eine Autor in den jüdischen Leichenwaschungen zum Beispiel ein Mittel sah, Scheintote wiederzuerwecken (s. u.), sah der andere darin einen so groben Umgang mit dem Körper, dass der „letzte Funken des Lebens“61 ausgelöscht würde. Auch kann es hier weder beantwortet werden noch ist es von besonderem Interesse, wie ehrlich die Argumentationen die Überzeugung ihrer Autoren vertreten haben. Gerade das Beispiel der doppelten, sich von der Endaussage her widersprechenden Gutachten von Moses Mendelssohn illustriert, wie solche Meinungsbekundungen immer auch taktisch motiviert und auf die jeweiligen Adressaten hin formuliert waren.62 Gleichzeitig dürften die Autoren in ihren Schriften aber nur Positionen vertreten haben, die den Ihrigen nicht grundsätzlich widersprochen haben. In den einzelnen Beiträgen zeigt sich daher, was die jeweiligen Autoren für denkbar hielten, und in der Summe aller Beiträge spiegelt sich, was von der Gesamtheit als denkbar betrachtet wurde – mit anderen Worten: der Diskurs über das Thema. 60 Unter dem Stichwort „Juden-Beerdigung, mörderische“ kolportiert Hufeland etwa Horrorgeschichten von entsprechenden Fällen. Hufeland (1808), S. 128 ff. Ein Artikel aus dem Jahre 1798 spricht von der „Halsstarrigkeit der Juden, mit welcher sie auf die frühe Beerdigung bestehn“. Man müsse den Juden „verbieten, Menschen lebendig zu begraben“. Schliesslich spricht er vom „Eigensinn einiger Fanatiker, vorsätzlich zu morden“. Siehe auch „Fdr“ (1798), S. 229. In der Berlinischen Monatsschrift kolportierte ein Autor 1785 die Geschichte, dass bei jüdischen Beerdigungen ein Mann „den Verstorbenen vor ihrer Beerdigung den Hals mit einem Strick zuziehe, damit man von der selben Tod gewiss sey“. Büsching (1785), hier S. 113. Zum Hintergrund dieser Wanderlegende gegen die Juden siehe Wiesemann (1992), S. 20. 61 So der Hamburger Makler Abraham Israel Baruch, der den Senat 1787 aufforderte, gegen die frühe Beerdigung vorzugehen. Zürn (2001), S. 145. 62 Zürn (2001), S. 134, meint, Mendelssohns Schreiben an die Schweriner Gemeinde stelle „dessen tatsächliche Einstellung zu dieser Frage“ dar. Dies ist wahrscheinlich, lässt sich aber in dieser Absolutheit sicherlich nicht zweifelsfrei behaupten.

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Die Neuinterpretation der Halacha im traditionellen Rahmen: Moses Mendelssohn versus Jakob Emden Moses Mendelssohn vertrat im Kern seines Gutachtens an die Schweriner Gemeinde von 177263 die Ansicht, dass die Juden im Altertum in Palästina ihre Toten in unterirdischen Höhlen und Gewölben bestattet hätten, wo sie drei Tage bewacht wurden und somit keine Gefahr des Lebendig-Begraben-Werdens bestand. Er belegte dies mit einer Stelle aus dem Talmud.64 Bei den derzeitigen Begräbnissitten hingegen bestehe diese Gefahr allerdings und müsse durch eine verzögerte Beisetzung oder den Bau eines entsprechenden Totengewölbes umgangen werden, da der Lebensschutz eine halachisch bedeutende Rolle spiele und die Drei-Tages-Frist halachisch legitimiert sei.65 Mendelssohn argumentiert damit nicht nur, dass die späte Beerdigung keine Gesetzesübertretung sei, sondern sogar, dass nur sie mit den Sitten der Urväter übereinstimme.66 Er schliesst seinen Brief mit der beinahe ironischen Umkehrung gewohnter orthodoxer Mahnungen: „Es ist aber, meiner Meinung nach, Pflicht für alle heiligen Gemeinden, nicht von dem Brauch unserer Urahnen seligen Angedenkens abzuweichen, weder nach rechts noch links.“67 Damit stellt Mendelssohn die Reform als höchste und eigentliche Form der Tradition dar. Die Traditionalisten sind seiner Ansicht nach diejenigen, die die eigentliche Tradition korrumpiert haben. Es war Mendelssohn durchaus klar, wie ungewöhnlich und extrem seine Interpretation war, wenn er sein Schreiben nach Schwerin mit den Worten beschloss: „Ich weiß zwar auch, dass Sie mir nicht folgen werden: denn die Macht der Gewohnheit ist stark, ja, vielleicht werde ich Ihnen gar als ein Irrlehrer durch meinen Vorschlag erscheinen. Immerhin! Habe ich doch mein Gewissen von der Schuld befreiet.“68 Es ist hier aber nicht von Bedeutung, dass Mendelssohns Interpretation den gängigen rabbinischen Deutungen von Tora und Talmud widersprach und leicht widerlegbar war.69 Bedeutsam ist zunächst, dass er aus der Perspektive einer Dichotomie von Reform und Tradition für eine Reform plädiert. Er tut dies durch eine Uminterpretation der religiösen Schriften. Ein Argumentationsgang, der bei vielen anderen Re63 Text in Friedländer (1787), S. 325 – 329. Darin Antwortschreiben von Moses Mendelssohn an die Jüdische Gemeinde in Schwerin vom Mai 1772, übersetzt ins Deutsche. 64 Mendelssohn in Friedländer (1787), S. 327, Gotzmann (1997), S. 110 f. Das Zitat stammt aus dem babylonischen Talmud, Semachot, Kap. 8, 1. Mischna. 65 Die Gesetzeslehrer erlaubten einen Aufschub der Beerdigung aus geringen, pragmatischen Gründen. Mit dem Ziel der Lebensrettung sei dieser Aufschub demnach umso mehr gerechtfertigt. Vgl. Mendelssohn in Friedländer (1787), S. 326 f.; Gotzmann (1997), S. 110. 66 Krochmalnik (1997), S. 129 f. 67 Zitiert nach Gotzmann (1997), S. 130 und ff. 68 Mendelssohn in Friedländer (1787), S. 329. 69 So die Interpretation von Gotzmann (1997), S. 111 (Fussnote) sowie 113 f.

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formschriften in unterschiedlichen Ausformungen ebenfalls anzutreffen sein wird.70 Seine spezielle Form des Uminterpretierens ist die, aus den religiösen Quellen ein verschüttetes, aber unbeschadetes religiöses Erbe zu rekonstruieren. Wichtig in unserem Zusammenhang ist dabei, dass er die Halacha nicht als gegebene Grösse annimmt, sondern sie als etwas im Wandel Begriffenes ansieht: Er historisiert die Halacha und beschreitet so einen typischen Argumentationsweg der Maskilim71, der eine zentrale Trennungslinie zwischen ihnen und den Traditionalisten darstellt.72 Auch in einem zweiten Aspekt setzt sich Mendelssohn von klassischer rabbinischer Argumentation ab: Er übernimmt aus der zeitgenössischen Medizin deren Annahme, dass einzig die beginnende Verwesung einen sicheren Nachweis des Todes darstelle und schliesst erst mit dieser Grundannahme, die der talmudischen Vorstellung einer hinreichenden Atemprobe widerspricht, auf die Notwendigkeit einer späten Beerdigung.73 Wie sehr diese Argumentationsstrukturen eine Herausforderung herkömmlicher rabbinischer Denkweisen war, ist aus den Antworten ersichtlich, die Jakob Emden seinem Schüler Mendelssohn zukommen liess.74 Emden zeigt sich hier als deutlicher Bewahrer eines konservativen Verständnisses des Jüdischseins. Die Antwort war wesentlich mehr als nur ein rabbinisches Gutachten, das zu einem entgegengesetzten Ergebnis kommt. Die Schärfe und Grundsätzlichkeit der Antwort macht deutlich, dass Emden erkannt hatte, wie sehr Mendelssohn das gewohnte halachische Denkgefüge in Frage stellte. Seine Vorschläge würden das bestehende Gesetz entwurzeln. Die Beerdigungsfrage, so Emden, sei ein Bekenntnisfall, die späte Beerdigung damit Götzendienst.75 Ganz besonders kritisiert Emden die Abkehr Mendelssohns von der gewohnten Art und Weise der rabbinischen Rechtsfindung. Man könne nicht einen in ganz Israel üblichen Brauch beiseite schieben. Die Halacha konstituiere sich durch den „Minhag“, den gelebten, gegenwärtigen Brauch, nicht den der Urväter. Ein Gesetz, das sich umgekehrt im Leben des jüdischen Volkes nicht durchsetze, habe keine Gesetzeskraft.76 Emden beruft sich darüber hinaus auf die Autorität der Rabbiner. Auch dürfte man die Meinung der Ärzte „in Angelegenheiten der Tora auf keinen Fall beachten, denn dann würden, Gott behüte, ihre Grundlagen geschwächt und ihre Pfeiler 70 Auch Isaak Euchel fragte z. B. 1797 in seinem Beitrag zum Beerdigungsfristenstreit, ob die Tora von den Rabbinen „überhaupt richtig verstanden seie?“ Er will z. B. beweisen, dass es im 5. Buch Mose 21, 23 nicht „begraben“, sondern „wegschaffen“ heisse. Euchel (2001a), S. 132 – 135. 71 Gotzmann (1997), S. 112. 72 Gotzmann (1997), S. 120. 73 Gotzmann (1997) sieht darin eine „unmerkliche Umbewertung der sakralrechtlichen Strukturen“. Gotzmann (1997), S. 114. 74 Siehe hierzu Briefe von Emden an Mendelssohn vom 3. Juli und 14. August 1772 in Mendelssohn (1994), S. 233 – 239, 244 – 248. 75 Zürn (2001), S. 135. 76 Ausführlich in Krochmalnik (1997), S. 132, 135. Nebenbei ist dies eine Argumentation, die die Halacha ebenfalls historisiert.

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gespalten werden“.77 Ganz konkret wendet er sich in seinem eigenen Gutachten an die Schweriner Gemeinde dagegen, den Scheintod als medizinisches Problem in dieser halachischen Debatte zu akzeptieren. Der Scheintod sei eine göttliche Strafe und der Scheintote ein Widergänger, der für seine Sünden büsst und zur Strafe nochmals sterben müsse.78 Noch wesentlich klarer und radikaler hielt gut zwei Jahrzehnte später der damalige Berliner Oberlandesrabbiner Hirschel Levin79 (1721 – 1800) dieses herkömmliche Verständnis von jüdischer Religion im Verhältnis zur weltlichen Erfahrung in einem Gutachten zum Beerdigungsfristenstreit fest.80 Levin stellte halachische Argumente in ihrer Bedeutung mehrfach, eindeutig und explizit über medizinische Erwägungen. Die traditionelle Halacha ist für ihn so verbindlich und unanfechtbar, dass er sie nicht nur als religionsgesetzliche, sondern sogar als autoritative medizinische Quelle einschätzt und sie damit höher bewertet als die medizinische Kompetenz der zeitgenössischen Ärzte. Zunächst legitimiert Levin die frühe Beerdigung mit ihrer langen Tradition, sei sie doch „von ewigen Zeiten her“ praktiziert worden.81 Als einzig relevante Art der Todesbestimmung nennt er die Atemprobe, aber nicht, weil sie so sicher sei, sondern weil sie „ihren Grund im Talmud“ habe, der sich wiederum auf das 1. Buch Mose, 7, 22 („Alles, was Lebensgeist in der Nase hat“) beziehe. Da im Talmud die Erhaltung des Menschenlebens eines der „allerheiligsten und wichtigsten Gesetze“ sei, müssten die Rabbiner „den Verlust des Odems für ein unzubezweifelndes Kennzeichen des wahren Todes“ gekannt haben.82 Die Atemprobe ist für Levin damit nicht primär aus medizinischer Erfahrung sinnvoll, sondern weil der Talmud grundsätzlich recht hat. Sollte es dennoch einen Fall von „Wiedererholung“ eines mittels der Atemprobe Toterklärten geben, so seien solche Fälle „Abweichungen von der Natur, und braucht man bei anderen Todesfällen keine Rücksicht darauf zu nehmen“, „da wir von dem Schöpfer der Natur den Verlust des Odems als Zeichen des Todes erhalten haben“. Das von Gott Offenbarte schlägt Levin zufolge damit jede konkrete Erfahrung. Die Religion ist somit ein das gesamte Leben autoritativ definierendes und regelndes Zentralsystem. Und wie um diese Grundüberzeugung noch einmal zu bekräftigen, schliesst Levin mit dem Satz „Wir übrigens aber erwarten diese Art der Wiedererholung ins Leben gar nicht, wohl aber jenes

77 Mendelssohn (1994), S. 236; Gotzmann (1997), S. 113. 78 Krochmalnik (1997), S. 132. Siehe den Originaltext in Mendelssohn (2004). 79 www.jewishencyclopedia.com, Artikel Hirschel Levin Lowenstein, Berlin; Freudenthal (1893), S. 573. 80 Das Gutachten vom 9. November 1794 ist abgedruckt bei Geiger (1889), S. 214 – 218. 81 Geiger (1889), S. 215. 82 Geiger (1889), S. 215 f. Es ist dies im Übrigen eine interessante Wendung, die das „Pikkuach Nefesch“ einmal nicht für die Reform (wie oben bereits bei Mendelssohn), sondern für die Beharrung nutzt.

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Aufleben, welches Gott der Herr durch den Propheten Ezechiel […] verkündet hat.“83 Mendelssohn hatte mit seinem Gutachten demnach Grundprinzipien des religiösen Selbstverständnisses wie der Autorität der rabbinischen Tradition und ihrer Autonomie gegenüber weltlichen Instanzen wie der Medizin in Frage gestellt. Und dennoch war sein Vorstoss massvoll im Vergleich zu späteren Beiträgen im Beerdigungsfristenstreit. Mendelssohn hatte zeitgenössische medizinische Erkenntnis nur einmal, fast am Rande als Argument seines Plädoyers verwendet. Sonst bleibt er ganz im religiösen Argumentationsrahmen. So belegt er etwa die durchaus weltliche Ansicht, dass es Scheintod gebe, mit der besagten Talmudstelle, die von einem wiedererwachten Totgemeinten handelt, der danach noch 25 Jahre lebte. Er belegt dies nicht, wie so viele Autoren nach ihm, mit Fällen aus der medizinischen Literatur. Ganz allgemein stellt er lediglich die Tradition der rabbinischen Herleitung der frühen Beerdigung in Frage, nicht aber die Herleitung einer solchen Frage aus den religiösen Schriften. Im Gegenteil: Mendelssohns Argumentation ist oberflächlich betrachtet „eine rabbinische Rechtsdiskussion ,traditionellen‘ Zuschnitts“.84 So sehr er offenbar von der weltlichen Scheintodfurcht getrieben ist, so sehr versucht er doch im Gegenteil, dieses Problem ganz innerhalb des halachischen Kontexts zu lösen und die neuen Prämissen innerhalb des biblisch-talmudisch-rabbinischen Systems zu legitimieren.85 Er überformt die religiösen Quellen nicht wie spätere Autoren mit weltlichen Interpretationen wie denen, dass deren Anweisungen im Grunde medizinisch-hygienisch intendiert waren. Tora und Talmud sind bei Mendelssohn noch ganz aus sich selbst heraus legitimiert und bedürfen keines weltlichen „Sinnes“. Auch wenn Mendelssohn seinen Reformvorstellungen damit einfach nur traditionelle Legitimität verleihen wollte,86 verbleibt er trotzdem im gleichen rabbinischen Koordinatensystem wie sein orthodoxer Kontrahent Emden. Mendelssohns Vorstoss war somit nur ein allererster Schritt in Richtung einer Aufweichung eines Verständnisses von Judentum, in dem die Tradition bzw. tradierte Interpretationen nicht grundsätzlich hinterfragt werden und die religiöse Sichtweise weitgehend unangefochten im Zentrum der Denkwelt steht.

Vernunft vor Tradition: Die Umkehr der legitimatorischen Hierarchie bei Marcus Herz Gerade vor diesem Hintergrund wird der geistige Ort der zentralen Quelle im Beerdigungsstreit, der Schrift von Marcus Herz „Über die frühe Beerdigung 83 84 85 86

Geiger (1889), S. 218. Gotzmann (1997), S. 111. Ebd. So Krochmalnik (1997), S. 136.

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der Juden“ von 1788, deutlicher.87 Während der Rabbiner und Aufklärer Mendelssohn weitestgehend im religiösen Bezugssystem argumentierte, berief sich der rabbinisch gebildete jüdische Arzt und Philosoph zu grossen Teilen auf das System, das er und seine Zeitgenossen als Vernunft, Aufklärung, medizinische Erkenntnis und gesunden Menschenverstand bezeichneten.88 Noch mehr als eine Aufklärungsschrift ist Herz’ Abhandlung allerdings ein Pamphlet. Wenn er sich überhaupt mit seinen Kontrahenten auseinandersetzt, dann selektiv-polemisch. Ansonsten reiht sich das Heft in die beste Tradition aufklärerischer Scheintod-Schriften ein. Die Beispiele aus der Literatur von Bruhier und Kollegen seien „Beweise genug“89 für die Gefahr des LebendigBegraben-Werdens. Entsprechend fantasievoll malt er das befürchtete Wiedererwachen im Grabe aus: „Den Tod des Verbrechers öffentlich auf dem Richtplatz leiden ist Kleinigkeit, ist Labsal gegen das Erwachen und Ersticken im Grabe! […] Die tödtliche Beängstigung, die erstickende Zusammenschnürung der Brust; das Strömen des Blutes nach dem Kopfe; das convulsivische Zittern des ganzen Körpers, die vergebliche Anstrengung der Muskeln, um die drückende Last abzuwälzen; der Geruch der benachbarten Leichen! Lässt sich etwas Schauderhafteres denken?“ Es grause ihn die Vorstellung, dass in der feierlichen Stille des Friedhofs „hier einer und dort einer sich in seinem Blute wälzt, seine Brust zerschlägt und den ewigen Vater um die schnelle Endigung seiner unverschuldeten Qualen flehet.“90 Eine seiner Schauererzählungen zieht sich weiter hinten im Text gleich über mehrere Seiten hin: „[…] seine Brust hebt sich röchelnd, sein Gesicht glüht; das Blut entstürzt ihm durch alle Öffnungen; die Angst überwältigt ihn; er reißt sich die Haare aus, zerfetzt seinen Leib; er wälzt sich in Blut und Unrath.“91 Herz schliesst zwar die selbstkritische Frage an, ob dies keine „übertriebene Ängstlichkeit“ sei, doch ihre pauschale Verneinung zeigt, dass sie eher rhetorischer Natur war. Immer wieder argumentiert Herz mit der notwendigen Akkulturation: So solle die späte Beerdigung bei den Juden „nach dem Beispiel unserer gesitteten und aufgeklärten Nebenvölker“ eingeführt werden.92 Über ein reformfeindliches Gutachten des Rabbiners Ezechiel in Prag ereifert sich Herz: „Welch ein Licht musste die Darstellung eines solchen Vernunftgebrauchs in Gegenwart einer so erleuchteten Gesellschaft auf die Nation [der Juden, E.W.] werfen?“ „Wie ungeheuer musste dadurch dem großen Kaiser die Schwierigkeit erscheinen, sein großes göttliches Werk, seine jüdischen Unterthanen zu vollkommen gebildeten Bürgern umzuschaffen, zu Stande zu bringen?“93 87 88 89 90 91 92 93

Herz (1788). Zu Herz allgemein vgl. Davies (1995). Krochmalnik (1997), S. 139. Herz (1788), S. 9. Herz (1788), S. 28 – 30. Herz (1788), S. 30 – 33, hier S. 33. Herz (1788), S. 7. Herz (1788), S. 40.

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Mit Herz löst sich die Diskussion zumindest teilweise vom halachischen Kontext ab.94 Die ersten beiden Kapitel seiner 60seitigen Schrift greifen medizinische Fragen auf, nämlich die der Todesfeststellung und die der medizinischen Kompetenz der hiermit betrauten Juden. Erst im dritten Kapitel sucht Herz nach möglichen „religiösen, moralischen oder politischen Gründen“, die frühe Beerdigung zu praktizieren, die er allerdings nicht finden kann, um im letzten Teil abschliessend für eine Beerdigung drei Tage nach der Todesfeststellung zu plädieren. Herz geht dabei von den üblichen Prämissen der Medizin seiner Zeit aus. Der Übergang vom Leben in den Tod verlaufe graduell. Trotz Abwesenheit der Bewegungs- und Empfindungszeichen könne die innere Lebenskraft eines Menschen noch unverletzt sein. Erst die Verwesung sei ein eindeutiger Beweis für den Tod eines Menschen.95 Zuvor sei der Scheintod möglich und die Gefahr des Lebendig-Begraben-Werdens gegeben.96 Von Mendelssohn unterscheidet ihn allerdings nicht nur der Umfang der medizinischen Argumentation, sondern auch, dass Medizin für ihn zum einen ein sich selbst legitimierendes Argument ist. Es ist für ihn völlig klar, dass sie nicht mehr, wie bei Mendelssohn gesehen, durch religiöse Schriften abgesichert werden muss. Zum anderen haben medizinische Argumente eine höhere Bedeutung als religiöse Überlegungen. In dem offensichtlichen Konfliktfall zwischen zeitgenössischen medizinischen Anschauungen und religiöser Praxis, wie er sich im Beerdigungsfristenstreit spiegelt, gibt es für Herz keine andere mögliche Wahl als die des Ersteren. Erfahrungen über den Scheintod seien „in allen Jahrhunderten von den größten Ärzten gemacht und beschrieben worden. Auf alles dieses nicht Rücksicht nehmen, […] heißt offenbar den gesunden Menschenverstand verleugnen“97. In diesem Sinn ist für ihn auch die überlieferte jüdische und biblisch-talmudisch legitimierte Todesfeststellung mittels der Atemprobe (etwa einer vor die Nase gehaltenen Flaumfeder oder Kerze98) völlig unzureichend, da es ja auch Menschen mit verstopften Nasenlöchern oder zu wenig Kraft zum Atmen gebe.99 Auf der anderen Seite löst sich Herz nicht vollständig vom religiösen Bezugssystem, er polemisiert lediglich gegen den talmudischen Rabbinismus. Ähnlich wie Mendelssohn bestreitet er, dass das frühe Begraben „aus einer ächten religiösen Quelle seinen Ursprung haben kann“. Jüdische Religionslehrer würden die frühe Beerdigung mit „Starrsinn und Eigendünkel“ „durch die spitzfündigsten Sophistereyen“ unterstützen, und sich dabei „aus Liebe zu einem verjährten Vorurtheil, auf missverstandene Stellen im Talmud und deren erdrechselte Erklärungen“ berufen.100 Ähnlich Mendelssohn historisiert 94 95 96 97 98 99 100

Gotzmann (1997), S. 115. Herz (1788), S. 17. Herz (1788), S. 7 – 12. Herz (1788), S. 14 f. Vgl. Krochmalnik (1997), S. 121. Herz (1788), S. 19, 21, 37. Herz (1788), S. 41, 15.

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auch er die Halacha. Der Bibelvers im 5. Buch Mose 21, 23 spreche nur vom Verbrecher, beziehe sich nur auf das Heilige Land zu seiner Zeit.101 Er interpretiert das biblische Übernachtungsverbot als eine „Polizeiverordnung“, das damit sakralrechtlich von Ort und Zeit abhängig wird. So kann Herz die DreiTages-Frist als Anpassung der Halacha an die gegebenen Umstände ansehen.102 Aus der angenommenen Gefahr des Scheintodes leitet er den permanenten Ausnahmezustand ab, und mit diesem wiederum kann er sich auf das „Pikkuach Nefesch“, das religiöse Gebot der Lebenserhaltung und der damit verbundenen Berechtigung, fast alle halachischen Bestimmungen zu umgehen, berufen.103 Wie ernst Herz die religionsgesetzliche Argumentation meinte, ist in der Literatur strittig. Andreas Gotzmann war 1997 der Ansicht, dass auch Herz sich nicht von der halachischen Diskussionsebene lösen konnte. „Wie die Mehrzahl der jüdischen Aufklärer hoffte auch er, dass die Wahrung der Halacha als verbindliche Argumentationsebene eine traditionskonforme Änderung der religiösen Vorschriften ermöglichen werde. Daher bleibt seine Argumentation – vermutlich weniger aufgrund der persönlichen Einstellung als aufgrund der generellen Situation –, selbst wenn sie den Rechtsfindungsprozess simplifiziert und verzerrt, stets rechtskonform.“104 Daniel Krochmalnik hingegen hebt im gleichen Jahr hervor, dass Mendelssohn zwar noch ganz nach den Spielregeln des halachischen Diskurses“ verfahren sei. Herz und seine Mitstreiter hingegen bedienten sich „dieses Diskurses nur noch, um Ihre orthodoxen Gegner zu bekämpfen“.105 Wie taktisch die Argumentation von Herz auch immer war, sie zeigt doch, dass es zu diesem Zeitpunkt auch für Reformer nicht als inadäquat angesehen wurde, sich zumindest teilweise im gewohnten halachischen Denksystem zu bewegen. Dass spätere reformorientierte jüdische Ärzte den Weg aus der Religion konsequenter beschritten, zeigt der Breslauer Mediziner Abraham Zadig. In seinem dort 1798 anonym veröffentlichten Beitrag zum lokalen Beerdigungsstreit ist die medizinische „Vernunft“ nicht allein das beinahe einzige akzeptierte Argument. Der Gedanke religiöser Tradition oder Erfordernisse ist für Zadig so weit entfernt, dass er ihn nicht einmal thematisiert und verwirft.106 Herz proklamierte mit seiner Schrift allerdings auch ein neues Verständnis

101 102 103 104 105 106

Jacoby (1989), S. 24 f.; Krochmalnik (1997), S. 140 f. Gotzmann (1997), S. 116; Herz (1788), S. 24 ff.; Davies (1995), S. 202. Krochmalnik (1997), S. 142 f. Gotzmann (1997), S. 115 f. Krochmalnik (1997) 1997, S. 142. Bezeichnenderweise konvertierte Zadig 1802 zum Christentum und nahm den Namen August Theodor Zanth an. Vgl. Hirsch (1962), Bd. V, S. 1022. Der medizinische Eintritt des Todes interessierte Zadig später noch, wie aus seiner Veröffentlichung „Beweis, dass ein vom Rumpf getrennter Kopf sogleich das Bewusstsein verliert“ hervorgeht (Breslau 1803).

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der jüdischen Religion,107 das einige Schritte weiter ging als das von Mendelssohn. Der zentrale Faktor dabei ist die Umkehrung der Hierarchie von weltlicher und religiöser Sphäre. Emden etwa interpretierte den Scheintod noch rein religiös als göttliche Strafe und negierte damit seine Bedeutung als weltliches, medizinisches Problem. Für Herz hingegen musste die Religion vor den weltlichen Erfordernissen zurückweichen. Wenn die Halacha mit ihnen nicht in Einklang gebracht werden konnte, stellte er sie in Frage.108 Was dem gesunden Menschenverstand und Medizin widerspreche, könne einfach nicht als „Grundpfeiler der ganzen Religion“ angesehen werden.109 Wo ein solcher Widerspruch auftritt, musste Herz entweder den Zuständigkeitsbereich der Religion eingrenzen oder die Religion so verstehen, dass sie nicht mehr im Widerspruch mit weltlichen Erfordernissen stand. Das Erstere fasst Herz mit der für ihn zentralen Passage fest: „Die Frage ist nicht, ob wir einen Todten früh begraben sollen; sondern ob der jenige, den wir früh begraben, auch wirklich todt ist.“110 Die Todesdefinition ist demnach eine Angelegenheit, die einzig und allein in medizinische Hände gehört. Bis zur unbezweifelbaren Todesfeststellung habe die Religion keinen Anspruch auf ihre Totengebräuche, denn: Der „zweifelhaft Todte“ könne nicht als halachisch Toter angesehen werden und sei deshalb weder eine rituelle Verunreinigung noch eine Geringschätzung Gottes. Er „ist unser Bruder, der vielleicht wieder auflebt, und den wir durch zu zeitiges Begraben vielleicht vorsätzlich ermorden!“111 Für Herz muss die jüdische Religion, so der zweite Punkt, vor allem mit den zeitgenössischen weltlichen Anforderungen kompatibel sein – bzw. gemacht werden: „Man wird mich nie bereden zu glauben, dass jene göttlichen Lehrer der Religion, welche die Liebe des Nächsten als das heiligste und wichtigste Gesetz einschärfen, welche überall auf die Erhaltung eines Menschenlebens so großen Werth setzen, den erwähnten Zweifel so entscheiden werden: dass wir uns lieber der Gefahr aussetzen sollen, einen vorsätzlichen Mord zu begehen, als der Gefahr, einen wirklich Todten über Nacht unbegraben zu lassen.“112 Herz verlegt damit sozusagen das Gravitationszentrum der jüdischen Religiosität von der traditionellen Interpretation der halachischen Schriften auf aufklärerisch proklamierte Werte wie Vernunft, gesunden Menschenverstand, Philanthropie (über eine generalisierte Aufgabe des Lebenserhalts113), 107 Efron (2001), S. 104, warf diese Frage am Beispiel von Herz ebenfalls auf, ohne sie allerdings dezidiert beantworten zu können. 108 Krochmalnik (1997), S. 142. 109 Herz (1788), S. 41, ähnlich S. 15. 110 Herz (1788), S. 39, auch Krochmalnik (1997), S. 141. An anderer Stelle schreibt Herz: Selbst wenn die frühe Beerdigung von Moses eingeführt sei und für alle Zeiten und Orte als Religionsgesetz gelte, „so bleibt es doch ausgemacht, dass ihre Maynung nur auf die wirklich Todten gerichtet ist; keineswegs auf Scheintodte; auch keineswegs auf Fälle, wo der wirkliche Tod von dem scheinbaren nicht zu unterscheiden ist.“ (S. 26). 111 Herz (1788), S. 26. 112 Herz (1788), S. 26. 113 Siehe der Gebrauch des „Pikkuach Nefesch“ oben. Bezeichnend auch das Zitat: „O der (sic!)

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Nächstenliebe und Bruderliebe114 und Sittlichkeit115. Explizit distanziert er sich von der Tradition als überkommenem religiösen Wert: „Wozu denn immer die übergroße Anhänglichkeit an alte Sitte, die mit unserer Glückseligkeit nicht in der mindesten Verbindung stehet.“116

Die Verteidigung des Beerdigungszeremoniells mittels der Vernunft bei Jakob Marx Bei einem erklärten Vertreter der jüdischen Reform wie Herz ist es allerdings nur zu logisch, dass er weltlichen Argumenten und der „Vernunft“ den Vorzug gegenüber der religiösen Tradition gibt. Anders ist es, wenn ein Verteidiger der frühen Beerdigung das gleiche tut. So im Fall des jüdischen „Churfürstlich Cöllnischen Hofmedikus“117 und medizinischen Schriftstellers mit Namen (Marx) Jakob Marx (1743 – 1789) aus Hannover.118 Marx war alles andere als ein traditionalistisch denkender Jude. Mit einer stattlichen Anzahl von medizinischen Fachveröffentlichungen auf Latein und seit den 1770er Jahren auch auf Deutsch war er ein bekannter Name auf dem publizistischen Parkett seiner Zeit. Die Literatur zählt auch ihn zur Haskala.119 Seine Abhandlung: „Über die Beerdigung der Todten“ von 1788 ist eine explizite Antwort auf seinen ehemaligen Hallenser Studienkollegen Herz.120 Marx hatte sein Hauptargument bereits vier Jahre zuvor in einer deutschen allgemein bildenden Zeitschrift unter dem Titel „Genaue Prüfung der frühen Beerdigung der Todten bey den Juden“ dargelegt.121 Herz hatte Marx daraufhin in seiner Abhandlung scharf kritisiert und lächerlich zu machen versucht. Marx vertritt im Kern seiner Argumentation die Ansicht, dass die Art und Weise, wie im Judentum mit Verstorbenen umgegangen werde, eine ideale Vorkehrungsmassnahme gegen das Lebendig-Begraben-Werden darstelle. So sieht er in der rituellen Reinigung der Verstorbenen die Reizung, die Scheintote wieder erwecken könne: „[…] das vorsichtige Begießen mit lauwarmem Wasser, das Abwaschen und Abreiben jedes Gliedes der Leiche, das

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Seligkeitswächter, die in der Erhaltung eines Menschenlebens so wenig Seligkeit finden.“ Herz (1788), S. 27. Herz (1788), S. 22, nennt das Judentum „die Religion, die auf Bruderliebe und Leben das größte Gewicht legt“. Die frühe Beerdigung ist für ihn ein „unsittliches“ Verfahren. Herz (1788), S. 23. Herz (1788), S. 53. So tituliert er sich selbst in Marx (1784), S. 234. Vgl. Ries (2010), S. 79 f., 91; www.jewishencyclopedia.com, Artikel über Jakob Marx; Landau (1895), S. 123; Wininger (1927 – 36), Bd. 4, S. 288; Kaiser/Völker (1979), S. 26. Storz (2005), S. 204. Efron (2001), S. 103; Jacoby (1989), S. 42, 45, zählt ihn zum traditionelleren Flügel der Haskala. Vgl. auch einen anderen wissenschaftlichen Streit zwischen beiden bei Ibing (1984), S. 27 f. Vgl. Marx (1788); Marx (1784); Zürn (2001), S. 138 – 141; Heinrich (1998), S. 144 – 147; Jacobi (1989), S. 45 f.

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Drehen und Wenden von einer Seite zur anderen, besonders das Reinigen oder Reitzen unter den Nägeln der Hände und Füße und das übrige […] Verfahren bei jedem Todten […].“122 Detailliert beschreibt er in beiden Veröffentlichungen das Vorgehen der „gesetzten und erfahrnen Männer“123 der Beerdigungsbruderschaften als genaues Beobachten und vorsichtiges Vorgehen. Sie hätten die gleichen Todeskriterien wie die Ärzte, machten die Atemprobe mit Spiegel, Feder und Flamme und „reiben auch allenfalls die Füße“. Bei plötzlich Verstorbenen warteten sie länger ab, bis der Tote die wirkliche Totenfarbe angenommen habe. In allen nicht ganz sicheren Fällen werde ein Arzt beigezogen. Zur letzten Absicherung werde der Tote nochmals untersucht, bevor der Sarg zugenagelt werde. Marx fasst zusammen: „Bei dem üblichen Verfahren und der von vernünftigen Leuten unternommenen vorsichtigen und genauen Untersuchung kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand begraben werde, der noch nicht wirklich todt sey ; und wäre er es nicht, so würde er eben durch die angeführten Cautelen gewiss wieder zum Leben gebracht werden.“124 Dass die Juden ihre Toten lebendig begraben würden, seien „abgeschmackte Märchen“. An einem Beispiel zeichnet der Autor dann konkret nach, wie ein solches Gerücht entstehen konnte.125 Marx versucht nicht nur die gängigen Vorwürfe gegen die frühe Beerdigung zu entkräften, sondern streicht auch deren angebliche Vorteile etwa bei ansteckenden Krankheiten heraus: Diese Praxis sei „nicht Aberglauben, wofür man bey andern Nationen das frühe Beerdigen, bei erwähnten üblichen Vorsichten, mit Unrecht ansiehet, sondern weise Vorsicht und Fürsorge, damit weder Unglück, als ansteckende Seuche, noch die Beschwerlichkeit, die man von dem langen Aufenthalte des Todten durch den bösen und nachtheiligen Geruch leidet […]“.126 Schliesslich vergleicht er das jüdische Vorgehen mit dem unter Christen gebräuchlichen und kehrt den Vorwurf um: Unter den Letzteren sei die Gefahr des Lebendig-Begraben-Werdens grösser. Die Männer der Beerdigungsbruderschaften seien vielleicht erfahrener als christliche Totenaufseher.127 Sie würden die Sterbenden genauer beobachten als es unter Christen üblich sei.128 Auch würde dort bei allen Todesarten gleich verfahren. Darüber hinaus würden die Toten während der mehrtägigen christlichen Aufbahrungszeit nur schlecht bewacht. Zudem sei es bei den Juden „nie […] im Gebrauch gewesen, alle Öffnungen des todten Körpers zu verstopfen, ihm die Augen zuzudrücken; den Unterkinnbacken mit einer Binde in die Höhe zu binden“.129 Dass Marx mit dieser Argumentation einen Teil seiner Mitjuden 122 123 124 125 126 127 128 129

Marx (1788), S. 5. Marx (1788), S. 5. Marx (1788), S. 12. Marx (1788), S. 18 – 20. Marx (1784), S. 233. Marx (1788), S. 6. Marx (1788), S. 17. Marx (1788), S. 15, allgemein S. 13 – 18.

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hinter sich wissen konnte, zeigt sich daran, dass der Berliner Oberlandesrabbiner Hirschel Levin sie als Teil eines eigenen Gutachtens (s. o.), allerdings befreit von ihrer aufklärerischen Legitimation, sechs Jahre später der Regierung gegenüber fast identisch vorbrachte.130 Das weitaus wichtigste Merkmal der Argumentation von Marx ist, dass er zu seinen Marcus Herz diametral entgegengesetzten Ergebnissen mit nahezu identischen Grundsätzen wie dieser kommt. Wie sein Kontrahent beruft er sich ständig auf Vernunft und Erfahrung, unter anderem auch auf seine über zwanzigjährige ärztliche Praxis.131 Explizit nennt er sich einen „verkannten Bundesgenossen“ des Berliner Arztphilosophen.132 Wie Herz proklamiert er eine eindeutige Hierarchie zwischen Vernunft bzw. „bürgerlicher Wohlfahrt“ und „herkömmlichen Gebräuchen“. „Der Jude“ könne diesen Weg „mit dem besten Gewissen betreten“.133 Ganz konkret zeigt sich diese Hierarchie, wenn er etwa die Sterbebegleitung der Beerdigungsbruderschaften beschreibt: „Die Gelehrten […] suchen den Kranken an seine Pflichten zu erinnern und, wenn er gefährlich krank ist, zur Andacht zu ermahnen, wiewohl sie auch dieses mit kluger Vorsicht thun, und verpflichtet sind, es nicht auf eine anfallende, den Kranken beunruhigende Art vorzunehmen, damit die Unruhe seines Gemüths ihm nicht nachtheilig, und der noch möglichen Genesung nicht hinderlich seyn möge.“134 Wenn medizinische Gründe eine Änderung des rituell geforderten Verhaltens erfordern, muss dem entsprochen und diese Änderung nicht einmal mehr rituell legitimiert werden. In seiner Arbeit über jüdisch-religiöse Rechtsfindung im Deutschland des 19. Jahrhunderts geht Andreas Gotzmann auch auf den Beerdigungsstreit und dabei kurz auf die spätere Schrift von Marx ein. Dieser habe „für die halachische Sichtweise plädiert“ und sich „eng an den halachischen Bestimmungen“ orientiert.135 Dies trifft allerdings nur bei einer sehr oberflächlichen Betrachtung zu. Genau genommen ist eher das Gegenteil der Fall. Sicherlich verteidigt Marx die halachischen Bestimmungen zum Umgang mit Sterbenden und Toten zwar auf eine beinahe apologetische Art gegen die bekannten Vorwürfe. Doch versteht man die Halacha nicht als Summe einzelner konkreter Vorschriften, sondern als tradiertes jüdisch-religiöses Recht, zeigt Marx 130 Geiger (1889), S. 215. Die frühe Beerdigung würde „auch bei vielen jetzt existierenden europäischen Nationen“ praktiziert. Die unter den Christen übliche längere Aufbahrung habe nicht das Ziel, „die Wiedererholung ins Leben zu erzielen“, sonst würden sie anders mit ihnen umgehen. „Unsere Behandlungs-Art der Kranken und Todten“ mit der intensiven und erfahrenen Betreuung durch Mitglieder der Beerdigungs-Bruderschaft würde eine sehr genaue Todesfeststellung ermöglichen, während die „Reinigungsgebräuche bei den Todten viele Reizungen zum Wiederaufleben geben“. Sei der Gestorbene „einmal für todt anerkannt[…], ist wohl keine Hoffnung zum Wiederaufleben übrig“. 131 Marx (1784), S. 228; ders. (1788), S. 43. 132 Marx (1788), S. 3. 133 Marx (1788), S. 30 f. 134 Marx (1784), S. 228. 135 Gotzmann (1997), S. 115.

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ausgesprochen wenig Bezug dazu. An keiner Stelle verteidigt er halachische Vorschriften aus religiösen, sondern einzig und allein aus medizinischen Gründen.136 Seinem ganzen Argumentationsaufbau gemäss findet die Halacha ihre Legitimation einzig darin, medizinisch sinnvoll zu sein. „Die Vorfahren und Gesetzgeber der jüdischen Nation“ hätten die umständlichen Totenbräuche mitsamt dem frühen Beerdigen angeordnet, „um die Fürsorge zu gebrauchen und die Gefahr zu vermeiden, dass nicht ein scheinbar Todter als ein wirklich Todter beerdiget werde“. All dies habe „zu dem frühen Beerdigen die erste Ursache gegeben“137. Wie wenig Bedeutung er dem Zeremoniell als solchem einräumt, wird an einer anderen Stelle deutlicher : Die rituelle Reinigung der Toten „mag nur immer als ein Ceremonialgesetz eingeschärft seyn, es hat aber einen großen medizinischen Nutzen, und, wenn es der Umstand erfordert, können diese oder ähnliche Mittel, den Verblichenen ins Leben zu bringen, so lange als nöthig erachtet wird, angewandt werden.“138 Zeremoniell und medizinischer Nutzen sind hier quasi deckungsgleich, und dennoch mit einem eindeutigen „aber“ voneinander getrennt. Das Zeremoniell wird zu einer Therapie degradiert, die „so lange als nöthig“ angewandt werden darf. Die vorhandenen biographischen Quellen sagen nichts über das Verhältnis aus, das Marx zum Judentum gehabt hat. Die Beerdigungsschriften sind die einzig bekannten, in denen er das Thema Judentum aufgreift. Doch aus eben diesen lässt sich schliessen, dass Marx ein positives Verhältnis zu einem relativ gesetzestreuen Judentum gehabt haben muss, laufen seine medizinischen Vorstellungen doch beinahe zwanghaft genau auf das halachisch Geforderte und das traditionell Praktizierte hinaus. Allerdings ist es hier nicht möglich, Marx mit Bestimmtheit als eine Art Vorläufer der Neoorthodoxie zu identifizieren. Wenn Marx aber ein an den Gesetzen orientierter Jude war, so zeigt er, wie auch in dieser Gruppe Wandlungen des Verständnisses der jüdischen Religion auftraten. Die Tradition, die noch bei Emden einen kaum hinterfragbaren Selbstzweck darstellte, findet bei Marx ihre Berechtigung vor allem in einem gedachten weltlichen Sinn. In Hinblick auf die Bedeutung weltlicher Argumente ist Marx allerdings genauso weit von der Tradition entfernt wie sein Kontrahent Herz und um ein Vielfaches verweltlichter als der Reformer Mendelssohn. Grundsätzlich ist es hier nicht möglich, Marx so zu deuten, dass der Widerspruch zwischen seiner gleichzeitigen Orientierung auf das tradierte Ritual und dessen weltlicher Begründung völlig aufgelöst wird. Eine mögliche Lö136 In seiner früheren Schrift leitet Marx die frühe Beerdigung auf seine eigene Art und Weise aus den religiösen Schriften als religiös verpflichtend ab. Aber er tut dies in einem Einleitungsteil, der noch nicht auf den Vorwurf des Lebendig-Begraben-Werdens eingeht. Wo es um diese Verteidigung geht, greift er nicht auf das religiöse Argument zurück. Marx (1784), S. 230 ff. 137 Marx (1784), S. 233. Marx ist damit ein frühes Beispiel einer Argumentation mit dem hygienischen Wert des jüdischen Ritus, die später wesentlich verbreiteter auftreten sollte. Vgl. Efron (2001), S. 103, sowie das gesamte Kapitel „In Praise of Jewish Ritual“ (S. 186 – 233). 138 Marx (1788), S. 5.

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sung dieses Dilemmas könnte jedoch in einem weiteren Aspekt seiner Schrift liegen. Marx argumentiert selbstbewusst gegen die Kritiker der frühen Beerdigung. Nicht nur, dass er deren Vorwürfe zu entkräften versucht und wie beschrieben die Alternative der christlichen, späten Beerdigung als gefährlicher hinstellt. Er zweifelt auch grundsätzlich daran, dass diese Kritiker korrekte Argumente vorbrächten139 und bemerkt, wie sie für Gerüchte anfällig seien (s. o.). Sicherlich nicht zufällig bezieht sich Marx wörtlich auf das Diktum von Herz, die Juden sollten sich „nach dem Beispiel gesitteter und aufgeklärter Nebenvölker“140 verhalten, um den Vorwurf des Vorurteils dann umzukehren. Marx stellt damit die von Herz und anderen Kritikern aufgestellte Dichotomie in Frage, dass die Juden ein defizitäres Volk und Christen das notwendige Vorbild für ihre Verbesserung seien. Marx hatte offensichtlich aus eigenen Erfahrungen den Eindruck gewonnen, dass der Umgang der Juden mit ihren Sterbenden und Toten nichts Problematisches darstelle. Wenn diese Praxis nun so heftig kritisiert wurde, war seine Apologetik des üblichen jüdischen Vorgehens möglicherweise auch ein Versuch der Selbstbehauptung gegenüber pauschalen, in seinen Augen ungerechtfertigten Angriffen gegen die jüdische Kultur. Ähnliche Versatzstücke einer selbstbewussten Gegenposition zu den Reformern finden sich bei dem streckenweise recht ähnlichen rabbinischen Gutachten von Hirschel Levin. Er stellt nicht nur die Rationalität der christlichen Sterbebräuche in Frage, sondern entlarvt verschiedene Scheintod-Geschichten als Gerüchte und entschuldigt dies jovial mit dem aufklärerischen Furor der Autoren: sie seien „durch den edlen Trieb der Menschenliebe dazu hingerissen worden“.141 Die Verteidigung der Begräbnissitten als jüdische Kultur : Hirsch Wolf Einen Anhaltspunkt für die Richtigkeit dieser Vermutung finden wir in der ähnlichen Schrift eines Kollegen von Marx, mit welcher der Autor ebenfalls auf Herz reagierte. Es handelt sich um die „Vertheidigung der frühen Beerdigung der Juden“ des Hamburger jüdischen Arztes Hirsch (Heinrich) Wolf(f) (geb. Lobsens 1738, gest. Hamburg 1820) aus dem gleichen Jahr 1788.142 Zwei Jahre zuvor war er von Altona nach Hamburg gezogen und dann als Arzt am Hamburger Krankenhof, später an der örtlichen Armenanstalt, also nichtjüdischen Einrichtungen tätig.143 Wolf kann eindeutiger als Maskil bzw. als ein 139 140 141 142

Marx (1788), S. 11. Marx (1788), S. 15. Geiger (1889), S. 217, 219. Wolf (1788). Die Schrift nennt als Autor „H.W.“ mit der Zusatzbezeichnung „A. b. A. J. i. H.“ Einen im selben Jahr nachfolgenden Text, Wolff (1788), nennt er „Zweytes Schreiben von H. Wolff, Arzt zu Hamburg über die Zeichen des Todes an seinen Freund S.S. in K., Altona“. 143 Zürn (2001), S. 138; Kopitzsch (1990), S. 511. Er ist nicht verzeichnet in Michael (1896) und

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Jude mit einem Lebensentwurf beschrieben werden, der im 19. Jahrhundert unter Juden immer verbreiteter wurde. Wolf veröffentlichte wie Marx eine Reihe medizinischer Schriften. Er tat dies unter dem Vornamen „Heinrich“,144 womit er zeigte, wie weit er sich der nichtjüdischen Mehrheitskultur nahe fühlte, wiewohl er nie konvertierte.145 Zudem ist Wolf im Jahre 1786 als Mitglied des Hamburger „Ordens der Asiatischen Brüder“ aufgeführt. Er ist einer von mindestens sechs Juden in dieser Loge mit vornehmlich hochstehenden und wohlhabenden Mitgliedern.146 Wolf verteidigte die frühe Beerdigung im Wesentlichen mit einer ähnlichen Distanz zur religiösen Tradition wie Marx.147 Kern seiner Argumentation ist die Meinung, bei der üblichen Praxis im Judentum bestehe praktisch keine Gefahr, dass ein Mensch lebendig begraben werde. Zwar sei die traditionelle Atemprobe mit Flamme, Flaumfeder und Spiegel kein sicheres Todeszeichen, doch die genaue Beobachtung des aufmerksamen Arztes zeige diesem wie auch den geübten Krankenbesuchern genau an, wie sich die Lebenskraft eines Sterbenden langsam verliere. Entscheidend sei die Beobachtung der „letzten Zufälle“ (im heutigen Sinne etwa von „Anfällen“).148 Hier werde „der Arzt, ja sogar ein jeder Krankenbesucher, schon im Voraus den Tod verkündigen können“.149 In anderen Fällen „werden sich die Juden gewiss nicht weigern, einen solchen Todtscheinenden länger liegen zu lassen“.150 Es würden „nur diejenigen frühe begraben, von deren Tode wir versichert sind“.151 Ähnlich Marx hob auch Wolf den gesundheitlichen Wert der frühen Beerdigung hervor, allerdings mit der Begründung, dass „das übertriebene Jammern und Wehklagen bei Todesfällen und Begräbnissen“ und die „überspannte Empfindlichkeit“ der Hinterbliebenen schädlich seien. Es gebe fast keinen Juden, der nicht bei einem Todesfall in der Verwandtschaft „einige Tage selbst in kränkelnde Umstände verfällt“.152 Dies sei auch der eigentliche Grund für die frühe Beerdigung: „Ich stelle mir also vor, weil unsere weisen Vorfahren gesehen haben, dass je länger man mit dem Begraben zögert, je kränkender

144 145 146 147 148 149

150 151 152

wird im vorangegangenen Kapitel über die hamburgischen jüdischen Ärzte nicht explizit erwähnt. Vgl. die Angaben der deutschen Landesbibliotheken über den „Karlsruher Virtuellen Katalog“. Seine Dissertation veröffentlichte er unter dem Vornamen „Hirsch“. Vgl. Zürn (2001), S. 138. Siehe Katz (1993), hier S. 88. Zürn (2001), S. 138 – 141, paraphrasiert den Argumentationsgang Wolfs. Wolf (1788), S. 13. Wolf (1788), S. 14. Im nachfolgenden „zweyten Schreiben“ vertieft Wolf seine Aussagen zu den sicheren Zeichen des Todes. Bei: „chronischen oder hitzigen Krankheiten“ müsse der Tod zwangsläufig erfolgen, wenn einige Anzeichen gegeben seien, und zwar ein Fieber (im zeitgenössischen Verständnis des Begriffs) sowie ein Brand oder eine Fäulnis eines Körperteils, in Verbindung mit fehlendem Puls bzw. Atem. Wolff (1788), S.24. Wolf (1788), S. 7, 14. Wolf (1788), S. 15. Wolf (1788), S. 9.

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und gefährlicher es für die Verwandten ist, so haben sie diesen Gebrauch eingeführt.“153 Und wie Marx zweifelt auch Wolf schliesslich, dass „das lange Warten bey anderen Nationen mit dem Totenbegräbniss aus der Ursache geschiehet, weil man befürchte, einen Menschen zu begraben, der noch Leben in sich habe“. Denn dort würden die Toten bisweilen der strengsten Kälte ausgesetzt.154 Der wesentliche Unterschied zu Marx besteht darin, dass es vor allem die alltägliche jüdische Praxis ist, die Wolf verteidigt, und kaum die konkreten Schritte des Rituals. In der Frage des „Jammerns und Wehklagens“ kritisiert er den jüdischen Brauch sogar explizit. In diesem Sinne war Wolf viel weniger im traditionellen Judentum verankert, als es bei Marx den Anschein macht. Lediglich der Umstand, dass er die frühe Beerdigung verteidigt, könnte zu der falschen Annahme verleiten, er sei ein Traditionalist gewesen. Wolf formuliert viel eindeutiger als Marx die Motivation seiner Schrift, die „jüdische Nation“ gegen pauschale, ungerechtfertigte Angriffe zu verteidigen. Selbstbewusst stellt er fest, dass die frühe Beerdigung der Juden keine „Mordthat“ und deshalb „der Name Unsitte ganz unschicklich“ sei.155 Bereits auf der ersten Seite seiner Abhandlung bekundet Wolf sein Erstaunen, dass der „große Gelehrte“ Marcus Herz, „so sehr unsere Nation herunter setze, wie er die ganze Nation für Dummköpfe und Unwissende erklärt […]“156. Und er schliesst seine Abhandlung: „O Du unsterblicher Mendels-Sohn! Was würdest Du sagen, wenn Du sähest, dass Deine Nation, für welche Du Dich fast aufgeopfert hast, so sehr heruntergesetzt würde! Was würdest Du sagen, wenn Du sähest, wie Männer, die du mit der größten Achtung begegnet hast, so sehr besudelt würden.“157 Speziell sieht Wolf es als eine Beleidigung der Rabbiner an, wenn Herz die frühe Beerdigung eine „armselige Vätersitte“ nennt.158 Verteidigt Wolf damit doch den traditionellen Entwurf des Judentums? Sicherlich nicht. Er expliziert auf den entsprechenden Seiten sehr deutlich, wie er die Rolle des Judentums versteht. Er spricht von „unserer Nation“ und versteht sich damit unzweideutig als Jude bzw. Teil der jüdischen Gesellschaft. Aber für ihn sind die jüdische Nation und die jüdische Religion nicht mehr identisch. Nicht nur, dass er wie bereits Herz und Marx die medizinischen Erfordernisse des Lebens aus dem Verfügungsbereich der Religion ausgegrenzt hat. Er sieht die Religion viel deutlicher als abgegrenzten, wenngleich essentiellen Teil der Gesellschaft. Er verteidigt die Rabbiner und mit ihnen das jüdische Religionssystem sozusagen als Aussenstehender. Er empört sich eben nicht, dass die Rabbiner unfehlbare Autoritäten seien, denen sich alle zu unterwerfen hätten. Sie sind für ihn nicht das Judentum, aber sie gehören als 153 154 155 156 157 158

Wolf (1788), S. 10. Wolf (1788), S. 10 f. Wolf (1788), S. 15. Wolf (1788), S. 3. Wolf (1788), S. 16. Wolf (1788), S. 16.

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,gesellschaftliches Subsystem‘ zur Gesamtheit und leisten ihren Beitrag: Es sei, so Wolf gemünzt auf die vernichtende Kritik von Herz, „weit vernünftiger“, wenn ein Kritiker „die Vorsteher der Kirche zu gewinnen sucht, damit sie gemeinschaftlich mitarbeiten, wodurch man gewiss seinen Endzweck erreichen würde“159. Bezogen auf den gesamten Staat sieht er die jüdische Konfession als eine von mehreren: Es könne keiner beim Volk „Gehör finden, wenn er die Vorsteher der Kirchen lästert“160. Ohne die Religion als Teil des Judentums würde dieses Schaden nehmen: Selbst für den Fall, dass die Vorsteher der Kirche wirklich als unwissende Leute erkannt würden, sieht er darin dem Staat einen grösseren Schaden zugefügt „als durch die Gefahr, es könnten in einem Jahrhundert einige lebendig begraben werden“.161 So sehr Wolf ein Reformgegner und Verteidiger der gewohnten Praxis ist, so sehr entwirft er mit seiner Kritik doch eine Skizze von einem modernen „konfessionalisierten“ jüdischen Gesellschaftsverständnis.

Die Tradition als gesellschaftlicher Stabilisierungsfaktor : der proto-neoorthodoxe Salomon Pappenheim Wie verbreitet eine neue Interpretation der jüdischen Religion zu diesem Zeitpunkt bereits gewesen ist, zeigt sich an einem weiteren Verteidiger der frühen Beerdigung, dem schlesischen „Dajan“ (Rabbinischer Richter bzw. Rabbinatsassessor) und talmudischen Schriftsteller Salomon (Ben Seligman) Pappenheim(er) (geb. Zülz 1740 gest. Breslau 1814).162 Er ist Verfasser einiger halachischer, philosophischer und sprachwissenschaftlicher Abhandlungen. Pappenheim arbeitete zeitweise für den „Sammler“163 und „galt als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der älteren deutschen Haskala“. Er wandte sich trotz tiefer Verwurzelung in der jüdischen Religiosität in seinen Schriften teils „gegen den Drang zur übertriebenen Geistigkeit“ und verherrlichte dagegen das natürliche Gefühl. Typisch für die frühe Haskala ist, dass er für eine Wiederbelebung des Hebräischen arbeitete.164 Bekannt wurde er vor allem auch durch mehrere Schriften zur Verteidigung der frühen Beerdigung im Zusammenhang mit den oben skizzierten Breslauer Streitigkeiten. 1794 oder im Folgejahr erschien in Breslau seine Abhandlung „An die Barmherzigen zu 159 160 161 162

Wolf (1788), S. 4. Wolf (1788), S. 4. Wolf (1788), S. 4. Häufiger wird er Pappenheim genannt, seltener „Pappenheimer“, so in seiner Publikation von 1798 (s. u.), auch bei Heinrich (1998), S. 143 ff., und Zürn (2001, 2002), letztere aber teilweise in Bezug auf dessen Sohn in Altona (vgl. Ruiz 1980), der sich Chaim Salomon Pappenheimer nannte. 163 Ruiz (1980), hier S. 192. In diesem Aufsatz finden sich auch weitere Details über den Vater S.S. Pappenheim(er). 164 Wininger (1927 – 36), Bd. IV, S. 606.

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En-Dor oder über die frühe Beerdigung bei den Juden“ als Antwort auf die dortige Verbreitung der Herzschen Argumente durch den Lehrer-Maskil Joel Löwe. Spätere Veröffentlichungen mit ähnlichen Titeln bis ins Jahr 1807 sind zum Teil lediglich Neuauflagen dieser ersten Abhandlung.165 Pappenheim verteidigt die frühe Beerdigung nur nebenbei aus medizinischen Gründen. Ihren besonderen Wert hat sie für ihn stattdessen als Tradition. Religionsgesetze zählt Pappenheim neben Sittenlehre, Jurisprudenz, Künsten, Politik und dem Aufbau der Gesellschaft dem Reich der Vernunft zu. Auf der Basis einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber sozialem, politischem und kulturellem Fortschritt sieht er darin Bereiche, die „in der Hauptsache wenigstens“ keine Veränderung erfahren sollten.166 Nota bene: Zwischen den Veröffentlichungen von Herz, Marx und Wolf (1788) sowie der von Pappenheim (1794/95) hatte die französische Revolution stattgefunden. Doch Pappenheim verteidigt die religiöse Tradition nicht, weil sie aus sich selbst heraus von Bedeutung ist. Es ist, in der Paraphrase Pappenheims durch Gerda Heinrich, das „sozialpsychologische Argument für das Festhalten an der Überlieferung: die Geborgenheit, die das Leben in einer fest gefügten und überschaubaren soziokulturellen Gemeinschaft dem Einzelnen gewährt. Durch ein Abweichen von der Tradition sieht Pappenheim das gesamte Ordnungsgefüge gefährdet. Der Mensch werde – aus der Verbindlichkeit solch ehrwürdig archaischen, geregelten Daseins entlassen – in endlose Irritation gestürzt.“167 Pappenheim „sieht auch die Gefahr des Auseinanderbrechens der religiösen Gemeinschaft, die ihr durch zunehmende soziale und kulturelle Differenzierung der Juden von innen her droht“. Pappenheim fügt schliesslich ein weiteres Argument für die frühe Beerdigung an: die Gebote der rituellen Reinheit, die eine Ehrfurcht vor dem toten, aber nicht entseelten Körper einfordern. Den toten Menschen dürfe man nicht gleich einem Kadaver offen verfaulen lassen. „Der intime Vorgang leiblichen Verfalls sollte nicht ausgestellt, der Mensch nicht dem sichtbaren Makel seiner Sterblichkeit preisgegeben werden.“168 Bezeichnenderweise war es mit Hirschel Levin auch ein Rabbiner, der später ähnlich argumentierte: Bei einem Warten bis zur Fäulnis müsste der Leichnam im religiösen Sinne „gewisslich zum Gegenstande des 165 So offenbar Salomon Pappenheimer: Deduction seiner bereits herausgegebenen Apologie für die frühe Beerdigung der Juden, Breslau 1798. Weiter nennt die Literatur : Die Notwendigkeit der frühen Beerdigung, Breslau 1797, sowie: An die Barmherzigen aus Endor : über die zu früh scheinende Beerdigung bei den Juden, Breslau 1807. Die neuere Forschung konnte nur in einem Fall ein Exemplar einer dieser Schriften auffinden, und auch dieses ist bereits wieder verschollen. Pappenheims Argumentation muss deshalb indirekt aus der Sekundärliteratur dargestellt und interpretiert werden. Pappenheims Sohn Chaim Salomon Pappenheimer engagierte sich in seiner Altonaer Zeit um 1800 auch in dem Reformverein „Ressource 1798“, der sich ebenfalls mit der Beerdigungsfrist auseinandersetzte. Zürn (2001), S. 148. 166 Heinrich (1998), S. 152. 167 Heinrich (1998), S. 153. 168 Heinrich (1998), S. 154.

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Abscheues und Ekels werden“. Es sei aber religionsgesetzlich wichtig, „Ekel und Verachtung“ vom Todten abzuwenden.169 Pappenheim traf mit seiner Argumentation vor allem bei Reformfreunden auf erbitterte Ablehnung.170 Ganz anders als bei Marx und Wolf kann er auch mit Fug und Recht als strenger Verfechter jüdischer Religiosität bzw. als „Traditionalist“ bezeichnet werden, hat das Beerdigungsritual bei ihm seine Bedeutung doch als religiöse Tradition und nicht nur als hygienische Massnahme. Mit seinen Gedanken kommt er der sich erst im 19. Jahrhundert formierenden Neo-Orthodoxie nahe, der es bei aller Modernisierung ganz zentral darum ging, den jüdischen Glauben und die Halacha nicht als geistige Grundlage des Lebens zu opfern.171 Aber Pappenheims Gedankengang unterscheidet sich von der traditionellen Einstellung eines Jakob Emden bereits in einem ganz entscheidenden Punkt. Religion ist bei Pappenheim – wie bei Hirsch Wolf – nicht der selbstverständliche Mittelpunkt des Lebens und Denkens und kein Urgrund jüdischen Seins mehr. Er ist bereits neben Politik, Justiz und Kunst zu einem gesellschaftlichen Faktor unter anderen geworden. Dies ermöglicht es Pappenheim, jüdische Religiosität von aussen als soziales und kulturelles System mit entsprechenden sozialen, kulturellen und sittlichen Funktionen für die Gesellschaft, nämlich Stabilität und Zusammenhalt, zu betrachten, was für einen herkömmlichen Rabbiner wie Hirschel Levin kaum denkbar gewesen wäre. Die historische Forschung hat bei Pappenheim vor allem bemerkt, wie ein sonst recht aufklärerisch gesonnener Jude plötzlich traditionell argumentierte.172 Dabei wurde übersehen, wie „modernisiert“ sein Traditionalismus bereits war.

Grundstrukturen einer neuen jüdischen Identität Die über einen Zeitraum von gut 25 Jahren verteilten Äusserungen zur Frage der jüdischen Beerdigungsfristen geben einen plastischen Eindruck, wie die Teilnehmenden an der Debatte ihr Jüdischsein nicht einfach aufgaben,173 169 Geiger (1889), S. 217 f. 170 Die Breslauer Kriegs- und Domänenkammer etwa antwortete auf eine Pappenheim-Eingabe, „dass metaphysische Halbwisserei ihn in Spitzfindigkeiten und leidenschaftliche Irrthümer geführt“ habe. Siehe Freudenthal (1893), S. 574 f. 171 Vgl. z. B. Breuer (1990), S. 134. 172 Freudenthal (1893), S. 571, nennt ihn den „sonst so aufgeklärten“ Pappenheim. Nach Zürn hatte er sich „auf die Seite der Orthodoxie begeben“. Zürn (2001), S. 148. Nach Ruiz (1980), S. 205, trat Pappenheim „offenbar unter dem Einfluss des hochkonservativen Landrabbinats in Breslau […] aufs Entschiedenste als Herold der Frommen auf, die zäh am alten Brauch festhielten.“ 173 So auch die These von Rüve (2008), S. 199, ohne dass sie dieses neue Verständnis detailliert untersucht, was auch nicht ihre Fragestellung ist. Ihre Hauptthese ist, dass sich Juden ebenso wie Christen der „neuen Anthropologie“, einem neuen, eher wissenschaftlich legitimierten Verständnis von Leben und Tod unterwerfen mussten.

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sondern ihr Verständnis von Judentum und jüdischer Religion neu formierten, wobei schwer abzuschätzen ist, welchen Anteil der Streit selbst daran hatte. Es zeigte sich, dass das Unterscheidungskriterium „Reformbefürworter versus Reformgegner“ bei näherer Untersuchung kein taugliches Analyseinstrument ist und allenfalls zu Fehlannahmen wie derjenigen führt, Reformgegner hätten grundsätzlich ein traditionelles Verständnis des Judentums gehabt.174 Angemessener ist es, anstelle der Einstellung zur Reform der jüdischen Beerdigungspraxis den gesamten Argumentationsgang derer zu untersuchen, die sich dazu äusserten. Hierbei zeigten sich verschiedene Dimensionen. Da ist zunächst der Säkularisierungsprozess. In vielen Abstufungen konnte sich die Position von den traditionalistischen Haltungen eines Jakob Emden oder Hirschel Levin absetzen, die die Frage der Beerdigungsfrist weitestgehend innerhalb der geschlossenen Welt von Tora, Talmud und herkömmlicher rabbinischer Auslegung betrachteten. Von den vorsichtigen Versuchen eines Moses Mendelssohn, medizinische Argumente in die halachische Debatte einzubringen, über den Reformer Markus Herz wie auch die „zeitgemäße Apologetik“175 der Reformgegner Jakob Marx und Hirsch Wolf, die medizinischen Argumenten bereits den Vorrang vor den religiösen einräumten, bis hin zur völlig durchsäkularisierten Argumentation eines Abraham Zadig. Ärzte waren hierbei naheliegenderweise näher an der weltlichen Argumentation als die Rabbiner, doch es war bereits im untersuchten Zeitraum eine Ausnahme, dass selbst rabbinische Autoren weltlich-medizinische Argumente rundweg zurückwiesen. Jenseits des eindimensionalen Messens eines Säkularisierungsgrades wurden noch einige qualitative Merkmale deutlich, auf welche Art und Weise dieser Prozess ablief. Dezentere Formen der Verweltlichung basierten auf einer Historisierung der Halacha und einer selektiven Kritik am traditionellen Rabbinismus, insbesondere seinem Autoritätsanspruch.176 Eine Stufe weiter ging die „hygienische“ Uminterpretation des Gesetzeskanons, die im übrigen auch der Triester jüdische Aufklärer-Arzt Benedetto Frizzi betrieb.177 Parallel dazu war auch die Konfessionalisierung, die Eingrenzung des Religiösen auf einen bestimmten Lebensbereich, ein Weg in dieser Richtung. Innerhalb des religiösen Denkens veränderten sich die Leitwerte von der strengen Einhaltung konkreter Zeremonialgesetze hin zu allgemeinen moralischen Werten wie Philanthropie, Vernunft und Sittlichkeit, was auch immer die Autoren dann konkret darunter verstanden. Selbst traditionsorientierte Reformgegner

174 Vgl. z. B. Wiesemann (1992), S. 21. 175 Krochmalnik (1997), S. 146. 176 Siehe dazu auch Krochmalnik (1997), S. 145. Hier beschreibt er, wie der Beerdigungsstreit auch ein Kampf der „Hausväter“ war, nach eigenem Wissen und Gewissen rituell zu handeln. 177 Dobin (2012), S. 209 f.

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verteidigten ihre Beerdigungspraxis zum Teil auf moderne Art und Weise als „Menschenrecht“ der Religionsausübung.178 Wichtig ist es gleichzeitig, die Grenzen dieser Säkularisierung wahrzunehmen. Lediglich der Arzt Abraham Zadig hatte sich völlig aus dem religiösen Denksystem gelöst. Hirsch Wolf betrachtete den religiös fundierten Ritus allenfalls als Brauch und Alltagspraxis. Alle anderen Autoren, insbesondere auch die Reformer Mendelssohn und Herz, setzten sich mehr oder weniger intensiv noch mit der Halacha auseinander und versuchten ihre Vorstellungen mit ihr in Einklang zu bringen. Damit zeigten sie, dass sie der jüdischen Religion durchaus verhaftet waren und bleiben wollten. Wie selektiv die Säkularisierung durch die verzögerte Beerdigung war, zeigte Gabriele Zürn auch an einem Beispiel aus Altona. Nicht nur, dass dort in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lediglich fünf von 180 Juden testamentarisch angeordnet hatten, erst am dritten Tag nach dem Tod beerdigt zu werden. Diese fünf baten aber dennoch in der Regel um traditionelle Formen der jüdischen Beerdigung. Nicht nur, dass sie damit religiöse Bräuche nicht ablehnten, wie Zürn sagt. Sie füllten den neu entstandenen säkularen Zeitraum sogar mit einem traditionellen jüdischen Brauch, denn „alle fünf Testatoren hatten zugleich verfügt, dass zwischen Tod und Begräbnis Gelder zu ihrem Seelenheil an Arme verteilt werden sollten“.179 Gotzmann schloss aus der schriftlichen Beerdigungsdebatte sogar, dass diese die gemeinsame Basis des Sakralrechts eher noch bestärkt als in Frage gestellt hätte.180 Möglicherweise wurde hier ein Grundstein für einen flexibleren Umgang mit der Halacha181 gelegt, der ihr Überleben eher sicherte als die Beharrung. Beweisen lässt sich diese Hypothese, die eine der Fundamentaldebatten des Judentums in der Moderne berührt, allerdings nicht. Während das Verständnis des Jüdischen in dieser Debatte zumindest teilweise religiös entladen wurde, lud es sich auf der anderen Seite säkular neu auf, und es zeigen sich Grundstrukturen einer modernen jüdischen Identität, die nicht mehr (nur) religiös fundiert ist. Medizinische, d. h. weltliche Erfordernisse wurden zu einem Faktor jüdischer ritueller Praxis, der sich mehr aus sich selbst heraus und weniger über die Religion legitimierte, gerade auch bei denen, die einem gesetzestreuen Judentum nahe standen. Jüdisches Leben bedeutete nicht mehr einfach jüdische Religion. Jüdisch zu sein, ja sogar die jüdische Religion selbst, wurde mehr und mehr als kultureller Faktor betrachtet, der zum Beispiel die Gesellschaft stabilisieren sollte. Auch hier waren es ganz besonders die vermeintlich so traditionellen Reformkritiker, die diese neue Sicht auf das Jüdische zum Ausdruck brachten. Und sie waren es auch, die die jüdische Identität mit neuem Selbstbewusstsein aufluden, indem sie 178 179 180 181

Krochmalnik (1997), S. 146. Zürn (2002), S. 103 f., Zitat S. 104. Gotzmann (1997), S. 121. Siehe die vielen Beispiele hierfür in Lowenstein (2002).

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das Jüdischsein auf eine expressive Art vor den christlichen wie auch den jüdisch-reformerischen Angriffen verteidigten. Sie stellten die Fragwürdigkeit dieser Kritik heraus und zeigten, wie sehr die Kritik an der Beerdigungspraxis auch eine in ihren Augen inakzeptable Kritik am Jüdischsein generell beinhaltete. Wie weit sich hier ein säkulareres Körperverständnis unter den Juden etablierte, bedürfte einer eigenen Untersuchung. Ein halbes Jahrhundert später spielte sich eine in gewissen Teilen ähnliche Debatte ab, diejenige um die Beschneidung. Im Gegensatz zu dieser konnte sich die Praxis der frühen Beerdigung jedoch deutlich weniger unter den Juden in Deutschland halten, ihre Verbindung mit der jüdischen Identität war offensichtlich nicht so stark. Nichtsdestotrotz hinterliessen beide ihre Spuren im jüdischen Selbstverständnis. Gleichzeitig mit den Veränderungen um die Beerdigungsfrage setzte allerdings noch eine weitere Entwicklung ein, an der sich Neuformierungen im jüdischen Selbstverständnis abzeichneten, und zwar im jüdischen Krankenbesuchswesen. Im Gegensatz zu Beschneidung und Beerdigung handelte es sich um keine publizistische Debatte, sondern um schleichende Prozesse in der Praxis. Sie werden im folgenden Kapitel untersucht.

3.2 Von der Wohltätigkeit zum sozialen Netzwerk: Die Modernisierung der organisierten jüdischen Krankenversorgung in Dresden (1780 bis 1850) Neben der Beerdigung ist der ritualisierte und organisierte Umgang mit Kranken in Form des „Krankenbesuchs“ eine weitere medizinisch relevante jüdische Praxis, in der sich ein kultureller Wandel und eine Neuformierung des jüdischen Selbstverständnisses spiegeln. Der „Krankenbesuch“ ist vor allem in einer Hinsicht von Bedeutung: Die bislang gegebenen Beispiele können den Eindruck hinterlassen, dass die jüdischen Modernisierungsprozesse im Bereich der Medizin praktisch ausschliesslich von Ärzten, allenfalls intellektuellen Eliten wie den Rabbinern angestossen und durchgeführt wurden. In diesem Beispiel spielen nun aber Ärzte praktisch keine Rolle. Am 7. Juni 1799 betrat der junge Dresdener Schutzjude Itzig Eybeschütz eines der jüdischen Bethäuser („Schulen“) Dresdens. Dort fand er eine Ankündigung des Vorstands der israelitischen Gemeinde an der Wand hängen, die besagte, dass in Zukunft kein Junggeselle mehr die Erlaubnis zur Heirat bekommen würde, wenn er nicht mit der dortigen „Chewra Bikkur Cholim“ bzw. auf Deutsch: der „Israelitischen Kranken-Verpflegungs-Gesellschaft und Beerdigungs-Bruderschaft“ eine Übereinkunft getroffen habe. Was Itzig Eybeschütz hier las, machte ihn überaus wütend. Die Quellen beschreiben dies plastisch: „Allein der hiesige Schutz-Jude Itzig Eybeschütz entblödete sich

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nicht, diesen Anschlag in einer unserer Schulen sogleich abzureißen, ihn auf das Ungebührlichste zu behandeln und sich sogar in selbigen zu schnäuzen.“182 Einige Wochen später wurde er für dieses ungebührliche Verhalten dann vom Dresdener Stadtrat mit einer Strafe belegt. Was hatte diesen jungen Juden so wütend gemacht? Die genannte Dresdener Bruderschaft, mit der die Junggesellen nun vor ihrer Heirat handelseinig werden mussten – und das hiess im Klartext: entweder ihr beitreten oder ihr eine entsprechende Spende zukommen lassen – war eine der althergebrachten jüdisch-religiösen Wohlfahrtseinrichtungen. Organisationen wie diese existierten damals in fast jeder jüdischen Gemeinde, teils waren sie schon vor den eigentlichen Gemeinden gegründet worden. Die frühesten von ihnen auf deutschem Gebiet sind aus dem späten Mittelalter bekannt. Man kannte sie gemeinhin unter dem Namen „Chewra Kadischa“ (Heilige Bruderschaft) oder Beerdigungsgesellschaft.183 Bereits im vorangegangenen Kapitel 3.1 spielten sie ja unter einem anderen Aspekt eine Rolle. Ihre Tätigkeit bestand im Wesentlichen in religiösen Aufgaben: Ernsthaft kranken Juden religiösen Beistand geben, mit ihnen beten, im Falle des Todes die Beerdigung durchführen und bei dieser wie auch der Trauer darauf achten, dass sie den rituellen Erfordernissen entsprachen. Daneben boten die Chewrot eine Krankenversorgung an, da der Krankenbesuch im Judentum zu den religiösen Pflichten zählt. Dies konnte bedeuten, musste es aber nicht, dass die Mitglieder der Bruderschaften Krankenpflege im ganz konkreten Sinne betrieben. Krankenbesuch konnte aber auch heissen, einfach regelmässig in die Häuser der Kranken zu gehen, nach den Bedürfnissen der Kranken zu fragen und Verpflegung, ärztliche Therapie, Arzneimittel oder eben pflegerische Leistungen zu organisieren. Auf Kosten der Chewra wurde die körperliche, medizinische Pflege (im Gegensatz zur religiösen) aber vor allem den armen Juden angeboten. Aus diesem Grund stellten die Bruderschaften der grösseren Gemeinden eigens Krankenwärterinnen und -wärter oder auch Ärzte für die Armen an oder betrieben ein so genanntes Heckdesch, ein jüdisches Hospital im herkömmlichen, alten Sinne, also weniger um akut Kranke zu heilen als um durchreisende und/oder arme kranke Juden aufzunehmen und zu versorgen – ganz ähnlich den christlichen Hospitälern. Manche Bruderschaften hatten von den jüdischen Gemeinden sogar die Aufgabe übernommen, die Armenunterstützung zu organisieren. Kranke Juden, die nicht arm waren und in geordneten 182 Stadtarchiv Dresden, Ratsarchiv Sig. C. XLII 42. 183 Sie unterscheiden sich von den besser untersuchten, durch Mäzenatentum unterstützten jüdischen Wohlfahrtsstiftungen (vgl. z. B. Ludwig/Schilde 2010). Siehe als konzise und aktuelle Übersicht zu den Beerdigungs- und Krankenbesuchsgesellschaften Goldberg (2012); des weiteren Marcus (1947); Reinke (2000); v. Noolen (1990); Efron (2001), S. 101 f.; Schlich (1998), S. 152; Segall (1925); mit Schwerpunkt Dresden: Lässig (2004), S. 520 ff.; Baader (2006), S. 161 – 171.

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familiären Verhältnissen lebten, wurden von den Bruderschaften vor allem aus religiösen Gründen besucht. Hier sorgten die Kranken bzw. ihre Familien selbst für eine angemessene Pflege und medizinische Betreuung. Mitglied in einer solchen herkömmlichen Bruderschaft wurden die Juden also nicht, um irgendeine materielle Unterstützung zu bekommen. Sie taten es, weil sie entweder Gutes und Frommes tun wollten oder weil sie dies als eine religiöse Pflicht ansahen. Oder sie taten es, weil die Mitgliedschaft in diesen Bruderschaften bzw. ein Amt darin in der Regel zu einem hohen innergemeindlichen Ansehen führte. Denn eine Chewra Kadischa – oder zumindest ihr Vorstand – repräsentierte in der Regel die soziale Elite einer jüdischen Gemeinde. So war es auch in der Dresdener Chewra, die im Jahre 1750 gegründet worden war,184 also fünfzig Jahre bevor Itzig Eybeschütz seinen Wutanfall hatte. Ihre Mitglieder waren die so genannten Dresdener jüdischen „Hausväter“, d. h. in der Gemeinde angesehene Familienvorstände. Im späten 18. Jahrhundert nun fühlten sich die Dresdener jüdischen Junggesellen in einer Art Loch des dortigen sozialen Netzes, und dies, obwohl auch Unverheiratete Mitglied der Chewra werden konnten und diese Vereinigung allen Juden Hilfe anbot, wenn sie diese nötig hatten. Als dann im Jahre 1788 ein Fall vorkam, bei dem ein armer jüdischer Junggeselle aufgrund ungenügender Hilfe zu Tode gekommen war, gründeten einige dieser männlichen Juden eine weitere Bruderschaft, und zwar speziell eine für unverheiratete Juden. Sie nannten sie „Gesellschaft der ausübenden Wohltätigkeit“ bzw. „Jungen-Chewra“. Unmittelbar nach ihrer Gründung hatte sie bereits 41 Mitglieder, und unter diesen stand Itzig Eybeschütz in vorderer Reihe. Erst gegen Ende des Jahrhunderts wurden die damit verbundenen Probleme offensichtlich. Nachdem einige der Junggesellen geheiratet hatten, wollten sie nicht in die alte „Hausväter-Chewra“ überwechseln, weil dies einen finanziellen Schaden für sie bedeutet hätte. Als die Mitglieder der alten Chewra dies bemerkten, machte sich unter ihnen offensichtlich die Furcht breit, als Organisation langsam auszusterben. Zu dieser Zeit hatte die alte Chewra 105 Mitglieder, und dies muss die grosse Mehrheit der Dresdener jüdischen Familienvorstände insgesamt gewesen sein. Ein Historiograph meinte sogar, dass es eine Art Zwangsmitgliedschaft in dieser Vereinigung gegeben habe.185 Nichtsdestotrotz sahen sie in ihrer jungen Konkurrenz eine ernsthafte Bedrohung, so dass sie sich an den Gemeindevorstand wandten, der schliesslich eben jenes Dekret erliess, das Itzig Eybeschütz so aufbrachte. Der komplizierte Streit endete schliesslich vor dem Dresdener Stadtrat und konnte zumindest vorläufig so beigelegt werden, dass die Auflösung der jungen Chewra angeordnet wurde, die alte Chewra im Gegenzug aber einige der Ziele der jungen Chewra in ihre Satzungen übernehmen sollte. Die Literatur zur Geschichte der Juden in Deutschland aus dem späten 19. 184 Siehe zu Dresden die Übersicht von Reichert (1993). 185 Marcus (1947), S. 97.

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und dem 20. Jahrhundert hat über diesen Dresdener Streit bereits mehrfach berichtet.186 Wenn er aber jemals tiefer gedeutet wurde, dann führte die Literatur diesen Streit auf eine Art jüdischer Jugendbewegung zurück. Ähnlich wie in Dresden forderten junge männliche Juden auch in anderen Gemeinden Deutschlands, wo diese in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ähnliche Vereine ins Leben gerufen hatten, eine Beteiligung an der Verantwortlichkeit in sozialen Fragen ihrer Gemeinden.187 War das der einzige oder der hauptsächliche Grund, warum sich Itzig Eybeschütz so aufgeregt hatte? Ein Blick auf die jeweiligen Statuten der alten und der jungen Konkurrenzvereine zeigt einen grossen Unterschied. Die alten Chewrot hatten einerseits viel eher den Charakter von Vereinen, die sich um die Erfüllung religiöser Pflichten und Riten wie der Beerdigung bemühten, und andererseits von mildtätigen Vereinen, die Arme unterstützten. Für die jungen Bruderschaften hingegen waren das Beten und die Beerdigungen kein bzw. fast kein Thema. Auch die Unterstützung der Gemeindearmen war nicht das vordringliche Ziel. Ihr Sinn und Zweck lag dagegen viel eher auf der Absicherung auf Gegenseitigkeit. Es ging darum, den eigenen Mitgliedern (und nicht den Armen) im Fall von Krankheit medizinische Versorgung und finanzielle Hilfe zukommen zu lassen. Diese jungen Chewrot ähnelten viel mehr modernen Krankenkassen als heiligen Bruderschaften.188 Ein genauerer Blick auf die Statuten der alten Dresdener Bruderschaft vermittelt einen plastischen Eindruck, wie das Leben in einer solchen traditionellen Chewra aussah, auch wenn die Formulierungen in diesen Statuten häufig ein wenig unklar sind. Nur fromme Juden mit einem guten Leumund sollten Mitglieder werden. Die Vorstandsmitglieder sollten „ansehnliche Hausväter“ sein. Obwohl grundsätzlich jeder Jude einen Anspruch auf Krankenversorgung hatte, wurden doch deutliche Unterschiede zwischen kranken Mitgliedern und armen Kranken gemacht. Die Ersteren wurden vor allem aus religiösen und nicht aus medizinischen Gründen besucht. In diesem Fall sollte die Bruderschaft in der Synagoge zusammenkommen und für die Genesung beten. Alle Mitglieder waren aufgerufen, das Haus des kranken Mitbruders zu besuchen. Der Krankenbesuch war mithin sozusagen ein religiöses Investment in das Leben im Dereinst. Waren Arme erkrankt, mussten die Mitglieder der alten Chewra diese nicht selbst pflegen. Sie konnten ersatzweise auch Geld geben, von dem angestellte Krankenwärter, ein Arzt oder ein Wundarzt, bezahlt wurden. Die neue Chewra hingegen war hinsichtlich Struktur und Konzeption von Anfang an fast völlig entgegengesetzt. In ihr war eben nicht eine Elite „ansehnlicher Hausväter“ vertreten, sondern ein breites soziales Spektrum: jüdische Männer aus besser gestellten Familien ebenso wie Arme oder Mittel186 Marcus (1947), S. 156 – 159; Diamant (1973), S. 190; Reichert (1993), S. 30. 187 Marcus (1947), S. 146 – 159; Goldberg (1996), S. 194. 188 Baader (2006), S. 161 – 167.

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schichtsangehörige.189 Die alte Chewra hatte ihre junge Konkurrenz deshalb zuvor als Verein von „unfixierten Menschen, Dienstboten, Unmündigen, von uns Unterstützten“ beschrieben.190 Zwar wollte auch die neue Chewra vor allem Armut bekämpfen, aber nicht mit Mildtätigkeit und Almosen, sondern indem sie Armut bei den eigenen Mitgliedern im Krankheitsfall gar nicht erst entstehen lassen wollte. Obwohl es an einer Stelle der Statuten der jungen Chewra heisst, dass alle unverheirateten Juden, auch Nichtmitglieder, Anrecht auf ihre Dienste hätten, ging es dieser Vereinigung doch konkret darum, ihren eigenen Mitgliedern im Falle von Krankheit und Arbeitsunfähigkeit medizinische und finanzielle Hilfe zukommen zu lassen. Von Armenunterstützung wird genauso wenig gesprochen wie vom Beten und anderen religiösen Praktiken. Krankenbesuch bedeutete medizinische Hilfe. Einer der Artikel der Satzung spricht davon, dass der angestellte Arzt die kranken Mitglieder behandeln sollte, von armen Kranken bzw. Kranken überhaupt wird nicht gesprochen. Zusätzlich zur medizinischen Behandlung und zu Arzneimitteln erhielten die Mitglieder wöchentlich ein Krankengeld, wenn sie das Haus nicht verlassen und somit nicht ihrer Arbeit nachgehen konnten. Weder die Beerdigung noch ein anderes religiöses Ritual wird in den Statuten erwähnt. Genau dieses Gegenüber von altem Mildtätigkeitskonzept und modernem Versicherungsprinzip ist neben dem Alter der Hauptunterschied dieser beiden Gesellschaften – auch wenn in den Archivquellen nur indirekte Hinweise zu finden sind, dass es in dem Streit genau darum ging. Ein Umstand allerdings macht es plausibel, dass in dieser Auseinandersetzung – politisch ausgedrückt – ein Machtkampf zweier sozialpolitischer Modelle im Vordergrund stand. Acht Jahre später nämlich, das heisst bereits im Jahre 1807, wurde eine weitere Gesellschaft gegründet, die exakt in die Fussstapfen der ersten jungen Chewra trat. An ihrem 50. Geburtstag rekapitulierte ein Mitglied deren Entstehungsgeschichte.191 Nachdem die erste Jungenchewra aufgelöst worden war, kamen einige Fälle vor, in denen junge, normal arbeitende Dresdener Juden krank und arbeitsunfähig wurden und dadurch in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten gerieten, ja sogar in Gefahr standen zu verarmen. Lange Zeit sei in solchen Fällen privat und diskret Geld gesammelt worden, damit diese Kranken sich nicht als Empfänger von Almosen fühlen mussten. Dann, im Juli 1807, in einer Phase grossen Selbstbewusstseins und hoher Emanzipationserwartungen der Dresdener Juden, wagten es vierzig von ihnen, ein „KrankenUnterstützungs-Institut für Israeliten“ zu gründen, das auf strikter Gleichheit und Gegenseitigkeit basierte. Gegen eine monatliche Gebühr von zwei, später drei Groschen erhielten die Mitglieder – und, das ist besonders wichtig: ausschliesslich diese – den Anspruch auf einen Taler und 12 gute Groschen 189 Lässig (2004), S. 524. 190 Lässig (2004), S. 521. 191 Beer (1857).

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wöchentlich im Falle von ernster Krankheit von mindestens einer Woche. Kein Krankenbesuch wurde angeboten, Arzt- oder Arzneimittelkosten wurden aus anderer Quelle erstattet.192 Allem Anschein nach hatten die jungen Dresdener Juden ein ausgesprochenes Bedürfnis, ihr wirtschaftliches Krankheitsrisiko abzumildern. Verständlicherweise war es kaum möglich, aus der Tradition der Wohlfahrtspflege sozusagen über Nacht eine Krankenversicherung zu machen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn auch diese Gesellschaft von 1807 in der alltäglichen Praxis noch ein wenig den Anstrich einer Wohlfahrtseinrichtung hatte. Wohlhabende Mitglieder machten etwa keinen Anspruch auf eine Unterstützung. Andere spendeten grössere Geldbeträge. Doch erst dadurch war es möglich, dass das Kranken-Unterstützungs-Institut über Jahrzehnte tätig sein konnte. Durchschnittlich mehr als vier Mitgliedern konnte es monatlich helfen. Einige erhielten die Unterstützung nur kurze Zeit, manche länger, und in einem Fall ging die Unterstützung über Jahre.193 Diese neue Kranken-Unterstützungsgesellschaft wuchs in den ersten fünf Dekaden stetig bis auf fast 200 Mitglieder an. Sie wurde schnell in die jüdische Gemeinde Dresdens integriert, was sich daran ablesen lässt, dass bereits in den ersten zehn Jahren zwei Vorstandsmitglieder der Gemeinde zu den Vereinsmitgliedern zählten. Für die Dresdener Gemeinde war diese Gesellschaft ein Modernisierungsmotor und der Kristallisationskern der Reformbewegung in der spät von der Haskala berührten Gemeinde.194 Sie war die erste, die ihre Statuten und Jahresberichte gedruckt herausgab. Ihre religiöse Stiftungsfeier – im Übrigen die einzige religiöse Aktivität – wurde 1819 eingeführt und ab 1826 in deutscher Sprache durchgeführt. Dies war eines der deutlichsten Zeichen, mit dem sie sich zum Reformjudentum bekennen konnte. Drei Jahre später entstand aus dieser Gesellschaft heraus der Dresdener Mendelssohn-Verein anlässlich des 100. Geburtstags des jüdischen Philosophen der Aufklärung. Dieser Verein unterstützte die Ausbildung junger Juden in den so genannten produktiven Berufen wie dem Handwerk. Die alte Chewra konnte neben der jungen Konkurrenz weiter existieren. Als traditionelle Bruderschaft engagierte sie sich im genannten religiös-karitativen Bereich. Auch sie machte einen Modernisierungsprozess durch, indem sie in den Statuten 1823 die traditionell religiöse Pflicht zur Wohltätigkeit (Zedaka) in eine Art freiwilliger Philanthropie aus innerem Antrieb umformulierte.195 Von einem neuen Konflikt ist nichts bekannt. Beide Gesellschaften teilten sich sogar den Historiker, den angesehenen jüdischen Intellektuellen, Rab-

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Erneuerte Verfassung (1830); erneuerte Verfassung (1850), S. 5. Beer (1857), S. 28. Lässig (2004), S. 385, 389. Lässig (2004), S. 525.

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biner, Schriftsteller und Reformer Bernhard Beer.196 Beide Gesellschaften führten ihre Arbeit bis ins frühe 20. Jahrhundert fort. Wie viele ähnliche Institutionen gingen sie in der Inflationszeit wirtschaftlich beinahe zugrunde. Die Jungenchewra gab nach längeren Problemen 1934 angeblich aus wirtschaftlichen Gründen auf. Die alte Chewra blieb aktiv, bis sie von NaziDeutschland 1939 aufgelöst wurde. Dieser Dresdener Fall, der hier sehr skizzenhaft vorgestellt wurde, ist lediglich ein Beispiel für eine Entwicklung, die in anderen Städten ähnlich ablief. Die Mehrheit der Bruderschaften für Beerdigung und Krankenbesuch kümmerte sich weiter um Wohlfahrtsleistungen für Bedürftige. Sie modernisierten und säkularisierten sich in anderer Hinsicht. Beispiele hierfür sind die grossen Gemeinden mit entsprechend grossen jüdischen Hospitälern respektive später jüdischen Krankenhäusern wie etwa Königsberg197, Berlin198 oder der mittlerweile gut dokumentierte Fall Breslaus.199 Aus diesem Stamm heraus entwickelte sich ein kleinerer Ast von Organisationen, die die jüdische Krankenversicherung auf Gegenseitigkeit begründeten. In der neueren Geschichtsschreibung des Judentums sind diese letzteren Einrichtungen meinem Eindruck nach kaum beachtet worden.200 Einer dieser Vereine entstand in Heidelberg im Jahre 1747.201 Zeitlich sehr parallel zum Dresdener Beispiel entstanden junge Chewrot in Berlin, Frankfurt/M.,202 Fürth und auch in Prag.203 Im späten 19. Jahrhundert sind regelrechte jüdische Krankenkassen etwa auch in Städten wie Frankfurt/M., Wiesbaden204 oder Offenbach205 nachweisbar. 1907 wurde eine ähnliche Gesellschaft in Leipzig gegründet.206 Eine bunte Palette ähnlicher Organisationen dieser Art entstand seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter Hamburgs Juden.207 Warum aber entstanden diese frühen jüdischen Krankenkassen? In den seltenen Fällen, in denen sich die Geschichtsschreibung mit diesen Organisationen befasst hat, wurde ihr Entstehen als eine Art Nachahmung ähnlicher Bruderschaften in der christlichen Umwelt interpretiert. Sicherlich hat Hilfe auf Gegenseitigkeit im Falle von Krankheit in der Kultur der christlichen Bevölkerungsmehrheit Europas eine Geschichte, die bis zu den mittelalterlichen Handwerkszünften zurückreicht. Für das 18. Jahrhundert werden vor 196 Für die Jungenchewra siehe Beer (1857); für die traditionelle Beerdigungsbruderschaft siehe Beer (1850). 197 Festschrift (1904). 198 Zur Geschichte (1887). 199 Reinke (1999). 200 Eine Ausnahme stellt für das spätere 19. Jahrhundert Liedtke (1998) dar, vor allem S. 192 – 197. 201 Marcus (1947), S. 144. 202 Siehe z. B. Bolzenius (1994), S. 40. 203 Goldberg (2012), S. 39. 204 Statuten (1885/1886). 205 Die Entwicklung (o. J.). 206 Vgl. Höppner/Jahn (1997), S. 39. 207 Liedtke (1998), S. 192 – 197.

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allem die Handwerkerzünfte und insbesondere die Gesellenvereine als Beispiele für praktizierte Versicherung auf Gegenseitigkeit genommen. Zumindest in Deutschland hingegen ist wenig untersucht worden, wie sich die frühen Krankenkassen aus den entsprechenden Aktivitäten der Gesellenvereine heraus entwickelt haben.208 Doch vor einigen Jahren hat die Medizinhistorikerin Eva Brinkschulte eine knappe Übersicht über diese Frage in ihrer Dissertation zu „Krankenhaus und Krankenkassen“ gegeben. Brinkschulte betont, dass – obwohl die Krankenhilfe auf Gegenseitigkeit auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickt – der moderne Typus der Krankenkasse erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstand.209 Damals wurden nämlich Vereinigungen gegründet, die ihren Mitgliedern – und nur ihnen – die finanzielle Unterstützung garantierten und dies ohne grosse Restriktionen wie dem Nachweis von Bedürftigkeit oder Moralität taten. Zudem war das Geld nicht lediglich als Darlehen gedacht.210 Ihren Höhepunkt hatten die Gründungen unabhängiger Krankenkassen in den 1840er und 1850er Jahren.211 Überraschenderweise finden sich viele dieser Kriterien bei den beiden Dresdener Jungen-Chewrot realisiert. Sie waren damit keine simple Nachahmung einer jahrhundertealten christlichen Tradition. Diese jüdischen Krankenkassen entstanden mehr oder weniger gleichzeitig mit ihren Parallelorganisationen in der nichtjüdischen Bevölkerungsmehrheit. Sie entstanden auch in einer Zeit, als Juden sozusagen das kulturelle, ökonomische und politische „Ghetto“ verliessen, in einer Zeit ansteigender sozialer und geographischer Mobilität. Es war eine Zeit, in der die traditionellen Hilfsnetzwerke des Judentums den neu entstandenen Ansprüchen sozialer Sicherung nicht mehr vollständig genügten. In den Statuten der Fürther 208 Siehe etwa Dross (2002). 209 Als Geburtsstunde der Krankenversicherung in Deutschland gilt bei einer oberflächlichen, aber verbreiteten Betrachtung die Bismarcksche Sozialgesetzgebung ab 1881. Die eigentliche Krankenversicherung mit ihrer Versicherungspflicht für Arbeiter gegen das Krankheitsrisiko wurde 1883 eingeführt. Doch bereits zuvor war z. B. in Preussen etwa die Hälfte der Lohnarbeiter krankenversichert. Frevert (1984), allgemein S. 21 – 83, hier S. 17. Ausgegangen war diese Entwicklung im Wesentlichen von den Gesellenkassen bereits in der Frühen Neuzeit, die sich langsam über gewerbliche Unterstützungskassen im 19. Jahrhundert in die Richtung von Krankenkassen in unserem heutigen Sinne entwickelten. Vgl. in international synoptischer Perspektive etwa van der Linden (1996). Auch wenn sie nicht immer ganz frei von staatlichem Einfluss waren, wurden sie doch im Wesentlichen von den Mitgliedern selber initiiert und darüber hinaus auch selber organisiert. Allerdings waren diese frühen Formen häufig auch Zwangskassen, die Gesellen bzw. Arbeiter mussten in ihnen Mitglied sein. Ein noch deutlicheres Beispiel für Eigeninitiative „von unten“ sind daher die freien Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, die seit dem 18. Jahrhundert auch in Deutschland entstanden und z. B. in der Form von Feuerversicherungen das Risiko von Brandschäden auf die Mitglieder verteilten. Mehr noch als die gewerblichen Krankenkassen stellen diese Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit bis heute kaum ein Objekt der historischen Forschung dar. 210 Brinkschulte (1998), S. 19, 63 – 109. Siehe diesen Übergang am englischen Beispiel auch in Gorsky (1998a), Gorsky (1998b). 211 Dross (2002).

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Jungen-Chewra heisst es denn auch, dass der Hauptantrieb zu ihrer Gründung die Furcht gewesen sei, im Fall von Krankheit ins verhasste Hospital bzw. Heckdesch gehen zu müssen und Almosen zu empfangen, weil die Familie eben in einer anderen Stadt wohne.212 Ganz ähnliche Gedankengänge finden sich im Übrigen im Zusammenhang mit dem Neubau des Israelitischen Krankenhauses in Hamburg im Jahre 1843. Die Einrichtung sei geschaffen für den „kleinen Mittelstand“ unter den Juden: „Ein unbemittelter Mann oder die Frau eines solchen erkrankt, ein Kind einer unbemittelten Familie leidet an einem chronischen Übel, so wird oft eine solche durch eine Krankheit an den Bettelstab gebracht; das Geschäft liegt häufig darnieder, die kleine Casse wird erschöpft und wenn die Familie auch vielleicht das Glück hat, dass ihr Kranker wieder genest, so ist sie pecuniär vernichtet. Hat sie aber Gelegenheit, ihren Erkrankten für ein geringes Kostgeld in ein gut eingerichtetes Hospital zu bringen, so kann im Hause alles ungestört fortgehen, das Geschäft kann betrieben werden, die Kosten für die Kur sind zu erschwingen, weil man nur so viel fordern wird, als die Familie wirklich aufbringen kann. Hat sie dann die Freude, ihr Mitglied wieder gesund bei sich aufzunehmen, ohne dass irgend ein häusliches Verhältnis alterirt ist, dann kann sie sich der Genesung freuen, sie ist auch pecuniär geblieben, was sie war.“213 Es dürfte demnach weit mehr als nur der Wunsch der jungen Judengeneration nach Mitsprache gewesen sein, der Itzig Eybeschütz vor gut 200 Jahren dazu brachte, sich vor Wut demonstrativ in den besagten Aushang zu schnäuzen. Die alte Chewra konnte die neuen sozialen und kulturellen Bedürfnisse nicht mehr erfüllen. Ihre neuen Bedürfnisse und die Struktur der neuen Organisationen liefen deutlich auf eine Verbürgerlichung der Juden hinaus, das hat Simone Lässig nicht zuletzt an diesem ganz konkreten Beispiel gezeigt. Die Jungenchewra entsprach etwa dem neuen bürgerlichen Vereinsmodell mit seinem antielitären, egalitären Ansatz und der ebenso freiwilligen wie offenen Zugangsmöglichkeit, eben einer „freien Assoziation rechtlich gleicher Individuen“.214 Für die vorliegende Arbeit ist dies allerdings nicht die Hauptfrage. Hier geht es darum, ob die jungen Juden in Dresden und andernorts mit dieser praktischen Kritik an der traditionell-jüdischen Bruderschaft dabei waren, ihr Judentum zu verlassen. Ähnlich den Beerdigungspraktiken und dem nachfolgenden Beispiel der Beschneidung bedeutete Modernisierung respektive Kulturwandel auch in diesem Fall nicht einfach die Aufgabe jüdischer Identität, sondern einen Beitrag zur Schaffung eines veränderten Verständnisses von Judentum. Den unterschiedlichen Jungen-Chewrot in den einzelnen Städten war ja gemein, dass sie ihre modernen „sozialpolitischen“ Vorstellungen dennoch in eine gewisse Tradition des jüdischen Vereinswesens als Teil der jüdischen Ge212 Marcus (1947), S. 153. 213 Heilbutt (1843), S. VII. 214 Lässig (2004), S. 521.

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meinde einbauten und somit versuchten, „ohne Sprengung der traditionellen Schale den Kern völlig umzugestalten“.215 Das Siegel der Dresdener Gesellschaft von 1807 macht diese Mischung aus traditionellem und modernem Verständnis des Jüdischseins deutlich. Die umlaufende Schrift mit dem Namen „Kranken-Unterstützungs-Institut Dresden“216 ist zweizeilig. In der äusseren Zeile ist er in lateinischen Buchstaben geschrieben, in der inneren Zeile deutsch mit hebräischen Buchstaben. Die Emblematik zeigt ein göttliches Auge, das seine Strahlen auf einen Lorbeerkranz mit Füllhorn und Äskulapschlange am Stab richtet. So sehr dieses Siegel in Form und Inhalt bereits vom traditionellen Verständnis des Judentums entfernt ist, so sehr zeigten die Mitglieder damit auch, dass sie ihr Institut als jüdischen Verein mit religiösen Wurzeln und damit als Teil ihres jüdischen Lebens und ihrer jüdischen Identität verstanden. Doch sie füllten das Gefäss mit neuen Inhalten, eben ihrem veränderten Selbstverständnis. Da ist vor allem natürlich die ubiquitäre Verweltlichung zu nennen. Die Jungen-Chewrot verstanden sich kaum noch als religiöse Vereine. Selbst die alte Chewra orientierte sich von der religiös verordneten hin zur individuell und philanthropisch motivierten Wohltätigkeit. Mehr aber noch repräsentierten die Jungen-Chewrot ein neues Modell jüdischer organisierter Krankheitsbewältigung. Der religiös motivierten Mildtätigkeit setzten sie das Prinzip weltlich-ökonomischer Versicherung auf Gegenseitigkeit entgegen. Anders gesprochen: Aus der „Zedaka“ entstand die jüdische Solidarität. Je weniger das Judentum als religiöse Schicksalsgemeinschaft verstanden wurde, um so mehr wurde es zu einer Art kulturellem Solidarverband, zu einem sozialen Netzwerk. In dieser Form wurde auch Frauen die Gründung entsprechender Vereine ermöglicht.217 Alles zusammen bedeutet aber auch, dass das Verständnis von Judentum deutlich individualisiert wurde. Es war nun mehr ein Ergebnis selbstständiger Aktivität und individueller Aneignung wie Interpretation. Schliesslich zeigt das Beispiel deutlich, dass man aus den vorangegangenen Kapiteln nicht schliessen darf, die Ärzte seien die einzigen Triebkräfte dieser Entwicklungen in den gesundheitsrelevanten Bereichen gewesen. An der Neugestaltung des jüdischen Selbstverständnisses war vor allem auch der jüdische Mittelstand aktiv und kreativ beteiligt.

215 So Simone Lässig, an den Autor am 7. 3. 2000. Später hat sie diese Überlegungen genauer beschrieben in Lässig (2004). 216 Der zweite Teil des Namens „für Israeliten“ fand allerdings keinen Platz mehr. 217 Siehe dazu Baader (2001).

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3.3 Biegen, ohne zu brechen: Das neue jüdische Religionsverständnis in der medizinischen Beschneidungsdebatte (1830 bis 1850) In diesem Kapitel steht einer der wichtigsten jüdisch-religiösen Bräuche im Mittelpunkt, der ebenso wie die frühe Beerdigung oder die Praxis des Krankenbesuchs neben der religiösen eine medizinische Relevanz besitzt: Die „Brit Mila“, der (erst kürzlich wieder in die Kritik von aussen geratene218) Brauch, neugeborenen Knaben am achten Tage nach der Geburt die Vorhaut rituell zu beschneiden. Dieses wichtigste Zeichen der Zugehörigkeit (von Männern) zum Judentum mit seiner zentralen, noch über den halachischen Status hinausgehenden219 Bedeutung für eine subjektive Identität als Jude,220 das sich trotz aller Säkularisation bis in die Moderne erhalten konnte, geriet vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter erheblichen Reformdruck. Eine erste Wegmarke dieser Diskussion stellt die beschneidungskritische Schrift Gabriel Riessers von 1831 dar.221 Zuvor hatte es bereits eine Tradition antijüdischer Polemiken gegen die Beschneidung aus christlichen Kreisen gegeben.222 Nun aber wurde das Thema auch Teil der jüdischen Reformbewegung. Innerhalb der von ihr geführten Debatten ist der Vorstoss des Reformvereins in Frankfurt/M. in den frühen 1840er Jahren am bekanntesten, bei dem sich diese Gruppierung zeitweise von der Beschneidung überhaupt, insbesondere aber als Bedingung für die Aufnahme in die jüdische Religionsgemeinschaft lossagte.223 Allgemein entstand eine wortreich ausgefochtene innerjüdischreligiöse Debatte über die Zukunft dieser in den Augen der Reformer rituell überkommenen Praxis. Sie ist bereits verschiedentlich das Thema jüdischer Geschichtsschreibung gewesen. Parallel zu einer Diskussion um die rein religiösen Aspekte der Beschneidung224, wenngleich mit gewissen Überschneidungen, lief eine Debatte ab, in deren Zentrum die Reform der Beschneidung aus dem Blickwinkel ihrer 218 Heil/Kramer (2012); Bodenheimer (2012a). 219 Vgl. Katz (1991), S. 317. 220 Als deutliches Beispiel eines solchen Verständnisses der Beschneidung als Zeichen eines jüdischen Bundes über die Generationen hinweg vgl. Bodenheimer (1996), S. 46 – 53. 221 Gabriel Riesser : Über die Stellung der Bekenner des Mosaischen Glaubens in Deutschland: An die Deutschen aller Confessionen. Altona 1831. Nach A. Arnhold (1847), S. 47. 222 Vgl. z. B. Gilman (1991); Kaufmann (1997); Brenner u. a. (1996), S. 49, 181 f. 223 Liberles (1985); Katz (1991), S. 314; Glassberg (1896), S. 340 f. 224 Als prägnanteste Übersicht vgl. Meyer (1990). S. a. Liberles (1985), S. 52 – 61; Katz (1991), S. 314; Storz (2005), S. 139 – 159; Judd (2007b). Zur Debatte um die Meziza (als Teil des Beschneidungsrituals) über diesen Beitrag hinausgehend Breuer (1986), S. 234 – 236. Siehe auch Glassberg (1896), S. 337 ff.; Kaufmann (1997), S. 115 – 117, mit weiterer Literatur ; Brenner (1996), S. 158, 169; Bergson (1844), S. 85 – 93. Als Plädoyer für die Beibehaltung siehe z. B. Zunz (1844); Trier (1844). Kritisch argumentiert Holdheim (1844); gegen die Beschneidung Bar Amithai (1843); Remondino (1891), S. 150 – 160; Gollaher (2000).

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medizinischen Vor- und Nachteile und das Verhältnis einer solchen medizinisch motivierten Reform zum jüdischen Religionsgesetz standen. In ihr kommt die Spannung zwischen religiöser Tradition und weltlicher Rationalität besonders deutlich zum Ausdruck. Im Eingangskapitel dieser Arbeit (1.2) über den Forschungsstand waren die neueren Untersuchungen über die Beschneidungsdebatten ja bereits genauer dargestellt worden. Anhand eines anderen Beispiels, nämlich dem jüdischen Ritualbad (Mikwe) hat Thomas Schlich die erwähnte Frage nach dem Verhältnis von religiöser Tradition und weltlicher Rationalität untersucht. Ärzte forderten auch hier vehement und mit einigem Erfolg, dass im Zweifelsfall die weltlich-medizinischen Argumente Vorrang vor rituell-religiösen haben sollten, womit sie zu einer Säkularisierung des Alltagslebens beitrugen.225 Es ist nahe liegend, dass sich in der medizinischen Beschneidungsdebatte in der Hauptsache jüdische Ärzte zu Wort meldeten. Sie schrieben für eine breitere, häufig jüdisch-reformorientierte Öffentlichkeit. Der nachweisbare Beitrag von jüdischen Ärzten in deutscher Sprache zu dieser Debatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besteht im Wesentlichen aus sechs eigenständigen Schriften und einem Aufsatz aus einer medizinischen Zeitschrift.226 Eine frühe Schrift stammt von 1831, die anderen erschienen zwischen 1842 und 1849. Die Beteiligten plädierten für eine Reform des damals bestehenden Beschneidungswesens, und alle Vorschläge stellten eine Herausforderung des traditionellen jüdischen Religionsverständnisses dar. Allerdings war die Qualität und Quantität der geforderten Reformen überaus unterschiedlich. Die einen forderten nur geringe, eher kosmetische Korrekturen der Beschneidungspraxis, die anderen erhebliche Eingriffe. Eine sofortige Abschaffung der Beschneidung wollte keiner der Autoren.227 Die Mehrheit der Autoren bekannte sich im Gegenteil explizit zur Beibehaltung des Rituals als solchem. Der Kern der geforderten Reformen betraf in der Regel die Art und Weise, wie die Beschneidung damals üblicherweise durchgeführt wurde. Ärzte und Reformrabbiner sahen darin Gefahren verschiedenster Art vor allem für die Gesundheit des neugeborenen Knaben. Zum Teil war dies die allgemeine Furcht, dass das Kind an einem unsachgemässen Eingriff Schaden nehmen 225 Schlich (1995c). 226 Arnhold (1847); Bergson (1844); Brecher (1845); Collin (1842); Mombert (1849); Salomon (1844); Wolfers (1831). In die Analyse und Wertung wurden alle genannten Veröffentlichungen einbezogen, die Darstellung beschränkt sich jedoch auf die wesentlichen Beispiele. Nicht aufgenommen wurde die Schrift des Metzer Arztes L. Terquem (1843), weil sie im Original französisch ist. Einige der zitierten Ärzte haben ähnliche Gedanken in weiteren Veröffentlichungen geäussert. Weitere Schriften mögen hinzukommen, doch ist es unwahrscheinlich, dass diese Dunkelziffer gross ist. 227 Einer der Autoren war der Ansicht, die Beschneidung sei obsolet, ihr Verschwinden aber nicht absehbar. Lediglich einer erwartete die Abschaffung für eine fernere Zukunft. Alle wandten sie sich dagegen, dass die Beschneidung als Vorbedingung der Aufnahme in die Religionsgemeinschaft gelte.

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könne, etwa in Form einer bleibenden Anämie nach der Beschneidung.228 Vorherrschend waren Befürchtungen, dass der beschnittene Knabe nach dem Eingriff verbluten könne oder dass Krankheiten auf ihn übertragen werden könnten. Entsprechend machten die Autoren unterschiedliche Vorschläge en d¦tail, von wem die Beschneidung zukünftig durchgeführt werden solle, wer dies tun solle und auf welche Weise dies zu regeln sei. Das herkömmliche Ritual der „Brit Mila“ teilte sich nämlich in fünf Schritte: die Vorbereitung, die eigentliche Beschneidung, das Einreissen des inneren Lappens der verbliebenen Vorhaut (die so genannte „Peria“), das Aussaugen der Wunde (die so genannte „Meziza“) und schliesslich das Stillen der Blutung. Für die Reformer standen im wesentlichen Peria und Meziza zur Debatte. Während alle Autoren einhellig darauf drängten, das Aussaugen der Wunde in Zukunft zu unterlassen, es gar unter Strafandrohung zu verbieten, plädierte nur ein Teil für die Abschaffung der Peria. Andere wiederum schlugen vor, das Einreissen der Haut durch einen entsprechenden Schnitt zu ersetzen. Ähnlich unterschiedlich beantworteten die Autoren die Frage, wer unter welchen Bedingungen die Berechtigung erhalten solle, die Beschneidung durchzuführen. Während die einen es am liebsten gesehen hätten, wenn lediglich Ärzte oder Wundärzte beschneiden würden, wollten andere, dass ein solcher Mediziner das Kind zumindest vor der Beschneidung auf seinen Gesundheitszustand untersuche oder während der Prozedur anwesend sei. Wieder andere hatten nichts dagegen, dass die Beschneidung traditionell von einem „Mohel“ durchgeführt würde, nur wünschten sie, dass diese Beschneider medizinisch besser ausgebildet und/oder erst nach einer Prüfung zu diesem Geschäft zugelassen werden sollten. Dabei wiederum gingen die Meinungen auseinander, ob der weltlich-christliche Staat mit seinen Medizinalbehörden diese Aufgaben an sich ziehen solle oder sie in den jüdischen Gemeinden bzw. bei den Beschneidern belassen werden sollten. Darüber hinaus gab es allgemeinere Forderungen, etwa mehr auf die moralisch-medizinischen Qualitäten des „Mohel“ zu achten (etwa: seine Reinlichkeit) oder seine Tätigkeit von einem religiösen Amt zu einem weltlichen Beruf, ja einem staatlichen Amt zu machen. Ein Autor forderte, in Zukunft den rituellen und den chirurgischen Teil der Beschneidung personell voneinander zu trennen. Im vorliegenden Kapitel sollen Argumentationsformen der ärztlichen Fürsprecher von Reformen untersucht werden. Wie gingen sie mit dem Konflikt zwischen religiöser Tradition und medizinischer Rationalität um? Dazu werden einige Beispiele herangezogen, die die Palette möglicher Umgangsweisen mit der religiösen Tradition aufzeigen. Sie können zwischen dem völligen Ignorieren und einer relativen Rücksichtnahme liegen. Die Darstellung soll Antworten auf die allgemeinere Frage liefern, welche Rolle medizi228 So z. B. Goldmann (1829). Auf diesen Beitrag bezogen sich später auch Beteiligte der Reformdebatte.

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3.3 Biegen, ohne zu brechen

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nische und religiöse Argumente in der Reformdebatte hatten und welcher Umgang mit dem Judentum bzw. welches Verständnis von Judentum hinter den einzelnen Positionen stand.

Argumentationsgänge jüdischer Ärzte Der Aufsatz des Wanfrieder Arztes Moritz Mombert229 erschien 1849 in der „Zeitschrift für Staatsarzneikunde“. Er richtete sich dem Veröffentlichungsort und dem Inhalt nach an Medizinalbehörden und entsprechend engagierte Ärzte. Mombert argumentierte, dass der Staat mit der Emanzipation die Verpflichtung übernommen habe, nun auch für das lange vernachlässigte körperliche Wohl der Juden zu sorgen.230 Dies sei insbesondere bei „verjährten Mißbräuchen und Vorurtheilen notwendig, die im religiösen Leben eines Volkes wurzeln“. Das Aussaugen der Beschneidungswunde war für ihn ein „ekelhafter Akt“. Im Falle eines speziellen Mohels sei dadurch „vielen Kindern Syphilis mitgetheilt worden“. Habe zudem „der Aussauger stinkenden Athem, womit der Speichel geschwängert ist, schadhafte Zähne oder spitze Zahntrümmer, ist er ein Tabakskauer u. dgl. m., so kann auf mechanische und chemische Weise die Wunde gereizt und entzündet werden“. Die Zeit sei nicht mehr fern, „wo nicht mehr frommen oder frömmelnden Juden, sondern tüchtigen Ärzten und Wundärzten diese Operation von Seiten des Staates übertragen werden […] wird“. Vor allem hält sich Mombert nicht lange mit der Frage auf, ob seine Reformvorschläge mit dem jüdischen Religionsgesetz verträglich seien oder nicht. Er stellt sich gar nicht erst die Frage, ob die Ärzte oder Wundärzte, die in Zukunft als einzige beschneiden sollten, Juden sein müssten und gegebenenfalls, ob es überhaupt genügend von ihnen gebe. Für ihn ist lediglich der Umstand von Bedeutung, dass alle medizinisch nicht Ausgebildeten eben „Laien“ seien, denen es nicht zustünde, „chirurgische Operationen“ vorzunehmen. Auch wenn Mombert religionsgesetzliche Überlegungen mit seinen medizinischen Argumenten nicht völlig ignoriert, überrollt er sie doch im Grossen und Ganzen.231 Darüber hinaus dringt er aber nicht tief in die religiösen Belange ein. Die Zulassung der Beschneider will er dem Staat überlassen. In der Frage der inkriminierten Meziza vertraut er auf Verständnis und Einfluss der Geistli229 Er lebte von 1800 bis 1859. Mehr biographische Angaben in Schlich, (1995c), S. 434. Der Autor referierte im Wesentlichen das Übersichtswerk des Berliner Arztes Joseph Bergson (1844). Zu Bergson s. u. 230 Mombert (1849), S. 267. Die folgenden Zitate finden sich ebd., S. 268, 282 f., 283, 269, 271. 231 Die Peria glaubt er mit der knappen Bemerkung abtun zu können, dass sie „blos talmudischen Ursprungs“ sei (ebd., S. 281). Vgl. zu dieser für die Reformer typischen Unterscheidung auch Katz (1991), S. 322.

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chen, denn er nimmt wie selbstverständlich an, dass die Meziza in Zukunft „durch unsere modernen Rabbinen“ abgeschafft werde.232 Die anderen Autoren haben mit Mombert lediglich gemein, dass sie alle eine unmittelbar medizinisch-gesundheitliche Motivation hatten, die Reform des Beschneidungswesens zu erreichen. Das gängige Beschneidungswesen liess in ihren Augen medizinisch-gesundheitlich sehr zu wünschen übrig. Doch im Hinblick auf den Umgang mit religiöser Tradition stellt Mombert eine grosse Ausnahme dar, denn religionsgesetzliche Überlegungen nahmen bei den anderen ärztlichen Autoren eine überaus wichtige Rolle ein. Bereits ein Blick auf die Inhaltsverzeichnisse der untersuchten Monographien als grobe Indikatoren zeigt, dass die Darstellung und Auseinandersetzung mit nichtmedizinischen, religionsgesetzlichen bzw. religionsgeschichtlichen Überlegungen darin teils sogar die Mehrheit des Umfangs ausmacht.233 Wichtiger aber noch ist, dass die meisten Autoren an zentraler Stelle in ihren Texten betonen, mit ihren Reformvorschlägen keine Religionsgesetze übertreten zu wollen. Der Prossnitzer Spitalarzt Gideon Brecher234 liess sich seine Schrift sogar vom Ortsrabbiner „absegnen“ und stellte ihr dessen „Approbationsschreiben“ voran. Der Lemförder Arzt Philipp Wolfers235 konstatierte, seine „Anweisung“, wie die Beschneidung durchzuführen sei, sei nicht nur „nach richtigen chirurgischen Prinzipien“, sondern auch „unter strenger Beobachtung der Verordnungen und Anweisungen der Rabbinen“ erstellt.236 Der Dresdener Wundarzt Elias Collin237 wollte chirurgische Reformen der Beschneidung explizit nur unter „Beibehaltung der Ritualgesetze“238 haben; dem Hamburger Arzt Moritz Gustav Salomon239 war es bei der Reform der Be232 Ebd., S. 283. 233 So z. B. bei Salomon (1844), Brecher (1845) und bei Bergson (1844). Kaum ist dies jedoch zu finden bei Collin (1842). 234 Der Autor (1797 in Mähren geboren, gestorben 1877) war ein Neffe des Orientalisten und Bibliographen Moritz Steinschneider und neben seiner medizinischen Tätigkeit auch mit traditionell jüdisch-religiösen Fragen beschäftigt. Vgl. Encyclopedia Judaica (o. J.), Bd. 4, Sp. 1336. S.a. Storz (2005), S. 153. Er forderte im Gegensatz zu anderen Ärztekollegen lediglich ein Abkommen von der Meziza. Seine Schrift von 1845 hatte vor allem das Ziel, den Beschneidern eine medizinische und religiöse Anleitung für die Praxis zu geben. Brecher (1845). Dementsprechend wurde die Schrift neben der von Wolfers (1831) z. B. auch im Hannoverischen empfohlen. Storz (2005), S. 158. 235 Wolfers wurde 1796 in Diepenau geboren und 1820 in Göttingen promoviert. Er praktizierte später in Lemförde und starb 1832 in Nienburg. Er wirkte sehr vielfältig als „aufgeklärter Israelit“. Vgl. zu ihm auch die ausführliche Biographie von Storz (2005). 236 Wolfers (1831), S. V. Zur Vorgeschichte der Schrift siehe Storz (2005), S. 142 f. 237 Collin lebte von 1786 bis 1851. Er war Mitglied im reformerischen Dresdener MendelssohnVerein sowie in diversen weiteren bürgerlichen Vereinen. Lässig nennt ihn einen Dr. med., der wegen der sächsischen Zulassungsbeschränkungen für Juden lediglich als Wundarzt tätig sein durfte. S. Lässig (2004), S. 385, 399, 511. Eine Dissertation von ihm konnte jedoch nicht nachgewiesen werden. 238 Collin (1842), S. V. 239 Salomon wurde 1817 in Dessau als Sohn des bekannten Reformrabbiners und späteren Mitbegründers des Hamburger Tempels Gotthold Salomon geboren, 1839 in Heidelberg promo-

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schneidung um die „Beibehaltung ihrer religiösen Weihe“240 gelegen. Der Berliner Arzt J. Bergson241 ging davon aus, dass ein Staat bei der Beschneidungsreform „mit der größtmöglichen Schonung“ vorgehen müsse, um „Eingriffe in das Gewissen eines Theils seiner Unterthanen zu umgehen“242. Und der Dessauer Arzt Adolf Arnhold243 wollte, dass die Beschneidung reformiert würde, „ohne religionsgesetzwiderig zu sein“.244 Wie gross war diese Rücksichtnahme auf religiöse Erfordernisse aber, wenn es nicht um abstrakte Bekenntnisse, sondern um die ganz konkreten Reformforderungen ging? Gerade die Veröffentlichung des letztgenannten Adolf Arnhold ist ein dankbares Beispiel, dies zu untersuchen. Der religiös-rituelle Aspekt der Beschneidung nimmt in dieser ausgesprochenen Reformschrift einen quantitativ, mehr aber noch qualitativ überaus wichtigen Raum ein, gerade auch im zweiten, medizinischen Teil seiner Schrift, in dem es allgemein um das Vorgehen bei der Beschneidung und speziell um die Gefahren bei den einzelnen Schritten des Rituals sowie deren Verhinderung geht. Trotz der

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viert und ist 1883 in Hamburg gestorben. Im Kapitel über die Hamburger jüdischen Ärzte wurde er nicht erwähnt. Vgl. Michael (1896), S. 14 f.; Schröder (1851 – 83) Bd. 6, S. 446. Lässig (2004), S. 631. Storz (2005), S. 154. Salomon forderte geringere Reformen der Beschneidung. Neben einer historischen und medizinischen Übersichtsdarstellung war die 1844 erschienene Schrift des dem Tempelverein nahe stehenden und in jüdischen Fragen engagierten Autors mehr als originärer Beitrag zur damaligen Beschneidungsdebatte und als Diskussionsbeitrag zur Reform denn als praktische Anleitung gedacht. Salomon (1844), S. VIII. Bergson (geboren in Warschau 1812, promoviert in Berlin 1837 und dort seit 1841 als Arzt tätig) war ein Gründungsmitglied der Berliner „Reform congregation“. Siehe Liberles (1985), S. 55. Seit 1861 war er Dozent an der Berliner Universität. Vgl. auch Storz (2005), S. 153. Bergsons Buch baut auf einer Artikelserie in der jüdischen Zeitschrift „Der Orient“ auf. Er argumentiert, dass die Beschneidung ohne Peria und Meziza ausschliesslich von Ärzten oder Wundärzten durchgeführt werden solle. Sofern diese Maximalforderungen nicht durchführbar seien, sollten die nichtärztlichen Beschneider zumindest erst nach einer Prüfung zugelassen werden. Ganz allgemein solle der Staat das Beschneidungswesen überwachen. Siehe Bergson (1844), S. 106 – 111, 122, 136 – 142. Die explizit als Appell zur Beschneidungsreform angelegte Schrift richtete sich gleichzeitig an die jüdischen Gemeinden wie auch an Medizinerkollegen, wo sie durchaus wahrgenommen wurde. Ebd., S. 107. Arnhold wurde 1808 in Dessau geboren, studierte in Berlin und promovierte 1831 in Halle. Ab 1833 praktizierte er in Dessau und übernahm dort als Akademiker bald vielfältige repräsentative Aufgaben in der Gemeinde. Er starb 1876 in Berlin. Vgl. das instruktive Manuskript Lässig (2000); vgl. auch Lässig (2004), S. 289, 59 f, 612 f. Seine Schrift veröffentlichte Arnhold 1847 unter dem Eindruck des Todes eines seiner Kinder (und des gerade noch abgewendeten Todes eines weiteren) nach der Beschneidung. Er formulierte sie als umfangreichen, dringenden Appell zur allseitigen medizinischen Neuorganisation des Beschneidungswesens, der die Ergebnisse seiner vorangegangenen Anfrage an die Breslauer Rabbinerversammlung von 1846 mit einbezog und der an seine Mitjuden wie auch an die Sanitätsbehörden gerichtet war. Arnhold (1847), S. 12. Zudem wies er darauf hin, dass seine Änderungsvorschläge für das Beschneidungs-Zeremoniell nur die „in religiösem Betracht unwichtigen Nebenumstände“ betreffe und „das eigentliche Wesen und der Inhalt der Beschneidung“ nicht angetastet würde. Ebd., S. 53, 68 f.

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medizinischen Thematik ist der Text mit ständigen Überlegungen des Autors durchzogen, ob die von ihm vorgeschlagenen Reformen denn auch religiös legitimiert seien. Seinen Vorschlag etwa, die Meziza aufgrund ihrer Gesundheitsgefahren abzuschaffen, rechtfertigt er gleich vierfach religiös, und zwar damit, dass sie (a) lediglich talmudischen Ursprungs sei, (b) im Talmud lediglich medizinisch und nicht rituell motiviert gewesen sei, dass sie (c) mittlerweile sogar von orthodoxen Rabbinern nicht mehr praktiziert würde und (d) schliesslich von der Breslauer Rabbinerversammlung fallen gelassen worden sei.245 Gleichwohl ist Arnholds Text, wie sich bei genauerem Hinsehen zeigt, alles andere als von profundem Respekt vor der religiösen Tradition geprägt. Um diesen Widerspruch zu überdecken, bedient der Autor sich einer Reihe argumentativer Taktiken im Umgang mit religiösen Anforderungen, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Zunächst gesteht er der jüdischen Tradition lediglich so viel Respekt zu, wie unbedingt nötig ist, um sich nicht ganz ausserhalb der religiösen Grundlagen von Tora und Talmud zu stellen. Gleichzeitig fordert er aber so viel an medizinischer Reform, wie seines Erachtens ohne einen Bruch mit der Religion gerade noch möglich ist. Dies zeigt sich deutlich an seinen Ausführungen zur Reform der Peria. So verzichtet er zwar gegen seine Überzeugung darauf, die Abschaffung des talmudisch gebotenen Einreissens der Vorhaut zu fordern. Doch ist aus seiner Formulierung zu schliessen, dass dies nicht aus Rücksicht auf religiöse Bekenntnisse geschieht, sondern aufgrund der Überzeugung, dass es – im Gegensatz etwa zur Meziza – praktisch nicht möglich sei, denn die Peria werde „vermöge der talmudischen Autorität für zu nothwendig und religionsgesetzlich begründet gehalten, als dass wir auf eine gänzliche Abschaffung der selben rechnen können“246. Diese Kompromissbereitschaft dürfte ihm allerdings nicht allzu schwer gefallen sein, weil er eine für ihn medizinisch zumindest akzeptable Alternative zum Aufreissen der inneren Vorhaut mit den Daumennägeln sah: das Aufschneiden mit einem damals entwickelten Spezialinstrument. Mit seinem Plädoyer für dieses Aufschneiden willigt Arnhold dann durchaus in eine gelinde Übertretung talmudischer Regeln ein. Er konstatiert nämlich selbst den Widerspruch zwischen den Ritualanforderungen und der medizinischen Logik und stellt sich hinter letztere. Allerdings tut er dies nicht, ohne sich mittels seitenlanger Zitate abzusichern, dass er hierbei mit den Ansichten der (reformerischen) Breslauer Rabbinerversammlung247 konform ginge. Der Reformer Arnhold nahm bei alledem also keine grundsätzliche Rücksicht auf den Talmud. Ein weiteres Argumentationsmuster Arnholds ist, das Religionsgesetz bzw. dessen Interpretation durch religiöse Autoritäten im Wesentlichen nur dann 245 Ebd., S. 54 f., 79 – 81. 246 Ebd., S. 71. 247 Ebd., S. 72 – 75, das folgende Zitat von S. 70 f.

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heranzuziehen, wenn es zu seiner Überzeugung passt, und es so zu interpretieren, dass es ihm passt. Obwohl sich Arnhold z. B. immer wieder auf Rabbiner beruft, um seine Argumentation religiös zu legitimieren, tut er dies fast nur dann, wenn es seiner medizinisch-reformatorischen Überzeugung entgegenkommt. Dabei beruft er sich nicht einmal wie oben ausschliesslich auf Reformrabbiner. Wenn es einer religiösen Legitimation seiner Anschauung bedarf, bezieht er sich auch auf die Orthodoxie, wie bei der Frage der Meziza oder dem Problem des medizinisch angemessenen Orts der Beschneidung, der nicht in der Synagoge sein müsse: „Schon gegenwärtig nehmen ganz orthodoxe Juden nicht den geringsten Anstoß daran, ihre Söhne in ihrem Hause beschneiden zu lassen.“248 Ist die Orthodoxie allerdings anderer Meinung als er, wie etwa in der besagten Frage der Peria, so wechselt Arnhold das Lager und argumentiert mit Reformrabbinern gegen die Orthodoxen. Ähnlich verfährt der Autor mit der selektiven Berufung auf das Religionsgesetz selbst. Arnhold verwirft im ersten, religiösen Teil seines Werks das traditionalistische Religionsverständnis, das sich am Wortlaut der als heilig angesehenen Schriften orientiert, ohne nähere Auseinandersetzung als Sichtweise der „unbefangen Gläubigen“ und lässt wie selbstverständlich ausdrücklich nur ein rationalistisches Religionsverständnis als ernstzunehmende Überzeugung gelten.249 Damit kann er gegen die Widersacher seiner Reformbemühungen argumentieren, ohne den Vorwurf zu riskieren, den religiösen Boden ganz verlassen zu haben. Auch im Detail nimmt Arnhold das jüdische Religionsgesetz bzw. die traditionelle Interpretation des Talmud selektiv wahr. So lobt er die talmudische Erlaubnis, die Beschneidung unter bestimmten schlechten medizinischen Bedingungen zu unterlassen.250 Wenn die Inhalte des Talmuds hingegen nicht in seine Konzeption passen, stellt er dessen religiöse Verbindlichkeit schnell in Abrede. So etwa bei der Meziza: Diese Praxis, „welche weder in der Bibel, noch durch irgend eine Tradition geboten ist, ist erst seit dem fünften Jahrhundert nach Chr. Geb. bei der Beschneidung üblich geworden […]“251. Neben lobender Rezeption und dem Abschieben in die religionsgesetzliche Irrelevanz geht Arnhold noch einen dritten Weg des Umgangs mit dem Talmud. Er bewertet ihn nämlich so, dass er den eigenen Vorstellungen entspricht. Dazu bedient Arnhold sich bei der Meziza einer mehrstufigen Argumentation: Er bezieht sich ausschliesslich auf die Rezeption des Talmud durch den mittelalterlichen Arzt und Religionsphilosophen Maimonides, der sich zu Beschneidung und Meziza geäussert hatte. Im Zuge seiner Rezeption 248 Ebd., S. 84. 249 Ebd., u. a. S. 17, 46. 250 Ebd., S. 84 – 87. Arnhold rezipiert die Halacha im Wesentlichen über die einschlägigen Traktate des mittelalterlichen Arztes und Religionsphilosophen Maimonides. 251 Ebd., S. 60 f.

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des Maimonides deutet Arnhold die Anordnungen des Talmud nicht als religiös-rituell, sondern als ausschliesslich medizinisch intendiert: Maimonides „rechtfertigte und empfahl die bereits übliche Mezizah aus medizinischen Gründen, damit nämlich kein Blut in der Wunde zurückbleibe und dadurch einer Entzündung vorgebeugt werde.“252 Schliesslich historisiert er das damalige medizinische Wissen, es sei „vom damaligen Standpunkte der Chirurgie diktirt worden“253, um daraus die Berechtigung zu schliessen, ein Vorgehen zu fordern, das dem aktuellen medizinischen Wissen entspräche. Arnhold schafft es so, mit religionsphilosophischer Argumentation zu seinen eigentlichen medizinischen Wünschen zu kommen: die Abschaffung der Meziza. Ähnliches macht er mit den Fällen, in denen eine Beschneidung unterlassen werden könne. Er referiert hierzu ebenfalls zunächst Maimonides. Um den religiös geprägten Leser einzufangen, führt Arnhold ihn als „talmudische Autorität“ ein und schliesst an, er sei „ein sehr gelehrter Arzt seiner Zeit“ gewesen.254 An dem Punkt, an dem Arnhold die Verhinderungsgründe der Beschneidung laut Talmud und Maimonides nicht mehr ausreichen, verändert er die Bedeutung der Person Maimonides sichtlich. Der ehemalige angesehene Talmudgelehrte ist plötzlich nur noch Arzt, und dazu ,lediglich‘ ein mittelalterlicher Vertreter dieses Berufsstandes, der noch nicht ausreichend über die medizinischen Gefahren der Beschneidung im Bilde war. Auf dieser Basis kann Arnhold über den Talmud hinausgehende medizinische Hinderungsgründe für die Beschneidung legitimieren. Am augenfälligsten schliesslich ist der Versuch Arnholds, durch eigenständiges Uminterpretieren der religiösen Schriften eine Legitimation seiner Forderungen zu erhalten. Dies tut er, wenn er über den Zeitpunkt der Beschneidung schreibt. Arnhold ist nämlich davon überzeugt, dass die Beschneidung grundsätzlich erst im dritten oder vierten Lebensmonat des Kindes durchgeführt werden solle. Seine Ausführungen signalisieren zunächst – ähnlich den Äusserungen zur Peria – grosse Rücksichtnahme gegenüber der strengeren Auslegung des Religionsgesetzes: Er meint, dass diese Reform, „so zweckmäßig und wünschenswerth sie auch wäre, sehr große Schwierigkeiten finden dürfte, da der achte Tag in der Bibel zur Vornahme der Beschneidung ausdrücklich vorgeschrieben ist. Die Bibelgläubigen würden demzufolge in der Verschiebung der Beschneidung eine Verletzung des göttlichen Befehls und somit einen Eingriff in die Religion selbst gewahren […]“.255 Doch gibt Arnhold sich damit nicht zufrieden und sucht um fast jeden Preis einen „religionsverträglichen“ Weg, seinen Wunsch durchzusetzen. Im direkten Anschluss schlägt er einen Ausweg vor: Da der Talmud selbst eine Verschiebung 252 253 254 255

Ebd., S. 64. Ebd., S. 69. Ebd., S. 85. Ebd., S. 82 f.

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der Beschneidung bei kränklichen und schwächlichen Kindern vorschreibe, „so könnten wir, hierauf fußend, unsern Vorschlag damit rechtfertigen, daß wir, nicht ohne Grund, behaupten, unsere Generation sei im Allgemeinen eine schwächlichere und zartere, weshalb die Beschneidung gegenwärtig durchgängig erst in einem späteren Lebensmonat zu gestatten sei.“256 Wie auch immer sich damit für Arnhold die religiösen Hindernisse darstellten, seine medizinische Beschneidungsreform argumentativ durchzusetzen, er fand einen Weg, diese Reformen dennoch religiös zu legitimieren, sei es durch selektives Wahrnehmen und Nichtwahrnehmen religiöser Positionen und Interpretationen, oder sei es durch gezieltes, mehr oder weniger brachiales Uminterpretieren der Religionsgesetze. Anstatt eine Respektsbezeugung gegenüber der Religion zu sein, ist der Verweis auf deren Zustimmung nämlich viel eher ein Schachzug, diese lediglich als zusätzliche Bestätigung der ohnehin feststehenden eigenen Interpretationen zu benützen. Arnhold versuchte damit so viel an Beschneidungsreform durchzusetzen, wie ihm im Rahmen der Religion möglich war. Er wollte sich offenbar nicht endgültig aus diesem Argumentationssystem entfernen – ein Gedanke, der im Fazit dieses Kapitels wieder aufgegriffen werden soll. Arnhold war nicht der einzige Autor, der solche Strategien verfolgte. Bei ihm ist es lediglich am offensichtlichsten. Ähnlich argumentierten etwa Bergson und Wolfers in ihren Schriften, wenn sie zur Legitimation der Reform selektiv auf religiöse Aspekte zurückgriffen oder talmudische Regeln lediglich medizinisch interpretierten und historisierten. Zusätzlich verfolgten sie Argumentationsstrategien, die bei Arnhold nicht oder kaum zu finden sind. Dazu zählen etwa ausladende Einleitungskapitel über die religiöse Geschichte der Beschneidung, die allem Anschein nach das Vertrauen in die religiöse Kompetenz und die religiöse Gesinnung der Autoren aufbauen sollen. Eine andere Variante scheint ein (vielleicht nicht einmal bewusstes) Ignorieren von Konflikten mit religiösen Anforderungen zu sein: Collin äusserte in seiner Schrift etwa das Vertrauen, mit seinen Vorschlägen einen Kompromiss zwischen Religion und Medizin zu finden, ohne dass ihm wegen seiner offensichtlichen Distanz zum Beschneidungsritual klar war, wie sehr er mit seinen Vorschlägen in das Religiöse eingriff, wenn er etwa vorschlug, das Zeremoniell und den operativen Akt personell getrennt von jeweils einem Vertreter der Religion und der Medizin ausführen zu lassen.257 Man mag bei all diesen Beispielen einwenden, die Autoren seien eben reformerisch orientiert gewesen. Ein Blick auf den religiös am stärksten gebundenen Arzt unter den Autoren zeigt jedoch, wie verbreitet dieses Vorgehen auch bei den traditionsorientierteren Ärzten war. Der Prossnitzer Spitalarzt Gideon Brecher war selbst als jüdischer Religionsgelehrter publizistisch

256 Ebd., S. 83. 257 Collin (1842), S. 14.

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aktiv.258 Seine Beschneidungs-Schrift ist auch kein Reformpamphlet wie das von Arnhold. Im Gegenteil scheint Brecher ganz im Geiste ausgesprochener Frömmigkeit geschrieben zu haben.259 Brecher präsentiert sich als wahrer Hüter der frommen Tradition, auf die er sich sogar ausdrücklich beruft.260 Es ist nur folgerichtig, dass er von allen Autoren die geringsten Reformforderungen anmeldet; er will lediglich die Meziza abgeschafft wissen. Doch bei einer genaueren Untersuchung der Argumentationsweise wird klar, dass die Autorität der Halacha auch für Brecher eindeutig hinter die der Medizin zurücktritt. Seine religiösen Überlegungen haben ebenfalls nur zu häufig die einzige Funktion zu belegen, dass es religionskonform sei, die Beschneidung den von ihm präferierten medizinischen Erfordernissen gemäss zu praktizieren.261 Hierzu lediglich ein Beispiel, nämlich seine Begründung, warum die Meziza abzulehnen sei. Brecher argumentiert, gestützt durch seinen Prossnitzer Rabbiner, dass dieser Teil des Rituals durchaus mit religiöser Legitimation aufgegeben werden könne, weil andere Regeln mit gleicher Verbindlichkeitsstufe im Umfeld der Beschneidung bereits aufgegeben worden seien, etwa das Bestreuen der Wunde mit Kümmel.262 Dass eine solche Argumentation nicht zwingend ist, schon gar nicht „unwiderleglich“, wie er selbst behauptet,263 hat Jacob Katz herausgestellt. Angesichts der Herausforderungen der Halacha durch die Moderne habe es auch die – halachisch ebenso gerechtfertigte – Interpretation gegeben, der Bewahrung der Tradition eine höhere Wichtigkeit einzuräumen.264 Brechers Argument war keine Notwendigkeit, sondern so gewählt, dass es seinem reformistischen Vorverständnis entgegenkam. Der Anschein, dass das Religiöse für Brecher von grösster Bedeutung war, verliert sich somit beim genaueren Hinsehen. Auch für diesen religiös verankerten Arzt stellt Religion nur dort einen primären Wert dar, wo sie der Medizin nicht im Wege steht. Dass es im Gegensatz zu Arnhold und ähnlich argumentierenden Kollegen durchaus möglich war, für eine Reform des Beschneidungswesens zu argumentieren, ohne das Religionsgesetz dafür zu funktionalisieren, zeigt das Beispiel des Hamburger Arztes Moritz Gustav Salomon. Nicht dass er sich in seinen medizinisch orientierten Reformforderungen so wesentlich von Au258 Er hatte einige Jahre zuvor die Schrift „Kuzari“ des mittelalterlichen mystischen Philosophen Juda Halevi aus Spanien mit hebräischer Einleitung und Kommentar herausgegeben (s. u.). 259 Nicht allein, dass dem Werk wie erwähnt ein 20seitiges Approbationsschreiben des dortigen Ortsrabbiners vorangestellt ist. Es ist stärker als die anderen mit Religiösem, nicht zuletzt mit vielen Originalzitaten aus Tora und Talmud durchzogen. Dieser Stil kulminiert in einem eigenen Schlusskapitel, das alle Segenssprüche und Gebete während der Beschneidungszeremonie ebenso auf hebräisch wie in deutscher Übersetzung wiedergibt. Brecher (1845), S. 71 – 78. 260 Ebd., S. 41. 261 Siehe z. B. ebd., S. I. 262 Ebd., S. 47. 263 Ebd., S. II. 264 Katz (1991), S. 321 f.

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toren wie Arnhold unterschieden hätte. Er warnt vor der Gefährlichkeit der Meziza und fordert deren Abschaffung. Allgemein sieht er die zwar seltene, aber durchaus existierende Gefahr eines Verblutens des beschnittenen Kindes. Um dies zu verhindern, fordert er, dass die Beschneider untereinander in Vereinen für die Qualitätssicherung der Beschneidung sorgen sollten, indem sie die Ausbildung der neuen Mohelim und den Zugang zu diesem Amt kontrollieren. Zusätzlich fordert er, dass bei jeder Beschneidung ein Arzt oder Wundarzt zugegen sein solle. All diese Forderungen sind wie bei den anderen Autoren eingepackt in weitläufige religiöse und historische Erörterungen.265 Doch Salomons Rekurs auf die Religion ist viel weniger taktisch aufgebaut als etwa der von Arnhold. Lediglich dort, wo Salomon gegen die Meziza zu Felde zieht, ähnelt seine Argumentation zunächst der des Dessauer Kollegen.266 Bald jedoch wechselt er zu einer wesentlich ausführlicheren, eindeutig medizinischen Argumentation, dass das Aussaugen „nur nutzlos, ekelhaft und gefährlich […] für Beschneider und Kind“267 sei. In diesem Gedankengang werden keine Religionsüberlegungen taktisch genutzt, um medizinischen Zwecken zu dienen. Wo der Arzt und Sohn des Reformrabbiners auf religiöse Belange zu sprechen kommt, da zeigt er in vielen Details deutlichen Respekt vor dem Religionsgesetz. Wenn er das Vorgehen bei der Beschneidung beschreibt, schliesst er z. B. die religiösen Handlungen mitsamt wörtlichen Zitaten der entsprechenden Segenssprüche darin ein. Ähnlich ist es mit seiner Darstellung talmudischer Regeln zur Beschneidung, die er selbst im Fall der Meziza unkommentiert lässt,268 welche er doch am liebsten abgeschafft wüsste. Am deutlichsten kommt jedoch die Ernsthaftigkeit seines Respekts gegenüber rituell-religiösen Erfordernissen zum Ausdruck, wo Salomon die Überwindung der verbleibenden medizinischen Gefahren der Beschneidung diskutiert und eine Lösung zwischen ihnen und den konfligierenden religiösen Anforderungen sucht, auf dass die Beschneidung „ein religiöses Moment bleibe […] und dennoch eine unschädliche Ceremonie“.269 Hier benennt er offen, dass Medizin und religiöse Tradition miteinander im Konflikt stünden und flüchtet sich nicht in mehr oder weniger fadenscheinige Lösungen dieses Konflikts. Er gibt zu, in verschiedenen Fällen zugunsten des Rituals auf das mögliche Maximum an medizinischer Sicherheit zu verzichten. Er verwirft zum Beispiel den Vorschlag, dass die Beschneider eine Ausbildung in einer Chirurgenschule erhalten sollten, weil der geistige und materielle Aufwand 265 Auch Salomon beginnt seine Ausführungen mit einer ausführlichen Darstellung über die im Wesentlichen religiöse Geschichte der Beschneidung. Salomon (1844), S. 1 – 43. 266 Salomon beruft sich dort in bekannter Manier auf orthodoxe Rabbiner, relativiert Maimonides’ Schriften halachisch, reduziert sie auf den medizinischen Gehalt und historisiert sie. Ebd., S. 61 – 63. 267 Ebd., S. 65. 268 Ebd., S. 52 – 57. 269 Ebd., S. 95 f.

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hierfür die in der Regel nebenamtlich arbeitenden, religiös motivierten Beschneider überfordern würde.270 Andere Autoren (wie etwa Mombert) hatten aus einem solchen Problem statt dessen geschlossen, es sollten eben professionellere Beschneider eingesetzt werden. Ähnlich verwirft Salomon auch den Vorschlag, die Beschneidung ausschliesslich von Wundärzten oder Chirurgen durchführen zu lassen, weil sich dies nicht mit den zeremonialen Anforderungen vereinbaren liesse. In diesem Fall würde dem Juden „ein Zwang auferlegt, der sich mit seinen religiösen Ansichten nicht vereinbaren ließe“.271 Die Begründung seines abschliessenden Vorschlags schliesslich, einen solchen Arzt bei der Beschneidung lediglich anwesend sein zu lassen, lässt ihn seine Überzeugung offen aussprechen. Damit würde „die Integrität dieser jüdischen Ceremonie mit aller Weihe und Religiosität“ bei gleichzeitiger medizinischer Sicherheit aufrechterhalten.272 Salomons Argumentation teilt sich so auf in einen kleineren Bereich, in dem ihm die Medizin wichtiger als die Religion ist und gewisse Abstriche am Ritual gemacht werden sollen, und in einen sehr viel grösseren Bereich, in dem er zugunsten eines Verzichts auf ein verabsolutiertes medizinisches Sicherheitsdenken viel Rücksicht auf die Beibehaltung des religiösen Rituals nimmt. Indem er die Widersprüche nicht taktisch überdeckt, sondern sie offen ausspricht und einen Kompromiss sucht, löst Salomon den Anspruch, zu reformieren und gleichzeitig Respekt gegenüber religiöser Tradition zu zeigen, viel eher ein.273 Fazit War die medizinische Debatte um die Beschneidungsreform ein deutliches Zeichen nachlassender Bindungen zum Judentum? Zeigen die ärztlichen Schriften in der medizinischen Debatte über die Beschneidung eine Aufgabe jüdischen Selbstverständnisses? Angesichts der vorangegangenen Analyse muss diese Frage differenziert auf verschiedenen Ebenen beantwortet werden. Eine völlige und explizite Dominanz medizinischer Argumente über die halachischen Erwägungen, die ausschliesslich den medizinisch völlig unbedenklichen Teil der Prozedur belassen will, findet sich nur bei Moritz Mombert. Für ihn sind religiöse Erfordernisse völlig untergeordnet, sobald medi270 Ebd., S. 96. 271 Ebd., S. 100. 272 Ebd., S. 201 (recte: 102). Diese Aussage ist um so bedeutender, als Salomon seine Schrift mit ihr beschliesst. 273 Auch Salomons Eintreten für die Beibehaltung der Beschneidung zeigt, dass das religiöse Argument für ihn eine eigenständige Wertigkeit besitzt. Er legitimiert die Beschneidung nämlich nicht wie andere Autoren mit deren angenommenen medizinischen Vorteilen, sondern praktisch einzig und allein mit deren Bedeutung für das Judentum, vor allem in einem eigenständigen Kapitel unter dem Titel „Wie ist die Beschneidung in unserer Zeit anzusehen?“ Ebd., S. 72 – 79.

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zinische ihnen entgegenstehen. Es ist das radikalste Beispiel einer Loslösung vom religiösen Sinnsystem in diesem Bereich: es ist ihm in diesem Zusammenhang einfach irrelevant. So radikal hatte nicht einmal der „weltlichste“ Autor im Beerdigungsfristenstreit, Marcus Herz, argumentiert. Doch Mombert ist ein Einzelbeispiel, und er legt seine Gedanken ausschliesslich in einer klar definierten medizinischen Fachöffentlichkeit dar. Für den gesamten Rest der Autoren ist ein Umstand von grosser Bedeutung: Sie stehen hinter der grundsätzlichen Beibehaltung der Beschneidung. Für die meisten ist sie ein nicht wegzudenkendes religiöses Ritual des Judentums. Diese Autoren bemühen sich sogar, angesichts veränderter Umstände, sprich: härterer medizinischer Anforderungen von Seiten der Gesellschaft, den rituellen, religiösen Akt als solchen zu stützen und sich für sein Weiterexistieren stark zu machen. Das sieht man auch daran, wie viel Energie sie darauf verwenden, religionsverträgliche Lösungen einer Beschneidungsreform zu finden, wie auch immer diese dann konkret aussehen. Ähnlich wie es auch anhand der Wandlungen der Chewrot (Kap. 3.2) herausgearbeitet wurde, bleibt damit die äussere Form oder das Grundgerüst einer religiösen Praxis erhalten, um bei den Inhalten dann Veränderungen vorzunehmen. Bei der frühen Beerdigung hingegen war ein solcher Weg kaum möglich. Jedes Eingehen auf die aufklärerischen Bedenken musste zwangsweise zu einer späteren Beisetzung führen. Bei der Beschneidung waren die befürchteten medizinischen Probleme weniger grundsätzlich, und deshalb war es einfacher, einen Zwischenweg zu finden. Wie sah aber dieser Zwischenweg aus? Im Einzelfall des zuletzt vorgestellten Moritz Gustav Salomon waren Halacha und Medizin in etwa gleichwertige Kräfte. Dementsprechend schlug er einen Kompromiss vor, bei dem einmal die medizinischen und einmal die religiösen Interessen zurückgesetzt wurden. Dies führte dann zu einem Verständnis von Judentum, bei dem die Dominanz der Halacha bzw. ihre traditionell-talmudische Interpretation zwar reduziert war, aber das Judentum nicht grundsätzlich neu konzipiert wurde. Dies machten die anderen Autoren dann um so eher, allen voran Adolf Arnhold. Für diese jüdischen Ärzte waren religiös-jüdische und weltlichmedizinische Anforderung eben nicht gleichberechtigt. Für sie war die Legitimität des Sinnsystems „Religion“ viel weiter reduziert als bei Salomon. Religion war für sie nur dort ein legitimer Wert, wo sie weltlich-medizinischen Erfordernissen nicht im Wege stand. Der Unterschied zu Mombert bestand aber darin, dass sie einen Weg suchten, um nicht wie dieser als Konsequenz die Religion negieren zu müssen – zumindest in den Konfliktbereichen. Das könnte man als reine Taktik verstehen, das eigentliche Ziel einer radikalen Säkularisierung der Beschneidung — la Mombert einfach „diplomatischer“ zu verkaufen und dabei möglicherweise auch seine religiös orientierte

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jüdische Klientel weniger zu vergraulen.274 Doch gerade die aufgezeigte Intensität im quantitativen wie qualitativen Sinn, mit der die Autoren das Problem theoretisch behandelten, lässt auf mehr deuten als eine solche Taktik von eigentlich dem Judentum entfremdeten Ärzten. Sie wollten sicherlich auch mehr als nur religiös verwurzelte Juden zur Reform bewegen. Hierfür waren diese Ärzte zu eng mit dem Judentum verwoben. Wären ihnen die religiösen Einwände letzten Endes völlig gleichgültig gewesen, hätten sie viel unbedarfter Einschnitte in das Ritual gefordert oder gar für eine Abschaffung der Beschneidung plädiert und hätten es nicht nötig gehabt, komplizierte (man könnte wertend auch sagen: gewagte) religiöse Legitimationen ihrer Forderungen herzuleiten. Doch es ist ihnen offensichtlich sehr wichtig gewesen, sich zumindest im Grundsatz nicht aus dem jüdisch-religiösen Denksystem zu entfernen. Ihre „Taktik“ lässt sich, im Sinne unserer Hauptfragestellung, auch als Versuch einer Neudefinition des Verständnisses von Judentum verstehen. Ihr Weg bestand darin, das Judentum in diesen fraglichen Bereichen durch Uminterpretation kompatibel für die moderne Welt zu machen.275 Sie entwickelten ein Verständnis von jüdisch-religiöser Praxis, das vor den Anforderungen der modernen Welt bestehen sollte. Einige der Methoden dieses Uminterpretierens waren bereits in der Beerdigungsdebatte deutlich hervorgetreten, etwa die Historisierung der Halacha oder ihre rationalistische Auslegung. Eng damit war der antitalmudische Impetus verbunden, nur noch die Tora als halachisch verbindliche Basis anzuerkennen. Die äussere Form der religiösen Praxis war ihnen nicht mehr so wichtig, um sich ihres Jüdischseins zu versichern, sondern das innere Gefühl dabei. Der Hamburger Arzt Moritz Gustav Salomon fasste dies in seine Worte: Es ginge bei seinem Kompromissvorschlag darum, „die Integrität dieser jüdischen Ceremonie mit aller Weihe und Religiosität“ aufrecht zu erhalten. Das Judentum verstand er nun vor allem als Konfession und Ort der innerlichen Erbauung. Andere Methoden wurden an den Quellen herausgearbeitet, die sich unter dem Begriff eines flexibleren Verständnisses mit der Halacha subsumieren lassen. Etwa die selektive Berufung auf wechselnde Autoritäten. Die Autoren nahmen sich grosse Freiheiten in der Auslegung der Halacha und nahmen sich das Recht heraus, selbst zu entscheiden, wessen Auslegung nun die angemessene sei. Bereits 1822 hatte Philipp Wolfers eine Quintessenz dieses neuen Verständnisses formuliert. Nachdem er einen Aufruf zur Verbesserung des Judentums veröffentlicht hatte, war er als „Freigeist“ angegriffen worden, der das Judentum verlassen wolle: „Wenn der Jude nicht mehr Jude seyn will, so weiß

274 So der persönliche Einwand von Dr. Daniel Jütte, z. Zt. Cambridge MA, gegen meine Interpretation. 275 So auch der Triester jüdische Aufklärer-Arzt Frizzi. Vgl. Dobin (2012), S. 209 f.

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er selbst nicht, was er ist“, resümierte der anonyme Kritiker.276 Wolfers verneinte, ein „Freigeist“ zu sein, und entgegnete mit einem Bekenntnis zu seinem Verständnis des Judentums: Der Autor wisse, „dass ich weder alle Ceremonialgesetze hinten an setze noch sie blindlings alle für baare Münze nehme, sondern dass ich selbst prüfe, wie es einem vernünftigen Menschen geziemt […]. Das Wesentliche der jüdischen Religion kenne ich genau.“277 Im Kern basiere sein Judentum auf den Prinzipien Vernunft und Moral. Im Grundsatz stand die Mehrheit dieser Ärzte zu einem religiös verstandenen Judentum, im Detail versuchten sie es aber so weit ihren Wünschen anzupassen, wie sie es für möglich hielten. Sie wollten ihr Judentum selber konfigurieren, aber nicht „auf Biegen und Brechen“, sondern indem sie es bogen, ohne es zu brechen. Aus dieser Perspektive wird auch die Begrenztheit anderer Interpretationen der Beerdigungs- wie auch der Beschneidungsdebatte deutlich, wie sie bereits in der Literaturübersicht dargestellt wurden.278 Diese Ärzte hatten nicht einfach die christliche Kritik übernommen, etwa dass die Juden nicht mit ihrem Körper umgehen könnten. Hier ging es mindestens ebenso stark um den inneren Wunsch der Autoren, an einem neuen Verständnis des Judentums mitzuarbeiten, das mit ihren eigenen Vorstellungen kompatibel war und vor den Anforderungen der säkularen Welt bestehen konnte. Diese Interpretation passt sich auch problemlos in die ebenfalls bereits dargestellten Untersuchungen von Katz und Gotzmann ein, die die nichtmedizinische Beschneidungsdebatte in den grösseren Zusammenhang der Reformbewegung stellten. Die Beschneidungsdebatte war demnach Ausdruck eines „Autoritätsverlustes“ bzw. neutraler ausgedrückt, eines gewandelten, flexibleren Umgangs mit der Halacha. Und dass die reformorientierten Juden so grundsätzlich zur Beschneidung standen, hatte nicht zuletzt mit dem gewandelten Verständnis der Beschneidung als kulturellem, weniger religiösem Zeichen des Judentums, als Teil auch eines modernen jüdischen Lebenslaufs zu tun. Von einem allzu eng-religiös verstandenen Judentum hingegen wollten sie sich sehr wohl trennen.

3.4 Weltliche Experten des Jüdischen: Die Dominanz der Ärzte über die Rabbiner in der Debatte um die Beschneidungsreform (1830 bis 1850) Eines der Ergebnisse des vorangegangenen Kapitels bestand in der Aussage, dass sich die jüdischen Ärzte, welche für die Beschneidungsreform kämpften, die Freiheit herausnahmen, selbst zu entscheiden, wie die Halacha auszulegen 276 Storz (2005), S. 109. 277 Storz (2005), S. 110. 278 Siehe die dort skizzierten Ansätze von Hödl und Efron. Vgl. z. B. Efron (2001), S. 225.

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sei und auf welche Autoritäten sie sich dabei zu berufen hatten. Damit bedeutete die Kritik an der traditionellen Form der Beschneidung auch eine Herausforderung für das Verhältnis der beiden Berufsgruppen jüdischer Ärzte und Rabbiner. Bereits im späten Mittelalter wiesen diese beiden intellektuellen Berufsgruppen deutliche Strukturähnlichkeiten auf und waren vergleichbar etwa hinsichtlich ihres Professions-Bewusstseins oder der gesellschaftlichen Ambitionen.279 Bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein dürften jüdische Ärzte auch häufiger einen rabbinischen Bildungshintergrund gehabt haben. Erst im Verlauf des Jahrhunderts trennten sich die Berufsgänge dann deutlicher voneinander. Eine Konkurrenz bei speziellen, die Religion und die Medizin betreffenden Themen war damit angelegt. Zur Beantwortung dieser Frage, ob sich das Verhältnis von jüdischen Ärzten und Rabbinern im Reformprozess änderte, lohnt es sich, nochmals auf die Arbeit von Thomas Schlich über die jüdischen Ritualbäder im Reformprozess zurückzukommen. Wie bei der Beschneidung begannen Ärzte sich auch bei den Mikwen eines Themas zu bemächtigen, das bis dahin praktisch ausschliesslich von religiösen Autoritäten abgedeckt worden war.280 Diese Ärzte forderten nun einen Vorrang der weltlich-medizinischen Argumente vor rituell-religiösen, womit sie zu einer Säkularisierung (und damit auch Medikalisierung) des Alltagslebens beitrugen281: Die Mikwen waren nun nicht mehr nur ein religiöses, sondern auch ein medizinisches Thema. Allerdings, so Schlich, sei der Zugriff von Ärzten auf dieses Thema nicht total gewesen. Sie besetzten lediglich die medizinisch relevanten Aspekte jüdisch-ritueller Praktiken, indem sie beständig medizinische Argumente anführten und etwa auf hygienische Missstände bei den Mikwen hinwiesen. Sie hätten damit einerseits das Medizinische als eigenständigen Kompetenzbereich für sich abgesteckt, in dem ausschliesslich ihre Berufsgruppe das Sagen habe. Andererseits aber hätten die entsprechenden Ärzte genau darauf gesehen, sich auf medizinische Fragen zu beschränken und nicht in die religiöse Sphäre einzugreifen, solange diese einem modernen Religionsverständnis entspreche.282 Schlichs These würde bedeuten, dass sich die jüdischen Ärzte hier zwar als medizinische Autoritäten, aber nicht auch als Autoritäten in Fragen des Judentums allgemein etabliert hätten. Beschränkten sich jüdische Ärzte in der Tat auch in der Beschneidungsdebatte auf den medizinischen Teil des Diskurses? Dazu sollen hier die Argumentationsformen der ärztlichen und religiösen Fürsprecher von Reformen verglichen werden: Wie weit griffen die ärztlichen Autoren in der Beschneidungsfrage auf religiöses Gebiet über? Beriefen sie sich dabei auf die eigentlich dafür zuständige Berufsgruppe, die 279 So die These von Yuval (1995). 280 Allenfalls waren es Juden, die gleichzeitig Rabbiner und Ärzte waren, wie etwa im ausgehenden Mittelalter Moses Maimonides. 281 Schlich (1995c). 282 Ebd.

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Rabbiner, oder entschieden sie eigenmächtig, ob eine Reform mit der Halacha vereinbar sei? Die gleiche Frage soll im Anschluss umgekehrt für einige Texte von Reformrabbinern gestellt werden. Ganz in dem Sinne, wie Schlich es dargestellt hat, argumentiert auch dessen Hauptreferenz, Moritz Mombert, der als medizinischer Reformator nicht nur der Mikwen, sondern auch der Beschneidung auftrat. Da Mombert keine Rücksicht auf rituelle Fragen glaubte nehmen zu müssen, war für ihn, wie im vorangehenden Kapitel gesehen, dieser Aspekt auch weitgehend irrelevant, jenseits der für ihn bedeutsamen medizinischen Belange. Doch Momberts Argumentation stellt eine seltene Ausnahme dar. Die anderen Autoren, welche die Beschneidung medizinisch reformieren wollten, ohne gleichzeitig die Halacha zu negieren, suchten in deren Neuinterpretation einen Ausweg, und hierzu mussten sie bekanntlich tief in ein Gebiet eindringen, das zwar nicht ausschliesslich den Rabbinern als Religionsgelehrten vorbehalten war, in dem diese aber doch weitgehende Deutungskompetenz beanspruchten. Einer der jüdischen Ärzte unseres Samples, der Hamburger Reformrabbinersohn Moritz Gustav Salomon, bezog explizit Stellung zu diesem Konflikt. Gleich in der Einleitung bezeugt er seinen Respekt vor der Autonomie religiöser Kompetenz: „[…] manum de tabula! Es ziemt sich nicht für einen Arzt, in ein fremdes Gebiet hineinzupfuschen, und ich lasse daher die ersten beiden Gesichtspunkte [der Beschneidung, nämlich den theologischen und den politischen, E.W.] fallen, um den dritten, den medizinischen, und was von ihm zu erwarten, herauszustellen.“283 Und in der Tat konzentriert sich dieser Autor mehr auf das Medizinische als seine Kollegen. Letzten Endes bleibt Salomons Selbstbeschränkung auf das Ausserreligiöse aber trotzdem ein frommer Wunsch. Er beschreibt das religiöse Ritual der Beschneidung und zitiert die entsprechenden Segenssprüche, ohne sich dabei allerdings auf zeitgenössische religiöse Autoritäten zu berufen. Seine Quellen sind neben den religiösen Primärschriften fast ausschliesslich die neueren Arbeiten seiner Ärztekollegen. Gegen die Meziza bringt er zwar hauptsächlich medizinische Argumente vor. Beim Kernproblem der religiösen Verbindlichkeit der Meziza bestimmt er aber eigenständig, nur auf der Basis von Talmud und maimonidischen Schriften, welchen religiösen Status sie habe, und schliesst daraus, die Meziza sei lediglich als gesundheitliche Massnahme entstanden. Auch in späteren Kapiteln schätzt Salomon das „religiöse Moment“ der Beschneidung eigenständig, ohne Absicherung durch rabbinische Autoritäten ein. Er behauptet, dass die Beschneidung zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine religiöse Bedeutung mehr habe, lediglich eine politische. Er stellt fest, dass ein Wundarzt als Beschneider „mit der religiösen Idee über Ceremonialgesetze durchaus nicht in Einklang zu bringen“ sei. Hingegen würde sein Alterna283 Salomon (1844), S. VIII. Die folgenden Zitate stammen von den Seiten 46, 49 f. (religiöse Autoritäten), 44 (Ärztekollegen), 61 (gesundheitliche Massnahme), 78 (politische Bedeutung), 96 (Einklang), 102 (Integrität), 66 (Urteil).

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tivvorschlag, dass ein Arzt oder Wundarzt dabei lediglich zugegen sein müsse, die Integrität der Zeremonie aufrechterhalten. Salomon tut damit zumindest stellenweise genau das, was er sich eingangs selbst verboten hatte: nämlich als Arzt „in ein fremdes Gebiet hineinzupfuschen“. Das ist umso bemerkenswerter, als er an anderer Stelle den ärztlichen Kompetenzbereich seinerseits vehement verteidigt. Bei der Bestimmung anatomischer Abnormitäten des zu beschneidenden Kindes ist Salomon nämlich der Meinung, dass den Mohelim „durchaus kein Recht freistehen sollte, über diese Abweichungen ein Urteil zu fällen, im Gegenteil sie ihres Amtes entsetzt werden müßten, falls sie bei solchen vorkommenden Fällen, ohne Zuziehung eines Arztes, sich selbst ein Urteil erlauben und die Beschneidung vornehmen oder verweigern würden“. Andere Autoren stellten sich trotz ihrer ausgiebigen religionsgesetzlichen Bewertungen die Frage ihrer Kompetenz in religiösen Sachen nicht einmal, wenn sie faktische Eingriffe in den Kompetenzbereich von Rabbinern machen. So auch der Lemförder Arzt Philipp Wolfers. Um seine medizinischen Ansichten über die beste Durchführung der Beschneidung religiös zu legitimieren, zitiert er ausgiebig aus den alten religiösen Schriften und interpretiert sie eigenständig ohne Verweis auf zeitgenössische rabbinische Autoritäten.284 Er bestimmt den halachischen Status der verschiedenen Teile des Beschneidungsrituals eigenständig285 und wagt es sogar, eine Alternative zur Meziza (nämlich das Bespritzen des beschnittenen Gliedes anstatt daran zu saugen) in Vorschlag zu bringen, ohne sich weitere Gedanken über deren rituelle Angemessenheit zu machen.286 Noch deutlicher findet sich diese Vorgehensweise bei dem Dessauer Arzt Adolf Arnhold. Bereits im vorangehenden Kapitel (3.3) war gezeigt worden, wie er sich einmal auf Reformrabbiner, dann wieder auf Orthodoxe stützte und wie er mit der rabbinischen Autorität eines Maimonides willkürlich umging. Auch Arnhold interpretiert die Halacha weitgehend eigenmächtig um bis hin zu dem skurrilen Beispiel, alle neu geborenen Kinder später beschneiden zu wollen, weil sie im Sinne des Talmud als kränklich und schwächlich bezeichnet werden könnten. Ein anderes Beispiel ist seine Suche nach der ursprünglichen Bedeutung des Rituals287 als Orientierungspunkt für den heutigen Umgang mit ihm. Dabei setzt er sich mit der Vorstellung von der Tora als geoffenbarter Wahrheit und dem dort beschriebenen Bund Gottes mit den Juden auseinander. Er nennt dies die „biblische Deutung“ der Beschneidung und weist sie pauschal als inadäquat zurück, weil sie „einer rationalistischen Begründung durchaus unfähig“ sei und allenfalls für die „unbefangen Gläubigen“ eine Bedeutung habe. Unter Berufung auf das Neue Testament (!) 284 285 286 287

Wolfers (1831), S. 9 – 14. Ebd., S. 41 – 44. Ebd., S. 47 f. Arnhold (1847), S. 13. Die folgenden Zitate finden sich auf den Seiten 17 („unfähig“), 46 („unbefangen“), 23 („Kern“), 26, 37 – 41 („Nutzen“), 17, 27 f., 45 („Nationalabsonderungszeichen“), 37 („Nation“), 29, 46 („unterlassen“), 23 („Rabbiner“).

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und andere Quellen verweist er auf die lediglich symbolische Deutung der „Brit Mila“ und schliesst daraus, dass der materielle Akt der Beschneidung zur „überflüssigen und nutzlosen Schale des geistig entblößten Kerns“ geworden sei. Da auch der „Nebenzweck“ des medizinischen Nutzens (Reinlichkeit, Beförderung der Fortpflanzung etc.) entweder fraglich oder auf anderem Wege erreichbar sei, bleibe als historischer Sinn der Beschneidung lediglich, dass sie einstmals ein Ersatz für alte Menschenopfer und ein „altes Nationalabsonderungskennzeichen“ war. Er fährt fort, dass in heutigen Zeiten, da die Israeliten „keine politische Nation mehr bilden“, „die Beschneidung für die gegenwärtigen Juden gar keine Bedeutung mehr habe und daher ohne Verletzung des Gewissens unterlassen werden könne“. Wenn der Autor sich bei all diesen Auslassungen einmal nebenbei auf „neuere aufgeklärte Rabbiner“ bezieht, dann stellt dies bereits eine grosse Ausnahme in seiner Argumentation dar. Lediglich ein einziges Mal, im besagten Umgang mit der Peria, nimmt er davon Abstand, in die Kompetenz der „talmudische[n] Autorität“ einzugreifen.288 Im Wesentlichen argumentiert er überaus selbstbewusst und ohne Berufung auf die halachische Kompetenz. Im Ganzen findet sich in Arnholds Schrift kaum eine Unterordnung unter rabbinische Autorität. Nirgends reflektiert er über die eigene Kompetenz, als Arzt in religiösen Fragen zu urteilen. Das Beschneidungsgutachten der Breslauer Rabbinerversammlung, um das er gebeten hatte, nennt er selbstbewusst einen „Bericht“289, dessen Erstattung eine „Pflicht“ der Rabbiner gewesen sei und ihm lediglich den Anstoss gegeben habe, mit den Reformanstrengungen „um so dreister zu Werke“ zu gehen. Arnhold tut so, als hole er in dieser Sache von bestenfalls gleichberechtigten Partnern, nicht von den eigentlich Kompetenten, eine Stellungnahme ein. Eine Ausnahme stellt lediglich der Beitrag des Prossnitzer Spitalarztes Gideon Brecher dar.290 Dieser war zwar hauptberuflich Arzt, doch daneben auch als jüdischer Religionsgelehrter publizistisch aktiv. Er hatte einige Jahre zuvor die Schrift „Kuzari“ des mittelalterlichen mystischen Philosophen Juda Halevi aus Spanien mit hebräischer Einleitung und Kommentar herausgegeben und sollte auch später noch einschlägig veröffentlichen.291 Wenn er in seiner Anleitungsschrift zur Beschneidung die ausführlichsten religiösen Interpretationen vorlegt und selbstsicher seine völlige Kompetenz in Religionsfragen feststellt,292 dann hat dies eine Fundierung, die ganz offensichtlich wesentlich grösser ist als die seiner Kollegen. Bezeichnenderweise stützte er seine Ausführungen auch auf eine deutlich breitere Quellenbasis religiöser Schriften als seine Kollegen. Damit konnte der gelernte Arzt sein Übergreifen 288 289 290 291 292

Ebd., S. 71. Ebd., S. 12. Die folgenden Zitate auf den Seiten 53 („Pflicht“), 68 („dreister“). Brecher (1845). S. Encyclopedia Judaica (o.J), Bd. 4, Sp. 1336. Er behauptete etwa, die Zulässigkeit der Abschaffung der Meziza vom theologischen Standpunkt mit unwiderleglichen Gründen bewiesen zu haben. Brecher (1845), S. III.

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in ein Kompetenzfeld jenseits seines Brotberufes auch besser legitimieren. Wichtiger aber noch ist, dass Brecher seine ausführlichen religiösen Interpretationen trotz aller Selbstsicherheit zusätzlich noch vom Ortsrabbiner „absegnen“ liess. Jüdische Ärzte taten demnach mit diesen Schriften zur Beschneidungsreform wesentlich mehr, als den medizinischen Kompetenzbereich vom religiösen abzugrenzen, das Religiöse abzudrängen und auf die überragende Bedeutung des Medizinischen zu pochen. Darüber hinaus behandelten sie das Thema, dem sie sich zunächst von der medizinischen Seite her zugewandt hatten, in der Regel auch unter allgemein rituellen Aspekten, die ganz von der medizinischen Problematik losgelöst waren. Diese Ärzte verstanden sich nämlich nicht nur im Medizinischen als Reformer des Judentums, sondern in einem ganz allgemeinen Sinn. Und auch hier waren sie dabei, die Praxis in ihrem Sinne umzudeuten, etwa vom religiösen Ritual zum Zeichen jüdischer Identität. So unterschiedlich die einzelnen Argumentationsgänge dieser jüdischen Ärzte sind, so haben sie doch gemein, dass fast alle Autoren sich auf einem Gebiet eine Kompetenz zuschreiben, die sie nicht direkt aus ihrer beruflichen Tätigkeit ableiten können. Sie fühlen sich sozusagen als selbsternannte Experten des Jüdischen, als geistige Reformelite unter den Juden, gleichgültig, wie viel oder wenig Respekt sie dem Rituellen entgegenbringen wollten. Selbst diejenigen, die sich in Einzelfragen für die Dominanz des Religiösen einsetzten, bestimmten selbstbewusst, wann welches Verhältnis zwischen Religion und Medizin herrschen solle. Wenn nun das Beispiel Moritz Momberts diesem Befund widerspricht, so hatte dies durchaus einen Grund. Mombert hatte seinen Artikel, anders als die Autoren der Monographien, in einer medizinischen Fachzeitschrift veröffentlicht und damit im Wesentlichen für Ärzte und Medizinalbehörden geschrieben. Hier waren Fragen der religionsgesetzlichen Bewertung der Reformen ohnehin weniger gefragt. Das gleiche gilt im Übrigen auch für die von Schlich herangezogenen übrigen Quellen zur Reform der Ritualbäder.293

Rabbiner und die gesundheitlich motivierte Beschneidungsreform Wenn Ärzte sich mit ihren Argumentationen rund um die Beschneidung weit in das religiöse Feld hineinwagten, machten dann auf der anderen Seite die Rabbiner das gleiche mit medizinischen Argumenten? Diskutierten sie dementsprechend in medizinischen Fragen mit? Dazu muss zunächst vorausgeschickt werden, dass Rabbiner sich zu dieser Zeit zwar intensiv mit dem Thema Beschneidung befassten, jedoch, wie oben bereits erwähnt, mehr293 Moritz Mombert hatte auch bei der Hygienisierung der Ritualbäder die rein medizinische Argumentationsweise am prägnantesten vertreten.

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heitlich mit denjenigen Fragen, in denen die medizinischen Aspekte der Beschneidung keine Rolle spielten. Insbesondere war dies die grundsätzlichere und für sie zeitweise drängendere Reformfrage, wie verbindlich die Beschneidung an sich dem Religionsgesetz nach überhaupt sei. Speziell wurde die Frage diskutiert, ob Eltern, die sich weigerten, ihre Söhne beschneiden zu lassen, aus den Gemeinden auszuschliessen seien.294 Da es in diesem Beitrag jedoch um den Überschneidungsbereich zwischen Religion und Medizin geht, ist diese Diskussion hier nicht relevant. Über diese Debatte hinaus jedoch befassten sich vor allem die Reformrabbiner (und als Reaktion darauf punktuell die Neoorthodoxie) auch mit den Aspekten der Beschneidung, die eine medizinische Dimension besassen. Allerdings sind die Textgattungen anders als bei den Schriften der Ärzte. Neben Reformplädoyers handelt es sich hier vor allem um Verhandlungsprotokolle oder Gutachten. Auf der Seite reformerischer Rabbiner sind es drei Artikel in Zeitschriften über jüdische Belange aus den Jahren 1845 und 1846: Ein Aufsatz des Dresdener Oberrabbiners Zacharias Frankel für die Abschaffung der Meziza,295 eine Äusserung des Wiener Rabbiners Lazar Horwitz, der Frankel und sein Anliegen gegen Angriffe eines anonymen neoorthodoxen Kritikers296 in Schutz nahm297, und schliesslich die Verhandlungen der dritten Versammlung deutscher Rabbiner 1846 in Breslau.298 Dort zählten die medizinisch relevanten Fragen einer Beschneidungsreform zu den wichtigen Verhandlungsthemen. Die Versammlung hatte mehrere einschlägige Eingaben von ärztlicher wie rabbinischer Seite erhalten. Unter der überwiegenden Mehrheit der Teilnehmer bestand die Meinung, es sei von grosser Dringlichkeit, das Beschneidungsritual den aktuellen medizinischen Erfordernissen anzupassen. Vergleicht man diese Texte rein inhaltlich mit denen der Ärzte, zeigen sich 294 Dies gilt einerseits für die reformorientierten eigenständigen Schriften wie Bar Amithai (1843). Zum eigentlichen Namen des Autors (Johlson) s. Meyer (1988), S. 123. S.a. die Schrift des Schweriner Reformrabbiners Samuel Holdheim (1844) sowie Ben Rabbi (1844). Es gilt andererseits auch für die reformskeptischen und -gegnerischen Schriften wie diejenige von Leopold Zunz (1844) oder die umfangreiche Sammlung von 27 rabbinischen reformkritischen Gutachten aus den Jahren 1843/44, die der orthodoxe Frankfurter Rabbiner Salomon Abraham Trier anlässlich der Vorstösse des dortigen Reformvereins eingeholt und herausgegeben hatte: Trier (1844). Siehe zu dieser Sammlung auch Katz (1991), S. 318 – 320. 295 Frankel (1845), hier S. 266 – 269 (Gutachten Collin), 289 – 291 (Gutachten Hirschel und Collin), 292 – 301. In der Frage einer medizinalpolizeilichen Kontrolle des Beschneidungsgeschehens hingegen verteidigte Frankel die jüdische Tradition. Es wird hier der Fragestellung entsprechend nur auf den Teil des Textes Bezug genommen, in dem Frankel reformerisch argumentiert. Für den anderen Teil siehe Wolff (1998e) Zu Frankel auch Brämer (2000). 296 Die Meziza (1846a). 297 Horwitz (1846). 298 Siehe die aktuelle Berichterstattung darüber in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 10 (1846), S. 317 f., 401 f., 446, 461 f., 486, 502. Der Protokolltext der Verhandlungen ist entnommen Arnhold (1847), S. 72 – 75; Glassberg (1896), S. 342 – 346; Philipson (1931), S. 216 f. Siehe zu den Breslauer Debatten auch Storz (2005), S. 155.

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vor allem Parallelen. Der innerhalb dieser Quellenauswahl verhältnismässig homogene Aufbau der Texte ähnelt den Argumentationsweisen eines Bergson oder Arnhold, selbst wenn die Form des Zeitschriftenartikels wesentlich weniger Raum für breite Ausführungen liess. Das Hauptmotiv der drei rabbinischen Kritiken an Meziza oder Peria waren die vermuteten gesundheitlichen Risiken der Eingriffe. Entsprechend werden diese Überlegungen zentral herausgestellt. Auch an anderer Stelle wird deutlich, dass es den Reformrabbinern in der Hauptsache darum ging, das Thema „Gesundheit“ als wichtigste Frage zu etablieren. Die reformerische „Allgemeine Zeitung des Judenthums“ vermisste etwa an den von Abraham Trier herausgegebenen Gutachten, „dass wenigstens einer doch darauf aufmerksam gemacht hätte, dass es auch an der Zeit sei, die Beschneidung mit all den Vorsichtsmassregeln zu umgeben, die sie zu einem völlig gefahrlosen Akte machen […]“.299 Das neoorthodoxe Blatt „Der treue Zionswächter“ meinte dazu, dass die Reformrabbiner bei der Beschneidung „mit scheelem Blick auf die Blutstropfen“ schauten und den (heiligen) Beschneidungsstuhl „mit Aufzugsbrücken, ärztlichen Wachen, Polizei- und Sanitätsbehörden umgeben“ wollten.300 Die religiöse Frage einer Veränderung des Rituals dagegen trat bei den Reformrabbinern in den Hintergrund – nicht unbedingt vom Umfang der Darstellung her, sondern in Bezug auf ihre nachgeordnete Stellung und ihre Funktion: Sie sollte die medizinisch motivierte Reform halachisch legitimieren. Auf der Rabbinerversammlung dienten religiöse Überlegungen in erster Linie dazu, zugunsten der Reformen die halachischen Bedenken aus dem Weg zu räumen, etwa wenn aus den rabbinischen Schriften speziell diejenigen hervorgehoben wurden, die die medizinische Vorsicht einforderten, oder wenn die Meziza als einstmalige medizinische Vorsichtsmassnahme und nicht als verbindliches religiöses Gesetz interpretiert wurde. Entsprechend dieser Orientierung auf die medizinische Seite der Frage machten die Rabbiner auch Aussagen zu den Teilen der Beschneidung, die gar nicht das religiöse Ritual betrafen: Sie forderten eine entsprechende medizinische Ausbildung und Prüfung der Mohelim und die mögliche Aberkennung dieses Rechtes bei Unfähigkeit aufgrund hohen Alters. Sie erlaubten das Schneiden anstatt des Reissens der Vorhaut bei der Peria, forderten das völlige Aufgeben der Meziza sowie eine Voruntersuchung und Nachbehandlung des zu Beschneidenden durch einen Arzt. Schliesslich gaben sie den Dispens für die Beschneidung nicht erst nach dem Tod zweier Söhne in einer Familie nach dem Eingriff, sondern bereits im Falle der Schädigung eines Kindes.301 Die Entschliessung war so stark medizinisch geprägt, dass sie auch aus einem Sanitätsamt hätte stammen können. Der Autor des „treuen Zionswächters“ lag also mit seiner Einschätzung gar nicht einmal so falsch. 299 Allgemeine Zeitung des Judenthums 8 (1844), S. 102. 300 Beleuchtung (1847), S. 202, 209. 301 Allgemeine Zeitung des Judenthums 10 (1846), S. 446.

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Der grosse Unterschied gegenüber den Ärzten liegt damit nicht in den Inhalten der Argumentation, sondern zunächst in der Frage, wer das Argument vorbrachte – eben Rabbiner und nicht Mediziner. Hätte sich die reformrabbinische Argumentation in Bezug auf die Sachkompetenz völlig spiegelbildlich zur ärztlichen dargestellt, hätte die Motivation der Rabbiner für die Beschneidungsreform primär in der Notwendigkeit eines veränderten Religionsverständnisses liegen müssen. So aber lag der Beweggrund ausserhalb des eigenen, des religiösen Zuständigkeitsbereichs. Ähnlich spiegelbildlich gedacht hätten diese Rabbiner ebenso selbstverständlich medizinische Argumentationsweisen darlegen und nach Belieben kommentieren müssen, wie es die Ärzte mit religiösen Interpretationen taten. Hierin jedoch liegt der zentrale Unterschied zu den ärztlichen Schriften. Denn obwohl die Rabbiner medizinische Themen im grossen Umfang ansprachen, massten sie sich hier keine fachfremde Kompetenz an. Im Gegenteil ist den Autoren gemein, dass sie in ihren Texten ausdrücklich – und nicht nur pro forma wie etwa der Arzt Moritz Gustav Salomon – auf ihre begrenzte Kompetenz hinwiesen, nämlich dass sie keine Ärzte seien. Frankel stellte seinem Beitrag zwei ärztliche Gutachten voran, die die Nutzlosigkeit und Gefährlichkeit der Meziza bestätigen: eines von dem Dresdener Wundarzt Elias Collin und eines, das dieser zusammen mit dem Dresdener jüdischen Arzt Bernhard Hirschel302 verfasst hatte. Etwas Entsprechendes hatte der Prossnitzer Arzt Gideon Brecher mit dem seiner Schrift vorangestellten rabbinischen Approbationsschreiben zwar auch gemacht; doch Frankel schrieb explizit, dass ihm in den medizinischen Fragen kein Urteil zustehe.303 Er enthielt sich, anders als Brecher, im Verlauf des Textes auch wirklich weiterer Erläuterungen zu Themen, zu denen er seine Kompetenz selbst in Frage gestellt hatte. Auch die Rabbiner der Breslauer Versammlung formulierten ihre medizinischen Einschätzungen nicht so, als ob es ihr eigenes Wissen sei, sondern bezogen sich dabei auf den Kenntnisstand der damaligen Medizin.304 Bezeichnend ist der Gang der Verhandlungen über die Peria.305 Ein Arzt namens Frank aus Wolfenbüttel hatte nämlich bei der Rabbinerversammlung u. a. beantragt, sie sollte sich zu der Frage äussern, ob es vom religiösen Standpunkt aus gestattet sei, bei der Peria die innere Vorhaut nicht mit den Nägeln aufzureissen, sondern mit einem speziellen Instrument aufzuschneiden. Die in Breslau versammelten Rabbiner waren fast einstimmig für eine Reform.306 302 303 304 305 306

Zu Hirschel vgl. Klimpel (1998), S. 76; Hirschel (1976); Lässig (2004) passim. Frankel (1845), S. 292. Allgemeine Zeitung des Judenthums 10 (1846), S. 446. S. Arnhold (1847), S. 71 – 75. Meinungsunterschiede gab es lediglich zu der Frage, ob das fragliche Schneiden der Vorhaut mit einem Instrument halachisch nicht verboten sei, wie eine Mehrheit meinte, oder ob es überhaupt kein religiöses Gesetz gebe, wie die Peria durchzuführen sei, wie eine Minderheit meinte. Siehe ebd., S. 74 f.

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Vor allem betonten sie aber, dass es nicht ihre Aufgabe sein könne, über medizinische Dinge zu entscheiden. Wenn sie Medizinisches referierten, beriefen sie sich auf die Aussagen von Ärzten307 oder sie enthielten sich explizit einer Meinung wie bei der Frage, welche Beschneidungstechnik die zweckmässigere sei, und überliessen dies der (medizinischen) „Wissenschaft“. Sie wollten die neue Schneidetechnik nicht einmal explizit gestatten, weil dies den Eindruck hätte vermitteln können, dass sie als Nichtmediziner den Ärzten eine bestimmte Technik empfehlen würden.308 Die Furcht der in Breslau zusammengekommenen Rabbiner davor, die eigenen Kompetenzgrenzen zu überschreiten, war so gross, dass sich weite Teile der Debatte um diese Frage drehten. Am ehesten noch betrat unter den Reformrabbinern der Wiener Lazar Horwitz das Feld eigenständiger medizinischer Argumentation, als er in der Zeitschrift „Der Orient“ auf die Verteidigung der Meziza durch einen anonymen Autor im „treuen Zionswächter“ mit medizinischen, mehr aber noch mit halachischen Argumenten antwortete und darin eher medizinisch als religiös argumentierte.309 Er bezeichnete etwa dessen Vorschlag, den Mohel bei der Ernennung auf seinen Gesundheitszustand zu untersuchen, als unzureichende Vorsichtsmassnahme. Horwitz erwiderte dem Anonymus auch, dass die Gefährlichkeit der Meziza nicht mit der anderer chirurgischer Operationen vergleichbar sei, sondern dass hier grössere Gefahren bestünden. Oder er brachte Argumente dafür, dass Erkrankungen durch die Meziza häufig seien, was sein Widersacher in Zweifel gezogen hatte. Doch selbst Horwitz griff nicht so selbstverständlich und ausgreifend in das medizinische Argumentationsfeld über, wie es die Ärzte im Gegenzug mit dem religiösen getan hatten. Der Wiener Rabbiner berief sich in seinen Ausführungen nämlich mehrfach auf die Meinung von Ärzten und betonte bei seinem am ehesten als medizinisch anzusehenden Argument, der Verhältnismässigkeit des chirurgischen Risikos, dass er selbst nur als Laie spreche. Wenn der Rabbiner Horwitz hier selbstbewusster als seine Kollegen medizinisch argumentierte, dürfte dies aber noch einen anderen Grund gehabt haben. Adressat seiner Kritik war ein Autor, der seine Identität nicht preisgegeben hatte, aber doch gleichzeitig religiöse und medizinische Kompetenz für sich beanspruchte. Da er sich lediglich „ein Kompetenter“ nannte, war anzunehmen, dass er weder Arzt noch Rabbiner war, wie sich später auch erweisen sollte.310 Der Respekt vor der medizinischen Kompetenz des Kon307 So z. B. der Rabbiner Gotthold Salomon (ebd., S. 72), der Vater des Hamburger Arztes Moritz Gustav Salomon (ebd., S. 81). 308 Am extremsten argumentierte der Rabbiner Einhorn, der auf diesem Gebiet sogar jegliche Kompetenz einer rabbinischen Äusserung in Zweifel zog, da dieses Thema in seinen Augen „eine rein medizinische Frage“ sei. Hierin wurde ihm indes von Kollegen widersprochen (ebd., S. 73). 309 Horwitz (1846), S. 339 f. für die folgenden Ausführungen. 310 Er nannte u. a. ein 25jähriges Talmudstudium, eine theologische Praxis, eine zehnjährige Tä-

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trahenten war wahrscheinlich dadurch vermindert, dass es sich offensichtlich nicht um einen approbierten Arzt handelte. Während die Ärzte sich also ohne grosse Skrupel autonom im religiösen Argumentationsfeld bewegten, scheuten die Reformrabbiner sehr deutlich davor zurück, entsprechend mit dem medizinischen Bereich zu verfahren. Noch augenfälliger wird dieser Unterschied, wenn Ärzte und Mediziner religiöse und medizinische Argumente direkt nebeneinander verhandelten und die Frage der jeweiligen Kompetenz darüber hinaus sogar Thema war. Wenn Frankel seinen Äusserungen über die Meziza zwei ärztliche Gutachten voranstellte, so tat er dies, weil er glaubte, ihm stehe zu solchen Fragen „kein Urtheil zu“. Dementsprechend liess er diese Fragen auch unkommentiert. Es ist jedoch bezeichnend, dass sich auf der anderen Seite die beiden medizinischen Autoren nicht auf ihren Zuständigkeitsbereich beschränkten. Im ersten Gutachten betonte der Wundarzt Collin zwar, in halachischen Fragen Laie zu sein, gleichzeitig basierte sein medizinisches Plädoyer gegen die Meziza nicht unwesentlich auf Äusserungen über deren halachischen Status. Im weiteren Gutachten von Collin und Hirschel behaupteten die beiden vor den medizinischen Argumenten wie selbstverständlich, dass die Meziza halachisch nicht geboten sei. Am Ende nahmen sich die beiden Ärzte sogar das Recht heraus, den Rabbinern als „Pflicht“ aufzuerlegen, den Gebrauch der Meziza streng zu verbieten. Im Anschluss stellte der Rabbiner Frankel zwar einige Details dieser religiösen Interpretationen richtig, doch er tat dies überaus defensiv, indem er diese Fehler lediglich als „leicht zu entschuldigen“ bezeichnete, den Kompetenzübergriff aber nicht thematisierte.311 Damit ist neben der bewussten Selbstbeschränkung auf die eigene Berufskompetenz bereits eine weitere Umgangsform mit der Zuständigkeitsfrage angesprochen: ihre mögliche Verteidigung gegen Übertritte von aussen. Ein deutliches Beispiel hierfür ist die ärztliche und die rabbinische Kritik an dem besagten anonymen Autor, der sich im „treuen Zionswächter“ das Recht angemasst hatte, ebenso über medizinische wie halachische Fragen zu urteilen. Die im Journal „Der Orient“ veröffentlichten Reaktionen thematisierten die Kompetenzfrage ausführlich. Der Arzt Salomon führte dort eine Art Frontalangriff auf den Anonymus: Er nahm sich vor, dem „unwissenden stümperhaften Jünger Aesculaps“ „in Betreff seiner medizinischen Anmaßung einmal seine Ignoranz aufzudecken“ und „seine unrichtigen Begriffe zu läutern“.312 Damit verteidigte er seinen Berufsstand mit grosser Entschiedenheit. Dem rabbinischen Autor Horwitz hingegen wies Salomon entsprechend die Aufgabe zu, dem Anonymus bezüglich der „talmudischen Kompetenz […]

tigkeit als Mohel und auf medizinischer Seite ein aus Liebhaberei betriebenes Studium der Medizin an der Universität Würzburg. Die Meziza (1846b), hier S. 394. 311 Frankel (1845), S. 289 – 292. 312 Salomon (1846), hier S. 353 Fussnote, 356.

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Unkenntnis nachzuweisen“.313 Doch der Rabbiner kritisierte mehrheitlich ebenfalls den medizinischen Argumentationsgang des Anonymus und verteidigte damit den ärztlichen Berufsstand und nicht seinen eigenen. Die Kritik an der halachischen Deutung des Autors war im Vergleich zu Salomons Angriff massvoll. Anstatt die Ausführungen des Anonymus offen als Anmassung eines Nichtrabbiners zu bezeichnen, klagte Horwitz lediglich allgemein, dass sich in den Debatten der Aufklärung viele „Unberufene“ in Religionskontroversen einmischten.314 Ferner warf Horwitz dem Verfasser zwar Fanatismus vor, aber eben keine Anmassung rabbinischer Kompetenz. Schliesslich verglich Horwitz das Gutachten des „Kompetenten“ mit einer Response des berühmten Rabbi Moses Sofer.315 Damit zeigte er zwar, dass er die Interpretation des „Kompetenten“ inhaltlich ablehnte, aber auch, dass er es nicht als grundsätzlich unangemessen ansah, wenn sich dieser überhaupt äusserte. In keinem Fall sprach er dem Anonymus das Recht ab, sich wegen seines fehlenden rabbinischen Status zu dieser Sache zu äussern, wie Salomon es in Bezug auf die Medizin getan hatte. Worauf lassen sich die eklatanten Unterschiede des Auftretens von Ärzten und Rabbinern in dieser Sache zurückführen? Wohl vor allem auf zwei Faktoren. Der eine liegt in der inhaltlichen Ausrichtung dieses Teils der Reformdebatte. Die angenommene Gefährlichkeit der Beschneidung als medizinischer Ausgangspunkt ihrer Reform, den die reformerischen Ärzte und Rabbiner gemein hatten, schuf die Ungleichgewichte zwischen beiden Gruppen in der Debatte. Während das medizinische Argumentationsfeld die sichere Ausgangsbasis der Ärzte war, mussten die Rabbiner bei ihren Hauptargumenten in einen Bereich wechseln, der mit ihrem Beruf äusserlich gesehen fast nichts zu tun hatte. Indem Reformrabbiner weltliche Argumente wie das der Gesundheit in den Vordergrund ihrer Argumentation stellten, schwächten sie ihre Position innerhalb dieser Debatte. Sie konnten ihre Argumente in der Regel nur indirekt, unter Berufung auf Ärzte vorbringen und mussten so verhältnismässig defensiv auftreten. Ihr eigenes religiöses Kompetenzfeld hingegen besass für sie hier nur eine nachgeordnete Bedeutung. Aus dieser strategisch schwachen Stellung heraus war das gesamte literarische Auftreten der Ärzte um vieles selbstbewusster als das der reformerischen Rabbiner. Dies würde allerdings noch nicht ausreichend beantworten, warum die Reformrabbiner nicht wenigstens ihr eigenes Kompetenzfeld verteidigten, wenn die Debatte davon handelte. Als Erklärung – und als zweiter Faktor für dieses unterschiedliche Auftreten – bieten sich hier Unterschiede im dama313 Ebd., S. 356. 314 Horwitz (1846), S. 338 f. Das folgende Zitat S. 345. 315 Ebd., S. 345. Dieses hebräische Gutachten von 1837 sprach sich für die Möglichkeit einer Ersetzung der Meziza aus. Dem orthodoxen Rabbi und sehr prinzipiellen Gegner von Reformen war damals offenbar nicht bewusst, dass er hier für die Reformbewegung argumentierte. Vgl. Brämer (2000). Zu Sofer s.a. Katz (1991), S. 321 f.

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ligen generellen Selbstverständnis von Ärzten und Rabbinern als jeweiligen Vertretern einer geschlossenen Berufsgruppe an. Ist es doch gerade ein Zeichen eines hohen Professionalisierungsgrades, für die eigene Berufsgruppe einen Zuständigkeitsbereich inhaltlich festzulegen und gegen Übergriffe von aussen zu verteidigen. Eben dies taten die jüdischen Ärzte in diesem Falle in ungleich höherem Masse als die Rabbiner. Ihr professioneller Status im genannten Sinne muss dementsprechend recht hoch gewesen sein – wie es auch für den Berufsstand als ganzen zutraf.316 Über die Verteidigung des eigenen, medizinischen Kompetenzbereichs hinaus ermöglichte den Ärzten ihr hoher Grad an etabliertem beruflichem Selbstbewusstsein, sich auch in berufsfremden Feldern für kompetent zu erachten und in diesem Fall sozusagen wie Rabbiner aufzutreten. Ihr genereller Bildungshintergrund als jüdische Akademiker dürfte ein Übriges getan haben. Die Rabbiner dagegen wagten es nicht, das gleiche umgekehrt zu tun, ja sie verwahrten sich nicht einmal gegen Übergriffe von Ärzten in ihre religiöse Domäne. Auch wenn ihr gesellschaftlicher Status innerhalb der Judenheit zweifellos gross gewesen sein muss, konnte ihr professioneller Status als allein kompetente Vertreter religiöser Deutungen damit offensichtlich nicht mithalten, wie ihre Autorität im Prozess der jüdischen Emanzipation ohnehin in eine Krise geriet.317 Die starke Betonung der medizinischen Argumente schwächte die Position der Reformrabbiner auch gegenüber neoorthodoxen Juden. Deren Kritik eines Verlusts des religiösen Gefühls für den rituell so zentralen Beschneidungsakt unter den Reformrabbinern wurde bereits zitiert. Darüber hinaus nutzte die Neoorthodoxie im Medium des „treuen Zionswächters“ die grössere Angreifbarkeit der Reformrabbiner in einem ihnen fremden Argumentationsfeld mit einer gewissen Häme aus. Geschickt liess sich der „treue Zionswächter“ nämlich auf die Argumentation der Breslauer Rabbinerversammlung mit den medizinischen Autoritäten ein und veröffentlichte im Dezember 1847 vier kurze, im August zuvor eingeholte medizinische Gutachten über die Meziza von Seiten der medizinischen Fakultät zu Würzburg. In diesen Gutachten „betonen die Professoren Textor, Münz und Narr sowie der Gerichtsarzt Laubreis, dass die Meziza medizinisch unschädlich, im Gegenteil sogar vorteilhaft für die Genesung des beschnittenen Kindes sei“.318 Nicht als ob die Neoorthodoxie sich nun auch noch auf medizinische Argumente und ärztliche Kompetenz einlassen wollte:319 Sie veröffentlichte diese 316 Siehe z. B. Huerkamp (1985). 317 Vgl. Schorsch (1981). Verwiesen sei auch auf das ehemalige, von Prof. Dr. Michael Brocke geleitete DFG-Forschungsprojekt über das Rabbinat im Deutschland des 19. Jahrhunderts, vor allem im Zuge der kulturellen Wandlungsprozesse des Judentums dieser Zeit. 318 Gutachten (1847). 319 Der „kompetente“ neoorthodoxe Autor liess sich in seinen beiden Artikeln nur widerwillig auf die medizinische Debatte um die Meziza ein. Die Gefahren bezeichnete er zum Teil als „fälschlich vorgemalt“. Vgl. Die Meziza (1846a), S. 290. Lediglich in einem Fall liess sich die

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Gutachten ohne weiteren Kommentar. Der Neoorthodoxe, der sie angeregt hatte (wahrscheinlich war es der anonyme „Kompetente“, der in Würzburg studiert hatte), zog den Reformrabbinern damit sozusagen den argumentativen Boden unter den Füssen weg, indem er die ärztliche Kompetenz in ihrer Widersprüchlichkeit der Lächerlichkeit preisgab. Betrachtet man alles dies in einer weiteren Perspektive, so zeigt sich, dass der kulturelle Wandlungsprozess innerhalb des Judentums zwischen der Haskala des 18. Jahrhunderts und der nachfolgenden Reformbewegung des 19. Jahrhunderts auch eine Machtverlagerung zwischen zwei jüdischen gesellschaftlichen Eliten mit sich gebracht hat.320 Die Bedeutung und das Selbstbewusstsein von Ärzten innerhalb des Judentums nahm – nicht allein im Vergleich zu den Rabbinern – in dieser Zeit deutlich zu. Sicherlich bestand in medizinisch relevanten Fragen ein traditionelles Machtgefälle: Rabbiner ordneten sich Ärzten gegenüber auch in der Vormoderne häufig unter – allein schon angesichts des „Pikkuach Nefesch” (der halachischen Erlaubnis, bei Lebensgefahr nahezu alle religiösen Ge- und Verbote übertreten zu dürfen).321 Darüber hinaus aber schuf die Reformbewegung und ihr historisches Umfeld eine zuvor so nicht gekannte Situation, wie sie nicht zuletzt der „treue Zionswächter” aufmerksam wahrgenommen hatte. Die Höherbewertung der weltlichen gegenüber der religiösen Sphäre verschaffte den jüdischen Ärzten ohnehin einen wichtigeren Status in solchen Fragen. Sie konnten zudem aus ihrer professionellen Stärke heraus selbstbewusst den Diskurs bestimmen und wurden in der Tat zu einer Art Meinungsführer in Reformprozessen. Ein Indiz hierfür ist, dass in der Beschneidungsfrage ihre Übersichtsarbeiten, vor allem die von Bergson, häufig als Hauptreferenz herangezogen wurden, und zwar nicht nur in medizinischen Fragen. Auch wenn es darum ging, wie die Beschneidung von ihrer kulturellen, historischen, und das heisst auch religiösen, Bedeutung her zu interpretieren seien, bezogen sich Autoren, sogar rabbinische, auf die Werke von Ärzten.322 Jüdische Ärzte verstanden sich nun nicht nur als medizinische Experten, sondern auch als Experten des Jüdischen überhaupt. Sie wurden eine generelle Elite und Meinungsführer im kulturellen Wandlungsprozess der Juden. Neben den sozusagen „natürlich“ legitimierten Rabbinern waren besonders sie es, die mithalfen, die jüdische Religion reformistisch umzudefinieren und damit die jüdische Kultur zu verändern. IlNeoorthodoxie auf eine medizinische Argumentation der Infektionsgefahr durch die Meziza ein. Das jüdische Blut sei, anders als die Reformer behaupteten, „bis auf seltene Ausnahmen frei von allen venerischen u. dgl. ansteckenden Krankheitsstoffen“. Beleuchtung (1847), S. 209. Anders der gemässigt konservative Zacharias Frankel. Er argumentierte gegenüber staatlichen Behörden konservativ-religiös, allerdings indem er die Wichtigkeit der medizinischen Gefahren akzeptierte, jedoch meinte, sie könnten durch schriftgetreue Befolgung der halachischen Regeln einfach umgangen werden. Vgl. Wolff (1998d). 320 Ähnlich Feiner (2012), S. 550. 321 Ich danke Dr. Carsten Wilke, Budapest, für entsprechende Hinweise. 322 Z. B. Holdheim (1844); Glassberg (1896), vor allem S. 109 – 202.

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lustrieren liesse sich dies zwar auch an den vielen Aktivitäten jüdischer Ärzte dieser Zeit jenseits der Medizin, etwa in Fragen der jüdischen Emanzipation oder der so genannten „bürgerlichen Verbesserung der Juden“. Auch dieser Prozess zeigt ein neues Verständnis von Judentum: das einer Gesellschaft, deren Eliten und Meinungsführer eher dem weltlichen als dem religiösen Bereich entstammen. Der hier vorgelegte direkte Vergleich allerdings konnte an einem Einzelbeispiel methodisch zwingender zeigen, was sonst eher das Ergebnis unsystematischer Betrachtung gewesen wäre.

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4 Die Medizin und der kulturelle Wandel im Judentum 4.1 Kompatibles Jüdischsein: Die Medizin als Kristallisationskern eines modernen jüdischen Selbstverständnisses Für eine zusammenfassende und eine darauf aufbauende Analyse der vorangegangenen Untersuchungen muss zunächst die mehrschichtige Fragestellung dieser Arbeit in Erinnerung gerufen werden. Das zentrale Interesse dieser Arbeit galt der Bedeutung der Medizin im kulturellen Wandlungsprozess des Judentums im untersuchten Zeitraum. Eine der durchgängigen Teilfragen war diejenige, ob der Wandlungsprozess einer Distanzierung vom Judentum bzw. einer jüdischen Selbstaufgabe Vorschub geleistet hat, wie es vor allem im Konzept der „Assimilation“ vertreten wird. Falls dem nicht so war, wurde gefragt, trugen die geführten Debatten dann zu einem veränderten Verständnis dessen bei, was als „jüdisch“ verstanden wurde, mithin zu einer veränderten jüdischen Identität, und wie sah diese konkret aus? Unter dem Stichwort der „Hybridisierung von Identität“ werden in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften zurzeit ähnliche Prozesse an anderen Beispielen untersucht und interpretiert. Es stand deshalb ebenfalls zur Debatte, ob das Modell hybrider Identitäten ein Instrumentarium bietet, die Wandlungsprozesse besser zu verstehen, oder andersherum, ob die hier durchgeführten Untersuchungen Anregungen für ein besseres Verständnis hybrider Identitäten geben können. Die vorangegangenen Analysen dürften deutlich gemacht haben, dass die Medizin einen der ganz zentralen Brennpunkte und frühen Implementationsbereiche des jüdischen Wegs „aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft“ darstellte. Zunächst lag die grosse Bedeutung der Medizin im kulturellen Wandlungsprozess des Judentums dieser Zeit im breiten „Eintritt“ der Juden in den Arztberuf. Mit der Möglichkeit des Medizinstudiums und der quantitativ breiten medizinischen Praxis jüdischer Ärzte entstand eine zwar nicht neue, aber doch neu formierte soziale Gruppe mit ganz bestimmten Eigenschaften, die sie zu einem starken Motor des Wandlungsprozesses machten. Jüdische Ärzte standen in einem engeren Kontakt mit der ausserjüdischen Umwelt als andere jüdische Berufsgruppen und waren mit weitgehend weltlichen Aufgaben betraut. Dies allein reichte aber nicht aus, traf dies doch beispielsweise für den Handelsberuf unter den Juden ebenso zu. Hinzu kam, dass Ärzte eine in dieser Form junge Elite unter den Juden bildeten, die über ihren Bildungsstatus, das Universitätsstudium und den wissenschaftli-

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4.1 Kompatibles Jüdischsein

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chen Hintergrund ihrer Berufstätigkeit enger mit zeitgenössischen geistigen Entwicklungen verwoben waren. Dies dürften zentrale Ursachen sein, warum, wie am Fall Berlins gesehen, fast alle jüdischen Ärzte zu den Maskilim zählten. Streng traditionalistisch orientierte Ärzte dieser Zeit, entsprechend etwa orthodoxen Rabbinern, waren dagegen nicht nachweisbar. Der kulturelle Wandel ging damit zu nicht geringen Teilen von den damaligen jüdischen Ärzten aus. Nicht nur die Ärzte als Personen, auch die Medizin als Thema trug ihren Teil dazu bei, dass dieser Lebensbereich zu einem der Brennpunkte des kulturellen Wandels im Judentum wurde.1 In jüdisch relevanten medizinischen Fragen trafen nämlich auf der einen Seite jüdische bzw. religiöse Vorstellungen, Traditionen bzw. Praktiken und auf der anderen Seite zeitgenössische weltliche Interessen stärker und direkter als anderswo aufeinander. So liesse es sich erklären, dass jüdische Reformdebatten nicht einzig in Kernzonen religiöser Praxis, etwa dem Gottesdienst, abliefen, sondern gerade auch im Themenbereich verschiedener medizinisch relevanter Fragen wie eben der Beschneidung, der Beerdigung oder dem Krankenbesuch. Diese Debatten liefen zudem nicht nur unter Ärzten ab, sondern genauso unter jüdischen Geistlichen wie Moses Mendelssohn im Fall der Beerdigungsfrage oder unter den in Breslau tagenden Reformrabbinern im Fall der Beschneidungsdebatte. Hinzu kam, dass es sich nicht einfach nur um literarische, von der realen Welt abgehobene Debatten handelte, sondern um Fragen, die sich in ganz konkreten, alltagsrelevanten Verhaltensweisen niederschlugen. Die Modernisierung des Krankenbesuchs brachte nicht einmal eine theoretische Debatte hervor. Hier zeigte sich der Wandel praktisch ausschliesslich in einer anders gelebten Praxis und wurde sogar durchgeführt, ohne dass ein direkter Einfluss jüdischer Eliten wie der Ärzte und Rabbiner bekannt ist. Der Wandel hatte unter geistigen Eliten eingesetzt und breitete sich im Untersuchungszeitraum zumindest in Ansätzen auch in weitere jüdische Kreise aus. In diesem so entstandenen Brennpunkt kultureller Wandlung wurde nun gerade anhand des Arztberufes und medizinisch relevanter jüdischer Praktiken durch konkrete Handlungen und theoretische Reflexionen intensiv verhandelt, wie sich auftuende Konflikte zwischen den Anforderungen eines wie auch immer gelebten Judeseins und zeitgenössisch gewandelten, häufig weltlichen Interessen gelöst werden könnten. Verschiedene Alternativen standen theoretisch zur Verfügung. Das eine Extrem, die Beharrung auf dem traditionalistischen Religionsverständnis, fiel in der Praxis weg, weil die beteiligten jüdischen Aufklärer und Reformer überhaupt nicht bereit waren, auf die Durchsetzung ihrer weltlichen Rationalitätsanforderungen zu verzichten. Das andere Extrem wäre eine mehr oder weniger vollständige Aufgabe jüdischer Identität gewesen. Diese hat es gegeben, doch selbst bei jüdischen 1 In diesem Sinne nennt auch Hödl (2006), u. a. S. 114, die Medizin einen „Reformmotor“ des Judentums.

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Ärzten, die zum Christentum konvertierten, liess sich noch eine identifikatorische Bindung zu ihrer jüdischen Herkunft nachweisen, wie etwa im Falle des hamburgischen Arztes Friedrich Alexander Simon. Eine abgeschwächte Variante der jüdischen „Selbstaufgabe“ konnte die konsequente Hintanstellung von Fragen des Jüdischseins oder ihre unbedingte Unterordnung unter weltliche Erfordernisse sein, ähnlich der Art, wie Moritz Mombert in der Beschneidungsfrage argumentierte. Doch auch diese noch verhältnismässig radikale Position war selten.2 Selbst der radikalste Rationalist unter den Kritikern der frühen Beerdigung, Marcus Herz, argumentierte in der Beerdigungsfrage nicht ganz so konsequent rationalistisch und wollte selbst hier religionsgesetzliche Überlegungen nicht ganz aussen vor lassen – ganz zu schweigen von seinen Kollegen, die im Beerdigungsfristenstreit praktisch alle religionsverträgliche Reformlösungen suchten und grundsätzlich im jüdischreligiösen Denksystem verbleiben wollten. Auch dass sich die beschneidungsreformerischen Ärzte zum grössten Teil für die grundsätzliche Beibehaltung der Beschneidung aussprachen und in der Regel einen grösstmöglichen Respekt vor dem Religionsgesetz für sich postulierten, zeigt, dass sie weit davon entfernt waren, ihr Judesein einfach aufgeben zu wollen. Schliesslich waren es gerade die engagiertesten Reformaktivisten unter den Berliner jüdischen Ärzten um 1800, die sich für ein jüdisches Selbstbewusstsein im Reformprozess einsetzten. Die Beteiligten dieses Wandlungsprozesses suchten also ganz dezidiert Wege, die zwischen den eher hypothetischen Extremen jüdischer „Beharrung“ und „Selbstaufgabe“ standen. Diese Wege waren durch vielfältige Versuche charakterisiert, den Konflikt zwischen neueren weltlichen und traditionell jüdisch-religiösen Wünschen und Vorstellungen miteinander zu harmonisieren. Sie stellten den weitaus grössten Teil der vorgefundenen Reaktionsweisen auf solche Konflikte dar. Im Wesentlichen bestanden diese Harmonisierungsversuche darin, das jüdische Selbstverständnis auf eine Art neu auszulegen, die ihren zeitgenössischen, meist weltlichen Vorstellungen nicht im Wege stand. Und hierin liegt die wohl wichtigste Bedeutung der Medizin im kulturellen Wandlungsprozess des Judentums dieser Zeit, die von der einschlägigen Forschungsliteratur, wie im Kapitel 1.2 skizziert, bislang eigentlich noch nicht erkannt und analysiert worden ist.3 Der Lebensbereich „Medizin“ mit angrenzenden Gebieten hatte einen nicht geringen Anteil daran, ein modernes jüdisches Selbstverständnis zu konstituieren. Dies geschah natürlich auch in anderen Lebensbereichen. In der schöngeistigen Literatur etwa sind entsprechende Teile eines neuen jüdischen Selbstverständnisses immer wieder

2 Ähnlich allgemein zu den Maskilim: Feiner (2012). 3 Efron (2001), S. 266, spricht eher allgemein von der wichtigen Rolle der jüdischen Ärzte bei der Modernisierung, Säkularisierung und Verbürgerlichung der jüdischen Gesellschaft.

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4.1 Kompatibles Jüdischsein

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beschrieben worden.4 Das Beispiel der Medizin bietet aber die Möglichkeit, dieses neue Modell auch aus einer anderen Perspektive zu beschreiben. Das neue jüdische Selbstverständnis zeichnete sich zunächst dadurch aus, dass nun inhaltlich etwas anderes unter dem verstanden wurde, was „jüdisch“ sei bzw. was den Juden zum „Juden“ mache. Die an diesem Wandlungsprozess beteiligten Juden verstanden ihr Judentum nun insgesamt zwar weniger religiös. Dies jedoch einfach nur als Säkularisierung im Sinne eines „Weniger an Religiösem“ und eines „Mehr an Weltlichem“ zu beschreiben, würde der Komplexität der Prozesse nicht gerecht werden. Ein dermassen einfacher Begriff von Säkularisierung würde zu sehr den Anschein des reinen Verlustes wecken, den dieser Wandel in der Tat aber nicht darstellte. Zunächst und vor allem ist hier ein verändertes Verständnis von jüdischer Religiosität zu nennen. Sich als mehr oder weniger gläubiger Jude zu verstehen, bedeutete für diese Juden in viel geringerem Masse die Observanz konkreter, detaillierter und formeller, häufig talmudisch begründeter und lange tradierter Regeln. Die Halacha erfuhr einen deutlichen Autoritätsverlust. Religiosität erwies sich für sie statt in konkreten Regeln eher in dem, was sie als „Essenz“ und „Wesen“ des religiösen Judentums ansahen. Dafür griffen sie statt auf talmudische Quellen lieber auf die Tora zurück und deuteten diese in ihrem Sinne. Insgesamt legten sie ihr Judentum wesentlich flexibler aus. Sie betrachteten etwa Teile der heiligen Schriften nicht mehr als geoffenbarte Wahrheiten, sondern als Dokumente ihrer Zeit. Sie interpretierten das jüdische Religionsgesetz auf eine neue Art, die ihren aktuellen Interessen eher entgegenkam. Ein deutliches Beispiel hierfür gibt Adolf Arnhold, der die religiöse Entbindung von der Beschneidungspflicht für einzelne Neugeborene aus medizinischen Gründen – zumindest was den Beschneidungszeitpunkt betraf – auf alle Kinder ausdehnen wollte und damit eines der Fundamente der traditionellen Beschneidungspraxis, die Beschneidung am achten Tag, zu verändern bereit war. Ganz besonders war den reformorientierten Juden wichtig, dass sich ihre religiöse Praxis nicht mehr ganz aus sich selbst oder aus der Tradition heraus legitimierte. Im Gegenteil stand sie sozusagen unter dem Vorbehalt der Kompatibilität mit ihren bürgerlich-aufklärerischen Vorstellungen. Eine Beerdigungspraxis etwa, die die Gefahr des von ihnen befürchteten LebendigBegraben-Werdens einschloss, konnten sie nicht mehr als verpflichtendes jüdisches Ritual akzeptieren. Die Beschneidung wollten sie nur auf eine Art gutheissen, in der sie keine Gefahr für die Gesundheit der neugeborenen Knaben sahen. Selbst Ärzte, welche die frühe Beerdigung verteidigten, legitimierten dies nun viel eher mit medizinischen, ausserreligiösen Argumenten. Damit drangen weltliche Überlegungen nun in viel stärkerem Masse als zuvor 4 Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 1.3.

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in die intimsten Bereiche bzw. die Fundamente jüdischer Ritualität und Identität vor. Schliesslich füllten diese Konstrukteure der neuen jüdischen Identität ihr Verständnis von jüdischer Religiosität mit neuen Leitwerten, die entweder dem weltlichen Bereich oder zumindest einem moralischen Zwischenbereich aus Weltlichem und Religiösem entstammten. „Humanität“ oder „Philanthropie“ sind hier die am häufigsten gebrauchten Begriffe, die eine eher aus sich selbst legitimierte Frömmigkeit ablösten. Die neuen Leitwerte bestimmten nun auch zunehmend, was die besagte „Essenz“ wahrer jüdischer Religiosität ausmachen sollte. In der organisierten Krankenversorgung etablierte sich der praktizierte Wert der Solidarität neben der traditionellen religiösen Aufgabe der Mildtätigkeit. Hinzu kamen rein weltliche Werte wie diejenigen der Bildung oder der Wissenschaft. Gemeinsam ist den hier aufgezählten Faktoren, dass jüdische Religiosität sich nun anders legitimierte als zuvor. Vereinfacht gesehen war die alte Form jüdischer Religiosität dadurch gekennzeichnet, dass sie aus der Tradition bzw. Observanz gegenüber ihrem überlieferten Regelsystem heraus begründet war, also mehr oder weniger aus sich selbst heraus. Weltliche Überlegungen waren der religiösen Logik eindeutig untergeordnet, wie im Fall des Beerdigungsfristenstreits (Kap. 3.1) der Berliner Oberrabbiner Hirschel Levin argumentiert hatte: Die halachischen Regeln müssten zwangsweise auch medizinisch vollkommen angemessen sein, weil sie ja von Gott stammten. Den ersten Schritt der Änderung in der Legitimationskette stellte der Kern der aufklärerischen Kritik am Religionsgesetz dar. Dieses könne nur akzeptierbar sein, wenn es aus weltlich-medizinischer Perspektive nicht schädlich sei. In diesem Fall standen die weltliche und die religiöse Legitimation jüdischer Religiosität sozusagen gleichberechtigt nebeneinander. Eine regelrechte Umkehrung der Legitimation jüdisch-religiösen Handelns ergab sich im nächsten Schritt, wenn ausserreligiöse Überlegungen erst die Begründung für religiöses Handeln gaben. Aus dieser Perspektive erfuhr eine jüdisch religiöse Praxis erst durch den Umstand, dass sie einem weltlichen Wert entsprach, ihre religiöse „Weihe“. Das entsprach ganz dem aufklärerischen Konzept der Vernunftreligion, etwa wenn einzelne Autoren den Sinn der traditionellen Beerdigung medizinisch legitimierten. Ähnlich lag die Argumentation, wenn die rituelle Beschneidung nicht in erster Linie als Begründung des abrahamitischen Bundes, sondern zur Verhinderung von Krankheiten verteidigt wurde. Im Sinne einer Aufklärungsreligion argumentierte auch der von Berlin nach Paris gegangene Arzt Michael Friedländer – allerdings ohne den Bezug zur Medizin – in den Anweisungen für seinen Tod (vgl. Kap. 2.1). Das Judentum legitimierte seine Existenz für ihn dadurch, dass es vorteilhaft für die Perfektionierung der Sitten und die Freiheit des Denkens sei. Strenggläubigen mögen diese Änderungen von Legitimationsketten ausschliesslich als Verlust autonomer Religiosität erscheinen. In einem weiteren

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Sinne stellen sie aber mehr als Säkularisierungen, sondern Neuformierungen eines Religionsverständnisses dar. Für die Beschreibung dieses neuen religiösen Verständnisses von Judentum ist ein weiterer Faktor von Bedeutung. Es baute zu guten Teilen auch auf dem Alten auf: Jenseits der Kompatibilitätsprobleme hielt sich die Radikalität der Reformen nämlich in deutlichen Grenzen. Gerade die Beschneidung und der Krankenbesuch geben Beispiele ab, wie sehr die Reformer darauf achteten, den traditionellen Rahmen beizubehalten. Die Beschneidung als solche stand im Wesentlichen nicht zur Debatte, und die neuen Vereine für den Krankenbesuch orientierten sich äusserlich an der Form der herkömmlichen Chewrot. Innerhalb dieses Rahmens konnte sich die konkrete Praxis, auf welche Art die Knaben beschnitten oder Kranke besucht wurden, aber sehr wohl ändern, ebenso wie die Bedeutung und das Ziel der Praktiken neu interpretiert werden konnten. Auch in der Beerdigungsfrage stand eine Bestattung nach jüdischem Ritual nie grundsätzlich in Frage, lediglich ihr „inkompatibler“ früher Zeitpunkt. Ein verändertes Verständnis dessen, was als „jüdisch“ bezeichnet wurde, fand sich allerdings nicht allein im religiösen Bereich. Ganz im Gegenteil war es ein Charakteristikum, dass „Judentum“ und „jüdische Religion“ nun weniger ineins gesetzt wurden. Diese Juden verstanden ihr Judentum nun in geringerem Masse als einen Glauben und zunehmend auch als ausserreligiös-kulturelles Faktum. Die Reformaktivisten unter den Berliner jüdischen Ärzten plädierten für ein Selbstbewusstsein der Juden als soziale Gruppe, nicht als Anhänger eines Glaubensbekenntnisses. Die Beschneidung war nun auch jenseits des „heiligen Bundes“ ein Zeichen der Zusammengehörigkeit der Juden und genauso ein Teil des ausserreligiösen jüdischen Lebenslaufs. Die Krankenversorgung wurde in den dargestellten Beispielen zu einer Praxis, die in einer säkularen Organisation auf fast die gesamte religiöse Einbindung verzichtete – und dennoch fest eingebettet in das jüdische Gemeindeleben blieb. Selbst das reformkritische Plädoyer für eine strenge Einhaltung der frühen Beerdigung wurde von einem ihrer Verteidiger nicht nur als religiöse Praxis, sondern auch als Faktor der sozialen Stabilisierung interpretiert. Darüber hinaus trat mit der jüdischen Ärzteschaft nun eine weltliche Gruppe in ungekannter Intensität auf den Plan, die an zentraler Stelle mitbestimmte, auf welche Art das Jüdischsein nun zu verstehen und zu interpretieren sei. In der Beschneidungsfrage stiegen die Ärzte auf Kosten der Rabbiner zu allgemeinen Experten des Jüdischen auf und verweltlichten auch durch ihre Personen selbst die gängige Lesart des Jüdischen. Der prominente Marcus Herz zum Beispiel wurde zum Prototyp einer weltlichen jüdischen Identifikationsperson. Möglicherweise kann man sogar darüber hinausgehen und sagen, dass mit diesen Entwicklungen der Typus des „jüdischen Arztes“ neu definiert wurde. Sicherlich hatte es in den vorangegangenen Jahrhunderten immer jüdische

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Ärzte als jüdische Elite5 und jüdische Respektspersonen gegeben. Aber ihre Autorität war häufig auch mit religiöser Kompetenz verbunden, wie etwa im prominentesten Beispiel des Mittelalters, bei Moses Maimonides. Was zwischen 1750 und 1850 begründet wurde, könnte ein Modell des „jüdischen Arztes“ als säkularer jüdischer Elite, als Meinungsführer eines säkularen Verständnisses von Judentum sein, das bis in die Gegenwart weiterwirkt. Diese Ärzte könnten in diesem Sinne das Verständnis des modernen Judentums zu wesentlichen Teilen mitbegründet haben, wie es sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhundert ausdifferenzierte, dann etwa mit ihrem Anteil an biologischen Definitionsversuchen des Judentums.6 All diese Flexibilisierungen und Umdeutungen dienten im Grunde einem Ziel. Das einigende Band dieses neuen Verständnisses von Judentum war der Wunsch, ihr Jüdischsein mit Ideen, Anforderungen und Entwicklungen ihrer Zeit vereinbar zu machen. Dazu zählte gerade die besondere Aufmerksamkeit gegenüber medizinisch-gesundheitlichen Belangen wie bei Beschneidung und Beerdigung, aber auch die Versicherung gegen das Krankheitsrisiko, ebenso wie Umwertungen von Religiösem und Weltlichem oder das Aufkommen neuer moralischer Ideale. Es war, dramatisierend formuliert, ein Weg, der das „jüdische Überleben“7 in der Moderne sichern sollte. Beinhaltete das neue Verständnis des Judeseins auch eine „körperlichere“ Identität als Juden? Diese Frage bezieht sich auf Efrons Kernaussage, dass Juden seit dem späten 18. Jahrhundert von Juden wie Nichtjuden nicht mehr nur geistig als „Volks des Buches“, sondern zunehmend auch über den Körper definiert worden seien.8 Für den hier untersuchten Zeitraum dürfte diese Entwicklung jedoch vor allem für das (hier nicht zur Debatte stehende) Fremdbild der Nichtjuden von den Juden von Bedeutung sein. Insbesondere von dieser Seite wurde das Bild des kranken, körperlich minderwertigen Juden verbreitet. Sicherlich wurde es zum Teil auch von jüdischen Autoren übernommen. Ihr Bild des krankheitsgeneigten Juden entsprach aber vor allem ihren Vorstellungen vom herkömmlichen Judentum. Das in der Literatur gängige positive jüdische Gegenmodell hierzu, das Bild eines gesunden, starken Juden, ist hingegen vor allem ein Produkt des Zionismus und liegt damit ausserhalb unseres Untersuchungszeitraums. Das positive, neue jüdische Selbstverständnis der Zeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war vielmehr das der kulturell modernisierten und damit der „kompatiblen“ Juden. Dass dieses Selbstverständnis gerade auch über Fragen der Körperlichkeit hergestellt wurde, steht ausser Zweifel, scheint mir aber für diesen Zeitraum

5 So auch Dobin (2012), S. 214. 6 Z.B. Efron (1994). 7 Dies in bewusster Anlehnung an die Arbeit von Lipp und Kaschuba „Dörfliches Überleben“ (1982), in der es um den kulturellen Wandel dörflicher Kultur auf dem Weg in die Moderne geht. 8 Efron (2001), S. 4, 63, 105.

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kein konstitutiver Teil dieses neuen Selbstverständnisses zu sein, und somit für unsere Fragestellung keinen hohen Erklärungswert zu besitzen. Das neue jüdische Selbstverständnis war zudem nicht nur durch neue Inhalte, sondern auch durch eine spezifische Struktur gekennzeichnet, die über das Prinzip der Vermischung9 von unterschiedlichen Identitäten hinausging. Über den Begriff der „Konfessionalisierung“ ist der Umstand bekannt, dass sich die jüdische Religionsausübung im Modernisierungsprozess nicht mehr wie zuvor tendenziell über alle Lebensbereiche erstreckte, sondern sich auf bestimmte Orte, etwa den privaten Raum oder die Synagoge, beschränkte. Etwas Ähnliches findet sich auch im allgemeinen jüdischen Selbstverständnis jenseits der religiösen Praxis. Anhand der Hamburger Ärzte sowie des Einzelbeispiels Phoebus Philippsohn konnte gezeigt werden, dass diese Juden in ihrer Berufsausübung oft ganz gezielt nicht als Juden in Erscheinung traten, weil sie ihre Berufstätigkeit als einen Ort verstanden, an dem ihr jüdischer Hintergrund keine Bedeutung haben solle. Sie segregierten diese Lebenswelten deutlich voneinander. Neben dem Selbstverständnis als Juden etablierten sich andere Identitäten, wie hier die Berufsidentität, stärker und abgegrenzter. Gerade das demonstrative ärztliche Standesbewusstsein und das herausragende Rollenmodell des „Gelehrten“, wie sie an den Berliner und den Hamburger Ärzten gezeigt werden konnten, waren auch Versuche, über den Aufbau einer weiteren, vom Judesein abgegrenzten und deutlich nach aussen dargestellten bürgerlich-akademischen Identität diese Trennung klar zu machen. Auf dieser Skizze aufbauend stellt sich schliesslich die Frage, was die Triebkräfte und die Ziele dieses neuen Selbstverständnisses waren. Natürlich fand dieser Prozess vor dem Hintergrund eines enormen Anpassungsdrucks von Seiten der christlichen Umwelt statt, wie er etwa am Göttinger Geburtshilfe-Professor Osiander sichtbar wurde. Um als gleichberechtigte Ärztekollegen oder auch als emanzipierte Bürger anerkannt zu werden, sollten die Juden ihr Jüdischsein in vielen Lebensbereichen negieren oder ihre jüdische Tradition im Sinne der damals gängigen aufklärerischen Werte verändern, eben sich im Sinne des damaligen Diskurses „bürgerlich verbessern“. Es ist aber eine deutliche Verkürzung, den Kulturwandel praktisch ausschliesslich auf diese latent oder manifest antijüdischen äusseren Kräfte zu reduzieren. Es greift zu kurz, etwa im professionellen Habitus jüdischer Ärzte oder dem Kampf für ein aufklärerisch-kompatibles Ritual lediglich den Wunsch nach einer Integration in die christlich-bürgerliche Mehrheitsgesellschaft zu sehen. Sicherlich wurde von einigen der zitierten jüdischen Autoren auch das Ziel der Emanzipation als Hintergrund des Engagements formuliert. Doch waren die Debatten nach innen viel zu differenziert und komplex, als dass sie nur auf die Anerkennung durch die christliche Mehrheit hätten ausgerichtet sein können. Ein kulturelles Verständnis vom Judesein oder der Wandel der Werte von der Mildtätigkeit zur Solidarität in einzelnen jüdischen Krankenunterstützungs9 Ruderman (2010), S. 159 ff.

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vereinen waren keine christlichen Forderungen im Zuge der „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden. Die ausschliessliche Erklärung des Kulturwandels als von aussen verursacht ist eine Verkürzung, die letztlich zu einer Deutung dieses Wandels als blosser Assimilation führt im Sinne einer Anpassung an etwas Fremdes und damit verbunden dem zumindest partiellen Verlust des Eigenen. Ich möchte dieser in der Literatur vorzufindenden Deutung eine andere entgegensetzen. Die Propagandisten und Praktiker des neuen jüdischen Selbstverständnisses waren zum grössten Teil Personen, die die Werte, auch die von der christlichen Elite geforderten, für sich selbst verinnerlicht hatten, und sie formulieren dies auch so. Phoebus Philippson wollte die Segregation von Judentum und „äusserer Welt“ nicht vordringlich, damit die Juden emanzipiert würden, sondern weil er keinen Platz mehr für eine jüdischreligiös durchtränkte medizinische Praxis in der Moderne sah. Die Beschneidungskritiker wollten eine andere, medizinisch verantwortbare Beschneidungspraxis vor allem, weil die herkömmliche Praxis, etwa die Meziza, ihrem ureigensten Wertekanon medizinischer Rationalität widersprach.

4.2 Gestaltete Identität statt Assimilation: Jüdischer Kulturwandel und kulturelle Hybridisierung Auf den Punkt gebracht bedeutet der untersuchte Wandlungsprozess Folgendes: Es entstand hier ein neues Verständnis des Jüdischen, das gleichzeitig alte, traditionelle wie auch neue, „fremde“ Elemente enthielt, also solche, die nicht genuin zu den wesentlichen Bestandteilen eines jüdischen Selbstverständnisses zählten. Es war entsprechend des Konzepts von Sander L. Gilman ein Selbstverständnis, das sich an der „frontier“, sozusagen der Aussengrenze des Jüdischen, in Auseinandersetzung mit anderen Einflusssphären entwickelte.10 Neben einem traditionellen Wert wie Frömmigkeit durch Einhaltung überlieferter religiöser Praktiken stand vor allem der immense Bedeutungszugewinn ausserreligiöser Werte wie z. B. „Humanität“ oder weltlicher Logik wie etwa medizinisch-gesundheitliche Rationalität, zunächst in der Form, dass das jüdische Verständnis mit diesen kompatibel sein müsse, dann einen Schritt weiter, indem sie zu einer der tragenden Säule des Verständnisses von Judentum wurden. Neben dem Verständnis des Judentums als Religion oder später im engeren Sinne als Konfession erstarkte ein Verständnis des Judentums als sozialer Gruppe jenseits des Religiösen. Neben dem Rabbiner oder allenfalls dem „frommen Juden“ als idealer Repräsentationsfigur „des Juden“ 10 Vgl. zu diesem Konzept Gilman/Shain (1999) und Gilman (2003). Dobin (2012) bezeichnet den sozialen Ort der jüdischen Ärzte ähnlich als „liminal position“.

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schlechthin stieg der weltlich orientierte „jüdische Arzt“ zu einer Art Repräsentationsfigur des modernen Verständnisses von Judentum auf. Die Aufnahme dieser neuen Elemente waren nicht einfach Anpassungen an die christliche Umwelt. Diese Elemente wurden zu grossen Teilen aus eigenem Willen und aktiv11 in das jüdische Selbstbild aufgenommen bzw. „eingebaut“ und liessen eine neue Konstellation entstehen, ein neues Selbstbild des Jüdischen. Damit aber wurden Elemente, die man für sich genommen nicht als „jüdisch“ bezeichnen würde, zu einem Teil des jüdischen Selbstverständnisses. Eine parallele, fast identische Argumentationslinie verfolgt Simone Lässig in ihrer Arbeit über die Verbürgerlichung der Juden im 19. Jahrhundert am Beispiel der Religions- und Bildungspraxis und der Etablierung einer deutschjüdischen Öffentlichkeit. Lässig kommt mit ihren Analysen zu dem Ergebnis, dass sich die deutschen Juden des 19. Jahrhunderts in noch grösserem Umfang als die deutsche Mehrheitsgesellschaft verbürgerlichten: „Die jüdische Sozialgruppe“ habe sich „vor allem durch ihr Übermass an Bürgerlichkeit“ von den Nichtjuden unterschieden.12 Diese moderne jüdische Kultur sei keine Assimilation gewesen, denn gemäss der Ausgangshypothese von Lässig „[…] erwiesen sich Bürgerlichkeit und Jüdischsein als derart kompatibel und miteinander vereinbar, dass von „Anpassung nur mit Vorsicht […] gesprochen werden kann.“13 Die moderne jüdische Kultur sei, so eines ihrer Ergebnisse, stattdessen eine eigenständige kulturelle Leistung gewesen.14 Kernpunkt dieser Leistung sei es gewesen, auf dem Weg der „Verbürgerlichung“ die neuen kulturellen Elemente effizient in das eigene Selbstverständnis als Juden einzubauen: „Verbürgerlichung erweist sich dabei als eine offene Kategorie, die […] vor allem die Transformation von solchen kulturellen Praktiken und habituellen Elementen beschreibt, die in ihrem Ursprung nicht jüdisch waren, die aber für die Bewahrung und Neukonstruktion moderner jüdischer Identitätsmuster fruchtbar gemacht wurden.“15 Lässigs zentrales Fazit lautet denn auch: „Bürgerlichkeit war – zugespitzt formuliert – auch in den Augen der ,Anderen‘ geradezu zur jüdischen Lebensnorm geworden.“16 Dieser von Lässig und auch in der vorliegenden Untersuchung verfolgte Deutungsweg erscheint mir überaus fruchtbar bei der Lösung des hier zur Debatte stehenden Kernproblems und alten Dilemmas in der jüdischen historischen Forschung, nämlich, wie der jüdische Kulturwandel im Zeitalter der Modernisierung interpretiert werden soll. Dies war bereits im Kapitel 1.3 ausführlich thematisiert worden. Auch David Sorkin, um nur einen der 11 12 13 14 15 16

Dobin (2012), S. 211, spricht von einer „complex strategy for coping with modernity“. Lässig (2004), S. 668. Lässig (2004), S. 21. Vgl. zu dieser Frage auch Maurer (1992) vor allem S. 167 – 179, S. 173. Lässig (2004), S. 666. Lässig (2004), S. 669.

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wichtigsten Vorgänger Lässigs in Erinnerung zu rufen, hatte mit dem Konzept der jüdischen „Subkultur“ innerhalb der bürgerlichen Öffentlichkeit versucht, das Problem zu lösen, dass die kulturelle Annäherung der Juden an die Mehrheitsgesellschaft im Modernisierungsprozess, konkret die dominante Rolle des Wertes „Bildung“ unter den jüdischen Reformern, vorschnell als Anpassung interpretiert wird. Die Interpretation „Bürgerlichkeit wird zur jüdischen Lebensnorm“ stellt, zugegebenermassen bewusst vereinfacht, eine Art Umkehrung der Assimilationsthese dar. Gemäss der Letzteren wurde die jüdische Kultur von einer allgemeinen Bürgerkultur quasi aufgesogen und das Judentum unkenntlich gemacht. In der Ersteren wird sozusagen die Bürgerlichkeit von der modernisierten jüdischen Kultur aufgesogen und vereinnahmt. Selbst bei Sorkins „Subkultur“-These wird der Wert der „Bildung“ sozusagen in die jüdische Identität aufgenommen. Vereinfacht gesprochen ist allen diesen Deutungen das Prinzip des schwammartigen Aufsaugens und Vereinnahmens gemein. Das Interpretationsmodell „Bürgerlichkeit wird zur jüdischen Lebensnorm“ würde aber bedeuten, dass ein moderner Jude des 19. Jahrhunderts, wenn er sich verbürgerlicht verhielt, d. h. etwa in Vereinen aktiv war oder starke Bildungsaspirationen zeigte, sich zwangsläufig immer als Jude verhielt. Das mag häufiger der Fall gewesen sein, aber war dies zwangsläufig immer und ausschliesslich der Fall? Ein solcher Jude könnte in diesem Modell nie einfach als Bürger agiert haben. Nun haben aber die vorangegangenen Untersuchungen gerade ergeben, dass die untersuchten jüdischen Ärzte zum Teil bewusst nicht als Juden, sondern in diesem Fall als professionelle Ärzte mit typisch „bürgerlichem Habitus“ wie Bildung oder Gelehrsamkeit in Erscheinung treten wollten. Ähnlich verhält es sich mit dem Phänomen der „Konfessionalisierung“. In einem konfessionalisierten jüdischen Religionsverständnis war Religiosität auf bestimmte Lebensbereiche eingeschränkt, nicht zuletzt um andere Lebensbereiche von Religiösem, und damit einem Kernbereich des Jüdischen, frei zu halten. Eine Umkehrung der Assimilationsthese mit einem sozusagen negativen „Schwamm-Modell“, wie es auch in der vorliegenden Untersuchung entwickelt wurde, greift also trotz allem immer noch zu kurz. Das bedeutet allerdings keine plumpe Kritik an der zunächst plausiblen Kernthese Lässigs und keine Demontage der hier vorgelegten eigenen Ergebnisse, sondern den Versuch, auf diesen aufzubauen und differenzierend weiter zu denken. Differenzierungen sind in der Arbeit Lässigs auch durchaus angelegt: Lässig macht in ihren Formulierungen ausdrücklich klar, dass sie „zugespitzt formuliert“ habe (s.o). Sie spricht nicht von einem einfachen „Aufsaugen“ der Bürgerlichkeit, sondern davon, dass kulturelle Praktiken und habituelle Elemente „fruchtbar gemacht wurden“ (s. o.). Dies sei in einem „permanenten

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Konstruktions- und Dekonstruktionsprozess“17 geschehen. Allerdings werden diese Differenzierungen in ihrem Modell weniger konzeptualisiert. Eine Lösung des offensichtlichen Dilemmas bietet sich in dem Begriff an, den Lässig in diesem Zusammenhang mehrfach verwendet, aber nicht genauer bestimmt: demjenigen der „hybriden Identität“.18 Aus diesem Grund soll als letzter gedanklicher Schritt dieser Arbeit die doppelte, eng aufeinander bezogene Fragestellung verfolgt werden, ob einerseits ein Verständnis des untersuchten Wandels als kulturellem Hybridisierungsprozess (in Anlehnung an Peter Burke) das Phänomen noch angemessener beschreiben kann und andererseits, ob die gewonnenen Erkenntnisse einen Beitrag dafür leisten können, ein differenzierteres Modell von Hybridisierung zu entwickeln.19 Dabei ist vorweg zu fragen, ob das hier untersuchte Phänomen überhaupt angemessen mit dem Konzept hybrider Identitäten untersucht werden kann und soll. Der postkoloniale Diskurs illustriert Hybridität in der Regel an „Paradebeispielen“ des kulturellen Kontakts, dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher regionaler und ethnischer Kulturen von ehemaligen Kolonialstaaten und ehemaligen Kolonisatoren. Um genauer zu verstehen, was Hybridität ist und wo wir sie finden, wäre aber zu fragen, wo die Grenzen von Hybridität gezogen werden können und was in diesem Sinne nichthybride Kulturen sind. So könnte man einwenden: Das hier analysierte moderne jüdische Selbstverständnis sei kein adäquates Beispiel für Hybridität; diese fände sich vor allem in gegenwärtigen, postmodernen Gesellschaften; die untersuchten jüdischen Ärzte seien keine eigentliche Minderheit, sondern innerhalb der jüdischen Minderheit die allgemeingesellschaftlich weitgehend integrierte Elite; es würden keine unterschiedlichen ethnischen Kulturen aufeinander treffen, sondern eine ethnische Kultur auf eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, etwa die Verbürgerlichung oder die Aufklärung. Zudem stelle jüdische Identität immer einen Sonderfall dar, allein schon dadurch, dass hier eine jüdisch-nationale Identität in der Diaspora keine

17 Lässig (2004), S. 665. 18 Z.B. Lässig (2004), S. 665: „Insgesamt erwies sich die Erziehung zur Bürgerlichkeit als besonders geeignete Strategie, um […] eine neue, nicht mehr allein religiös definierte, sondern hybride ,jüdische Identität‘ auszuformen.“ 19 Burke (2009). Ein wesentlicher Unterschied meines Ansatzes zu dem von Peter Burke besteht darin, dass mein Fokus auf die Frage der Identität ausgerichtet ist und Hybridität weniger über Rahmenbedingungen und Settings analysiert, als es Burke tut. Mein Ansatz fragt dafür mehr, wie Hybridität im Kern strukturell aussieht. Ähnlich ist es bei Tschernoskoshewa (2011, 2009). Ihr kulturwissenschaftlicher Ansatz zur Hybridität unterscheidet sich vom Vorliegenden dadurch, dass sie das Phänomen über die Fragen nach Differenzen, Beziehungen und Dialogen angeht, anstatt vornehmlich nach Identitäten zu fragen. Des Weiteren verfolgt sie einen eher kulturpolitisch-normativen Ansatz. Die hier vorherrschende Frage nach der Struktur des hybriden „Dritten“ steht für sie nicht so sehr im Vordergrund. Beide genannten Arbeit teilen sich mit der Vorliegenden jedoch den Versuch, bei der Analyse von Hybridität „von der Theorie zur Methode“ zu gelangen, wie es bei Tschernokoshewa (2011) im Titel heisst.

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räumliche Grundlage hatte und die ethnische Identität sehr eng mit der religiösen oder konfessionellen gekoppelt war. Im Zusammenhang dieser Frage nach der Anwendungsreichweite des Konzepts „Hybridität“ ist eine Bemerkung von Bedeutung, die einer der Hauptvertreter des postkolonialen Diskurses und der Ideen von Hybridität, Stuart Hall, vor einigen Jahren in einer Diskussion gemacht hat. Das überwiegend englische Publikum habe vehement versichert, wie „hybrid“ es sei: „Jeder wollte an dieser ominösen Marginalität teilhaben und fing an, seine eigene, marginale, hybride Position zu konstruieren.“20 Die Bemerkung zielte eigentlich darauf ab, aufzuzeigen, wie ehemals marginale Kulturen plötzlich zu Orientierungspunkten werden und damit von der Marginalität ins Zentrum rücken. Man kann die Beobachtung aber auch gegen den Strich lesen und in der Verwunderung eine implizite Annahme vermuten, dass nur oder vor allem Vertreter marginaler Kulturen hybrid sein könnten, etwa diejenige von Migranten ehemaliger Kolonialstaaten in den Metropolen der Kolonisatoren, und vor allem „Widerstandskulturen“ mit dem „subversiven“ Ziel, die hegemonialen Kolonisatoren-Kulturen aufzubrechen.21 Unter solchen politisch-strategischen Voraussetzungen ist es mehr oder weniger notwendig, den hybriden Kulturen der Marginalität nicht-hybride Kulturen gegenüber zu stellen. Ein Ansatz, der Hybridität vor allem bei Migranten findet, die im postmodernen London leben, geht implizit eher davon aus, dass die Kultur der nicht migrierten Engländer eigentlich nicht hybrid sei. Man könnte dies als ein enges oder exklusives Verständnis von Hybridität bezeichnen. Dieses zeigt sich auch in der Annahme, dass Hybridität eigentlich ein Gegenwartsphänomen sei. Geschichte dient in dieser Sichtweise vor allem als Negativ-Folie für eine hybride Gegenwart, wie ebenfalls Stuart Hall sie verwendet hat: „Wenn man seine Klasse kannte, kannte man seinen Platz im gesellschaftlichen Universum, wenn man seine Rasse kannte, kannte man seine rassische Position innerhalb der grossen Rassen der Welt […]. Wenn man sein Geschlecht kannte, konnte man sich in den umfassenden gesellschaftlichen Kategorien von Mann und Frau einordnen. Wenn man seine nationale Identität kannte, wusste man sicherlich von der Hackordnung des Universums.“22 Gerade der Umstand allerdings, dass wir viele Belege für kulturelle Hybridität in einem Untersuchungsgebiet gefunden haben, das aus der Sicht einer exklusiven Vorstellung von Hybridität gar nicht so typisch ist, macht das entgegengesetzte Modell plausibler. Diesem zufolge ist Hybridität so allgegenwärtig wie Kultur, in der Geschichte ebenso wie in der Gegenwart, in 20 Eickelpasch/Rademacher (2004), S. 110 f, Zitat S. 111. 21 Eickelpasch/Rademacher (2004), S. 107 – 110. 22 Hall (1999), S. 87 f., Zitiert auch in Eickelpasch/Rademacher (2004), S. 55. Die gesamte Arbeit von Eickelpasch/Rademacher geht im Übrigen von dem im Grunde ahistorischen Modell aus, Identitäten seien früher eigentlich homogen bzw. essentiell gewesen. Siehe z. B. ebd., S. 7, 10.

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Minderheitsgesellschaften ebenso wie in Mehrheitsgesellschaften. Man könnte es als das ubiquitäre Modell von Hybridität bezeichnen.23 In diesem Sinne gibt es keine nicht hybriden Kulturen und Identitäten, wohl aber unterschiedliche Grade davon. Ein ubiquitäres Verständnis von Hybridität steht auch nicht im Widerspruch zum historischen Prozess der Vervielfältigung und zunehmenden Hybridisierung von Identitäten auf dem Weg in die Moderne. Bei einem ubiquitären Verständnis von Hybridität ist es auch nur zu logisch, dass ,weisse Engländer‘ ebenfalls bemerken, wie ihre Kultur ein Sammelbecken unterschiedlichster kultureller Einflüsse und ihre Identität in der Regel deutlich hybrid ist. Durch ein solches offenes Modell muss Hybridität auch kein beliebiger Prozess werden. Gerade die inneren Differenzierungen (z. B. Asymmetrien) von Hybridität könnten zeigen, wie sehr Hybridisierungsprozesse auch ein Ausdruck von Macht und Einfluss sind. Das exklusive Modell von Hybridität steht demgegenüber in der Gefahr, die angeblich nicht hybriden Kulturen und Identitäten wiederum als essentielle zu konstruieren. Grundsätzlich stellt „Hybridisierung“ in seinem ubiquitären Verständnis das Zusammenkommen von Praktiken und Vorstellungen aus unterschiedlichen kulturellen Identitäten und das Entstehen einer neuen Konstellation oder gar Einheit dar. Bereits im Kapitel 1.3 war ausgeführt worden, dass die Art des Zusammenkommens, der Hybridisierung, in der Literatur häufig nicht genauer bestimmt wird. Stellt das neu Entstandene etwa ein einfaches Nebeneinander oder eine homogene Verschmelzung dar? Die in der Literatur verwendeten Metaphern wie diejenige der „Verknotung“ sind, wie bereits festgehalten, analytisch nicht sehr ergiebig. Das von mir so genannte „Schwamm-Modell“ des kulturellen Wandels würde, übersetzt in ein Modell von Hybridität, bedeuten, dass die bürgerliche Identität eine unbedingte und fest verbundene Teilmenge des modernen jüdischen Selbstverständnisses geworden und sozusagen komplett in es hinein amalgamiert sei. Ein solches Modell entspricht dem Konzept von Hybridität zumindest in der Art und Weise, dass moderne jüdische Identität hier als ein neues Selbstverständnis verstanden wird, das aus mehreren Quellen gespeist ist. Doch ein vereinfachtes Modell, demzufolge eine Mischung von Faktor „A“ und Faktor „B“ letztlich die neue Einheit „C“ ergibt, läuft Gefahr, ein in sich abgeschlossenes und damit letztlich wieder eher essentialistisches Identitätsmodell herzustellen. Die Ergebnisse der vorangegangenen Analysen haben aber gezeigt, dass vielfältigere Prozesse abliefen und „moderne jüdische Identität“ ein viel komplexeres Modell darstellt – Hybridisierung mithin als ein wesentlich komplexerer Prozess verstanden werden kann.24 Es gilt daher,

23 Ähnlich bei Burke (2009), S. 9 f. 24 Dobin spricht zwar nicht von komplexer Identität, aber doch von „complex responsibilities“, in denen sich der Triester jüdische Aufklärer-Arzt Benedetto Frizzi befand. Dobin (2012), S. 212.

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die gewonnenen Ergebnisse der hier gemachten Detailstudien vor dem Hintergrund unterschiedlicher Hybriditätsmodelle einzuschätzen. Vor allem die Debatte um die Beschneidungsreform ist ein Beispiel dafür gewesen, wie unterschiedliche Werte und mithin unterschiedliche Identitäten fest miteinander „verschmolzen“ wurden. Die Vorschläge der Reformer für eine moderne jüdische Beschneidung verbanden Elemente jüdischer kultureller Tradition – vor allem den Akt der Beschneidung an sich und sein rituelles Umfeld – mit Elementen zeitgenössisch aufgeklärter Rationalität. Das Ergebnis war eine Beschneidungspraxis, die Elemente aus beiden Wertsystemen, dem eher traditionell jüdischen und dem bürgerlich-wissenschaftlichaufgeklärten, ineinander vereinigt. Auf dem Feld der Beschneidungspraxis fand sich damit durchaus eine homogene Verbindung jüdisch-religiöser, teils jüdisch-ethnischer und bürgerlich-aufgeklärter Identität. Andere Beispiele für dieses Phänomen lassen sich anführen, etwa die Beerdigungspraxis und ausserhalb des Medizinbereichs der reformierte Synagogenbau oder die Praxis des reformierten israelitischen Gottesdienstes. Allgemein kann man die Verbürgerlichung der jüdischen Kultur grundsätzlich als einen Prozess der relativen Verschmelzung der genannten Werte und Identitäten verstehen. Das Hybriditätsmodell einer relativen Verschmelzung kultureller Werte findet sich in diesen Beispielen also zunächst durchaus bestätigt. Komplizierter als beim Beispiel der Beschneidung verhielt es sich im Bereich der Krankenversorgung. Der Übergang vom Wert der Mildtätigkeit zum Wert der gegenseitigen Solidarität unter dem Mantel der Beerdigungsbruderschaften kann einerseits als eine Art Amalgamierung des neuen Wertes in die traditionelle Kultur der jüdischen Krankenpflege interpretiert werden. Auf der anderen Seite zeigte sich, wie die organisierte Krankenversorgung in der äusseren Form, nämlich „Heiliger Gemeinschaften“ innerhalb der religiösen Gemeinde, ausgesprochen stark dem traditionellen Modell jüdischer Frömmigkeit verhaftet blieb, sich von den Inhalten her aber stark den neuen Interessen anpasste und eine fast ausschliesslich weltlich orientierte Krankenversorgung anbot. Hybridität kann in diesem Sinne also auch bedeuten, dass kulturelle Formen aus einer Quelle, die Inhalte aber aus der anderen stammen. Möglicherweise hatte die Einbettung der neuen Krankenversorgung in die traditionell religiöse Form der Chewra Kadischa auch gar nicht die Funktion, Frömmigkeit zu erhalten, sondern diejenige der Anbindung an die lokale jüdische Gemeinde. Man könnte in diesem Fall also von einer funktional differenzierten Hybridisierung sprechen. Wenn man davon ausgeht, dass die Inhalte wichtiger als die Form sind, bedeutet das darüber hinaus eine asymmetrische Hybridisierung. In beiden Fällen liegt eine Variante von Hybridisierung vor, die eine geringere Intensität der Verbindung kultureller Elemente darstellt als das einer völligen Verschmelzung. Gerade die Frage nach Symmetrie und Asymmetrie macht deutlich, dass Metaphern von Verknotung und Verschmelzung der notwendigen Feindiffe-

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renzierung von Hybridisierungsprozessen nicht gerecht werden können. Auch hierfür geben die untersuchten Beispiele der Beschneidungsdebatte oder des Beerdigungswesens gute Anhaltspunkte. Um in der Beschneidungsfrage die halachische Tradition und die medizinische Rationalität der Zeit kompatibel und damit verschmelzbar zu machen, passten die Reformer vor allem ihr Verständnis der Halacha an die neuen, weltlichen Anforderungen an. Ein umgekehrtes Verständnis, nämlich bei der Forderung nach medizinischer Rationalität Zugeständnisse zu machen und gewisse medizinische Restrisiken hinzunehmen, vertraten die Reformer eher selten. Genauso war es bei der frühen Beerdigung. Der Schutz vor dem Lebendig-Begraben-Werden dominierte als kultureller Wert eindeutig den der religiösen Tradition. Ein Hinweis auf die Seltenheit der Gefahr des Lebendig-Begraben-Werdens fand sich nur vereinzelt. Die „hybriden“ Modelle der reformierten Beschneidung und Beerdigung speisten sich offenbar nicht zu gleichen Teilen aus den beiden Quellen. Hybridisierung muss auch nicht vereinfacht als deckungsgleiches Verschmelzen von kulturellen Werten und Normen bzw. dahinter stehenden Identitäten verstanden werden. Das Eingangsproblem, dass nämlich die These „Bürgerlichkeit wird zur jüdischen Lebensnorm“, verstanden als „Aufsaugen“ von Bürgerlichkeit in die moderne jüdische Identität, zu kurz greift, kann auch darin begründet sein, dass hier von geschlossenen, scharf abgegrenzten Teilidentitäten ausgegangen wird, die nur als Ganzes betrachtet werden können. In der Tat dürften sich die Bürgeridentität und die moderne jüdische Identität miteinander verbunden haben, aber sie müssen sich nicht einfach deckungsgleich übereinander geschoben haben. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass diese Juden Formen von Bürgerlichkeit vertraten und lebten, die keine Beziehung zu ihrem Judentum hatten oder haben sollten. Hybridisierung kann in diesem Fall also auch sektoriell differenziert oder begrenzt sein. Hybridisierung muss nicht automatisch eine komplette Verschmelzung oder Amalgamierung von unterschiedlichen Normen, Werten und dahinter stehenden Identitäten bedeuten. Auch deren Nebeneinander kann als Form von Hybridisierung aufgefasst werden. Die Berliner oder Hamburger jüdischen Ärzte zum Beispiel verstanden sich nicht allein als Juden (unterschieden in „Anhänger jüdischen Glaubens“ und/oder „Menschen jüdischer Herkunft“), sondern konnten sich z. B. auch als Berliner respektive Hamburger (selbst ohne Bürgerrechte), als Deutsche (auch ohne Staatsangehörigkeit), als Ärzte, Gelehrte, Intellektuelle und auch als aufgeklärte Bürger verstehen, ganz abgesehen etwa von weiteren möglichen Teilidentitäten etwa als Männer, Ehemänner, Familienväter etc. Ein Prozess der Hybridisierung kann auch dadurch stattgefunden haben, dass neue Teilidentitäten hinzu traten oder zumindest in ihrer Bedeutung erstarkten, die zuvor im Spektrum von Teilidentitäten keine solche Rolle spielten. Die Forschung zur Geschichte der Juden hat etwa im starken Aufkommen eines deutschen Nationalismus (schon

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in der Zeit der Napoleonischen Kriege) ein deutliches Zeichen kulturellen Wandels unter den Juden Deutschlands gesehen. Dies war eine kulturelle Hybridisierung dieser Personen oder Gruppen, auch wenn die nationale deutsche und die jüdische Identität nicht völlig verschmolzen, sondern innerhalb ihres Verständnisses als Juden eher getrennt nebeneinander existierten und allenfalls in einem übergeordneten Bezugspunkt wie dem Wert der „Humanität“ verbunden wurden.25 Auf eine ähnliche Fragestellung bei dem jüdischen Philosophen des frühen 20. Jahrhunderts Franz Rosenzweig weist im übrigen Paul Mendes-Flohr hin. Rosenzweig unterscheidet bei der doppelten Identität als Jude und Deutscher zwischen verschiedenen Lesarten des „und“, dem trennenden, dem harmonisch-verbindenden und dem kreativspannungsgeladenen.26 Das im Kapitel 1.3 referierte Konzept der „situativen Ethnizität“ geht explizit davon aus, dass Teilidentitäten nicht einfach ineinander flossen, sondern ihre jeweiligen räumlichen, zeitlichen, sozialen, eben ihre situativen Orte besassen. Wenn es ein Kennzeichen modernen Jüdischseins war, in besonderem Masse bürgerliche Normen und Werte zu übernehmen, so bedeutete dies demnach nicht, dass diese jüdischen Bürger überall untrennbar als Bürger und Juden auftreten mussten. Im Gegenteil: Je nach Situation traten diese Juden gemäss dem Modell der situativen Ethnizität nur als Bürger in Erscheinung. Das in der vorliegenden Arbeit entwickelte Konzept der Segregation der Lebenswelten jüdischer Ärzte, die ihre Berufsidentität definitiv nicht mit ihrer jüdischen Identität verbinden wollten, geht in Form der willentlichen Trennung noch einen Schritt weiter. Dass diese jüdischen Ärzte sich überproportional als ärztliche Standesvertreter inszenierten und diesen Habitus gleichzeitig so deutlich von ihrem Judesein abgrenzten, war – ex negativo – sogar Teil der jüdischen Identität ihrer Zeit. Hybridisierung, d. h. das Zusammenkommen unterschiedlicher Werte und Identitäten, geschah hier eben nicht durch Verschmelzung, sondern durch eine explizite Form der Abgrenzung. Abstrakt gesprochen heisst dies, dass hybride Identitäten nicht homogen sein müssen, sondern auch situativ differenzierte Heterogenitäten aufweisen können, also eine Hybridität, die weit entfernt von Verschmelzung ist. Eine weitere mögliche Differenzierung des Hybriditätsmodells bezieht sich statt auf die Binnenstruktur hybrider Kulturen auf deren Verhältnis nach aussen, konkret auf die Frage, in welchem Verhältnis die entstandene hybride Kultur oder gar Identität zu ihren „Quellkulturen“ bzw. „Quellidentitäten“ steht. Diese Frage wird in der Literatur über Hybridität implizit oder explizit durchaus gestellt, allerdings nicht einheitlich beantwortet. Vereinfacht gesprochen sieht die eine Position vor allem die Autonomie des entstandenen „dritten Raums“ (in unserer Diktion die Autonomie der neuen Identität), 25 Siehe Krüger (2005), wie in Kapitel 1.3 dargestellt. 26 Mendes-Flohr (2004), passim, insbesondere S. 108.

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während die andere Position gerade auf dessen Verbindungen zu den anderen Kulturen abhebt. Wie im Kapitel 1.3 bereits ausgeführt, verweist die postkoloniale Theorie der Hybridität zum Teil gerade auf die wechselseitige Durchdringung verschiedener Kulturen, den permanenten Austausch und die Unmöglichkeit scharfer Grenzziehungen. Andererseits geht sie davon aus, dass mit der Entstehung hybrider Kulturen etwas Drittes, Neues und vor allem eine selbständige und eigenwertige Kultur entstehe. Das Verhältnis dieses Dritten zu den Ausgangskulturen wird im postkolonialen Diskurs zum Teil aus der Perspektive der Abgrenzung und Distanzierung zu diesen gesehen, etwa wenn Eickelpasch und Rademacher schreiben: „Kultur und Identität sind in diesem ,dritten Raum‘ aller Sicherungen durch Traditionen und Herkunft beraubt und radikal dezentriert. Sie folgen keinen vorgegebenen, historisch verankerten Mustern mehr, vielmehr entstehen ihre Bedeutungsfragmente immer erst im Moment ihrer Aushandlung.“27 Allenfalls bescheinigen sie dem Dritten eine Rückwirkung in Form eines verändernden Einflusses auf diese Ausgangskulturen. Die vorangegangenen Detailstudien zeigen in dieser Frage ein uneindeutiges Bild. Wenn Marcus Herz im Fall der frühen Beerdigung die angeblich verblendeten Rabbiner und Talmudisten als das abschreckende Gegenmodell zum aufgeklärten Denken darstellte und wenn die späteren Reformaktivisten unter den Berliner Ärzten dafür plädierten, dass die Juden „den Juden“ (in Form eines traditionellen Judentums) endgültig hinter sich lassen sollten oder bereits gelassen hätten, so war ihnen auf der einen Seite eindeutig daran gelegen, die Verbindungen ihres modernen Judentums zumindest zu einem Teil der „Quellkultur“ so konsequent wie möglich zu kappen. Auf der anderen Seite stellte das Projekt „modernes Judentum“ ja auch den Versuch dar, ein jüdisches Selbstverständnis in die Moderne retten zu wollen und damit die Basis der jüdischen Tradition im neuen Gewand weiterzuführen. Die gesamte Beschneidungsdebatte zeigte den innigen Wunsch, diesen Ritus einerseits zeitgemäss zu läutern (Dobin spricht von „harmonisieren“28), andererseits aber viele seiner Wesenselemente zu erhalten, selbst wenn dies Uminterpretationen und neue Legitimationen, ja „erfundene“ Traditionen erforderte. Vielfältige Indizien deuten darauf hin, dass ein modernes jüdisches Selbstverständnis dennoch in einem engen Verhältnis zum alten Judentum stand. Die übernommenen Anteile des „Ersten“ (oder wahlweise des „Zweiten“) im neuen „Dritten“ werden sicherlich unterschätzt, wenn man sie als blosse Bausteine für das Neue betrachtet. Sie haben sicherlich, selbst in den typischsten postkolonialen hybriden Kulturen der Gegenwart, neben allem anderen auch die Funktion, eine Brücke zur Ausgangskultur zu repräsentieren. Es liesse sich vermuten, dass das hybride „Dritte“ nie völlig autonom dasteht, sondern in der Regel Beziehungen zu den Quellkulturen aufweist. 27 Eickelpasch/Rademacher (2004), S. 107. 28 Dobin (2012), S. 211.

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Eine differenzierte Sichtweise kann in diesem Sinne zwei Varianten von Hybridität unterscheiden. Die eine, man könnte sie die eher autonome Hybridität nennen, hat ihren Schwerpunkt eher in der Abgeschlossenheit des neu entstandenen Dritten. Die andere, man könnte sie die verbindende Hybridität nennen, sieht den dritten Raum in einem engen Beziehungsgeflecht zu den Ausgangskulturen. Der Ertrag dieser abschliessenden Analyse des kulturellen Wandels im Judentum aus der Perspektive „Hybridisierung“ geht damit in mehrere Richtungen. Erstens konnten auf der Basis eines möglichst breiten und differenzierten Verständnisses von Hybridität Anregungen für die in der Literatur sonst eher vernachlässigte Frage nach möglichen Strukturmodellen von Hybridität gegeben werden, die sich gegebenenfalls auch auf völlig andere Beispiele hybrider Identitäten übertragen lassen. Zweitens ergaben sich Hinweise auf die Deutungsreichweite des Hybridisierungs-Ansatzes. Entgegen einzelnen Stimmen, die an der Fähigkeit zweifeln, ob das Modell hybrider Identitäten überhaupt als „analytisches Instrument“ eingesetzt werden könne (vgl. Kap. 1.3), zeigte sich, dass eine Analyse mit Hilfe eines möglichst differenzierten Konzepts von Hybridität ein komplexeres Bild des neu entstandenen Werte- oder Identitätsmodells zeichnen konnte. Aber eignet es sich auch als hinreichende Beschreibung dieses kulturellen Wandels? „Hybridität“ als Ergebnis mag in den Kernbereichen des postkolonialen Diskurses, etwa bei der Forschung über Migrantenkultur, eine bislang befriedigende Deutung abgegeben haben. Die dortigen Formen des Zusammenkommens kultureller Momente als etwas Drittes mögen aus heutiger Perspektive den Kern der Bedeutung dieser Kulturen ausmachen. Den Bedeutungskern des hier untersuchten modernen Verständnisses von Judentum sehe ich hingegen in mehr als nur dem Umstand, auf eine bestimmte Art „hybrid“ zu sein. Die Deutungsreichweite des Konzepts „Hybridität“ mag somit im Untersuchungsfeld des exklusiven Hybriditätsbegriffs gross sein. In den weiten Forschungsfeldern des ubiquitären Hybriditätsbegriffs dürfte die Frage nach Hybridität eher den Status eines Untersuchungsinstruments oder eines analytischen Handwerkszeugs besitzen. In diesem Sinne besteht der besagte Ertrag der Analyse des kulturellen Wandels im Judentum aus der Perspektive „Hybridisierung“ drittens darin, die Grundlage für dessen zusammenfassende Deutung vor dem Hintergrund der Fragestellung im Rahmen der Kritik am Assimilationsmodell zu bilden. Dieser kulturelle Wandel war sicherlich kein Identitätswechsel, kein Sprung in die bürgerlich-christliche Kultur unter Aufgabe der ehemaligen jüdischen Kultur, wie es eine einfache Assimilationstheorie vorgeben würde. Dieser kulturelle Wandel war auch mehr als nur die Selbstbehauptung einer jüdischen Subkultur (im Sinne von Sorkin) innerhalb einer allgemeinen Bürgerkultur. Dieser kulturelle Wandel war zudem mehr als die Integration bürgerlicher Kultur in das jüdische Selbstverständnis (im Sinne von Lässig). Schliesslich war dieser Kulturwandel auch mehr als nur das Zusammenkom-

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men, Verschmelzen oder Verknoten alter und neuer kultureller Elemente in einem einfach verstandenen hybriden „Dritten“, dem modernen jüdischen Selbstverständnis. Dieser kulturelle Wandel beinhaltete Teile all der genannten Prozesse, aber keinen von ihnen alleine, im Gegenteil sogar noch mehr als die genannten. Und genau hier setzt auch meine Skepsis an der Vorstellung an, die Peter Burke von Hybridität hat. Er reduziert das entstandene „Dritte“ (bei aller Differenziertheit seiner gesamten Argumentation) letztlich und eher knapp auf das Extrem einer „creolization oft the world“, indem er sie von drei anderen für die Zukunft angenommenen weltweiten kulturellen Prozessen abgrenzt, nämlich von der Homogenisierung („cultural homogenization“), von Gegenbewegungen gegen solche Homogenisierungsprozesse („counter-globalization“) und dem Entstehen von Parallelkulturen („cultural diglossia“).29 Ich halte dem entgegen, dass dieses „Dritte“ und damit Hybridität in einem weiten und differenzierten Verständnis, wie es in dieser Arbeit entwickelt wurde, immer auch Elemente der Homogenisierung, der Selbstbehauptung und der Parallelität beinhaltet. Dieses moderne jüdische Selbstverständnis war eine ganz spezielle Kombination verschiedener kultureller Faktoren. In diesem „Dritten“ kamen durchaus unterschiedliche Werte oder Identitäten zu einander, aber sie taten es nicht vollständig, gleichgewichtig und homogen. Jüdische und bürgerliche Identität etwa schoben sich nicht deckungsgleich übereinander bzw. ineinander, so dass diesen Juden Sektoren und Situationen für ein „Bürgertum ohne Judentum“ blieben, also Bereiche, in denen Assimilationsvertreter eben diese „Assimilation“ entdecken würden. Gleichzeitig kann es gut auch „Judentum ohne Bürgertum“ gegeben haben, also Lebensbereiche, in denen alte Vorstellungen und Praktiken relativ unverändert durch die Moderne weiter praktiziert wurden. Dass diese in den gemachten Detailstudien kaum in Erscheinung traten, muss nicht heissen, dass es sie nicht gegeben hat. Diese Studien haben fast ausschliesslich den öffentlichen Raum untersucht. Traditionale Religiosität kann sich hingegen im privaten Leben (und damit vielleicht mehr im Judentum der Frauen) eher gehalten haben. Darauf deuten etwa Untersuchungen von Marion Kaplan hin.30 Dieser kulturelle Wandel spielte sich auch durchaus auf die Art ab, wie sie David Sorkin beschrieben hat. Gerade der Reformdiskurs unter den Juden war ja nur zum Teil auf die christliche Bevölkerungsmehrheit ausgerichtet. Häufig waren es Debatten unter aufgeklärten Juden, die in diesem Sinne eine jüdische „Subkultur“ der Aufklärer bildeten. Darüber hinaus bildeten sich auch durchaus Formen im Sinne kultureller Hybridisierungen. Die modernisierten Praktiken der Beschneidung oder des Krankenbesuchs waren zum Teil „Hybride“ in dem Sinne, dass hier mehr als eine Mischung entstand. Sie waren in gewissem 29 Burke (2009), S. 102 – 115. 30 Kaplan (1997).

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Sinne auch autonom-hybride Sinn-Einheiten von zum Beispiel „medikalisiertem Jüdischsein“ oder „modern ökonomisiertem Jüdischsein“. Gleichzeitig bedeutete das Entstehen einer modernen jüdischen Identität als kultureller Einheit keinen vollständigen Bruch mit dem vorangegangenen Selbstverständnis, sondern war eine Mischung aus Neupositionierung und Weiterführung bestehender Teile von jüdischem Selbstverständnis. Doch auch dies alles wird der Komplexität dieses Kulturwandels noch nicht gerecht, denn die „Zutaten“ der Mischformen konnten eine unterschiedlich grosse Durchsetzungskraft besitzen. Im Konfliktfall konnten sich die weltlich-aufklärerischen Normen ja stärker in das „hybride Dritte“ einbringen als die religiösen bzw. ethnischen und lieferten eher die Inhalte, während für die letzteren zum Teil „nur“ die Funktion des Zulieferns eines formellen, organisatorischen Rahmens blieb. Wie liesse sich ein solches komplexes Modell griffig benennen? Für die meisten nahe liegenden Metaphern ist das Modell einfach zu komplex. Es ist weit mehr als eine Mischung bzw. ein „Amalgam“, mehr als eine „Verknotung“ oder „Verzahnung“. „Patchwork“ zielt auf die Vielfalt nebeneinander stehender Anteile ab, was hier nicht der Fall ist. „Collage“ kommt dem Gesuchten näher, aber es assoziiert zu sehr die Vielfalt und Unstrukturiertheit. Das Bild des „Mobiles“ hätte den Vorteil, die gegenseitige Abhängigkeit der Faktoren und die Vorläufigkeit des jeweils entstehenden Gleichgewichts zu benennen, aber es übersieht das vorgefundene Nebeneinander aus Trennung und Verbindung. Die beliebte kulturwissenschaftliche Metapher des „Bastelns“, der „Bricolage“, hebt mehr auf das Spielerisch-Unsystematische und teils das Widersprüchliche ab, was hier nicht im Vordergrund stehen soll. Das Bild des „Gewebes“ würde relativ weit tragen, aber letzten Endes doch vor allem das Zusammenhängende betonen, wo es auch eindeutige Trennungen gibt. Auch abstraktere Begriffe können nicht befriedigen. Der von Sorkin benützte Begriff der „Transformation“ zielt auf eine wertfrei beschriebene Veränderung ab, gibt aber keinen Hinweis auf Form und Inhalt des neu Entstandenen. Der Begriff der „Konstruktion“ schliesslich ist durch die konstruktivistische Theorie eindeutig belegt. Möglicherweise ist dieses neue jüdische Selbstverständnis mit der Metapher eines gebauten Hauses annähernd angemessen beschrieben. Das „hybride“ Haus der modernen jüdischen Identität könnte demnach aus „alten“ und „neuen“ Bauteilen zusammengesetzt gewesen sein, also aus herkömmlichen jüdischen Praktiken und Vorstellungen und neu hinzugekommenen, meist weltlich-rationalen Ideen. Manche der alten Bauteile bekamen einen neuen Anstrich, etwa wenn halachische Regeln modern-medizinisch legitimiert wurden. Manche neuen Bauteile wie die Idee der „Humanität“ wurden zum Teil auch als alte ausgegeben. Alte Bauteile dienten innen manchmal eher als Fassade, um sich im gewohnten Umfeld zu fühlen, während die neuen Bauteile eher als tragende Wände Verwendung fanden. Nach aussen konnte es

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umgekehrt sein und die neuen Bauteile eher die Funktion einer Fassade übernehmen, um vor den (christlichen) Nachbarn modern zu erscheinen. In manchen Räumen mischten sich alte und neue Bauteile so stark, dass bei der Gesamtsicht der Eindruck eines eigenen, neuen Baumaterials entstand. Manche Räume des Hauses bestanden dagegen ausschliesslich aus alten, manche hingegen nur aus neuen Bauteilen. Manche der Räume waren mit weiten Durchgängen verbunden, während andere durch türlose Wände voneinander getrennt waren. Reduziert auf einen Begriff liesse sich somit sagen, dass das moderne jüdische Selbstverständnis, wie es aus den Detailuntersuchungen herausgearbeitet wurde, das Ergebnis eines komplexen Prozesses von Entwurf, Gestaltung und Konstruktion war. Moderne jüdische Identität hatte demnach – um die eingangs eingeführte Metapher mit mittlerer heuristischer Reichweite wieder aufzugreifen – eine eigene Architektur mit allen Bedeutungen und Assoziationen dieses Begriffes. Architektur ist eine komplexe Aufgabe, die Schaffung von etwas Neuem in der Regel aus unterschiedlichen Ideen und Materialien, das immer auch Bezüge zum bereits Bestehenden hat. Architektur vereinigt vielfältige ästhetische und funktionale Aufgaben. Sie hat in der Regel die hauptsächliche Funktion, Grundbedürfnisse, insbesondere das von Sicherheit im weitesten Sinne, zu gewährleisten. Das moderne jüdische Selbstverständnis war nur zum Teil ein gebautes Haus, in anderen Teilen hatte es mehr den Charakter eines Bauvorhabens. Es sollte den Bewohnern eine zeitgemässe Unterkunft bieten, ohne dass sie sich darin allzu fremd fühlten. Je nach Bedürfnis konnte man sich in unterschiedlichen Räumen aufhalten. Wie jedes Haus hatte es die hauptsächliche Funktion, ein sicheres Dach über dem Kopf zu bieten, um verschiedenen Bedürfnissen nachkommen zu können. Es ist allerdings nicht gesagt, ob es alle seine Funktionen erfüllt hat und immer stabil war. Auch war es nicht für die Ewigkeit gedacht. Jenseits der Metapher bedeutet dies: Die Haupteigenschaft des modernen jüdischen Selbstverständnisses dürfte darin gelegen haben, mit neuen Vorstellungen auf die Anforderungen der Zeit einzugehen, ohne gleichzeitig Traditionen einfach abbrechen zu wollen, sondern sie in anderer Form weiterzuführen. Das nicht per se harmonische31 Modell sollte gegenläufige Interessen integrieren, widerstrebende Kräfte harmonisieren und Spannungen abmildern. Das moderne jüdische Selbstverständnis wäre in diesem Sinne verstanden ein flexibles Modell der versuchten Stabilisierung jüdischer Identität im historischen Wandel. Es wäre zu überprüfen, ob Identitätskonstellationen nicht allgemein das Ergebnis des Versuches sind, das eigene Selbstverständnis in Einklang mit allen auf sie einwirkenden Kräften zu bringen – und es kompatibel mit eigenen Wünschen wie auch der sie umgebenden Realität zu machen, nicht nur in der jüdischen Kultur, sondern auch im Ver31 Emeliantseva (2009), S. 53.

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hältnis anderer Religionen/Konfessionen zur restlichen Alltagswelt – und letzten Endes in den verschiedenen Bereichen der gesamten Alltagswelt selber. Ermöglicht wurde das hier vorgelegte Ergebnis insbesondere von der synergetischen Kraft einer multidisziplinären Perspektive der Jüdischen Geschichtsschreibung, der Medizingeschichte und nicht zuletzt der Kulturwissenschaft/Volkskunde. Ihr wechselseitiger Erkenntnisgewinn spiegelt sich etwa darin, dass die Arbeit von Ansätzen der kulturwissenschaftlichen Hybriditätsforschung profitiert hat, dass sie andersherum derselben aber auch Anregungen für ihren eigenen Hybriditätsbegriff anbieten kann.

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Literatur Archivalische Quellen Dresden Stadtarchiv : Ratsarchiv, Sig. C. XLII 42 Gçttingen Universitätsarchiv : Promotionsakte Joseph Jacob Gumprecht Kuratoriumsakten, Sig. 4 IV a 20 Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen: „Tagbücher des Königlichen Entbindungshospitals zu Göttingen“, Bände der Zeiträume 1799 – 1800, 1801 – Oktober 1802, September 1809, 15. August 1811 – Ende 1812, September 1816 – Juli 1818, 1818 – 1820, Juni 1820 ff. „Hauptbuch“, 1791 – 1812 „Tagebuch des Kgl. Clinischen Instituts zu Göttingen im Winterhalbjahr 1792/93“ Hamburg Institut für Geschichte der deutschen Juden: Transkription des Testaments von Aaron Gumpertz von 1769, Sig. 04 – 010.7 Staatsarchiv : Testament Leo-Wolf, William, vom 6. 11. 1848, Sig. 232 – 3 Testamentsbehörden. Alphabetische Serie Testament Löser Wolf, Sig. B 756, Niedergericht Hannover Stadtarchiv : Bestand Repro Kirchenbücher V Hannover 166, 1815 – 1828 I New York Leo Baeck Institute: Biographie Daniel Rudolf Warburg, Warburg Collection, ME 664 Manuskript: Eduard Duckesz und Otto Hintze: Geschichte des Geschlechts

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Literatur

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