Die Architektur politischen Handelns: Machiavellis "Il Principe" im Kontext der modernen Wissenschaftstheorie 9783495997123, 3495481273, 9783495481271


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Table of contents :
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Anstatt eines Vorworts
I. EINFÜHRUNG
1.0 Zum Gegenstand der Arbeit und erste Vorabklärungen
2.0 Einige Bemerkungen zur Verortung und Methode der ›wissenschaftlichen‹ Analyse klassischer politischer Theorien
2.1 Eine methodische und klassifikationsbezogene Vorentscheidung
2.2 Klassische politische Theorien zwischen Philosophie und Politikwissenschaft
3.0 Zum Analysegegenstand Niccolò Machiavelli
4.0 Zur Rekonstruktionsstrategie von Niccolò Machiavelli’s politischer Handlungslehre
5.0 ZurWahl der Strukturalistischen Theorienkonzeption als Rekonstruktionsansatz
6.0 Abschließende Bemerkungen zum epistemologischen Stellenwert von rationalen Rekonstruktionen
7.0 Aufbau der Arbeit
II. METATHEORETISCHE GRUNDLAGEN
Kapitel 1 Zu den Konzepten ›Formalisierung‹ und ›rationale Rekonstruktion‹
1.0 Einleitende Vorbemerkungen
1.1 Zur methodologischen Relevanz der Formalisierung wissenschaftlicher Theorien
1.1.1 Zum Begriff der Formalisierung und seiner Relation zur Mathematik
1.1.2 Zur informellen Axiomatisierung einer wissenschaftlichen Theorie mittels eines mengentheoretischen Prädikats
1.1.3 Zur wissenschaftlichen Relevanz von Formalisierungen
1.2 Zum Begriff der ›rationalen Rekonstruktion‹ (von Theorien) und seiner wissenschaftstheoretischen Anwendungsweisen
1.2.1 ›Rationale Rekonstruktion‹ undWissenschaftstheorie. Einleitende Vorbemerkungen
1.2.2 Determinanten der ›rationalen Rekonstruktion‹ : Logik und Axiomatisierung
1.2.3 Zum Begriff der ›rationalen Rekonstruktion‹ unter systematischen Gesichtspunkten
1.2.3.1 ›Rationale Rekonstruktion‹ als Prozeß und als Ereignis
1.2.3.2 Rekonstruktionstypologie
1.2.3.3 Elemente und Adäquatheitskriterien rationaler Rekonstruktionen
1.2.4 Zum Begriff der ›rationalen Rekonstruktion‹ unter diachronen Gesichtspunkten: Rekonstruktionstheorien/- modelle
1.2.5 Zur ›rationalen Rekonstruktion‹ wissenschaftlicher Theorien
Kapitel 2 Grundzüge der Strukturalistischen Theorienkonzeption
2.0 Einleitende Vorbemerkungen
2.1 Zur Unterscheidung von ›Aussagenkonzeption wissenschaftlicher Theorien‹ und dem strukturalistischen Ansatz
2.2 Zum Begriff der ›wissenschaftlichen Theorie‹ in der Strukturalistischen Theorienkonzeption
2.2.1 Grundlegendes
2.2.2 Zur Einführung einer wissenschaftlichen Theorie in die Forschungspraxis unter strukturalistischen Gesichtspunkten
2.3 Die Grundstruktur einer wissenschaftlichen Theorie in der Strukturalistischen Theorienkonzeption (I): Systematische Aspekte
2.3.1 Die Grundstruktur eines Theorie-Elements: Mathematischer Strukturkern und intendierte Systeme
2.3.2 Die Grundelemente eines Theorie-Netzes: Theorie-Elemente und intertheoretische Relationen
2.3.2.1 Theorie-Netze als strukturierte Mengen von Theorie-Elementen
2.3.2.2 Die Verallgemeinerung des Konzepts der Theorie-Netze
2.4 Die Grundstruktur einer wissenschaftlichen Theorie in der Strukturalistischen Theorienkonzeption (II): Diachrone Aspekte
2.4.1 Von der synchronen zur diachronen Darstellung wissenschaftlicher Theorien
2.4.2 Die Konzeption der Theorie-Evolution
Kapitel 3 Idealisierte Modelle
3.0 Einleitende Vorbemerkungen
3.1 Der Modellbegriff – seine Semantiken und einige Anwendungsweisen
3.1.1 Eine erste Annäherung an den Begriff des Modells
3.1.2 Zu einer Systematik des Modellbegriffs
3.1.3 Zum Gebrauch von Modellen in den Erfahrungswissenschaften unter primär vorstrukturalistischen Gesichtspunkten
3.2 Zum verwendeten Modellbegriff: Das Modell-Element
3.3 Was ist ein idealisiertes Modell?
3.4 Bemerkungen zur methodologischen Funktion von idealisierten Modellen in der Theoriekonstruktion und -rekonstruktion
III. POLITISCHES HANDELN UND MACHT
Kapitel 4 Politisches Handeln
4.0 Einleitende Vorbemerkungen
4.1 Zum begriffstheoretischen Status der Entität ›Handlung‹
4.1.1 Der Begriff der Handlung, seine Semantiken und Problembereiche aus analytischer Sicht
4.1.2 Existiert eine innere Seite von Handlungen, und wenn ja, welche?
4.1.3 Welche inneren Momente sind für Handlungen konstitutiv?
4.1.4 Aus welchen personalbezogenen Prozessen besteht eine Handlung?
4.1.5 Sind Handlungen kausal determinierbar?
4.1.5.1 Zum Problem der Kausalität. Eine wissenschaftstheoretische und -philosophische Betrachtung
4.1.5.1.1 Zum Begriff des Kausalgesetzes
4.1.5.1.2 Zum Begriff der kausalen Erklärung
4.1.5.1.3 Zum Begriff der Ursache
4.1.5.1.4 Zum Prinzip der Kausalität
4.1.5.2 Kausalitätsprobleme in der Klärung von Handlungen
4.1.5.3 Zur Erklärung einer Handlung
4.1.5.3.1 Zur Erklärung einer Handlung (I): Absicht als Ursache
4.1.5.3.2 Zur Erklärung einer Handlung (II): Absicht als Grund
4.1.5.3.3 Zur individuellen Kausalrelation und zur Position des praktischen Syllogismus
4.1.5.3.3.1 Bemerkungen zur individuellen Kausalrelation
4.1.5.3.3.2 Bemerkungen zur Position des praktischen Syllogismus
4.1.6 Was zeichnet eine Handlung als rational aus?
4.1.7 Sind Handlungen (nur) verstehbar und/oder (nur) erklärbar?
4.2 Zum metatheoretischen Status von Handlungstheorien
4.3 Zur Unterscheidung von konkreten Handlungen und Handlungstypen
4.4 Zur Beschreibung von Handlungen durch Propositionen
4.5 Was zeichnet Handlungen als politische Handlungen aus?
4.5.1 Annäherungen an den Terminus ›politische Handlung‹
4.5.2 Zur Analyse ›politischen Handelns‹ : Dimensionen des Politikbegriffs und Diskussion metatheoretischer Zugangsweisen
Kapitel 5 Macht
5.0 Einleitende Vorbemerkungen
5.1 Grundstruktur eines einfachen Basis-Modells politischer Macht
5.1.1 Definition eines politischen Handlungsraums
5.1.2 Definition eines potentiellen Modells politischer Macht
5.1.3 Definition eines Basis-Modells politischer Macht
5.1.4 Definition eines Modell-Netzes politischer Macht
5.2 Machtmodelle und Machtmittel
5.2.1 Zur Relation von Machtmodellen und Machtmitteln
5.2.2 Definition eines um Machtmittel erweiterten Modell-Netzes politischer Macht
5.3 Strategieraum und Strategien
5.3.1 Strategien
5.3.2 Strategieraum
5.3.3 Definition eines Basis-Modells einer politischen Machtstrategie
5.4 Ein Rekonstruktionsbeispiel: Machiavelli’s Memoranden zum florentinisch-pisanischen Konflikt
IV. MACHIAVELLI’S POLITISCHE HANDLUNGSLEHRE IM IL PRINCIPE
Kapitel 6 Eine informelle Rekonstruktion der politischen Handlungslehre von Machiavelli
6.0 Einleitende Vorbemerkungen
6.1 Einige biographische Anmerkungen zu Niccolò Machiavelli
6.2 Zur Methode Machiavellis
6.3 Zur Anthropologie Machiavellis
6.4 Die Gundbegriffe der politischen Handlungslehre Machiavellis
6.4.1 Machiavelli’s Grundbegriffe (I): Eine allgemein-einführende Darstellung
6.4.2 Machiavelli’s Grundbegriffe (II): Zur Problematik von Machiavelli’s virtù-Begriff
6.4.2.1 Allgemeine Bemerkungen zu virtù
6.4.2.2 Alternative Interpretationen von virtù
6.4.2.2.1 Virtù im Kontext des COCTA-Programms der Analyse sozialwissenschaftlicher Begriffe
6.4.2.2.2 Zur Diskussion von virtù im Rahmen einer pluralen Referenztheorie für wissenschaftliche Terme
6.4.2.2.3 Zur Diskussion von virtù als einem Dispositionsbegriff
EXKURS Zum strukturalistischen Theoretizitätskriterium
§ 1 Sneed’s Kriterium für Theoretizität
§ 2 Das Problem der theoretischen Begriffe
§ 3 Die Lösung des Problems der theoretischen Begriffe
§ 4 Der verbesserte RAMSEY-Satz durch Sneed
6.4.2.2.4 Anmerkungen zur Bestimmung von virtù als T-theoretischen Term in Machiavelli’s Handlungstheorie
6.4.3 Machiavellis Grundbegriffe (III): Anmerkungen zu Machiavelli’s fortuna-Begriff
Kapitel 7 Die Architektur politischen Handelns im Il Principe
7.0 Einleitende Vorbemerkungen
7.1 Zur Genese und Interpretation des Il Principe
7.2 Zu Inhalt, Aufbau und Struktur des Il Principe
7.3 Ein Re-Strukturierungsrahmen für den Il Principe und erste Ergebnisse
7.4 Ein idealisiertes Modell der politischen Handlungslehre in Machiavelli’s Il Principe
7.4.1 Skizze der Prinzipien und Grundbegriffe von Machiavelli’s politischer Handlungslehre
7.4.2 Ein idealisierter politischer Handlungsraum im Sinne Machiavellis
7.4.2.1 Bestimmung der Grundbegriffe und Basis-Relationen
7.4.2.2 Definition eines idealisierten politischen Handlungsraums
7.4.3 Idealisierte potentielle Modelle
7.4.4 Idealisierte Modelle
7.5 Rekonstruktionen und Konkretisierungen (I) [Il Principe, Kap. I–XI]
7.5.1 Gliederung der Handlungskontexte
7.5.2 Handlungstypen und Handlungsregeln
7.6 Rekonstruktionen und Konkretisierungen (II) [Il Principe, Kap. XII–XIV]
7.6.1 Militärische Mittel der Machterlangung und -erhaltung: Truppentypologie
7.6.2 Militärische Eigenschaften eines idealen Fürsten
7.7 Rekonstruktionen und Konkretisierungen (III) [Il Principe, Kap. XV–XXIII]
7.7.1 Einleitende Vorbemerkungen zur Unterscheidung von Moral und Ethik in Machiavelli’s Il Principe
7.7.2 Die Verhaltenseigenschaften eines idealen Fürsten
7.8 Ein strukturalistisches machiavellianisches polititisches Handlungsmodell
7.8.1 Einleitende Vorbemerkungen: Die Konkretisierung idealisierter Modelle
7.8.2 Ein politischer Handlungsraum im Sinne Machiavellis
7.8.3 Partiell potentielle Modelle
7.8.4 Potentielle Modelle
7.8.5 Modelle
7.9 Intendierte Systeme
7.10 Ein Basis-Theorie-Element der politischen Handlungslehre von Machiavelli
7.11 Abschließene Bemerkungen
Zusammenfassung und Ausblick: Klassische politische Theorien und moderne Wissenschaftstheorie
Literatur
Danksagung
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Die Architektur politischen Handelns: Machiavellis "Il Principe" im Kontext der modernen Wissenschaftstheorie
 9783495997123, 3495481273, 9783495481271

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Volker Dreier

Die Architektur politischen Handelns Machiavelli’s Il Principe im Kontext der modernen Wissenschafttstheorie

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997123

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Volker Dreier Die Architektur politischen Handelns

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Über das Buch In diesem Buch wird mit dem metatheoretischen Ansatz der strukturalistischen Wissenschaftstheorie am Beispiel von Niccolò Machiavellis Il Principe eine alternative Methode zur rationalen Rekonstruktion klassischer politischer Theorien vorgestellt. Der Schwerpunkt der Rekonstruktion liegt auf der im Il Principe in nuce angelegten politischen Handlungstheorie. Der Autor zeigt in seiner Rekonstruktion, wie ein klassisches ideengeschichtliches Erkenntnisprodukt in eine moderne politikwissenschaftliche Theorie „übersetzt“ werden kann. Damit verbunden ist der Nachweis, daß das Instrumentarium der modernen Wissenschaftstheorie zur Rekonstruktion und Präzisierung klassischer politischer Theorie fruchtbar herangezogen werden kann. Der Autor Privatdozent Dr. rer. soc. Volker Dreier, geb. 1958, lehrt Soziologie und Politikwissenschaft an den Universitäten Jena und Tübingen.

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Volker Dreier

Die Architektur politischen Handelns Machiavelli’s Il Principe im Kontext der modernen Wissenschaftstheorie

Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997123 .

Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung in Bonn.

Texterfassung: Autor Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2005 www.verlag-alber.de Einbandgestaltung und Satz: SatzWeise, Föhren Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2005 www.difo-druck.de ISBN 3-495-48127-3

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Für meinen fantastischen Lehrer und kritischen Freund Nikolaus Wenturis in stetiger Erinnerung und für NICOLA und die Träume der Lilien

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Anstatt eines Vorworts

How does it feel How does it feel To be on your own With no direction home Like a complete unknown Like a rolling stone? BOB DYLAN

In der Serie Woher kommt Europa? des Wochenmagazins DER SPIEGEL aus dem Jahre 2002 finden wir in ihrem fünften Teil mit dem Titel Die Erfindung des Staates 1 auf Seite 154 folgenden Eintrag zu Niccolò Machiavelli: »NICCOLÒ MACHIAVELLI. Zyniker der Macht – 1469 bis 1527. Fürst der Finsternis oder Pragmatiker der Macht? Der Name Niccolò Machiavelli wurde zum Synonym für eiskaltes Machtkalkül. Dabei war der Aristrokratensohn in Florenz Minister einer Republik (sic!) 2 , die gerade die tyrannische Herrschaft der Medici abgeschüttelt hatte (sic!) 3 . Der für Verwaltung und Verteidigung zuständige Machiavelli kämpfte, um Italien von Söldnerheeren zu befreien, warnte die Fürsten, sich den Hass des Volkes zuzuziehen. Und es war immerhin ein Stadtstaat aufrechter Rebellen (sic!) 4 , den der (Schulze, 2002). Machiavelli war nie Minister in der florentinischen Republik, sondern 1498–1512 Sekretär der Republik, Leiter der Seconda Cancelleria und Sekretär delle Dieci di Balia und in all’ diesen Funktionen ohne exekutive Gewalt. 3 Nach dem Sturz der Medici 1494 errichteten nicht rebellische florentiner Bürger eine Republik in der Arnostadt, sondern der Dominikanermönch Savonarola eine theokratische Republik, die bis 1498 andauerte (siehe dazu bspw. (Schnitzer, 1924:Kap. X)). Erst danach, also vier Jahre nach dem Sturz der Medici, kann im engeren Sinne von einer Republik Florenz gesprochen werden, in der Machiavelli einen administrativen Posten erhielt. 4 Inwieweit die Republik Florenz als ein Stadtstaat aufrechter »Rebellen« bezeichnet werden kann, erscheint uns sehr dubios, wenn wir unter dem Begriff ›Rebell‹ einen Aufrüher verstehen, denn Aufrüher waren die regierenden Bürger von Florenz keineswegs. 1 2

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später als Machtzyniker Verrufene auf Verhandlungsreisen zu den Höfen von König, Kaiser und Papst vertrat. Die Medici kehrten jedoch zurück an die Macht und verbannten den Rebellen (sic!) 5 auf sein Landgut. Als er keine Politik mehr machen durfte, schrieb er über das Geschäft der Politiker. Und erst da wurde er zum Namenspaten des Adjektivs ›machiavellistisch.‹ Machiavellis Themen waren die Geschichte und – in den ›Discorsi‹ – republikanische Prinzipien. Daneben entstanden aber auch Abhandlungen über Erwerb und Erhalt von Macht. Damit stieß er eine bis heute polarisierende Debatte über politische Kultur (sic!) 6 in Europa an. Vor allem Machiavellis Buch ›Der Fürst‹ enthält anrüchig wirkende Freibriefe für Regierende – das Staatsinteresse über Recht und Gewalt zu stellen, zum höheren Wohl Gewalt anzuwenden, Ehrbarkeit allenfalls als Deckmantel abgefeimter Machenschaften zu praktizieren. Der Staat, so die Botschaft des Ruheständlers, sei notfalls von ethischen Normen freigestellt, moralische Konzessionen in der Politik begünstigen nur den Aufstieg noch skrupelloser Gegner. Seither herrscht Streit, ob der Florentiner als Stichwort-

Es erscheint uns sehr zweifelhaft, Machiavelli als einen Rebellen zu bezeichnen. Zum einen, weil er sich stets für den Erhalt und die Stabilität der Republik einsetzte, zum andern aber auch, weil er nach der Rückkehr der Medici 1512 und seiner damit verbundenen Entlassung aus dem Staatsdienst nicht gegen diese opponierte, sondern sich bemühte, teilweise auch sehr devot, wieder eine Stellung im Staatsdienst zu erlangen; siehe dazu bspw. den Brief von Machiavelli an Vettori vom 20. 12. 1514, in dem er u. a. schreibt (Machiavelli, 1999b-7:345): »E se la fortuna avessi voluto ch’e’Medici, o in cose di Firenze o di fuora, o in cose loro particulari o publiche, mi avessino una volta commandato, io sarei contento. Pure io non mi diffido ancora affatto« oder die dem Il Principe vorangestellte Widmung an Lorenzo de’Medici, die mit folgender abschließender Bemerkung schließt (Machiavelli, 1997d:118): »E se vostra Magnificenzia da lo apice della sua altezza qualche volta volgerà li occhi in questi luoghi bassi, conoscerà quanto io indenamente sopporti una grande e continua malignitàdi fortuna.« In der deutschen Übersetzung von Johann Ziegler und Franz Nicolaus Baur lautet die Briefpassage wie folgt (Machiavelli, 1925k-5:457 f.): »Wenn das Glück gewollt hätte, daß die Medici, in Florenz oder auswärts, in Privat- oder öffentlichen Geschäften mich einmal verwendet hätten, so würde ich zufrieden sein. Doch gebe ich noch nicht alle Hoffnung auf« und in der Übersetzung der Widmungspassage des Il Principe in der Übersetzung von Philipp Rippel folgendermaßen (Machiavelli, 1986a:7): »Und wenn Euere Durchlaucht von dem Gipfel Euerer Erhabenheit gelegentlich einen Blick in die Niederungen werfen wollen, so werdet Ihr bemerken, wie unverdient ich große und andauernde Ungunst des Schicksals zu ertragen habe.« 6 In seiner Verwendung des Konzepts ›Politische Kultur‹ folgt der Autor einer Alltagssemantik, derzufolge ›Politische Kultur‹ implizit wertend und reduzierend im Kontext von Prozessen des Erwerbs und der Erhaltung von politischer Macht definiert wird. Eine solche Sichtweise verkennt jedoch eklatant die sozialwissenschaftliche Konzeption von Politischer Kultur als einem Forschungskonzept, »das Art und Umfang politischer Kenntnisse, emotionale Bindung an das und Bewertung des politischen Systems wie auch Art und Intensität politischen Handelns selbst« umfaßt (Reichel, 1981:20) und zunächst einmal wertneutral aufgefaßt werden muß; siehe dazu eingehender (Almond & Verba, 1963) und (Almond, 1987). 5

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geber für Gewaltherrscher oder mehr als Fürsprecher der Realpolitik zu sehen ist. Viele Machiavelli-Gegner hielten ihre Kritik nicht bis zum Ende durch. Auch Fiedrich der Große, vormals Autor der Streitschrift ›Anti-Machiavelli‹, führte später Angriffskriege.«

Mit dieser Charakterisierung des Sekretärs der florentinischen Republik folgt der Autor in seiner normativen Feststellung aus dem Jahre 2002 – von grundlegenden inhaltlichen Fehlern einmal abgesehen 7 – einem Interpretations- und Rezeptionsstrang, der bereits im 16. Jahrhundert vertreten wurde und im Prolog von Christopher Marlowe’s Theaterstück Der Jude von Malta mit einen präskriptiven Ursprung besitzt. Vergegenwärtigen wir uns diesen prosaischen Prolog für eine Gegenüberstellung (Marlowe, 1996:11 f.): 8 »MACHIAVEL: Auch wenn die Welt denkt, Machiavel sei tot, floh seine Seele nur über die Alpen; nun, da Guise tot ist, kommt sie her aus Frankreich, dies Land zu mustern, froh, mit seinen Freunden. Einigen ist mein Name wohl verhaßt; vor deren Wort schützen mich, die mich lieben, und zeigen ihnen, daß ich Machiavel bin, dem weder Mensch noch Menschenwort was wiegt. Mich staunen an, die mich am meisten hassen: Zwar manche schmähen lauthals meine Bücher, doch lesen sie und kommen so hinauf zu Petri Stuhl; und schwören sie mir ab, vergiften meine steigenden Schüler sie. Für mich ist Religion nur Kinderspiel, Unwissenheit ist mir die einzige Sünde. Daß Vögel in der Luft den Mord verklagen; ich schäm mich, solchen Unsinn nur zu hören. Da schwatzt mancher vom Recht auf eine Kron: Was hatte Cäsar denn für Recht aufs Reich? Macht macht den König, und Gesetze gelten, wenn sie mit Blut geschrieben sind, wie Dracos. So kommts, daß eine starke Festung mehr als alle Buchstaben zu sagen hat. Hätte Phalaris dies bedacht, er hätte niemals gebrüllt in einem Stier aus Erz vom Neid der Großen. Ach, die armen Wichte! Beneiden soll man mich und nicht bedauern! Doch wo gerat ich hin? Ich komm doch nicht, hier in Britannien Predigten zu halten. Nein, die Tragödie eines Juden zeig ich, der lächelnd sieht, wie seine Beutel strotzen vom Geld, das er auf meine Art erwarb. Ich bitt euch nur: Würdigt ihn nach Verdienst, und nehmet ihn nicht schlechter deshalb auf, weil er mir huldigt.«

Zwischen diesen beiden Charakterisierungen Machiavellis liegen über vier Jahrhunderte, doch sie unterscheiden sich in ihren Grundaussagen nur geringfügig. Sowohl in der aus dem 16. Jahrhundert literarisch geprägten als auch in der aus dem 21. Jahrhundert popuVgl. unsere Ausführungen in den Fußnoten 2 bis 6. Siehe zu Marlowe’s Machiavelli-Rezeption (Kocher, 1946), der u. a. kondensiert, daß Marlowe Machiavelli’s Schriften nicht aus erster Hand kannte, und (D’Andrea, 1972, 1979).

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larisierten politdeterminierten Beschreibung wird ein Bild Machiavellis transportiert, das die landläufige Meinung des mit seinem Namen konnotativ verbundenen Machiavellismus als einer charakterlichen Disposition, allein dem Erfolg skrupelloser Machtpolitik verpflichtet, erfolgreich weiter perpetuiert, perenniert und mythologisiert. Der Autor selbst kann dieser Mythologisierung nicht mehr entgegentreten, hätte sich jedoch vermutlich mit Versen aus seiner satirischen Parabel L’Asino vehement zu Wort gemeldet: »I vari casi, la pena e la doglia/che sotto forma d’un Asin soffersi,/canterò io, pur che fortuna voglia./Non cerco ch’Elicona altr’acqua versi/o Febo posi l’arco e la fareta/e con la lira accompagni i miei versi:/sí perché questa grazia non s’impetra/in questi tempi, sí perch’io son certo/ch’al suon d’un raglio non bisogna certa./Né cerco averne prezzo, premio o merto;/e ancor non mi curo che mi morda/un detrattore, o palese o coperto;/ch’io so ben quanto gratitudo è sorda/a’preghi di ciascuno, e so ben quanto/de’benefici un Asin si ricorda./Morsi o mazzate io non istimo tanto/quanto io soleva, sendo divenuto/de la natura di colui ch’io canto./S’io fossi ancor di mia prova tenuto/piú ch’io non soglio, cosí mi comanda/quell Asin sott’il quale io sono vissuto./Volse già farne un bere in fonte Branda/ben tutta Siena; e poi gli mise in bocca/una gocciola d’acqua a randa a randa./Ma se’l ciel nuovi sdegni non trabocca/ contra di me, e’si farà sentire/per tutto un raglio, e sia zara a chi tocca.« (Machiavelli, 2001:50) 9

In der deutschen Übersetzung von Karl Mittermaier lautet diese Passage wie folgt (Machiavelli, 2001:51): »Ich erzähle von den Schicksalsschlägen,/von Gram und Schmerz,/die ich Esel erlitt – so fortuna es will./Ich lasse nicht weitere Zeit verstreichen,/und warte nicht, bis Phöbus Bogen und Pfeile ablegt/und mit der Lyra meine Verse begleitet./Weder kann eine solche Gunst in diesen Zeiten/erwirkt werden; noch paßt die Leier,/zum Geschrei eines Esels; das weiß ich wohl./Ich strebe nicht nach Geld, Lob oder Anerkennung,/auch kümmere ich mich nicht um die Seitenhiebe der Kritiker,/ seien sie gerade heraus oder hinterfotzig./Ich weiß genau: Kein Mensch erlangt Dank, mag er ihn noch so inständig/darum werben, indem er auf seine Dienste verweist; aber auch ich, wie der Esel/lege mir erwiesene Wohltaten nicht mehr in die Waagschale./ Mich verletzen falsche Anschuldigen und die Ungerechtigkeit/nicht mehr wie früher, da ich der geworden bin,/von dem ich nun erzähle./Die Eselsnatur, die ich für eine gewisse Zeit angenommen hatte, ermöglicht es mir, daß ich es jetzt wage,/meine Meinung offen zu sagen./Ich hatte bereits den festen Entschluß gefaßt,/alle namentlich anzuklagen; doch dann überzeugte ich mich, daß es klüger sei, meine kritischen Anmerkungen zu kaschieren./Wohlan! Wenn mich die Zensur nicht abwürgt, werde ich stur die ganze Wahrheit hinausschreien, daß es alle hören;/ich hoffe, daß sich die Angesprochenen betroffen fühlen.« Siehe zur Interpretation dieser Satire auch (Consoli, 1969), (Anselmi & Fazion, 1984), (Sasso, 1991–1994), (Legami, 1996), (Tarantino, 1996) und (Sabbatino, 1998).

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Trotz umfangreicher und fundierter Studien zum Werk Machiavellis 10 wird er in popularisierter Form weiterhin mit dem Makel behaftet bleiben, ein »Zyniker der Macht« gewesen zu sein und das Adjektiv ›machiavellistisch‹ sowohl für das Handeln politischer Akteure verwendet werden, wie jüngst in der Bewertung des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi bei der Neubesetzung des Verwaltungsrates des öffentlich-rechtlichen Fernsehens RAI 11 , als auch, sujetfehlgeleitet, bspw. in der Ausbildung von Wirtschaftsfachleuten 12 oder in der Bewältigung von Alltagsproblemen. 13 Mit einer solchen oberflächlich geprägten und irregeleiteten Rezeption Machiavellis wird ein Mythos weiter verdichtet und perenniert, der zumindest dem nichtpolitikwissenschaftlich determinierten, doch aufgeschlossenen und interessierten ›Normalbürger‹ Person und Namen eines politischen Theoretikers in einer Form nahebringt, die jeglicher Fundierung entbehrt und sich in einem Mythos ›Machiavelli‹ verliert. In diesem Sinn ist auch der Feststellung des Philosophen Hans Blumenberg zuzustimmen, der die Funktion des Mythos wie folgt charakterisiert: »Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigen Falle: die Zeit. Sonst und schwerer wiegend: die Furcht. In ihr steckt sowohl Unwissenheit als auch, elementarer, Unvertrautheit. Bei der Unwissenheit kommt es nicht darauf an, daß vermeintlich besseres Wissen – wie es die Späteren rückblickend zu können glaubten – noch nicht zur Verfügung stand. Auch sehr gutes Wissen überUnsichtbares – wie Strahlungen oder Atome oder Viren oder Gene – macht der Furcht kein Ende. Archaisch ist die Furcht nicht so sehr vor dem, was noch unbekannt ist, sondern schon vor dem, was unbekannt ist. Als Unbekanntes ist es namenlos; als Namenloses kann es nicht beschworen oder angerufen oder magisch angegriffen werden. Entsetzen, für das es wenig Äquivalente in anderen Sprachen gibt, wir ›namenlos‹ als höchste Stufe des Schreckens. Denn es ist die früheste und nicht unsolideste Form der Vertrautheit mit der Welt, Namen für das Unbestimmte zu finden. Erst dann und daraufhin läßt sich von ihm eine Geschichte erzählen.« (Blumenberg, 1996:40 f.)

Was Blumenberg als die Semantik der Entität ›Mythos‹ zu beschreiben versucht, kann mit einer gewissen Abstraktionsleistung als eine Siehe unsere Literaturangaben in der Einführung dieser Arbeit in Fußnote 55. Siehe dazu bspw. (Ladurner, 2002). 12 Siehe dazu bspw. (V., 1997), (McAlpine, 1999), (McGrath, 1999), (Harris, Rees & Lock, 2000), (Hill, 2000), (Berner, 2001), (Bing, 2002) und (Demack, 2002). 13 Vgl. dazu bspw. (Noll, & Bachmann, 1997). 10 11

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treffende Charakterisierung der Rezeption Machiavellis im Alltagsdenken, aber auch im wissenschaftlichen nicht-politikdeterminierten und nicht-politikphilosophischen Diskurs interpretiert werden. D. h. kondensierter, daß der Mythos ›Machiavelli‹ als eine Erzählung von fabelhaften Dingen verstanden werden kann, der in sich wohl einen tieferen Gehalt beinhaltet, der aber nicht eigentlich wahr ist. 14 Als komplementär zum Mythos können wir den Logos bestimmen, als »das klar Gedachte und Gesagte, das durch strenge Beweisführung für seine Wahrheit einstehen kann« (Otto, 1955:67). 15 Eine Entzauberung des Mythos ›Machiavelli‹ hat u. E. deshalb auf den Logos zu gründen, da dieser nicht eine narrative Struktur aufweist, sondern die Voraussetzung einer rationalen Rekonstruktion determiniert. Mit Max Weber argumentierend ist die Entzauberung des Mythos ›Machiavelli‹ anlog zu seiner berühmten Aussage der »Entzauberung der Welt« zu sehen, denn: »Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnung beherrschen kann.« (Weber, 1982e:594[536])

Max Weber führt mit seiner Formel ›Entzauberung der Welt‹ einen den empirischen Wissenschaften inhärenten Erkenntnisimperativ fort, den bereits Platon in seiner Politeia gleichnishaft induzierte. In seinem Höhlengleichnis (Platon, 1998:299 ff.[514a-519b]) beschreibt er den Stufengang der Erkenntnis aus dem Höhlenbereich des scheinbaren Wissens, das sich über Schatten artifizieller Gegenstände definiert, hin über den Aufstieg aus der Höhle an das Sonnenlicht, zur vollendeten Erkenntnis. Wie dieses Gleichnis zu interpretieren ist, gibt der Dialogpartner Sokrates selbst: »Die Höhle bezeichnet den Bereich des Sinnlichen, und das Feuer [in der Höhle, V. D.] symbolisiert die Sonne. Außerhalb der Höhle erstreckt sich der Bereich des

Siehe (Otto, 1955:66) sowie analytisch zusammenfassend (Geyer, 1996) und (Knatz, 1999). 15 Siehe zu dieser Bestimmung von ›Mythos‹ und ›Logos‹ auch (Eliade, 1988) und zur Kritik dieser Dichotomie in seiner sich gegenseitigen Ausschließlichkeit (Gadamer, 1954, 1981a,b,c). 14

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Geistigen, und die dort scheinende ›Sonne‹ meint die Idee des Guten. Der Weg aber von der Höhle ans Licht ist der der Erkenntnis. Am Ende des Aufstiegs steht die Erkenntnis des Guten, und nur, wer das Gute verstanden hat, hat überhaupt etwas verstanden. Denn erst von der Ursache her wird auch das Verursachte verstehbar.« (Zehnpfennig, 2001:126) 16

Die Entzauberung des Mythos ›Machiavelli‹ kann im Anschluß an Max Weber und Platon als die Entzauberung falscher Zuschreibungen und Vorstellungen bzw. als Weg aus der Vorurteils- und Scheinwelthöhle über Machiavelli zu einer vorurteilsfreieren, weniger mit präskriptiven Charakterisierungen behafteten Erkenntnis über den Autor und sein Werk führen. Daß eine solche Entzauberung, zumal bei einem über Jahrhunderte auch wissenschaftlich kontrovers diskutierten politischen Denker, nicht apoint, in toto und definitiv erfolgen kann, gebietet allein schon die wissenschaftliche Redlichkeit und Bescheidenheit 17 . Was erfolgen kann, ist nur ein weiterer Beitrag zu dem Projekt, das Max Weber in bezug auf den Beruf des Politikers als »ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich« bezeichnet (Weber, 1958b:548) und das heißt in der vorliegenden Arbeit primär zunächst einmal, daß wir in einen wissenschaftstheoretisch determinierten Dialog mit Machiavelli’s Il Principe eintreten oder wie es Merton für das Lesen klassischer soziologischer Texte formuliert, in »a dialogue between the dead and the living« (Merton, 1968b:36). Mit diesem Dialog verbunden ist die fünfte Funktion, die Merton klassischen Texten zuschreibt (Merton, 1968b:36 f.): »Finally, a classical sociological book or paper worth reading at all is worth re-reading periodically. For part of what is communicated by the printed page changes as the result of an interaction between the dead author and the live reader. Just as the ›Song Eine Feststellung, die wir auch in den Philosophischen Tagebüchern Leonardo da Vinci’s, einem Zeitgenossen Machiavellis, finden, so etwa in seiner Feststellung (da Vinci, 1958:32): »Nessun effetto è in natura sanza ragione; intendi la ragione e non ti bisogna sperienzia.« 17 Wobei wir hier auch anmerken müssen, daß ein Mythos im Gegensatz zu Hypothesen oder Utopien nicht entweder richtig oder falsch ist, wie dies Burnham (1949:137) bemerkt, daß die Tatsachen nie beweisen können, daß er falsch ist. Burnham bezieht sich hier auf Sorel (1981), der in diesem Zusammenhang folgendes konstatiert: »Ein Mythos kann nicht widerlegt werden, da er im Grunde identisch ist mit den Überzeugungen einer Gruppe, da er der Ausdruck dieser Überzeugungen in der Bewegung der Sprache ist, und es folglich nicht angeht, ihn in Teile zu zerlegen, die auf der Ebene historischer Beschreibungen eingeordnet werden könnten« (zitiert in (Burnham, 1949:137)). 16

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of Songs‹ is different when it is read at age 17 and at age 70, so Weber’s ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ or Durkheim’s ›Suicide‹ or Simmel’s ›Soziologie‹ differ when they are read at various times. For, just as new knowledge has a retroactive effect in helping us to recognize anticipations and adumbrations in earlier work, so changes in current sociological knowledge, problems, and foci of attention enable us to find ›new‹ ideas in a work we had read before. The new context of recent developments in our own intellectual life or in the discipline bring into prominence ideas or hints of ideas that escaped in an earlier reading. Of course, this process requires intensive reading of the classics – the kind of concentration evidenced by that truly dedicated scholar (described by Edmund Wilson) who, interrupted at his work by a knock on the door, opened it, strangled the stranger who stood there, and then returned to his work.«

In der vorliegenden Arbeit wird dieser Dialog zwischen dem toten Autor Machiavelli und dem lebenden Leser in bezug auf eine rationale Rekonstruktion der politischen Handlungslehre in seinem Il Principe geführt werden. Diese Rekonstruktion wird innovativ im Kontext des metatheoretischen Instrumentariums der strukturalistischen Wissenschaftstheorie erfolgen, basierend auf der Abwandlung eines Diktums von Immanuel Kant 18 , demzufolge ein rationaler Dialog mit den Werken politischer Denker ohne wissenschaftstheoretische Reflexionen leer, und wissenschaftstheoretische Reflexionen ohne diesen Dialog blind ist.

Bei Kant (1982b:98) heißt es: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«

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I. EINFÜHRUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

1.0 Zum Gegenstand der Arbeit und erste Vorabklärungen . 2.0 Einige Bemerkungen zur Verortung und Methode der ›wissenschaftlichen‹ Analyse klassischer politischer Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Eine methodische und klassifikationsbezogene Vorentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Klassische politische Theorien zwischen Philosophie und Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.0 Zum Analysegegenstand Niccolò Machiavelli . . . . . . 4.0 Zur Rekonstruktionsstrategie von Niccolò Machiavelli’s politischer Handlungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . 5.0 Zur Wahl der Strukturalistischen Theorienkonzeption als Rekonstruktionsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.0 Abschließende Bemerkungen zum epistemologischen Stellenwert von rationalen Rekonstruktionen . . . . . . 7.0 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

II. METATHEORETISCHE GRUNDLAGEN . . . . . . . .

59

Kapitel 1 Zu den Konzepten ›Formalisierung‹ und ›rationale Rekonstruktion‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.0 Einleitende Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . .

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26 26 30 37 45 47 54 57

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1.1 Zur methodologischen Relevanz der Formalisierung wissenschaftlicher Theorien . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Zum Begriff der Formalisierung und seiner Relation zur Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Zur informellen Axiomatisierung einer wissenschaftlichen Theorie mittels eines mengentheoretischen Prädikats . . . . . . . . . . 1.1.3 Zur wissenschaftlichen Relevanz von Formalisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zum Begriff der ›rationalen Rekonstruktion‹ (von Theorien) und seiner wissenschaftstheoretischen Anwendungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 ›Rationale Rekonstruktion‹ und Wissenschaftstheorie. Einleitende Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . 1.2.2 Determinanten der ›rationalen Rekonstruktion‹ : Logik und Axiomatisierung . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Zum Begriff der ›rationalen Rekonstruktion‹ unter systematischen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . 1.2.3.1 ›Rationale Rekonstruktion‹ als Prozeß und als Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3.2 Rekonstruktionstypologie . . . . . . . . 1.2.3.3 Elemente und Adäquatheitskriterien rationaler Rekonstruktionen . . . . . . . 1.2.4 Zum Begriff der ›rationalen Rekonstruktion‹ unter diachronen Gesichtspunkten: Rekonstruktionstheorien/-modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.5 Zur ›rationalen Rekonstruktion‹ wissenschaftlicher Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 60 63 66 68 68 69 69 69 71 71 74 77

Kapitel 2

16

Grundzüge der Strukturalistischen Theorienkonzeption . . .

80

2.0 Einleitende Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zur Unterscheidung von ›Aussagenkonzeption wissenschaftlicher Theorien‹ und dem strukturalistischen Ansatz 2.2 Zum Begriff der ›wissenschaftlichen Theorie‹ in der Strukturalistischen Theorienkonzeption . . . . . . . . . 2.2.1 Grundlegendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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84 87 87

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2.2.2 Zur Einführung einer wissenschaftlichen Theorie in die Forschungspraxis unter strukturalistischen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Grundstruktur einer wissenschaftlichen Theorie in der Strukturalistischen Theorienkonzeption (I): Systematische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die Grundstruktur eines Theorie-Elements: Mathematischer Strukturkern und intendierte Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Grundelemente eines Theorie-Netzes: Theorie-Elemente und intertheoretische Relationen 2.3.2.1 Theorie-Netze als strukturierte Mengen von Theorie-Elementen . . . . . . . . . 2.3.2.2 Die Verallgemeinerung des Konzepts der Theorie-Netze . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Grundstruktur einer wissenschaftlichen Theorie in der Strukturalistischen Theorienkonzeption (II): Diachrone Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Von der synchronen zur diachronen Darstellung wissenschaftlicher Theorien . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Die Konzeption der Theorie-Evolution . . . . . . .

90 96 96 104 104 108 112 112 114

Kapitel 3 Idealisierte Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.0 Einleitende Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Modellbegriff – seine Semantiken und einige Anwendungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Eine erste Annäherung an den Begriff des Modells . 3.1.2 Zu einer Systematik des Modellbegriffs . . . . . . 3.1.3 Zum Gebrauch von Modellen in den Erfahrungswissenschaften unter primär vorstrukturalistischen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Zum verwendeten Modellbegriff: Das Modell-Element . 3.3 Was ist ein idealisiertes Modell? . . . . . . . . . . . . . 3.4 Bemerkungen zur methodologischen Funktion von idealisierten Modellen in der Theoriekonstruktion und -rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119 120 120 122 123 127 130 132

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III. POLITISCHES HANDELN UND MACHT

. . . . . . . 137

Kapitel 4 Politisches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.0 Einleitende Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zum begriffstheoretischen Status der Entität ›Handlung‹ . 4.1.1 Der Begriff der Handlung, seine Semantiken und Problembereiche aus analytischer Sicht . . . . . . 4.1.2 Existiert eine innere Seite von Handlungen, und wenn ja, welche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Welche inneren Momente sind für Handlungen konstitutiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Aus welchen personalbezogenen Prozessen besteht eine Handlung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5 Sind Handlungen kausal determinierbar? . . . . . 4.1.5.1 Zum Problem der Kausalität. Eine wissenschaftstheoretische und -philosophische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

141 142 143 144 147 148 151 153 154

Zum Begriff des Kausalgesetzes . . Zum Begriff der kausalen Erklärung Zum Begriff der Ursache . . . . . . Zum Prinzip der Kausalität . . . .

4.1.5.2

Kausalitätsprobleme in der Klärung von Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . 154 Zur Erklärung einer Handlung . . . . . . 156

4.1.5.3.1 Zur Erklärung einer Handlung (I): Absicht als Ursache . . . . . . . . . . . 4.1.5.3.2 Zur Erklärung einer Handlung (II): Absicht als Grund . . . . . . . . . . . . 4.1.5.3.3 Zur individuellen Kausalrelation und zur Position des praktischen Syllogismus . . . 4.1.5.3.3.1 Bemerkungen zur individuellen Kausalrelation . . . . . . . . 4.1.5.3.3.2 Bemerkungen zur Position des praktischen Syllogismus . . .

. . . .

139

4.1.5.1.1 4.1.5.1.2 4.1.5.1.3 4.1.5.1.4

4.1.5.3

. . . .

137 139

. 156 . 158 . 161 . 161

. 162 4.1.6 Was zeichnet eine Handlung als rational aus? . . . 165

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4.2 4.3 4.4 4.5

4.1.7 Sind Handlungen (nur) verstehbar und/oder (nur) erklärbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum metatheoretischen Status von Handlungstheorien . Zur Unterscheidung von konkreten Handlungen und Handlungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Beschreibung von Handlungen durch Propositionen . Was zeichnet Handlungen als politische Handlungen aus? 4.5.1 Annäherungen an den Terminus ›politische Handlung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Zur Analyse ›politischen Handelns‹ : Dimensionen des Politikbegriffs und Diskussion metatheoretischer Zugangsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167 169 175 178 187 187 196

Kapitel 5 Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.0 Einleitende Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Grundstruktur eines einfachen Basis-Modells politischer Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Definition eines politischen Handlungsraums . . . 5.1.2 Definition eines potentiellen Modells politischer Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Definition eines Basis-Modells politischer Macht . 5.1.4 Definition eines Modell-Netzes politischer Macht . 5.2 Machtmodelle und Machtmittel . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Zur Relation von Machtmodellen und Machtmitteln 5.2.2 Definition eines um Machtmittel erweiterten Modell-Netzes politischer Macht . . . . . . . . . 5.3 Strategieraum und Strategien . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Strategieraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Definition eines Basis-Modells einer politischen Machtstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Ein Rekonstruktionsbeispiel: Machiavelli’s Memoranden zum florentinisch-pisanischen Konflikt . . . . . . . . .

203 203 205 205 210 210 212 213 213 221 222 222 224 225 226

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IV. MACHIAVELLI’S POLITISCHE HANDLUNGSLEHRE IM IL PRINCIPE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Kapitel 6 Eine informelle Rekonstruktion der politischen Handlungslehre von Machiavelli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 6.0 Einleitende Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . 6.1 Einige biographische Anmerkungen zu Niccolò Machiavelli . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zur Methode Machiavellis . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Zur Anthropologie Machiavellis . . . . . . . . . . . 6.4 Die Gundbegriffe der politischen Handlungslehre Machiavellis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Machiavelli’s Grundbegriffe (I): Eine allgemein-einführende Darstellung . . . . 6.4.2 Machiavelli’s Grundbegriffe (II): Zur Problematik von Machiavelli’s virtù-Begriff 6.4.2.1 Allgemeine Bemerkungen zu virtù . . 6.4.2.2 Alternative Interpretationen von virtù

. . 233 . . 238 . . 247 . . 261 . . 269 . . 269 . 274 . . 274 . . 278

6.4.2.2.1 Virtù im Kontext des COCTA-Programms der Analyse sozialwissenschaftlicher Begriffe . 278 6.4.2.2.2 Zur Diskussion von virtù im Rahmen einer pluralen Referenztheorie für wissenschaftliche Terme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 6.4.2.2.3 Zur Diskussion von virtù als einem Dispositionsbegriff . . . . . . . . . . . . . 299

EXKURS Zum strukturalistischen Theoretizitätskriterium . . . . . § 1 Sneed’s Kriterium für Theoretizität . . . . . . . . § 2 Das Problem der theoretischen Begriffe . . . . . . § 3 Die Lösung des Problems der theoretischen Begriffe § 4 Der verbesserte RAMSEY-Satz durch Sneed . . . .

303 306 308 308 313

6.4.2.2.4 Anmerkungen zur Bestimmung von virtù als T-theoretischen Term in Machiavelli’s Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . .

316 6.4.3 Machiavellis Grundbegriffe (III): Anmerkungen zu Machiavelli’s fortuna-Begriff . . 318 20

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Kapitel 7 Die Architektur politischen Handelns im Il Principe . . . . . . 324 7.0 7.1 7.2 7.3 7.4

7.5

7.6

7.7

7.8

Einleitende Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . Zur Genese und Interpretation des Il Principe . . . . . . Zu Inhalt, Aufbau und Struktur des Il Principe . . . . . Ein Re-Strukturierungsrahmen für den Il Principe und erste Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein idealisiertes Modell der politischen Handlungslehre in Machiavelli’s Il Principe . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Skizze der Prinzipien und Grundbegriffe von Machiavelli’s politischer Handlungslehre . . . . . 7.4.2 Ein idealisierter politischer Handlungsraum im Sinne Machiavellis . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2.1 Bestimmung der Grundbegriffe und Basis-Relationen . . . . . . . . . . . . . 7.4.2.2 Definition eines idealisierten politischen Handlungsraums . . . . . . . . . . . . . 7.4.3 Idealisierte potentielle Modelle . . . . . . . . . . 7.4.4 Idealisierte Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . Rekonstruktionen und Konkretisierungen (I) [Il Principe, Kap. I–XI] . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Gliederung der Handlungskontexte . . . . . . . . 7.5.2 Handlungstypen und Handlungsregeln . . . . . . Rekonstruktionen und Konkretisierungen (II) [Il Principe, Kap. XII–XIV] . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1 Militärische Mittel der Machterlangung und -erhaltung: Truppentypologie . . . . . . . . . . . 7.6.2 Militärische Eigenschaften eines idealen Fürsten . Rekonstruktionen und Konkretisierungen (III) [Il Principe, Kap. XV–XXIII] . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.1 Einleitende Vorbemerkungen zur Unterscheidung von Moral und Ethik in Machiavelli’s Il Principe . 7.7.2 Die Verhaltenseigenschaften eines idealen Fürsten . Ein strukturalistisches machiavellianisches polititisches Handlungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8.1 Einleitende Vorbemerkungen: Die Konkretisierung idealisierter Modelle . . . . . . . . . . . . . . . .

324 325 327 329 335 335 336 336 341 343 344 345 345 351 358 358 361 363 363 370 375 375

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7.8.2 Ein politischer Handlungsraum im Sinne Machiavellis . . . . . . . . . . . . . . . 7.8.3 Partiell potentielle Modelle . . . . . . . 7.8.4 Potentielle Modelle . . . . . . . . . . . . 7.8.5 Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.9 Intendierte Systeme . . . . . . . . . . . . . . 7.10 Ein Basis-Theorie-Element der politischen Handlungslehre von Machiavelli . . . . . . . . 7.11 Abschließene Bemerkungen . . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

375 378 381 385 387

. . . . . 391 . . . . . 395

Zusammenfassung und Ausblick Klassische politische Theorien und moderne Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488

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I. Einfhrung

1.0 Zum Gegenstand der Arbeit und erste Vorabklrungen Hauptgegenstand der vorliegenden Arbeit ist eine rationale Rekonstruktion der in der politischen Schrift Il Principe von Niccolò Machiavelli in nunce angelegten machtorientierten politischen Handlungstheorie mittels dem Instrumentarium der modernen Wissenschaftstheorie. Mit dieser, die Arbeit leitenden Grundintention verfolgen wir drei Ziele: ein erstes Ziel besteht in der ›Übersetzung‹ einer (oder Teilen einer) klassischen politischen Theorie in eine moderne politikwissenschaftliche und auch empirische Theorie; ein zweites Ziel besteht im Aufzeigen einer Möglichkeit, wie das Instrumentarium der modernen Wissenschaftstheorie zur Rekonstruktion und Präzisierung klassischer politischer Theorien fruchtbar herangezogen werden kann. 1 Gezeigt wird mit dieser zweiten Zielsetzung darüber hinaus auch, daß die moderne Wissenschaftstheorie sehr wohl mit den Substanzwissenschaften »vermittelt« ist bzw. für diese nicht folgenlos bleiben muß, wie dies bspw. Willms (1984:34) konstatiert. 2 Mit Daß eine solche Rekonstruktion nicht allen Aspekten einer klassischen politischen Theorie gerecht werden kann, dürfte dabei evident sein, denn – und so schreibt bspw. Plamenatz (1963:16, 1992:53) – »[t]o extract a comprehensive and neat system of ideas out of (Machiavelli’s) writings would be force those ideas into a frame which was not his own« und empfiehlt:»At the best we should have, not a structure designed by him, but a structure of our own built out of his materials.« 2 Daß Willms in seiner Polemik gegen die Wissenschaftstheorie bzw. gegen ihren Betrieb allein auf dessen Funktion als Reflexion »auf die Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft« (34) abhebt, ist nicht nur kurzsichtig, sondern auch falsch, wie bspw. die forschungsmethodische Implementierung des modernen Strukturalismus in die Psychologie zeigt; vgl. dazu bspw. für eine erste Übersicht (Westmeyer, 1992). Vervollständigt wird diese fehlerhafte Rezeption von Willms noch durch seine Feststellung, daß in der Wissenschaftstheorie »völlig autochthone Helden, Heldendarsteller oder Clowns« produziert und diese mit Carnap, Kuhn, Lakatos und Feyerabend personifiziert werden (34). Ein Blick in Biographien, Werke und Rezeption einflußreicher Wissenschaftstheoretiker -wie bspw. in (Nida-Rümelin, 1991) vorgestellt – könnte hier jeden Skeptiker eines Besseren belehren. 1

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Einfhrung

dieser Feststellung ist auch das dritte Ziel unserer Arbeit verbunden. Es besteht primär in der Präsentation eines von der Metatheorie herkommenden Rekonstruktionsrahmens, mit dessen Hilfe es nicht nur möglich ist, klassische politische Theorien präzise zu rekonstruieren, sondern auch, und dies insbesondere bei Vorliegen weiterer, innerhalb dieses Rahmens vorgenommener Rekonstruktionen, klassische politische Theorien anderer Protagonisten, auf der Grundlage eines gemeinsamen metatheoretischen Fundaments vergleichbar zu machen. Es soll mit unserem so avisierten Vorgehen auch gezeigt werden, daß die politischen Ideen der Vergangenheit, die innerhalb der Politikwissenschaft oftmals nur sehr rudimentär und multipel als intellektuelle, aber unpräzise Voraussetzungen der modernen wissenschaftlichen Beschäftigung mit Politik behandelt werden, durchaus auch weiterhin einen aktuellen, mit dem modernen Wissenschaftsverständnis kongruent gehenden analytischen Stellenwert besitzen, insofern sie »die Rationalität in der Erkenntnis von Problemen und ihre methodische Lösung förder[n]« (Beyme, 1969:59). 3 Dazu ist es jedoch -wie in dieser Arbeit vorgenommen- notwendig, klassische politische Theorien, die nicht den modernen Standards und Erfordernissen einer (politischen) wissenschaftlichen Theorie entsprechen, in präzisen Begriffen und Modellen zu reformulieren. Wir halten es grundsätzlich für verfehlt, die Analyse klassischer politischer Theorien bspw. nur den Philologen, Historikern und Philosophen zu überlassen und sie für die moderne Politikwissenschaft nur als argumentativen Bodensatz oder Vorläufer für die Beschreibung und Erklärung zeitgenössischer sozio-politischer Phänomene zu benutzen. 4 ›Ideengeschichte‹ als Teilbereich der Politikwissenschaft kann unserer Ansicht nach nur dann von ihrer Funktion als dekorative, narrative und illustrative Voraussetzung, Begründung oder argumentative Legitimationsgrundlage für den Ist-Zustand eines sozio-politischen Systems und seinen politischen Interaktionen befreit werden, wenn ihre Erkenntnisprodukte gemäß dem modernen Wissenschaftsverständnis reformuliert und für aktuelle politische Probleme empirisch anwendbar gemacht werden. 5 Vgl. dazu auch die programmatischen Ausführungen von (Druwe, 1993a,b). Oder wie dies v.Beyme (1969:50) bezeichnet, als »›Lagerhaus‹ politischer Probleme«. 5 Siehe dazu neben (König, 1999:120–124) auch die von einer anderen Perspektive angestellten Überlegungen von Euchner (1987) zur Nutzbarmachung klassischer politischer Theorien für die moderne Politikwissenschaft. Für die Nutzbarmachung speziell 3 4

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Zum Gegenstand der Arbeit und erste Vorabklrungen

Den Hinweis, daß ideengeschichtliche Denker nur unter Rückgriff auf die je für sie zutreffenden Zeitumstände verstanden werden können und interpretiert werden sollen 6 , halten wir in seiner Grundaussage für berechtigt, doch gilt es auch zu bedenken, daß dies eine interpretatorische ›Binsenweisheit‹ darstellt und auch für die modernen wissenschaftlichen Methoden, Theorien und epistemologischen Standards zutrifft, 7 die dadurch jedoch keineswegs eo ipso in die Wissenschaftshistorie zu verbannen sind. 8 Für uns markieren die epistemologischen Standards und Grundaxiome der modernen Wissenschaft im Übergang in das 21. Jahrhundert deshalb auch keinen letztendlich erreichten Endzustand ›sicherer‹ Erkenntnis- und Analysemethoden, sondern nur ein, wenn auch breiteres Angebot wissenschaftlicher Zugangsweisen, das weiterhin von Machiavelli’s klassischen Texten für die moderne politische Theorie und für die politikwissenschaftliche Forschung siehe (Bryder, 1990). 6 Siehe dazu bspw. synthetisierend (Mohr, 1995:188 ff.) und (Rosa, 1994) sowie als ausgewiesene Vertreter dieser interpretativen Vorgehensweise, die unter der Etikette ›Cambridge School‹ Eingang in die fachwissenschaftliche Diskussion gefunden hat, Pocock (1975) und Skinner (1978, 1988). 7 Wie dies bspw. Kuhn (1962, 1978, 1981a,b) und Feyerabend (1976, 1978, 1981, 1989) in ihren Studien sehr eindrucksvoll demonstriert haben. 8 In bezug auf das Werk Machiavellis können wir deshalb so unterschiedlichen Interpreten und Rezipienten des Florentiners wie Spinoza, Fichte, Kemmerich oder Gilbert – zumindest in dieser Einschätzung – auch nur zustimmen, so Spinoza (1977[1663]:90), wenn er schreibt: »Welche Mittel aber ein Fürst, der bloß von Herrschbegierde getrieben wird, anwenden muß, um seine Regierung zu befestigen und zu erhalten, hat der höchst scharfsinnige Machiavelli ausführlich gezeigt, […]. […], so wollte er allem Anschein nach zeigen, wie unklug viele handeln, indem sie einen Tyrannen aus dem Wege zu räumen versuchen, ohne daß sie doch die Ursachen, die einen Fürsten zum Tyrannen machen, beseitigen könnten; …«, oder Fichte (1918[1807]:19 f.), wenn er im Hinblick auf Machiavelli’s anthropologischen Pessimismus schreibt: »Es tut hierbei gar nicht not, daß man sich auf die Frage einlasse, ob denn die Menschen wirklich also beschaffen seien, oder nicht; kurz und gut, der Staat, als eine Zwangsanstalt, setzt sie notwendig also voraus, und nur diese Voraussetzung begründet das Dasein des Staates«, oder Kemmerich (1925:164), wenn er konstatiert: »Es ist eine gar nicht zu bestreitende Tatsache, daß alle Zeiten, auch die Gegenwart, wo es zweckmäßig und nicht mit Rücksicht auf die Entlarvung und öffentliche Meinung allzu gefährlich ist, sich ganz genau derselben Mittel bedienen und wohl auch noch in ferner Zukunft bedienen werden, wie sie der ›Principe‹ und die ›Discorsi‹ empfehlen. Es ist nicht nötig, dies aus der Zeitgeschichte zu belegen, …«, oder Gilbert (1970:22) mit der Feststellung: »[That Machiavelli] was struggling with a problem which is also our problem. He could no longer believe that events are controlled by God or Providence; but if it was left to man, how could man achieve control? The cruical importance of this problem is clear to us to whom the world seems to be getting out of control.« A

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mit dem Attribut der Unvollständigkeit und Vagheit zu versehen ist – und dies trifft eo ipso deshalb auch auf die hier von uns verwendete Methode -den neuen Strukturalismus- zu.

2.0 Einige Bemerkungen zur Verortung und Methode der ›wissenschaftlichen‹ Analyse klassischer politischer Theorien 2.1

Eine methodische und klassifikationsbezogene Vorentscheidung

Die Analyse klassischer politischer Theorien, d. h. hier der Werke der als ›Klassiker‹ der ›Politik‹ (und auch der, der noch nicht als ›Klassiker‹) bezeichneten Protagonisten – zumindest seit Platon 9 – kann u. E. als der Versuch aufgefaßt werden, synchron und diachron darzustellen bzw. auch darauf aufbauend zu entwickeln, wie ein politisches Gemeinwesen konzipiert werden soll, kann, ist oder sein wird. 10 Je nach Antwort auf diese Frage haben wir es mit rein utopischen, normativ potentiell erreichbaren, mit rein auf empirischer Grundlage basierenden, an Deskription und Erklärung oder darüberhinausgehend auch an Prognose orientierten Werken zu tun. Wobei anzumerken ist, daß diese Typisierung nicht disjunkt sein muß, denn wir finden ebenso Werke, die Elemente aller vier, dreier oder zweier Typen beinhalten, wenn auch jeweils schwerpunktmäßig unterschiedlich akzentuiert. Die Werke Machiavellis bspw. enthalten neben primär empirisch orientierten und intendierten Analysen auch normative Elemente. Dies kann in seinem Il Principe etwa sehr deutlich gezeigt werden, in dem Machiavelli auf der Grundlage seiner empirisch orientierten Analyseergebnisse für die Erlangung, Behauptung und Erweiterung politischer Macht im Kontext unterschiedlicher politischer Umwelten (Typologie von Fürstentümern) Siehe dazu bspw. die von Maier, Denzer & Rausch (1987) herausgegebene Einführung in die Klassiker des politischen Denkens. Zur Bestimmung eines Autors und seines Werkes als ›Klassiker‹ schreibt – wenn auch nicht erschöpfend – der Politikwissenschaftler John Schaar (1981: 13): »The classic is a work which has become part of the formulation of a problem, part of what we understand a given problem to be. One cannot know what the problem is without having read the classic works which formulated it.« Immernoch sehr lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch (Willms, 1984:42–44). 10 Vgl. zu dieser Typisierung auch (Sabine, 1969:12). 9

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Einige Bemerkungen zur Verortung und Methode

einen jeweils ordinal geordneten Kanon von politischen Handlungsregeln für einen Fürsten oder für einen zum Fürsten aufsteigen wollenden Protagonisten vorschlägt, welche mit unterschiedlichen potentiellen Erfolgswahrscheinlichkeiten versehen werden. Die Analyse klassischer politischer Theorien wird im Rahmen unterschiedlicher Disziplinen oder Teilbereichen von Disziplinen vorgenommen. Für die Analysen, die sich auf ›Politik‹ beziehen – so mehrdeutig dieser Begriff auch sein mag –, wird innerhalb der Politikwissenschaft die Philosophie herangezogen, deren Analysen auch unter der Etikette ›Politische Philosophie‹ bzw. ›Philosophie der Politik‹ oder spezieller ›Staatsphilosophie‹ subsumiert werden, oder unter dem Konzept ›politische Theorie‹ oder aber – und zurückkommend auf ›politische Ideen‹ und ›politisches Denken‹ – unter den politikwissenschaftlichen Bemühungen einer Darstellung und Bewertung politischer Ideen bzw. Inhalten politischen Denkens unter kontextbezogenen und/oder -übergreifenden Gesichtspunkten. 11 Die Existenz dieser Teilbereiche der Politikwissenschaft wird von den Vertretern des Fachs nicht in Frage gestellt, sehr wohl aber die Entscheidung darüber, welchem dieser Teilbereiche ein bestimmter ›Klassiker‹ der Politik zuzuordnen ist. Machiavelli und sein Werk finden wir so sowohl in Abhandlungen zur Philosophie, 12 zur politischen Philosophie 13 und zur Staatsphilosophie 14 als auch in Kompendien zur politischen Theorie, 15 zur politischen Ideengeschichte 16 – seien sie nun dem historischen Kontext forschungsmethodisch verSo problematisch eine eindeutige Definition und Abgrenzung der Konzepte ›Politisches Denken‹, ›Politische Theorie‹, ›Politische Philosophie‹, ›Philosophie der Politik‹ u. a. auf den ersten Blick auch erscheint; vgl. dazu bspw. programmatisch (Ottmann, 1996), ferner (Druwe, 1993a), (Müller, 1994), (Mohr, 1995) und (Hartmann, 1997) sowie einseitiger (Becker, 1994) und (Thiery, 1994). 12 So bspw. in (Schnittkind & Schnittkind, 1954), (Bloch, 1980), (Böhmer, 1983), (Flasch, 1987), (Störig, 1987), (Volpi & Nida-Rümelin, 1988), (Vorländer, 1990), (Sorell, 1993) und (Blum, 1999). 13 Siehe dazu bspw. (Stanka, 1957), (Strauss, 1959), (Winiarski, 1963), (Landi, 1964), (Downtown, 1971), (Braun, Heine & Opolka, 1984), (Cahn, 1992), (Baruzzi, 1993) und (Porter, 1994). 14 Siehe dazu unter anderen bspw. (Vorländer, 1926), (Holstein, 1933), (Hippel, 1957), (Hoerster, 1979) und (Zippelius, 1985). 15 Siehe dazu unter anderen bspw. (Hacker, 1961), (McDonald, 1968), (Möbus, 1969), (Sabine & Thorson, 1973), (Soupios, 1986), (Williams, 1991), (Plamenatz, 1992) und (Stammen, Riescher & Hofmann, 1997). 16 Siehe dazu bspw. (Theimer, 1955), (Gilbert, 1973), (Fetscher & Münkler, 1985 [darin Münkler, 1985]) und (Fenske, Mertens, Reinhard & Rosen, 1992). 11

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pflichtet oder nicht – und in Darstellungen zur Geschichte des politischen Denkens. 17 , 18 Daneben werden klassische politische Theorien bzw. ihre Protagonisten auch von weiteren Disziplinen analysiert und rezipiert. Bleiben wir bei Machiavelli, so wird dieser sowohl unter zwischenstaatlichen, 19 psychologischen, 20 soziologischen, 21 geschichtswissenschaftlichen 22 , ökonomischen 23 , militärtheoretischen und -geschichtlichen 24 als auch unter philologischen 25 , theologischen 26 und musikwissenschaftlichen 27 Gesichtspunkten analysiert und rezipiert. 28 Darüberhinaus dient/diente der Florentiner teilweise auch Siehe dazu bspw. (Mayer, 1939), (McCoy, 1943), (Bogardus, 1948), (Ebenstein, 1951), (Gilbert, 1952), (Arendt, 1963), (Brunello, 1964), (Germino, 1972), (Skinner, 1978, 1992a), (Nelson, 1982), (Avis, 1986), (Pandey, 1986), (Maier, Denzer & Rausch, 1987), (Bravo & Malandrino, 1995), (Wootton, 1996) und (McClelland, 1998). 18 Wozu mit (Stammen, Riescher & Hofmann, 1997:VIII) die Bemerkung anzubringen ist, daß sich diese verschiedenen, untereinander oftmals auch konkurrierenden Zugangsweisen zur Analyse klassischer politischer Theorien sich nicht wechselseitig auszuschließen haben, doch aber jeder einzelnen gewisse Grenzen gesetzt sind. 19 Siehe dazu bspw. (Sullivan, 1973), (Wiethoff, 1981), (Link, 1988), (Leithold, 1992), (Fischer, 1995), (Forde, 1995) und (Münkler, 1996). 20 Siehe dazu bspw. (Henting, 1924), (Prezzolini, 1970), (Stone, 1974), (Preus, 1979), (Kroeber-Keneth, 1980), (Kohr, Marini & Kohr, 1990) und (Fischer, 1997). 21 Siehe dazu bspw. (Martin, 1949), (Mihanovich, 1953), (Vorys, 1961), (Namer, 1979) und (Van Treeck, 1985). 22 Siehe dazu bspw. (Panella, 1927), (Schmid, 1949), (Cantimori, 1966a), (Gaeta, 1970), (Anselmi, 1979), (Gilbert, 1984), (Bock, 1986), (Maria, 1992) und (Reinhardt, 1997). 23 Siehe dazu bspw. (Knies, 1852), (Thévenet, 1973), (Bergelt, 1983) und Bartlett, 1987). 24 Siehe dazu bspw. neben älteren Untersuchungen von (Jähns, 1881), (Endres, 1884), (Burd, 1897), (Hobohm, 1913) sowie allgemeiner (Ullrich, 1939:125–129), (Delbrück, 2000b:131–148), (Gilbert, 1941, 1946, 1980), (Brion, 1947), (Pieri, 1955, 1970), (Procacci, 1955), (Hale, 1958, 1971), (Martelli, 1958), (Bayley, 1961), (Vismara, 1969), (Masiello, 1970), (Bec, 1973), (Bonadeo, 1974), (De Marco, 1975), (Feld, 1984), (Paret, 1986), (Anglo, 1988), (Aller, 1997), (Kubik, 1997) und (Colish, 1998). 25 Siehe dazu bspw. (Weickert, 1937), (Chiappelli, 1952, 1969, 1974), (Fleisher, 1966), (Montanari, 1968), (Ridolfi, 1968), (Blank, 1969b), (Fogarasi, 1970), (Herczeg, 1970), (Ferroni, 1972), (Raimondi, 1972), (Martelli, 1978), (Pollidori, 1981), (Gacˇic´ & Ceˇh-Tomašic´, 1982), (Theile, 1988), (Hinrichsen, 1990), (Ascoli & Kahn, 1993) und (Marchand, 1996). 26 Siehe dazu bspw. (Kaegi, 1940), (Huovinen, 1956), (Cantimori, 1966b), (Tenenti, 1969), (Weinstein, 1972), (Diesner, 1983), (Fuhr, 1985), Fontana (1999) und (Najemy, 1999). 27 Siehe dazu bspw. (Chiesa, 1969), (Pirrotta, 1969) und (Schmitz, 1979). 28 Nicht unerwähnt bleiben sollen in diesem Zusammenhang auch die vielseitigen Anleihen, die bei Machiavelli gemacht werden bzw. die Versuche, ihn für Bereiche zu instrumentalisieren, über die er sich nie geäußert hat. An erster Stelle sind hier die Versuche zu 17

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Einige Bemerkungen zur Verortung und Methode

als Grundlage für die eigenen Entwürfe von soziopolitischen Denksystemen durch die Untersuchenden selbst. 29 Vor dem Hintergrund dieser Vielzahl von sowohl politikwissenschaftlichen Teilbereichen als auch anderer wissenschaftlichen Disziplinen, die sich – wenn auch unterschiedlich akzentuiert – das Werk und die Person eines ’Klassikers der Politikwissenschaft, wie bspw. Machiavelli, zu ihrem Forschungsgegenstand gemacht haben – erscheint es uns zweckmäßig, der interdisziplinären Analyse solcher ›Klassiker‹ das Wort zu reden. Der Subsumierung eines ›Klassikers‹ unter einen disziplinspezifischen Bereich oder Teilbereich, sei es Philosophie, politische Philosophie, Staatsphilosophie, politische Theorie, politische Ideengeschichte oder politisches Denken ist darüber hinaus entgegenzuhalten, und das haben unsere Literaturverweise am Beispiel Machiavellis wohl auch gezeigt, daß diese mehr von der wissenschaftlichen Sozialisation der Untersuchenden und ihren Vorlieben abhängt als von als objektiv angesehenen Kriterien. Es erscheint uns deshalb zweckmäßiger, diese Konzepte bzw. Kategorisierungsansätze und analytischen Zugangsweisen als unscharf, als ›fuzzy‹ zu bestimmen. Ein solcher Charakterisierungsansatz erlaubt es uns, ›Klassiker der Politik‹, deren Zuordnung zu einer der kategorialen Konzepte innerhalb der Politikwissenschaft strittig ist, im extensionalen Grenz- oder Übergangsbereich von einer Kategorie zu nennen, ihn für die moderne Managementforschung zu instrumentalisieren ((Buskirk, 1974), (Research Center for Scientific Management and Inventiveness, 1978), (Spagnol & Schepelmann, 1991), (Jay, 1993), (Basiliankov, 1995), (Wolf, 1996) und (Minor, 1999)). Desweiteren fanden die Reflexionen Machiavellis auch Eingang in so unterschiedliche Bereiche wie in die Intelligenzforschung bei Affen, Primaten und Menschen (Byrne, 1988), in die Einstellungsforschung ((Guterman, 1970), (Cloetta, 1974, 1983), (Klapprott, 1974), (Henning & Six, 1977), (Korda, 1978), (Christie & Geis, 1979) und (Richter, 1995)), in die Analyse des amerikanischen Journalismus (Merrill, 1998), in die Analyse und Bewertung der deutschen Forschungslandschaft (Bär, 1996) oder in Ratschläge zur alltäglichen Lebensbewältigung ((Noll & Bachmann, 1997, Greene, 1999)). Daß darüber hinaus Machiavelli auch noch für den Feminismus reklamiert wird (Rubin, 1998) oder seine Ratschläge an den Fürsten infantilisiert werden (Hart, 1998) oder zum comic-strip reduziert werden (Curry & Zarate, 1996) sei hier als Aperçu nur am Rande erwähnt. 29 So bspw. in der italienischen Soziologie für Mosca (1950[1886]) und Pareto (1964[1916]). Bezeichnenderweise werden diese beiden Soziologen von Jonas (1976:109 ff.) in seiner Geschichte der Soziologie als »Die Erben Machiavellis« vorgestellt. Siehe zur Machiavelli-Rezeption von Mosca und Pareto auch (für Mosca) (Meisel, 1958) und (für Pareto) (Mongardini, 1973), (Tommissen, 1975) und (Medici, 1990). Siehe zur Machiavelli-Rezeption von Pareto auch die einzig in deutscher Sprache gelungene Gesamtdarstellung seines Werkes (Eisermann, 1987). A

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einer anderen zu verorten oder gar in die Schnittmenge der Übergangsbereiche aller Kategorien. Für Machiavelli’s Werk heißt dies, daß es sowohl Elemente der Philosophie, Politischen Philosophie und Staatsphilosophie enthält als auch Elemente der politischen Theorie, der Ideengeschichte und des politischen Denkens. Dies bedeutet damit aber auch, daß es nicht ausschließlich nur einer dieser Kategorisierungsansätze zuzuordnen ist. Darüber hinaus dient Machiavelli’s Werk als Forschungsgegenstand unterschiedlichster Disziplinen, wobei jedoch nur deren Zusammenwirken, d. h. der gegenseitige Austausch von Forschungsergebnissen und deren Rezeption durch die jeweils anderen Disziplinen, einen qualitativen wissenschaftlichen Fortschritt induzieren kann. 2.2

Klassische politische Theorien zwischen Philosophie und Politikwissenschaft 30

Bei der Einordnung klassischer politischer Theorien und eo ipso ihrer Protagonisten in einen der oben angeführten Teilbereiche der Politikwissenschaft wird oftmals deren originäres Spezifikum – zumindest so, wie es in den Einordnungsverweisen gehandhabt wird – nur unzureichend reflektiert. Auch wenn wir die Analyse der Person und des Werkes Machiavellis im Kontext einer Schnittmenge der als ›fuzzy‹ bestimmten Teilbereiche verortet wissen möchten, halten wir es für notwendig, diese Teilbereiche und ihre jeweiligen Abgrenzungsmöglichkeiten zu anderen Teilbereichen kurz zu erörtern: zum einen, um unseren eigenen Standpunkt deutlicher zu machen, zum anderen aber auch, um die prinzipielle Verschiedenheit dieser Teilbereiche zu akzentuieren. Eine Vielzahl von Autoren subsumiert Machiavelli unter die Etikette ›Politische Philosophie‹. 31 Doch was ist bzw. was kann Politische Philosophie bedeuten? Politische Philosophie kann gleich der Philosophie als ein ›abstrakter Gegenstand‹ charakterisiert werden, der sich nicht unmittelbar dem Interessierten erschließt. Für ein erstes Verständnis darüber, was Politische Philosophie ist bzw. sein kann, ziehen wir ein Beispiel aus einem Ereignis politischen Handelns in der Republik Florenz zu Zeiten der Frührenaissance an: den sogenannten Tumult der ciompi von 1378. Die ciompi, eine zu dem 30 31

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Siehe dazu auch (Dreier, 1994c, 1994d, 1999a). Siehe Anmerkung 13.

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Einige Bemerkungen zur Verortung und Methode

popolo minuto zählende Bevölkerungsschicht32 von Florenz, waren innerhalb der Wolltuchzunft die am schlechtesten gestellten Arbeiter. Es war ihnen von der florentinischen Obrigkeit verboten, sich selbst in einer Zunft zu organisieren, um ihre ökonomischen Interessen, insbesondere die Rücknahme der indirekten Besteuerung, besser durchsetzen zu können. Zur Durchsetzung ihrer Interessen standen ihnen zwei Möglichkeiten offen: Die erste Möglichkeit bestand in der Formulierung eines Protestes gegen diese indirekte Besteuerung in Form der Einbringung von Petitionen; die zweite Möglichkeit bestand dagegen in einem gewaltsamen Aufstand gegen die Obrigkeit, für die sich diese Bevölkerungsgruppe von Florenz dann auch entschieden hatte. 33 Letztere Möglichkeit war jedoch nicht legal im Hinblick auf die damaligen Gesetze bzw. Verordnungen. Die ciompi brachen bewußt bestehende Gesetze, auch wenn wir von diesen annehmen können, daß sie für die ciompi unangebracht und nach ihren Interessen nicht bindend waren. In beiden Fällen läßt sich nun über die Richtigkeit und Falschheit von durch politische Entscheidungsprozesse entstandenen Gesetzen bzw. Verordnungen argumentieren. In unserem Beispiel haben wir es primär mit politischen und ökonomischen Argumenten zu tun. Politische Argumente sind nun jedoch nicht identisch mit Politischer Philosophie, denn politische Argumente benötigen die Ausarbeitung und Ausbalancierung einer Vielzahl von Fakten und Fragen, seien diese ethischer, psychologischer, politischer oder ökomomischer Art. In diesem Prozeß kann nun die Philosophie jedoch selbst keine Hilfe sein. Einige Anmerkungen mögen diese Feststellung verdeutlichen. Mit der Formel ›Liebe zur Weisheit‹ (in diesem Sinne wohl zuerst in der sokratischen Schule gebraucht) hat das Wort ›Philosophie‹ bis heute die geistige und intellektuelle Tätigkeit der Menschen beeinflußt und den Begriff des Philosophos seit Heraklit als einem nach Zum minuto popolo werden die Krämer, Kleinhändler, Gesellen, Handwerker, Lohnarbeiter, Diener und Bettler gezählt. Zur politischen Rolle des minuto popolo in dem Zeitraum von 1340–1450 siehe (Bruckner, 1972). 33 Siehe zum Aufstand der ciompi zusammenfassend (Davidsohn, 1925:5–7), (Münkler, 1982:176–183), (Vannucci, 1988:104–110) und (Mittermaier, 1995:96–105) sowie ausführlicher (Santarosa, 1843), (Scaramella, 1934), (Brucker, 1968), (Rodolicio, 1970, 1971), (Ravel, 1978), (Barducci, 1981), (Piper, 1978), (Trexler, 1983, 1984, 1985), (Sasso, 1993c, 1993d) und (Stella, 1993). Zu einer Darstellung des Tumults durch Machiavelli siehe (Machiavelli, 1987a:180–197). 32

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der Natur der Dinge Forschenden ausgeprägt. Trotz einer sehr langen historischen Vergangenheit und trotz einer weiten und allgemeinen Verbreitung bleibt für einen in wissenschaftlichen Kategorien und Methoden denkenden Menschen jedoch das Problem weiterhin virulent, daß die Philosophie gar keine allgemeingültigen Ergebnisse hat; d. h. etwas, das man wissen muß, um danach handeln zu können. Während die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen auf ihren Gebieten eine Reihe von konsensual anerkannten Erkenntnissen gewonnen haben, hat im Gegensatz dazu die Philosophie dies trotz ihrer Jahrtausende währenden Bemühungen nicht erreicht. Es kann kaum geleugnet werden, daß es in der Philosophie keine Einmütigkeit des endgültig Erkannten gibt – denn was aus (mehr oder weniger) zwingenden Gründen anerkannt wird, gehört in den Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis und ist nicht mehr Philosophie, da es sich auf ein besonderes Gebiet des Erkennbaren bezieht. 34 Das philosophische Denken hat keinesfalls wie die wissenschaftliche Denkweise den Charakter eines Fortschrittsprozesses vorzuweisen. Zwar sind die Erkenntnisse von heute gewiß kaum mit jenen zu vergleichen, die der Begründer der wissenschaftlichen Medizin Hippokrates besaß; im Bereich des Philosophischen können wir bspw. jedoch nicht behaupten, daß wir mit unserem Wissen 35 heute weiter als Platon gekommen sind. Mit einer beachtenswerten Kontinuität ist seit der Antike die Radikalität als das charakteristische Merkmal philosophischer Fragen geblieben: nicht dieser oder jener Kausalzusammenhang wird in der Philosophie erforscht, sondern der Sinn, der dem Ganzen überhaupt beigelegt werden kann. Deshalb ist auch alles Philosophieren insofern ›existentiell‹, als die Sinngebung für den philosophisch reflektierenden Menschen jeweils entscheidend ist. Es ist deshalb auch darauf hinzuweisen, daß die wissenschaftlichen Bemühungen, die unter dem Etikett ›Politische Philosophie‹ firmieren als ein Teil der Philosophie anzusehen sind, auch wenn sie sich spezifischen Fragestellungen widmet. 36 Klassische politische Theorie wiederum ist ihrem Inhalt nach politische Philosophie. Siehe zum Begriff der ›Erkenntnis‹ und seiner diachronen Entwicklung kondensiert (Wenturis, van Hove & Dreier, 1992:Kap. 1). 35 Zum Terminus ›Wissen‹ und seiner Abgrenzung von ›Erkennen‹, ›Glauben‹ und ›Intuition‹ siehe bspw. (Stegmüller, 1956, 1969a) und (Wenturis, 1978b). 36 Wie bspw. »der Legitimation und Sinngebung menschlichen Handelns in Gesellschaft und Geschichte sowie mit den durch dieses Handeln geschaffenen institutionellen 34

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Einige Bemerkungen zur Verortung und Methode

Gehen wir von einer solchen Einschätzung jedoch aus, dann kann sich auch eine auf Machiavelli beziehende Tradition 37 bzw. Bezugnahme, welche sich der Analyse praktischer Politik widmet, nicht als politische Philosophie bezeichnet werden; denn politische Philosophie ist keine empirische Theorie, die den Ist-Zustand der Realität zu beschreiben und zu erklären versucht, da sie zugleich auch immer einen erwünschten bzw. normativ angestrebten Soll-Zustand vorschlägt. 38 Vor diesem definitorisch-analytischen Hintergrund betrachtet, stellt die politische Philosophie die Explikation und die Begründung eines politischen Willens dar, der stets seine jeweiligen Ziele und Grundsätze hat. Sie entwickelt Programme, setzt Normen und macht Vorschläge, verfaßt Manifeste und Denkschriften, gibt kritische Kommentare und verfaßt auch unkritische Bücher, welche die prinzipiellen Werte und Normen enthalten und verkünden. Betrachten wir den Tumult der ciompi unter polit-philosophischen Gesichtspunkten, so tritt hier das Problem der politischen Verpflichtung auf, d. h. die Frage, warum die ciompi verpflichtet sein sollten, sich an die Gesetzte bzw. Verordnungen der Signoria zu halten. Widmen wir uns dieser Frage, so betreiben wir Politische Philosophie, in welcher dazu diachron verschiedene Theorien des Gesellschaftsvertrags entwickelt wurden. 39 Die diesen Entwürfen zugrundeliegende Idee ist dabei, daß ein Bürger den Gesetzen seines Landes folgen soll, weil dieser im Gegenzug seine staatsbürgerlichen Freiheiten garantiert. Dieser Ansatz besitzt seine markanteste Ausprägung vor allem in der Theorie des Gemeinschaftswillens von Jean-Jacques Rousseau (1971[1762]). In ihr wird hypothetisch angenommen, daß Formen politischer Ordnung« (Weber-Schäfer, 1994:364 f.). Vgl. dazu auch (Schleichert, 1995). 37 Wobei anzuzweifeln ist, ob überhaupt von einer auf Machiavelli’s Axiome politischen Handelns und Verhaltens rekurrierenden Tradition gesprochen bzw. ausgegangen werden kann. Vgl. dazu bspw. (Althusser, 1987b). 38 Zwar ist auch Platons Politeia wie Machiavelli’s politische Schriften aus der Krise entstanden, aus der Krise der antiken Polis bzw. aus der Krise der Republik Florenz im 15. Jahrhundert, doch stellt Platons geistige Leistung nicht das Werk einer Tagespolitik wie bei Machiavelli dar, da Platon als Philosoph und auch als politischer Philosoph zu bestimmen ist, Machiavelli hingegen als ein Protagonist der politischen Theorie und nicht als Philosoph oder politischer Philosoph – und dies unabhängig von der Tatsache, daß beide Denker die Tagespolitik ihrer Zeit durch ihre theoretischen Entwürfe beeinflussen wollten. 39 Siehe dazu (Kersting, 1994). A

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sich die einzelnen Bürger zu einem Gemeinwesen mit einem gemeinsamen Ich und einem gemeinsamen Willen zusammenschließen (volonté generale). Diesem gemeinsamen Willen ordnet sich der Bürger in freier Entscheidung unter. Der Staat garantiert die Freiheit aller Bürger, die im gemeinsamen Willen ihren eigenen Willen wiederfinden. Da sich der Wille des Bürgers im gemeinsamen Willen wiederfindet, können so auch keine Konflikte zwischen Einzelinteressen auftreten. In bezug auf diese Theorie besteht die Funktion des Staates folglich im Ausdruck des Gesamtwillens und in der Verwirklichung des gemeinsamen Guten. Wir können nun aber fragen, ob die Idee des gemeinsamen Willens letztendlich nicht doch nur eine realitätsferne Erfindung ist. Ist es nicht so, daß die Politik eines Staates die beste ist, die unsere Zufriedenheit am besten maximiert? Dieses, einem hypothetisch angenommenen Gemeinwillen entgegengesetzte Argument vertritt die auf Jeremy Bentham (1968b[1789]) zurückgehende Theorie des Utilitarismus. Ihr zufolge verpflichten wir uns, die Gesetze des Staates einzuhalten, weil sie uns zu einer Maximierung unserer Zufriedenheit verhelfen. Dieser Vorstellung zufolge sind die Gesetze die besten, die das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl der Menschen ausmachen bzw. zur Folge haben. Wenden wir diese beiden Theorien auf unser Beispiel des Tumults der ciompi an, so würde das Problem der ciompi in dem Ansatz von Rousseau erst gar nicht auftreten, weil die Politiken der Signoria ja Ausdruck des Gesamtwillens sind. Im Ansatz von Bentham dagegen wäre es ein Problem, doch erst dann ein existenzielles, wenn die damit verfolgten Politiken nicht das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl der Menschen zur Folge hätten. Insofern dieses gewährleistet ist, wäre jede Aktion gegen diese Politiken rechtswidrig. Es muß jedoch bei beiden Theorien gefragt werden, warum wir davon ausgehen können, daß die Regierung bzw. der Staat am besten weiß, was richtig oder falsch bzw. was der Gemeinschaftswille ist. Warum sollten wir die Entscheidungen der Regierung akzeptieren, wenn wir glauben, wie in unserem Beispiel ausgeführt, daß sie für die ciompi falsch sind? Die Beantwortung dieser Frage kann jedoch weder durch politische Argumente noch durch den Hinweis auf politische Ideen, wie in unserem Fall des Gemeinschaftswillens oder des Utilitarismus, erfolgen. Damit ist negativ auch schon ein Definitionselement von Politischer Philosophie angeführt. Politische Philosophie ist demnach nicht 34

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Einige Bemerkungen zur Verortung und Methode

mit politischem Denken und politischen Ideen identisch. Strauss (1959:12) argumentiert in diesem Zusammenhang u. a. wie folgt: »Political philosophy ought to be distinguished from political thought in general. […] By political thought we understand the reflection on, or the exposition of, political ideas; and by a political idea we may understand any politically significant »phantasm, notion, species, or what ever it is about which the mind can be employed in thinking« concerning the political fundaments. Hence, all political philosophy is political thought but not all political thought is political philosophy.«

Im Gegensatz zu einem politischen Philosophen ist ein nichtphilosophischer und politischer Denker eine Person, die in erster Linie an einer spezifischen politischen Ordnung oder policy interessiert ist oder ihr einen bestimmten Wert beimißt. Darüber hinaus ist Politische Philosophie auch nicht mit Politischer Theorie gleichzusetzen. Denn Politische Theorie beinhaltet nicht primär ein philosophisches Element, sondern rekurriert auf das Element der Wissenschaftlichkeit in einem engeren Sinne. Gleich den Theorien der Naturwissenschaften besteht die Funktion von politischen Theorien in der Beschreibung, Erklärung und Prognose von politischen Zusammenhängen auf der Grundlage der Entwicklung von sozialen Gesetzmäßigkeiten (Raphael, 1991:6). Diese Feststellung impliziert in der Folge auch, daß Politische Philosophie nicht mit Politikwissenschaft gleichzusetzen ist. Denn wird Politikwissenschaft ›wissenschaftlich‹ betrieben, so ist sie nicht mehr Teil der Philosophie, sondern eine Erfahrungswissenschaft, deren Theorien und Methoden die Beschreibung, Erklärung und Prognose invarianter Strukturmerkmale der politischen Realität zum Inhalt haben. In diesem Sinne ist Machiavelli auch eher ein politischer Theoretiker, auch wenn seine Theorie kein einheitliches und immer konsistentes Gedankensystem darstellt, 40 als ein politischer Philosoph oder nur politischer Denker. Politische Theorien können dabei unter unterschiedlichen konzeptuellen Ansätzen analysiert werden. Von Beyme (1969) führt in diesem Zusammenhang neben dem philosophischen Ansatz zur Analyse klassischer politischer Theorien drei Ansätze an: den historischen, den psychologischen und den soziologischen/sozialgeschichtlichen.

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Siehe dazu auch eingehender Punkt 3 in dieser Einführung. A

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Einfhrung

Der historische Ansatz kann in vier verschiedene Ausrichtungen unterteilt werden: 1. 2.

3.

4.

Historische Analyse politischer Theorien im Sinne eines Quellenstudiums vergangener Regierungssysteme; historische Analyse der Biographie politischer Theoretiker mit dem Ziel, über das reine Quellenstudium hinaus weitere Schlußfolgerungen über die Strukturen vergangener politischer Systeme ziehen zu können; historische Analyse der genetischen Voraussetzungen von politischen Theorien, d. h.: welche Einflüsse können als Determinanten der Formulierung jeweils in historischen Kontexten formulierten politischen Theorien ausgemacht werden? historische Analyse der Wirkungsgeschichte politischer Theorien.

Der psycholgische Ansatz zur Analyse politischer Theorien konzentriert sich auf die individuelle Persönlichkeit des jeweiligen politischen Theoretikers und versucht, aus individuellen Eigenheiten determinierende Schlüsse auf die Theorieformulierung zu ziehen. Der soziologische und sozialgeschichtliche Ansatz schließlich versucht, die Entstehung politischer Theorien unter Rückgriff auf die jeweilige soziale Situation, in der sie entstanden sind, zu analysieren. Der soziologische Ansatz ist dabei in einen positivistischen und in einen kritisch-analytischen zu unterteilen, wobei letzterer insbesondere als Ideologiekritik betrieben wird und ersterer inbesondere mit der Wissenssoziologie in Verbindung zu bringen ist. Der sozialgeschichtliche Ansatz schließlich versucht, die Frage nach den sozialen Bedingungen für die Entstehung bedeutender politischer Theorien zu beantworten. Neben diesen schon klassischen Ansätzen zur Analyse klassischer politischer Theorien sind ergänzend neue rekonstruktive Ansätze anzuführen. Hier ist zunächst der wissenschaftstheoretische Ansatz des Neuen Strukturalismus anzuführen, den wir auch für unsere Analyse der Handlungstheorie von Machiavelli benutzen werden. 41 Aufgabe und Ziel dieses Ansatzes besteht in den auf mengentheoretischer Grundlage basierenden Bemühungen einer rationalen Rekonstruktion (und auch Konstruktion) wissenschaftlicher 41

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Siehe dazu Punkt 4 in dieser Einführung und Kapitel 2.

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Zum Analysegegenstand Niccol Machiavelli

Theorien. Neben diesem wissenschaftstheoretischen Ansatz ist desweiteren auf Theorien rationalen Handelns, und hier insbesondere auf Rational Choice Modelle, sowie auf spieltheoretische Rekonstruktionen hinzuweisen. 42

3.0 Zum Analysegegenstand Niccolò Machiavelli Der Florentiner Niccolò Machiavelli (1469–1527), Sekretär und Gesandter der Signoria 43 sowie spätere Schriftsteller, hat der Nachwelt eine umfangreiche Sammlung an offiziellen Schriftstücken 44 , offiziellen und privaten Korrespondenzen 45 und zum größten Teil nach seiner Amtsenthebung 1512 verfaßte politische, geschichtliche und militärtheoretische Werke hinterlassen. 46 Anzuführen sind für letztere insbesondere seine Hauptwerke Il Principe [1532] 47 , Discorsi sopra la prima Deca de Tito Livio [1531], Dell’arte della guerra [1521] und die Istorie fiorentine [1532]. 48

Für die Rekonstruktion klassischer politischer Theorien mittels Rational Choice Modellen siehe bspw. für Machiavelli (Dreier, 1998c, 1999b, 1999d), der von Braun (1999:18) neben Hobbes als einer der ersten Rational-Choice-Theoretiker genannt wird. Für spieltheoretisch orientierte Rekonstruktionen klassischer politischer Theorien vgl. bspw. für Machiavelli (Barbut, 1970) und (Dreier, 1999c) sowie für Hobbes (Nida-Rümelin, 1996). 43 Siehe dazu (Duprè-Theseider, 1945), (Rubinstein, 1956), (Chiappelli, 1970/71, 1973), (Marchand, 1978) und (Black, 1985). 44 Siehe dazu im besonderen (Machiavelli, 1964, 1971, 1973, 1984a, 1985, 1999c) und (Marchand, 1975). 45 Von den zum gegenwärtigen Zeitpunkt veröffentlichten offiziellen und privaten Briefen Machiavellis siehe (Machiavelli, 1826, 1954:1083–1142, 1961, 1984d, 1998e, 1999b), (Bertelli, 1966) und in neueren Übersetzungen (Ferrara, 1980) und (Atkinson & Sices, 1996); für eine kommentierte Ausgabe der Briefe zwischen Machiavelli und Vettori siehe (Najemy, 1993). 46 Siehe zur Kongruenz der von Machiavelli während seiner beruflicher Laufbahn verfaßten offiziellen Schriftstücken mit seinen größtenteils in der Verbannung verfaßten nachberuflichen Werke (Chiappelli, 1970). 47 Wir geben hier jeweils das Jahr der Erstveröffentlichung an. 48 Siehe dazu die – wenn auch unvollständig – in Deutsch verfaßten Gesamtausgaben der Schriften Machiavellis (Machiavelli, 1832–41, 1925a, 1990a), die italienische Ausgabe (Machiavelli, 1992a), die ersten beiden Bände einer auf den neuesten wissenschaftlichen Stand gebrachten Neuausgabe der Schriften Machiavellis (Machiavelli, 1997a, 1999a) sowie die auf 20 Bände angelegte Edizione Nazionale delle Opere di Niccolò Machiavelli (Machiavelli, 2001ff), von der gegenwärtig fünf Bände erschienen sind. 42

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Einfhrung

Bereits unmittelbar nach der Veröffentlichung des Il Principe setzte eine teils positiv, teils negativ bestimmte Rezeption seines Werkes ein 49 , die unter dem Begriff ›Machiavellismus‹ leidenschaftliche Befürworter und Gegner bezüglich der Frage ›Wie ein Politiker handeln sollte, um Erfolg zu haben‹ gefunden hat. 50 War die Hochstilisierung und Verteufelung Machiavellis, zumindest bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges (1939–1945) 51 , ein wesentliches Element der Machiavelli-Rezeption 52 , so wird Machiavelli in der neueren Forschung weniger unter präskriptiven Gesichtspunkten behandelt und ideolgisch vereinnahmt 53 , sondern mehrheitlich ›wertneutral‹ im Rahmen fachwissenschaftlicher Paradigmen analysiert und interpretiert. Diese »Verwissenschaflichung« (Kersting, 1988b:9) des Werkes von Machiavelli hat nun jedoch nicht zu einer einheitlichen Interpretation des Florentiners geführt, sondern, eingebettet in mehrere

Siehe dazu insbesondere (Friedrich der Große, 1741), (Lutz, 1961) und (Gentillet, 1968, 1974) sowie (Heß, 1751), (Jakob, 1794), (Madsack, 1965) und (Rathé, 1965). 50 Siehe dazu bspw. (Heyer, 1918), (Burnham, 1943), (Panella, 1943), (Faul, 1961), (Kölmel, 1969), (Macek, 1980), (Buck, 1985:129–155), (Senellart, 1987) und (Dierkens, 1997). Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch die Analysen ›machiavellistischer‹ Handlungs- und Verhaltensweisen in Hinblick auf den Nationalsozialismus wie bspw. die von Sternberger (1988) angestellten Parallelen zwischen Borgias Mordaktion in Sinigaglia (Beschreibung in (Machiavelli, 1986:69–71)) mit der Ermordung Röhms in Wiessee, Faul’s Analyse von Hitler als Über-Machiavellisten (1954) oder der Versuch von Krull (1993), die Ideologie und die Politik des Nationalismus unter machiavellistischen Gesichtspunkten zu analysieren. 51 Siehe dazu bspw. die Auseinandersetzung zwischen René König (1979, 1985) und Herfried Münkler (1981, 1982) bezüglich einer angemessenen Rezeption des Werkes von Machiavelli sowie die Stilkritik an Königs Machiavelli-Interpretation von Norbert Weiss (1983). 52 Siehe bspw. zum Einfluß und zur Rezeption Machiavellis in Deutschland u. a. (Elkan, 1919), in Großbritannien u. a. (Praz, 1962, 1970) und (Raab, 1956) sowie in Frankreich u. a.(Beame, 1982) und (Ingmann, 1988). 53 So wie bspw. noch von Mussolini (1924,1998 [1928]) und Gramsci (1981) oder wie zuletzt von den ehemaligen Ministerpräsidenten der ersten italienischen Republik Craxi (1998 [1968]) und Berlusconi (1998 [1992] in Vorworten zu Neuauflagen des Il Principe. Siehe dazu neben einer ersten Zusammenfassung (Nicolai, 1969) insbesondere die Wiederveröffentlichung der Vorworte von Mussolini (1928), Craxi (1968) und Berlusconi (1992) durch Labini (1998) und deren Beurteilung durch Fubini (1998a). 49

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Hauptinterpretationsstränge 54, eine Vielzahl von Machiavelli-Deutungen hervorgebracht. 55 Daß Machiavelli und sein Werk auch heute noch nichts von ihrer Anziehungskraft und Faszination verloren haben und in der interdisziplinär angelegten wissenschaftlichen Rezeption und Analyse mehr denn je präsent sind, zeigen uns die immer wieder neu Nach Münkler (1982:14 f.) und Kersting (1988b:10 f.) – die in ihren Studien selbst einen Versuch der Synthese unternehmen – können diese Hauptinterpretationsstränge in solche unterteilt werden, die Machiavelli als den ersten Theoretiker der Staatsräson begreifen, wie bspw. (Meinecke, 1924) und (Ritter, 1947, 1948) [siehe dazu auch (Münkler, 1987)], in solche, die seine ›politische Theorie‹ unter Rückgriff auf die spezifischen Probleme seiner Zeit analysieren, wie bspw. (Chabod, 1958a, 1993) und (Gilbert, 1970, 1984), in solche, die ihn geisteswissenschaftlich interpretieren, wie bspw. (Strauss, 1958), und zuletzt in solche, die versuchen, Machiavelli vor dem Hintergrund seiner Zeit zu interpretieren, wie bspw. (Skinner, 1978, 1988) und (Pocock, 1975). 55 Siehe dazu bspw. neben (Jensen, 1960), (Fleisher, 1972), (Gilmore, 1972) und (Parel, 1972) die (ohne Vollständigkeit beanspruchen zu wollen) in den letzten ca. 30 Jahren neu erschienen oder wiederaufgelegten Studien und Sammelbände über und zu Machiavelli in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache von (Gallicet Calvetti, 1972), (Buskirk, 1974), (Cadoni, 1974, 1981, 1994), (Cervelli, 1974), (Montano, 1974, 1975), (Bruscagli, 1975), (Gardiner, 1975), (Gasquet, 1975), (Marchand, 1975, 1996), (Sternberger, 1975), (Brudney, 1977), (Guillemain, 1977), (Martelli, 1978, 1998a, 1999), (Zeppi, 1978), (Dotti, 1979), (König, 1979), (Mansfield, 1979, 1996), (Aguirre, 1978), (Lapresa, 1978), (Santi, 1979), (Colonna d’Istria & Frapet, 1980), (Esposito, 1980, 1984),(Kroeber-Keneth, 1980), (Lawton, 1980), (Fornar, 1981), (McCanles, 1981), (Perrino, 1981), (Wilson, 1981), (Toscano, 1981), (Barthouil, 1982),(Münkler, 1982), (Sanguineti, 1982), (Ruffo Fiore, 1982), (Zanzi, 1982), (Hulling, 1983), (Anselmi, 1984), (Gilbert, 1984), (Klein, 1984), (Larivaille, 1984), (Pitkin, 1984), (Strnad, 1984), (Vinciero, 1984), (Larivaille, 1984), (Bausi, 1985), (Bec, 1985), (Buck, 1985), (Cabrini, 1985), (Heers, 1985), (McCanles, 1985), (Stuparich, 1985), (Zanella, 1985), (Botwinick, 1986), (Duvernoy, 1986), (Freyer, 1986), (Hein, 1986), (Lefort, 1986), (Ratliff, 1986), (Vissing, 1986), (Bertolo, 1987), (Deppe, 1987), (Garver, 1987), (Guyon, 1987), (Sasso, 1987, 1988a,b, 1997), (Stell, 1987), (Yi, 1987), (Breitling & Gellner, 1988), (Diesner, 1988, 1992, 1994), (Donaldson, 1988), (Fink, 1988), (Ingman, 1988), (Jodogne, 1988), (Kersting, 1988b), (Rebhorn, 1988), (Skinner, 1988, 1992a), (Weibel, 1988), (de Gracia, 1989), (Mansfield, 1989), (Prostka, 1989), (Soupis, 1989), (Vitale, 1989), (Wirls, 1989), (Birley, 1990), (Bryder, 1990), (Cabrini, 1990), (Coppini, 1990), (Grazzini, 1990), (Joly, 1990), (Kohr, Martini & Kohr, 1990), (Medici, 1990), (Mittermaier, 1990), (Scaglia, 1990), (Sorella, 1990), (Ambrosini, 1991), (Borghi, 1991), (Gilbert, 1991), (Heyer, 1991), (Matucci, 1991), (Bock, Skinner & Viroli, 1992), (Levi-Malvano, 1992), (Nölling, 1992), (Olivieri, 1992), (Parel, 1992), (Rudowski, 1992), (Roffi, 1992), (Sacco Messineo, 1992), (Ascoli & Kahn, 1993), (Fell, 1993), (Fontana, 1993), (Garin, 1993), (Godorecci, 1993), (Meagher, 1993), (Mukherjee, 1993), (Najemy, 1993), (Sasso, 1987, 1988a,b, 1993a,b, 1997), (Spinelli, 1993), (Baron, 1994), (Fido, 1994), (Gil, 1994), (Hegmann, 1994), (Kahn, 1994), (Macaulay, 1994), (Marcau, 1994), (Verdiglione, 1994), (Coyle, 1995), (Hariman, 1995), (Pierotti, 1995), (Pietsch, 1995), (Scharfstein, 1995), (Voegelin, 1995), 54

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aufgelegten, teilweise verbesserten, neukommentierten 56 und neuübersetzten Schriften Machiavellis in den letzten Jahrhunderten 57 sowie die internationale Machiavelli-Forschung.58 Dem von dem italienischen Philosophen, Historiker und Politiker Benedetto Croce 1949 veröffentlichtem Aufsatz zu Machiavelli mit dem Titel Una questione che forse non si chiudera mai: la questione del Machiavelli kann deshalb auch nur uneingeschränkt zugestimmt werden: Die Forschungsfrage ›Machiavelli‹ wird auch weiterhin offenbleiben! 59 , 60 (Wicht, 1995), (Branca, 1996), (Leerssen & Spiering, 1996), (Legami, 1996), (Masters, 1996, 1998a, 1999), (Pagano, 1996), (Paulsen, 1996), (Pfaff, 1996), (Riklin, 1996), (Sullivan, 1996, 2000), (Tapergi, 1996), (Abensour, 1997), (Bellini & Mazzoni, 1997), (Valadier, 1997), (Danel, 1997), (Dunn & Harris, 1997), (Errera, 1997), (Grant, 1997), (Oriani, 1997), (Faraklas, 1997), (Caleo, 1998), (Centro Pio Rajana, 1998), (Cutinelli-Rèndina, 1998, 1999), (Femia, 1998), (Godman, 1998), (Jacobelli, 1998), (Kocis, 1998), (Malato, 1998), (Palonen, 1998), (Sfez, 1998, 1999), (Stopani, 1998), (Taylor, 1998), (Viroli, 1998a, 1998b, 2000), (Althusser, 1999), (de Alvarez, 1999), (Coby, 1999), (Ledeen, 1999), (Morris, 1999), (De Camilli, 2000), (Fischer, 2000), (Focher, 2000), (Hoeges, 2000), (Scarpa, 2000), (Vatter, 2000), (Villar, 2000), (Del’Aguila, 2001), (Magedanz, 2001), (Pontremoli, 2001), (Verspohl, 2001), (Taureck, 2002) und (Campagna, 2003). 56 Hier ist inbesondere die Neuausgabe der Schriften Machiavellis von Vivanti (Machiavelli, 1997a, 1999b) anzuführen, die erste text-kritische Ausgabe des Il Principe von Inglese (Machiavelli, 1994, 1995) sowie die auf 20 Bände angelegte Edizione Nazionale delle Opere di Niccolò Machiavelli (Machiavelli, 2001ff). 57 Die letzte, wenn auch unvollständige Gesamtausgabe der politischen Schriften Machiavellis in Deutschland besorgte der Machiavelli-Spezialist Herfried Münkler (Machiavelli, 1990). 58 Was die Bibliographien, in den Ausgaben und Übersetzungen der Schriften von Machiavelli und den Machiavelli-Monographien und Aufsätzen, die Einzelaspekte von Machiavelli behandeln, betreffen, mit mehreren tausend Titeln eindrucksvoll belegen. Siehe dazu neben der immer noch lesenswerten Studie von Robert von Mohl (1858b) insbesondere (Gerber, 1912–13), (Norsa, 1936), (Santonastaso, 1947), (Fido, 1965), (Bertelli & Innocenti, 1979), (Ruffo Fiore, 1990) sowie (Procacci, 1995). Für eine eingehendere Beurteilung der Arbeiten über Machiavelli in den letzten Jahrzehnten siehe die Forschungsberichte von (Harris, 1941), (Preiser, 1952), (Sasso, 1952a), (Cochrane, 1961, 1972), (Pincin, 1961/62), (Clough, 1967), (Clark, 1970), (Della Terza, 1970), (Goffis, 1970), (Masiello, 1971), (Geerken, 1976), (Gilbert, 1984), (Kersting, 1987), (Eisermann, 1988, 1993), (Vollrath, 1993) und (Cutinelli, 1994). 59 Im gleichen Jahr wie Croce schreibt auch Cassirer (1949:153) in diesem Zusammenhang über den Il Principe: »Selbst jetzt, nachdem man an das Buch von den verschiedensten Blickwinkeln herangegangen ist, nachdem es von Philosophen, Historikern, Politikern und Soziologen diskutiert worden ist, ist dieses Geheimnis noch nicht vollständig gelüftet, von einem Jahrhundert zum anderen, finden wir nicht nur einen Wechsel, sondern eine vollständige Umkehrung in den Urteilen über den ›Principe‹«. 60 Zur international weiterhin vertretenen Modernität und Originalität von Machiavel-

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Einen für die moderne Politikwissenschaft weiter offenen Forschungsgegenstand betrifft dabei die in ihren Antworten kontrovers diskutierte Frage, inwieweit Machiavelli als Begründer der modernen Politikwissenschaft bezeichnet und damit implizit weiter, inwiefern seine Vorgehensweise als eine dem modernen Wissenschaftsverständnis entsprechende Methode charakterisiert und die Ergebnisse seiner Reflexionen als politische Theorie identifiziert werden können. Daß die Ausführungen von Machiavelli zu Staat und Politik nicht in einer systematisch aufgearbeiteten und begründeten Form vorgenommen wurden, sondern, und dies insbesondere in bezug auf seine verwendeten Begrifflichkeiten – wie bspw. virtù, ambizione, fortuna, occasione, qualità de’tempi und necessità – den »sinnverwirrenden Mangel einer festen Ausdrucksweise« (Schmidt, 1907:61) aufweisen, könnte auf einen ersten Blick zunächst zugestimmt werden. 61 Im Anschluß an eine akzeptierte »Richtigkeit« dieser Feststellung wäre es somit auch verfehlt, Machiavelli als einen logisch argumentierenden und begründenden Theoretiker oder Politiker in einem für uns ›modernen‹ Sinn zu bezeichnen. 62 Er wäre demnach eher als ein politischer Denker einzustufen, dessen Stil der »humanistischen Schreibart und rhetorischen Methode« verpflichtet ist (Kersting, 1988b:10) 63 , die auf wohldefinierte Begrifflichkeiten verzichtet, und weniger als ein ausgewiesener Exponent (moderner) politischer Theorie. 64 Die Ausführungen von Machiavelli in seinen li siehe auch (Berlin, 1982b), (McIntosh, 1984), (Newell, 1987), (Parel, 1991) und (Allen, 1997). 61 Siehe dazu auch (Kluxen, 1967: Kapitel I) und besonders (Prezzolini, 1967:18), der schreibt: »Machiavelli himself is partly to blame for the misinterpretation of his thought: he never bothered to express it in a systematic form or in consistent terms.« 62 So wird bspw. argumentiert, daß Machiavelli nie politische Theorie betreiben wollte (Buchheim, 1986:208; Kersting, 1988b:49), seine Werke keine Systematik der Wissenschaft von der Politik enthalten, sondern im wesentlichen nur Sammlungen von Einfällen und Eindrücken (Schmid, 1956:19, Chabod, 1958b:143, Schieder, 1980b:12), er nicht einmal eine für alle Fälle geltende Methode des konkreten politischen Verhaltens kennt (Hefele, 1927b:XV), seine Methode nur eine Methode der Deutung ist (Sasso, 1956:171), er kein politisierender Theoretiker war, sondern ein Politiker (Ritter, 1947:55), er nicht wissenschaftlich, sondern als »gelehrter, rhetorisch geschulter und stilistisch ambitionierter Schriftsteller« argumentiert (Wolf, 1997:616) und daß sein Il Principe nur Literatur ist (König, 1979:340). 63 Siehe dazu auch (McCanles, 1983), (Garver, 1985), (Ascoli, 1993), (Kahn, 1994) und (Cox, 1997). 64 Eine Position, wie sie bspw. von (Brandenburg, 1938), (Butterfield, 1940:1–87), (Olschki, 1945), (Walker, 1950(I):80–100), (Crick, 1970:45–60), (Münkler, 1982), (Buck, A

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schriftstellerischen Werken sind – wenn auch in einer für die damalige Zeit klaren und einfachen Sprache verfaßt – zwar einem metaphorischen Sprachstil verhaftet und seine Grundbegriffe teilweise mit verschiedenen Semantiken belegt, die teilweise so statt Eindeutigkeit eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten implizieren könnten und teilweise auch tun 65 , doch sollte u. E. damit nicht schon von vornherein notwendigerweise auch das Verdikt verbunden sein, daß die politische Handlungstheorie von Machiavelli im Kern inkonsistent und seine Begrifflichkeiten inkohärent seien oder, wie es Pfetsch (1988: 162) ausdrückt, seine Handlungstheorie »überbestimmt« sei. Die Lektüre und politikwissenschaftliche Analyse von Machiavelli’s Schriften mag zwar den Eindruck erwecken können, daß seine in diesen implizit angelegte politische Handlungstheorie zu umgangssprachlich formuliert und teilweise zu unpräzise ausgeführt ist und – von einem Standpunkt der heutigen Logik aus betrachtet – erhebliche Vieldeutigkeiten und auch Lücken enthält, doch sollte mit einer solchen Feststellung nicht auch zwingend die Schlußfolgerung assoziiert werden, daß Machiavelli und sein Werk nach heutigen wissenschaftlichen Standards keine Elemente einer politischen Theorie beinhalten. 66 Wir gehen davon aus – und dies 1985:156–168), (Bryder, 1990: chap.3) und (Kocis, 1998:59–60) vertreten wird. Zu einer Beurteilung von Machiavelli’s Il Principe als einem wissenschaftlichen Werk kommt auch der Machiavelli präskriptiv negativ interpretierende Leo Strauss (1958:54 f.), indem er schreibt: »The Prince is a scientific book because it conveys a general teaching that is based on reasoning from experience and that sets forth that reasoning.« 65 Vgl. dazu bspw. die in Knauer (1990) im Anhang angeführten semantischen Ausprägungen der handlungstheoretischen Grundbegriffe in Machiavellis Schriften. Zu Einzelanalysen von Machiavell’s Grundbegriffen siehe für virtù: (Mayer, 1912), (Whitfield, 1943), (Walder (1944), (Gilbert, 1951), (Wood, 1967a), (Hannaford, 1972), (Plamenatz, 1972), (Price, 1973), (Seigel, 1973), (D’Amico, 1981), (Diesner, 1985), (Breitling, 1988), (Münkler, 1994a) und (Nedermann, 2000); für fortuna: (Procacci, 1965), (Flanagan, 1972), (Lukes, 1985), (Balaban, 1990) und (Eijsbouts, 1996); für virtù und fortuna im Vergleich: (Mattei, 1938), (Paparelli, 1970) und (Diesner, 1993); für ambizione: (Bonadeo, 1970a), (Waley, 1970), (Fleisher, 1972), (Price, 1982, 1988) und (D’Amico, 1997); sowie für necessità: (Kluxen, 1967). 66 Wir wenden uns deshalb auch dezidiert gegen die bspw. von Buchheim (1986:214 f.) vertretene Auffassung, daß es nicht möglich ist, aus seinen Schriften eine Theorie zu rekonstruieren, »um das, was vordergründig nicht zusammenstimmt, doch als sinnvolles Ganzes zu erkennen.« Nach unserer Auffassung sollte ein solches Analyseverbot nicht schon von vornherein in der Analyse des Werkes von Machiavelli akzeptiert werden. Zum einen, weil die Unmöglichkeit einer Theorieextraktion aus den Texten Machiavellis selbst nur axiomatisch gesetzt wird und weil eine Rekonstruktion nicht intendieren muß, das gesamte Reflexionsprodukt Machiavellis umfassen zu wollen, sondern

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Zum Analysegegenstand Niccol Machiavelli

wird auch unsere Analyse zeigen – daß die Aussagen wesentlicher Teile der von Machiavelli verfaßten Schriften in Form einer rekonstruierten, und das heißt auch präzisen Fassung, eine moderne, empirisch orientierte politische (Handlungs)-Theorie gemäß den gegenwärtigen (sozial-)wissenschaftlichen Standards darstellt 67 – und dies zuletzt auch deshalb, weil sich Machiavelli in seiner Argumentation über politisches Handeln ausschließlich an der Faktizität, an der verità effettuale della cosa 68 , 69 orientiert und von moralischen und metaphysischen Imperativen abstrahiert. In bezug auf die oftmals angeführte Vieldeutigkeit und nicht vorhandene Wohldefiniertheit seiner Grundbegriffe 70 kann eingewendet werden, daß die Vertreter dieses Argumentationsstranges selbst nur ein reduziertes bzw. zu enges Verständnis darüber haben, was die Intension und Extension eines Begriffes ausmacht. Betrachten wir nämlich Machiavelli’s Grundbegriffe als »fuzzy sets« 71 oder als »shelter concepts« 72 , d. h. als ›unscharfe‹ 73 oder jeweils als in bezug auf ihre Semantik alternierende durchaus auch nur Teile, wie eben seine Handlungstheorie; und zum anderen, weil der Begriff »Theorie« so eindeutig nicht ist, wie er unerläutert von der Mehrzahl der Machiavelli-Interpreten vorgebracht bzw. von ihnen als evident wissend vorausgesetzt wird. Friedrich Blaschke (1941:XXV) bspw. interpretiert das Werk Machiavellis im Vorwort seiner Ausgabe des Il Principe (Machiavelli, 1941) in Anlehnung an Kant sehr wohl als eine wissenschaftliche Theorie der Politik, indem man den Innbegriff von praktischen Regeln als Theorie nennen kann, »wenn diese Regeln als Prinzipien in einer gewissen Allgemeinheit gedacht werden und dabei von einer Menge Bedingungen abstrahiert wird, die doch auf ihre Ausübung notwendigen Einfluß haben« (Kant, 1996b:127). 67 Wenn Mohr (1995:155) darlegt, daß die Anschauungen Machiavellis keine Theorie im heutigen Sinne darstellt und sich dabei auf das von Falter und Winkler (1995) vertretene Theorieverständnis beruft, so mag dem vordergründig zuzustimmen sein. Daß die von diesen Autoren selbst verwendete Theoriekonzeption jedoch selbst auch fragwürdig ist, verschweigt Mohr. 68 (Machiavelli, 1994:XV,[3]). 69 Siehe dazu bspw. (Mindle, 1985) und (Lord, 1997). 70 Siehe dazu bspw. exemplarisch (Kersting, 1988b:10). 71 Siehe dazu etwa grundlegend (Zadeh, 1965), (Jones, Kaufmann & Zimmermann, 1986), (Grauel, 1995) und (Pollandt, 1997) sowie allgemeinverständlicher auswahlsweise (Spies, 1993), (Drösser, 1995) und (Kosko, 1995). Dezidiert für die Grundbegriffe Machiavelli’s als »fuzzy concepts« wird dieser Ansatz von (Masters, 1998b) vertreten. 72 Der Begriff »Shelter Concepts« geht auf Fred W. Riggs zurück, der diesen Begriff 1998 in die sozialwissenschaftliche Begriffsanalyse eingeführt hat (Riggs, 1998). 73 Zur Erläuterung eines Fundamentalbegriffs Machiavellis als ›unscharfen‹ Begriff kann sein Begriff virtù herangezogen werden. Ohne auf die spezifischen Komponenten dieses Begriffs an dieser Stelle hier näher einzugehen (siehe dazu differenzierter Kapitel 6) kann unter virtù allgemein eine individuelle oder kollektive Kapazität verstanden werden, um effektiv handeln zu können (Seigel, 1973:479). Es wird nun eingewendet, A

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und situationsabhängige Begriffe, so läßt sich der Grad ihres semantischen Inhaltes und Umfanges sehr wohl präzise (lokal) und seine politische Handlungstheorie als konsistent bestimmen. 74 Unter diesen Auspizien betrachtet ist es u. E. auch angemessen, Machiavelli als Begründer oder zumindest als Urvater der modernen, empirisch orientierten Politikwissenschaft« zu bezeichnen. 75 Zwar daß Machiavelli diesen Begriff in seinen Schriften mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen belegt und, was noch gravierender erscheint, ihn auch inkonsistent anwendet. Am prägnantesten kommt dies wohl im 8. Kapitel seines Il Principe in der Figur des Agathokles zum Ausdruck. In ihm bescheinigt er Agathokles zum einen virtù (»… non dimanco accompagnò le sua sceleratezze con tanta virtú di animo e di corpo …« und »Perché, se si considerassi la virtú di Agatocle nello entrare e nello uscire de’pericoli e la grandezza dello animo suo nel sopportare e superare le cose avverse, non si vede perché egli abbia a essere iudicato inferiore a qualunque eccellentissimo capitano« (Machiavelli, 1997d:140)), die ihm zur Machterlangung verhalf, zum anderen spricht er ihm virtù aber auch ab, weil er durch Verbrechen an die Macht gelangte (»Non si può ancora chiamare virtú ammazzare e’suoi cittadini, tradire gli amici, essere sanza fede, sanza piatà, sanza religione e’quali modi possono fare acquistare imperio, ma non gloria« (Machiavelli, 1997d:140)). Wie kann diese Inkonsistenz interpretiert werden? Zum einen können wir sie einfach als eine inkonsistende Verwendungsweise des Begriffs virtù bei Machivalli ansehen, denn entweder spricht er einem Protagonisten virtù zu oder eben nicht; beides gleichzeitig scheint jedoch logisch ausgeschlossen zu sein. In einer formalisierten Form könnte dieser Sachverhalt folgendermaßen angegeben werden. Wir führen eine Menge A von Personen ein, denen Machiavelli in seinen Schriften virtù zuspricht. Betrachten wir jetzt eine beliebige Person x aus dem Universum U der in Machiavelli’s Schriften angeführten Personen, so können wir diese entweder zu den von Machiavelli mit virtù versehenen Personen zählen (1) oder nicht (0). Wir können dies abgekürzt durch folgende Zugehörigkeitsfunktion ausdrücken: cA: X ! [0,1], d. h.: cA(x) = 1, wenn x 2 A ^ cA(x) = 0, wenn x 2 = A. Betrachten wir virtù jetzt jedoch nicht als einen scharfen, sondern als einen unscharfen Begriff, d. h. gehen wir davon aus, daß eine Person mit mehr oder weniger virtù versehen sein kann und nicht nur absolut mit oder ohne, dann können wir Agathokeles als eine mit virtù, aber nicht mit absoluter virtù versehene Person charakterisieren. Für unsere Zugehörigkeitsfunktion bedeutet dies dann, daß Zugehörigkeitswerte zwischen 0 und 1 variieren können. Eine so aufgefaßte Funktion beschreibt eine ›unscharfe‹ Menge. Unsere eingangs angeführte Funktion ist dann in folgende zu modifizieren: cA: X ! [0,1], cA(x) = a, falls x 2 A, wobei 0a1 ist. Dabei bedeutet der Ausdruck ›2‹, daß x weder ganz zu A, noch ganz zu :A gehört. Gehen wir von einer solchen Interpretationsweise aus, dann liegt im Machiavelli-Beispiel keine Inkonsistenz vor. Vgl. zu dieser Interpretationsproblematik auch (Sasso, 1965:210 f.), (Kahn, 1987) sowie (Danel, 1997:196 f.) und zur historischen Figur des Agathokles (Schubert, 1887), (Preissler, 1890) sowie (Berve, 1953). 74 Eine Position, die bspw. der Machiavelli-Forscher Roger D. Masters vertritt (Masters, 1996, 1998b). 75 Siehe für diesen Strang der Machiavelli-Interpretation im 20. Jahrhundert bspw. (Brandenburg, 1938), (Freyer, 1938a,b), (Hashagen, 1938), (Beck, 1944), (Olschki, 1945, 1969), (Croce, 1945a), (Cassirer, 1949), (Pasa, 1958), (Sasso, 1961), (McCoy, 1963b),

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Zur Rekonstruktionstrategie von Niccol Machiavelli’s

hat Machiavelli in seinen Schriften keine »Theorie der Politik« geschaffen, 76 zweifellos jedoch in Kongruenz mit dem im »Geist der aufstrebenden neuen empirischen Wissenschaften gehaltenen Methode« (Eisermann, 1993:89) eine Analyse politischen Machtstrebens sowie dessen Erhalt und gegebenenfalls deren Erweiterung vorgenommen, welche die (wissenschaftliche) Konfrontation mit modernen, empirisch orientierten, sozialwissenschaftlichen politischen Handlungs- und Machttheorien nicht zu scheuen braucht. Seine verwendeten Begrifflichkeiten mögen dabei – wie bereits angeführt – auf den ersten Blick zwar mehr Verwirrung als Konsens stiften, doch halten wir diese Verwirrung der Interpreten eher für ein Zeichen ihrer unzulänglichen Kenntnisse der Weiterentwicklungen der modernen Logik – wie gerade etwa der Fuzzy-Logik – oder den Fortschritten in der Analyse sozialwissenschaftlicher Begriffe, wie sie bspw. von dem Forschungskomitee COCTA (Research Committee 35 on Conceptual and Terminological Analysis) innerhalb der International Association of Sociology (ISA) seit den siebziger Jahren betrieben wird 77 , und nicht als ein Argumentationsdefizit, das Machiavelli zuzuschreiben ist!

4.0 Zur Rekonstruktionstrategie von Niccolò Machiavelli’s politischer Handlungslehre In bezug auf Machiavellis Handlungstheorie/-lehre wurden im deutschsprachigen Raum explizit verschiedene Versuche zu einer Systematisierung und Konkretisierung unternommen. 78 Diese Systematisierungs- und Konkretisierungsversuche sind in ihrer Grundausrichtung jedoch informeller Natur und bestehen primär in der Explikation der grundlegenden Begrifflichkeiten von Machiavelli’s (Mantilla Pineda, 1967), (Abbagnano, 1969), (Mongardini, 1969), (Matteucci, 1970), (Firpo, 1973), (Mansfield, 1981), (Basta, 1982) und (Buck, 1985). 76 Und in dieser Festellung ist den Ausführungen von (Buchheim, 1986:208) im Anschluß an (Sasso, 1965:172 f.) auch zuzustimmen. 77 Siehe dazu bspw. die bahnbrechenden Arbeiten von Sartori, Riggs & Teune (1975) und (Sartori, 1984) sowie (Riggs, 1982). Bezüglich der Diskussion zur ›Begriffskultur‹ in den Sozialwissenschaften siehe auf der Grundlage der Philosophie von COCTA (Dreier, 1996a). 78 U. a. durch (Freyer, 1986[1938]a:47–57,1986[1938]c), (Kersting, 1988a,b:Kap. IV), (Pfetsch, 1988), (Hitzler, 1991, 1993), (Faul, 1994) und (Riklin, 1996). A

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Handlungslehre, welche in ihren interrelationalen Beziehungen in bezug auf die Handlungslehre kombiniert werden, um so zu einer mit Machiavelli’s möglichen Intentionen kongruenten politischen Handlungslehre zu gelangen. In unserer Arbeit legen wir zu diesen Rekonstruktionen eine Ergänzung vor, indem wir den Schwerpunkt der Analyse nicht auf Machiavelli’s Begrifflichkeiten legen, sondern auf die in seinen Schriften angeführten konkreten Handlungstypen, konkreten Handlungen und mit ihnen situativ verbundenen Handlungsregeln. 79 Unter Einbeziehung der bisher geleisteten Systematisierungs- und Konkretisierungsversuche werden wir aufbauend auf den in Machiavellis Schriften – und hier insbesondere der in seinem Il Principe – angeführten konkreten Handlungstypen wie bspw. ›Abschluß eines Vertrags‹, Verhandlungen’, ›Mobilisierung von Truppen‹, ›Vernichtung einer Stadt‹, ›Anwerbung von Söldnern‹ etc. 80 und konkreten Handlungen sowie damit verbundenen Handlungsregeln seine Handlungslehre reformulieren, um somit zu einer unter einem anderen Aspekt betrachtenden alternativen Rekonstruktion der politischen Handlungslehre von Machiavelli zu gelangen. 81 Die in der bisherigen Machiavelliliteratur aus den Schriften Machiavellis noch nicht systematisch aufgearbeiteten konkreten Handlungstypen, konkrete Handlungen und Handlungsregeln werden nach ihrer Identifizierung und situativ bestimmten Systematisierung in einem nächsten Rekonstruktionsschritt in bezug auf politische Macht ordinal modelliert. Ausgangspunkt unserer Analyse ist zunächst die Formulierung eines idealisierten und allgemein gehaltenen Modells machtbezogeWobei wir unter einem Handlungstyp eine Entität verstehen, die eine Menge konkreter Handlungen beinhaltet. ›Ein Fürstentum vernichten‹ stellt bspw. einen konkreten Handlungstyp dar, der aus der Menge konkreter Handlungen eines Akteurs zur Durchführung dieses Handlungstyps besteht. Konkrete Handlungen bezeichnen dagegen konkrete Ereignisse, d. h. in einer bestimmten sozio-politischen Umgebung einmalige Handlungen, wie bspw. in bezug auf den florentinisch-pisanischen Konflikt die – wenn auch gescheiterte – Umleitung des Arnos, um Pisa von der Wasserversorgung abzuschneiden durch Leonardo da Vinci im Auftrag der Signoria von Florenz. Siehe dazu bspw. (Baratta, 1905), (Uzielli, 1906), (Solmi, 1912), (Richter, 1970), (Pedretti, 1977) und (Masters, 1996, 1998a). 80 In Analogie zu der Arbeit von (Pfetsch & Billing, 1994:42–45), in der mittels Handlungstypen eine Systematisierung nationaler und internationaler Konflikte vorgenommen wird. 81 Siehe dazu für einen ersten Rekonstruktionsversuch (Dreier, 1997b). 79

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Zur Wahl der Strukturalistischen Theorienkonzeption als Rekonstruktionsansatz

nen politischen Handelns. Dieses Modell wird unter dezidiertem Rückgriff auf Machiavelli und seine Schriften konkretisiert und in einem Modell bzw. Modellnetz ›machtbezogenen politischen Handelns‹ reformuliert.

5.0 Zur Wahl der Strukturalistischen Theorienkonzeption als Rekonstruktionsansatz Auf der Suche nach einem geeigneten Rekonstruktionskonzept für die Handlungslehre Machiavellis bieten sich bei einem Überblick über die gegenwärtig existierenden metatheoretischen Ansätze verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl an. Beschränken wir uns auf die im Rahmen des empirisch-analytischen Ansatz entwickelten Konzeptionen, so sind dies die Mengen der vorstrukturalistischen und strukturalistischen Konzeptionen. 82 Als vorstrukturalistisch sind die Ansätze zu bezeichnen, die auf Theorien als Aussagensysteme rekurrieren, wie die Ansätze des metatheoretischen Forschungsprogramms des Logischen Empirismus und des Kritischen Rationalismus. Zu diesen beiden metatheoretischen Grundkonzeptionen, die in ihrer programmatischen Ausrichtung als normativ zu charakterisieren sind, 83 können innerhalb der vorstrukturalistischen Wissenschaftstheorie noch die wissenschaftshistorischen Ansätze von Lakatos, Kuhn, Toulmin und Feyerabend gerechnet werden. Letztere Ansätze sind insbesondere in der Frage nach der Rationalität wissenschaftlicher Forschung, ihrer Methoden und der sozialen Determiniertheit wissenschaftlicher Standards und Theorien von Bedeutung, ohne daß sie jedoch einen bedeutenden Beitrag in der Beantwortung der Frage nach der logischen Struktur wissenschaftlicher Theorien geliefert haben. Gegen die normativen und historisch orientierten Theoriekonzeptionen der vorstrukturalistischen Wissenschaftstheorie lassen sich folgende Kritikpunkte anführen: Erstens kann innerhalb des ›Empiristischen Standardmodells für wissenschaftliche Theorien‹, das aus dem Logischen Positivismus hervorgegangen ist, keine befriedigende Antwort auf die Relation zwischen Theorie und ErfahSiehe dazu (Dreier, 1993:Kap. 2, Kap. 3, 1997a:Kap. 6). Normativ, da sie Regeln angeben, die erfüllt sein müssen, um eine sprachliche Entität als wissenschaftliche Theorie bezeichnen zu können.

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rung gegeben werden – ein Problembereich, der insbesondere an der Bestimmung theoretischer Begriffe orientiert ist 84 ; und zweitens ist innerhalb der wissenschaftshistorisch orientierten Theoriekonzeptionen deren »inkohärenter drastischer Relativismus« zu kritisieren (Lambert & Brittain, 1991:176). Wenden wir uns diesen angeführten Kritikpunkten kurz zu. Innerhalb der Konzeption des ›Empiristischen Standardmodells‹ werden Theorien als Mengen von Sätzen konzipiert, d. h. sie werden mit ihren Formulierungen gleichgesetzt. Die Analyse wissenschaftlicher Theorien bezieht sich folglich auf semantische und syntaktische Aspekte. Gegenüber dieser Auffassung vertreten die Protagonisten der wissenschaftshistorisch orientierten Theoriekonzeptionen die Ansicht, daß Theorien nicht mit ihren Formulierungen gleichgesetzt werden können. Das wesentliche Argument, das zur Unterstützung dieser Behauptung angeführt wird, ist die These, daß Beobachtungen immer schon theoriebeladen und Theorien inkommensurabel sind. Diese These kann aber nur vor dem Hintergrund plausibel erscheinen, wenn Paradigmen als Sprachen aufgefaßt werden (Lambert & Brittain, 1991:176). Gegen die Gleichsetzung von Theorien mit ihren Formulierungen sprechen drei Gesichtspunkte 85 : Erstens, eine Gleichsetzung von Theorien mit ihren Formulierungen impliziert, daß jede andere Formulierung dieser Theorie eine andere Theorie ergibt; zweitens, daß es auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen Beobachtungsund theoretischen Begriffen problematisch erscheint, den empirischen Gehalt einer Theorie genau zu bestimmen; und drittens, daß die Grundfragen im Hinblick auf Theorien nicht-sprachlicher Natur sind; Überlegungen, die auch gegen die Theorienkonzeption des Kritischen Rationalismus angeführt werden. 86 Siehe dazu (Lambert & Brittain, 1991:176). (Lambert & Brittain, 1991:176 f.). 86 Wobei hier noch ergänzend festzustellen ist, daß die dieser Theoriekonzeption inhärente deduktivistische Rationale einer Kritik in zweifacher Hinsicht ausgesetzt wird: erstens ist die Annahme der logischen Unmöglichkeit des Induktivismus in Frage zu stellen (Grünbaum, 1976a, 1976b, 1976c); und zweitens kann das Postulat der Asymmetrie zwischen Falsifikation und Verifikation nicht aufrechterhalten werden, da es bspw. zur Widerlegung eines Gesetzes wiederum eines Gesetzes bedarf (Alisch, 1987:251) – siehe dazu bpsw. (Juhos, 1979) und (Binns, 1978). Auch wenn wir diese Argumente eher als sophistisch betrachten, denn als wohlbegründete Gegenargumente gegen Popper’s Lösung des Induktionsproblems, so haben sie – wissenschaftshistorisch 84 85

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Zur Wahl der Strukturalistischen Theorienkonzeption als Rekonstruktionsansatz

Zur Überwindung dieser hier nur kurz skizzierten Probleme der vorstrukturalistischen Wissenschaftstheorie wurde die semantische Theorienkonzeption 87 entwickelt, die auf dem Begriff des ›Modells‹ basiert und in der davon ausgegangen wird, daß jede Theorie mehr ist als jede ihrer linguistischen Formulierungen. Diesen Sachverhalt drückt beispielsweise Suppe (1977:221) in seiner Kritik an der vorstrukturalistischen Wissenschaftstheorie wie folgt aus: »Both the Received View and the Weltanschauungen analyses attempt to discover the nature of scientific theories through an examination of their linguistic formulations, and on occasion even seem to assume that the theory is its linguistic formulation. We have seen, however, that theories are not collections of propositions or statements, but rather are extralinguistic entities which may be described or characterized by a number of different linguistic formulations …«

Im Rahmen der semantischen Theorienkonzeption stellen Theorien außerlinguistische Entitäten dar, welche durch ihre linguistischen Formulierungen beschrieben werden können (Suppe, 1977:222): »The propositions in a formulation of a theory thus provide true descriptions of the theory, and so the theory qualifies as a model for each of its formulations«.

Die semantische Theorienkonzeption kann als übergeordneter Rahmen der auf dem Begriff des ›Modells‹ rekurrierenden ›strukturalistischen‹ Ansätze angesehen werden 88 , wobei gegenwärtig drei solcher Ansätze unterschieden werden können: Erstens der Ansatz von gesehen – Poppers Position in dieser Frage zwar nicht maßgeblich erschüttert, doch aber erneut diskutabel gemacht. An der Tatsache, daß aus wahrheitskonservierenden Aussagen nicht logisch auf wahrheitserweiternde Aussagen geschlossen werden kann, ist unter einem puristischen Standpunkt, wie ihn Popper (1974b, 1979a:Kap. I–III, 1982:3–21, 1983:11–158,301–346, 1994b, 1995a[1953, 1974]) vertritt, nicht zu rütteln. Dies ist innerhalb der scientific community primär Konsens. An der Popper’schen Auszeichnung der Basissätze und an seiner unzulänglichen Bestimmung des Konzepts der ›Bewährung von Theorien‹ kann jedoch eine berechtigte Kritik geübt werden, wie bspw. von Stegmüller (1974). 87 Die semantische Theorienkonzeption wurde von Suppes (1957, 1961, 1967, 1970a, 1983) und Beth (1948, 1949, 1961) in die wissenschaftstheoretische Diskussion eingeführt und von Suppe (1967, 1977b, 1989), Van Fraassen (1972, 1980, 1983, 1985a, 1985b, 1986, 1989) und unter Einbeziehung kognitiver Aspekte von Giere (1991, 1992, 1997, 1999) weiterentwickelt. Den u. E. zur Zeit besten Überblick über die semantische Theorienkonzeption gibt u. E. Suppe (1989), für wissenschaftstheoretische Detailprobleme siehe (Savage, 1990). 88 Siehe dazu auch (Diederich, 1989, 1991). A

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Ludwig (1978, 1981), der physikalische Theorien durch den von Bourbaki eingeführten formal-mengentheoretischen Begriff der Strukturart beschreibt 89 ; zweitens Ansätze, die durch einen formalmodelltheoretischen Ansatz ausgezeichnet sind (Przelecki, 1969) und (Lehmann, 1985); und drittens der Ansatz von Sneed (1979) und Stegmüller (1979a, 1980, 1985, 1986), der durch die Einführung mengentheoretischer Prädikate ausgezeichnet ist. Der Ansatz von Ludwig kann als eine Konzeption angesehen werden, die sich zur Lösung von Problemen einer Objektwissenschaft (der Physik) nicht einer externen Metatheorie bedient, sondern diese Metatheorie selbst aus der Objektwissenschaft heraus entwickelt. Diesem Ansatz zufolge besteht eine physikalische Theorie PT aus einem formalen oder mathematischen Teil MT, der auf der bourbakischen Mengentheorie aufgebaut ist, aus einem Wirklichkeitsbereich WT (auch ›Realtext‹ genannt), d. h. aus einem festen Satz von Daten, und einer Anwendungsvorschrift (——) für MT auf W. Eine physikalische Theorie kann so abgekürzt wie folgt angegeben werden: PT = MT (——) W. Die einzelnen Elemente von PT sind dabei nach Ludwig wie folgt zu interpretieren: (1) MT ist als von jeglicher Erfahrung unabhängig bestimmt, kann aber sehr wohl ihre Existenz dem menschlichen Umgang mit der Wirklichkeit verdanken; (2) (——) ist von MT abhängig bestimmt; und (3) W besteht aus einem Teil, der durch MT und (——) erfaßt wird, und einem Grundbereich G, der von MT und (——) unabhängig ist, d. h. schon vor jeder Verbindung mit MT und (——) vorliegt. Der Grundbereich G von W ist nach Ludwig jedoch nicht prinzipiell unabhängig von jeglicher Physik, sondern kann Teil eines anderen Wirklichkeitsbereiches W’ sein, der von einer gegenüber PT verschieden Theorie PT’ erfaßt wird. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Theorieansatzes ist die Überlegung, daß um Widersprüche in der Theorie nicht in Kauf nehmen zu müssen, die Anwendungsvorschrift (——) nicht immer scharf gekennzeichnet werden kann, sondern als »verschmierte« Relation zu Zur Aufnahme und Weiterentwicklung dieses Ansatzes in der Wissenschaftstheorie siehe u. a. (Kamlah, 1981) und (Scheibe, 1982, 1983a, 1983b). Eine sehr gute Einführung in den Ansatz von Ludwig gibt Balzer (1980).

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interpretieren, d. h. (——) ist als eine unscharfe Abbildung zu konzipieren ist. Die Ansätze, die auf einem formalen Modell-Begriff basieren, orientieren sich eng an metamathematischen Resultaten. Kurz skizziert besteht diesen Ansätzen zufolge 90 eine wissenschaftliche Theorie T aus einem analytischen Teil A und einem synthetischen Teil S, abgekürzt: T = A + S. Grundlage dieser Bestimmung einer wissenschaftlichen Theorie ist die Unterscheidung von einer Beobachtungssprache Lo und einem theoretischen Vokabular Lt. Die Prädikate aus Lo sind dabei in einem bestimmten Bereich Uo durch paradigmatische Fälle von diesen aus interpretiert. Durch empirisches Vorgehen wird dann Uo sukzessive um physische, psychische, soziale etc. Objekte zu U erweitert. So gesehen sind dann Lo-Strukturen Strukturen mit dem Basisbereich U, der UO als Substruktur mit fester Interpretation enthält. Durch Hinzufügung von Lt-Interpretationen ohne Veränderung von U erfolgt dann der Übergang von Lo zu Lt. Dadurch entstehen Lo+Lt-Strukturen mit dem Basisbereich U. Eine Theorie selbst wird nun dadurch gebildet, daß im syntaktischen Bereich eine Menge T von Lo+Lt-Sätzen erster Stufe gebildet werden, die Klassen von Lo+Lt-Strukturen definieren. Der analytische Teil A einer wissenschaftlichen Theorie enthält nun die empirisch nicht interpretierten Bedeutungspostulate, und der synthetische Teil stellt empirische Behauptungen auf, indem er unzutreffende Lo-Modelle ausschließt. 91 Der auf der Einführung mengentheoretischer Prädikate beruhenende Ansatz schließlich – dem wir uns auch in unserer Rekonstruktion bedienen werden – kommt von der Wissenschaftsphilosophie her. Diesem Ansatz zufolge stellen wissenschaftliche Theorien auf mengentheoretischer Grundlage entwickelte mathematisch-begriffliche (durch mengentheoretische Prädikate axiomatisierte) Strukturen dar, die auf bestimmte Objekte angewendet werden. U. E. stellt dieser ›strukturalistische‹ Ansatz unter den auf den Begriff des ›Modells‹ rekurrierenden Alternativkonzeptionen zu dem für die realwissenschaftliche Forschung inadäquat gehaltenen ›Empiristischen Standardmodell für wissenschaftliche Theorien‹ (einschließlich sei-

Wir beziehen uns hier nur auf (Przelecki, 1969). In unserer Explikation dieses Ansatzes lehnen wir uns eng an die Ausführungen von (Alisch, 1987:265 f.) an. 91 Wie Alisch (1987:266) jedoch anmerkt, ist für T = A + S bisher noch kein überzeugender Nachweis gelungen. 90

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ner Weiterentwicklungen und Modifikationen) 92 innerhalb des wissenschaftstheoretischen Diskurses das zur Zeit einflußreichste Forschungsprogramm dar – Forschungsprogramm deshalb, weil sich die strukturalistische Theorienkonzeption als eine Metatheorie der Realwissenschaften noch immer in einem fruchtbaren Entwicklungsprozeß befindet, der sowohl Erweiterungen als auch Modifikationen beinhaltet 93 . Die Strukturalistische Theorienkonzeption besitzt gegenüber den anderen Alternativen zur vorstrukturalistischen Wissenschaftstheorie den Vorteil, daß sie nicht explizit auf physikalische Theorien beschränkt bleiben muß, sondern – wie von seinen Begründern postuliert und durch zahlreiche Arbeiten belegt 94 – auch auf nicht-physikalische Theorien angewendet werden kann. Neben diesem Vorteil erscheint uns dieser Ansatz auch geeigneter zur Rekonstruktion und Präzisierung nicht-physikalischer Theorien – wie hier der politischen Handlungstheorie von Machiavelli – da er keine vollständige Formalisierung bzw. Axiomatisierung erfordert. Die Tatsache, daß sich der strukturalistische Ansatz auf unterschiedliche, disziplinspezifische Theorien anwenden läßt, soweit diese einigermaßen klar formuliert sind (Sneed, 1979:XXIII), ist an sich noch nicht sehr beeindruckend bzw. wegen des damit verbundenen Aufwandes zumindest fragwürdig, bedient sich dieser Ansatz doch eines hochkomplexen und aufwendigen mathematisch-technischen Apparats. Doch neben einer Symbolisierung von Theorien erlaubt er auch eine Lösung des Problems der theoretischen Begriffe und ist geeignet, »philosophical puzzles that surround the theory« (Sneed, 1979:XXIII), wie etwa den empirischen Gehalt einer Theorie, die Frage, was eine empirische Theorie eigentlich ist oder das Problem der Messung empirischer Theorien (Balzer, 1985a), einer Lösung näherzubringen. Uns erscheint der strukturalistische Ansatz zur Rekonstruktion von Machiavelli’s politischer Handlungstheorie gegenüber den anderen, oben angeführten Ansätzen sowohl in pragmatischer als auch in inhaltlicher Sicht erfolgversprechender. Vgl. dazu ausführlicher (Dreier, 1993:Kap. 2). Siehe dazu insbesondere die nach Stegmüller verfaßten Arbeiten von (Balzer, Moulines & Sneed, 1987), (Balzer & Sneed, 1995), (Balzer & Moulines, 1996) und zuletzt (Balzer, 1997a). 94 Siehe dazu bis 1992 (Dreier, 1993:Anhang 1) und für weitere Rekonstruktionen (Diederich, Ibarra & Mormann, 1994) sowie (Balzer, Moulines & Sneed, 1999). 92 93

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Zur Wahl der Strukturalistischen Theorienkonzeption als Rekonstruktionsansatz

Aus pragmatischer Sicht, weil sich der Strukturalismus trotz seines modelltheoretischen Apparates einer einfachen Sprache bedient, nämlich der der informellen Mengenlehre, und nicht wie die vorstrukturalistischen Ansätze der Prädikatenlogik erster Stufe, und er nicht normativ ist, sondern sich an seinen Untersuchungsgegenständen so orientiert, wie sie als ›Text‹ vorliegen und verwendet werden. Aus inhaltlicher Sicht spricht für die Wahl des strukturalistischen Ansatzes der Umstand, daß Theorien nicht als Klassen von Sätzen betrachtet werden, sondern als Entitäten »mit einer reichhaltigen inneren Struktur« (Bartelborth, 1996:271), deren Darstellung mittels einer modelltheoretischen Betrachtungsweise es eher erlaubt, sowohl »Ordnung in der amorph erscheinenden Vielfalt wissenschaftlicher [politisch handlungsbezogener] Äußerungen sichtbar werden zu lassen« als auch nicht »die innere Komplexität« von als Theorien attributierte Entitäten »durch willkürliche Beschränkungen auf wenige Aspekte einfach über Bord zu werfen« (Bartelborth, 1996:270). Darüber hinaus besitzt der strukturalistische Ansatz den Vorteil, daß er an (empirische) Theorien nicht die Forderung stellt, daß ihre Aussagen (empirische Behauptungen) universell sein müssen – universell in dem Sinne, daß sie auf jede in Frage kommende, empirisch erfaßbare Entität zutreffen müssen. 95 Bestimmen wir die primäre Aufgabe der Wissenschaftstheorie als eine rekonstruktive (Stegmüller, 1973:8, 1979b:11, Moulines & Sneed, 1979:61–63), so müssen wir jedoch auch der Tatsache Rechnung tragen, daß es nicht möglich ist, den über Jahrtausende sich erstreckenden Entwicklungsprozeß des Systems ›Wissenschaft‹ in seinen logischen und rationalen Operationen in toto zu rekonstruieren, sondern nur über eine prinzipiell infinite Menge von Fallstudien. Eine Fallstudie stellt in diesem Kontext die Rekonstruktion einer konkreten Theorie oder eines Denksystems dar – wie bspw. in unseWobei hier anzumerken ist, daß damit das Poppersche Falsifikationspostulat nicht über Bord geworfen, sondern nur verlagert wird; wird bspw. eine empirische Entität als ein intendiertes System des mathematischen Theoriekerns behauptet, erfüllt sie jedoch nicht den mathematischen Theoriekern, so gilt die Behauptung als falsifiziert, nicht jedoch der mathematische Theoriekern. D. h. bspw. im Hinblick auf die intendierten Systeme der politischen Handlungstheorie von Machiavelli, daß es durchaus Handlungssysteme gibt, die ihren mathematischen Kern nicht erfüllen. Damit ist jedoch nicht seine Handlungstheorie falsifiziert, sondern nur, daß ein bestimmtes Handlungssystem den mathematischen Strukturkern seiner Theorie nicht erfüllt.

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rer Arbeit die politische Handlungstheorie von Machiavelli – und steht neben der Direktinterpretation derselben. Sie stellt somit den Versuch dar, »eine rationale Rekonstruktion des fraglichen philosophischen [ideengeschichtlichen, V. D.] Systems oder zumindest gewisser relevanter Teile daraus zu geben« (Stegmüller, 1967:1).

6.0 Abschließende Bemerkungen zum epistemologischen Stellenwert von rationalen Rekonstruktionen Die rationale Rekonstruktion einer Objekttheorie oder eines philosophischen Systems kann – wie wir im vorangegangenen Punkt angeführt haben – im Rahmen unterschiedlicher metatheoretischer Ansätze vorgenommen werden. Je nach Wahl des jeweils gewählten metatheoretischen Rekonstruktionsansatzes wird deshalb auch die Darstellung des Rekonstruktionsergebnisses selbst ausfallen. Selbst wenn wir uns nur eines metatheoretischen Ansatzes bedienen, wie bspw. dem des neuen Strukturalismus in unserer Rekonstruktion von Machiavelli’s politischer Handlungstheorie, so kann damit nicht notwendigerweise impliziert werden, daß mit ein und demselben Ansatz durch andere Rekonstrukteure auch identische bzw. mit unserer Rekonstruktion kongruente Rekonstruktionen dieser Objekttheorie erbracht werden. 96 Wir gehen deshalb davon aus, daß rationale Rekonstruktionen von Objekttheorien sich in der Darstellung ihrer Ergebnisse sowohl im inter-metatheoretischen Bereich als auch in einem intra-metatheoretischen Vergleich voneinander unterscheiden. Solche Unterscheidungen können bspw. die sprachliche oder symbolische Darstellungsform der Rekonstruktion betreffen oder die durch den jeweiligen Rekonstrukteur nicht immer ähnlich identifizierten Grundbegriffe, Relationen und Axiome der zu rekonstruierenden Objekttheorie. Vor diesem Hintergrund betrachtet, scheinen dem epistemologischen Stellenwert einer rationalen Rekonstruktion auf den ersten Blick gewisse Momente der Willkürlichkeit und des Relativismus anzuhängen – denn, und so könnte gefragt werden, nach welchen Kriterien sollte dann bspw. entschieden werden, ob eine rationale ReSo unterscheiden sich bspw. die Rekonstruktionen der klassischen Mechanik durch Balzer und Moulines (1981) sehr deutlich von der durch Suppes (1957) vorgelegten, obwohl sich beide in ihrer Rekonstruktion mengentheoretischer Prädikate bedienen.

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Abschließende Bemerkungen zum epistemologischen Stellenwert von rationalen

konstruktion ihr Rekonstruktionsobjekt ›richtig‹ oder ›falsch‹ wiedergibt, d. h. repräsentiert, oder: nach welchen Kriterien könnten dann noch auf verschiedenen metatheoretischen Ansätzen basierende rationale Rekonstruktionen ein und derselben Objekttheorie miteinander verglichen werden? Innerhalb der Wissenschaftstheorie und der Sprachphilosophie wird von einigen Protagonisten dazu die These vertreten, daß eine ›sinnvolle‹ Diskussion über Theorien – bzw. auf unseren Kontext bezogen über rationale Rekonstruktionen – nur dann fruchtbar geführt werden kann, wenn die Diskussionsteilnehmer über einen gemeinsamen Rahmen bzw. über eine gemeinsame Metatheorie verfügen. 97 Das heißt dann mit anderen Worten für unseren Fall, daß rationale Rekonstruktionen, die im Rahmen unterschiedlicher Metatheorien vorgenommen wurden, nicht miteinander sinnvoll vergleichbar sind. Einem solchen Argument kann nun jedoch entgegengehalten werden, und dies hat Popper (1976) sehr eindrucksvoll ausgeführt, daß ein gemeinsamer Rahmen für eine fruchtbare Diskussion nicht zwingend notwendig ist, sondern eine solche Forderung nur einen Mythos der Relativisten darstellt. Dieser ›Mythos des Rahmens‹ wird von Popper wie folgt formuliert (Popper, 1976:24): »A rational and fruitful discussion is impossible unless the participants share a common framework of basic assumptions or, at least, unless they have agreed on such a framework for the purpose of the discussion.«

Folgen wir Popper in seinen Argumenten gegen diesen Mythos, so ist eine rationale und fruchtbare Diskussion bzw. ein so geleiteter Vergleich rationaler Rekonstruktionen, die im Rahmen unterschiedlicher metatheoretischer Ansätze durchgeführt wurden, immer möglich, wenn auch der Grad der Schwierigkeit einer solchen erheblich variieren kann. Die Fruchtbarkeit eines solchen Vergleichs ist dabei umso größer, je weiter die jeweiligen involvierten metatheoretischen Ansätze des Vergleichs voneinander entfernt liegen (Popper, 1976:25). 98

So bspw. von Quine (1984, 1987) in der Wissenschaftstheorie und von Whorf (1991) in der Sprachphilosophie. 98 So bspw. im Vergleich eher hermeneutisch oder ideengeschichtlicher Rekonstruktionen von Machiavellis Handlungstheorie mit der hier vorgelegten. Siehe dazu auch die Literaturangaben in Anmerkung 76 in dieser Einführung. 97

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Auch wenn wir mit Popper konstatieren, daß Vergleiche rationaler Rekonstruktionen der gleichen Objekttheorie fruchtbar sind und nicht a priori unmöglich, wie von den Relativisten supponiert, so impliziert u. E. das Ergebnis eines solchen Vergleichs nicht einen Fortschritt im Sinne einer weiteren Annäherung an die Wahrheit. 99 Im Gegenteil: wir gehen von dem Standpunkt aus, daß von einer rationalen Rekonstruktion einer Objekttheorie nicht gesagt werden kann, ob sie diese ›richtig‹ oder ›falsch‹ repräsentiert, sondern nur, ob sie ästhetisch ansprechend ist oder nicht, d. h. ob wir sie unter ästhetischen Gesichtpunkten einer anderen Rekonstruktion (und damit implizit auch ihren metatheoretischen Rekonstruktionsansatz) vorziehen oder nicht. Wir adaptieren damit zur Bestimmung des epistemologischen Stellenwertes unserer Rekonstruktion von Machiavelli’s politischer Handlungstheorie einen Vorschlag von Carlos Moulines (1997), metatheoretische Ansätze und rationale Rekonstruktionen als Kunststile und Kunstprodukte aufzufassen. Wie Kunstwerke fassen wir auch rationale Rekonstruktionen als Entitäten auf, die die sie repräsentierenden Objekte (Theorien) nicht in einer Eins-zu-Eins-Relation repräsentieren. Mit unserer rationalen Rekonstruktion von Machiavelli’s Handlungstheorie intendieren wir somit auch nicht, diese in einer für sie ›realistischen‹ Weise zu repräsentieren, sondern, ihr durch eine Dekonstruktion und anschließende Synthese eine Betrachtungsweise in einem anderen Licht zu ermöglichen. Diese Form der Repräsentation finden wir auch in der Kunst, deren Produkte nie ein »realistisches« Abbild ihrer zu abbildenden Objekte sein können. Diese These verdeutlicht bspw. Nelson Goodman (1998a:46) wie folgt: 100 »Ob ein Objekt ›wirklich fixiert‹ oder ein Bild realistisch ist, hängt nichtsdestoweniger jederzeit ganz und gar davon ab, welcher Rahmen oder Modus gerade die Norm ist. Realismus ist keine Frage irgendeiner konstanten oder absoluten Beziehung zwischen einem Bild und seinem Gegenstand, sondern eine Frage der Beziehung zwischen dem im Bild verwendeten Repräsentationssystem und dem Standardsystem.«

Diese These von Goodman kann am Vergleich bspw. verschiedener Gemälde zu einem gleichen Thema sehr gut demonstriert werden, Siehe zur Approximation der Wahrheit als regulative Idee in Poppers konsequentem Fallibilismus (Popper, 1972b:215 ff., 1984b:52 ff.). 100 Siehe in diesem Zusammenhang auch (Goodman & Elgin, 1989: Kap. VIII) und (Goodman, 1998b:134 ff.). 99

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Aufbau der Arbeit

wie die drei Abendmahldarstellungen von Leonardo da Vinci (1498), Albrecht Dürer (1508–1509) und Salvador Dali (1955) zeigen. 101 Nehmen wir an, daß dieses letzte Abendmahl historisch stattgefunden hat, so können wir keiner der drei Darstellungen das Attribut zuschreiben, daß es dieses Ereignis realistisch darstellt, bzw. daß eine Darstellung realistischer sei als die andere. Wir können nur konzedieren, daß sich die drei Darstellungen bezüglich des zu ihrer jeweiligen Zeit vorherrschenden Stils voneinander unterscheiden, nicht aber, daß eines einer wie auch immer gearteten ›Wahrheit‹ näher komme als das andere. Diese Feststellung legen wir auch den verschiedenen metatheoretischen Ansätzen und mittels ihnen jeweils erbrachten Rekonstruktionsprodukten von Objekttheorien zugrunde und somit auch dem epistemologischen Stellenwert unserer Rekonstruktion von Machiavellis politischer Handlungstheorie in seinem Il Principe im Vergleich zu anderen Rekonstruktionen seiner Theorie. Wir geben mit unserer Rekonstruktion folglich auch nicht eine ›wahrere‹ oder ›realistischere‹ Darstellung von Machiavellis Handlungstheorie, sondern primär einmal nur eine, die sich in Stil und Ästhetik von den anderen fundamental unterscheidet.

7.0 Aufbau der Arbeit Die Struktur dieser Arbeit unterteilt sich im Anschluß an die vorangegangene Einführung in drei Hauptbereiche. Im Hauptbereich II, der den metatheoretischen Grundlagen dieser Arbeit gewidmet ist, werden wir in Kapitel 1 zunächst die für diese Arbeit konstitutiven Konzepte der Formalisierung und rationalen Rekonstruktion explizieren. In Kapitel 2 wird die für unsere Rekonstruktion konstitutive Metatheorie des modernen Strukturalismus in ihren für uns wesentlichen Grundzügen vorgestellt. Kapitel 3 behandelt daran anschließend die Funktion idealisierter Modelle in der empirisch-analytischen Wissenschaftstheorie.

101 Siehe dazu auch die Untersuchung von Richard Hüttel (1994) zu den künstlerischen Umsetzungen der auf dem Gemälde von Leonardo fußenden Abendmahldarstellungen im 19. und 20. Jahrhundert in den Bereichen der bildenden Kunst, des Films, des Theaters, der Literatur etc.

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Hauptbereich III ist einer Diskussion der Konzepte ›Politisches Handeln‹ (Kapitel 4) und ›politischer Macht‹ (Kapitel 5) reserviert. Hauptbereich IV ist in zwei Kapitel aufgeteilt. In Kapitel 6 wird eine informelle Interpretation der politischen Handlungstheorie Machiavellis problemorientiert und wissenschaftstheoretisch reflektierend vorgestellt. In Kapitel 7 schließlich wird eine strukturalistisch orientierte rationale Rekonstruktion von Machiavelli’s politischer Handlungslehre in seinem Il Principe in sich sukzessiv verdichtenden Schritten vorgenommen.

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II. Metatheoretische Grundlagen

Kapitel 1 Zu den Konzepten ›Formalisierung‹ und ›rationale Rekonstruktion‹ 1.0 Einleitende Vorbemerkungen Die in dieser Arbeit vorzunehmende Identifizierung und Reformulierung der politischen Handlungslehre von Machiavelli ist durch zwei Grundmerkmale prädeterminiert: Zum einen wird dieses Vorhaben im Rahmen einer rationalen Rekonstruktion durchgeführt, und zum anderen ist diese durch ein hohes Maß an Formalisierung ausgezeichnet. Wir konstatieren dabei, daß die rationale Rekonstruktion und die Formalisierung einer wissenschaftlichen Theorie bzw. einer klassischen politischen Theorie 1 auf das engste miteinander verbunden sind, daß sie sich einander bedingen. Denn eine adäquate rationale Rekonstruktion, verstanden als Präzisierung der zu rekonstruierenden Theorie bzw. der zu rekonstruierenden klassischen politischen Theorie in bezug auf Klarheit, Eindeutigkeit und intersubjektive Verständlichkeit ist nur da garantiert, wo die zu rekonstruierende Entität in formalisierter Form vorliegt. Nun mag der Sozialwissenschaftler oder Ideengeschichtler zum einen einwenden, daß sozialwissenschaftliche Theorien bzw. klassische politische Theorien nicht oder noch nicht den ›Exaktheitsgrad‹ von naturwissenschaftlichen Theorien erreicht haben 2 , um formalisiert zu werden – was ja auch ihre Axiomatisierung impliziert (Bunge, 1983:139). Zum Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden wir die Ausdrücke ›wissenschaftliche Theorie‹ und ›klassische politische Theorie‹ synonym verwenden, insofern sich letzterer Ausdruck in der Darstellung auf Machiavelli’s politische Handlungslehre bezieht. 2 So bspw. (Rapoport, 1967:304). 1

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anderen aber auch, daß die Formalisierung einer sozialwissenschaftlichen Theorie (und noch mehr die einer klassischen politische Theorie) sich schon deshalb verbiete, weil solche Entitäten qua ihrer spezifisch qualitativen Eigenart, Zeitbezogenheit, Komplexität und Kompliziertheit nicht formalisierbar seien. Eine Beschränkung der Formalisierung wissenschaftlicher Theorien bzw. empirisch determinierter klassischer politischer Theorien auf naturwissenschaftliche Theorien verkennt dabei jedoch, daß Exaktheit nicht ein für naturwissenschaftliche Theorien reserviertes Merkmal darstellt, sondern daß wir sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Sozialwissenschaften relativ exakte wie auch unexakte Teile identifizieren können 3 und daß die Gleichsetzung von Formalisierung mit Quantifizierung die Extension von Formalisierung gänzlich desavouiert bzw. deren analysedifferenzierende und -klärende Funktion verkennt. 4 Im folgenden soll deshalb die wissenschaftsanalytische Relevanz der ›Formularisierung einer wissenschaftlichen Theorie‹ oder einer ›klassischen politischen Theorie‹ in ihrer inhaltlichen und funktionalen Ausgestaltung aufgezeigt werden. Daran anschließend werden wir das für diese Untersuchung leitende Grundkonzept der ›rationalen Rekonstruktion wissenschaftlicher Theorien‹ einer Analyse unterziehen. Zum einen, um diesen Begriff im Rahmen seiner unterschiedlichen Verwendungsweisen in der Wissenschaft vorzustellen und zum anderen, um ihn in seiner für diese Arbeit leitenden Funktion zu konkretisieren.

1.1 Zur methodologischen Relevanz der Formalisierung wissenschaftlicher Theorien 1.1.1 Zum Begriff der Formalisierung und seiner Relation zur Mathematik Wollen wir den Stellenwert der ›Formalisierung empirisch determinierter klassischer politischer Theorien‹ im Kontext der Analyse sol-

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Siehe dazu bspw. (Helmer & Rescher, 1969). Vgl. dazu bspw. (Heinemann, 1970:4), (Scheuch, 1972:159) und (Albert, 1973:62).

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Zu den Konzepten ›Formalisierung‹ und ›rationale Rekonstruktion‹

cher Produkte diskutieren, so gilt es, im Vorfeld einer solchen Diskussion zunächst einmal zu klären, was unter ›Formalisierung‹ bzw. ›Formalisierung einer wissenschaftlichen Theorie/einer klassischen politischen Theorie‹ überhaupt zu verstehen ist. Da der Begriff der ›Formalisierung‹ sowohl konnotativ als auch inhaltlich eng mit dem Oberbegriff der ›Mathematisierung‹ gekoppelt ist (sehr wohl aber in seiner wissenschaftstheoretischen Analyse von diesem unterschieden), erscheint es uns daher zweckmäßig und folgerichtig, den Begriff der ›Formalisierung‹ im Konnex mit ›Mathematisierung‹ zu behandeln, wobei wir unter ›Mathematisierung‹ die Anwendung der Mathematik auf hier noch zunächst unspezifizierte Objektbereiche verstanden wissen wollen. Notwendige Merkmale für ›Mathematisierung‹ sind zunächst einmal Variableneinführung, Symbolisierung und Quantifizierung, jedoch sind diese noch nicht extensional hinreichend. Denn verstehen wir Mathematik (und dies vor allem nach Cantor’s Einführung der Mengenlehre) als die Lehre von den formalen Strukturen (Frey, 1967:108), so können wir von ›Mathematisierung‹ berechtigterweise erst dann sprechen, wenn wir zu den oben angeführten Merkmalen das die ›Mathematisierung‹ primär konstituierende Merkmal der Struktur hinzuziehen. ›Mathematisierung‹ ist so primär Formalstrukturalisierung, wobei diese sowohl Strukturerfassung als auch Strukturbildung involviert (Frey, 1967:108). Mit dem Begriff der Struktur haben wir damit jene Entität eingeführt, die für alle mathematischen Theorien kennzeichnend ist, unabhängig davon, ob es sich bei einer solchen Theorie um eine mathematische Theorie des Raumes, der Zahl oder einer ohne direkten Bezug auf Raum und Zahl handelt. In einem allgemeinen und mengentheoretisch orientierten Sinne wollen wir allgemein unter einer Struktur ein Tupel von Mengen von Objekten D1,…,Dk und die zwischen ihnen bestehenden Relationen R1,…,Rn der Form verstehen (Balzer, 1978:133), bzw. spezieller unter Hinzuziehung einer Menge mathematischer Objekte A1…,Am als (Balzer & Sneed, 1995:201). Voraussetzung für eine formale Strukturalisierung ist nun zunächst einmal eine formale Kunstsprache, mit der wir einen formalstrukturell zu analysierenden Zusammenhang erfassen können. Diese kann mittels eines Kalküls als einer syntaktischen Herstellungsvorschrift für Figuren, wie bspw. die Prädikatenlogik erster

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Ordnung mit Identität ausgedrückt werden 5 . In der Mathematik wird dieser Kalkül verwendet, um mathematische Sachverhalte, die in natürlicher Sprache formuliert sind, in eine formalisierte Form zu überführen, in der von den inhaltlichen Bedeutungen der mathematischen Sachverhalte abstrahiert wird. Ziel einer solchen Operation ist die Beschreibung der logischen Struktur eines solchen mathematischen Sachverhalts durch Darstellung in Form eines prädikatorenlogischen Ausdrucks als Ergebnis der Formalisierung. Verdeutlichen wir uns eine solche Operation an einem einfachen Beispiel. Gegeben sei in natürlicher Sprache der zu formalisierende mathematische Satz »Alle Primzahlen, größer als zwei, sind ungerade«. Mit Hilfe des Kalküls der Prädikatenlogik erster Ordnung mit Identität können wir diesen Satz durch Umformulierung in »Für alle x gilt: wenn x eine Primzahl ist und x größer als zwei ist, dann ist x ungerade« und der Einführung der drei einstelligen Prädikate »Px: x ist ungerade«, »Qx: x ist größer als zwei« und »Rx: x ist ungerade« in die formalisierte Form 8x (Px ^ Qx ! Rx) überführen. Neben der Anwendung dieses Kalküls auf eine Vielzahl von Sätzen aus unterschiedlichen Bereichen der Mathematik 6 können wir mittels der Prädikatenlogik erster Ordnung mit Identität auch ganze axiomatisch aufgebaute mathematische Theorien formalisieren, wie etwa die Gruppentheorie oder die Arithmetik der realen Zahlen, um nur zwei Beispiele zu nennen. ›Mathematisierung‹ liegt unseren Ausführungen gemäß folglich immer nur dann vor, wenn der darzustellende Zusammenhang sowohl formalisiert als auch kalkülisiert ist, denn erst dann können wir syntaktisch-formal schließen. Um eine solche ›Mathematisierung‹ als vollständig zu bezeichnen, muß jedoch darüber hinaus der Kalkül noch Allgemeingültigkeit und logische Wahrheit implizieren, d. h. er muß logifiziert sein (Lenk, 1979a:112).

Zur Konstruktion von formalen Kunstsprachen und damit verbundenen Problemen vgl. (Carnap, 1968, 1973a,b), (Morris, Cohen & Nagel, 1963:133–141) und (Tarski, 1969). 6 Vgl. dazu im allgemeinen auch (Braithwaite, 1955:Chap.II). 5

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1.1.2 Zur informellen Axiomatisierung einer wissenschaftlichen Theorie mittels eines mengentheoretischen Prädikats Die Formalisierung mathematischer Theorien mittels der Prädikatenlogik erster Ordnung mit Identität, welche auch als Standardformalisierung bezeichnet wird (Suppes, 1957:248), ist zwar für eine Vielzahl von mathematischen Theorien leicht durchführbar, stößt aber dort an Grenzen ihrer technischen Durchführbarkeit, wo eine mathematische Theorie im Rahmen ihrer Aussagen zu ihrer Verwendung mehr involviert als nur die Prädikatenlogik erster Ordnung, bspw. auch Ideen der Mengenlehre. Dazu Suppes (1957:248 f.): »For example, if in axiomatizing geometry we want to define lines as certain sets of points, we must work within a framework that already includes the ideas of set theory. To be sure, it is theoretically possible to axiomatize simultaneously in firstorder logic geometry and the relevant portions of set theory, but this is awkward and unduly laborious. Above all, it is repetitious, for in axiomatizing a wide variety of theories, it is necessary or at least highly expedient to make use of set theory; if formalization in first-order logic is the method used, then each such axiomatization must include appropriate axioms for set theory. Theories with more complicated structures like probability theory need to use not only general ideas of set theory but also many results concerning the real numbers and functions whose domains or ranges are sets of real numbers. Formalization of such theories in first-order logic is utterly impractical.«

Um diese Schwierigkeit zu beheben, machte Suppes den Vorschlag, mathematische Theorien nicht in einer gänzlich formalen Kunstsprache wie bspw. der Prädikatenlogik erster Ordnung mit Identität zu axiomatisieren, sondern informell durch Einführung eines mengentheoretischen Prädikats im Rahmen der naiven Mengenlehre. 7 Daß ein solches Vorgehen nicht den an mathematische Theorien gestellten Präzisionsgrad reduziert, belegen die Arbeiten der französischen Mathematikergruppe Bourbaki, die diese Methode mit großem Erfolg in der Mathematik angewendet haben 8 . Die Axiomatisierung einer gegebenen, axiomatisch aufgebauten mathematischen Theorie durch Definition eines mengentheoretischen Prädikats beinhaltet folgende Operationsschritte: Zunächst Siehe dazu etwa die Einführungen in die Mengenlehre von Görke (1967:Kap. 1), Halmos (1976), Stoll (1979), Hamerle & Kemény (1985) und Alexandroff (1994). 8 Für eine erste Orientierung in die von Bourbaki entwickelte Methode zur Axiomatisierung mathematischer Theorien siehe (Bourbaki, 1961). 7

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fassen wir die Grundbegriffe einer solchen Theorie als Variablen auf, über die wir eine Existenzquantifikation vornehmen. Die so entstandene komplexe Es-gibt-Aussage benützen wir nun als Definiens eines neuen Prädikats, das auf das n-Tupel der Designata der Grundbegriffe zutrifft. Verdeutlichen wir uns dies am Beispiel der Arithmetik, so können wir das mengentheoretische Prädikat »ist eine Progression« wie folgt definieren: D1–1:

»X ist eine Progression« gdw es ein ø, ein a und ein f gibt, so daß gilt: (1) X = (ø,a,f) (2) ø ist eine nicht-leere Menge (3) a ist ein Element von ø (4) f ist eine Funktion mit dem Argumentbereich DI(f) = ø und dem Wertbereich DII(f) = ø (5) für alle x : x 2 ø ! fx 6¼ a (6) (x) (y) : x 2 ø ^ y 2 ø ^ fx = fy ! x = y (7) (x) (P) : ((Pa ^ (x 2 ø ^ P(x) ! P(fx))) ! (x): x 2 ø ! P(x)

In dieser Definition haben wir die Grundbegriffe N als Menge der natürlichen Zahlen, a als die Zahl Null und f als die Nachfolgefunktion designiert; über diese haben wir eine Existenzquantifikation vorgenommen; die dabei entstandene Gesamtaussage mit den Teilbedingungen (1) bis (7) ist per Definition äquivalent mit der Behauptung »X ist eine Progression«. Auch der für die ›Mathematisierung‹ konstitutive Begriff der Struktur läßt sich durch Einführung eines mengentheoretischen Prädikats definieren (Balzer, 1982:273; Westermann, 1987:13): D1–2:

»X ist eine Struktur« genau dann, wenn es M1,…,Mn und R1,…,Rk gibt, so daß folgendes gilt: (1) X = (2) M1,…,Mn sind nicht-leere Mengen (3) für alle i {1,…,k} gilt: Ri ist eine Relation über M1,…,Mn, d. h. eine Teilmenge des kartesischen Produkts irgendwelcher Mi

Die Bezeichnung dieser Methode als informelle Formalisierung impliziert nun zum einen, daß mit dem Begriff ›Formalisierung‹ kein 64

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formalsprachliches Vorgehen gemeint ist, sondern nur ein dem heutigen Präzisionsstand der Mathematik entsprechendes axiomatisches Vorgehen, und zum anderen, daß mit dem Attribut ›informell‹ nur ausgedrückt wird, daß die logischen Ausdrücke mit Ausnahme der Implikation in ihrer umgangssprachlichen Bedeutung verwendet werden und das mengentheoretische Grundsymbol »2« für die Elementarschaftsrelation gewählt wird (Stegmüller, 1980a:4 ff.; 1985:39,41;1986:21). Ob wir nun jedoch die Standardformalisierung oder die informelle Formalisierung zur Darstellung einer mathematischen Theorie verwenden, die ›Mathematisierung‹ selbst bleibt dabei in striktestem Sinne nur mathematisch-logischen Theorien vorbehalten, d. h. in diesem strengsten Sinne können nur, wie Lenk es ausdrückt, »idealwissenschaftliche formale (fiktionale) Bereiche »mathematisiert« werden« (Lenk, 1979a:112) und sind damit infolge ihres fehlenden empirischen Gehalts nicht geeignet, die Gesamtstruktur einer wissenschaftlichen Theorie darzustellen. Erst die Interpretation der Symbole durch Zuordnung von Meßgrößen, theoretischen oder empirischen Begriffen ermöglicht eine Realitätsrelation im Sinne einer Anwendung der formalen bzw. informell formalisierten Theorie auf die Realität. Damit ist auch schon deutlich geworden, daß die ›Mathematisierung‹ (und d. h. im engeren Sinne die Formalisierung) einer wissenschaftlichen Theorie diese nicht vollständig erfassen bzw. ausdrücken kann, sondern nur die Formen bereitstellt, in denen Gesetze, Zusammenhänge, Größen und Strukturen dargestellt werden können. Die ›Mathematisierung‹ einer wissenschaftlichen Theorie kann so stets nur eine Teilmathematisierung sein; sie ist nur die syntaktische Sprache, die unerläßliche »Grammatik« der Theorie, nicht deren Inhalt (Lenk, 1979a: 114 f.). Zusammenfassend können wir festhalten, daß die ›Mathematisierung‹ einer wissenschaftlichen Theorie in Form von Teillogifizierungen wie folgt charakterisiert ist (Lenk, 1979a:113): Zum einen kann eine mathematisch-logische Formaltheorie den formalen Strukturkern einer zu axiomatisierenden wissenschaftlichen Theorie darstellen, zum anderen kann sie in Gestalt logischer Regeln und mathematischer Ableitungen Anwendungen bei den formalen Schlüssen innerhalb einer wissenschaftlichen Theorie finden.

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1.1.3 Zur wissenschaftlichen Relevanz von Formalisierungen Nach dieser einführenden Skizzierung der wesentlichen intensionalen und extensionalen Aspekte der ›Formalisierung‹ und ihrer instrumentarisierten Verwendung im Kontext wissenschaftlicher Theorien wenden wir uns jetzt einer Beantwortung der Frage zu, inwiefern die Formalisierung wissenschaftlicher Theorien überhaupt wünschenswert ist bzw. welche Art von Erkenntnisgewinn eine solche Formalisierung induzieren kann. Zunächst gilt es festzuhalten, daß Formalisierungen nicht von den eigentlichen Problemen wegführen, sondern daß sie es uns gerade erst ermöglichen, die Probleme klarer zu formulieren (Stegmüller, 1973:14) – denn erst die Formalisierung unserer Erkenntnisprodukte garantiert uns Präzision, welche wir als unabdingbares Minimalkriterium zur Sicherung von Klarheit, Eindeutigkeit und intersubjektiver Verständlichkeit der wissenschaftlichen Sprache ansehen, als auch logische Konsistenz (Westmeyer, 1977:74 ff.). 9 Mittels Formalisierungen sind wir so erst in der Lage, das Unverbindlich-Unbestimmte von Theorien zu eliminieren und vom sogenannten ›gesunden Menschenverstand‹ zu abstrahieren, der zwar innerhalb des wissenschaftlichen Forschungsprozesses dadurch nicht obsolet wird, sich doch aber durch eine eklatante begriffliche Unschärfe auszeichnet. Diese noch sehr allgemein gehaltenen Argumente für die Relevanz von Formalisierungen wissenschaftlicher Theorien können wir nun noch weiter konkretisieren. So macht die Formalisierung einer wissenschaftlichen Theorie zum einen Folgerungen sichtbar, die aus den Sätzen der verbalen, umgangssprachlich formulierten Theorie nicht ohne weiteres hervorgehen. Sie ermöglicht uns, Ableitungen leichter vorzunehmen, besser zu kontrollieren und falsche zu vermeiden als auch neue Hypothesen zur besseren Prüfung der Theorie abzuleiten. Zum anderen erlaubt die Formalisierung eine Präzisierung der zu formalisierenden Theorie im Sinne der Klärung ihrer logischen Struktur, welche uns dann eher in die Lage versetzt, neue Theoreme aus den Axiomen abzuleiten als auch die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von Postulaten besser zu erkennen. Nicht zuletzt macht die Formalisierung einer wissenschaftlichen Theorie diese auch eher einer logischen Kritik zugänglich (Mayntz, 1967a:27 ff.; 9

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Siehe dazu auch Hummell (1972a,b).

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Opp, 1976:320 ff.). So führte bspw. die von Simon (1952) durchgeführte Formalisierung der Kleingruppen-Theorie von Homans (1950) zur Aufdeckung logischer Unstimmigkeiten in seiner Theorie 10. Zusammenfassend und teilweise erweiternd ist die im Rahmen dieser Arbeit vorgenommene mengentheoretische Formalisierung einer wissenschaftlichen Theorie durch sechs wesentliche Vorteile gekennzeichnet: Explizitheit, Standardisierung, Allgemeinheit, Objektivität, Abgeschlossenheit der Annahmen und minimaler Annahmen (Suppes, 1983a). Die Formalisierung ist zunächst eine Möglichkeit, die Bedeutung der Begriffe aus einer zusammenhängenden Familie in expliziter Weise herauszuarbeiten. Desweiteren stellt der Gebrauch eines mengentheoretischen Rahmens bei der expliziten Formalisierung einer wissenschaftlichen Theorie die Möglichkeit dar, die Terminologie und die Methoden der begrifflichen Analyse zu standardisieren und somit, wenden wir diesen Rahmen auf unterschiedliche Wissenschaftszweige an, die Kommunikation zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen zu erleichtern. Im Hinblick auf eine bestimmte Theorie erlaubt uns die Formalisierung die Eliminierung regionaler und unwesentlicher Züge aus der Art und Weise, in der über diese Theorie gedacht wird, d. h. ihr kann eine bestimmte Allgemeinheit zugesprochen werden, welche letztendlich auch ihren objektiven Grad erhöht, d. h. die intersubjektive Verständlichkeit über diese Theorie. Nicht zuletzt ermöglicht uns die Formalisierung einen Weg zur Identifizierung der Grundannahmen einer Theorie als auch die Möglichkeit einer objektiven Analyse der minimalen Annahmen, die zur Formalisierung der Theorie nötig sind. 11 Wir dürfen aber bei all’ diesen Argumenten für eine ›Mathematisierung‹ wissenschaftlicher Theorien jedoch nicht die Tatsache aus den Augen verlieren, daß Formalisierungen alleine selbst noch nichts über die Realität aussagen, als auch daß immer die in der ›Mathematisierung‹ implizit enthaltende Gefahr besteht, unsere Untersuchungsgegenstände bis zur Unkenntlichkeit zu verändern oder uns in ausschließlich platonischen Welten zu bewegen. Daraus folgt allein schon der Imperativ für jegliche ›Mathematisierung‹ wissenschaftlicher Theorien, daß wir diese einer permanenten Überprüfung Vgl. dazu auch (Ziegler, 1972:207 ff.). Siehe zur gegenwärtigen Diskussion in den Sozialwissenschaften über die Fruchtbarkeit von Formalisierungen bspw. Troitzsch (1990:30–35) und Manhart (1995:15–18).

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sowohl im Hinblick auf ihre ›innere‹ Struktur als auch im Hinblick auf ihre Realitätsbezogenheit aussetzen müssen. Unter Voraussetzung dieser Prämissen bleibt und ist ›Mathematisierung‹ jedoch immer noch eines der grundlegenden Mittel für Erkenntnisgewinn und Entmythologisierung der Wissenschaft, denn »zu oft hat sich die Behauptung der Nichtmathematisierbarkeit oder der analytischen Unzugänglichkeit geheiligter und tabuisierter Bezirke menschlichen Denkens als Placeboangst entpuppt, als Angst davor, daß liebgewordene Denkschemata als Illusionen erkannt und über Bord geworfen werden müssen, daß sich stolze Begriffsgebäude als Luftschlösser herausstellen, die nicht mehr als Basis emotionaler Daseinsbewältigung taugen.« (Hauffe, 1981:3)

1.2 Zum Begriff der ›rationalen Rekonstruktion (von Theorien)‹ und seiner wissenschaftstheoretischen Anwendungsweisen 1.2.1 ›Rationale Rekonstruktion‹ und Wissenschaftstheorie. Einleitende Vorbemerkungen Folgen wir der Auffassung von Stegmüller (1973:8, 1979d:11), so bezeichnet der Terminus ›rationale Rekonstruktion‹ das Kernelement wissenschaftstheoretischer Tätigkeit. Wissenschaftstheorie ist Stegmüller zufolge als angewandte Logik zu verstehen, welche selbst wiederum als rationale Rekonstruktion wissenschaftlicher Erkenntnis bestimmt wird (Stegmüller, 1973:7); sie ist so gesehen in erster Linie eine rekonstruktive logische Theorie, deren Gegenstand die gesamte empirische Wissenschaft umfaßt, soweit sie axiomatisiert ist (Eisenhardt, 1984:40). Die im folgenden näher vorzunehmende Explikation dieser auch für unsere Arbeit leitenden Semantik von ›rationaler Rekonstruktion‹ wird unter drei Aspekten erfolgen: ein erster Aspekt beinhaltet den Stellenwert von Logik und Axiomatisierung für ›rationale Rekonstruktionen‹, in einem zweiten und dritten Aspekt werden wir den Terminus ›rationale Rekonstruktion‹ sowohl unter einem systematischen Gesichtspunkt (d. h. seine Intension und Extension betreffend) als auch unter einem diachronen Gesichtspunkt analysieren.

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Zu den Konzepten ›Formalisierung‹ und ›rationale Rekonstruktion‹

1.2.2 Determinanten der ›rationalen Rekonstruktion‹ : Logik und Axiomatisierung Um eine rationale Rekonstruktion vornehmen zu können, müssen die für eine Rekonstruktion vorgesehenen Objekte, d. h. in unserem Falle wissenschaftliche Theorien, in axiomatisierter Form vorliegen bzw. axiomatisiert werden. Mit dieser Forderung soll u. a. die Möglichkeit der Vergleichbarkeit formaler Strukturen verschiedener Theorien gewährleistet werden, die bei beliebigen Theorien und ihrer potentiell unendlichen Menge von Behauptungen von vornherein ausgeschlossen ist. Die Axiomatisierung einer wissenschaftlichen Theorie ist dabei als das Ergebnis der Anwendung der Logik auf eine solche Theorie zu betrachten, denn bringen wir eine Theorie in eine möglichst konsistente logische und konzeptionelle Ordnung, so führt dies (nach Hilbert (1918)) mit Notwendigkeit zu einer Axiomatisierung derselben. Über die Schaffung der formalen Voraussetzungen für eine Axiomatisierung wissenschaftlicher Theorien hinaus, ermöglicht die Logik auch die Analyse solcher Theorien. So schreibt bspw. Agazzi (1980:257): »This other line is that which considers logic as a ›tool for the analysis‹ of empirical theories, with special attention paid to the methodological problems that are posed by their construction and, especially, by their justification, testing, application, evolution, comparison and the like.«

1.2.3 Zum Begriff der ›rationalen Rekonstruktion‹ unter systematischen Gesichtspunkten 1.2.3.1 ›Rationale Rekonstruktion‹ als Prozeß und Ergebnis Mit dem Terminus ›rationale Rekonstruktion‹ wird sowohl eine »bestimmte Art von geistiger Tätigkeit«, d. h. ein Ablaufprozeß bestimmter Handlungsoperationen, als auch das »Endprodukt einer solchen geistigen Tätigkeit« bezeichnet (Stegmüller, 1973:14). Wenden wir uns zunächst der ersten Bestimmungsform zu, so umfaßt eine rationale Rekonstruktion folgende Handlungsoperationen (Stegmüller, 1973:8; Westermann, 1987:6):

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(1) Die begriffliche Durchdringung und Präzisierung des Begriffsund Satzgerüstes von Theorien, d. h. es müssen zunächst einmal die Prinzipien, Konzepte und Grundbegriffe der zur Rekonstruktion vorgesehenen Theorien herausgearbeitet werden; (2) die Identifizierung der in Theorien enthaltenen logisch-mathematischen Strukturen, d. h. u. a. es müssen die internen Strukturen der betreffenden Theorien bestimmt werden; (3) die Herausarbeitung der intertheoretischen Relationen der Theorien sowie auch der Relationen der Theorien zu nicht-theoretischen Entitäten; (4) die Explikation der Methoden wissenschaftlicher Überprüfung von Theorien; und (5) die Bestimmung der Anwendungskriterien von Theorien. Zusammenfassend und verallgemeinernd können wir festhalten, daß unter dem Begriff der ›rationalen Rekonstruktion‹ ein bestimmter Ablaufprozeß von Handlungsoperationen zu verstehen ist, der in erster Linie im »Aufsuchen neuer Bestimmungen für alte Begriffe« besteht (Carnap, 1979:X), d. h. in der Ersetzung der in einer vorgegebenen Theorie relevanten Konzepte »durch ähnliche, aber klarere, exaktere, konsistentere oder fruchtbarere« (Westermann, 1987:6). Betrachten wir eine rationale Rekonstruktion als das Endprodukt des vorgängig erwähnten Ablaufprozesses von Handlungsoperationen, so können wir zunächst festhalten, daß »eine rationale Rekonstruktion das Ergebnis eines Vorgangs [ist], bei dem eine Sache als das, was jeweils zu rekonstruieren ist, durch eine andere, eben die Rekonstruktion, ersetzt wird« (Scheibe, 1984:96). Jede Rekonstruktion ist so auch Konstruktion und kann als Wechselwirkung zwischen der passiven Struktur des zu rekonstruierenden Gegenstandes einerseits und der symbolischen Struktur der rekonstruierenden Instanz andererseits begriffen werden. Eine rationale Rekonstruktion erfolgt dabei immer innerhalb eines bestimmten, explizit zu machenden Rahmens und ist somit in gewissem Sinne ein Kunstprodukt, denn »wenn wir die und die Rahmen und Prinzipien wählen, dann nimmt das Stück Wissenschaft, das unser Original war, die und die Gestalt an.« (Scheibe, 1988:154)

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1.2.3.2 Rekonstruktionstypologie Im Rahmen einer Typologie lassen sich folgende Hauptrekonstruktionsformen unterscheiden: Begriffsexplikationen, reduktive und deskriptive Rekonstruktionen. Begriffsexplikation meint mit Carnap das Aufsuchen neuer Bestimmungen für alte Begriffe, wobei die neuen Bestimmungen den alten in Klarheit und Exaktheit überlegen sein sollen und sich vor allem besser in systematische Begriffsgebäude einfügen (Carnap, 1962:Kap.I; 1979:Xff). Unter reduktiver Rekonstruktion verstehen wir dagegen nicht die Klärung und Präzisierung von Begriffen, sondern die Reduktion eines Begriffs auf einen anderen bzw. eine Theorie auf eine andere, bspw. die Kepler’schen Gesetze auf die Newton’sche Gravitationstheorie (Scheibe, 1973; 1984:108). Eine deskriptive Rekonstruktion schließlich meint die Beschreibung eines Gegenstandes unter Beibehaltung seiner wesentlichen Merkmale innerhalb eines bestimmten Rekonstruktionsrahmens.

1.2.3.3 Elemente und Adäquatheitskriterien rationaler Rekonstruktionen Die für eine rationale Rekonstruktion konstitutiven Elemente sind das zu rekonstruierende Objekt und das Rekonstruktionskonzept, in dessen Rahmen die Rekonstruktion durchgeführt werden soll. Objekte der Rekonstruktion können, wie in der vorliegenden Arbeit, Theorien sein, doch ist damit die Menge möglicher Rekonstruktionsobjekte keineswegs erschöpft. Es können auch einzelne Funktionen und Begriffe oder die gesamte (abendländische) Wissenschaft als Objekte für eine Rekonstruktion verwendet werden. Die eigentliche Durchführung der Rekonstruktion erfolgt im Rahmen eines bestimmten Rekonstruktionskonzepts, innerhalb dessen sowohl die Prämissen des Rekonstruktionsverfahrens als auch die bei diesem Verfahren anzuwendende Logik bestimmt wird (Berner, 1983:151 f.). Als Prämissen des Rekonstruktionsverfahrens gelten die besonderen Gesichtspunkte, auf die hin die Rekonstruktion durchgeführt wird. Unter besonderen Gesichtspunkten sind dabei die unterschiedlichen Lösungsansätze für wissenschaftstheoretische Grundprobleme zu verstehen, so etwa die metatheoretische Entscheidung darüber, ob A

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wissenschaftliche Theorien als Aussagensysteme oder als Paare von Strukturkernen und intendierten Anwendungen anzusehen sind. Diese Gesichtspunkte bilden sozusagen die Axiome der Rekonstruktion, deren Aufgabe dann darin besteht, zu prüfen, ob das Rekonstruktionsobjekt logisch so rekonstruiert werden kann, daß es diesen Axiomen sowie den aus ihnen logisch abgeleiteten Sätzen entspricht. Durch logische Umformungen können wir aus den Rekonstruktionsaxiomen Rekonstruktionstheorien/-modelle gewinnen, nach deren Vorbild und unter Verwendung der in diesen Modellen entwickelten Instrumenten man dann versucht, das Rekonstruktionsobjekt darzustellen. Ein Rekonstruktionskonzept ist jedoch nicht nur durch seine jeweils spezifischen Prämissen in bezug auf das Rekonstruktionsverfahren bestimmt, sondern auch durch die Festlegung darüber, welche logischen Operationen bei diesem Verfahren zulässig sind. Wenn wir bei unseren bisherigen Ausführungen von ›Logik‹ gesprochen haben, so bezogen wir uns auf die ›formale Logik‹ (mit ihren Teilsystemen Aussagenlogik, Prädikatenlogik und Klassenlogik), mit welcher in der Wissenschaftstheorie auch hauptsächlich gearbeitet wird. Es stellt sich dabei jedoch die Frage, ob die jeweiligen Voraussetzungen für die Anwendung der formalen Logik auch immer und überall erfüllt sind. Daß dies nicht der Fall ist, zeigt die Tatsache, daß in der klassischen Mengenlehre (welche auf die allgemeinen Voraussetzungen der klassischen Logik wie etwa die des ausgeschlossenen Dritten oder der Bestimmung des Unendlichen als ein »Aktual-Unendliches« aufbaut) einander widersprechende Aussagen bewiesen werden können. Unter der Voraussetzung, daß die Realität nicht widerspruchsvoll ist, bedeutet dies, daß die in der klassischen Mengenlehre gebildeten Mengenbegriffe die Realität nicht zutreffend beschreiben können. Zur Lösung solcher Antinomien wurden nun andere logischen Systeme entwickelt, bspw. der auf Bouwer zurückgehende Intuitionismus, in dem das Unendliche nicht als aktual-unendlich, sondern als »potentiell-unendlich« bestimmt wird. Dies hat im Intuitionismus nun auch Konsequenzen für die Bedeutung der logischen Ausdrücke. Sind diese innerhalb der formalen Logik durch eine »Wahrheitsdefinition« bestimmt, so werden sie im Intuitionismus durch den Beweisbegriff ersetzt. Ohne auf die Unterschiede zwischen formaler (klassischer) Logik und intuitionistischer Logik hier nun noch näher einzugehen, zeigen die obigen Ausführungen, daß jedes logische System auf bestimmten Grundannahmen 72

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aufbaut und daß daher ein logischer Zusammenhang niemals voraussetzungslos und absolut denknotwendig ist. Die Anwendung eines bestimmten logischen Systems auf ein bestimmtes Problem ist so immer rechtfertigungsbedürftig und kann nicht apriori als richtig vorausgesetzt werden. Wenn nun die rationale Rekonstruktion eines Rekonstruktionsobjekts durch bestimmte Prämissen determiniert und sie auf der Grundlage verschiedener logischer Systeme denkbar ist, nach welchen Gesichtspunkten ist dann eine solche Rekonstruktion und damit die Erklärung des Rekonstruktionsobjekts zu beurteilen? Es ist ja prinzipiell möglich, ein und dieselbe Theorie mittels differenter logischer Systeme unterschiedlich zu rekonstruieren. Prinzipiell gesehen hat eine rationale Rekonstruktion, im Kontext welchen Rekonstruktionskonzepts sie auch immer erfolgt, folgende Adäquatheitsbedingungen zu erfüllen: 12 (1) die Bedingungen der Ähnlichkeit mit dem Rekonstruktionsobjekt, d. h. die Rekonstruktion muß in solcher Form dargeboten werden, daß die Darstellung mit den Grundideen des Konstrukteurs in Einklang bleibt. Die Rekonstruktion muß die wesentlichen Begriffe und Annahmen der Theorie enthalten und den angezielten Gegenstandsbereich zum Ausdruck bringen. Der Begriff der Ähnlichkeit muß dabei notwendig vage bleiben, da eine Rekonstruktion eben nicht nur ein »Nacherzählen«, sondern eine an einem Rekonstruktionskonzept orientierte Neuschöpfung des Rekonstruktionsobjekts ist; (2) Die Bedingungen der Exaktheit, d. h. die Rekonstruktion sollte soweit wie möglich mittels präziser Begriffe dargestellt werden. Diese Forderung betrifft vor allem die Konsistenz des Begriffsapparates, die Stringenz der Ableitungszusammenhänge und den Zusammenhang zwischen Theorie und Empirie; (3) die Bedingungen der Fruchtbarkeit. Diese Bedingung ist dann erfüllt, wenn sich interessante, eventuell sogar überraschende Einblicke in die rekonstruierte Theorie eröffnen, die vor der Rekonstruktion gar nicht oder zumindest nicht in dieser Weise sichtbar waren; (4) die Bedingungen der Einfachheit, welche dann von Bedeutung Siehe dazu (Carnap & Stegmüller, 1959:12 ff.), (Stegmüller, 1967:2), (Poser, 1980:556) und (Westmeyer, 1988:519 f.).

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sind, wenn verschiedene Rekonstrukte der gleichen Theorie vergleichend bewertet werden sollen; und (5) die Bedingungen der Konsistenz, d. h. sind Rekonstruktionsverfahren und -ergebnis konsistent im Sinne des Rekonstruktionskonzepts? 1.2.4 Zum Begriff der ›rationalen Rekonstruktion‹ unter diachronen Gesichtspunkten: Rekonstruktionstheorien/-modelle Die wissenschaftstheoretische Genese des Terminus ›rationale Rekonstruktion‹ kann im Logischen Empirismus bei Carnap verortet werden. Ausgehend von der erkenntnistheoretischen Grundlegung, daß sich der Mensch über seine alltäglichen und wissenschaftlichen Unterscheidungen seine Welt aufbaut, entwickelt Carnap in seinem Buch Der logische Aufbau der Welt von 1928 (Carnap, 1979) ein Konstitutionssystem, das diesen nicht unmittelbar einsichtigen Aufbau nachkonstruiert (Carnap, 1979:139): »Das Konstitutionssystem ist eine rationale Nachkonstruktion des gesamten, in der Erkenntnis vorwiegend intuitiv vollzogenen Aufbaues der Wirklichkeit.«

Unter einer rationalen Nachkonstruktion wird bei Carnap so »das Aufsuchen neuer Bestimmungen für alte Begriffe« verstanden (Carnap, 1979:X) mit dem Ziel eines Neuaufbaus des alltäglichen und wissenschaftlichen Begriffsystems unter Beseitigung der in ihm eingeschlossenen Ungenauigkeiten und Unklarheiten. Das Resultat der Nachkonstruktion stellt dabei jedoch keine Ersetzung des zu rekonstruierenden Begriffsystems durch ein anderes in einem engeren Sinne dar, sondern es soll nur dort Klarheit schaffen, wo zuvor Unklarheit bestand. Auf die Frage, wie die Konstruktion nun kontrolliert werden kann, verweist Carnap’s Antwort auf das unmittelbar Gegebene, nämlich »auf der Grundlage von Begriffen, die sich auf das unmittelbar Gegebene beziehen« (Carnap, 1979:X). So gesehen ist Carnap’s Konstitutionssystem auch nicht teleologisch ausgezeichnet, in dem es angibt, wie die Welt aufgebaut werden soll, sondern durch eine gegebene Basis. Diese empiristische Grundthese, formuliert als empiristisches Sinnkriterium, ist zentraler Bestandteil der rationalen 74

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Nachkonstruktion und das Auszeichnungskriterium der Realwissenschaften, die durch empirisch signifikante Aussagen charakterisiert sind. Reichenbach hat in der Folge Carnaps methodische Intentionen aufgenommen und im Rahmen seiner Unterscheidung zwischen Wissenschaft als Entdeckungszusammenhang (context of discovery) und als Begründungszusammenhang (context of justification) (Reichenbach, 1938:6 f.) weiter ausgearbeitet. Bei Reichenbach verweist der Ausdruck ›rationale Rekonstruktion‹ dabei auf die Aufgabe einer begründungsorientierten Beurteilung wissenschaftlicher Theoriebildung: »What epistemology intends is to construct thinking processes in a way in which they ought to occur if they are to be ranged in a consistent system; or to construct justifiable sets of operations which can be intercalated between the starting-point and the issue of thought-processes, replacing the real intermediate links. Epistemology thus considers a logical substitute rather than real processes. For this logical substitute the term rational reconstruction has been introduced.« (Reichenbach, 1938:5)

Basis rationaler Rekonstruktionen sind bei Reichenbach gegebene Theorien, wobei der Entdeckungszusammenhang von Theorien ausgeblendet bleibt. Neben einem deskriptiven Gehalt besitzt eine rationale Rekonstruktion jedoch noch einen kritischen Gehalt: »the tendency to remain in correspondence with actual thinking must be seperated from the tendency to obtain valid thinking; and so we have to distinguish between the descriptive and the critical task. […] The critical task is what is frequently called analysis of science.« (Reichenbach, 1938:7 f.)

In Reichenbach’s Konzeption der ›rationalen Rekonstruktion‹ besitzen wissenschaftstheoretische Analysen im Gegensatz zu der Position von Carnap zwar ein systematisches Primat gegenüber der wissenschaftlichen Forschung (das sie bei Carnap in diesem Maße nicht besitzen), doch soll auch bei Reichenbach mittels der rationalen Rekonstruktion der Wissenschaft nicht vorgeschrieben werden, was diese tun soll. Ziel des Reichenbach’schen Verfahrens der rationalen Rekonstruktion ist so im Kern das gleiche wie bei Carnap, nämlich Klarheit zu schaffen, wo zuvor Unklarheit herrschte. Nicht gleich sind hingegen die an den Begriff der rationalen Rekonstruktion geknüpften Adäquatheitskriterien. So treten bei Reichenbach anstelle des empiristischen Sinnkriteriums Zuordnungsdefinitionen, wobei A

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verschiedene Zuordnungsdefinitionen verschiedene, aber empirisch äquivalente Theorien liefern. Mit ähnlichen inhaltlichen Bestimmungen rationaler Rekonstruktionen bleibt auch Popper’s Wissenschaftstheorie verbunden. So ist es aufgrund seiner Analyse des Basisproblems und seiner methodologischen Bestimmung von Basissätzen als durch Konvention gewonnene Prämissen einer empirischen Falsifikation (Popper, 1982:60 ff.) prinzipiell unmöglich, daß Rekonstruktionen die ›Wirklichkeit‹ jemals abschließend erfassen könnten. Wo Popper dennoch den Begriff der ›rationalen Rekonstruktion‹ für seine Forschungslogik übernimmt, dies aber inhaltlich in direktem Gegensatz zu Carnap’s induktiver Logik, kommt dieser nur als »logisches Gerippe des Prüfungsverfahrens« zur Geltung (Popper, 1982:6 f.). Abschließend wollen wir uns nun der Konzeption von ›rationaler Rekonstruktion‹ bei Stegmüller zuwenden, die wir auch innerhalb dieser Arbeit vertreten. Anders als Carnap, Reichenbach und Popper identifiziert Stegmüller den Sinn rationaler Rekonstruktionen nicht mit einer bestimmten Logik, sei diese induktiv wie bei Carnap oder deduktiv wie bei Popper, sondern bestimmt die Aufgabe der Wissenschaftstheorie generell als ›rationale Rekonstruktion‹. Sie ist so primär »angewandte Logik« (Stegmüller, 1973:7), welche als ›rationale Rekonstruktion wissenschaftlicher Erkenntnis‹ bestimmt wird. ›Rationale Rekonstruktion‹ ist dabei als »die begriffliche Durchdringung und Präzisierung des Begriffs- und Satzgerüstes von Theorien, der in Theorien enthaltenen logisch-mathematischen Strukturen, der Methoden wissenschaftlicher Überprüfung und der Anwendungskriterien von Theorien« definiert (Stegmüller, 1973:8). Wie Carnap sieht Stegmüller das Ziel von Begriffsexplikationen in einer Überführung von Begriffsbestimmungen in formale Strukturen (Stegmüller, 1973:13 f.) und unterscheidet mit Reichenbach zwischen einer deskriptiven und einer normativen Komponente. Stegmüller’s Ansatz rationaler Rekonstruktionen ist jedoch kein normatives Unternehmen, da über die logische Klärung von Unklarheiten die rationale Rekonstruktion nicht hinausreicht: »Der Wissenschaftstheoretiker stellt die existierenden Wissenschaften nicht in Frage. Vielmehr versucht er deren Rekonstruktion unter der Voraussetzung, daß eine rationale Rekonstruktion möglich ist.« (Stegmüller, 1973:23)

Eine rationale Rekonstruktion ist dieser Semantik zufolge so auch kein rein deskriptives oder rein normatives Unterfangen, sondern 76

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stellt den Versuch dar, ein erklärendes Modell (in Analogie zu Hintikkas »explanatory modell« 13 ) bestimmter Aspekte der menschlichen Erkenntnis zu liefern (Stegmüller, 1980:171). 1.2.5 Zur ›Rationalen Rekonstruktion‹ wissenschaftlicher Theorien Waren unsere bisherigen Ausführungen im wesentlichen auf eine systematisch und diachron ausgerichtete Explikation des Terminus ›rationale Rekonstruktion‹ innerhalb der Wissenschaftstheorie gerichtet, so werden wir uns nun den Objekten solcher Rekonstruktionen, den wissenschaftlichen Theorien und hier insbesondere ihren Strukturen zuwenden. Denn über die Bestimmung der Struktur einer realwissenschaftlichen Theorie wird auch der Rahmen ihrer jeweiligen rationalen Rekonstruktion determiniert. Die innerhalb des Logischen Empirismus perzipierte Strukturauffassung wissenschaftlicher Theorien, essentiell konkretisiert im sogenannten ›Empiristischen Standardmodell für wissenschaftliche Theorien‹ 14 als auch die innerhalb des Kritischen Rationalismus vertretene Auffassung wissenschaftlicher Theorien (Albert, 1964; Popper, 1982) kann in ihrem gemeinsamen Kanon dahingehend verallgemeinert werden, daß (real-) wissenschaftliche Theorien analog zu mathematischen Theorien als Aussagensysteme aufzufassen sind. Wir bezeichnen diese Sichtweise wissenschaftlicher Theorien als die Sichtweise der vorstrukturalistischen Wissenschaftstheorie. Die rationale Rekonstruktion von wissenschaftlichen Theorien als Aussagesysteme bedient sich dabei primär der Aussagenlogik. »A branch of logic, say epistemic logic, is best viewed as an explanatory model in terms of which certain aspects of the workings of our ordinary language can be understood. In some cases, this explanatory model may be thought of as bringing out the ›depth logic‹ which underlies the complex realities of our ordinary use of epistemic words (›knows‹, ›believes‹, etc.) and in terms of which these complexities can be accounted for. It therefore does not represent a proposal to modify ordinary language but rather an attempt to understand it more fully. But this explanatory model does not simply reproduce what there is to be found in ordinary discourses. As the case is with theoretical models in general, it does not seem to be derivable from any number of observations concerning ordinary language. It has to be invented rather than discovered.« (Hintikka, 1969a:5). 14 Siehe dazu (Carnap, 1923, 1973a, 1974a,b), (Campbell, 1952), (Braitwhaite, 1955), (Feigl, 1970), (Hempel, 1970) und (Nagel 1974) sowie zusammenfassend (Suppe, 1977a:3–61) und (Dreier, 1993:Kap. 2). 13

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Dies bedeutet, daß sich wissenschaftstheoretische Analysen bisher auf die Analyse und Rekonstruktion statischer Strukturen von wissenschaftlichen Theorien beschränkt haben, wobei die Aussagenlogik als logisches System der Rekonstruktion nur auf das Produkt der wissenschaftlichen Erkenntnis, d. h. auf Theorien, nicht aber auf den Prozeß der wissenschaftlichen Erkenntnis anwendbar ist. Mit Carnap können wir im Logischen Empirismus ein solches Verfahren als einen Übersetzungsvorgang bestimmen: »Begriffe, Definitionen und Theorien werden in die symbolische Sprache der formalisierten Logik übersetzt, um die Korrektheit und Reinheit einer Ableitung leichter und genauer überprüfen zu können.« (Carnap, 1973b:1)

Nach Oeser ist damit im Prinzip der Anwendungsbereich der Logik als Aussagenlogik erschöpft, hat doch der Begriff »logische Rekonstruktion« in diesem Zusammenhang »lediglich den Sinn einer Übersetzung einer wissenschaftlichen Theorie von der objektsprachlichen Ebene auf die metasprachliche Ebene, wodurch ein formales Spiegelbild des strukturellen Aufbaus eines Aussagensystems entsteht.« (Oeser, 1979–1:11)

Mit der Bestimmung wissenschaftlicher Theorien als Aussagensysteme können wir im Rahmen einer rationalen Rekonstruktion so nur den statischen Aspekt dieser Theorien erfassen, nicht aber das für die Realwissenschaften charakteristische Faktum der Veränderung der Gültigkeit von Aussagen und der damit verbundene Wechsel von Theorien (Oeser, 1979–1:11) und ebensowenig die wissenschaftliche(n) Entwicklung oder Prozesse von Aussagensystemen. Mit anderen Worten, was Sneed unter Theoriendynamik versteht, nämlich die Untersuchung der zeitlichen Entwicklung wissenschaftlicher Theorien mit dem Ziel, allgemeine Aussagen über die zeitliche Entwicklung von Theorien zu formulieren, die mit der Entwicklung spezifischer Theorien belegt werden können (Sneed, 1980:646 ff.), kann unter dem so zu formulierenden ›statement-view of theories‹ (Ansätze der vorstrukturalistischen Wissenschaftstheorien) nicht erfaßt werden. Mit dem u. E. zur Zeit innovativsten metatheoretischen Forschungsprogramms mit progressivem Problemverschiebungscharakter im Sinne von Lakatos, dem sogenannten ›non-statement-view of theories‹, im weiteren ›Strukturalistische Theorienkonzeption‹ ge78

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nannt, kann dieses Defizit behoben werden. Innerhalb der Strukturalistischen Theorienkonzeption werden wissenschaftliche Theorien nun nicht mehr als Aussagensysteme aufgefaßt, sondern als mathematisch-begriffliche (durch mengentheoretische Prädikate axiomatisierte) Strukturen, angewandt auf geeignete Objekte (Sneed 1979:15,40; 1983:350 ff.). Wissenschaftliche Theorien sind dieser Bestimmung zufolge nicht selbst Systeme von Aussagen, sondern geben erst durch ihre Anwendung Anlaß zu empirischen Aussagen.

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Kapitel 2 Grundzge der Strukturalistischen Theorienkonzeption 1 2.0 Einleitende Vorbemerkungen Für jede empirische Wissenschaft, und somit auch für die Politikwissenschaft, insofern sie sich denn als eine empirische Wissenschaft versteht, ist die Anwendung und Konstruktion empirischer Theorien ein konstitutiver Bestandteil ihrer Forschungspraxis. Sind es doch Theorien, die uns bei der Annäherung an empirisch erfaßbare Phänomene leiten und es uns ermöglichen, diese Phänomene in deskriptiver, explanatorischer und prognostischer Weise zu erfassen. Theorien können deshalb auch als Hauptinformationsträger der empirischen und somit auch politikwissenschaftlichen Erkenntnis bestimmt werden (Spinner, 1974a:1487), wobei ihre Konzeption sowohl Ziel (Carnap, 1946:520) als auch Voraussetzung (Popper, 1982:31,224) von empirischer Forschung ist. Innerhalb der empirischen Politikforschung – die sich in ihrer Praxis dem methodologischen Instrumentarium der empirischen Sozialforschung bedient – wird dabei vornehmlich von einer Theorienkonzeption ausgegangen, die auf den metatheoretischen Entwürfen des Logischen Empirismus 2 und des Kritischen Rationalismus (Popper, 1982) beruht und innerhalb der analytischen Wissenschaftstheorie als Standardkonzeption bzw. als Empiristisches Standardmodell für wissenschaftliche Theorien bezeichnet wird (Suppe, 1977). Dieser Auffassung zufolge ist eine empirische Theorie primär ein System von miteinander verbundenen hypothetischen Gesetzesaussagen über einen empirisch erfaßbaren Gegenstandsbereich, das mehr oder weniger stark formalisiert sein kann. Genauer besehen besteht eine empirische Theorie in der Standardkonzeption strukturell aus drei Dieses Kapitel ist eine überarbeitete, inhaltlich erweiterte, teilweise auch modifizierte und umfangsmäßig gekürzte Fassung meiner in (Dreier, 1993:Kap. 3) vorgenommenen Einführung in die Strukturalistische Wissenschaftstheorie für Politikwissenschaftler. Die Erweiterungen und Modifizierungen beziehen sich primär auf die Weiterentwicklungen des strukturalistischen Ansatzes durch Balzer (1997a). 2 Siehe dazu grundlegend (Carnap, 1974b), (Feigl, 1970) und (Hempel, 1970). 1

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Grundzge der Strukturalistischen Theorienkonzeption

miteinander verbundenen Elementen (Dreier, 1993:62–91, 1994a:66–76, 1997a:234–237): Erstens aus einer Kerntheorie, die theoretische und/oder empirische Konstrukte umfaßt, die durch theoretische Postulate zueinander in Verbindung stehen; zweitens aus Indikatoren, d. h. empirischen Begriffen, welche die theoretischen Konstrukte partiell meßbar machen; und drittens aus einer Menge von Korrespondenzregeln, die angeben, durch welche Indikatoren die theoretischen Konstrukte empirisch angezeigt werden können. Werfen wir einen Blick in eine bliebig vorgenommene Auswahl von Einführungen in sozialwissenschaftliche Disziplinen, so wird das Vorherrschen der Standardkonzeption eindrucksvoll bestätigt, wie die folgende Auflistung zeigt: »Jede Theorie ist ein System von Aussagen.« (Friedrichs, 1985:62) »Theorien sind Gefüge von Aussagen, die eine bestimmte Perspektive festlegen, in der ein Gegenstandsbereich betrachtet wird.« (Patzelt, 1993:193) »Eine ›Theorie‹ ist ein ganzes Aussagensystem, welches mehrere Hypothesen oder Gesetze umfaßt.« (Schnell, Hill & Esser, 1989:41) »Theorien bestehen aus miteinander verknüpften Aussagen.« (Patzelt, 1986:212) »… wonach unter einer Theorie ein in einem Begründungszusammenhang stehendes System miteinander verbundener, relativ allgemeiner Aussagen zu verstehen ist.« (Winkler & Falter, 1995:98) »Theorie soll eine generalisierende Proposition genannt werden, die behauptet, daß zwei oder mehr Dinge, Aktivitäten oder Ereignisse sich miteinander verändern.« (v.Beyme, 1984:15)

Die Dominanz der Standardkonzeption in den empirischen Sozialwissenschaften kann dadurch erklärt werden, daß sie – und hier insbesondere der Kritische Rationalismus – »relativ detailliert ein normatives Regelsystem für die Generierung von Theorien ausgearbeitet hat« (Manhart, 1995:11). Dieser Dominanz tat auch die in den 1960er Jahren einsetzende Kritik an der Standardkonzeption durch Kuhn (1962, 1981a,b), Hanson (1965) und Feyerabend (1983) keinen Abbruch, obwohl sie an wissenschaftshistorischen Fallstudien eindrucksvoll nachweisen konnten, daß die Wissenschaftspraxis nur A

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Metatheoretische Grundlagen

sehr rudimentär den in der Standardkonzeption angelegten normativen Imperativen folgt. Ein Ergebnis dieser Kluft zwischen idealisierter und faktischer Wissenschaftspraxis sind neben der in der Standardkonzeption ungelösten Problematik zwischen theoretischen und empirischen Begriffen alternative Theorienkonzeptionen, die von der Aussagestruktur der Standardkonzeption abstrahieren und Theorien als mathematische Strukturen auffassen, welche auf geeignete empirische Systeme anwendbar sind. Die zumindest in der modernen Wissenschaftstheorie dominierende Alternative stellt dabei das strukturalistische Forschungsprogramm dar, das auf den amerikanischen Wissenschaftstheoretiker Joseph D. Sneed (1979) zurückgeht und in Deutschland durch Wolfgang Stegmüller (1979a, 1980, 1985, 1986) bekannt gemacht und durch seine Mitarbeiter Carlos Ulises Moulines und Wolfgang Balzer sowie Sneed selbst (Balzer, 1982), (Balzer, Moulines & Sneed, 1987), (Balzer & Sneed, 1995), (Balzer & Moulines, 1996) und (Balzer, 1997a) maßgeblich weiterentwickelt wurde. Vor dem Hintergrund dieser Tatsache läßt sich deshalb die Frage stellen, warum, zumindest in den maßgebenden Einführungswerken in die empirische Sozialforschung im allgemeinen und in die empirische Politikforschung im speziellen immer noch an der Standardkonzeption festgehalten und nicht auf Alternativen wie bspw. gerade dem Strukturalismus bei der Konstruktion und auch Rekonstruktion politikwissenschaftlicher Theorien ausgewichen wird. Zwar fehlt es in diesen Einführungen nicht an Hinweisen auf die Existenz dieser alternativen Theorienkonzeption, doch bleiben diese sehr rudimentär und fristen ihr Dasein oftmals nur in Fußnoten 3 . Eine mögliche Antwort auf diese fehlende Rezeption insbesondere in der politikwissenschaftlichen Methoden- und Theorieliteratur kann vielleicht mit Moulines (1975:423) darin gesehen werden, daß ›schwierig‹ zu lesenSo bspw. (Patzelt, 1986:212,Anm.*), (Schnell, Hill & Esser, 1989:107,Anm. 1), die diese Auffassung auch in ihrer überarbeiteten sechsten Auflage von 1999 (Schnell, Hill & Esser, 1999:117, Anm. 1) trotz der in den letzten 10 Jahren vorgelegten Rekonstruktionen und Konstruktionen sozialwissenschaftlicher Theorien (siehe dazu exemplarisch (Dreier, 1993:Anhang 1) und (Balzer, Moulines & Sneed, 2000)) ihre negative Meinung über die methodische Fruchtbarkeit des strukturalistischen Ansatzes für die Sozialwissenschaften weder revidiert noch gar kritisch überdenkt haben; und (Winkler & Falter, 1995:99,Anm. 1); für eine Fehleinschätzung der strukturalistischen Theoriekonzeption für die Geistes- und Sozialwissenschaften aus wissenschaftstheoretischer Sicht siehe exemplarisch – und das trotz zahlreicher Gegenbeispiele(!) – auch (Poser, 2001:172).

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de Texte wie gerade das Grundlagenwerk des Strukturalismus von Sneed nicht sehr populär sind. Ebenso dürfte der Formalismus des Strukturalismus den in formalen Grundlagen nicht geübten Politikwissenschaftler davon abhalten, sich mit dieser Metatheorie eingehender zu beschäftigen. Daß diese Vermutungen jedoch nicht unisono auf alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen zutreffen, zeigt das Beispiel der Psychologie, die den Strukturalismus in ihre Forschungspraxis aufgenommen hat (Westermann, 1987; Westmeyer, 1989, 1992). 4 Wenn wir an dieser Stelle für eine Einführung und Anwendung des Strukturalismus als alternative Metatheorie zur Standardkonzeption in die empirisch orientierte Politikwissenschaft plädieren, so erfolgt dies vor dem Hintergrund folgender Vorteile dieses Ansatzes. Unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten betrachtet bietet der Strukturalismus ein in sich konsistentes Instrumentarium dar, das es erlaubt, politikwissenschaftliche Theorien bzw. ideengeschichtliche Erkenntnisprodukte im Rahmen einer rationalen Rekonstruktion präziser zu reformulieren und etwaige logische Unstimmigkeiten leichter zu identifizieren sowie die zeitliche Entwicklung von Theorien darzustellen. Unter methodologischen Gesichtspunkten betrachtet offeriert der Strukturalismus eine Strategie zur Konstruktion von empirischen Theorien, die adäquater auf empirische Phänomene angewendet werden kann als Konstruktionen im Rahmen der Standardkonzeption, die näher zu empirischen Daten stehen und die infolge ihrer schon suis generis erfolgenden formalen Präzisierung logische Unstimmigkeiten bereits apriori minimieren. 5 Bevor wir im weiteren Verlauf dieses Kapitels die für unsere Rekonstruktion und Präzisierung von Machiavelli’s politischer Handlungstheorie relevanten Elemente der Strukturalistischen Theorienkonzeption vorstellen werden 6 , erscheint es uns in einem Innerhalb der Politikwissenschaft (und auch innerhalb ihrer Nachbardisziplin Soziologie) blieb die strukturalistische Theoriekonzeption bis heute nur auf wenige Vertreter beschränkt; so bspw. in der Politikwissenschaft auf (Druwe, 1985), (Troitzsch 1989, 1990), (Kühnl, 1993) (Balzer & Dreier, 1995, 1996, 1999) und (Dreier, 1993, 1994b, 1997a,b,c, 1998a,b,c) und in der Soziologie auf (Miebach, 1984), (Balzer & Flap, 1985), (Balzer, 1990, 1993), (Manhart, 1994, 1995, 1998) und (Ruiz, 1998). 5 Ein Vorteil, der auch bei der Rekonstruktion von politikwissenschaftlicher Theorien bzw. -auf metatheoretisch niedriger angelegter Ebene- von klassischen politischen Theorien wie Machiavelli’s politischer Handlungstheorie zum Tragen kommt. 6 Für eine umfassende Darstellung der Strukturalistischen Wissenschaftstheorie siehe (Balzer, Moulines & Sneed, 1987) und (Balzer & Moulines, 1996), für eine lehrbuch4

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ersten Schritt zunächst angebracht, die prinzipiellen Unterschiede zwischen der Aussagenkonzeption wissenschaftlicher Theorien und der strukturalistischen Konzeption wissenschaftlicher Theorien anzusprechen.

2.1 Zur Unterscheidung von ›Aussagenkonzeption wissenschaftlicher Theorien‹ und dem strukturalistischen Ansatz Mit den Bezeichnungen ›Aussagenkonzeption‹ und ›Strukturalismus‹ sind zunächst einmal zwei unterschiedliche Auffassungen über den Begriff der wissenschaftlichen Theorie verbunden. Werden in der ›Aussagenkonzeption‹ wissenschaftliche Theorien als Aussagensysteme aufgefaßt, so abstrahiert der ›Strukturalismus‹ von dieser Bestimmung und faßt wissenschaftliche Theorien als in Teilstrukturen zerfallende, mathematische Gebilde auf, die mit einer Klasse von intendierten Systemen verbunden sind. Versuchen wir zuerst einmal die Bezeichnung ›Aussagenkonzeption‹ näher zu präzisieren. Nach Stegmüller (1979:5,22,45) kann unter dieser Bezeichnung dreierlei verstanden werden: (1) Der formal sprachliche Ansatz von Rudolf Carnap; (2) die Auffassung, der entsprechend empirische Hypothesen von physikalischen Theorien eine potentiell infinite Klasse von Sätzen darstellen; und (3) die wissenschaftstheoretische Position, die wissenschaftliche Theorien als Satzklassen oder Klassen von Propositionen begreift. Unsere folgenden Überlegungen werden sich auf diese dritte Bedeutung von ›Aussagenkonzeption‹ beziehen. Zur weiteren Präzisierung dieses Standpunkts unterscheiden wir nun einen informellen und einen formellen Teil. Unter dem informellen Teil verstehen wir die These, daß realwissenschaftliche Theorien Aussagenklassen darstellen, von denen einige empirisch orientierte Einführung (Balzer, 1982, 1997a), für eine komprimierte Einführung (Balzer & Sneed, 1995), für einen ersten Überblick (Bartelborth, 1996:Kap. VII) und (Moulines, 1996), für eine erste kurze Übersicht (Moulines, 1999), speziell für Sozialwissenschaftler siehe (Westmeyer, 1989, 1992), (Dreier, 1993:Kap. 3, 1997a:Kap. 6) und (Manhart, 1994, 1996:Kap. 5, 1998).

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wahr oder falsch sind (Sneed, 1979:1). Diesem Teil ist im wesentlichen die Zweistufenkonzeption der Wissenschaftssprache zugrundegelegt. Unter dem formalen Teil verstehen wir die These, daß sich die logischen Beziehungen zwischen den Aussagen einer realwissenschaftlichen Theorie durch ein axiomatisches System darstellen lassen (Sneed, 1979:5). Diesem Teil liegt als wesentliche Annahme die Auffassung zugrunde, daß ein solches Aussagensystem ein deduktivlogisches System sein muß. Der ›Strukturalismus‹ setzt mit seiner Kritik an diesen beiden Teilen an. Gegen die Zweistufenkonzeption wird eingewendet, daß die Unterscheidung zwischen Beobachtungssprache und theoretischer Sprache unklar und unpräzise, und weiter, daß durch die Theoriebeladenheit empirischer Beobachtungen die Konstatierung einer sicheren empirischen Basis obsolet geworden ist. Die innerhalb dieser Konzeption negativ vorgenommene Bestimmung theoretischer Begriffe wird im strukturalistischen Ansatz positiv bestimmt, d. h. ein Begriff wird als theoretisch immer nur relativ zur jeweiligen Theorie bestimmt. Gegen die Axiomatisierung wissenschaftlicher Aussagensysteme als deduktiv-logische Systeme wird eingewendet, daß damit eine ›statische‹ Betrachtungsweise wissenschaftlicher Theorien verbunden ist, die die zeitliche Veränderlichkeit von Theorien nicht erfassen kann. Die logische Rekonstruktion einer wissenschaftlichen Theorie in der ›Aussagenkonzeption‹ ist so lediglich eine genaue Momentaufnahme einer bestimmten Theorie zu einer bestimmten Zeit (Sneed, 1979:4). Diese Auffassung der logischen Rekonstruktion wissenschaftlicher Theorien ist jedoch zu restriktiv, denn »the really interesting questions about a scientific theory are dynamic ones – questions about how theories change, grow, come to be accepted and rejected. It might even be hoped that if we could answer these questions for some particular theories, we might generalize the results and arrive at what might be called ›a general theory of scientific methodology‹.« (Sneed, 1979:5)

Der strukturalistische Theorienansatz kann nun als Versuch angesehen werden, dieses theoriendynamische Defizit der ›Aussagenkonzeption‹ zu beheben. Versuchen wir nun die Grundmerkmale der Strukturalistischen Theorienkonzeption näher zu präzisieren. Wir können dabei zwei wesentliche Unterschiede gegenüber der ›Aussagenkonzeption‹ konstatieren: zum einen ersetzt die Strukturalistische TheorienkonzepA

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tion die traditionelle, vorstrukturalistische Auffassung von Theorien als Aussagensysteme durch eine strukturalistische Auffassung von Theorien, derzufolge eine wissenschaftliche Theorie nicht mehr ein System von Sätzen darstellt, sondern als eine mathematische Struktur zu interpretieren ist, die man auf empirische Phänomene anzuwenden versucht. Zum anderen abstrahiert die Axiomatisierung einer solchen Theorie von der deduktiv-logischen Methode der ›Aussagenkonzeption‹ und ersetzt sie durch informelle mengentheoretische Methoden. Somit werden Ausdrücke, die sonst als Axiome bezeichnet werden, zu integrierten Bestandteilen der Definition. Dies führt zu einer modelltheoretischen Darstellung der Struktur wissenschaftlicher Theorien, die auf dem mathematischen Strukturbegriff beruht. Eine (ausgereifte) wissenschaftliche Theorie 7 kann so – hier noch zunächst grob vereinfacht – als ein Netz geordneter Quadrupel begriffen werden, die durch intertheoretische Relationen 8 miteinander verbunden sind. In diesem Quadrupel bezeichnet M eine Klasse von Modellen, I eine Menge von intendierten Systemen, D eine Menge von Datenstrukturen und U einen Approximationsapparat. 9 Nach Stegmüller (1985:20) kann so von einer wissenschaftlichen Theorie auch nicht mehr sinnvoll gesagt werden, sie sei wahr oder falsch. Dies könnte nun aber die Strukturalistische Theorienkonzeption dem Vorwurf einer rein instrumentalistischen Interpretation wissenschaftlicher Theorien aussetzen. Daß dies jedoch nicht zutrifft, ergibt sich schon daraus, daß die empirische Behauptung einer Theorie empirisch nachprüfbar und potentiell widerlegbar ist: Unter ›ausgereiften‹ Theorien verstehen wir inbesondere solche aus dem Bereich der Physik wie bspw. Newton’s Partikelmechanik und die Thermodynamik oder aus dem Bereich der Ökonomie die Gleichgewichtstheorie im Anschluß an Debreu (1959), die teilweise auch schon im Rahmen des strukturalistischen Ansatzes rekonstruiert vorliegen (Balzer, Moulines, & Sneed, 1987:Kap. 5) für die beiden erstgenannten; für letztere, wenn auch nicht-strukturalistisch vorliegend, Weintraub (1985), Hildenbrand & MasColell (1986) sowie Ingrao & Israel (1990). Speziell für die Politikwissenschaft liegen solche (ausgereiften) Theorien noch nicht vor. Zu denken wäre jedoch in dieser Disziplin als einer Kanidatin für eine ›ausgereifte‹ Theorie an die im Anschluß an Downs (1957) erfolgte ›Theorie der rationalen Wahl‹ (siehe zu ersten strukturalistischen Rekonstruktionsversuchen Dreier (1993, 1994b) und Balzer & Dreier (1995, 1996, 1998)). 8 Siehe zu einer Typologie intertheoretischer Relationen (Moulines, 1992). 9 Wir beziehen uns in dieser Darstellung auf die neueste Terminologie (Balzer, 1997a:50) innerhalb des strukturalistischen Ansatzes. 7

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»Der Vorwurf des Instrumentalismus wäre … nur dann berechtigt, sofern die strukturalistische Auffassung eine bestimmte, als ›instrumentalistisch‹ charakterisierbare Deutung von empirischer Behauptung erzwingen würde. Davon kann jedoch keine Rede sein.« (Stegmüller, 1986:315)

Ebenso ist der Vorwurf an die Strukturalistische Theorienkonzeption verfehlt, in ihr sei die völlige Preisgabe der Aussagenkonzeption wissenschaftlicher Theorien dergestalt impliziert, daß in der ›Aussagenkonzeption‹ die Aussage im Vordergrund stünde und beim strukturalistischen Ansatz nicht. Vielmehr ist die ›Aussagenkonzeption‹ dadurch charakterisiert, daß sie bei ihren Untersuchungen bei Mikrostrukturen ansetzt, und so eine Mikroanalyse zu geben versucht, während im Strukturalismus die Untersuchung globaler Strukturen im Vordergrund steht (Stegmüller, 1980:2).

2.2 Zum Begriff der ›wissenschaftlichen Theorie‹ in der Strukturalistischen Theorienkonzeption 2.2.1 Grundlegendes In der Strukturalistischen Theorienkonzeption bezeichnet die Entität ›wissenschaftliche Theorie‹ – verstanden als eine ausgereifte und in der Zeit erfolgreich erprobte Theorie – eine strukturierte und durch intertheoretische Relationen miteinander verbundene Menge von Theorie-Elementen, welche in ihrer Gesamtheit auch als TheorieNetz bezeichnet wird. Jedes Theorie-Element – das für sich selbst eine »kleine«, lokale Theorie darstellt 10 – besteht, wie bereits erwähnt, aus vier Komponenten (Balzer, 1997a:50): Einer Klasse M von Modellen, einer Menge I von intendierten Systemen, einer Menge D von Datenstrukturen und einem Approximationsapparat U. Sie kann abgekürzt angeschrieben werden als T = . Diesen vier Komponenten kommt folgende Semantik zu. Die Klasse der Modelle, die selbst wieder in Teilklassen von vollen Modellen, potentiellen und partiell potentiellen Modellen unterteilt werden kann, ist durch Sätze über die Axiome, Hypothesen, Gesetze und Annahmen der Theorie charakterisiert. Die Menge I der intendierten Systeme stellt jene empirischen Entitäten dar, die die Aus10

So bspw. (Balzer, 1997a:49). A

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sagen der Modellklasse erfüllen, d. h. auf die der mathematische Strukturkern einer Theorie bzw. eines Theorie-Elements zutrifft. Damit intendierte Systeme die Modellklasse einer Theorie erfüllen können, ist es nun erstens notwendig, daß wir in bezug auf die Menge der intendierten Systeme Daten konstruiert haben, und zweitens, daß diese Daten zu den Modellen der Theorie ›passen‹. Daten erfüllen für eine Theorie somit zwei Funktionen: Zum einen werden sie zur Bewährung der Modelle der Theorie herangezogen, und zum anderen werden die Modelle der Theorie zur Bewährung der Daten herangezogen (Balzer, 1997a:189). Mit der Bemerkung, daß Daten konstruiert und nicht einfach gesammelt werden, wird ausgedrückt, daß wir nie theoretisch voraussetzungslos zu unseren Daten kommen – welche Entitäten wir als Daten bezeichnen ist immer durch die Theorie und in deren Vokabular, für die sie in Anspruch genommen wird, determiniert. 11 ›Daten‹ lassen sich in Form atomarer Sätze beschreiben – sie sind somit auch immer sprachabhängig. Hierbei spielt es nur eine graduelle Rolle, ob wir Daten durch ›Zahlen‹, also quantifiziert, oder durch beschreibende Sätze, also eher qualitativ, ausdrücken. Auch die Form, wie wir zu unseren Daten kommen ist nicht durch eine bestimmte Methode determiniert. ›Daten‹ können auf vielfältige Art und Weise konstruiert werden; so bspw. durch ›Messung‹ an den den Forscher interessierenden Entitäten, durch Umfragen und Beobachtungen (Wahrnehmungen) oder aber auch durch die Tätigkeit des interessegeleiteten Lesens. Zumindest letztere Form wird auch unsere Arbeit primär zur Datenkonstruktion leiten. Setzen wir diese Grundannahmen für Daten voraus, so läßt sich die Menge D von Datenstrukturen wie folgt charakterisieren. Zunächst gilt es, jeden ein Datum charakterisierenden Satz in der mengentheoretischen Sprache zu reformulieren bzw. in diese zu übersetzen. Nach Durchführung dieser mengentheoretisch basierenden Reformulierung der eine Modellklasse stützenden Daten können diese zu einer Struktur zusammengefaßt werden. Die auf diese Weise reformulierten Daten in Form einer Struktur können nun mit den ebenfalls in mengentheoretischer Sprache formulierten Modellklassen in Beziehung gesetzt werden. Siehe dazu bspw. für die empirische Politikforschung (Dreier, 1997a:Kap. 14) und unter allgemeineren wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten (Balzer, Lauth & Zoubek, 1989).

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Wie Balzer (1997a:190) anführt, besteht die Grundidee bei der Bildung von Datenstrukturen zunächst im Übergang von einem atomaren Satz in einen »entsprechenden« n-Tupel. 12 Ein atomarer Satz der Form R(a1,…,an), welcher eine Relation R zwischen den Objekten a1,…,an ausdrückt, kann in eine mengentheoretische Schreibweise folgender Form überführt werden: 2 R. Ein funktionaler Satz wie bspw. F(a1,…,an) = b kann in folgenden mengentheoretischen Ausdruck transformiert werden: 2 F. Haben wir alle verfügbaren (nicht möglichen) Daten aus intendierten Systemen für eine Theorie in mengentheoretische Ausdrücke überführt, so können wir diese zu Datenstrukturen zusammenfassen. 13 Für unsere Rekonstruktion von Machiavelli’s Modellen politischen Verhaltens und Handelns können wir für einen solchen Transformationsprozeß ein Beispiel aus seinem Il Principe anführen. Im Il Principe führt Machiavelli (1986:Kap.V) drei Handlungstypen 14 an (g1, g2, g3), die ein Fürst zu befolgen hat, um die Macht in einer Stadt zu erhalten, die vor der Eroberung unter eigenen Gesetzen lebte: (g1) ›Vernichtung der Stadt‹, (g2) ›Wohnsitznahme in der Stadt‹ oder (g3) ›Belassung der Stadtgesetze und Einsetzung einer Stadtregierung durch Bürger der Stadt‹. Machiavelli diskutiert diese drei Handlungstypen vergleichend im Hinblick darauf, welche potentiell eher zur Machterhaltung beiträgt. Als Ergebnis dieser Diskussion gibt Machiavelli folgende ordinale Ordnung dieser drei Handlungstypen an: (g1)  (g3)  (g2). In einem konkreten, atomaren Satz kann diese Festsetzung von Machiavelli als ein durch »Lesen« konstruiertes Datum folgender Form angeführt werden, wobei wir den Ausdruck  als »trägt potentiell eher zur Machterhaltung bei« interpretieren: ((g1,g3,g2)

Wir werden diesen Übergang in unserer Rekonstruktion von Machiavelli’s Modellen politischen Verhaltens und Handelns (Kapitel 7) näher erörtern und ausführen. 13 Siehe dazu unter technischen Gesichtspunkten (Balzer, 1997a:191–195). 14 Siehe zur Messung von Handlungstypen und konkreten Handlungen grundlegend (Balzer, 1996a), für die strukturalistische Meßtheorie (Balzer, 1992b) und für diese Arbeit Kapitel 4. 12

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In mengentheoretischer Schreibweise lautet dieser atomare Satz dann wie folgt: ( 2 ) 15 Ein letzter Bestandteil einer »lokalen« Theorie oder eines TheorieElements stellt der Approximationsapparat U dar. Er legt fest, inwieweit Modelle und Daten einer Theorie »zusammenpassen«, aber auch, bis zu welchem Approximationsgrad wir sagen können, daß Daten die Modelle erfüllen und vice versa. In einer Abbildung kann das Zusammenspielen dieser vier eine »lokale« Theorie bzw. ein Theorie-Element konstituierender Entitäten wie folgt veranschaulicht werden (Abb.2–1): Ein Theorie-Netz N umfaßt schließlich eine durch intertheoretische Relationen verbundene strukturierte Menge von TheorieElementen, aufbauend auf einem sogenannten Basis-Theorie-Element. 2.2.2 Zur Einführung einer wissenschaftlichen Theorie in die Forschungspraxis unter strukturalistischen Gesichtspunkten Im Anschluß an die in 2.2.1 allgemein vorgenommene Charakterisierung der Entität ›Theorie‹ in der Strukturalistischen Theorienkonzeption werden wir diese im folgenden in sich sukzessive verdichtenden Schritten näher präzisieren und konkretisieren. Eine konstruktive Strategie für eine solche Präzisierung kann dabei zunächst darin bestehen, daß wir versuchen eine Antwort auf die Frage zu geben, wie eine Theorie bzw. ein ideengeschichtliches Erkenntnisprodukt überhaupt in der Wissenschaft eingeführt wird (Balzer 1983:222 f.). Ausgangspunkt wissenschaftlicher Forschung sind zunächst einmal bestimmte, konkrete Phänomene, die wir ›erklären‹ oder ›versteEine Datenstruktur der Theorie Machiavelli’s zu politischem Verhalten und Handeln kann daraus folgernd – wenn wir uns nur auf seinen Il Principe beziehen – in folgenden Schritten ermittelt werden. Erstens gilt es, die intendierten Systeme seiner Theorie zu identifizieren (Fürstentümer); zweitens alle Handlungstypen und konkreten Handlungen sowie Handlungsregeln anzuschreiben und aufzulisten; drittens, die die Handlungstypen, konkreten Handlungen und Handlungsregeln beschreibenden atomaren Sätze in mengentheoretische Ausdrücke zu überführen; und viertens diese zu Datenstrukturen zusammenzufassen.

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Abbildung 2–1: Die ein Theorie-Element konstituierenden Entitäten in ihrem interrelationalen Zusammenhang

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Abbildung 2–2: Typen von Theorie-Netzen

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hen‹ wollen. Wir nennen solche Phänomene intendierte Systeme, kurz I. In einem ersten Schritt werden wir versuchen, die diesen intendierten Systemen inhärenten gemeinsamen Züge zu entdecken. Diese gemeinsammen Züge beschreiben eine Klasse von Phänomenen, die wir als partielle potentielle Modelle bezeichnen, kurz Mpp. Elemente dieser partiellen potentiellen Modelle Mpp sind u. a. alle die Größen, die in bezug auf unsere einzuführende Theorie nicht-theoretisch sind. In einem nächsten Schritt versuchen wir nun, die den partiellen potentiellen Modellen Mpp ›innere‹ Struktur zu finden. Wir machen dabei Gebrauch von theoretischen Begriffen, 16 die zu den partiellen potentiellen Modellen Mpp hinzukommen (dies drükken wir durch die Einführung einer Funktion r aus) 17 , dadurch neue Strukturen liefern, für die man neue Gesetze oder Axiome formulieren kann. Solche durch theoretische Begriffe ergänzte partielle potentielle Modelle Mpp nennen wir potentielle Modelle, kurz Mp. Die potentiellen Modelle Mp bezeichnen diejenigen Entitäten, auf die sich die theoretischen und nicht-theoretischen Komponenten einer Theorie beziehen. Sie stellen damit eine Theoretisierung der partiellen potentiellen Modelle Mpp dar (Finke, 1982:158). Potentielle Modelle, die nun darüber hinaus die für die Klasse der betrachteten PhäTheoretische Begriffe werden innerhalb des Neuen Strukturalismus nicht als Entitäten definiert, die von beobachtbaren Begriffen abgegrenzt werden, sondern als Begriffe, die von der Theorie, in der sie vorkommen, selbst determiniert werden. Sneed beschreibt dies bspw. in seiner den Strukturalismus begründenden Arbeit (Sneed, 1979:33) wie folgt: »The function n is theoretical with respect to q if and only if there is no application i of q in which ni is q-independent; n is non-theoretical with respect to q if and only if there is at least one application i of q in which ni is q-independent.« Bei Stegmüller (1985:51) heißt dies etwas modifizierter: »Die (in der abstrakten Theorie T vorkommende) Funktion f ist theoretisch bezüglich T (oder: T-theoretisch) gdw in jeder Anwendung Ti von T die unter f subsumierbare konkrete Funktion fi in T-abhängiger Weise gemessen wird.« Für grundlegende, formale, epistemologische und standardsetzende Verbesserungen dieser Konzeption ›theoretischer Begriffe‹ siehe wegweisend und gegenwärtig auch definitiv (Balzer, 1985b, 1986a, 1996b), zusammenfassend und kritisch zum Problem der theoretischen Terme (Zoglauer, 1993) und für eine auch weiterhin intellektuell unterhaltsame Diskussion zwischen Substanz- und Meta-Wissenschaftlern über die (angenommene) Zirkulität der strukturalistischen Auffassung theoretischer Terme die Diskussion in Conceptus und in Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie (Balzer, 1987a), (Gadenne, 1985, 1987, 1988), (Schurz, 1987) und (Struve, 1987). Siehe zur Bestimmung theoretischer Begriffe in der Strukturalistischen Wissenschaftstheorie dazu ausführlicher Kapitel 6, 6.4.2.2.4 in der Interpretation von virtù als t-theoretischen Begriff. 17 Siehe dazu bspw. (Moulines, 1996:8), der diese Funktion formal wie folgt bestimmt: »There is a many-one function r so that: Mp ! Mpp«. 16

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nomene charakteristischen Axiome erfüllen, nennen wir Modelle, kurz M. Es gilt dabei M  Mp. Da die von uns eingangs betrachtete Menge von Phänomenen, d. h. die sogenannten intendierten Systeme I, voneinander abhängig sind, d. h. daß wir die Werte einer Funktion in einer Anwendung der Theorie ohne die Berücksichtigung der Werte derselben Funktion in anderen Anwendungen nicht benützen dürfen, führen wir jetzt noch die Menge der sogenannten Constraints ein, kurz C. »Der Effekt der Constraints besteht darin, bestimmte Komponenten in verschiedenen Anwendungen, jedoch keine Zuordnung theoretischer Komponenten in einzelnen Anwendungen auszuschließen.« (Balzer & Sneed, 1983:121)

Wir können nun folgende erweiterte Struktur eines Theorie-Elements bzw. einer »lokalen« Theorie angeben: die Menge der partiellen potentiellen Modelle Mpp, der potentiellen Modelle Mp, der Modelle M, die Funktion r sowie die Menge der Constraints C bilden den mathematischen Kern K bzw. das Begriffsgerüst eines TheorieElements (bzw. einer »lokalen« Theorie), die Menge der intendierten Systeme I den Anwendungsbereich. Unter Berücksichtigung von Datenstrukturen D und dem Approximationsapparat U kann ein Theorie-Element differenzierter wie folgt angeschrieben werden: T = . Was eine ›Theorie‹ ist, liegt diesen Ausführungen zufolge auf der abstrakten logischen Form und nicht auf der Syntax oder Semantik derjenigen Sprache, in welcher eine ›Theorie‹ darstellbar ist. Dieser Umstand macht auch die Frage obsolet, ob eine ›Theorie‹ wahr oder falsch ist; wir können nur eine empirische Behauptung einer ›Theorie‹ auf ihren Wahrheitswert hin überprüfen, denn wir können nur von Sätzen behaupten, daß sie empirisch widerlegbar sind, nicht aber von begrifflichen Gebilden. Innerhalb der Strukturalistischen Theorienkonzeption ist eine ›Theorie‹ nun als die Bedeutung eines Prädikats der Form ›x ist ein F‹ aufzufassen (Hauptmeier & Schmidt, 1985:39). Die Grundidee ist dabei folgende. Eine ›empirische wissenschaftliche Theorie‹ enthält jeweils genau ein einzelnes Gesetz, von dem angenommen wird, daß es auf bestimmte Realitätssegmente paßt. Über ein solches Realitätssegment kann man mit Hilfe der logischen Komponente einer 94

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›Theorie‹ eine empirische Behauptung aufstellen, indem man behauptet, daß dieses Realitätssegment die logische Form der ›Theorie‹ erfüllt. Eine solche Behauptung bildet man durch die einfache Prädikation des Typs ›c ist ein S‹. »c« ist dabei ein Name oder eine Kennzeichnung einer Entität, »S« dagegen drückt die gesamte logische Struktur der betreffenden ›Theorie‹ aus, sie umfaßt die sogenannte mathematische Fundamentalstruktur (Stegmüller, 1985:12). Im Falle einer Theorierekonstruktion (oder -konstruktion) besteht der erste Schritt so in der axiomatischen Einführung eines fundamentalen Theorieprädikats. Nach Stegmüller können wir fünf Formen von ›Axiomatisierung einer Theorie‹ unterscheiden (Stegmüller, 1985:34–42): (1) Eine Axiomatisierung, derzufolge Axiome selbstevident sind (Euklid); (2) eine Axiomatisierung, derzufolge Axiome bloße Annahmen sind (Hilbert); (3) eine Axiomatisierung, in der die informelle Axiomatik, d. h. die umgangssprachliche Formulierung der Axiome, in einer formalen Sprache nachgezeichnet wird (Hilbert); (4) eine Axiomatisierung, die wir informelle mengentheoretische Axiomatisierung nennen können, derzufolge der Ausdruck ›Axiomatisierung einer Theorie‹ mit ›Einführung eines mengentheoretischen Prädikats‹ gleichgesetzt wird (Suppes, Sneed); und (5) eine Axiomatisierung, die in der Einführung eines Explizitätsprädikats für ein Axiomensystem analog zu (4) besteht, doch im Rahmen eines formalen Systems vorgenommen wird (Carnap). Für den strukturalistischen Theorieansatz ist die vierte Form einer Axiomatisierung grundlegend. Diese Form der Axiomatisierung einer Theorie besitzt ihre Genese in der mengentheoretischen Rekonstruktion mathematischer Theorien, wie sie Bourbaki in den Elements de Matematique unternimmt. 18 Von Suppes (1957:246 ff.) wurde diese Form der Axiomatisierung einer mathematischen Theorie aufgegriffen und auf physikalische Theorien übertragen 19 . Bei dieser Form der Axiomatisierung werden die Axiome der zu axio18 19

Siehe dazu etwa (Bourbaki, 1968) und (Stegmüller 1979a:3 ff.). Siehe dazu ergänzend auch (Moulines & Sneed, 1979:63 ff.). A

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matisierenden Entität ›Theorie‹ zu integralen Bestandteilen des mengentheoretischen Prädikats. Übertragen wir diese Form der Axiomatisierung nun auf physikalische oder sozialwissenschaftliche Theorien, so können wir die mathematische Struktur einer physikalischen oder sozialwissenschaftlichen Theorie mengentheoretisch in der Form »ist ein S« angeben, also bspw. »ist eine Partikelmechanik«, »ist eine Quantenmechanik« oder »ist eine Theorie der rationalen Wahl«. Da nun aber realwissenschaftliche Theorien mehr sind als nur mathematische Strukturen, ist es erforderlich, ihre mathematische Struktur durch einen Anwendungsaspekt zu ergänzen, d. h. um die Menge ihrer intendierten Systeme. Sneed ergänzt dazu die von Suppes vorgeschlagene informelle Axiomatik im Anschluß an (Adams, 1959) um eine informelle Semantik. 20 Haben wir eine ›Theorie‹ (bzw. ein Theorie-Element) durch Definition eines informellen mengentheoretischen Prädikats axiomatisiert und in ihrer (seiner) Struktur als ein Tupel der Form T = mit K = bestimmt, so läßt sich der interrelationale Zusammenhang dieser Elemente diagrammatisch in Erweiterung von Abbildung 2–1 wie folgt darstellen: 21

2.3 Die Grundstruktur einer wissenschaftlichen Theorie in der Strukturalistischen Theorienkonzeption (I): Systematische Aspekte 2.3.1 Die Grundelemente eines Theorie-Elements: Mathematischer Strukturkern und intendierte Systeme Einer mengentheoretischen Explikation der Entität ›Theorie-Element‹ müssen wir zunächst eine explizite Charakterisierung der für die Strukturalistische Theorienkonzeption grundlegenden Unterscheidung ›theoretisch – nicht-theoretisch‹ voranstellen, welche wir durch eine m+k-Theorie-Element-Matrix ausdrücken können. Sneed (1976:123) definiert eine solche Matrix wie folgt:

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Siehe dazu auch (Stegmüller, 1979b:473). Siehe dazu auch (Diederich, 1981:15) und (Stegmüller, 1986:101).

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Abbildung 2–3: Erweitertes Strukturmodell einer ›Theorie‹

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D2–1:

X ist eine m+k-Theorie-Element-Matrix genau dann, wenn (1) X 2 M (2) m und k sind positive ganze Zahlen: 00, so erfüllen potentielle Modelle Mp diese Matrix; wenn k=0, dann erfüllen partielle potentielle Modelle Mpp die Matrix.

Verdeutlichen wir uns diese Matrix am Beispiel der Klassischen Partikelmechanik. Die für die Klassische Partikelmechanik grundlegenden potentiellen Modelle sind Strukturen der Art , wobei folgende Repräsentationsbeziehungen bestehen: P repräsentiert die Menge der Partikel; T ist ein Intervall reeller Zahlen mit t 2 T als Zeitpunkten; s ist die vektorielle Ortsfunktion PxT ! œ3 ; m ist die Massenfunktion P ! œ; und f ist die vektorielle Kraftfunktion PxTxø3 ! œ. Die Funktionen m und f stellen innerhalb der Klassischen Partikelmechanik in der Rekonstruktion von Sneed T-theoretische Funktionen dar. Unter Bezugnahme auf diese Charakterisierung liegt so für die Klassische Partikelmechanik eine 3+2-Matrix vor, die aus Quintupeln der oben genannten Art besteht. Die Elemente dieser 3+2-Matrix sind folglich potentielle Kandidaten für das mengentheoretische Prädikat »ist eine klassische Partikelmechanik«. Wie in 2.2.2 ausgeführt, besteht eine wissenschaftliche Theorie in ihren Grundeinheiten aus Theorie-Elementen, deren Struktur einen mathematischen Kern K, eine Menge I intendierter Systeme, Datenstrukturen D und einen Approximationsapparat U umfaßt, so daß gilt T = . Betrachten wir zunächst den mathematischen Kern eines Theorie-Elements, der aus der Menge der partiellen potentiellen Modelle Mpp, der Menge der potentiellen Modelle Mp, 98

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der Funktion r, der Menge der Modelle M und der Menge der Constraints C besteht, so daß gilt K = . Bevor wir den Kern K eines Theorie-Elements formal definieren, wollen wir uns zunächst noch einmal die Bedeutungen seiner Elemente am Beispiel der Klassischen Partikelmechanik verdeutlichen. Da bei der informellen mengentheoretischen Axiomatisierung eines Prädikats in der Form »ist ein P« die Axiome zu Bestandteilen der Definition werden, können wir das mengentheoretische Prädikat »ist eine Partikelmechanik« definieren, wobei wir die Menge der Partikelsysteme, d. h. die Menge der Entitäten, die die Newton’schen Axiome erfüllen, als Modelle der Klassischen Partikelmechanik bezeichnen. Wobei natürlich nur solche Partikelsysteme die Newton’schen Axiome erfüllen können, die mit Orts-, Massen- und Kraftfunktionen ausgestattet sind. Da es auch Partikelsysteme gibt, in deren Struktur bspw. die Massenfunktion fehlt und sie somit bspw. nicht das zweite Newton’sche Axiom erfüllen können, sonst aber von einer Struktur sind, daß sie alle Axiome erfüllen könnten, bezeichnen wir solche Partikelsysteme als potentielle Modelle Mp. Ein Mp besitzt so die gleiche Struktur wie ein M, nur wird von ihm nicht verlangt, daß es alle Axiome erfüllt. Es gilt so M  Mp. Da die Massen- und Kraftfunktionen innerhalb der strukturalistischen Rekonstruktion der Klassischen Partikelmechanik T-theoretische Größen darstellen, es jedoch auch Partikelsysteme gibt, die nur aus Partikeln zusammen mit ihren Ortsfunktionen bestehen, wobei die Ortsfunktion innerhalb der Klassischen Partikelmechanik einen nicht-T-theoretischen Begriff darstellt, bezeichnen wir solche Partikelkinematiken als partielle potentielle Modelle Mpp. Solche Mpps sind nun zu Mps mittels einer Restriktionsfunktion r um die theoretischen Größen ergänzbar bzw. die Mps schmälerbar. Wollen wir die strukturierte Menge der drei Modellarten auf empirische Entitäten anwenden, also in unserem Beispiel auf alle Partikelkinematiken, so muß gewährleistet sein, daß die Funktionswerte von gleichen Partikeln in verschiedenen Partikelsystemen (bspw. Erde-Sonne, Erde-Mond, Erde-Satelliten) die gleichen sind (bspw. Erde). Die Bedingungen, die dies sicherstellen, bezeichnen wir als Constraints C: »Die Constraints wirken [so] als Querverbindungen zwischen allen möglichen Anwendungsfällen der betrachteten Theorie T und halten die verschiedenen empirischen Aussagen aus dem Bereich der indendierten Anwendungen [Systeme] zusammen […].« (Fasching, 1989: 208) A

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Metatheoretische Grundlagen

Dabei gilt es zwischen zwei Typen von Constraints zu unterscheiden: den Identitäts-Constraints und den Constraints der Extensivität einer Funktion. Erstere garantieren die Gleichheit von Funktionswerten gemäß obigem Beispiel, die letzteren – nehmen wir als Beispiel die Masse – daß der Massenwert eines aus zwei Körpern zusammengesetzten Körpers gleich der Summe der Einzelmassenwerte ist. Gemäß unseren Ausführungen dürfte es deutlich geworden sein, daß die Elemente der Anwendungen eines Theorie-Element-Kerns K partielle potentielle Modelle bzw. Mengen von partiellen potentiellen Modellen sind. Wir definieren den Kern K eines Theorie-Elements wie folgt (Balzer & Sneed, 1983:121) (Stephan, 1988:68): D2–2:

K ist ein Kern für ein Theorie-Element genau dann, wenn es ein Mp, Mpp, M, C, r, m und k gibt, so daß gilt: (1) K = (2) Mp ist eine m+k-Theorie-Element-Matrix (3) Mpp := {/ 2 Mp} (4) r ist eine Funktion mit DI(r) = Mp und DII(r) = Mpp, so daß gilt: r() = (5) M  Mp (6) C ist ein Constraint für Mp, wobei gilt: C  Pot(Mp) (a)  2 = C (b) 8 X, Y: (X 2 C ^ Y  X) ! (Y 2 C), mit X, Y 6¼  (c) 8 x 2 Mp : {x} 2 C

Erläuterung: »« in (1), (3) und (4) zeigen an, daß es sich um geordnete Mengen von Mengen handelt. In (2) wird der Zusammenhang zwischen der Matrix und den potentiellen Modellen ausgedrückt (vgl. D2–1). (3) drückt aus, daß die partiellen potentiellen Modelle durch Weglassen der theoretischen Komponenten aus den potentiellen Modellen hervorgehen. (4) vollzieht mittels der Restriktionsfunktion r (3) formal. (5) drückt aus, daß die Axiome, die Bestandteile der Menge der Modelle sind, aus den partiellen Modellen die Modelle des Theorie-Elements aussondern. (6) drückt aus, daß die Constraints bestimmte Kombinationen von potentiellen Modellen auszeichnen, weshalb diese auch als Teilmenge der Potenzmenge von Mp bestimmt werden müssen. (6a) ist notwendig, um zu verhindern, daß zum empirischen Gehalt einer Theorie die leere Menge gehört. (6b) fordert »Transitivität« in C. (6c) stellt sicher, daß nicht einzelne potentielle Modelle ausgeschieden werden, sondern nur Mengen von solchen.

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Haben wir den Kern K eines Theorie-Elements definiert, so stellt sich die Frage nach dem empirischen Gehalt eines solchen Kerns. Zu diesem Zweck müssen wir die potentiellen Modelle Mp, die Modelle und partiellen potentiellen Modelle Mpp auf eine höhere mengentheoretische Stufe stellen, d. h. wir müssen die Potenzmengen von ihnen bilden. Haben wir so Pot(Mp), Pot(M) und Pot(Mpp) eingeführt, wobei gilt: Pot(M)  Pot(Mp), so können wir folgende Operation durchführen: Wir unterscheiden zwischen einer theoretischen und nichttheoretischen Ebene. Auf der theoretischen Ebene haben wir Pot(M)  Pot(Mp) und C  Pot(Mp). Bilden wir nun die Redukte des Durchschnitts Pot(M) \ C, so erhalten wir eine Teilmenge von Pot(Mpp) auf der nicht-theoretischen Ebene, die wir mit A(K) bezeichnen. Wir können formal folgende Definition des empirischen Gehalts A(K) einer Theorie angeben: D2–3:

A(K) ist der empirische Gehalt eines Theorie-Elements genau dann, wenn es ein K, r, r’ und r‚ gibt 22 , so daß gilt: (1) K = < Mpp, Mp, r, M, C > ist ein Kern für das Theorie-Element (2) Die Funktionen ri : Poti(Mp) ! Poti(Mpp) werden für i 2 ø durch Induktion bestimmt aus: r() = ri+’(Y) = {ri(Z) / Z 2 Y}, mit Y 2 Poti+’(Mp) (3) A(K) = r‚(Pot’(M) \ C)

Erläuterung: A bezeichnen wir als den Auswahloperator, der jedem Kern eines Theorie-Elements die Menge A(K) aller Kombinationen partieller potentieller Modelle zuordnet, die sich bei Beachtung der Constraints zu Modellen ergänzen lassen. Oder anders ausgedrückt: Die Menge A(K) stellt eine Auswahl aus der Klasse aller möglichen Kombinationen partieller potentieller Modelle dar. Von A(K) werden dabei solche Kombinationen ausgewählt, die Redukte von Modellen sind, die die Constraints erfüllen. Stellt (3) in D2–3 den empirischen Gehalt eines Theorie-Elements dar, so liegt der induktiven Definition der Restriktionsfunktion (2) die Ansicht zugrunde, daß die »Restriktion« einer Menge Y die Menge der restringierten Elemente der Menge Y darstellt (Stephan, 1988:69).

r(x) = y drückt aus, daß ein einzelnes Mp zu einem Mpp verkürzt wird. r’ dagegen wird auf eine Menge von Mp’s angewendet und r‚ auf eine Menge von Mengen von Mp’s.

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Die Menge der intendierten Systeme I bringt den formalen Kern des Theorie-Elements mit ›realen‹ Systemen in Verbindung. Dabei ist jedoch zu beachten, daß wir die Menge I nicht formal als eine Strukturart einführen dürfen. Denn sonst hätte sie denselben Status wie der Kern, so daß folglich keine empirische, sondern eine mathematische Theorie vorliegen würde. Eine mögliche Bestimmung intendierter Systeme besteht darin, daß wir analog zu Wittgenstein’s »Spielbegriff« und dem damit verbundenen Begriff der »Familienähnlichkeit« vorgehen. 23 Wir führen demgemäß zuerst paradigmatische Anwendungsbeispiele der Theorie ein, d. h. solche Anwendungsbeispiele, wie sie in Lehrbüchern zur Illustration der axiomatischen Präsentation einer Theorie vorgelegt werden, oder solchen, die vom jeweiligen Theoriebegründer selbst eingeführt wurden (so hat bspw. Newton selbst paradigmatische Beispiele zur Anwendung der Partikelmechanik eingeführt, etwa das System der Planetenbewegungen, der Gezeiten oder der Pendelbewegungen), und rechnen dann »hinreichend ähnliche« Anwendungsmöglichkeiten, d. h. »hinreichend ähnliche« Systeme hinzu. Bezeichnen wir die Menge der paradigmatisch eingeführten intendierten Systeme mit Ip und die Menge der diesen »hinreichend ähnlichen« intendierten Systeme mit I*, so können wir die Menge der intendierten Systeme I als Vereinigung derselben auffassen, so daß gilt: I = Ip [ I* und darüber hinaus Ip als Teilmenge von I, so daß gilt: Ip  I (Balzer, 1985a:26). Im Falle der Autodetermination des Anwendungsbereichs einer Theorie wird die einschlägige Theorie selbst dazu benutzt, über die Zugehörigkeit eines Systems zu I* zu entscheiden. 24 Bezüglich der Charakterisierung der Menge der intendierten Systeme I können wir folgendes festhalten (Stegmüller, 1986:28): (1) Die Menge der intendierten Systeme I wird nicht mit der Spezifikation des theoretischen Apparats der Theorie mitgeliefert, d. h. I ist von K unabhängig; (2) I ist eine offene Menge, d. h. eine extensive Größe; und (3) verschiedene intendierte Systeme sind nicht per se disjunkt, d. h. sie können sich überschneiden.

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Vgl. dazu (Wittgenstein, 1984b:§ 66,§ 329; 1984c:§ 75,§ 118). Siehe dazu ausführlicher (Stegmüller, 1985:224 ff.).

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Nach Einführung der Menge der intendierten Systeme I können wir nun ein Theorie-Element wie folgt definieren: D2–4:

T ist ein Theorie-Element nur dann, wenn es ein K, ein I, ein D und ein U gibt, so daß gilt 25 : (1) T = (2) K = ist ein Kern für das Theorie-Element (3) I  Mpp (oder: I  Pot(Mpp)) [(4) I = Ip [ I* und Ip  I]

Erläuterung: (3) drückt die alternativen Bedeutungen von I aus: Zum einen kann mit einer intendierten Anwendung die Anwendung der Theorie auf ein einzelnes Mpp gemeint sein, zum anderen die Anwendung der Theorie auf eine Klasse von gleichartigen Mpp’s.

Wir können daraus folgernd die empirische Behauptung eines Theorie-Elements der Form T = und der notwendigen Bedingung I  Mpp sowie des empirischen Gehalts eines Theorie-Kerns A(K) wie folgt definieren: D2–5:

Wenn T = ein Theorie-Element ist, dann ist I  A(K) bzw. I 2 r’(Pot(M) \ C) die empirische Behauptung von T

Stellt A(K) = r’(Pot(M) \ C) den empirischen Gehalt eines TheorieElements dar, so können wir die nicht-restringierte Schnittmenge Pot(M) \ C als den theoretischen Gehalt eines Theorie-Elements auffassen.

Wobei anzumerken ist, daß dies nur eine notwendige Bedingung für ein Theorie-Element darstellt: »Die Menge I ist zu interpretieren als der Bereich der intendierten Anwendungen [Systeme] des Theorie-Elements – »worüber die Theorie redet« (Balzer & Sneed, 1983:122). Denn I kann auch auf eine Weise beschrieben werden, daß sie zwar (3) erfüllt, aber trotzdem nicht als Bestandteil eines Theorie-Elements betrachtet werden soll, weil jedes theoretische Element in einer solchen Theorie völlig überflüssig sein würde, dies z. B. dann, wenn I vollständig durch eine extensionale Beschreibung gegeben ist. Verdeutlicht am Beispiel der Klassischen Partikelmechanik würde dies bedeuten, daß die Menge aller Partikel inklusive ihrer zugehörigen Ortsfunktionen für alle Zeiten bekannt wäre. Es könnten so alle Prognosen ohne Rekurs auf die theoretischen Funktionen erstellt werden. Eine solche Situation beschreibt Sneed (1979:276) wie folgt: »The class of data is closed. No new data is going to be added and a fortiori no interesting predictions can be made about what the new data will be like«.

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2.3.2 Die Grundelemente eines Theorie-Netzes: Theorie-Elemente und intertheoretische Relationen 2.3.2.1 Theorie-Netze als strukturierte Mengen von Theorie-Elementen Mit dem Begriff ›Theorie-Element‹ kann eine kleine, lokale Theorie bezeichnet werden (Balzer, 1997a:50). Bei ausgereiften wissenschaftlichen Theorien – wie bspw. der Klassischen Partikelmechanik oder der Spatial Theory of Voting – gibt es jedoch Teilmengen von intendierten Systemen der Menge aller intendierten Systeme eines Theorie-Elements für die, neben dem Fundamentalgesetz der Theorie (des Theorie-Elements), weitere bestimmte Gesetze -Spezialgesetze- gültig sind; 26 d. h. für Gesetze, die nicht für alle intendierten Systeme gültig sind, sondern nur für bestimmte Teilmengen von intendierten Systemen. Solche, nur für bestimmte Teilmengen von intendierten Systemen gültigen Spezialgesetze wurden zu Beginn des Strukturalismus durch Verschärfungen der Struktur des Theorie-Elements modelliert. Am Beispiel der Klassischen Partikelmechanik hieß dies etwa, daß das Grundgesetz dieser Theorie, das zweite Newton’sche Axiom in T(KPM) = ausgedrückt wird, und die Hinzufügung der Spezialgesetze, das dritte Newton’sche Axiom (Gravitationsgesetz) und das Hooke’sche Gesetz als eine Verschärfung des Prädikats »ist eine klassische Partikelmechanik« konzipiert wurde, da diese nur in bestimmten Anwendungen der Klassischen Partikelmechanik gültig sind. Diese Verschärfung bestand bei Sneed noch in einer pauschalen Zusammenfassung aller Spezialgesetze zu einer einzigen Menge und der Erweiterung des Kerns K zu einem erweiterten Kern, der als 8-Tupel konstruiert wurde (Stegmüller, 1985:130). Der damit verbundene technische Aufwand der Definition dieser Relation und den damit verbundenen Schwierigkeiten zur Bestimmung des empirischen Gehalts und der intendierten Systeme kann nach Balzer nun jedoch verhindert werden, wenn solche Spezialgesetze selbst in der Form T = konzipiert werden. Da eine solche Konzeption neben der das Fundamentalgesetz ausdrückenden Entität TF = Siehe für die Modellierung der Klassischen Partikelmechanik unter diesen Gesichtspunkten (Balzer & Moulines, 1981) und für die Spatial Theory of Voting (Balzer & Dreier, 1999).

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eine Menge weiterer Entitäten TS = {TS1, TS1,…TSi} 27 induziert, erscheint es eleganter und einfacher, umfassende Theorien als Netze solcher Entitäten (Theorie-Elementen) zu konzipieren, die mit einem sogenannten Basis-Theorie-Element (dem ursürünglichen Theorie-Element, verstanden als eine kleine »lokale« Theorie) durch bestimmte intertheoretische Relationen verbunden sind. Eine Konsequenz dieser Vorgehensweise ist dann die Elimination des Wortes ›Theorie‹ und seine Substituierung durch den Begriff des Theorie-Netzes, da mit dem Wort ›Theorie‹ kein Referenzobjekt mehr vorliegt. So schreibt bspw. Stegmüller (1986:71): »Dieses Wort »Theorie« kommt seither im strukturalistischen Rahmen nicht mehr vor.«

Auf modelltheoretischer Ebene entsprechen solche Prädikatsverschärfungen der Auszeichnung von bestimmten Teilmengen von Modellen, Constraints, intendierten Systemen sowie damit impliziert des empirischen Gehalts A(K), wobei gilt: (1) (2) (3) (4)

M1  M, C1  C, A(K1)  A(K) und I1  I.

Wir machen so »schärfere« Aussagen über einen (in der Regel) reduzierteren Bereich von intendierten Systemen. Fassen wir so bspw. ein Spezialgesetz in der Form eines Theorie-Elements auf, so stellt dieses eine Spezialisierung (als intertheoretische Relation) des nur das Fundamentalgesetz enthaltenden Basis-Theorie-Elements dar. Wir können so sagen, daß das Basis-Theorie-Element T = das Theorie-Element T = durch die intertheoretische Relation der Spezialisierung s spezialisiert. Schalten wir nun bspw. mit dieser Relation mehrere Spezialisierungen hintereinander, so erhalten wir auf diese Weise ein ganzes, durch diese intertheoretische Relation strukturiertes Netz von Theorie-Elementen, ein Theorie-Netz (Stegmüller, 1981:286).

Die Indizes F und S bezeichnen das Fundamentalgesetz und die Spezialgesetze einer Theorie.

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Wir können folgende allgemeine Definition einer Spezialisierung angeben: D2–6:

Ti ist eine Spezialisierung von T (Ti s T) genau dann, wenn für die Theorie-Elemente Ti = und T = gilt: (1) Mppi = Mpp (2) Mpi = Mp (3) ri = r (4) Mi  M (5) Ci  C (6) Ii  I (7) Di  D

Erläuterung: In D2–6 sorgen (1)–(3) dafür, daß die theoretische und nicht-theoretische Ausgangsbasis unverändert bleiben. (4) drückt aus, daß die Spezialgesetze »mehr« fordern als das Fundamentalgesetz. (5) stellt in Rechnung, daß für Ti noch spezielle Constraints gelten können, (6) fordert, daß sich die Gültigkeit des Spezialgesetzes nur auf eine Teilmenge der intendierten Systeme von T beziehen soll und (7), daß die Datenstrukturen Di speziellere Daten darstellen als D.

Wir können nun dazu übergehen, die endgültige Fassung dessen zu bestimmen, was innerhalb der Strukturalistischen Theorienkonzeption zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit der Entität ›Theorie‹ bzw. ›empirische Theorie‹ bezeichnet wird: das Theorie-Netz. Unter Bezugnahme auf die oben angeführte intertheoretische Relation der Spezialisierung können wir die logische Form einer (empirischen) Theorie als eine strukturierte, relationell verknüpfte Menge von Theorie-Elementen bestimmen, die hierachisch geordnet ist. Eine Definition der Entität ›Theorie-Netz‹ können wir wie folgt angeben (Balzer & Sneed, 1983:133; Stegmüller 1979a:91, 1986:102): 28 D2–7:

X ist ein Theorie-Netz genau dann, wenn es ein N und ein  gibt, so daß gilt: (1) X =

Bei dieser Definition beziehen wir uns primär auf die von Stegmüller (1986) gegebene Definition eines Theorie-Netzes. In Balzer, Moulines & Sneed (1987:172 f.) wird darüber hinaus präziser zwischen einem idealisierten Theorie-Netz, einem verbundenen Theorie-Netz und Theorie-Bäumen unterschieden.

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(2) N ist eine endliche Menge von Theorie-Elementen (im Sinne von D 2–4) (3)   NxN (4) 8 T 8 T’T,T’2N (T’  T $ T’ ist eine Spezialisierung von T) (5) 8 , 2 N (I=I’ ! K= K’) Erläuterung: Mit D2–7 drücken wir aus, daß es sich bei einem Theorie-Netz um ein geordnetes Paar handelt, bestehend aus der Menge N und , welche als Spezialisierungsrelation im Sinne von D 6 zu interpretieren ist. Mit Bedingung (5) soll ausgeschlossen werden, daß für gleiche Systemklassen I, I’ verschiedene Theoriekerne verwendet werden.

Wie läßt sich nun die empirische Behauptung eines Theorie-Netzes bestimmen? In D 2–5 haben wir die empirische Behauptung eines Theorie-Elements als I  A(K) bestimmt, eine Definition, die uns zu der Vermutung verleiten läßt, daß sich die empirische Behauptung eines Theorie-Netzes als Konjunktion der empirischen Behauptungen der einzelnen Theorie-Elemente eines Theorie-Netzes bestimmen läßt, so daß gilt: 8 (Ki,Ii,Di,U) 2 N: Ii  A(Ki). Eine solche Bestimmung der empirischen Behauptung eines TheorieNetzes scheitert jedoch daran, daß durch diese Formulierung intendierte Systeme der in der Spezialisierungsrelation T s T’ stehenden Theorie-Elementen nicht dieselben theoretischen Ergänzungen erfahren müssen. 29 Gehen wir davon aus, daß für eine theoretische Funktion t das Identitäts-Constraint gilt, bedeutet dies, daß die theoretischen Ergänzungen ein und desselben Mps, d. h. die Werte von t, in allen Anwendungen auf die gleiche Weise vorgenommen werden müssen, so daß gilt: Über die Theorie-Elemente eines Theorie-Netzes hinweg wird verlangt, daß für die theoretische Ergänzung im spezialisierten Theorie-Element Tj nur solche Werte von t zulässig sind, die auch bereits im zu spezialisierenden Theorie-Element Ti vorkamen. Bezeichnen wir mit z die Menge der theoretisch ergänzten intendierten Systeme, die sowohl mit den Gesetzen als auch mit den Constraints des Theorie-Elements in Einklang stehen, so können wir die empirische Behauptung I  A(K) als r’(z) = I ^ z 2 At(K) 29

Siehe dazu bspw. (Stephan, 1988:35 f.). A

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bestimmen. Da gelten muß: Ij  Ii, können wir mit der Forderung zj  zi die mit dem gesamten Theorie-Netz verbundene empirische Aussage wie folgt ausdrücken (Stegmüller, 1986:106; Stephan, 1988:36): D2–8:

X = sei ein Theorie-Netz. Dann lautet die empirische Behauptung E(X) dieses Netzes: 8 Ti, Tj 2 N 9 zi 9 zj: (Tj s Ti) ! (Ii  A(Ki) ^ Ij  A(Kj) ^ zj  zi)

Wir können unsere Ausführungen zum Begriff des Theorie-Netzes zusammenfassend wie folgt darstellen: (1) (1.1) (1.2) (1.3)

Ein Theorie-Netz ist eine Struktur . N stellt die Menge der Theorie-Elemente dar.  ist eine Relation zwischen den Theorie-Elementen.  ist dergestalt, daß sie alle Theorie-Elemente Ti 2 N in eine hierarchische Struktur bringt. (2) Die Netzbildung einer Menge von Theorie-Elementen impliziert, daß auch alle diesen Theorie-Elementen zugehörigen Kerne und intendierten Systeme Netze bilden. (2.1) Jedem T-Netz sind ein K-Netz und ein I-Netz assoziiert. (2.2) K-Netze und I-Netze sind analog zum T-Netz aufgebaut. 2.3.2.2 Die Verallgemeinerung des Konzepts der Theorie-Netze

In 2.3.2.1 haben wir gezeigt, daß eine »Theorie« in der Strukturalistischen Theorienkonzeption als eine strukturierte Menge von Theorie-Elementen aufzufassen ist, die ein sogenanntes Theorie-Netz bildet. In einem solchen Theorie-Netz können die involvierten Theorie-Elemente durch verschiedene intertheoretische Relationen miteinander verbunden sein. Wir haben uns dabei in unserer Darstellung nur auf die wichtigste intertheoretische Relation, die der Spezialisierung beschränkt. 30 Da wir in D2–7 das Theorie-Netz formal nur mittels der intertheoretischen Relation der Spezialisierung s zwischen Theorie-Elementen eingeführt haben, gilt es das Theorie-Netz in einer allgemeineren Fassung zu bestimmen. Dieser allgemeine Begriff des Für weitere intertheoretische Relationen innerhalb der strukturalistischen Wissenschaftstheorie siehe (Dreier, 1993:200–219).

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Theorie-Netzes kann wie folgt formal definiert werden (Balzer & Sneed, 1983:133): D2–9:

X ist ein Theorie-Netz genau dann, wenn es ein N und ein  gibt, so daß gilt: (1) X = ist ein Netz (2) N ist eine endliche Menge von Theorie-Elementen (3)   N x N (4) 8 , 2 N (I = I’ ! K = K’)

Erläuterung: Gemäß D2–9 sollen Theorie-Netze Netze sein, der Art, daß  eine hierarchische Ordnung (Halbordnung) unter den Theorie-Elementen erzeugt. Der Grad der Allgemeinheit dieses Netzes wird durch (3) zum Ausdruck gebracht, demzufolge  nicht als eine Spezialisierungsrelation zu deuten ist, sondern ebenso eine andere intertheoretische Relation darstellen kann. Mit (4) wird zum Ausdruck gebracht, daß zum einen auf eine Menge intendierter Systeme nicht zwei oder mehrere verschiedene Kerne angewendet werden dürfen, und daß zum anderen auf mehrere Mengen von intendierten Systemen ein Kern angewendet werden darf.

Mit D2–9 haben wir nun eine sehr allgemeine Definition des Theorie-Netzes vorgestellt, mit der Konsequenz, daß wir dessen Struktur noch nicht näher charakterisiert haben. Eine solche soll durch die folgende Definition D2–10 nun näher verdeutlicht werden (Stegmüller, 1979a:92): D2–10: Wenn X = ein Theorie-Netz ist, dann gilt: (1) 8 T, T’ 2 N (T’  T $ T’  T ^ T  T’) (2) B (X) := {T 2 N/ 8 T’ 2 N (T’  T ! T  T’)} (3) X ist verbunden genau dann, wenn 8 T, T’ 2 B (X) 9 T* 2 N (T*  T ^ T*  T’) (4) X hat genau ein Basis-Element genau dann, wenn 9 2 N (B (X) = {}) Erläuterung: In (1) ist durch (T’  T) die Äquivalenz zweier Theorie-Elemente eines Netzes definiert. (2) definiert die Basis B (X) eines Netzes, wobei angemerkt werden muß, daß ein Netz nicht nur auf einem Basis-Element aufgebaut sein muß, sondern durchaus auch auf mehreren; obwohl dies nach Balzer und Sneed bis jetzt bei der Rekonstruktion von empirischen Theorien noch nicht der Fall war, kann ein solcher aus epistemologischen Gründen jedoch nicht ausgeschlossen werden (Balzer & Sneed, 1983:133). (3) unterscheidet zwischen verbundenen und unverbundenen Netzen, während (4) schließlich Theorie-Netze mit nur einer einzigen Basis definiert. A

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Da mit einem Theorie-Netz immer auch gleich zwei weitere Netze assoziiert sind, nämlich ein K-Netz und ein I-Netz, wollen wir der Vollständigkeit halber auch diese formal angeben (Balzer & Sneed, 1983:136): D2–11: Wenn X = ein Theorie-Netz ist, dann ist X* = das Kern-Netz von X genau dann, wenn gilt: (1) N* = {K / 2 N} (2) * = { 2 N* x N* /  } (3) 8 K, K’ 2 N* (K  K’ $ K * K’ ^ K’ * K) D2–12: Wenn X = ein Theorie-Netz ist, dann ist Xþ = das Anwendungs-Netz von X genau dann, wenn gilt: (1) Nþ = {I / 2 N} (2) þ = { 2 Nþ x Nþ /  } (3) 8 I, I’ 2 Nþ (I  I’ $ I þ I’ ^ I’ þ I) Im Gegensatz zu D2–8 können wir die empirische Behauptung eines verallgemeinerten Theorie-Netzes formal wie folgt bestimmen: D2–13: X = sei ein Theorie-Netz. Dann lautet die empirische Behauptung E(X) dieses Netzes: 8 2 N (I  A(K)) Unsere bisherigen Ausführungen zum Begriff des Theorie-Netzes haben sich primär auf dessen Explikation unter statischen Gesichtspunkten bezogen. Betrachten wir ein Theorie-Netz jedoch auch unter dynamischen Aspekten (noch ohne Einschluß von pragmatischen Aspekten) 31 , so sind zwei dynamische Elemente von Theorie-Netzen einzuführen: das der Expansion und das der Verfeinerung von Theorie-Netzen. Beginnen wir zunächst mit der Definition der Expansion eines Theorie-Netzes, die wie folgt angegeben werden kann (Balzer & Sneed, 1983:134):

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Vgl. dazu ausführlicher 2.4.2 in diesem Kapitel.

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D2–14: Wenn x = und X’ = Theorie-Netze sind,dann ist N eine Expansion von N’ (N’ ⁄ N) genau dann, wenn gilt: (1) N’  N (2)  = ’ \ (N’ x N) Erläuterung: Von einer Expansion wird dann gesprochen, wenn zu einem bestehenden Theorie-Netz neue Theorie-Elemente hinzugefügt werden. Im Falle eines theoretischen Rückschritts ist es darüber hinaus auch möglich, daß das ältere Theorie-Netz eine Expansion des jüngeren Theorie-Netzes ist. Mit (2) wird dafür gesorgt, daß die Ordnung der Theorie-Elemente des Ausgangs-Netzes (expandiertes Netz) erhalten bleibt, d. h. ’ muß in  enthalten sein. Eine Möglichkeit, wie die Expansion eines Theorie-Netzes N’ erfolgen kann, besteht darin, daß N’ eine neue Basis bekommt, zwischen zwei unmittelbar aufeinander folgenden Theorie-Elementen ein neues eingebaut wird oder durch eine Kombination dieser beiden Möglichkeiten. Es empfiehlt sich dabei,  als eine Spezialisierungs-Relation s zu deuten.

Die Verfeinerung eines Theorie-Netzes kann dann wie folgt formal definiert werden (Stegmüller, 1979a:92): D2–15: Wenn X = und X’ = Theorie-Netze sind, dann ist N eine (echte) Verfeinerung von N’ genau dann, wenn gilt: (1) N’  N (N’  N) (2) s’ = s \ (N’ x N) Erläuterung: Da wir bei einer Spezialisierung immer die Modelle eines bereits bestehenden Theorie-Elements einschränken, wird bei ihr die Möglichkeit der Expansion, daß N’ durch eine neue, tiefer liegende Basis erweitert wird, wegfallen. Da bis jetzt in real vorkommenden Theorien auch die zweite Möglichkeit nicht aufgetreten ist, könnte man auch diese Möglichkeit ausschließen. 32

Für eine formale Einschränkung der Möglichkeiten der Expansion unter diesen Gesichtspunkten vgl. (Balzer & Sneed, 1983:134 f.).

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2.4 Die Grundstruktur einer wissenschaftlichen Theorie in der strukturalistischen Theorienkonzeption (II): Diachrone Aspekte 2.4.1 Von der synchronen zur diachronen Darstellung wissenschaftlicher Theorien Unsere bis jetzt ausgeführten Explikationen zum Begriff der wissenschaftlichen Theorie im Rahmen der strukturalistischen Metatheorie bezogen sich ausschließlich auf die logische Struktur von Theorien, welche durch die Konzeption des Theorie-Netzes angemessen dargestellt wird. Mit Hilfe dieser synchronen Darstellung wissenschaftlicher Theorien können nun rein systematische Aspekte von Theorien rekonstruiert werden. Werden Theorien jedoch als in historische Ablaufprozesse eingebundene Erkenntnisprodukte betrachtet, die im Laufe ihrer prozessualen Entwicklung modifiziert, erweitert oder auch verworfen werden, so reicht zu dieser Betrachtung die Konzeption des Theorie-Netzes in seiner bisherigen Form nicht mehr aus. Um die ›Geschichte‹ einer Theorie, d. h. deren diachrone Aspekte, angemessen darstellen zu können, bedarf es deshalb einer komplexeren Konzeption von Theorie. Eine mögliche Konzeption zur angemessenen Darstellung der Dynamik von Theorien wird nun innerhalb des strukturalistischen Theorieansatzes mit dem Begriff der ›Theorie-Evolution‹ eingeführt, der auf einer durch pragmatische Elemente erweiterten Konzeption des Theorie-Netzes gründet. Eine Theorie-Evolution wird innerhalb des strukturalistischen Ansatzes als »a sequence of theory-nets in historical time subject to some constrictions« verstanden bzw. intuitiver als ein »changing theory-net« (Balzer, Moulines & Sneed, 1987:205). Formaler ausgedrückt kann eine Theorie-Evolution so als eine Folge von TheorieNetzen N1, N2, N3, … dargestellt werden, die die Entwicklungsstadien einer Theorie durch bestimmte historische Abschnitte h1, h2, h3, … repräsentieren. Bezüglich der Semantik des Konzepts der ›Theorie-Evolution‹ in der strukturalistischen Metatheorie ist jedoch anzumerken, daß mit diesem Konzept nicht alle möglichen diachronen Aspekte einer Theorie erfaßt werden, sondern nur die sogenannten »normal kinematics of a theory« (Balzer, Moulines & Sneed, 1987:205). Wir nehmen deshalb bei der Explikation des Konzepts der ›Theorie-Evolution‹ zwei wesentliche Einschränkungen vor: zum einen werden wir 112

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eine bestimmte Menge dynamischer Aspekte der wissenschaftlichen Entwicklung aussparen, wir fragen bspw. nicht nach den ›Ursachen‹ und ›Kräften‹, die einen Theorienwandel determiniert haben; und zum anderen beschränken wir uns auf das, was mit dem Begriff der ›normalen‹ Evolution der Wissenschaft umschrieben werden könnte. Unter ›normaler‹ Evolution der Wissenschaft soll dabei zum Ausdruck gebracht werden, daß die Konzeption der ›Theorie-Evolution‹ innerhalb der Strukturalistischen Theorienkonzeption auf der Grundlage dessen expliziert wird, was bspw. Kuhn (1981) ›Normalwissenschaft‹, Lakatos (1982) ›wissenschaftliches Forschungsprogramm‹ oder Toulmin (1981) ›Forschung, welche auf einem Ideal der Natur beruht‹, nennen. Wir nehmen Bezug auf Konzeptionen wie ›Denkstil‹ und ›Denkkollektiv‹ (Fleck, 1980), ›Paradigma‹ (Kuhn, 1981; Toulmin, 1981), ›Ideal der Naturordnung‹ (Toulmin, 1981), ›disziplinäre Matrix‹ (Kuhn, 1978b, 1981a) und ›harter Kern‹ (Lakatos, 1982), und versuchen diese unter mengentheoretischen Gesichtspunkten zu konkretisieren und zu präzisieren. Für die Untersuchung bzw. Rekonstruktion von Theorieabfolgen in der Zeit als auch der historischen Entwicklung einer bestimmten Theorie benötigen wir pragmatische Aspekte. Pragmatische Aspekte werden aber nicht nur innerhalb einer diachronen Betrachtung von Theorien erforderlich. Bereits innerhalb der systematischen Betrachtung von Theorien haben wir pragmatische Notationen eingeführt, so etwa in der Unterscheidung von theoretisch und nichttheoretisch im Sinne der Relation ›Begriffsgerüst – Benutzer des Begriffsgerüsts‹. Rekurrieren wir so schon bei der systematischen Analyse auf nicht weiter reduzierbare pragmatische Notationen (wir nennen diese ›pragmatische Konzepte im näheren Sinne‹), so werden wir diese bei der Analyse diachroner Aspekte von Theorien um soziologische und historische Notationen zu ergänzen haben. Es muß dabei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß damit nicht eine Transformation der Wissenschaftstheorie zur Wissenschaftssoziologie bzw. Wissenschaftsgeschichte impliziert ist, sondern es wird nur zum Ausdruck gebracht, daß der Wissenschaftstheoretiker sich hier verstärkt auf sozio-historische Begrifflichkeiten und Resultate bezieht.

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2.4.2 Die Konzeption der Theorie-Evolution Wie im vorangegangenen Punkt ausgeführt, kann eine Theorie-Evolution als eine historisch geordnete Menge von Theorie-Netzen aufgefaßt werden. (Die historische Ordnung wird dabei durch die Relation  erzeugt). An diese noch sehr allgemeine Bestimmung des Konzepts ›Theorie-Evolution‹ sind nun folgende Fragen zu stellen: (1) Wie kann die historische Ordnung unter den Theorie-Netzen hergestellt werden? (2) Für wen »gelten« die jeweiligen historischen Abschnitte? (3) In welchem Ausmaß gelten sie? Eine Beantwortung dieser Fragen impliziert nun die Einführung von Begrifflichkeiten, die primär die Beziehung zwischen Wissenschaftlern und der Theorie, die sie benutzen, erfassen können. Im Anschluß an Moulines (1979) 33 können wir dazu drei wesentliche pragmatische Faktoren einführen, um eine diachrone Analyse von wissenschaftlichen Theorien vornehmen zu können: historische Zeitintervalle, wissenschaftliche Gemeinschaften und epistemische Standards, die in diesen Gemeinschaften vorherrschen. In einem ersten Schritt werden wir diese drei pragmatischen Faktoren in unsere Theorie-bezeichnenden Entitäten ›Theorie-Element‹ und ›Theorie-Netz‹ einbinden und diese dadurch pragmatisch erweitern. Eine Gemeinschaft von Forschern bezeichnen wir im Anschluß an Kuhn mit SC (»scientific community«), ein historisches Zeitintervall mit h und die epistemischen Standards, die innerhalb einer bestimmten SC vorherrschen mit F (»firm«), wobei gilt: F  I. Sind die beiden ersten pragmatischen Faktoren ohne weitere Erläuterung plausibel, so erfordern die epistemischen Standards eine Erläuterung. Als Ausgang einer solchen gehen wir von der Frage aus: »Wie kommen wir zu den epistemischen Standards einer SC?« Zunächst einmal hat der epistemische Standard einer SC mit der Bestätigung und Akzeptanz von Hypothesen zu tun, d. h. es gibt für eine SC Standards dafür, ob eine empirische Hypothese gut bestätigt ist und vorläufig akzeptiert werden soll. Diese Bestätigung und Akzeptanz empirischer Theorien durch eine SC können wir über Rekurrierung auf die Menge der intendierten Systeme mengentheoretisch 33

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Vgl. dazu eingehender (Balzer, Moulines & Sneed, 1987:211 ff.).

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bestimmen. Wie in D2–5 ausgeführt, können wir die empirische Behauptung eines Theorie-Elements T = als I 2 A(K) (als Mengenrelation I  A(K)) bestimmen, d. h. wir wenden K auf I an. Ziehen wir zur empirischen Behauptung eines Theorie-Elements nun SC und h hinzu, so können wir aus diesem pragmatisch bereicherten Theorie-Element folgende Aussage deduzieren: Für SC ist I zur Zeit h eine gesicherte, d. h. akzeptierte Menge von intendierten Systemen von K. Bezeichnen wir diese Aussage mit F für »gesichert«, so können wir F als Teilmenge von I bestimmen, formal: F  I. Lautet eine empirische Behauptung I  A(K), so lautet eine gesicherte F  A(K); I\F stellt dann die Menge der hypothetischen Annahmen A (»assumed«) von K dar, so daß gilt: I = F [ A. Mit Hilfe dieser drei pragmatischen Faktoren sind wir nun in der Lage, sowohl das pragmatisch erweiterte Theorie-Element als auch das pragmatisch erweiterte Theorie-Netz formal anzugeben (Stegmüller, 1979a:93, 1986:112): D2–16: X ist ein pragmatisch bereichertes Theorie-Element (P-Theorie-Element) genau dann, wenn es ein T, SC, h und F gibt, so daß gilt: (1) X = (2) T = ist ein (reines) Theorie-Element (3) SC ist eine »scientific community« (4) h ist ein historischer Zeitraum (5) F  I D2–17: X = ist ein pragmatisch bereichertes TheorieNetz (P-Theorie-Netz) genau dann, wenn gilt: (1) jNj ist eine endliche Menge von pragmatisch bereicherten Theorie-Elementen (2) 8 , 2 jNj: (SC = SC’ ^ h = h’) (3) jj  jNj x jNj (4) 8 , 2 jNj: ( jj $ T s T’) Erläuterung: Die in D2–17 definierten pragmatisch bereicherten Theorie-Netze stellen »Momentaufnahmen« von Theorien dar, d. h. statische Momentaufnahmen ihrer Entwicklung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es wird so über die logische Struktur der Theorie-Netze hinausgegangen, wofür in (2) für alle pragmatisch bereicherten Theorie-Elemente SC und h als identisch festgelegt sind. Mit jj wird ausgedrückt, daß diese Relation die gleiche Funktion wie  A

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erfüllt, nämlich eine hierarchische Ordnung unter den Elementen von jNj herzustellen.

Mit D2–16 und D2–17 haben wir die mit D2–4 und D2–7 (D2–9) definierten Entitäten ›Theorie-Element‹ und ›Theorie-Netz‹ (›verallgemeinertes Theorie-Netz‹) durch pragmatische Komponenten ergänzt. Zur Bestimmung des Konzepts ›Theorienveränderung‹ bzw. ›Theorienwandel‹ müssen nun D2–16 und D2–17 dynamisiert werden. Um diese Definition vornehmen zu können, müssen wir zunächst die Hilfsdefinition HD2–18* einführen (Stegmüller, 1986:112): HD2–18*: H sei eine nicht-leere, endliche und geordnete Menge und 3  H x H. Dann gilt: (a) ist eine historische Ordnung genau dann, wenn für alle x, y, z 2 H: (1) :x 3 x (irreflexiv) (2) x 3 y ^ 3 z ! x 3 z (transitiv) (3) x 3 y _ y 3 x (konnex) (b) Wenn eine historische Ordnung ist, dann gilt: (1) min(H):= das einzige h 2 H, für das gilt: 8 y 2 H (h 3 y _ h = y) (2) für alle h 2 H mit h 6¼ min(H), h – 1:= das einzige h’ 2 H, für das gilt: h’ 3 h ^ :9x 2 H (h’ 3 x ^ x 3 h) (c) Wenn ein X ein pragmatisch bereichertes Netz ist, dann ist h(X):= das einzige h, für das gilt: 8 2 jNj (h’ = h) (d) Wenn ein X ein pragmatisch bereichertes Netz ist, dann gilt: (1) SC (X):= die einzige SC, so daß gilt: 8 2 jNj (SC’ = SC) (2) S F (X):= {Fj 9 T, SC, h ( 2 jNj)} (3) S A (X):= {I\Fj 9 K, SC, h ( 2 jNj)} (4) Wenn N eine Menge von pragmatisch bereicherten Netzen ist, dann gilt: H (N):= {h(X)jX 2 N} 116

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Erläuterung: In (a) wird für die in D2–16 und D2–17 in den Theorie-Elementen aufgetretenen Zeiträume h eine lineare Ordnung eingeführt, wobei 3 als »früher als«-Relation zu deuten ist. (b) definiert das »früheste« Element der historischen Ordnung von pragmatisch bereicherten Theorie-Netzen, wobei bis auf das »früheste« Element jedes andere genau einen Vorgänger besitzt. F(X) ist die Menge aller sicheren Anwendungen des ganzen Netzes X und A(X) die entsprechenden »angenommenen« Anwendungen. (d) schließlich definiert N als Menge von pragmatisch bereicherten, historisch geordneten Theorie-Netzen.

Mit Hilfe von HD2–18* sind wir jetzt in der Lage, die Konzeption der ›Theorie-Evolution‹ formal zu definieren. Zunächst werden wir den allgemeineren bzw. neutralen Begiff der Theorienveränderung (Theorienwandel) definieren (D2–18), welchen wir dann als eine Theorien-Evolution bezeichnen, wenn er in seinen einzelnen Stadien aus sukzessiven Verfeinerungen ein und desselben pragmatisch bereicherten Theorie-Netzes besteht (D2–19) (Stegmüller, 1986:113 f.). D2–18: V ist eine Theorienveränderung (oder ein Theorienwandel) genau dann, wenn es ein N und ein 3 gibt, so daß: (1) V = (2) N ist eine endliche Menge von pragmatisch bereicherten Theorie-Netzen (3) ist eine historische Ordnung (4) 8X8X’ (X, X’ 2 N ! B(X) = B(X’)) D 2–19: E ist eine Theorien-Evolution genau dann, wenn es ein N und 3 gibt, so daß gilt: (1) E = ist ein Theorienwandel (2) N ist eine endliche Menge von pragmatisch bereicherten Theorie-Netzen (3) ist eine historische Ordnung (4) 8X 2 N 8 2 jNj: [h 6¼ min(H(N)) ! 9X’ 2 N (h(X’) = h-1 9 2 jN’j, wobei T s T’)] Erläuterung: E ist als eine historische Abfolge von pragmatisch bereicherten Theorie-Netzen bestimmt, wobei jedes Netz (mit Ausnahme des ersten) eine Verfeinerung seines Vorgängers darstellt. D. h. daß jedes Theorie-Element des verfeinerten Netzes (jNj) eine Spezialisierung eines Theorie-Elements des Vorgänger-Netzes (jN’j) darstellt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine notwendigerweise echte Spezialisierung, sondern es soll nur ausgedrückt werden, A

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daß die Kontinuität der Theorien-Evolution sichergestellt wird, so daß bspw. keine gänzlich neuen Theorie-Elemente hinzukommen, die nicht auf denen des Vorgänger-Netzes aufbauen (ebenso bleibt natürlich auch der Basis-Kern K0 über die ganze Theorie hinweg derselbe).

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Kapitel 3 Idealisierte Modelle

3.0 Einleitende Vorbemerkungen Dem Begriff ›Modell‹ werden innerhalb der erfahrungswissenschaftlichen Disziplinen die unterschiedlichsten Semantiken zugeschrieben. 1 Dies führte in der theoretischen Forschungspraxis nicht nur zu einer Mehrdeutigkeit dieses Begriffs (Bunge, 1973:91) 2 , sondern auch zu vieldeutigen Verwendungsweisen in den ihn benützenden Disziplinen. 3 Diese Vieldeutigkeit und damit implizit verbundenen unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs des Modells sollten u. E. jedoch nicht positiv unter einen pluralistischen Modellbegriff subsumiert werden, 4 der in seiner(n) Konzeption(en) und Verwendungsweise(n) als kontingent variabel und mehrdeutig angesehen wird, sondern als eine Entität, die in bezug auf ein bestimmtes Forschungsproblem sowohl präzisiert als auch konkretisiert werden sollte. Unter Rückgriff auf das Thema unserer Arbeit – Machiavelli’s Modelle politischen Handelns und Verhaltens – erachten wir es deshalb als erforderlich, den zu verwendenden Modellbegriff und seine begriffsanalytische Anwendungsweise präzise anzugeben. Eine solche Präzisierung hat jedoch zunächst einmal im Vorfeld den unterschiedlichen Konzeptionen des Modellbegriffs in den Erfahrungswissenschaften Rechnung zu tragen: Zum einen, um die differenten Anschauungen über diesen Begriff expliziter, zum anderen aber auch, um die von uns benützte Version des Modellbegriffs in seiner Angrenzung deutlich zu machen. Siehe dazu bspw. für frühere Feststellungen (Brodbeck, 1959:373), (Klaus, 1967:411 ff.) und (Albert, 1976a:4682). 2 Siehe dazu bspw. die Anmerkungen von (Giesen & Schmid, 1977:82) für die Sozialwissenschaften und (Zoglauer, 1993:137–146) für die Wissenschaftstheorie. 3 Siehe dazu bspw. (Harbordt, 1974:50) und (Mayntz, 1967), die innerhalb der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur vier differente Semantiken und Verwendungsweisen des Begriffs des Modells identifizierten. 4 Wie bspw. von Spinner (1974b) für wissenschaftliche Theorien propagiert. 1

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3.1 Der Modellbegriff – seine Semantiken und einige Anwendungsweisen 3.1.1 Eine erste Annäherung an den Begriff des Modells In einer ersten Annäherung können wir uns unter einem Modell generell ein artifizielles oder ideelles Objekt vorstellen, durch das eine Untersuchungsgröße aus der ›natürlichen‹ 5 oder ›konstruierten‹ 6 Realität projeziert werden kann (Wenturis, 1978:113). Die Projezierung einer Untersuchungsgröße durch ein Modell impliziert so zunächst einmal die Feststellung, daß ein Modell »Etwas« aus der Realität in einer bestimmten, jedoch von diesem »Etwas« abweichenden Form darstellt. Wir können auch sagen, ein Modell bildet ein bestimmtes »Etwas« aus der Realität ab. So bildet bspw. ein Plastikmodell des Sturzkampfbombers Ju 87 eine reales Flugzeug dieses Typs ab, der von der deutschen Luftwaffe während des Zweiten Weltkriegs benutzt wurde. Ein nichtmiltärisches Beispiel ist die Abbildung eines anderen »Etwas« aus der Realität, eine Modellrennstrekke. An diesem letzteren Beispiel kann auch bereits deutlich gemacht werden, daß ein Modell von »Etwas« aus der Realität nicht nur aus modellierten Objekten besteht (Rennwagen und Rennstrecke), sondern auch aus Relationen zwischen diesen Objekten. So werden in diesem Modell »Rennwagen« und »Rennstrecke« abgebildet, aber auch »das Fahren des Rennwagens auf der Rennstrecke« als eine Relation zwischen diesen beiden Objekten. Diesem Begriff des Modells zufolge kann dieses abstrakter als eine zweistellige Relation der Form »M ist ein Modell von S« charakterisiert werden (Troitzsch, 1990:10). Einem Modell können dieser Auffassung zufolge folgende Hauptmerkmale zugeschrieben werden (Harbordt, 1974:51): Abbildung eines Objekts, System, Vereinfachung des Objekts und »Reduktion von Komplexität«. Neben diesen noch ohne weitere Anmerkungen einleuchtenden Beispielen zur Semantik und Verwendungsweise von Modellen sind solche Fälle zu nennen, in denen Objekte oder ein Realitätsausschnitt empirisch nur sehr schwer direkt zugänglich sind und wir einen solDamit soll das gemeint sein, was wir unserem Alltagsverständnis nach als Wirklichkeit verstehen. 6 Unter einer ›konstruierten‹ Realität verstehen wir formale Sprachen wie bspw. die der Logik und Mathematik. 5

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chen nur über die Verwendung von Modellen erzielen können. Ein Beispiel für solche empirisch schwer zugänglichen Objekte stellen bspw. die Referenten von theoretischen Begriffen in der Auffassung der vorstrukturalistischen Wissenschaftstheorie dar, 7 deren Interpretation oftmals nur über die Konstruktion von Modellen erfolgen kann. So bemerkt bspw. (Theobald, 1973:82), daß einer empirischen Naturwissenschaft nur über die Nutzbarmachung von Analogien 8 und Modellen eine kognitive Relevanz zukommen kann; im Falle des theoretischen Begriffs ›Elektron‹ bspw. über das Partikel- bzw. Wellenmodell. Auch innerhalb der Sozialwissenschaften kommt der Verwendung von Modellen eine besondere Bedeutung zu. So kann bspw. das Gedankenexperiment 9 von Max Weber, in dem der Sinn des Handelns der Beteiligten derart gedanklich konstruiert wird, daß ein in sich widerspruchsloses Gedankenexperiment entsteht, das dann zur Messung des empirischen Verhaltens benutzt wird, 10 als ein theoretisches Modell interpretiert werden. 11 Zu beachten ist hier jedoch auch, daß einem solchen Gedankenexperiment nicht immer entsprechende Möglichkeiten der empirischen Kontrolle zugeordnet sind, was die empirische Relevanz eines solchen Modells erheblich einschränkt. Dieser Sichtweise zufolge wäre es dann auch verfehlt, Modelle mit Theorien gleichzusetzen. 12

Siehe zur Problematik von theoretischen Begriffen in der vorstrukturalistischen Wissenschaftstheorie (Dreier, 1993:Kap. 2). 8 Siehe zur Verwendung und Nutzbarmachung von Analogien im Prozeß der Konstruktion empirischer Theorien u. a. bspw. (Hesse, 1963). 9 Siehe zu einer ersten Charakterisierung der Semantik und auch Angabe von Verwendungsweisen von Gedankenexperimenten in den empirischen Wissenschaften die prägnant formulierten, doch kurzgehaltenen Ausführungen von (Spinner, 1969), (Gethmann, 1980) und (Jánoska-Bendl, 1980). Zu formalisierten Gedankenexperimenten siehe (Ziegler, 1972:Kap. 2). 10 Vgl. (Weber, 1982b:333 f.). 11 Siehe für weitere Beispiele von theoretischen Modellen in der Soziologie den von Reimann, Giesen, Gotze & Schmid (1985) verfaßten Sammelband ›Basale Soziologie: Theoretische Modelle‹. In ihm werden ganze Theorien, wie bspw. die Verhaltens- und Lerntheorie, die Handlungstheorie oder die Konflikttheorie als theoretische Modelle aufgefaßt. 12 Eine angenommene mögliche oder approximative Gleichsetzung, die sich auf der Grundlage der strukturalistischen Wissenschaftstheorie klar und eindeutig entscheiden läßt, wie Kapitel 2, aber auch wesentliche Punkte in Kapitel 3 unmißverständlich zeigen: Modelle sind nicht Theorien, sondern eine bestimmtes »Etwas« ist Modell von einer bestimmten Theorie. 7

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»So muß man sich hüten, die Modelle selbst als Theorien anzusehen, etwa als eine Art ›Übertheorie‹, die dann entsprechend glaubt, auf empirische Verifikation verzichten zu können.« (König, 1963:34)

3.1.2 Zu einer Systematik des Modellbegriffs Unter systematischen Gesichtspunkten hat eine metatheoretische Betrachtung zum Begriff des Modells zunächst die Frage zu beantworten, welchen Entitäten wir das Prädikat ›Modell‹ überhaupt zuschreiben können. In 3.1.1 haben wir ein Modell als Substitution einer Untersuchungsgröße bestimmt. Eine solche Untersuchungsgröße kann ein Gegenstand oder eine Theorie (im vorstrukturalistischen Sinne) sein – d. h. eine Klasse von Aussagen. Aus einer systematischen Kombination dieser beiden Modellreferenten ergeben sich vier Modellklassen (Essler, 1971:39): 13 1. Klasse der Strukturmodelle; 2. Klasse der idealisierten Modelle; 3. Klasse der semantischen Modelle; und 4. Klasse der theoretischen Modelle. Betrachten wir zunächst die beiden ersten Klassen von Modellen, über die innerhalb der wissenschaftstheoretischen Diskussion ein weitgehender Konsens besteht. Ein Strukturmodell liegt vor, wenn eine Gegenstandsart Modell einer anderen Gegenstandsart ist. Je nachdem, wie diese Strukturmerkmale beschaffen sind, können wir weiter zwische adäquaten Modellen, verzerrten Modellen und Analogiemodellen unterscheiden. Letztere stellen Strukturzusammenhänge zwischen sich fremden Gegenständen in Form einer Analogie dar. 14 Ein idealisiertes Modell (IM1) 15 liegt vor, wenn eine Klasse von Sätzen (in bezug auf die vorstrukturalistische Wissenschaftstheorie), die etwas über einen Bereich von Dingen aussagt, als Modell dieses Bereichs genommen wird. Ein solches Modell ist dann ein idealisiertes Modell, Siehe für weitere, hier nicht angeführte Modellklassen (Troitzsch, 1990:12–21). Siehe (Essler, 1971:39–41). 15 Wir sprechen hier von einem idealisierten Modell (IM ), weil es nicht vollständig der 1 Auffassung von idealisiertem Modell entspricht, das wir in dieser Arbeit verwenden und welches wir in 3.3 vorstellen werden. 13 14

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»wenn die Strukturierung, die diese Satzklasse beschreibt, nicht in genau dieser Weise in dem Bereich vorfindbar ist, sondern nur, wenn bestimmte vereinfachende und idealisierte Bedingungen als für die Dinge dieses Bereichs zumindest approximativ erfüllt gelten können.« (Essler, 1971:41)

In der Bestimmung der semantischen und theoretischen Modelle bestehen dagegen innerhalb der wissenschaftstheoretischen Diskussion erheblich größere Meinungsverschiedenheiten als bei den Strukturund idealisierten Modellen. So entspricht bspw. das semantische Modell bei Essler (1971) dem mengentheoretischen Modell von Suppes (1957:246 ff., 1961:167 ff.) und das theoretische Modell von Essler (1971) dem semantischen Modell von Achinstein (1968:227 ff.). Beziehen wir uns nur auf die Charakterisierungen von Essler zu semantischen und theoretischen Modellen, so liegt ein semantisches Modell dann vor, wenn eine Gesamtheit von Dingen mit bestimmten Strukturierungen Modell einer Theorie ist. Ein solches Modell kann auf den Begriff der semantischen Interpretation reduziert werden (Essler, 1971:42). Ein theoretisches Modell liegt vor, wenn eine Theorie Modell einer anderen Theorie ist, d. h. wenn die Satzklasse der einen Theorie mit der Satzklasse der anderen Theorie entweder strukturell gleich ist, oder wenn sich die Theorien nur dadurch unterscheiden, indem sie jeweils andere, außerlogische Ausdrücke enthalten (Essler, 1971:44). 16 3.1.3 Zum Gebrauch von Modellen in den Erfahrungswissenschaften unter primär vorstrukturalistischen Gesichtspunkten Abschließend zu diesen allgemeinen Ausführungen zum Modellbegriff werden wir einige Gebrauchsweisen von Modellen in den Erfahrungswissenschaften ansprechen, wobei wir uns primär auf Verwendungsweisen unter vorstrukturalistischen Gesichtspunkten beziehen werden. 17 Als Ausgangspunkt unserer Darstellung soll uns als eine empirisch nur schwer zugängliche Untersuchungsgröße ein konkretes SyZu einer strukturalistisch ausgerichteten Diskussion von Theorien und theoretischen Modellen siehe bspw. (Wójcicki, 1994). 17 Vgl. dazu auch für eine frühere Fassung (Dreier, 1986:195–198). 16

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stem S1 dienen. 18 S1 substituieren wir durch ein System S2, von dem wir mehr zu wissen glauben, d. h. wir betrachten S2 als ein Modell von S1. S2 kann ein formales Modell, d. h. ein Strukturmodell oder ein Prozeßmodell oder ein Realmodell sein (Kammler, 1976:175). 19 Der Unterschied zwischen beiden Modellarten besteht u. a. darin, daß erstere im Gegensatz zu letzteren empirisch widerlegbar sind. Handelt es sich bei S2 um ein Realmodell, so ist anzumerken, daß S2 zwar Hypothesen über S1 liefern kann, d. h. über seine Elemente, seine Struktur, sein ›Verhalten‹ im Zeitablauf usw., jedoch keine Prüfung irgendeiner Hypothese über S1 ersetzen kann. Ein Realmodell kann folglich nicht mit der Entität als identisch angesehen werden, von der es Modell ist. Bedienen wir uns der Terminologie von Bunge, so können Realmodelle auch als ›object models‹ bezeichnet werden (Bunge, 1969:208 ff., 1973:91 ff.) oder, wie es Abel (1979:146) nennt, als »Beschreibungsmodelle«. Ein Beschreibungsmodell stellt nach Bunge eine schematische Präsentation eines konkreten Objekts dar (Bunge, 1969:209) bzw. eine begriffliche Skizze eines Gegenstandes, von dem man annimmt, daß es ihn gäbe (Bunge, 1970:438). So gesehen sind Beschreibungsmodelle Interpretationen ihrer Referenten, wobei sie diese immer nur partial, abstrahiert, idealisiert oder mehr oder weniger konventionell repräsentieren (Bunge, 1968:209). Solche Beschreibungsmodelle, die durch nicht-nomologische Hypothesen (›subsidary hypotheses‹) gebildet werden (Bunge, 1973:106), können durch Hinzufügen einer generellen Theorie zu einem theoretischen Modell ergänzt werden (Bunge, 1968:211). In anderen Worten ausgedrückt: ein theoretisches Modell enthält neben nomologischen Hypothesen noch spezifische, nicht-nomologische Annahmen (Randbedingungen) über den jeweiligen Referenten des Beschreibungsmodells (Abel, 1979:146). 20 Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften kann ein theoretisches Modell bspw. als Konjunktion von nomologischen Hypothesen – Bedürfnis- und Motivationstheorien Als ein konkretes System betrachten wir mit Kammler (1976:175) ein nicht-zufälliges und stofflich-energetisches Wirkungsgefüge in einer bestimmten Raum-Zeit-Region. 19 Siehe eingehender zu Formal- und Realmodellen und ihren Verwendungsmöglichkeiten in der Analyse internationaler Beziehungen (Kammler, 1973:193 ff.). 20 Hempel (1977:168) bestimmt bspw. ein theoretisches Modell als eine Theorie mit einem mehr oder weniger begrenzten Anwendungsbereich. Auch er unterscheidet folglich nicht streng zwischen Theorie und Modell. 18

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– und nicht-nomologischen Annahmen über die Beschaffenheit der relevanten Züge des jeweiligen sozialen und natürlichen Milieus aufgefaßt werden. 21 Da die nicht-nomologischen Annahmen größtenteils idealtypischen Charakters sind, können wir unter Hinzuziehung nomologischer Hypothesen zu einem theoretischen Modell, dessen Anwendung auf eine besondere Situation auch als die Herstellung einer idealtypischen Erklärungsskizze bezeichnen. 22 Sollen theoretische Begriffe (in der Auffassung der vorstrukturalistischen Wissenschaftstheorie) mittels Modellen interpretiert werden, so können wir dazu Realmodelle oder ›object-models‹ im Sinne von Bunge heranziehen. Eine so intendierte Interpretation theoretischer Begriffe kann in diesem Fall jedoch ebenso wie ihre Interpretation mittels Korrespondenzregeln immer nur partiell erfolgen. Interpretationen mittels Modellen weisen auf der Grundlage der Annahmen der vorstrukturalistischen Wissenschaftstheorie u. E. oftmals einen noch höheren Grad an Partialität auf – insofern sich diese Größe überhaupt quantifizieren läßt – da sie in den meisten Fällen über Analogien erfolgt. Dies ist bspw. innerhalb der theoretischen Physik bei Bohrs Atommodell der Fall, das eine Analogie zum Sonnensystem darstellt. 23 D. h. in diesem Modell wird von der Vorstellung ausgegangen, daß die als theoretische Begriffe aufgefaßten Elektronen den Atomkern wie die Planeten unseres Sonnensystems die Sonne umkreisen. Eine ähnliche Sichtweise Bohrs finden wir auch in seiner Interpretation von Molekülbewegungen als einer Kollektion elastischer Billardbälle. Wenden wir uns dieser Interpretation als einem exemplarischen Beispiel dieser Sichtweise etwas eingehender zu. Grundlage der Interpretation von Bohr ist die Annahme einer Theorie (Substanztheorie) als einem zunächst uninterpretiertem Kalkül, wie wir es paradigmatisch im Empiristischen Standardmodell für empirische Theorien vorfinden. Mit Nagel (1974:94) kann die Bohrsche Theorie wie folgt charakterisiert werden: »The Bohr theory of the atom […] assumes that there are atoms, each of which is composed of a relativily heavy nucleus carrying a positive electric charge and a number of negatively charged electrons with smaller mass moving approximately elliptic Vgl. (Albert, 1976c:152 f.). Vgl. zu einer solchen Sichtweise auch (Popper, 1996b[1967]). 23 Siehe zu einer Rekonstruktion des Bohrschen Forschungsprogramms unter strukturalistischen Gesichtspunkten (Zoubek & Lauth, 1992a, 1992b). 21 22

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orbits with the nucleus at one of the foci. […] the theory further assumes that there are only a discrete set of permissible orbits for the electrons, and that the diameters of the orbits are proportional to h2 n2 , where h is Planck’s constant […] and n is an integer. Morever, the electromagnetic energy of an electron in an orbit depends on the diameter of the orbit […].«

Wie Nagel (1974:95) jedoch nach dieser Skizze anführt, hat er nicht die Bohrsche Atomtheorie wiedergegeben, sondern das Bohrsche Atommodell, d. h. eine Interpretation oder ein Modell der Bohrschen Atomtheorie. Das Modell besitzt nicht nur dasselbe Kalkül wie die Theorie, sondern kann als eine Interpretation der Theorie gedeutet werden. Es sollte aber dennoch zwischen dem Modell als einem interpretativen System der Theorie und dem Kalkül unterschieden werden, da prinzipiell mehrere unterschiedlich konzipierte Modelle zur Interpretation der Theorie, d. h. des Kalküls möglich sind. Betrachten wir abschließend zu den möglichen Verwendungsweisen von Modellen zur Interpretation theoretischer Begriffe den des Begriffs der ›Macht‹, wie er von Wenturis (1978:192 ff.) konzipiert wurde. 24 Ihmzufolge ist ›Macht‹ als ein extensiver Parameter modellierbar, indem die Variablen ›Gewalt‹ und ›Herrschaft‹ als raum-zeit-begrenzte Größen auszudrücken sind. Wenturis (1978: 195) argumentiert wie folgt: »Theoretisch kann ›Macht‹ als Eigenschaft von sozio-politischen Systemen mit konstanten und nicht ›zeit-raum‹-begrenzbaren Dimensionen erkannt und dargestellt werden, so daß daraus das empirische Gesetz abgeleitet werden kann, welches – reale, interaktive Ablaufprozesse beschreibend – besagt, daß die durch die systemischen Elemente perzipierte ›Macht‹ größer ist als die durch systemare Relationen und Strukturen vorhandene, tatsächliche Macht, und daß die perzeptive Annahme innerhalb von interaktiven Handlungsabläufen, wonach Individuen Macht besitzen, ›weil von ihnen angenommen wird, daß sie Macht besitzen‹, deshalb entsteht, ›weil bei ihnen beobachtet worden ist, daß sie Macht besitzen‹. Durch dieses empirische Gesetz ist dann nicht nur die theoretische ›Erkenntnisbezogenheit‹ hergestellt, sondern auch die Beschreibung und Analyse realer Prozesse ermöglicht, […],und somit das Falsifikationspostulat für theoretische Aussagen hergestellt.«

Eine Interpretation des theoretischen Begriffs ›Macht‹ kann nun unter Zugrundelegung der bis jetzt erfolgten Explikation von Modellen u. E. wie folgt erreicht werden: Das von Wenturis angeführte empiriSiehe für eine neuere und von uns in dieser Arbeit verwendete Machtkonzeption Kapitel 5.

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sche Gesetz kann als Bestandteil einer Machttheorie betrachtet werden, das durch ein Beschreibungsmodell, in welchem die Variablen ›Gewalt‹ und ›Herrschaft‹ involviert sind, zu einem theoretischen Modell ergänzt werden, das dann, auf konkrete empirische Sachverhalte angewandt, konkretes Verhalten und Handeln von Individuen bzw. relationelle Prozesse innerhalb eines konkreten Systems zu erklären gestattet.

3.2 Zum verwendeten Modellbegriff: Das Modell-Element Der von uns in der Analyse von Machiavelli zu verwendende Begriff des Modells ist der der Strukuralistischen Wissenschaftstheorie 25 und unterscheidet sich von den oben angeführten Modellkonzeptionen zunächst einmal durch folgenden fundamentalen Punkt: das »Etwas«, auf das sich unsere Modelle beziehen, ist kein Realitätssegment, sondern eine Theorie. Legen wir die Modellrelation »x ist ein Modell M von y« zugrunde, so bedeutet dies in unserer Verwendungsweise »Das empirische System x ist ein Modell M von der Theorie y« 26 und nicht »Die Theorie x ist ein Modell M von dem empirischen System y«. In einer so charakterisierten Relation eines Modells für ein empirisches System und eine Theorie (bzw. ein Theorie-Element) ist das Modell M als eine mengentheoretische Struktur definiert. Eine Struktur ist in Erweiterung der Elemente aus D1–2 (Kapitel 1) als Liste in folgender Form darstellbar (Balzer & Sneed, 1995:201):

In dieser Liste sind die Indizes k, m, und n Variablen für natürliche Zahlen, die abhängig von individuellen Strukturen unterschiedliche Werte annehmen können. Es wird nur gefordert, daß k und n immer größer Null sein müssen und m größer/gleich Null (k, n > 0, m  0). D1,…,Dk sind Mengen von Objekten (und zwar nicht-mathematischen), 27 A1,…,Am sind Mengen mathematischer Objekte 28, und Siehe dazu eingehender Kapitel 2. Beziehungsweise genauer: »Die mengentheoretische Struktur des intendierten Systems x ist ein Modell von dem Theorie-Element y.« 27 Diese Mengen werden auch als Basismengen bezeichnet. 28 Diese Mengen werden auch als Hilfsmengen bezeichnet. 25 26

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R1,…,Rn sind Relationen, die zwischen den Objekten aus den Mengen D1,…,Dk und A1,…,Am bestehen. Unter Bezug auf diese Charakterisierung läßt sich dann die Definition einer empirischen Entität x als ein Modell M für (von) eine(r) Theorie (bzw. einem Theorie-Element) y wie folgt bestimmen (Balzer & Sneed, 1995:202, Balzer, 1997:90 ff.), worin der Ausdruck Bi(D1,…,Rn) für i=1,…,s eine Aussage symbolisiert, »die neben logischen, mathematischen und mengentheoretischen Symbolen nur die Zeichen »D1« … »Rn« (eventuell mehrfach) enthält. Unter diesen Aussagen findet man auch die Grundgesetze (Axiome) der jeweiligen Theorie. Ein solches Schema legt die Klasse aller Entitäten fest, die es, für »x« eingesetzt, erfüllen. Diese Klasse ist dann die Klasse aller Modelle von Theorie T [y, d.Verf.], und jede einzelne Entität, die das Schema an Stelle von »x« erfüllt, ist ein Modell von T.« (Balzer & Sneed, 1995:203)

D3–1:

x ist ein Modell (M) der Theorie (bzw. des Theorie-Elements) y genau dann, wenn es D1,…,Dk, A1,…,Am und R1,…,Rn gibt, so daß gilt: x = und 1) B1(D1,…,Dk;A1,…,Am;R1,…,Rn) 2) B2(D1,…,Dk;A1,…,Am;R1,…,Rn) . . . s) Bs(D1,…,Dk;A1,…,Am;R1,…,Rn)

x kann jedoch nach dieser Definition nur dann ein Modell M (ein volles Modell) der Theorie T (y) sein, wenn zu ihrer Beschreibung, d. h. der Struktur, mindestens ein sogenanntes Verknüpfungsgesetz gebraucht wird. Ist dies nicht der Fall, so liegt gemäß der Strukturalistischen Wissenschaftstheorie nur ein potentielles Modell Mp vor. Ein Verknüpfungsgesetz kann im Rahmen obiger Terminologie als ein Satz bestimmt werden, der mindestens zwei der Relationsbegriffe R1,…,Rn wesentlich miteinander verknüpft (Balzer, 1997:94). Darunter ist zu verstehen, daß in diesem Satz mindestens zwei solcher Begriffe vorkommen und er sich nicht adäquat in solche Sätze zerlegen läßt, die jeweils nur einen Relationsbegriff enthalten. In Balzer’s Theorie sozialer Institutionen (Balzer, 1993) können die folgenden 128

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zwei Bedingungen den Charakter von Verknüpfungsgesetzen annehmen: 29 (1) [7]

»Jede von einer Person i ausgeführte Handlung ist charakteristisch für eine der Gruppen, zu denen i gehört.«

(2) [8]

»Wenn Gruppe g’ höheren Status als Gruppe g hat, dann üben die Mitglieder von g’ mehr Macht über die von g aus als umgekehrt. Genauer gilt: a) fast alle Personen i in g’ üben MACHT über Personen j in g aus, und ein großer Teil der Mitglieder von g wird dadurch betroffen b) nur ein kleiner Teil der Personen j in g übt MACHT über Personen i in g’ aus, und nur ein kleiner Teil von g wird davon betroffen.«

Mit diesen angeführten Entitäten – Modelle, potentielle Modelle und Verknüpfungsgesetze – läßt sich der für unsere Analyse von Machiavelli’s politischer Handlungslehre zu verwendende Begriff des Modells in der strukturalistischen Terminologie als ein Modell-Element 30 wie folgt bestimmen (Balzer & Sneed, 1995:204 f.): D3–2:

Ein Modell-Element (ME) besteht aus der Klasse aller (vollen) Modelle M und aus der Klasse aller potentiellen Modelle Mp von einer Theorie (bzw. eines Theorie-Elements) T. Ein Modell-Element ME kann abgekürzt mit ME = angegeben werden. Für ein Modell-Element gelten folgende Bedingungen: 1) M und Mp sind maximale Klassen von Strukturen je eines bestimmten Strukturtyps 2) M wird mit Verknüpfungsgesetzen definiert 3) Mp wird ohne Verknüpfungsgesetzen definiert 4) M  Mp

Erläuterung: Mit Bedingung 1) wird ausgedrückt, »daß jede Struktur passenden Typs, die die richtigen Merkmale hat, auch zur Klasse M bzw. Mp gehört«. Die Bedingungen 2) und 3) charakterisieren die beiden Modellklassen hinsichtlich In der in (Balzer, 1997:95) angeführten Darstellung der Theorie sind dies die Bedingungen 7) und 8). Zu dem in diesen Sätzen angeführtem Machtbegriff vgl. Kapitel 5. 30 Wenn wir im folgenden in dieser Arbeit von Modell sprechen, so gilt es, den hier explizierten Terminus ›Modell-Element‹ immer implizit mitzudenken. 29

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ihrer Definition mit und ohne Verknüpfungsgesetze. Bedingung 4) impliziert die Identität der beiden Strukturtypen von M und Mp.

Nach diesen Überlegungen können wir unsere eingangs angeführte Modellrelation differenzierter wie folgt angeben: »Das empirische System x ist ein Modell-Element ME von der Theorie y.«

3.3 Was ist ein idealisiertes Modell? Nehmen wir Bezug auf unsere in 3.1 ausgeführten Explikationen zum Modellbegriff, so kann jedes Modell einer bestimmten Modellklasse als eine ›Idealisierung‹ der empirisch erfaßbaren Realität (oder einer rein geistlichen Realität) betrachtet werden, da es immer von der empirisch (oder nicht empirisch) erfaßbaren Realität abstrahiert. Eine Überlegung, die u. E. im Begriff des Modells auch schon implizit enthalten ist. Setzen wir diese Betrachtungsweise voraus, so mag sich auf den ersten Blick auch die Frage erübrigen, was ein idealisiertes Modell ist. Für die empirische und metatheoretische Forschungspraxis hat es sich jedoch als fruchtbar erwiesen, auf einer ontologisch bestimmten Attributierung von Modell als einer Idealisierung per se eine Unterscheidung der gebräuchlichen Modelltypen vorzunehmen. Abstrahierend von dieser ontologischen Festsetzung haben wir in 3.1.2 ein idealisiertes Modell mit Essler (1971:41) als ein Modell bestimmt, in dem die Strukturierung, die eine Satzklasse beschreibt, nicht in genau dieser Weise in dem Bereich vorfindbar ist, sondern nur, wenn bestimmte vereinfachende und idealisierte Bedingungen als für die Dinge dieses Bereichs zumindest approximativ erfüllt gelten können. Wir haben eine solche Charakterisierung von idealisiertem Modell mit IM1 denotiert. Für unsere Gebrauchsweise des Terminus ›idealisiertes Modell‹ werden wir uns jedoch in Erweiterung von IM1 auf eine strukturalistisch erweiterte bzw. modifiziertere Fassung von idealisiertem Modell beziehen, welches wir mit IM2 bezeichnen. 31 Dies bedeutet dann für unsere Modellrelation, daß die Vgl. zur Verwendungsweise der Konzeption ›Idealisierung‹ in der strukturalistischen Wissenschaftstheorie eingehender (Balzer & Zoubek, 1994) und (Moulines & Straub, 1994) sowie für eine pragmatische Idealisierung die Fallstudie der Galileischen Idealisierung von Haase (1995, 1996).

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Entitäten des zur Beschreibung anstehenden empirischen Systems teilweise idealisiert sind und folglich auch das Modell ein idealisiertes von einer idealisierten Theorie ist. Für die formale Darstellung eines idealisierten Modells führen wir zwei Mengen ein: eine Menge von realen 32 Objekten U1,…,Ul und eine Menge von idealisierten Objekten 33 U1id,…,Uqid. In 3.2 haben wir eine Struktur (allgemein) als folgende Liste eingeführt:

in der D1,…,Dk Mengen von nicht-mathematischen Objekten darstellen. Ersetzen wir diese Mengen durch die eingeführten Mengen realer und idealisierter Objekte, so erhalten wir folgende modifizierte bzw. differenziertere Liste, die eine Struktur erfüllen muß: 34

In dieser Liste sind die Indizes l und q wiederum Variablen für natürliche Zahlen, die abhängig von individuellen Strukturen unterschiedliche Werte annehmen können. Es wird nur gefordert, daß für ein nicht-idealisiertes Modell l größer Null (l > 0) und q Null ist (q = 0). Für ein idealisiertes Modell (IM2) wird für q zusätzlich gefordert, daß es größer Null ist (q > 0), d. h., daß das Modell idealisierte Objekte beinhalten muß. Auf der Grundlage dieser Überlegungen können die Definitionen eines idealisierten Modells und eines idealisierten Modell-Elements wie folgt angegeben werden: D3–3:

x ist ein idealisiertes Modell (IM2) der idealisierten Theorie (bzw. des idealisierten Theorie-Elements) y genau dann, wenn es U1,…,Ul; U1id,…,Uqid, A1,…,Am und R1,…,Rn gibt, so daß gilt:

Wobei hier immer mitberücksichtigt werden muß, daß ›real‹ nicht im Sinne des Physikalismus im frühen Logischen Positivismus zu verstehen ist, sondern immer theoriegeladen ist und somit von einer theorie-abhängigen Ontologie auszugehen ist. Vgl. dazu (Moulines, 1994). 33 Als Beispiele für Uid können Partikel als Massenpunkte in der Klassischen Partikeli mechanik, Perfekte Information der Wähler in Theorien der rationalen Wahl, vollkommene Märkte in der Mikroökonomie etc. angeführt werden. 34 Inwieweit auch Relationen idealisiert sein können, wollen wir hier nicht erörtern. 32

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x = und 1*) q > 0 sowie 1) B1(U1,…,Ul;U1id,…,Uqid;A1,…,Am;R1,…,Rn) 2) B2(U1,…,Ul;U1id,…,Uqid;A1,…,Am;R1,…,Rn) . . . s) Bs(U1,…,Ul;U1id,…,Uqid;A1,…,Am;R1,…,Rn) D3–4:

Ein idealisiertes Modell-Element (MEid) besteht aus der Klasse aller (vollen) idealisierten Modelle Mid und aus der Klasse aller idealisierten potentiellen Modelle Mpid von einer idealisierten Theorie (bzw. eines idealisierten Theorie-Elements) Tid. Ein idealisiertes Modell-Element MEid kann abgekürzt mit MEid = angegeben werden. Für ein idealisiertes Modell-Element gelten folgende Bedingungen: 1) Mid und Mpid sind maximale Klassen von Strukturen je eines bestimmten Strukturtyps 2) Mid wird mit Verknüpfungsgesetzen definiert 3) Mpid wird ohne Verknüpfungsgesetzen definiert 4) Mid  Mpid

Unsere Modellrelation für ein idealisiertes Modell kann abschließend folgendermaßen formuliert werden: »Das empirische System x ist ein idealisiertes Modell-Element MEid von der idealisierten Theorie y.«

3.4 Bemerkungen zur methodologischen Funktion von idealisierten Modellen in der Theoriekonstruktion und -rekonstruktion Eine empirische Theorie ist idealisiert, wenn sie von Eigenschaften, die für die reale Welt als existent und relevant angenommen werden, abstrahiert. Dieser Sichtweise zufolge sind folglich alle empirischen Theorien Idealisierungen, seien sie nun bspw. physikalischer, sozialwissenschaftlicher oder ideengeschichtlicher Natur. Der Unterschied zwischen empirischen Theorien – unabhängig von ihrer substanzwis132

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senschaftlichen Referenz – besteht nur im Grad der Idealisierung, der in ihnen vorgenommen wird. Betrachten wir die empirische Anwendung idealisierter Theorien, so scheint diese im Bereich bspw. physikalischer Theorien eher erfolgreich zu sein als im Bereich sozialwissenschaftlicher Theorien. Ein Grund für die erfolgreiche Anwendung physikalischer Theorien besteht darin, daß die Eigenschaften, von denen sie abstrahieren, einen sehr viel kleineren Einfluß haben als jene, welche explizit gemacht werden, oder aber, daß Einflüsse der Eigenschaften, von denen abstrahiert wird, durch geeignete experimentelle Verfahren minimiert bzw. eliminiert werden können. Betrachten wir dazu kontrastierend sozialwissenschaftliche (oder ideengeschichtliche) Theorien, so sind diese sehr viel schwieriger empirisch anzuwenden. Eine Sichtweise dieses Defizits sozialwissenschaftlicher Theorien kann darin gesehen werden, daß die Möglichkeiten ihrer empirischen Anwendung von vornherein als ein ergebnisloses Unterfangen zu charakterisieren sind. Einer solchen negativen Sichtweise kann aber auch eine optimistische entgegengestellt werden, derzufolge sich idealisierte Theorien der Sozialwissenschaften konkretisieren lassen, d. h. daß sie über eine Konkretisierung ›realistischer‹ und somit auch empirisch ›anwendbarer‹ gemacht werden können. 35 Unter der Konkretisierung einer idealisierten Theorie ist ihre schrittweise Verbesserung durch Einführung neuer Faktoren und/ oder zunächst vernachlässigter Terme und dementsprechender Anpassung an die theoretischen Annahmen zu verstehen. Mit dieser methodischen Strategie ist der Anspruch verknüpft, daß die theoretischen Anpassungen innerhalb vernünftiger Grenzen gehalten werden, d. h. daß die verbesserte Theorie -bspw. im Rahmen einer rationalen Rekonstruktion – der Originaltheorie sehr ähnlich, im Idealfall sogar gleich ist – abgesehen von Verbesserungen im Hinblick auf Präzision und Klarheit. 36 Siehe zur Konkretisierung idealisierter Theorien in der Ökonomie bspw. (Hamminga & de Marchie, 1994) und für eine strukturalistisch orientierte Diskussion von Idealisierungen (Kuokkanen, 1994) sowie für die Grundzüge einer Konkretisierung (Nowak, 1980) und einer spezifischen Anwendung auf ökonomische Theorien (Nowak, 1989). Für die Diskussion von Idealisierungen in den empirischen Wissenschaften siehe ergänzend zu der angeführten Literatur auch (Brzezin´ski et.al., 1990a, 1990b), (Brzezin´ski & Nowak, 1992), (Dilworth, 1992) und (Nowakowa, 1994). 36 Siehe dazu bspw. aus dem Bereich der Sozialwissenschaften die Präzisierungen der Ökönomischen Theorie der Demokratie von Anthony Downs in (Balzer & Dreier, 1995, 1996). 35

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Unabhängig davon, ob wir Idealisierungen im Hinblick auf die Rekonstruktion einer vorliegenden Theorie oder im Hinblick auf die Konstruktion einer Theorie vornehmen, ist die zu verfolgende Strategie dieselbe: Zunächst beginnen wir mit einer sehr idealisierten, sehr allgemeinen und abstrakten Theorie, welche wir im Rahmen eines Prozesses der Konkretisierung und Differenzierung sukzessive verbessern und verfeineren. Ein Blick auf erfolgreiche physikalische Theorien wie bspw. die der Mechanik, Quantenmechanik oder Thermodynamik zeigt uns, daß diese Theorien in ihrer Entwicklung einem ähnlichen, wie oben angeführten Muster folgen, in welchem jedoch Konkretisierungen durch Spezialisierungen ersetzt werden. Der Hauptunterschied zwischen Konkretisierungen und Spezialisierungen besteht darin, daß nach Spezialisierungen die Originaltheorie weiterhin verwendet werden kann, nach Konkretisierungen jedoch der Stellenwert der Originaltheorie in Zweifel gezogen werden muß. 37 Warum, so können wir nun die Frage stellen, werden in sozialwissenschaftlichen Theorien solche Konkretisierungen nicht vorgenommen. Eine mögliche Antwort könnte die sein, daß sozialwissenschaftliche Theorien zu unvollständig sind – zu unvollständig in dem Sinn, daß sie zuwenig der in Wirklichkeit relevanten Faktoren beinhalten. Aus diesem Grund wird auch argumentiert, daß theoretische Modelle zu weit von einem adäquaten Bild der zu modellierenden Realität entfernt seien, daß sie nur Karikaturen seien, die mit jeder Neuaufnahme eines Faktors vollständig zu reformulieren seien. Aus unserer Sichtweise existieren zwei verschiedene Möglichkeiten, nach denen Vollständigkeit erreicht werden könnte. Die erste Möglichkeit besteht darin, alle diejenigen Faktoren, von denen wir annehmen, daß sie in der Realität auftreten, explizit in die Theorie aufzunehmen. Sehr komplexe empirische Systeme sind dieser Möglichkeit zufolge dann auch durch sehr komplexe Theorien zu modellieren. Die zweite Möglichkeit besteht darin, sehr allgemeine und theoretische Terme zu verwenden, welche ganze Bündel von als relevant erachteten Faktoren einschließen bzw. abdecken. Das bedeutet, daß die Theorie zwar auf einer sehr hohen Abstraktionsstufe formuliert wird, jedoch in dem Sinn vollständig ist, als daß alle wirklich relevanten Faktoren in einem der theoretischen Terme enthalten Siehe dazu bspw. (Balzer, Moulines & Sneed, 1987), Kap. 4 und 5. sowie unsere Ausführungen im nächsten Punkt dieses Kapitels

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sind. Unvollständig ist eine Theorie nach dieser Möglichkeit nur dahingehend, daß nicht alle wirklich relevanten Faktoren explizit repräsentiert sind. Sie sind jedoch soweit implizit präsent, als daß ihre Einführung durch eine technisch präzise Verbesserung der theoretischen Terme erzielt werden kann, und dies unter Beibehaltung aller oder der meisten Grundannahmen der Theorie. Wir denken, daß die zuletzt genannte Möglichkeit zur Erzielung von Vollständigkeit einen gangbaren Weg sowohl zur Rekonstruktion – wie im vorliegenden Fall der politischen Handlungslehre Machiavellis – als auch zur Konstruktion von Theorien in den Sozialwissenschaften darstellt. Daß eine solche Annahme nicht unbegründet ist, kann exemplarisch am Beispiel der Entwicklung der allgemeinen Gleichgewichtstheorie in der Ökonomie exemplifiziert werden. In dieser Theorie werden, ausgehend von Debreu’s abstrakten, allgemeinen Modell 38 , durch sukzessiv erfolgende Spezialisierungen neue Faktoren eingeführt, welche in der realen ökonomischen Welt das ideale ökonomische Gleichgewicht stören, wie bspw. öffentliche Unternehmen, Steuern usw. 39 Verfolgen wir diese beschriebene Strategie bei der Rekonstruktion der Modelle politischen Handelns und Verhaltens bei Machiavelli, so besteht unsere Aufgabe zunächst einmal in der Formulierung eines idealisierten Basis-Modells für Machiavelli’s Handlungslehre. Dieses Basis-Modell hat alle jene Faktoren implizit zu beinhalten, die wir im Zusammenhang mit Machiavelli’s angeführten politischen Handlungen als relevant betrachten. Ausgehend von einem solchen Modell können dann in weiteren Schritten durch Konkretisierungen dieses Modells verschiedene Handlungstypen, konkrete Handlungen und Handlungsregeln sukzessive modelliert (bzw. rekonstruiert) werden.

(Debreu, 1959). Siehe zu einem ersten Ansatz der Histographie dieser Entwicklung (Ingrao & Israel, 1990) und für systematische Beispiele (Hildenbrand & MasCollel, 1986).

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III. Politisches Handeln und Macht

Kapitel 4 Politisches Handeln 1 4.0 Einleitende Vorbemerkungen Der Begriff ›Handlung‹ besitzt innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis einen exponierten Status: Zum einen, weil das, was wir mit dem Ausdruck ›Handeln‹ bezeichnen, fast alles ›Menschliche‹ berührt (Lenk, 1975a:87) 2 , und zum anderen, weil ›Handlungen‹ darüber hinaus sowohl das Material bilden, aus dem sozio-politische Systeme aufgebaut sind, als auch ihre Eigenschaften und Beziehungen die Struktur solcher Systeme primär bestimmen (Balzer, 1993:89). Der Begriff der ›Handlung‹ stellt einen wesentlichen, wenn nicht den wichtigsten Grundbegriff der sozialwissenschaftlichen Disziplinen dar. Trotz der omnipotenten Bedeutung des Begriffs der ›Handlung‹ für die sozialwissenschaftliche Forschungspraxis konnte jedoch bis heute noch keine einheitliche sozialwissenschaftliche Handlungstheorie vorgelegt werden, die sowohl präzise formuliert als auch mit empirischen Daten konfrontierbar ist, geschweige denn, schon auf elementarer Stufe überhaupt erst ein intraund/oder interdisziplinärer Konsens darüber erzielt werden, was eine ›Handlung‹ überhaupt ist. 3 Das, was wir umgangssprachlich als Handlungen bezeichnen, Grundlegende Aspekte dieses Kapitels wurden erstmals in (Dreier, 1996b) und (Dreier, 1998d) präsentiert. 2 Einige Sozial- bzw. Kulturwissenschaftler wie bspw. Gehlen (1958) oder Schütz (1972a) gehen sogar soweit, den Menschen explizit als ›handelndes Wesen‹ zu definieren. 3 In der Diskussion über die Frage, ob wir überhaupt einen einheitlichen Begriff der ›Handlung‹ benötigen siehe (Dreier, 1998e). 1

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betrifft einen hochkomplexen Sachverhalt, der, legen wir die Variable Zeit zugrunde, zumeist nur sehr kurzfristiger Natur ist. Kaum haben wir eine Entität als Handlung identifiziert, so ist sie zumeist auch schon nicht mehr existent und erschwert uns die Identifizierung der für sie relevanten Variablen. Auch wenn wir Handlungen rückwirkend beschreiben und erklären, so sind wir ebenso größtenteils nicht in der Lage, die für sie verantwortlichen Variablen präzise zu rekonstruieren. Jede Handlungstheorie, die sich die Aufgabe gestellt hat, Handlungen zu beschreiben und zu erklären, steht vor diesem Dilemma. Eine Möglichkeit, diesem Dilemma zumindest partiell zu entkommen, besteht in der Konzeption von verschiedenen Handlungsmustern, die dann zur Beschreibung und Erklärung realer Handlungen angewendet werden. Letztendlich stehen wir jedoch auch hier vor dem Problem der empirischen Identifizierung der für diese Handlung relevanten Variablen bzw. Merkmalsausprägungen, um sie einem bestimmten vorkonzipierten Handlungsmuster exakt zuordnen zu können. Daß wir trotzdem in der theoretischen und empirischen Forschung nicht auf den Handlungsbegriff verzichten können, liegt in der emminent wichtigen Bedeutung dieser Entität zur Rekonstruktion sozio-politischer Wirklichkeit begründet. Daß wir diese mittels Handlungen als auch mittels anderer Konzepte nur segmenthaft und unvollständig erfassen können, ist zumindest seit den Erkenntnissen von Popper (1982) jedoch kein Grund, empirische Wissenschaften für obsolet zu erklären, sondern nur die Erkenntnis der Tatsache, daß unser Wissen über die sozio-politische Welt und damit implizit auch über die Entitäten, die wir mit dem Begriff ›Handlung‹ bzw. spezifizierter mit ›politische Handlung‹ attributieren, immer unvollständig und bruchstückhaft bleiben wird (Rescher, 1985b:69 f.). Als Konsequenz aus dieser Feststellung können wir deshalb auch festhalten, daß die wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung von Handlungen generell und der Prozeß ihrer Rekonstruktion (wie bspw. bei Machiavelli) speziell, unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten betrachtet, nie vollständig sein kann.

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Politisches Handeln

4.1 Zum begriffstheoretischen Status der Entitt ›Handlung‹ 4.1.1 Der Begriff der Handlung, seine Semantiken und Problembereiche aus analytischer Sicht Wir möchten zunächst mit dem Versuch beginnen, auf die scheinbar einfache Frage »Was ist eine Handlung?« eine Antwort zu finden. Einer weitverbreiteten Auffassung zufolge, kann unter ›Handeln‹ allgemein »die Transformation einer Situation in eine andere« verstanden werden (v.Kempski, 1964:297). Beschränken wir uns jedoch nur auf diese Feststellung, so wäre bspw. auch eine chemische Reaktion oder ein Erdbeben eine Handlung. Eine derartige Bestimmung von ›Handlung‹ führt jedoch zweifellos zu weit, involviert sie doch alle kinematischen Prozesse in unserer Welt. Sie kann nur ein Element von Handlungen darstellen, muß jedoch um weitere Elemente ergänzt werden. Eine erweiterte und damit auch konkretere Definition von ›Handlung‹ lautet dann etwa so: »Eine Handlung ist die Umsetzung eines gewollten (oder gesollten) Zweckes in die Realität im Gegensatz zur Herstellung eines Werkes, doch schließt Handeln im weiteren Sinn häufig auch Herstellung mit ein.« (Derbolav, 1974:992)

Dieser Definition zufolge besteht das Ergebnis einer Handlung in einer Tat, so daß wir darauf aufbauend eine Tätigkeit als eine Abfolge von Handlungen bestimmen können. Formulieren wir diese Festellung allgemeiner, so könnte sie wie folgt lauten: »Tätigkeit ist jede reflektierte, planmäßige und zielstrebige Aktivität überhaupt, im Gegensatz zum bloßen Naturgeschehen.« (Derbolav, 1974:992)

Eine ähnliche Definition finden wir bei Eisler (1927a:620), sie lautet wie folgt: »Handlung ist eine zweckvolle Betätigung, die Verwirklichung einer triebhaften oder willkürmäßigen Willensintention eines (personalen) Wesens. Sie besteht in einer Reihe von Phasen und Momenten, die psychologisch als Gefühle, Vorstellungen, Spannungsempfindungen sich darstellen.«

Beide angeführten Definitionen sind philosophischen Charakters und können zusammengefaßt in einer etwas moderneren Formulierungsweise folgendermaßen ausgedrückt werden:

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Politisches Handeln und Macht

»Eine Handlung ist eine konkrete Tätigkeit einer Person, die unmittelbar durch die Absichten dieser Person verursacht wurde. Handeln ist somit ein bewußtes Verhalten, das zielgerichtet, willentlich oder willkürlich sein kann.« (Lumer, 1990a:499)

Bleiben wir bei einer solchen Definition von ›Handlung‹ stehen, so haben wir zwar zweifellos eine geeignete Formulierung dieser Entität unter umgangssprachlichen Gesichtspunkten gefunden, doch es ist kritisch zu fragen, inwieweit eine solche Definition bspw. für die sozialwissenschaftliche Forschungspraxis von Nutzen sein kann. Diese Frage ist negativ zu beantworten, ist doch eine solche Definition theoretisch unbrauchbar bzw. fruchtlos. Denn erst im Rahmen einer entsprechenden Theorie zeigt sich die Fruchtbarkeit einer Explikation des Begriffs ›Handlung‹, und zwar erst in den intertheoretischen Relationen zu anderen theoriekonstitutiven Konzepten und auf der Folie spezifischer ontologischer Grundannahmen. Mit dieser Feststellung ist auch deutlich gemacht, daß die Entität, die wir mit dem Begriff ›Handlung‹ attributieren, keine empirische Größe im engeren Sinne darstellt, sondern eine theoretische. Fassen wir den Begriff der ›Handlung‹ demnach als einen theoretischen Begriff auf, so bedeutet dies, wenn wir die vorstrukturalistische Wissenschaftstheorie als metatheoretische Grundlage nehmen (Dreier, 1993:57 ff.), daß der Begriff ›Handlung‹ eine nicht direkt beobachtbare Entität bezeichnet, die nur partiell mittels empirischer Begriffe interpretiert werden kann. Dabei ist anzumerken, daß die Semantik des theoretischen Begriffs ›Handlung‹ nicht im Sinne unserer eingangs gestellten »Was-ist«-Frage, d. h. in der Form »Was ist eine Handlung?« beantwortet werden kann, sondern nur über ihre methodologische Funktion innerhalb einer bestimmten Theorie. Daß eine solche Bestimmung der Semantik des theoretischen Begriffs ›Handlung‹ nicht unbegründet ist, kann allein schon aus der Tatsache deduziert werden, daß gleichlautenden theoretischen Begriffen, wie in unserem Fall der der Handlung, in unterschiedlichen Theorien eine jeweils unterschiedliche Semantik zukommt. Damit kann zumindest von einer wissenschaftstheoretischen Position her die Tatsache erklärt werden, daß der Begriff der Handlung in den verschiedenen, später noch aufzuführenden Handlungstheorien unterschiedlich verwendet wird, d. h. daß innerhalb einer Disziplin und/ oder zwischen den Disziplinen schwerlich ein Konsens über die Semantik der Entität ›Handlung‹ gefunden werden kann. Jede Definition der Entität ›Handlung‹ oder präziser aus140

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gedrückt, jede semantische Bestimmung der Entität ›Handlung‹ im Rahmen einer bestimmten Handlungstheorie rekurriert auf folgende Problembereiche bzw. Fragekomplexe (Lumer, 1990a: 499 ff.): 1. Frage nach der Existenz einer inneren Seite von Handlungen und deren möglichen Elementen; 2. Frage nach den notwendigen inneren Momenten von Handlungen; 3. Frage nach den Elementen der Ausführungsseite einer Handlung; 4. Frage nach der Kausalität von Handlungen; 5. Frage nach der Rationalität von Handlungen; und 6. Frage nach der methodischen Erfassung von Handlungen, d. h. ›Verstehen‹ und /oder Erklären von Handlungen. 4.1.2 Existiert eine innere Seite von Handlungen, und wenn ja, welche? Die Frage nach der Existenz einer inneren Seite von Handlungen wird von dem auf Skinner (1953,1974) zurückgehenden neo-behavioristischen Handlungsansatz verneint. In seinem ›Verhaltensmodell des operanten Konditionierens‹, das, verkürzt formuliert, Verhalten auf ein ›Reiz-Reaktions-Schema‹ reduziert, werden ausschließlich direkt beobachtbare Entitäten als wissenschaftlich zugängig deklariert und innerpsychische Prozesse, da nicht beobachtbar, als wissenschaftlich unzugänglich bestimmt. Skinners Ansatz ist methodologisch durch einen strikten Operationalismus bestimmt, wie ihn bspw. am pointiertesten Bridgman (1932,1936) formuliert hat. Innerhalb der soziologischen Theorien sozialen Handelns wird dieser Ansatz bspw. von Homans (1967,1968) vertreten. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht gilt dieser methodologische Ansatz jedoch als gescheitert bzw. zu reduziert, da er theoretische Begriffe, und dies sind hier in unserem Fall Konzepte zur Erfassung innerpsychischer Vorgänge, nicht nur nicht mittels rein operationaler Definitionen erfaßt, sondern von vornherein als wissenschaftlich nicht zugänglich erklärt. Neben diesem Defizit wissenschaftstheoretischer Natur kann in bezug auf Handlungen auch die inhaltliche Kritik angebracht werden, daß bspw. mittels gleicher Verhaltensformen unterschiedliche Handlungen durchgeführt werden können oder eine Handlung sowohl absichtlich als auch unabsichtlich durchgeführt werden kann A

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(bewußtes Ausfüllen eines Kaufvertrags und absichtsloses Unterschreiben mit dem Namen), beides Möglichkeiten, die von Skinners Modell nicht erfaßbar sind. Zweifellos spielen deshalb innerpsychische Vorgänge, also innere Momente, für Handlungen eine wesentliche Rolle (Rescher, 1985a:6), welche, und das zeigt uns die Kognitionspsychologie, mit wissenschaftlichen Methoden auch erfaßt werden können. 4.1.3 Welche inneren Momente sind für Handlungen konstitutiv? Nehmen wir die Existenz von innerpsychischen Prozessen für Handlungen an, so ist daran die Frage anzuschließen, welche Elemente solcher innerpsychischen Prozesse für Handlungen konstitutiv sind. Eine Liste solcher innerpsychischen Prozesse könnte folgende Elemente für Handlungen beinhalten: Ziele, Absichten, Willensakte, Bewertungen von Handlungen. Folgen wir Lumer (1990a:500), so können wir Absichten und Bewertungen von Handlungsplänen als notwendig für Handlungen ansehen, Ziele für nur bedingt notwendig und Willensakte für nicht notwendig, da sie keinen eindeutig identifizierbaren, empirischen Referenten besitzen. Orientieren wir uns an dieser Feststellung, so ist eine Handlung durch den innerpsychischen Prozeß der Absicht wie folgt determiniert (Lumer, 1990a:500): »Eine Handlung ist immer an die Auswahl einer der möglichen Handlungsalternativen gebunden. Eine Wahl besteht so darin, über eine Menge von einem zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen ein Urteil zu fällen in bezug darauf, welche dieser Alternativen ausgeführt werden soll. Ein derart angestellter intellektueller Prozeß (der zu einer bestimmten Wahl führt) kann als abgeschlossene Handlungsüberlegung bestimmt werden. Urteil, Annahmen über die Handlungsalternativen und die Begründung(en) dieser Urteile bilden die Absicht«.

Was aber können nun die Gründe für eine Absicht sein, etwas Bestimmtes zu tun? Diese Frage wird je nach erkenntnistheoretischem Standpunkt unterschiedlich zu beantworten versucht. Der empirische Normativismus und die Theorie des Regelhandelns (Habermas, 1984a) gehen davon aus, daß eine Person so und nicht anders handelt, weil sie glaubt, daß die von ihr gewählte Handlungsalternative die ist, die geboten ist, also mit ihr eine sozial vorgegebene Regel befolgt wird. Dieser Ansatz verkennt jedoch, daß nicht für jede Entscheidung 142

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Normen und Regeln formuliert werden bzw. wurden. Damit werden bspw. motivationale Antriebe für Handlungen ausgeblendet. Ein auf Aristoteles zurückgehender Ansatz, die sogenannte ›Wollen-1-Wollen-2-Theorie‹ besagt, daß Handeln zwei Mechanismen involviert: Zum einen Begierde und Neigung, und zum anderen Vernunft, gerichtet auf das objektiv Gute. Doch auch in diesem Ansatz wird das motivationsorientierte Moment einer Handlung ausgeblendet. Denn der erste Mechanismus entspricht nur einem Handeln aus Bedürfnissen (Maslow, 1981), und der zweite beinhaltet durch seine Bezogenheit auf Vernunft keinen Grund, warum sich jemand für die eine und nicht für eine andere Handlung entscheidet. Die empirische Entscheidungstheorie schließlich, wie sie bspw. von Heckhausen (1989) vertreten wird, identifiziert den Grund für die Absicht, eine bestimmte Handlung durchzuführen, in ihrer Bewertung durch den Handelnden als optimalste im Vergleich zur Menge anderer Handlungsalternativen. Mit einer solchen Bestimmung des innerpsychischen Prozesses der Absicht für die Entscheidung einer bestimmten Handlungsalternative läßt sich auch eine Brücke zur rationalen Entscheidungstheorie schlagen, wobei bei dieser noch die Zielbestimmung als ein weiteres innerpsychisches Moment in die Handlungsbeschreibung eingeführt wird. Es ist aber sicherlich eine zu enge Bestimmung von Handlung, wenn wir Ziele als notwendige konstitutive Elemente jeder Handlung annehmen würden, denn nicht jedes Handeln muß zielgerichtet sein. 4.1.4 Aus welchen personalbezogenen Prozessen besteht eine Handlung? Nach dem Aspekt der inneren Momente von Handlungen, das heißt der für Handlungen notwendig erachteten innerpsychischen Momente, ist nun die Frage anzuschließen, welche Entitäten wir als Handlungen bezeichnen können. Oder anders gefragt, welche Entitäten determinieren eine Handlungsausführung? Zunächst können wir dazu festhalten, daß eine Handlung das ist, was wahrnehmbar ist, also Verhalten, eine Tat. Ebenso ist aber auch zu fragen, ob die Ausführung innerpsychischer Prozesse, wie bspw. Nachdenken oder kognitives Problemlösen, als Handlungen bezeichnet werden können. Diese Frage können wir unter theoretischen Gesichtspunkten mit Ja beantworten, da auch solche Prozesse durch die Wahl von AlternatiA

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ven verursacht werden können. Eine Handlung besitzt dieser Auffassung zufolge sowohl eine innere als auch eine äußere Seite, wobei sich mit der inneren Seite insbesondere die psychologischen Kognitionstheorien befassen. Damit ist die Ausführungsseite von Handlungen jedoch nur intensional bestimmt und es ist weiter zu fragen, wie sie extensional gefaßt werden kann. Innerhalb der analytischen Handlungstheorie wird bezüglich dieser Frage von drei verschiedenen Positionen aus argumentiert: Der elementaren Position zufolge wird bereits die Aktivität einzelner Muskeln als eigenständige Handlung bezeichnet. Nach der komplexen Position zufolge wird eine flexible Unterscheidung zwischen einer Handlung und ihren Folgen getroffen, d. h. was in einer Betrachtungsweise zu einer Handlung gerechnet wird, kann von einer anderen Betrachtungsweise aus zu den Folgen einer Handlung gerechnet werden. Nach der mittleren Position schließlich werden äußere Handlungen als diejenigen kontrollierten (komplexen) Körperaktivitäten angesehen, die dem angestrebten Ziel am nächsten sind. Als vermittelndes Ergebnis dieser drei Positionen läßt sich festhalten, daß es aus analytischen Gründen angemessen ist, zwischen einer Handlung und ihren Folgen zu unterscheiden, wobei die Grenze zwischen einer Handlung und ihren Folgen darin bestehen kann, daß wir sagen: Eine Handlung wird von den Absichten unmittelbar bewirkt, ihre Folgen dagegen nur mittelbar. Implizit führt uns diese Feststellung dann auch zur der Frage, inwieweit Handlungen überhaupt als kausal determiniert aufzufassen sind. 4.1.5 Sind Handlungen kausal determinierbar? Der Wissenschaftsphilosoph Mackie (1974) bestimmt als grundlegende Beziehung zwischen Ereignissen die von Ursache4 und Wirkung, die Kausalrelation; sie bildet nach seiner Ansicht und Analyse den »Zement des Universums«. Fassen wir Handlungen als eine Teilmenge bzw. als Spezialfälle aller möglichen und tatsächlichen Ereignisse auf, so trifft diese Behauptung Mackies auch auf Handlungen zu. Wie uns die alltags- und sozialwissenschaftliche Forschungspraxis zeigt, ist diese Zuschreibung von Kausalrelationen für HandlunVgl. u. a. zu dem Begriff der Ursache (und Wirkung) (Scheibe, 1969) und unter philosophischen Gesichtspunkten (Erbrich, 1988).

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gen, zunächst einmal unreflektiert und naiv betrachtet, auch nicht von der Hand zu weisen. Kausalität spielt sowohl in unserem täglichen Leben als auch in vielen sozialwissenschaftlichen Theorien eine gewichtige Rolle, leitet und bestärkt sie doch die Individuen in ihren Handlungen. Wenn eine Person bspw. glaubt, daß ihre Handlung einen bestimmten, erwünschten Zustand verursacht, dann wird sie diese Handlung mit großer Wahrscheinlichkeit ausführen. Wenn sie jedoch umgekehrt glaubt, daß eine andere Handlung einen mit dem erwünschten Zustand unverträglichen Zustand verursacht, dann wird sie diese andere Handlung nicht ausführen. 5 Es ist gerade die Wahrnehmung solcher Kausalrelationen und auch die Überzeugung, daß solche existieren, eine Ursache dafür, daß Handlungen überhaupt ausgeführt werden. Bei dieser so angesprochenen Form von Kausalität als einer individuellen Überzeugung, derzufolge eine Handlung einen bestimmten Zustand verursacht, ist jedoch darauf hinzuweisen, daß eine solche individuenbezogene Kausalitätsrelation nicht mit der »wirklichen« Kausalrelation in der Welt übereinstimmen muß. Wie kommt nun jedoch ein Individuum zu der Überzeugung, daß eine bestimmte Handlung ein bestimmtes Ereignis bzw. einen bestimmten Zustand erwirkt bzw. kausal hervorbringt? Zwei Charakteristika von Handlungen sind zu einer Beantwortung dieser Frage anzugeben. Die erste betrifft die innere Struktur von Handlungen. Derzufolge sind Handlungen als nicht-zufällig und somit als regelmäßig anzusehen. Regelmäßig sind sie, weil sie wiederholbar sind, wobei diese Wiederholbarkeit der Handlung von einem Schema erzeugt wird, das der Handelnde zuvor in sich, wie auch immer, aufgebaut hat und in vielen Situationen anwendet, um eine entsprechende Handlung zu erzeugen (Aebli, 1993:83 ff.). Das zweite Charakteristikum einer Handlung besteht in deren Zielgerichtetheit, d. h. ein Individuum will mit einer Handlung immer auch etwas erreichen. Es läßt sich schlußfolgern, daß eine Handlung aus einem Ziel und einem anwendbaren Schema besteht, das in irgendeiner Weise zur Erreichung des Ziels beiträgt. Dem Ziel einer Handlung und der Zielrealisierung einer Handlung durch das Handeln selbst liegt zumindest in den meisten Fällen

Wobei anzumerken ist, daß wir mit diesen beiden Beispielen auch schon implizit das einer Handlung zugrundeliegende Moment der Entscheidung eingeführt haben.

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eine Absicht zugrunde, d. h. eine Handlung ist motiviert und/oder intendiert. Da sowohl die Beschreibung von Handlungen als auch die von Ereignissen in einer Sprache erfolgt und ein und dieselbe Handlung bzw. ein und dasselbe Ereignis sprachlich unterschiedlich formuliert werden können, erweist es sich als zweckmäßig, Handlungen und Ereignisse durch nicht-satzartige Entitäten darzustellen, etwa durch Propositionen. 6 Eine Proposition ist dabei als eine Klasse von Sätzen mit gleicher Bedeutung aufzufassen (Balzer, 1993:92). Bezeichnen wir ein Individuum mit a, Propositionen mit p, wobei p’ eine von p verschiedene Proposition bezeichnet, und Zeitpunkte mit t, wobei ein Zeitpunkt t’ später als t ist, so können die drei angeführten Basis-Relationen von individuellen Handlungen wie folgt verkürzt und formal angegeben werden: 7 1. Intentionsrelation (R4–1): ›a intendiert zum Zeitpunkt t p zu tun‹ bzw. INTEND(a,p,t) 2. Individuelle Kausalrelation (R4–2): ›p’ verursacht nach Überzeugung von a p‹ bzw. GLAUBT(a[VER(p’,p)]) 3. Realisierungsrelation (R4–3): ›a realisiert p’ zum Zeitpunkt t’‹ bzw. REAL(a,p’,t’) Nehmen wir diese drei Relationen, die wir als minimale Bestandteile zur Charakterisierung einer Handlung betrachten, zur Grundlage der Analyse von Kausalitätsproblemen bezüglich der Klärung von Handlungen, so impliziert dies u. E. nach u. a. zwei Fragestellungen: 8 Vgl. zur Beschreibung von Handlungen durch Propositionen einführend Jeffrey (1967: Kap. 4) und Balzer (1993: 92 ff.) sowie ferner zu Propositionen im allgemeinen Bunge (1983: Kap. 4). Zu einer ausführlicheren Darstellung von Propositionen zur Beschreibung von Handlungen siehe Punkt 4.4 in diesem Kapitel. 7 Nach Balzer (1990, 1992a, 1993). 8 Als weitere Fragestellungen sind hier bspw. die folgenden zwei anzuführen: erstens, ob Handlungen deterministisch oder indeterministisch sind oder aber eine Mittelstellung einnehmen, d.h die Klärung der Frage, ob die Absicht das sichtbare Verhalten verursacht. Diese Problematik wird insbesondere im Kontext des ›Leib-Seele Problems‹ 6

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1.

2.

Ist der innerpsychische Prozeß der Intention oder Motivation eine Ursache für die Durchführung einer Handlung? bzw. anders formuliert: kann eine durchgeführte Handlung kausal auf die ihr zugrundeliegende Intention oder Motivation zurückgeführt werden? Wie ist die individuelle Kausalrelation unter empirischen und theoretischen Überlegungen zu beurteilen? bzw. anders formuliert: Läßt sich das Ergebnis einer Handlung vollständig kausal erklären?

Um diese beiden Fragen adäquat beantworten zu können, erfordert es zunächst eine synchrone Analyse der Entität ›Kausalität‹ und der mit ihr verbundenen Problembereiche von einem allgemeinen wissenschaftstheoretischen und -philosophischen Standpunkt aus. 9 4.1.5.1 Zum Problem der Kausalität. Eine wissenschaftstheoretische und -philosophische Betrachtung Die wissenschaftstheoretische Analyse des Begriffs ›Kausalität‹ involviert nach Stegmüller (1983:505) im Wesentlichen die Klärung von vier mit ihr explizit oder implizit verbundenen Bestandteilen bzw. Problembereichen: 10 1. Was bedeutet die Redewendung ›ist kausal verursacht‹ ? bzw. was ist überhaupt die Bedeutung von ›Ursache‹ und ›Wirkung‹ ? 2. Was ist unter einem ›Kausalgesetz‹ zu verstehen? bzw. allgemeiner und damit verbunden, was ist überhaupt ein empirisches Gesetz?

diskutiert; vgl. dazu für eine erste Orientierung (Bunge, 1984); zweitens, und an erstens anknüpfend, ob Handlungen frei gewählt werden können; vgl. dazu zu einer ersten Orientierung (Pothast, 1978) und (Watson, 1982). 9 Zu einer diachronen Analyse des Kausalitätsbegriffs und seiner Problembereiche vgl. bspw. (Bunge, 1987). 10 Wir beziehen uns bei der Explikation des Begriffs der Kausalität und der mit diesem verbundenen Problembereiche auf die ›klassische‹ Argumentationsstruktur der analytischen Wissenschaftstheorie. Auf neuere Konzeptionen zum Kausalitätsbegriff wie bspw. der von Suppes (1970b), der eine probabilistische Kausalitätstheorie vorlegte oder die Idee von Kausalität, derzufolge von einer Ursache nur dann gesprochen werden kann, wenn eine Verzweigung des Ereignisverlaufs möglich ist (Hart, 1973), werden wir hier nicht eingehen. Für neuere Arbeiten zum Kausalitätsbegriff sei darüber hinaus auf den Sammelband von Posch (1981) verwiesen. A

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3. 4.

Was ist und beinhaltet eine kausale Erklärung? Wie läßt sich ein Kausalprinzip formulieren?

Bei der Analyse dieser Problembereiche erscheint es angebracht, zunächst den Begriff des Kausalgesetzes zu erörtern, um auf dessen Explikation dann in sukzessiver Reihenfolge die Begriffe der kausalen Erklärung, der Ursache und des Kausalprinzips zu präzisieren. 11 4.1.5.1.1 Zum Begriff des Kausalgesetzes Im Rahmen einer Bedeutungsanalyse können zwei Typen von Kausalgesetzen auftreten: deterministisch-sukzessive und deterministisch-statistische Kausalgesetze. Mit dem Etikett ›Sukzession‹ soll der Umstand bezeichnet werden, daß Kausalgesetze Ereignisfolgen zum Gegenstand haben, dergestalt, daß ein ›Früher-Sein‹ der Ursache die Wirkung impliziert. Als ›deterministisch‹ werden Kausalgesetze bezeichnet, wenn das Antezedensereignis vorliegt und das Sukzessionsereignis auftreten muß. Dagegen sind Kausalgesetze ›statistisch‹, wenn das Antezedensereignis vorliegt und das Sukzessionsereignis mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auftritt. 12 Da Kausalgesetze zur Klasse der empirischen Gesetze gezählt werden, müssen sie neben der Eigenschaft, ›deterministisch-sukzessiv‹ oder ›deterministisch-statistisch‹ zu sein auch die fundamentalere Eigenschaft besitzen, überhaupt ein empirisches Gesetz zu sein. Doch was ist die Eigenschaft einer bestimmten Entität, ein Gesetz oder eben kein Gesetz zu sein? Hier stehen wir vor der Schwierigkeit, daß es bis heute noch nicht gelungen ist, ein Kriterium dafür anzuEine Reihenfolge, die auch Stegmüller (1960, 1983: 504) und Kutschera (1972: 345 f.) vorschlagen. 12 Nach Stegmüller sind aber auch statistische Gesetzmäßigkeiten als deterministisch aufzufassen. Seine Auffassung des Begriffs ›deterministisch‹ bezieht sich dabei nicht nur auf den Gesetzesbegriff, sondern auch auf den Zustandsbegriff. Dies erlaubt ihm dann, auch die Gesetze der Quantenmechanik als deterministisch zu formulieren. Daß trotz dieser deterministischen Auffassung der Gesetze der Quantenmechanik nicht eindeutig auf zukünftige Zustände geschlossen werden kann, liegt in der Änderung des Zustandsbegriffs. Da der Zustandsbegriff selbst probabilistisch bestimmt wird, können die quantenphysikalischen Gesetzmäßigkeiten als deterministische Gesetze bezeichnet werden, welche gegenwärtige Wahrscheinlichkeiten mit zukünftigen Wahrscheinlichkeiten verknüpfen. Zugrundegelegt ist dieser Argumentation die Auffassung, daß alle Vorgänge in dieser Welt als kausal-deterministisch zu begreifen sind, vgl. (Stegmüller, 1960: 179 f.). 11

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geben, was ein Gesetz von einem Nichtgesetz unterscheidet. Dieses Fehlen eines Unterscheidungskriteriums führte dazu, den Gesetzesbegriff unter pragmatischen Gesichtspunkten zu bestimmen und von der Fiktionalität wahrer Gesetze abzurücken. Betrachten wir diesen Vorschlag kurz etwas eingehender. Ein wissenschaftliches Gesetz (ob natur- oder sozialwissenschaftlicher Art ist hier nicht ausschlaggebend) stellt zunächst einmal einen Leer-Begriff, einen extensional unendlichen Begriff dar, der mittels bestimmter logischer und struktureller Kriterien vor einem pragmatischen Hintergrund 13 operationabel gemacht werden kann. Dabei wird der Begriff des wissenschaftlichen Gesetzes über den Begriff der gesetzesartigen Aussage bestimmt, so daß empirische Gesetze als wahre, d. h. empirisch bewährte, gesetzartige (nomische) Aussagen bestimmt werden können (Kutschera, 1972:329), die speziell im Rahmen von D-N-Erklärungen den Status von Aussagen universeller Form besitzen, die eine regelhafte Verknüpfung zwischen unterschiedlichen empirischen Phänomenen behaupten. In Form einer Arbeitshypothese können so empirische Gesetze als nichtanalytische und empirisch bewährte nomische Generalisierungen aufgefaßt werden (Kutschera, 1972:349). Das Kriterium der Nichtanalyzität soll dabei Tautologien verhindern, das Kriterium der nomologischen Generalisierung soll empirische Gesetze von bloß zufälligen Generalisierungen wie bspw. ›Alle Äpfel in diesem Korb sind rot‹ abgrenzen. Nomologische Generalisierungen sind also Aussagen, die eine notwendige Verknüpfung zwischen den Teilsätzen einer komplexen, nichtanalytischen Aussage postulieren; in ihrer einfachsten Form stellen sie eine Subjunktion der Art 8x (Px ! Qx) dar. Mit Hilfe solcher nomologischer Generalisierungen können auch irreale Konditionalsätze eine Unterstützung erhalten, die nicht durch eine zufällige Generalisierung gewährt wird. Als ein Beispiel für die nomologische Generalisierung kann folgender Satz dienen: ›Wenn eine Person A ein Bundestagsabgeordneter ist, dann ist er auch gewählt worden‹. Der aus diesem Satz abgeleitete irreale Konditionalsatz lautet dann: ›Wenn eine Person A ein Bundestagsabgeordneter wäre, dann wäre er auch gewählt worden‹. Dieser wahre irreale Konditionalsatz ist allerdings von falschen, irrealen KonditioUnter pragmatischem Hintergrund soll mit Essler (1979:73) verstanden werden, daß auf eine Benutzer-Sprache Bezug genommen wird, innerhalb derer die Begriffe im Hinblick auf bestimmte Anwendungsbereiche und Zwecke festgelegt worden sind.

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nalsätzen, wie bspw. ›Wenn A ein Apfel wäre und sich im Korb befände, dann wäre er rot‹, abzugrenzen. Dieser irreale Konditionalsatz auf der Grundlage einer zufälligen Generalisierung ist falsch bzw. Unsinn, denn in ihm wird ein notwendiger Kausalzusammenhang zwischen ›Apfel im Korb‹ und ›rot sein‹ behauptet. Daraus kann ein weiteres Kriterium für gesetzartige Aussagen abgeleitet werden: Gesetzartige Aussagen lassen irreale Konditionalsätze zu bzw. stützen solche und werden selbst wiederum durch wahre, irreale Konditionalsätze gestützt (Goodman, 1975). Als weitere Kriterien für empirische Gesetze sind anzuführen, daß sie sich auf unendlich viele Fälle beziehen müssen und daß sie keinen Bezug auf ein Raum-Zeit-Gebiet besitzen dürfen. Diese normativen Festsetzungen für Gesetze, die sich aus logischen und empirischen Gründen erheblich anzweifeln lassen, scheinen jedoch zu restriktiv zu sein. Dem ersten Kriterium kann entgegengehalten werden, daß bspw. ein zunächst unbegrenzt gültiges empirisches Gesetz durch ›zufällige oder kontingente Umstände‹ nur auf endliche Fälle eine Anwendung finden kann; dieser Umstand birgt folgerichtig die Konsequenz in sich, daß wahre allgemeine Aussagen nicht empirische Gesetze zu sein brauchen (Popper, 1982:382), und daß bspw. Aussagen über biologische Individuen, deren Anzahl wohl endlich ist, nie den Charakter von empirischen Gesetzen annehmen können. Gegen das zweite Kriterium spricht die Tatsache, daß bspw. durch Umbenennung, Individuen aus zufälligen Generalisierungen eliminiert werden und daß Aussagen über alle Lebewesen auf der Erde auch Gesetzescharakter besitzen können (Kutschera, 1972:330). Esser, Klenovits & Zehnpfennig (1977:108) gehen sogar so weit, diesem Kriterium sowohl die notwendige als auch die hinreichende Bedingung für empirische Gesetze abzusprechen. Wir können im Hinblick auf empirische Kausalgesetze folglich festhalten, daß sie als nichtanalytische, empirisch bewährte nomische Generalisierungen deterministisch-sukzessiver bzw. deterministischstatistischer Form aufzufassen sind, und sich ihr epistemischer Status in der Funktion ihrer Verwendungsweise und Stellung in einem Netzwerk miteinander verknüpfter Gesetze, also Theorien zeigt. Empirische Kausalgesetze beschreiben folglich auch nicht die Struktur der Welt, sondern sie geben lediglich systematische Regeln dafür an, wie wir mit kausalen Gesetzesaussagen umzugehen haben. Die Formulierung empirischer (Kausal-)Gesetze erfolgt dabei stets im Rahmen umfassender und historisch wechselnder Begriffssysteme, 150

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die an ganz bestimmte Fragestellungen und Orientierungsbeispiele gebunden sind. (Kausal-)Gesetze werden so von der wissenschaftlichen Gemeinschaft als ›wahr‹ akzeptiert, obwohl sie weder verifizierbar noch einer induktiven Bestätigung zugänglich sind. 4.1.5.1.2 Zum Begriff der kausalen Erklärung Eine Explikation des Begriffs der kausalen Erklärung erfordert zunächst einmal die Angabe dessen, was allgemein unter einer wissenschaftlichen Erklärung zu verstehen ist bzw. verstanden werden kann. Nach Hempel und Oppenheim (1965) besteht eine wissenschaftliche Erklärung in der logisch korrekten Ableitung eines in einem einfachen oder komplexen singulären Satz formulierten Ereignises oder Sachverhalts aus mindestens einem allgemeinen Gesetz und mindestens einem vorliegenden Ereignis, das als Anwendungsbedingung des allgemeinen Gesetzes anzusehen ist. Dabei wird das zu erklärende Ereignis als Explanandum und die zur Erklärung dieses Ereignisses herangezogenen Gesetze und Randbedingungen als Explanans bezeichnet (Abb. 4–1). A1, A2,…,Ak G1, G2,…,Gr >

E

Explanans

f

n

n

Logische Ableitung

Explanandum

Abbildung 4–1: Schema der deduktiv-nomologischen Erklärung

Innerhalb des in Abb.4–1 dargestellten Schemas stellen A1, A2,…,Ak singuläre Sätze dar, die die betroffenen speziellen Sachverhalte beschreiben (Wenn-Komponente des betreffenden Gesetzes G). Sie werden als Rand- oder Antezedensbedingungen bezeichnet. Treten mehrere Antezedensbedingungen auf, wie bspw. in unserem Schema, so werden diese zu einem singulären Satz, der Antezedensbedingung zusammengefaßt. G1, G2,…,Gr repräsentieren die allgemeinen Gesetze, in ihrer einfachsten Form als ›Wenn-Dann-Sätze‹ aufzufassen, auf denen die Erklärung beruht. Um den hypothetischen Charakter wissenschaftlicher Gesetze zu verdeutlichen, sprechen wir anstatt von Gesetzen von Gesetzeshypothesen. Die Konjunktion von allgemeiner Gesetzeshypothese und Antezedensbedingung bildet das Explanans der Erklärung. A

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Das Explanadum stellt das Ereignis dar, das in der deduzierenden Aussage beschrieben wird. Es kann in Explanandum-Phänomen und Explanandum-Satz unterteilt werden. In der Ableitung selbst ist der Explanandum-Satz relevant, der das zu erklärende Ereignis beschreibt. Wird eine Erklärung diesem Schema nach vorgenommen, so wird von einer deduktiv-nomologischen Erklärung oder kürzer von einer D-N-Erklärung gesprochen. Sie stellt aussagenlogisch betrachtet einen Anwendungsfall des modus ponens dar, formal: (p ! q) ^ (p ) q). Quantorenlogisch läßt sich das Schema der D-N-Erklärung folgendermaßen formalisieren (Abb.4–2): 8x

(Px ! Qx) (Pa ! Qa) Pa

(Universalspezifikation)

Qa Abbildung 4–2

Es ist jedoch anzumerken, daß dieses Schema (Abb.4–2) nur den einfachsten Teil einer D-N-Erklärung repräsentiert, die logische Deduktion eines Ereignisses aus einer Gesetzeshypothese und einer Antezedensbedingung, welche wir auch als Erklärung durch deduktive Subsumption unter eine allgemeine Gesetzeshypothese bezeichnen können (Hempel, 1977:74). Zumeist sind jedoch wissenschaftliche Erklärungen komplexer, d. h. es sollen mehrere Eigenschaften des Ereignisses erklärt werden. In einem solchen Fall sind dann auch verschiedene allgemeine Gesetzeshypothesen notwendig, welche im Falle einer Nicht-Identität ihrer Wenn-Komponenten auch mehrere Antezedensbedingungen erfordern. Folglich besteht das Explanans einer wissenschaftlichen Erklärung oft aus der Konjunktion mehrerer allgemeiner Gesetzeshypothesen und Antezedensbedingungen. Soll ein Ereignis mittels einer D-N-Erklärung ›erklärt‹ werden, muß diese bestimmten Kriterien genügen. Hempel und Oppenheim (1965:247) formulierten vier Bedingungen für eine adäquate wissenschaftliche Erklärung: 14 14

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Auf die an diesen vier Bedingungen geübte Kritik soll hier nicht eingegangen werden.

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B (1): B (2): B (3): B (4):

Das Explanandum muß eine logische Folge des Explanans sein. Das Explanans muß allgemeine Gesetze enthalten und diese müssen für die Herleitung des Explanandums erforderlich sein. Das Explanans muß einen empirischen Gehalt haben. Die Sätze, die das Explanans bilden, müssen wahr sein.

Die Bedingungen B(1) bis B(3) stellen die logischen Voraussetzungen dar, während die Bedingung B(4) die empirische Bedingung für eine adäquate D-N-Erklärung erfüllt. Auf der Grundlage dieser Explikation von wissenschaftlicher Erklärung ist eine kausale Erklärung dann »eine deduktiv-nomologische Erklärung, für die mindestens ein deterministisches, quantitatives Ablaufgesetz [Gesetzeshypothese] benötigt wird und deren Antezedensereignis nicht später ist als das Explanandumereignis.« (Stegmüller, 1983:537)

4.1.5.1.3 Zum Begriff der Ursache So wie wir den Begriff ›Ursache‹ in bezug auf Ereignisse in unserem täglichen Leben, aber auch in der sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis gebrauchen, ist er oftmals mehrdeutig und extrem vage. Zumindest kann er in einem ersten Schritt dahingehend präzisiert werden, daß als Ursachen eines Ereignisses sämliche relevanten Bedingungen eben dieses Ereignisses angesehen werden müssen. Dennoch ist darauf hinzuweisen, daß die Ursache eines Ereignisses keine eindeutig bestimmte Entität darstellt, sondern von dem Ziel abhängt, das man sich gesetzt hat. Auf der Grundlage der explizierten Entitäten ›Kausalgesetz‹ und ›kausale Erklärung‹ können wir unter dem Ausdruck ›Ursache eines Ereignisses‹ die Gesamtheit der Antezedensbedingungen einer adäquaten kausalen Erklärung dieses Ereignisses verstehen (Stegmüller, 1983:535). Da wir jedoch in der Forschungspraxis meistens nie alle Antezedensbedingungen einer bestimmten Ereigniserklärung Für die Kritik selbst und den daraus resultierenden Schlußfolgerungen für das DN-Modell in Form seiner gänzlichen Verwerfung oder in Form der Ergänzung durch weitere Bedingungen vgl. für eine erste Orientierung die zusammenfassenden Darstellungen und weitere Literaturhinweise in (Wenturis, Van hove & Dreier, 1992:374 ff.) und (Dreier, 1997a:8.1). A

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angeben können, ist es zweifelhaft, bei einer Ereigniserklärung die ermittelten Antezedensbedingungen als die Ursache des Ereignisses zu bezeichnen. Realistischer ist es eher, von den Antezedensbedingungen als Teilursachen des Ereignisses auszugehen. 4.1.5.1.4 Zum Prinzip der Kausalität In der metaphysisch ontologischen Auffassung von Kausalität besagt das Kausalprinzip, daß jedes Ereignis eine Ursache besitzt bzw. anders ausgedrückt: Auf ein Ereignis der Art A folgt stets ein Ereignis der Art B, und dies ist notwendig so. Seit den Untersuchungen von Hume (1982:82–105) wissen wir aber, daß mit dem Merkmal der ›Notwendigkeit‹ eine Behauptung aufgestellt wurde, die unserer Sinneserfahrung nicht zugänglich, d. h. nicht entscheidbar ist. Popper (1982:31 ff.) konzipierte deshalb in Abschwächung dieses ontologischen Kausalprinzips eine methodologische Interpretation des Kausalprinzips, indem er fordert, zu jedem Ereignis, das erklärt werden soll, eine Ursache zu suchen. Demgemäß heißt bei Popper eine kausale Erklärung auch, einen Satz, der ein erklärendes Ereignis beschreibt, aus Gesetzen und Randbedingungen deduktiv abzuleiten. Nach unserer oben angeführten Explikation von kausaler Erklärung können wir aber auch auf den Begriff der Ursache verzichten und stattdessen ein Kausalprinzip folgender Form formulieren: »Zu jedem Ereignis existiert eine adäquate kausale Erklärung«. Stegmüller (1983:539) bezeichnet dieses Prinzip als Determinismusprinzip und votiert für einen gänzlichen Verzicht des Ausdrucks ›Kausalprinzip‹. 4.1.5.2 Kausalitätsprobleme in der Klärung von Handlungen Wenn wir innerhalb von Handlungstheorien den Begriff ›Kausalität‹ verwenden, so ist damit eine Bestimmung der Relationen IntentionHandlung und Handlung(p’)-Handlung(p) verbunden. In bezug auf unsere eingeführte Intentions-, Realisierungs- und Verursachungsrelation lautet das Klärungsproblem von Handlungen dann verkürzt wie folgt: INTEND(a,p,t) ^ GLAUBT(a[VER(p’,p)]) ! REAL(a,p’,t’) = kausal oder intentional? 154

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Bevor wir diese Relationen im Kontext eines Für-und-Wider diskutieren, müssen wir jedoch folgende Grundcharakterisierung einer Handlung, möglicherweise als Axiom aufzufassen, vorausschicken: Wir setzen die Existenz von innerpsychischen Prozessen für Handlungen voraus, deren handlungskonstitutive Elemente aus Zielen, Absichten, Willensakten und Bewertungen von Handlungen bestehen. 15 Dabei wollen wir mit Lumer (1990:500) Absichten und Bewertungen als notwendig für Handlungen ansehen. Eine Handlung ist durch das Element der Absicht dann wie folgt definiert: »Eine Handlung ist immer an die Auswahl einer der möglichen Handlungsalternativen gebunden. Eine Wahl besteht so darin, über eine Menge von einem zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen ein Urteil zu fällen in bezug darauf, welche dieser Alternativen ausgeführt werden soll. Ein derart angestellter intellektueller Prozeß (der zu einer bestimmten Wahl führt) kann als abgeschlossene Handlungsüberlegung bestimmt werden. Urteil, Annahmen über die Handlungsalternativen und die Begründung(en) dieser Urteile bilden die Absicht.«

Auf der Grundlage dieser definitorischen Verbindung von Absicht und Handlung ist jetzt zu untersuchen, ob die Relation AbsichtHandlung eine analytische Behauptung darstellt, d. h. die Handlung logisch aus der Absicht folgt, oder ob wir die Absicht als Ursache für die Handlung ansehen können, d. h. die Handlung kausal erklärt werden kann. Mit anderen Worten können wir diesen Sachverhalt auch in die Frage kleiden: Besitzen intentionale Erklärungen von Handlungen eine kausale Struktur bzw. können Handlungen wie Ereignisse allgemein kausal erklärt werden? Die Diskussion über diese Frage kann innerhalb der Analytischen Handlungstheorie als der Streitpunkt angesehen werden (Beckermann 1985:37). Ohne daß bis heute diese Frage endgültig entschieden werden konnte, überwiegt zumindest in der analytischen Handlungstheorie die Ansicht derer, die eine kausale Relation zwischen Absicht und Handlung einer Person propagieren. 16

Vgl. dazu auch Kamlah (1972: 72) und Dreier (1996b). Vgl. für eine Übersichtsdarstellung dieser Diskussion zwischen Kausalisten und Intentionalisten Beckermann (1985) und Greve (1994: Kap. 4).

15 16

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4.1.5.3 Zur Erklärung einer Handlung 4.1.5.3.1 Zur Erklärung einer Handlung (I): Absicht als Ursache Welche Bedingung muß nun eine kausale Erklärung einer Handlung durch Absicht des Handelnden und einem empirischen Gesetz erfüllen? Auf jeden Fall, daß das Explanandum, die Handlung, logisch unabhängig vom Explans ist, d. h. von dem empirischen Gesetz und der Antezedensbedingung ›Absicht‹. Gehen wir von einer solchen logischen Unabhängigkeit aus, dann lautet die Schlußregel für eine kausale D-N-Erklärung einer Handlung wie folgt (Abb.4–3), wobei A die Absicht und P die Handlung repräsentiert: Logische Ableitung

A 8A (A ! P) >

Antezedensbedingung Kausalgesetz

P

Abbildung 4–3: Kausale D-N-Erklärung einer Handlung durch die Absicht

Unter Einbindung der individuellen Kausalrelation, derzufolge nach der Überzeugung einer Person a eine Handlung p’ eine Handlung p verursacht, könnte die in Abb.4–3 dargestellte Kausalerklärung wie folgt präsentiert werden, wobei G die Relation GLAUBT, R die Relation REAL und a eine Person aus der Menge A von Personen repräsentiert: Logische Ableitung

A,A,G 8a2A (A^G ! R(P,t)) >

Antezedensbedingungen Kausalgesetz

R(P,t’)

Abbildung 4–4: Kausale D-N-Erklärung einer Handlung durch die Absicht und die Überzeugung

Die in Abb.4–4 dargestellte kausale Erklärung einer Handlung P hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Struktur des praktischen Syllogismus, demzufolge aus den Prämissen Intention und Glauben eine Handlung abgeleitet wird. In unserem Fall haben wir jedoch die kausale Erklärung einer realisierten Handlung gewählt, die sich auf Ursachen stützt und nicht auf Gründe wie im praktischen Syllogismus, der in der Konklusion dadurch ausgezeichnet ist, daß sie die Rede156

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wendung ›a schickt sich an, p’ zu tun‹ beinhaltet. Auf den praktischen Syllogismus werden wir in 4.1.5.3.3 kurz näher eingehen. Doch kehren wir zu der Abb.4–3 zurück, derzufolge eine Handlung durch die Absicht kausal erklärt wird. Hier ist festzustellen, daß die Erklärung einer Handlung durch die Absicht, d. h. aus einer Kausalrelation zwischen Absicht und Handlung, sich als zu reduziert erweist. Zumindest ist es erforderlich, für das Kausalgesetz im Explanans ein umfangreicheres anzugeben (wie ansatzweise in Abb.4–4 versucht). Ein solches Gesetz könnte ein motivationspsychologisches Handlungsgesetz sein, das zumindest folgende Bedingungen notwendig enthalten müßte (Lumer, 1990a:506): 1. Das generelle Handlungsvermögen (personale Eigenschaften wie Körper, Bewußtsein, Glauben, Präferenzen); 2. die Absicht (d. h. daß ein aktueller Handlungsplan als optimal bewertet wird); 3. die zum Handlungsversuch führende Aktivierung; und 4. das physische Handlungsvermögen (d. h. Existenz, Funktionsfähigkeit und Kontrollierbarkeit der fraglichen Körperteile). Von diesen angeführten Bedingungen konnte nach Lumer erst auf die zweite Bedingung, die Absicht, durch die empirische Entscheidungstheorie eine vorläufig befriedigende Antwort gefunden werden. Die drei anderen Bedingungen sind zwar weiterhin Gegenstand auch interdisziplinär angelegter Forschungsarbeit, ohne daß bis heute jedoch ein umfassendes Ergebnis vorgelegt werden konnte. Ein umfassendes motivationspsychologisches Handlungsgesetz steht folglich immer noch aus. Dies sollte uns jedoch nicht darin hindern, ein solches Handlungsgesetz, wenn auch noch nicht vollständig formuliert, theoretisch als existent vorauszusetzen. Unter einer solchen Voraussetzung kann dann auch behauptet werden, daß sich Handlungen aus innerpsychischen Momenten, zumindest theoretisch, kausal erklären lassen. Für die Möglichkeit einer kausalen Handlungserklärung überhaupt sprechen für Gean (1965/1985) nach Greve (1994:91) die folgenden Argumente: 1. Kausale Ausdrücke wie ›warum‹, ›bewirken‹ etc. werden bei Handlungserklärungen de facto oft verwendet. 2. Wir können Handlungen beeinflussen, verhindern oder bewirken, indem wir die Wünsche und Überzeugungen des Handelnden beeinflussen. A

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3.

Handlungserklärungen implizieren, genau wie kausale Erklärungen, kontrafaktische Konditionalsätze der Art: ›Wenn x diese Absicht nicht gehabt hätte, hätte er – ceteris paribus – nicht (so) gehandelt.

4.1.5.3.2 Zur Erklärung einer Handlung (II): Absicht als Grund Im Gegensatz zu den Vertretern der kausalistischen Handlungserklärung betonen die Vertreter der nicht-kausalistischen bzw. intentionalen Handlungserklärung, 17 daß eine kausale Erklärung von Handlungen durch Absichten nicht möglich ist, da 1. innerpsychische Momente wie bspw. Absichten keine Ereignisse sind und somit nicht Ursachen sein können; 2. da Erklärungen durch Gründe im Gegensatz zu kausalen Erklärungen keine regelmäßigen Verallgemeinerungen enthalten; und 3. Handlungen und Absichten logisch nicht voneinander unabhängig sind. Wie ist dieser Standpunkt bzw. wie sind diese Standpunkte aus einer kausalistischen Sicht zu beurteilen? Zunächst: Warum können Absichten keine Ereignisse sein, und warum können nur Ereignisse Ursachen sein? Es ist zweifelhaft, der Absicht den Ereignischarakter abzusprechen, da das Auftreten einer Absicht zweifellos als ein, wenn auch innerpsychisches, Ereignis bestimmt werden kann. Darüber hinaus können Absichten, auch wenn sie keine Ereignisse sein sollten, als Antezedensbedingung einer kausalen Erklärung verwendet werden. Hempel und Oppenheim bspw. weisen ausdrücklich darauf hin, daß die Antezedensbedingung nicht ausschließlich ein Ereignis darstellen muß, sondern auch ein Sachverhalt sein kann – und eine Absicht stellt zweifellos auch einen Sachverhalt dar. Betrachten wir das zweite intentionalistische Argument, demzufolge Erklärungen durch Gründe im Gegensatz zu kausalen Erklärungen keine regelmäßigen Verallgemeinerungen enthalten, d. h. bei gleichen Bedingungen bzw. unter gleichen Umständen nicht immer die gleiche Handlung ausgeführt wird. Diesem Argument kann zunächst entgegnet werden, daß auch für eine kausale Erklärung oftVgl. dazu bspw. Flew (1949), Peters (1958/1985), Melden (1961/1985) und Cohen (1964).

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mals keine Verallgemeinerungen angegeben werden können bzw. die Formulierung eines kausalen Gesetzes, wie unter 4.1.5.1.1 ausgeführt, selbst problematisch ist. Der intentionalistischen Behauptung, daß die Angabe von Verallgemeinerungen in bezug auf Handlungserklärungen schon durch ein Gegenbeispiel falsifiziert werden könne, kann entgegnet werden, daß bei einer Handlungserklärung als gleiche Umstände nicht äußere Situationen gemeint sind, die bei Gleicheit immer die gleichen Handlungen hervorbringen, sondern, daß unter gleichen Umständen gleiche bzw. ähnliche physische Situationen, inklusive Ziele, Meinungen und Absichten, zu verstehen sind. Allein für die Feststellung einer solchen Gleichheit bestehen empirische Erfassungs- und Überprüfungsmöglichkeiten. Doch auch dann, wenn wir unter gleichen Umständen nur äußere Situationen verstehen, ist das intentionalistische Argument fragwürdig. Denn lassen wir für kausale Erklärungen auch deterministische-statistische Kausalgesetze zu, bzw. bestimmen wir Kausalität probabilistisch, so können u. a. zwei Illustrationsbeispiele gegen das intentionalistische Argument angeführt werden. Zum ersten Beispiel, das Aebli (1993:83 ff.) entlehnt ist: Innerhalb der Menge von Handlungen, die eine Person realisiert, kommen immer wieder Wiederholungen vor. Die Wiederholung einer Handlung liegt dann vor, wenn diese Handlung mit einer anderen Handlung die gleiche Struktur aufweist. Daß wir strukturgleiche Handlungen in gleichen oder ähnlichen Situationen immer realisieren, liegt darin begründet, daß wir in unserer inneren Struktur ein Handlungsschema durch Lernen aufgebaut haben, das uns in die Lage versetzt, diese Handlungstypen situationsadäquat abzurufen und zu realisieren. Wollen wir bspw. ein Bad im Meer nehmen und uns auch tatsächlich am Meer befinden, so liefert uns unser Handlungsschema den Handlungstyp, den wir zur Realisierung unserer Intention, nämlich zu baden und zu schwimmen, durch Erlernen aufgebaut haben. Ein solches Handlungsschema und die darin enthaltenen Handlungstypen können als Verallgemeinerungen derart aufgefaßt werden, daß bei der Erklärung einer Handlung diese aus dem Handlungsschema bei Vorliegen gleicher äußerer Situationen kausal erfolgt, aber natürlich nicht auch immer in jeder gleichen Situation erfolgen muß, sondern nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit p>0. Zum zweiten Beispiel, das Balzer (1990,1993) entlehnt ist und das Handeln in sozialen Institutionen betrifft: Gemäß der Definition von Handlungstypen als erlernte und in einem aufgebauten HandA

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lungsschema für ein Individuum verfügbare Entitäten, handelt eine Person innerhalb einer sozialen Institution mit einer Wahrscheinlichkeit p>0 in einer gleichen oder ähnlichen Situation immer gleich. Das Vorliegen einer ähnlichen oder gleichen äußeren Situation bewirkt demnach kausal auch immer die Durchführung des für diese Situation erforderlichen Handlungstyps. Wenden wir uns dem dritten, wohl fundamentalem Argument der Intentionalisten zu, demzufolge die eine Absicht leitende Handlung von der Handlung selbst nicht logisch unabhängig ist. Dieses Argument kann unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden: Zum einen unter dem, daß die Absicht die Handlung logisch impliziert, und zum anderen unter dem, daß die Handlung die Absicht logisch impliziert. Der Sichtweise, daß die Absicht die Handlung impliziert, kann entgegengehalten werden, daß nicht immer eine Handlung durchgeführt wird, wenn eine Absicht zu handeln vorliegt. D. h. die Identifizierung einer bestimmten Absicht ist unabhängig vom Vorliegen der intendierten Handlung möglich. Das Vorliegen einer Absicht ist deshalb im Einzelfall nicht ihre Ausführung durch eine Handlung, sondern nur das Wissen um sie desjenigen, der sie hat (Greve, 1994:105). Die Identifikation einer konkreten Absicht ist deshalb möglich, ohne daß dabei bei der Durchführung auf eine konkrete Handlung bezug genommen werden muß. Der Sichtweise, daß die Handlung die Absicht impliziert, kann entgegengehalten werden, daß wir die Feststellung dessen, was der Handelnde tut, nur dann vornehmen können, wenn wir wissen, was seine Absicht ist, eben diese Handlung durchzuführen. Nach dieser, wenn auch nicht erschöpfenden Diskussion des Fürund-Wider für die kausale Erklärung von Handlungen durch Absichten läßt sich festhalten, daß dieser Streit noch keineswegs entschieden ist, die Argumente für eine kausale Erklärung von Handlungen jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt überwiegen, d. h. im Konkreten, von einer logischen Unabhängigkeit von Absicht und Handlung ausgegangen werden kann.

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4.1.5.3.3 Zur individuellen Kausalrelation und zur Position des praktischen Syllogismus 4.1.5.3.3.1 Bemerkungen zur individuellen Kausalrelation Warum trifft die nach individueller Überzeugung angenommene Kausalrelation zwischen zwei Handlungen bzw. zwischen einer Handlung und der daraus folgenden Handlung, die ein Ereignis oder ein Prozeß sein kann, in Wirklichkeit oftmals nicht oder nur teilweise zu? Für eine Beantwortung dieser Frage erweist es sich zweckmäßig, zwischen zwei Perspektiven zu unterscheiden: der subjektiven Perspektive des Handelnden und der Perspektive desjenigen, der dieses Handeln erklären will. Die handelne Person wird zur intendierten Erreichung eines Ziels, das eine Handlung oder ein Ereignis oder ein Prozeß sein kann, die Handlung vornehmen, von der sie überzeugt ist, daß sie das Ziel herbeiführt bzw. dieses kausal verursacht. Sie wird so von den möglichen Handlungsalternativen die ausführen, die unter ihren Gesichtspunkten die optimalste ist. Wenn die gewählte Handlung nun aber nicht oder nur teilweise zum Ziel führt, so kann dies folgende Gründe haben: Erstens, der Handelnde hat sich schlichtweg geirrt; zweitens, die Situation, in der er gehandelt hat, ist der Situation, für den er den Handlungstyp, den er in seinem Handlungschema aufgebaut hat, nicht adäquat; drittens, die Situation ist nach a’s Feststellung eine grundsätzlich neue und sein Handlungstyp auf diese nicht anwendbar; oder viertens, bei nur teilweiser Zielerreichung, die durchgeführte Handlung verursacht nur teilweise kausal das Ziel. Von der Perspektive des Außenstehenden läßt sich die eingangs gestellte Frage folgendermaßen ohne Preisgabe des Kausalitätsbegriffs beantworten. Zunächst ist für den angeführten vierten Grund des teilweisen Scheiterns die individuelle Kausalrelation dahingehend zu modifizieren, daß p’ nach a’s Überzeugung p nur teilweise verursacht, also: (R4–2–1): GLAUBT(a[TEILVER(p’,p)]) Im idealisierten Fall hat die individuelle Kausalrelation für eine vollständige kausale Verursachung eines Ziels dann alle, die dieses Ziel zusammen verursachenden Handlungen miteinzubeziehen, also: (R4–2–2): WEISS(a[VER((p’1,p’2,…,p’n)p)]) A

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Mit diesen beiden Relationen kann die individuelle Kausalrelation gestützt werden, wenn wir R4–2 und R4–2–1 als Spezialisierungen von R4–2–2 und probabilistisch auffassen, d. h. R4–2 mit dem Wahrscheinlichkeitswert p=1 versehen (was dann annähernd R4–2–2 entspricht) oder R4–2–1 mit einem Wahrscheinlichkeitswert p0. 4.1.5.3.3.2 Bemerkungen zur Position des praktischen Syllogismus Der praktische Syllogismus zur Klärung von Handlungen, wie er bspw. von v.Wright (1984) eingeführt wurde, bezieht sich auf die die sozialwissenschaftliche Forschung immer noch perennierende, scheinbare Dichotomie und Unvereinbarkeit von Verstehen und Erklären als zwei entgegegengesetzten Methoden der Kultur- und Naturwissenschaften. Demnach lassen sich Ereignisse des Naturgeschehens kausal erklären, Handlungen jedoch nur verstehen; für Naturgeschehen ist der Begriff der ›Ursache‹ reserviert, für menschliche Handlungen der des ›Grundes‹. Ohne auf diese Dichotomie hier näher einzugehen 18 , soll abschließend untersucht werden, ob der praktische Syllogismus zur Handlungsklärung vollständig ist und ob er eine kausale Struktur besitzt. Der praktische Syllogismus geht auf Aristoteles zurück und wird zur Erklärung einer menschlichen Handlung unter Rekurs auf die mit dieser Handlung verbundenen Ziele und Mittel zur Zielerreichung verwendet. In einem Schlußschema kann dieser praktische Syllogismus wie folgt dargestellt werden (Abb.4–5): 19 (1) (2)

a intendiert, p zu verwirklichen p’ ist nach Überzeugung von a die ›Ursache‹ für p

(3)

a schickt sich an, p’ zu verwirklichen

Abbildung 4–5: Schlußschema des praktischen Syllogismus

In Kontrast kann dem praktischen Syllogismus ein kausalistisches Schlußschema gegenübergestellt werden (Abb.4–6):

18 19

162

Vgl. für eine Übersichtsdarstellung dieser Dichotomie bspw. Dreier (1986: Kap. III). Nach Stegmüller (1983: 486 ff.) in bezug auf v.Wright (1984).

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(I)

a intendiert, p zu verwirklichen

(II) p’ ist nach Überzeugung von a die ›Ursache‹ für p (III) (8 t 2 T ^ (I) ^ (p’ ist nach Überzeugung von a kausal notwendig für p)) ! (a schickt sich an, p’ zu verwirklichen) (IV) a schickt sich an, p’ zu verwirklichen Abbildung 4–6: Kausalistisches Schlußschema

Welches dieser beiden Schemata kann nun eine Erklärung menschlichen Handelns adäquat rekonstruieren? Nach v.Wright ist das kausalistische Schema zu verwerfen, da es nicht angemessen sei, menschliches Handeln stets aus Gesetzesaussagen über den Zusammenhang von Überzeugungen und Intentionen abzuleiten. Vorzuziehen ist nach v.Wright der praktische Syllogismus zur Erklärung menschlichen Handelns, doch muß dieser in seiner Grundstruktur dafür noch verbessert werden. Das Ergebnis dieser Verbesserung ist dann das intentionalistische Erklärungsschema, das den praktischen Syllogismus in folgenden Punkten ergänzt bzw. verbessert (v.Wright, 1984:99 ff., Stegmüller, 1983:489 f.): 1. Die Intentionsrelation muß um das Element ›Wissen‹ ergänzt werden, d. h. a muß wissen, daß es p herbeiführen kann. 2. Einführung eines Zeitindex t und Erweiterung von (4–5–1) zu ›a intendiert, zur Zeit t p zu verwirklichen‹. 3. Da das Ziel einer Handlung p in p’ besteht und ersteres zeitlich auf p’ folgt, ist dieses mit einem Zeitindex t’ zu versehen, wobei zumindest gelten muß: t’ t. 4. a darf weder seine Intention noch den Zeitpunkt t’ vergessen. 5. Es muß vorausgesetzt werden, daß a in der Zwischenzeit nicht von seiner Intention abgehalten wird. Aus diesen fünf Ergänzungs- bzw. Verbesserungsvorschlägen läßt sich das folgende intentionalistische Erklärungschema angeben (Abb. 4–7):

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(i)

a intendiert zum Zeitpunkt t, p zu verwirklichen

(ii)

a ist von jetzt an der Überzeugung, daß er p nur dann zu t verwirklichen kann, wenn er p’ nicht später als t’ realisiert.

(iii) a vergißt weder seine Intention noch t’ und wird nicht davon abgehalten p’ zu tun. (iv) a schickt sich nicht später als zu der Zeit, da er t’ als gekommen ansieht, an, p’ zu realisieren. Abbildung 4–7: Intentionalistisches Schlußschema

An diesen ergänzten und verbesserten praktischen Syllogismus zum intentionalistischen Erklärungsschema ist nun die Frage zu stellen, ob aus diesem korrekte logische Schlüsse hervorgehen. Wie v.Wright (1984:109 f.) selbst an einem Gegenbeispiel zeigt, ist die Notwendigkeit des intentionalistischen Schlußschemas in Extremfällen nur eine ex post actu zu begreifende Notwendigkeit (v.Wright, 1984:110). Diese Feststellung führt jedoch dazu, daß es Fälle gibt, in denen nicht logisch aus den Prämissen die Konklusion folgt. Darauf zu insistieren ist nach v.Wright eine Form des Dogmatismus, doch, so ist zu fragen, wenn schon ein logisches Schlußverfahren angegeben wird, so muß jede Deutung, die die Prämissen wahr macht, auch die Konklusion in eine wahre Aussage verwandeln – und diese logische Folgerung duldet keine Ausnahmen bzw. Verletzungen des Bestehens einer Folgebeziehung (Stegmüller, 1983:490). Tuomela (1977a:Kap. 7) kritisiert am intentionalistischen Schlußschema darüber hinaus, daß dieses nur gültig sein kann, wenn in die Prämissen eine allgemeine Aussage mit aufgenommen wird, was dann folgendes Schlußschema (leicht abgewandelt) impliziert (Abb. 4–8):

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8 a 2 A ^ 8 Intentionen(p)a ^ 8 p’(a) ^ 8 (t,t’) 2 T gilt: (a)

Wenn a von jetzt an intendiert, p zur Zeit t zu realisieren und glaubt, daß es dafür notwendig ist, p’ nicht später als t’ zu tun, und

(b)

wenn zwischen jetzt und t’ »normale Bedingungen« herrschen,

(c)

dann wird sich a nicht später als zu der Zeit, da er t’ als gekommen betrachtet, anschicken, p’ herbeizuführen.

Abbildung 4–8: Intentionalistisches Schlußschema nach Toumela

Will man mit diesem Schema das tatsächliche Handeln von wirklichen Personen erklären und nicht von idealisierten rationalen Wesen, so stellen die Prämissen des Schlußschemas empirisch-hypothetische Gesetzesaussagen dar. In diesem Fall wäre dann auch die Dichotomie intentionalistische (ergänzter und verbesserter praktischer Syllogismus) vs. kausalistische Erklärung menschlichen Handelns hinfällig, da sich das intentionalistische Erklärungsschema (Abb. 4–8) als eine Variante des Subsumptionsmodells der Erklärung nach Hempel und Oppenheim auffassen läßt.

4.1.6 Was zeichnet eine Handlung als rational aus? Einen wesentlichen Aspekt innerhalb der handlungstheoretischen Diskussion betrifft die Frage, welche Kriterien erforderlich sind, um ein Handeln als rationales Handeln bezeichnen zu können. Nach der auf Bayes (1958 [1763]) zurückgehenden Variante der rationalen Entscheidungstheorie ist das Kriterium für die Rationalität einer Handlung subjektivistischer Natur und in drei Entscheidungszustände des Handelnden zu klassifizieren: Entscheidung unter Sicherheit, Entscheidung unter Unsicherheit und Entscheidung unter Risiko. Bei einer Entscheidung unter Sicherheit ermittelt und bewertet ein Handelnder die jeweils möglichen Folgen der ihm zur Auswahl stehenden Handlungsalternativen und entscheidet sich für die von ihm am höchsten bewertete, wobei er glaubt, daß alle Folgen der gewählten Handlungsalternative mit Sicherheit eintreffen. Bei einer Entscheidung unter Unsicherheit ermittelt und bewerA

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tet ein Handelnder die Wahrscheinlichkeiten des Eintreffens der jeweils möglichen Folgen der ihm zur Auswahl stehenden Handlungsalternativen und entscheidet sich für die Handlungsalternative mit dem höchsten Erwartungswert, d. h. für die größte Summe der Produkte der Wahrscheinlichkeiten der Folgen mit den Werten der Bewertung einer Handlungsalternative. Bei einer Entscheidung unter Risiko schließlich kann der Handelnde den möglichen Folgen einer Handlungsalternative nicht einmal Wahrscheinlichkeitswerte zuordnen. Ist diese Situation gegeben, so sind der Bayesschen Logik zufolge als Rationalitätskriterien bspw. das Maximin-Prinzip, das Minimax-Prinzip oder das Prinzip vom zureichenden Grund anwendbar. 20 Diese Variante der rationalen Entscheidungstheorie beinhaltet in sich jedoch drei anzuführende, wesentliche Kritikpunkte bezüglich der Rationalitätskriterien: Erstens, alle Kriterien für die drei Entscheidungszustände sind weder angeboren und natürlich, noch begründet; zweitens, es wird nicht angegeben, wieviele Folgen erforderlich und wie sie zu ermitteln und zu bewerten sind; und drittens, sie vernachlässigen den Zeitfaktor für ihre Anwendung. Betrachten wir als eine weitere Variante subjektiven, rationalen Handelns den ökonomischen Ansatz zur Erklärung menschlichen Handelns 21. Innerhalb dieses Ansatzes wird ein Handeln als rational bezeichnet, wenn der Handelnde so handelt, daß er gemäß seinen Präferenzen für bestimmte Ziele jeweils die Handlungsalternative wählt, die ihm den höchsten Nutzen bringt (Primat der Nutzenmaximierung). Innerhalb dieses Rationalitätsmodells wird unterstellt, daß der Handelnde in der Lage ist, sowohl seine Präferenzen als auch den Nutzen, den er aus Handlungsalternativen zieht, numerisch zu bewerten – und dies unabhängig davon, ob er unter Sicherheit (in der Realität unwahrscheinlich), unter Risiko oder Unsicherheit handelt. Daraus folgernd wird dem Handelnden folglich unterstellt, daß er die Objekte seiner präferierten Ziele nach einem gemeinsamen Nenner beurteilen kann. Die innerhalb dieses Rationalitätsprinzips elementar enthaltenen Begriffe des Nutzens und der Präferenzen sind nun jedoch von einem wissenschaftstheoretischen und methodologischen Gesichtspunkt aus höchst problematische Konzeptionen. Ich möchte mich zu20 21

166

Siehe dazu bspw. (Jeffrey, 1967) und (Raiffa, 1973). Siehe dazu bspw. (Becker, 1993), (Kirchgässner, 1991) und (Ramb & Tietzel, 1993).

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erst dem Nutzenbegriff zuwenden. Dem hier zur Diskussion stehenden Ansatz zufolge besteht die Rationalität eines Handelnden in seiner Nutzenmaximierung. Um dieses Rationalitätsprinzip jedoch erfüllen zu können, müssen alle Entitäten von Handlungszielen nach einem gleichförmigen Maßstab bewertbar sein. Eine besondere Rolle spielt in dieser Bewertung der Ausgleich von Kosten und Nutzen. Diese können aber unterschiedlicher Natur sein, so daß ihre Beurteilung mittels eines geforderten gemeinsamen »Nützlichkeits«-Maßstabs eine unrealistische »Übervereinfachung« darstellt (Rescher, 1993:129). Ein möglicher Ausweg aus dieser Übervereinfachung würde in der Angabe eines neutralen Vergleichsparameters liegen, wie bspw. in der Ökonomie das Geld, doch konnte bis heute kein solcher Parameter entwickelt werden. Darüber hinaus ist die Rekurrierung auf den Begriff des Nutzens bei rationalen Entscheidungen zu eng, treffen Akteure doch permanent rationale Entscheidungen, ohne dabei jedoch immer einen Nutzen zu erzielen oder zu maximieren. Eine Möglichkeit, diese Problematik zu umgehen, kann in der ausschließlichen Orientierung an Präferenzen bestehen, die eher quantitativ eingeschätzt werden können. Doch kann daraus nicht abgeleitet werden, daß man etwas objektiv mißt. Darüber hinaus ist eine umfassende Quantifizierbarkeit von Präferenzen ebenso problematisch. Präferiere ich bspw. innerhalb der Rockmusik Bob Dylan gegenüber Neil Young, wie kann ich dann quantifizieren, wieviel attraktiver für mich Bob Dylan gegenüber Neil Young ist? Ein Rationalitätsprinzip, das in der Maximierung von Nutzen besteht, mag zwar bis zu einem gewissen Grad zur Charakterisierung rationalen Handelns herangezogen werden können, doch stellt es für Handlungen, die als rational zu kennzeichnen sind, kein notwendiges und hinreichendes Kriterium dar. Wenn überhaupt, so kann dieser theoretische Ansatz nur als ein Nährungsverfahren zur Bestimmung rationaler Handlungen aufgefaßt werden (Simon, 1993:24). 4.1.7 Sind Handlungen (nur) verstehbar und/oder (nur) erklärbar? Innerhalb der methodologischen Diskussion in den Sozialwissenschaften wird immer noch die Ansicht vertreten, daß mit der Methode des ›Verstehens‹ eine autonome Methode vorliegt, die von der Methode der ›Erklärung‹, wie sie in den Naturwissenschaften entA

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wickelt wurde, abzugrenzen ist. Vordergründig wird dies mit dem Argument belegt, daß der Erfahrungsbereich der Naturwissenschaften und die Art der Erfahrung in den Geisteswissenschaften gänzlich anders beschaffen seien. In letzteren sei der Mensch bzw. das menschliche Verhalten das Untersuchungsobjekt, ein Erfahrungsbereich, der gegenüber den Naturwissenschaften durch die Dimension des Sinns erweitert sei. Erfahrung in den Geisteswissenschaften sei ›innere‹ Erfahrung oder Sinnerfahrung. Die für diese Wissenschaften charakteristische Aufgabe bestehe im ›Verstehen‹ aufgrund der Untersuchung von Sinnzusammenhängen (Albert, 1979:131) bzw. Motivationszusammenhängen (Stegmüller, 1969b:362). Sehr trefflich kommt dies bspw. bei Max Webers Definition des Handelns zum Ausdruck (Weber, 1976:1): »›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten […] heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.«

Diese Dichotomie von ›Erkären‹ und ›Verstehen‹ als Ausdruck diametral entgegengesetzter Methoden von Natur- und Geisteswissenschaften fußt jedoch in der Annahme einer Gleichgewichtigkeit dieser Methoden auf gleicher Ebene. Denn ›Verstehen‹ ist dem ›Erklären‹ nicht als Alternative gegenüberzustellen, sondern dieser vorzustellen, denn, so Albert (1971a:140) »verstehende Methoden gehören […] zu den Forschungstechniken, die für die Anwendung theoretischen Wissens in den Sozialwissenschaften in Frage kommen. Sie bieten keinen Ersatz für die theoretische Erklärung von Verhaltensweisen, sondern sie schaffen unter Umständen die Voraussetzung für diese.«

Dieser Argumentation zufolge sind Handlungen folglich verstehund erklärbar, wenn auch der Verstehensprozeß dem Erklärungsprozeß vorgelagert ist. Neben dieser Variante einer möglichen Lösung dieser Methodendichotomie kann jedoch auch noch eine weitere angegeben werden (Lumer, 1990a:509). Wenn der Ausdruck ›eine Handlung verstehen‹ bedeutet, im Sinne Max Webers die Handlungsgründe zu kennen, so versteht man eine Handlung dann vollständig, wenn man die ihr zugrundeliegende Absicht kennt. Die Absicht als ein in168

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nerpsychisches Moment ist nun jedoch auch der Kern der Randbedingungen für ein entscheidungstheoretisch orientiertes empirisches Handlungsgesetz und somit Bestandteil einer deduktiv-nomologischen (Kausal-)Erklärung.

4.2 Zum metatheoretischen Status von Handlungstheorien Gehen wir von der metatheoretischen Hypothese aus, daß der Begriff ›Handlung‹ einen theoretischen Begriff im oben erläuternden Sinn darstellt, dann ermöglicht uns diese Hypothese eine Beurteilung über die Art und Weise, wie Handlungstheorien formuliert sind. Denn ist der Begriff ›Handlung‹ ein theoretischer Begriff und seine Semantik jeweils über die Handlungstheorie bestimmt, in der er auftritt, so liegt seine empirische (theoretische) Relevanz bzw. Erklärungskraft in der Bestimmung seiner durch die Theorie konzipierten Relation zu empirischen (oder anderen theoretischen) Begriffen und das bedeutet letzendlich in seiner Relation zu Daten (andere theoretischen Entitäten). Eine Möglichkeit der Klassifikation von Handlungs- und Entscheidungstheorien besteht in ihrer Unterscheidung bezüglich dem Status ihrer Aussagen über Handlungen, d. h. darin, wie sie solche aufzustellen und zu begründen versuchen. Diesen im folgenden zu klassifizierenden Theorieformen ist die analytische Handlungstheorie mit ihren unterschiedlichen theoretischen Analyseentwürfen übergeordnet (einige ihrer zentralen Problembereiche, wie »Existiert eine innere Seite von Handlungen?«, »Durch welche Elemente ist eine Entität als Handlung zu charakterisieren?«, »Lassen sich Handlungen kausal erklären?«, »Können wir und wenn ja, wie können wir Handlungen als rationale Handlungen bestimmen? »Können wir Handlungen nur verstehen und/oder auch erklären?«) haben wir im vorherigen Abschnitt kennengelernt. Sie bildet sozusagen die Metatheorie für die einzelnen Handlungstheorien (Meggle 1985a:VII). Dieser metatheoretische Theorieansatz, dessen Genese in den Arbeiten von Aristoteles und Kant verortet werden kann, hat sich seit Entstehen der Analytischen Philosophie zu einer eigenständigen Disziplin konstituiert. 22 Siehe dazu bspw. (Anscombe, 1986), (Danto, 1979), (Davidson, 1985), (Meggle, 1985b) und (Rescher, 1966).

22

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Gemäß dem erwähnten Klassifikationsschema können also drei generelle Formen von Handlungs- und Entscheidungstheorien unterschieden werden, die sich teilweise weiter in allgemeine und spezielle Theorienkonzeptionen differenzieren lassen (Lumer, 1990b:511) (Abb. 4–9): 1. Empirische Handlungstheorien; das sind Handlungstheorien, die Aussagen darüber machen, welche Eigenschaften Handlungen tatsächlich besitzen; 2. Rationale Handlungstheorien; das sind Handlungstheorien, die vorschlagen, wie man rational handeln soll; und 3. Normative Handlungstheorien; das sind Handlungstheorien, die angeben, welche Handlungen in sozialer Hinsicht richtig sind. ANALYTISCHE HANDLUNGSTHEORIE Empirische HT

Rationale HT

Allgemeine Spezielle HT HT

Allgemeine HT

*physio*ökonomische HT logische HT

*objektivistisch- *ökonomische funktionalistiHT sches Modell

*psychoogische HT

*soziologische HT – hermeneutische HT – struktur-funkt. HT – Behavorismus – Rollentheorie – Symbolischer Interaktionismus – Dramaturgisches H – Regelgeleitetes H – Kommunikatives H – funktional.-struk. HT

*Zweck-MittelModell

Normative HT

Spezielle HT *Normenkonstatierende HT

*politische HT



*weitere Bereichs-HT

*Normenkreierende HT *Axiologische HT

*Rationale Entscheidungstheorie

*Juristische HT

RATIONAL CHOICE THEORIEN

Abbildung 4–9: Handlungstheorien (HT) – Ein Klassifikationsvorschlag

Diese Klassifikationsklassen sind jedoch nicht als disjunkt anzusehen, sondern stellen nur einen möglichen Vorschlag für eine GrobKlassifizierung dar, so werden bspw. in anderen Klassifikationsvorschlägen (Tuomela, 1984:55) die Entscheidungs- und Spieltheorie den normativen Handlungstheorien zugeordnet. Die normativen Handlungstheorien können in vier handlungstheoretische Ansätze unterschieden werden: 170

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1. 2. 3. 4.

Normenkonstatierende Ansätze; sie stellen fest, welche Normen de facto gelten, und damit, welche Handlungen geboten sind; Normenkreierende Ansätze; sie bewerten geltende Normen und schlagen optimale Normgeltungen vor; Axiologische Ansätze; sie entwickeln Kriterien für soziale, moralische Präferenzen, definieren also indirekt, was moralisch gute Handlungen sind; und Juristische Ansätze; sie arbeiten die in bestimmten geltenden Normensystemen implizit enthaltenen Handlungstheorien und die Semantik der dort verwendeten Begriffe von ›Handlung‹, ›Verantwortung‹ etc. heraus.

Wir werden uns diesen Ansätzen nicht weiter zuwenden und gleich zu den u. E. für unsere Zwecke wichtigeren beiden anderen Theorieformen kommen, den empirischen und rationalen Handlungstheorien. Beginnen wir mit den empirischen Handlungs- und Entscheidungstheorien. Hier fallen unter die allgemeinen empirischen Theorienkonzeptionen die physiologischen und die psychologischen Handlungstheorien. Ihr gemeinsames Merkmal besteht in der Untersuchung von Eigenschaften, die allen Handlungen zukommen. Der Untersuchungsgegenstand physiologischer Handlungstheorien 23 besteht in der Analyse der biologischen Grundlagen und Voraussetzungen von menschlichem Handeln. Die Hauptkritikpunkte an diesen Theorien bestehen in der oftmals unreflektierten Übertragung von Ergebnissen der Verhaltensforschung aus dem Tierreich auf den Menschen, Ausblendung »der kulturellen Evolution, der Sprach- und Ideenentwicklung sowie der sozialen Konventionen und Institutionen« (Lenk, 1981:2) und die Reduzierung menschlichen Handelns auf ausschließlich neurophysiologische Prozesse. Innerhalb der Psychologie wird der Begriff der ›Handlung‹ (unter Einschluß innerpsychischer Prozesse) seit neuerster Zeit wieder verwendet, nachdem sich der neo-behavioristische Ansatz in der Tradition von Skinner als zu reduziert auf einen naiven Empirismus erwiesen hat. Innerhalb der Motivationspsychologie hat sich dabei der empirisch fundierte entscheidungstheoretische Ansatz durch-

Siehe dazu bspw. (Birbaumer, Lutzenberger, Elbert & Rockstroh, 1981), (Jokl, 1981) und (Remane, 1981).

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gesetzt, demzufolge die Handlung gewählt wird, die den höchsten Erwartungsnutzen besitzt. Unter die speziellen empirischen Handlungstheorien fallen alle die Ansätze, die die allgemeinen Eigenschaften von besonderen Handlungstypen zum Untersuchungsgegenstand haben. Differenzierbar sind hier die ökonomischen Handlungstheorien, die wirtschaftliches Handeln untersuchen (Kirsch, 1970), und die soziologischen Handlungstheorien, die primär soziales Handeln beschreiben, verstehen und/oder erklären sowie prognostizieren. Diese Klasse von Handlungstheorien besteht aus einer Vielzahl, oftmals diametral entgegengesetzter theoretischer Konzeptionen: 1. Der hermeneutische Ansatz (Weber, 1976) 2. der struktur-funktionalistische Ansatz ((Parsons, 1961), (Parsons & Shils, 1962)) 3. der behavioristische Ansatz (Homans, 1967, 1968) 4. der rollentheoretische Ansatz (Joas, 1973) 5. der Ansatz des Symbolischen Interaktionismus (Mead, 1980) 6. der Ansatz des dramaturgischen Handelns (Goffman, 1971) 7. der Ansatz des regelgeleiteten Handelns (Habermas, 1984) 8. der Ansatz des kommunikativen Handelns (Habermas, 1981) 9. der funktional-strukturelle Ansatz (Luhmann, 1984) Von einem wissenschaftstheoretischen Standunkt aus präferieren wir die empirisch-analytische Variante als Grundlage der Analyse, sind diese oben genannten theoretischen Ansätze in Formulierung und präziser Angabe der relationellen Beziehungen zu empirischen Daten doch mehr als defizitär. Auf der einen Seite haben wir es mit einem Theorietyp zu tun, der sich trotz argumentativer Stringenz in »blumigen« Formulierungen verliert 24 , d. h. von einem wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus unpräzise ist und explizit keine Verbindung zu Daten beinhaltet, und auf der anderen Seite haben wir es mit einem Theorietyp zu tun, der zwar präziser formuliert ist als der erstgenannte (bspw. Parsons (1961)), jedoch ebenso den Mangel beinhaltet, keine expliziten Anweisungen zu besitzen, wie die Theorie in Verbindung zu Daten steht, sehen wir einmal von angegebenen empirischen Beispielen ab, die nur als empirisches Dekor betrachtet werden können. 25 24 25

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So bspw. bei Habermas (1981), Luhmann (1984) und Mead (1980). Siehe für eine von uns abweichende Einschätzung Miebach (1984).

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Innerhalb der rationalen Handlungstheorien schließlich, deren gemeinsames Merkmal in der Angabe von Empfehlungen für rationale Entscheidungen besteht, d.h in der Angabe von Kriterien, wann Entscheidungen und/oder Handlungen im rationalen Sinne praktisch begründet sind, können grob drei Ansätze unterschieden werden: 1. Das objektivistisch-funktionalistische Modell; es versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, welche Funktion der Mensch hat und welches Handeln diese Funktion erfüllt (Aristoteles); 2. das Zweck-Mittel-Modell; es versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, welche Handlung einen vorgegebenen guten Zweck erfüllt ((Weber, 1976), (v.Wright, 1977)); und 3. die rationale Entscheidungstheorie; sie versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, bei welcher Handlungsalternative das Produkt aus Wert und Wahrscheinlichkeit der Handlungsfolgen maximal ist ((Davis, 1972), (Jeffrey, 1967), (Luce & Raiffa, 1975), (Spohn, 1976)). Spezielle rationale Entscheidungstheorien dagegen geben Empfehlungen für rationales Handeln in bestimmten Handlungsbereichen, so bspw. in ökonomischen (Gäfgen, 1974) oder politischen. Die unterschiedlichen Ansätze der Rational-Choice-Theorie (vgl. für eine Übersicht Wiesenthal (1987)) können innerhalb dieses Klassifikationsvorschlags u. E. zwischen empirischen (speziellen) und rationalen (allgemeinen und speziellen) Handlungstheorien verortet werden. Einige methodologische und wissenschaftstheoretische Probleme der Rational-Choice-Ansätze haben wir bereits im Zusammenhang mit der Erörterung der Frage, nach welchen Kriterien Handeln als rational zu bezeichnen ist, angesprochen. Ein weiterer zu diskutierender Problembereich besteht unter wissenschaftstheoretischem Gesichtspunkten in diesen Ansätzen in der Grundlegung durch den methodologischen Individualismus (1). Dieser behauptet im Kern, daß alles Wissen über soziale Phänomene nur aus dem Wissen über Individuelles zu begründen, zu bestätigen oder definitorisch zu erfassen sei, d. h. über Dispositionen, Haltungen, Interessen und Verhaltensweisen von Individuen (Lenk, 1987a:67). Dabei gilt es, innerhalb dieses Postulats zwischen einem ontologischen Individualismus und einem methodologischen Individualismus (2) zu unterscheiden (Goldstein, 1958). So behauptet der ontologische Individualismus die Nicht-Existenz überindividueller sozialer Entitäten wie A

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bspw. ›Gesellschaft‹ oder ›Schicht‹, dem methodologischen Individualismus (2) liegt dagen nur die Behauptung zugrunde, »daß alle Erklärungen in den Sozialwissenschaften letzten Endes auf individuelle Dispositionen zurückgeführt (reduziert) werden müssen.« (Lenk, 1987a:87)

Innerhalb des methodologischen Individualismus (2) wird die Existenz überindividueller sozialer Entitäten nicht bestritten. Sie werden als theoretische Konstrukte aufgefaßt, die mittels geeigneter, empirischer Beobachtungsverfahren auf empirisch erfaßbares Individuelles zurückgeführt (reduziert) werden können. Eine solche Auffassung der vollständigen Operationalisierung theoretischer Konstrukte berührt nun jedoch einen wesentlichen Bestandteil der empirisch-analytischen Wissenschaftstheorie, nämlich das Problem der theoretischen Begriffe. Neuere Ergebnisse besagen dabei aber nicht nur, daß theoretische Begriffe nicht vollständig empirisch interpretierbar sind (vorstrukturalistische Wissenschaftstheorie), sondern auch, daß theoretische Begriffe überhaupt nicht empirisch interpretiert werden müssen, sondern ihre Gültigkeit sich nur in der erfolgreichen Anwendung der Theorie erweist, in der sie vorkommen (strukturalistische Wissenschaftstheorie). Ob ein Begriff theoretisch ist oder nicht wird von der Theorie bestimmt, in der er enthalten ist und nicht vor Vorliegen der Theorie, in der er enthalten sein soll. 26 Wenn wir diese Ergebnisse zur Kenntnis nehmen, so ist unter strengen Gesichtspunkten der methodologische Individualismus (2) zu verwerfen. Unter einer weniger strengen Beurteilung können wir ihn lediglich als ein, wenn auch in der sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis brauchbares »heuristisches Postulat« (Lenk, 1987a) auffassen. Ein Postulat, dessen Bedeutung darin bestehen könnte, sozialwissenschaftliche Hypothesen und Begriffe (bspw. den der Handlung) zu individualisieren, ohne jedoch dabei einem vollständigen Reduktionismus verpflichtet zu sein.

26

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Siehe dazu ausführlicher (Dreier, 1993:177 ff.).

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4.3 Zur Unterscheidung von konkreten Handlungen und Handlungstypen In der Konzeptualisierung von Handlungen erscheint es für unsere vorzunehmende Analyse der in den Schriften und Werken von Machiavelli angeführten Handlungen und Handlungsregeln erforderlich, eine Unterscheidung von konkreten Handlungen und Handlungstypen vorzunehmen. Unter einer konkreten Handlung soll eine zeitlich einmalige, einem bestimmten Akteur bzw. Akteuren und einem bestimmten Ort zuzuordnende Handlung verstanden werden. Unter Rückgriff auf Machiavelli und die von ihm beschriebenen Geschehnisse seiner Zeit stellt etwa die folgende Aussage eine konkrete Handlung dar: »Im Auftrag von Cesare Borgia erwürgt Michelotto am 31. 12. 1502 27 in Senigallia den Hauptmann Vitelozzo Vitelli.« 28

Handlungstypen dagegen stellen charakteristische Typen von Handlungen dar, die von einer zeitlich einmaligen Handlung, einem bestimmten Akteur (bzw. bestimmten Akteuren) und einem bestimmten Ort der Handlung abstrahieren. In bezug auf unser angeführtes Beispiel einer konkreten Handlung – die Ermordung Vitelozzo Vitellis – stellt diese konkrete Handlung die Ausführung eines bestimmten Handlungstyps dar, nämlich die Ermordung bzw. präziser, das Erwürgen eines Akteurs. Der Handlungstyp »Ermordung eines politischen Akteurs« kann abstrakt als eine Menge ähnlicher, konkreter Handlungen angesehen werden, wobei die Ähnlichkeit von Typ zu Typ variiert (Balzer, 1993:73). Grundlegend ist in diesem Zusammenhang zu betonen, daß ein Handlungstyp in seiner konkreten Ausführung zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort und durch einen bestimmten Akteur bzw. durch bestimmte Akteure eine jeweils bestimmte Grundstruktur und die Involvierung bestimmter Handlungen beinhaltet. Betrachten wir den Handlungstyp »Ermordung eines Akteurs«, so beinhaltet dieser in seiner jeweiligen, einmaligen Anwendung strukturell zumindest zwei Akteure, den Mörder und den zu Ermordenden, eine bestimmte Form der ErBradford (1979:260) gibt als Ermordung Vitellis abweichend den 1. Januar 1503 an. Siehe dazu etwa (Machiavelli, 1925b), (Machiavelli, 1986:VII), (Machiavelli, 1986:VII, Anm. 11) und die mehr literarischen und populärwissenschaftlichen Darstellungsweisen der Ermordung Vitellis in (Huna, 1972:422 ff.) und in (Bradford, 1979:260).

27 28

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mordung (Erwürgen, Erschießen, Erstechen, Aufhängen, etc.) sowie die mit diesen Formen der Ermordung verbundenen individuellen Handlungsausführungen durch den Mörder. Wie Balzer (1993:73 f.) anführt, sind konkrete Handlungen von realen Handlungen zu unterscheiden. Eine reale Handlung ist eine Handlung, die auch tatsächlich in unserer Welt durchgeführt wird, wie bspw. im Falle unseres oben angeführten Beispiels die Ermordung Vitellis. Eine konkrete Handlung dagegen kann zwar auch tatsächlich realisiert, aber im Gegensatz zu einer realen Handlung auch nur gedacht und zu einem bestimmten angegebenen Zeitpunkt nicht realisiert werden. Eine solche Handlung stellt zwar eine konkrete Handlung dar, jedoch nur eine mögliche. Eine mögliche, aber zu dem angegebenen Zeitpunkt nicht realisierte Handlung ist bspw. die folgende: »Niccolò Machiavelli betrügt seine Ehefrau Marietta am 27. 01. 1520 um 11.32 Uhr im Haus einer Riccia mit der Schauspielerin Barbera Salutati.« 29

Abstrahieren wir von diesem amourösen Beispiel und wenden wir uns einem Beispiel aus Machiavelli’s Amtsgeschäften zu, um die Begriffe ›Handlungstyp‹, ›konkrete Handlung‹, ›mögliche Handlung‹ und ›reale Handlung‹ mit Beispielen zu illustrieren. In seiner amtlichen Stellung als Leiter der Seconda Cancelleria (eine Art Außenministerium der Republik Florenz) verfaßte Machiavelli (1925d, 1997b, 1997c) im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen seiner Vaterstadt Florenz und dem von Florenz 1494 abgefallenen Pisa 30 neben einer Vielzahl an offiziellen Briefen an die Signoria aus dem Gebiet um Pisa 31 zwei Memoranden. 32 Das erste MeSiehe zu der Liaison zwischen Machiavelli und Barbera Saluti sowie seinen anderen sexuellen Abenteuern (Hausmann, 1987:131–147), (Prezzolini, 1989:126–132) und den privaten Briefwechsel zwischen Machiavelli und Vettori (Atkinson & Sices, 1996) sowie auswahlsweise die Erwähnung Barberas in Machiavelli’s Briefen in (Machiavelli, 1925c, 1984b, 1998b:960,961,963,966). 30 Siehe für erste Studien zu diesem Konflikt, der innerhalb der Geschichte der florentinischen Republik (1494–1512) immer noch unzureichend analysiert wurde, Rubinstein (1958), Mallett (1968), Bertelli (1972) und Luzzati (1973). 31 Siehe dazu die Editionen der offiziellen Briefe Machiavellis an die Signoria von Chiapelli (1971, 1973, 1984, 1985) sowie – auswahlsweise in deutscher Übersetzung – Machiavelli’s historische Fragmente zu diesem Konflikt (Machiavelli, 1828, 1925e:3–121). 32 Zu Machiavelli’s Rolle in diesem Konflikt siehe die immer noch lesenswerte Machiavelli-Studie von Nitti (1991 [1876]: Kap. 3 u.13) sowie Villari (1877:291 ff.), Ridolfi (1963:25 ff.) und in deutscher Sprache (Mittermaier, 1990:199–209) und (Gil,1994: 29

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morandum wurde 1499 unter dem Titel Discorso sopra Pisa, das zweite 1509 unter dem Titel Provvedimenti per la riconquista di Pisa verfaßt. 33 In beiden Memoranden, die in ihren Ausführungen inhaltlich aufeinander aufbauen, erörtert Machiavelli die aus seiner Sicht möglichen Strategien für die Wiedereingliederung Pisas in den florentinischen Machtbereich. Nach Machiavelli kann die Wiedergewinnung Pisas unter zwei Gesichtspunkten vorgenommen werden: Entweder durch Liebe (amore) oder durch Gewalt (forza). 34 Zunächst diskutiert Machiavelli die Realisierbarkeit des ersten Gesichtspunkts, die freiwillige Übergabe Pisas an Florenz. Obwohl Machiavelli diese Möglichkeit prinzipiell als die beste aller Möglichkeiten beurteilt, scheint ihm deren Realisierbarkeit nicht möglich zu sein. Als erfolgsversprechendere Strategien beurteilt Machiavelli die auf Gewalt basierenden. Im zweiten Memorandum setzt Machiavelli diesen Gesichtspunkt fort und erörtert den Zeitpunkt der Gewaltanwendung: Gewalt kann sofort oder später angewendet werden. Wird Gewalt sofort angewandt, so kann dies nach Machiavelli durch einen Sturmangriff erfolgen. Erfolgt Gewalt später durch eine Einschließung Pisas und ›Aushungern‹ der Stadt, so sind je nach der Möglichkeit einer Lebensmittelunterstützung durch Lucca für Pisa verschiedene militärische Vorkehrungen zu treffen. Sollte Lucca die Pisaner nicht durch Lebensmittellieferungen unterstützen, so wird ein Lager vorgeschlagen. Bei einer Lebensmittelunterstützung für die Pisaner durch Lucca erörtert Machiavelli primär drei militärische Vorkehrungen. Errichtung von drei Lagern, Errichtung von einer Bastion und von zwei Lagern oder Errichtung von nur zwei Lagern. Darüber hinaus sollte auch der Versuch unternommen werden, durch 41–47). Für Machiavelli’s Rolle in diesem Konflikt unter militärischen Gesichtspunkten ist weiterhin wegweisend (Hobohm,1913, insbesondere 317 ff.). 33 Zu der zeitlichen Datierung dieser beiden Memoranden siehe Marchand (1995:13–16, 192–195). In früheren Gesamtausgaben (siehe stellvertretend (Machiavelli, 1925d) und (Machiavelli, 1992)) werden beide Memoranden noch als ein, 1499 verfaßtes Memorandum mit dem Titel Discorso fatto al magistrato dei dieci sopra le cose di Pisa (Über die pisanische Angelegenheit. An den Rat der Zehn) abgedruckt. Für eine textkritische Ausgabe der beiden Memoranden siehe Marchand (1975) [(Machiavelli 1975a, 1975b)] sowie (Machiavelli, 1997b:3–4,84–87), zu einer historischen, philologischen, datierungsbezogenen und interpretatorischen Analyse siehe Marchand (1975:5–23, 190–201). Für die Bedeutung der beiden Memoranden für Machiavelli’s Il Principe siehe bspw. Chabod (1993:276–278) und Sasso (1993:55–56). 34 Siehe zur Rekonstruktion dieser beiden Memoranden ausführlicher Kapitel 5, Punkt 5.4. A

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Bestechungen möglichst viele der wehrfähigen Männer aus Pisa zu locken. Folgende Handlungstypen können auf der Grundlage dieser beiden Memoranden u. a. angeführt werden: ›Freiwillige Übergabe einer Stadt‹, ›Gewaltanwendung‹, ›Aushungern‹, ›Sturmangriff‹, ›Bestechung‹ oder ›Errichtung von Lagern‹. Als eine konkrete und mögliche, nicht aber realisierte Handlung, können wir aus den Memoranden Machiavellis bspw. folgende entnehmen: »Sofortiger Sturmangriff auf Pisa.« 35 Resultierend aus den Überlegungen Machiavellis kann abschließend folgende konkrete und auch am 08. 06. 1509 erfolgreich abgeschlossene realisierte Handlung angeführt werden, die zur Übergabe der Stadt an Florenz führte: »Aushungern von Pisa durch Zerstörung der umliegenden Agrarflächen und Lebensmittelblockade der Stadt.« 36

4.4 Zur Beschreibung von Handlungen durch Propositionen Balzer (1993) hat in seiner Konstruktion einer Theorie sozialer Institutionen den Vorschlag gemacht, Handlungen durch Propositionen zu beschreiben. Diese Möglichkeit der Beschreibung von Handlungen werden wir auch in unserer Analyse der Modelle politischen Handeln und Verhaltens verwenden und uns in den folgenden Ausführungen eng an Balzer (1993:92–198) orientieren. Der Vorschlag, Handlungen durch Propositionen zu beschreiben, beruht auf der Tatsache, daß Sätze, die eine Handlung beschreiben, in verschiedenen Sprachen formuliert werden, aber auch, daß verschiedene Sätze in einer bestimmten Sprache eine gleiche Handlung unterschiedlich beschreiben können. Verdeutlichen wir uns diese Feststellung an einem Beispiel aus Machiavelli’s Il Principe. Im 8. Kapitel beschreibt Machiavelli, wie Oliverotto von Fermo, um unter dem Vorwand, in Fermo sein väterliches Erbe inspizieren zu wollen, mit einigen Bürgern aus Fermo, den Herren von Fermo, Giovanni Fogliani, ermorden läßt und sich selbst zum Herren der Stadt macht. Die Ermordung von Fogliani erfolgte während eines Festmahls der Stadt zu Ehren von Oliverotto. Dieser bat Fogliani und einige seiner Vertrauten in ein Zimmer des Palastes und ermordete 35 36

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Siehe (Machiavelli, 1925d:181). Siehe dazu bspw. (Mittermaier, 1990:199–209).

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sie dort mit Hilfe einiger seiner Getreuen. Machiavelli beschreibt diese konkrete Handlung wie folgt, wozu wir einige deutsche Übersetzungen ((1)–(10)), den italienischen Originaltext ((11) und (12)), bearbeitete italienische Ausgaben ((13)–(17)) englische ((18)–(24)), französische Übersetzungen ((25)–(31)) und spanische Übersetzungen ((32)–(35)) präsentieren: (1)

»Indem nun Fogliani und die anderen Gäste ihre Meynung davon sageten, stand er plötzlich auf, und sprach, das wären Dinge, davon man an einem geheimen Orte reden müßte; führere sie darauf in ein Gemach, so bald sie sich gesetzt hatten, alle umbrachten.« (Machiavelli, 1745:75)

(2)

»Kaum hatten sie sich gesetzt, als Soldaten aus Verstecken hervorkamen und den Giovanni und alle anderen ermordeten.« (Machiavelli, 1996 [1849]:44)

(3)

»Und sie hatten kaum Platz genommen, als aus verborgenen Theilen des Gemachs Soldaten hervordrangen, welche Giovanni und alle anderen niedermetzelten.« (Machiavelli, 1868:33)

(4)

»Kaum aber hatten sie sich zum Sitzen niedergelassen, als aus den Verstecken desselben Soldaten hervorbrachen, die Giovanni und alle Uebrigen ermordeten.« (Machiavelli, 1870:20)

(5)

»Kaum aber hatten sie Platz genommen, als aus dem Versteck Soldaten hervorbrachen und Giovanni samt allen anderen niedermachten.« (Machiavelli, 1923:76)

(6)

»Sie hatten sich kaum gesetzt, als aus Schlupfwinkeln dieses Gemachs Soldaten hervorbrachen und Giovanni nebst allen übrigen erschlugen.« (Machiavelli, 1925 f.: 36 f.)

(7)

»Kaum hatten sie sich gesetzt, als aus Verstecken Soldaten hervorbrachen und Giovanni und alle anderen niedermachten.« (Machiavelli, 1978:37)

(8)

»Kaum hatten sie sich gesetzt, als aus der Verborgenheit Soldaten hervorbrachen und Giovanni und die anderen hinmordeten.« (Machiavelli, 1980a:45)

(9)

»Kaum hatten sie jedoch Platz genommen, da traten aus versteckten Nischen Soldaten hervor und machten Giovanni und alle anderen nieder.« (Machiavelli, 1986a:71)

(10) »Kaum aber hatten sie sich gesetzt, so traten aus dem Versteck Soldaten hervor, die Giovanni und alle übrigen umbrachten.« (Machiavelli, 1990b:52) (11) »Né prima furno posti a’ssedere che, delli lochi segreti di quella, uscirno soldati che ammazzorno Giovanni e tutti gli altri.« (Machiavelli, 1994:222)

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(12) »Né prima furno posti a sedere che, de’lochi segreti di quella, uscirno soldati che ammazzorno Giovanni e tutti gli altri.« (Machiavelli, 1995:59) (13) »Nè prima furono posti a sedere, che da’luoghi segreti di quella uscirono soldati, che ammazzorono Giovanni e tutti gli altri.« (Machiavelli, (1968[1891]:235) (14) »Né prima furono posti a sedere, che de’luoghi segreti di quella uscirono soldati, che ammazzorono Giovanni e tutti li altri.« (Machiavelli, 1986b:60, 1988:59) (15) »Né prima furono posti a sedere, che de’luoghi secreti di quella uscirono soldati, che ammazzorono Giovanni e tutti gli altri.« (Machiavelli, 1931:78, 1992b:270) (16) »Non si erano ancora soldati uscirono dai loro nascondigli e uccisero Giovanni e tutti gli altri.« (Machiavelli, 1993a:65) (17) »Accompagnati gli ospiti in una camera, li fece uccidere tutti da alcuni soldati, usciti da luoghi segreti.« (Machiavelli, 1993b:71) (18) »He thereupon withdrew into another room with Giovanni and his other guests, but they were scarcaly seated when soldiers rushed out from certain hiding places and slew Giovanni and all who where with him.« (Machiavelli, 1981a:37) (19) »No sooner were they seated than from secret places in the room out came soldiers who killed Giovanni and all the others.« (Machiavelli, 1984c:32) (20) »… and where they had no sooner seated themselves, than soldiers rushing out from places of concealment put Giovanni and all the rest to death.« (Machiavelli, 1992d: 22) (21) »Neither had they seated themselves before soldiers came out from its secret places who killed Giovanni and all the others.« (Machiavelli, 1997h:34) (22) »No sooner were they sat down than soldiers appeared from secret hiding places in the room and murdered Giovanni and all the others.« (Machiavelli, 1998h:67) (23) »No sooner were they all seated than his soldiers emerged from hiding-places, and killed Giovanni and all the others.« (Machiavelli, 1998i:32) (24) »No sooner were they seated than soldiers came out of secret places and killed Giovanni and all the others.« (Machiavelli, 1998j:37) (25) »Et ils ne furent pas plutôt assis que des cachettes sortent des soldats qui mirent à mort l’oncle et tous les autres.« (Machiavelli [Machiavel], 1980b:72)

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(26) »A peine se sont-ils assis, que des soldats jaillissent de leurs cachettes et massacrent tous les invités.« (Machiavelli [Machiavel], 1983:46 f.) (27) »A peine furent-ils assis que des cachettes de la pièce sortirent des soldats qui tuèrent Giovanni et tous les autres.« (Machiavelli [Machiavel], 1987c:317) (28) »Et ils ne furent pas plutôt assis, que d’endroits secrets sortirent des soldats, qui mirent à mort Jean et tous les autres.« (Machiavelli [Machiavel], 1992e:101) (29) »Mai à peine furent-ils assis, que des soldats, sortant de divers lieux secrets, les tuèrent tous, ainsi que Jean Fogliani.« (Machiavelli [Machiavel], 1998g:67) (30) »Ils n’y furent pas plus tôt assis que des soldats surgirent, sortant de passages secrets attenant à la pièce, qui tuèrent Jean et les autres.« (Machiavelli [Machiavel], 1999d:42 f.) (31) »Là-dessus, il les mène dans un appartement de derrière, et dès que la compagnie fut assise, il sortit de plusieurs endroits des soldats qui étaient cachès et qui assassinérent le malheureux Fogliani et tous les autres.« (Machiavelli [Machiavel], 1921:44) (32) »Acababan de sentarse cuando, de sitios ocultos, salieron soldados que mataron a Giovanni y a todos los demás.« (Machiavelli [Maquiavelo], 1998l:109) (33) »Apenas se habían sentado cuando de unos lugares secretos en la habitación salieron soldados que los mataron a todos.« (Machiavelli [Maquiavelo], 1999 f.:74) (34) »Tan pronto come se hubieron sentado, salieron de diferentes lugares secretos del cuarto soldados que asesinaron a Giovanni y a todos los demás.« (Machiavelli [Maquiavelo], 1999g:69) (35) »Apenas habían tomado asiento, cuando de distintos lugares secretos de la habitación salieron soldados que asesinaron a Giovanni y a todos los demás.« (Machiavelli [Maquiavelo], 2000:36)

Wie sich an diesem, zudem noch sehr einfachen Beispiel eindrucksvoll zeigen läßt, kann die von Oliverotto und seinen Getreuen begangene Ermordung von Giovanni Fogliani (eine konkrete Handlung) in der Beschreibung von Machiavelli sehr unterschiedlich in einem diese Handlung beschreibenden Satz wiedergegeben werden. Alle angeführten Sätze beschreiben die gleiche konkrete Handlung, doch ist jeder dieser Sätze entweder in einer bestimmten, von anderen unterscheidbaren Sprache formuliert oder lautet in ein und derselben Sprache – wenn auch geringfügig – anders. Alle oben angeführten Sätze beschreiben die gleiche Handlung, die Ermordung von Giovanni Fogliani und seiner Vertrauten durch A

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Oliverotto und seine Soldaten. Wir können deshalb schlußfolgern, daß alle diese Sätze dieselbe reale Handlung repräsentieren. Eine solche Klasse von Sätzen mit gleicher Bedeutung kann als Proposition bezeichnet werden bzw. anders: »Propositionen sind Klassen von bedeutungsgleichen Sätzen« und weiter in bezug auf Handlungen: »Wenn ein Satz ein Ereignis beschreibt, so wird dieses auch von allen mit ihm bedeutungsgleichen Sätzen beschrieben. Ereignisse werden durch Propositionen dargestellt. Da Handlungen spezielle Ereignisse sind, werden auch sie durch Propositionen dargestellt.« (Balzer, 1993:93)

Um die formale Struktur von Propositionen angeben zu können, führen wir eine zweistellige Relation  auf einer Menge P von Propositionen ein. Die Relation  wird als eine Form der Implikation interpretiert, so daß der Ausdruck p  p’ wie folgt gelesen werden kann: Die Bedeutung von Proposition p impliziert die Bedeutung von Proposition p’. So impliziert bspw. der Satz s »Micholetto erwürgt den Hauptmann Vetelozzo Vitelli« den Satz s’ »Micholetto legt seine Hände um den Hals von Vetelozzo Vitelli und drückt solange zu, bis dieser stirbt«. Es impliziert aber auch s’ den Satz s. Wir können deshalb sagen, daß beide Sätze die gleiche Bedeutung besitzen. Da Propositionen Mengen von Sätzen mit gleicher Bedeutung sind, können wir auch sagen, daß die von s und s’ erzeugten Propositionen p und p’ identisch sind. Für diesen Fall gilt folglich: 4–1:

Wenn p  p’ und p’  p, dann gilt: p = p’

Darüber hinaus wird von Balzer (1993:94) weiter gefordert, daß die Implikation reflexiv (4–2) und transitiv (4–3) sein soll. 4–2:

pp

4–3:

Wenn p1  p2 und p2  p3, dann ist auch p1  p3

Sind die Bedingungen (4–1) bis (4–3) für die Menge P von Propositionen und die Implikationsrelation  erfüllt, so bildet P eine Halbordnung. 37 Halbordnungen werden innerhalb der Mathematik in der Siehe zu Definitionen von Halbordnungen und zur Theorie der Verbände in der Mathematik sowie zu den Bestimmungen der von uns im weiteren verwendeten verbandstheoretischen Begriffen die kurzen Darstellungen in (Meschkowski, 1971:Kap. VII) und (Hasse, 1974:§ 9).

37

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Theorie der Verbände thematisiert. Für unsere weitere Vorgehensweise ist es deshalb zunächst erforderlich, die verbandstheoretischen Grundbegriffe ›Infimum‹, ›Supremum‹ und ›Komplement‹ bzw. ›Negation‹ einzuführen. Das Infimum der Propositionen p und p’ ist als die größte (mögliche) untere Schranke von p und p’ in bezug auf  definiert und wird unter verbandstheoretischen Gesichtspunkten mit p u p’ symbolisiert. Das Supremum der Propositionen p und p’ ist dagegen als die kleinste (mögliche) obere Schranke von p und p’ in bezug auf  definiert und wird unter verbandstheoretischen Gesichtspunkten mit p t p’ symbolisiert. Sowohl Infimum als auch Supremum lassen sich auf Mengen von Propositionen erweitern. In einem solchen Fall wird das Infimum über alle Proposition in P mit 0 bezeichnet bzw. als Nullelement der Halbordnung und das Supremum mit 1 bzw. als Einzelelement der Halbordnung. Als Komplement oder Negation zu einer Proposition p wird die Proposition :p bezeichnet. Dies ist jedoch nur der Fall, wenn zu Proposition p eine andere Propsition q existiert, so daß p u q = 0 und p t q = 1 gegeben ist. Sind Propositionen Sätze, so entsprechen die Operationen »u« und »t« den aussagenlogischen Operationen »^« und »_« sowie 0 und 1 den logisch falschen und den logisch richtigen Sätzen. Wir können nach diesen Einführungen von verbandstheoretischen Begriffen jetzt vier weitere Gesetze formulieren, die für eine Menge P von Propositionen gelten sollen (Balzer, 1993:95): 4–4:

Für je zwei Propositionen p und p’ in P existieren deren Infimum und Supremum

4–5:

In P existieren 0 und 1

4–6:

Zu jeder Proposition p in P gibt es genau eine Proposition :p in P, für die p u :p = 0 und p t :p = 1 ist

4–7:

8 p1, p2, p3 2 P gilt: p1 u (p2 t p3) = (p1 u p2) t (p1 u p3) p1 t (p2 u p3) = (p1 t p2) u (p1 t p3) (Distributivgesetz für Supremum und Infimum)

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Politisches Handeln und Macht

Von einem Propositionenraum kann jetzt gesprochen werden, wenn die Bedingungen (4–1) bis (4–7) für eine Menge P von Propositionen zusammen mit der Relation  (Implikation) erfüllt sind. Nach diesen abstrakten Ausführungen zu Propositionen wenden wir uns jetzt wieder Handlungen und sie beschreibenden Sätzen zu, wobei letztere durch Propositionen (Satzmengen) repräsentierbar sind. Wie bereits angeführt, lassen sich Handlungen als Ereignisse interpretieren, die durch Sätze (in einer oder mehreren natürlichen Sprachen) beschrieben werden können, welche sich wiederum durch Propositionen repräsentieren lassen. Lassen wir es zu, daß Handlungen durch sie beschreibende Sätze durch Propositionen repräsentiert werden können, so müssen solche Handlungen innerhalb eines Propositionenraums dessen Gesetze und Forderungen (Infimum, Supremum und Negation) erfüllen, d. h. innerhalb dieses Propositionenraums auch alle jene Handlungen repräsentieren, die zwar konkret möglich sind, nicht aber in einer bestimmten zeitlichen Situation realisiert wurden bzw. in einer zukünftigen realisiert werden. Dieser Auffassung zufolge sind deshalb auch nicht durchgeführte, aber prinzipiell mögliche Handlungen als Handlungen zu bestimmen. Nicht durchgeführte Handlungen, d. h. sogenannte ›non-decisions‹, 38 exakt zu bestimmen, mag zwar prinzipiell mit Schwierigkeiten behaftet sein, 39 ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß der Tatbestand des (bewußten) Nicht-Handelns ebenfalls als Form einer Handlung aufgefaßt werden kann. Betrachten wir uns abschließend dazu einen Propositionenraum von zwei konkreten (realisierten sowie logisch möglichen) Handlungen zweier Akteure. Wir nehmen dafür wieder Bezug auf den florentinisch-pisanischen Konflikt und zwei Handlungen der Republiken Florenz und Pisa. Im April 1499 schickte die Signoria von Florenz den Gesandten (Kommissär) von Ponte ad Era nach Pisa, um die Machthaber von Pisa zur Annahme des Spruchs des Schiedsgerichts (Vertrag zur Wiedereingliederung Pisas in den florentinischen Machtbereich zwischen Venedig, Mailand und Florenz) innerhalb von sechs Tagen aufzufordern. Die Pisaner wiesen die Annahme dieBachrach & Baratz (1963) führten diesen Begriff in die Politikwissenschaft im Kontext der Analyse von Machtstrukturen ein. Siehe für ein Fallbeispiel von non-decisionmaking die Bürgermeisterstudie von Wehling & Siewert (1987) sowie (Ultzhöffer, 1975) und (Wehling, 1985). 39 Zur Problematik der Identifizierung und Operationalisierung von ›non-decisions‹ siehe bspw. Parry & Morris (1974). 38

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ses Spruchs des Schiedsgerichts jedoch zurück und verlangten eine längere Frist. 40 Wir haben es bei diesem Beispiel u. a. mit zwei Handlungen h und h’ zu tun, welche durch folgende Sätze beschrieben werden können: Handlung h:

Der Gesandte von Ponte ad Era überbringt den Pisanern den Spruch des Schiedsgerichts und fordert sie auf, diesen innerhalb von sechs Tagen anzunehmen.

Handlung h’:

Die Herren von Pisa weisen den Spruch des Schiedsgerichts zurück und verlangen eine längere Frist.

Da wir mit diesen beiden Handlungen h und h’ einen Propositionenraum bilden wollen, führen wir die Propositionen p (1.) und p’ (2.) ein, die mit h und h’ kongruent sein sollen, also p h und p’ h’. Aus diesen beiden Handlungen lassen sich acht weitere Handlungen konstruieren, nämlich: 3. p u p’

(Handlung h und Handlung h’ werden realisiert)

4. p t p’

(Es wird Handlung h oder Handlung h’ realisiert)

5. :p

(Handlung h wird nicht realisiert)

6. :p’

(Handlung h’ wird nicht realisiert)

7. p u :p’

(Handlung h wird realisiert und Handlung h’ wird nicht realisiert)

8. :p u p’

(Handlung h wird nicht realisiert und Handlung h’ wird realisiert)

9. p t :p’

(Handlung h wird realisiert oder Handlung h’ wird realisiert)

10. :p t p’

(Handlung h wird nicht realisiert oder Handlung h’ wird realisiert)

Diese angeführten zehn Handlungen (potentielle und teilweise auch realisierte Handlungen) stellen einen Propsitionenraum PR (PR =

40

Vgl. dazu (Machiavelli, 1925g:115) und (Landucci, 1913:16 f.). A

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Abbildung 4–10: Darstellung eines Propositionenraums mittels eines Graphen

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dar, der mittels eines Graphen wie folgt veranschaulicht werden kann (Abb. 4–10): Innerhalb dieses, durch einen Graphen dargestellten Propositionenraums kann das Supremum, d. h. die kleinste (mögliche) obere Schranke von p und p’ zweier Knoten als der nächste gemeinsame, oberhalb liegende Knoten interpretiert werden und das Infimum, d. h. die größte (mögliche) untere Schranke von p und p’ zweier Knoten als der nächste gemeinsame, unterhalb liegende Knoten interpretiert werden.

4.5 Was zeichnet Handlungen als politische Handlungen aus? 4.5.1 Annäherungen an den Terminus ›politische Handlung‹ In den vorangegangenen Punkten haben wir wiederholt festgestellt, daß der Begriff der Handlung (des Handelns) bzw. die Entität, die wir mit dem Wort ›Handlung‹ attributieren, weder eindeutig definiert ist noch klar empirisch lokalisiert werden kann. Kurz: es existiert kein konsensualer Handlungsbegriff – unabhängig von den immer wieder angestellten Versuchen der Definition eines solchen 41 - und jedes Eintauchen in eine Klärung des Handlungsbegriffs führt zu mehr Verwirrung als Klärung. Es scheint deshalb angebracht zu sein, den Begriff der Handlung zunächst einmal als einen undefinierten Grundbegriff der Sozialwissenschaften aufzufassen, mit dem zwar, je nach Erkenntnis- und Analyseinteresse, theoretisch und empirisch erfolgreich gearbeitet werden kann, dessen definitorische Vielfalt uns auf metatheoretischer Ebene jedoch nicht dazu verleiten sollte, vor der eigenen, hier definitorischen Unzulänglichkeit zu kapitulieren. Ist der Begriff der Handlung für sich selbst gesehen unter analytischen Gesichtspunkten schon verwirrend und uneindeutig genug, so scheint sich dieser Eindruck noch zu potenzieren, wenn wir auf der Suche nach einer Klärung dessen sind, was als eine ›politische Handlung‹ bezeichnet werden kann. Denn eine solche Frage hat sich nicht nur mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß der Begriff der Handlung mehr als äquivok ist, sondern auch der des Politischen bzw. dessen, was innerhalb der Politikwissenschaft mit dem Attribut ›Politik‹ belegt wird. Vor diesem Hintergrund betrachtet mag es auf den er41

Siehe dazu etwa letztmalig (Rausch, 1998). A

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Politisches Handeln und Macht

sten Blick so auch als wissenschaftlich unredlich gelten, an dieser Stelle sowohl eine präzise Definition von ›Politik‹ geben zu wollen als auch daraus folgernd eine präzise Bestimmung von ›politischer Handlung‹. Für unsere folgenden Überlegungen und Analyseschritte zu Machiavelli’s Modellen politischen Handelns und Verhaltens ist es jedoch, zumindest rudimentär erfordlich, wenn keine konsensuale, so aber doch eine Charakterisierung von ›politischer Handlung‹ anzugeben, die als Arbeitshypothese 42 für unsere weiteren Untersuchungen dienen kann. 43 Nähern wir uns einer Bestimmung des Begriffs des ›Politischen‹ bzw. versuchen wir eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage zu geben: ›Was ist Politik?‹, so bietet uns die politikwissenschaftliche Literatur zunächst einmal eine Vielzahl von Definitionsansätzen an 44 , die entweder einer feuilletonistischen Rhetorik verhaftet sind und analytisch betrachtet nur Leerformeln darstellen, 45 oder aber nur Teilaspekte der Entität ›Politik‹ in synchroner und diachroner Weise darstellen wie bspw. die folgende, beliebig vorgenommene Auswahl von teilweise sehr entgegengesetzten Definitionsversuchen (Tabelle 4–1): 46

Siehe zu dem Terminus ›Arbeitshypothese‹ bspw. (Oppenheim & Putnam, 1970). Für unsere Analyse erachten wir eine solche Bestimmung umso erforderlicher, da Machiavelli’s Überlegungen zur Politik primär auf Handlungen der beteiligten Akteure gründen. Wir können deshalb der Charakterisierung Waschkuhns (1984:84–101) von Machiavelli als den Analytiker der ›Politik als Politik‹ auch uneingeschränkt zustimmen. 44 Siehe dazu bspw. (Böhret, Jann, & Kronenwett, 1988:1–12), (v.Alemann, 1989:705–707, 1994:297–301), (Goldschmidt, 1990:737–793), (Patzelt, 1993:13–22), (Grunenberg, 1994) oder (Mols, 1994:22–27). Im Hinblick auf Machiavelli und den Begriff des Politischen ist immer noch lesenwert, wenn auch konträr zu Machavelli (Sternberger, 1975). 45 So bspw. die Aussagen ›Politik ist die Kunst des Möglichen‹, ›Politik ist ein schmutziges Geschäft‹ oder ›Politik ist ein notwendiges Übel‹. 46 Wir orientieren uns an dieser Auflistung neben eigenen Recherchen an (Münch, 1982:29–87), (Böhret, Jann & Kronenwett, 1988:3) und (Robert, 1990:16). Für hier nicht angeführte Definitionsversuche der Entität ›Politik‹ und ihrer diachronen Entwicklung siehe u. a. (Roloff, 1969), (Krockow, 1970), (Messelken, 1970), (Luhmann, 1972), (Grosser, 1973), (Noack, 1973), (Bußhoff, 1975:19–33), (Kramm, 1979:24–30), (Habermas, 1982b) und (Sternberger, 1983). 42 43

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Politisches Handeln ZentralElement(e), -Relationen

Zitat/Paraphrase/ Zusammenfassung

Nachweis

Ethik

Politik ist Ethik.

(Aristoteles, 1921,1922)

Vergemeinschaftung

Politik ist Vergemeinschaftung.

(Rousseau, 1971[1762])

Austausch (ökonomischer)

Politik ist ökonomischer Austausch.

(Hume, 1962[1748/51]), (Smith, 1974[1776])

Macht

Politik ist Machttechnik.

(Machiavelli, 1997a), (Hobbes, 1970[1651])

Interessenverwaltung

»Daß die Politik alle Interessen der inne- (v.Clausewitz, ren Verwaltung, auch die der Mensch1991[1832]: 993) lichkeit, und was sonst der philosophische Verstand zur Sprache bringen könnte, in sich vereint und ausgleicht, wird vorausgesetzt; denn die Politik ist ja nichts an sich, sondern ein bloßer Sachverwalter aller dieser Interessen gegen andere Staaten.«

Macht

Politik ist das »Streben nach Machtanteil (Max Weber, oder nach Beeinflussung der Machtver1958[1919]: teilung, sei es zwischen Staaten, sei es in- 494) nerhalb eines Staates oder zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.«

Klassenkampf

»Politik ist das Verhältnis zwischen den Klassen«,

(Lenin, 1967:231)

… »sind die Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen«,

(Lenin, 1966:436)

… – »das ist der Kampf zwischen den (Lenin, 1970:365) Klassen, Politik – das sind die Beziehungen des Prolatariats, das für seine Befreiung gegen den die Weltbourgeoisie kämpft.«

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Politisches Handeln und Macht ZentralElement(e), -Relationen

Zitat/Paraphrase/ Zusammenfassung

Nachweis

Additiver Begriff »Politik [ist] die Verwirklichung von Po- (Rohe, 1978:68) litik -›policy‹- mit Hilfe von Politik – ›politics‹- auf der Grundlage von Politik -›polity‹–.«

190

Ordnung

»Politik ist Kampf um die rechte Ordnung.«

(v. d. Gablentz, 1965:14)

Ordnung

Politik ist der instrumentale Aspekt so(Parsons, 1969, zialer Organisationen, d.h die bewußte 1973, 1976, 1986) Schaffung zweckmässiger Sozialstrukturen.

Werte-Verteilung

Politik ist »die autoritative Verteilung von Werten.«

Gemeinwesen

»Politik ist Handeln sowohl wie Wissen (Bergstraesser, von dem Handeln, welches sich mit dem 1966:342) Gemeinwesen beschäftigt und es gestaltet um der gesunden Daseinsführung des Menschen willen. Politik ist dem Gemeinwesen und dem Menschen in dem Gemeinwesen zugeordnet.«

Macht

Politik ist »in jeder Gesellschaft organisierte Macht, die Institutionalisierung von Herrschaft und Kontrolle.«

Überwachung

Politik stellt den Prozeß »der Über(Oakeshott, 1977) wachung der allgemeinen Übereinkünfte einer Gesellschaft« dar.

Krieg

»Die Politik ist die Fortführung des Krie- (Sartori, 1992:49) ges mit anderen Mitteln.«

Klassenkampf

»Bereits hier soll unterschieden werden (Poulantzas, zwischen dem rechtlich-politischen Über- 1975:35) bau Staat, den man als das Politische bezeichnen kann, und den verschiedenen Formen der Klassenpraxis (des politischen Klassenkampfes), die als die Politik zu bezeichnen wären.«

(Easton, 1953)

(Duverger, 1964)

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Politisches Handeln ZentralElement(e), -Relationen

Zitat/Paraphrase/ Zusammenfassung

Leben

»Die menschlichen Daseinsströme nen- (Spengler, nen wir Geschichte, sobald wir sie als Be- 1923:1108 f.)[tab] wegung,-Geschlecht, Stand, Volk, Nation, sobald wir sie als etwas Bewegtes ins Auge fassen. Politik ist die Art und Weise, in der dieses strömende Dasein sich behauptet, wächst, über andere Lebensströme triumphiert. Das ganze Leben ist Politik, in jedem triebhaften Zuge, bis ins innerste Mark.«

Macht/Konflikt

»Politik in diesem Sinne ist Ausübung von Macht zum – wenigstens intendierten – Vorteil der Ausübenden.«

Entscheidung

»Politik meint in diesem Sinne Entschei- (Deutsch, 1976:9) dungsfindung auf öffentlichem Weg, im Gegensatz zu den persönlichen Entscheidungen des einzelnen Bürgers und die Entscheidungen in der Wirtschaft […].«

Technologie

Politik ist Sozialtechnologie, ist Sozialstückwerk.

(Popper, 1979)

Verwaltung

Politik ist Verwaltungslehre.

(Mannheim, 1965:102)

Experiment

Politik ist rationales soziales Experimen- (Albert, tieren. 1980:179)

Regelung von Konflikten

Politik ist »… gesellschaftliches Handeln (Lehmbruch, (d. h. Handeln, das zwekkhaft auf das 1968:17) Verhalten anderer bezogen ist), welches darauf gerichtet ist, gesellschaftliche Werte (einschließlich materieller Güter) verbindlich zu regeln.«

Staat

Politik ist wirkende Staatskunst »›Politisch‹ heißt ›staatlich‹ ; im Begriff des Politischen hat man bereits den Begriff des Politischen gedacht.«

Nachweis

(Messelken, 1968:141 f.)

(Schäffle, 1897:599) (Jellinek, 1922:180)

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Politisches Handeln und Macht ZentralElement(e), -Relationen

Zitat/Paraphrase/ Zusammenfassung

Konfession

»… der Begriff des Politischen sei mit (Mann, dem des Katholischen psychologisch ver- 1925:II,171) bunden, sie bildeten eine Kategorie, die alles Objektive, werthafte, Tätigende, Verwirklichende, ins Äußere Wirkende umfasse. Ihr gegenüber stehe die pietistische, aus der Mystik hervorgegangene, protestantische Sphäre.«

Freund/Feind

»Das Politische liegt nicht im Kampf (Schmitt, selbst, der wiederum seine eigenen tech- 1963[1932]:37) nischen, psychologischen und militärischen Gesetze hat, sondern, wie gesagt, in einem von dieser realen Möglichkeit bestimmten Verhalten, in der klaren Erkenntnis der eigenen, dadurch bestimmten Situation und in der Aufgabe, Freund und Feind richtig zu unterscheiden.«

Nachweis

Tabelle 4–1: Politikbegriffe im Überblick

Wie diese – zugegebenermaßen – sehr rudimentäre und auch willkürliche Auswahl von Vorschlägen zu einer sozialphilosophischen und wissenschaftlichen Bestimmung des Politikbegriffes zeigt, wird dieser unter jeweils verschiedenen Schwerpunktsetzungen anders akzentuiert. Setzen wir dieses Ergebnis zu der Feststellung in Bezug, daß das Schicksal der ganzen Menschheit politisch entschieden wird, dann ist für alle Betroffenen ›Politik‹ die empirische Tatsache schlechthin 47 und sollte unter zumindest zwei Gesichtspunkten analysierbar gemacht werden (Dreier, 1997a:32): »Erstens, was ist bzw. was kann ›Politik‹ [essentiell] sein? und zweitens, wie kann ›Politik‹ wissenschaftlich analysiert werden?«. Was Politik ist bzw. sein kann, wird – wie wir bereits dargelegt haben – innerhalb der politikwissenschaftlichen Literatur nun sehr unterschiedlich diskutiert. Fast jedes Einführungsbuch in die Politikwissenschaft beginnt mit der Feststellung, daß es einen einheitlichen Begriff von ›Politik‹ nicht gibt, sondern nur eine Pluralität von unterschiedlichen Definitionsversuchen. Dies führte u. a. auch zu der 47

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Vgl. dazu bspw. (Massing, 1973:1087).

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Politisches Handeln

Behauptung, daß die Wissenschaft von der Politik eine Disziplin auf der Suche nach ihrem Gegenstand sei. Dabei wird jedoch oftmals übersehen, »daß die Frage nach dem Gegenstand sowohl auf eine Bedeutungsanalyse wie auf eine Explikation von ›Politik‹ zielen kann.« (Kammler, 1980:487)

Es ist deshalb falsch, sie als eine Diszplin auf der Suche nach ihrem Gegenstand zu charakterisieren, ist es doch nach Kammler (1980:487) unstrittig, daß die Wissenschaft von der Politik »nach Antworten auf die Fragen nach den Bedingungen und Wirkungen der gesellschaftlichen Führung und Herrschaft, der Bildung, Verteilung und Kontrolle staatlicher Macht zu suchen hat.«

Bezeichnen wir diese Entitäten, auf die die Wissenschaft von der Politik Antworten zu finden versucht, als ›Politik‹, so ist diese primär durch das Verhalten und Handeln von Individuen bestimmt. Damit könnten wir folgende Arbeitsdefinition (-hypothese) von ›Politik‹ formulieren (Patzelt, 1993:14): »Politik ist jenes menschliche Handeln, das auf die Herstellung allgemeiner Verbindlichkeit, v. a. von allgemein verbindlichen Regelungen und Entscheidungen, in und zwischen Gruppen von Menschen abzielt.« 48

Bestimmen wir ›Politik‹ als ein auf diese angesprochenen Inhalte und Ziele bezogenes menschliches Handeln, so muß berücksichtigt werden, daß ein solches Handeln immer auch Schnittpunkte mit menschlichem Handeln in anderen Kontexten besitzt bzw. in einem Teilmengenverhältnis mit anderen menschlichen Handlungsformen besteht – primär zunächst einmal mit jenem Handeln, das wir als ›soziales Handeln‹ bezeichnen. D. h. politisches Handeln ist zum einen Teil des persönlichen Handelns (ohne Bezug zu in der Definition angeführten Handlungsreferenten) 49 und zum anderen auch ein spezifischer Teil dessen, was wir wissenschaftlich als soziales Handeln bezeichnen. 50 Darüber hinaus ist ein solches Handeln (politiÄhnlich wird dies auch von Frank R. Pfetsch so formuliert, wenn wir nur seine programmatischen Aufsatztitel betrachten, die politisches Handeln als »Entscheiden« (Pfetsch, 1995b:93) oder als »Erneuern« (Pfetsch, 1996c:125) charakterisieren. 49 Siehe zur Reflexion über persönliches und soziales Handeln bspw. die Ausführungen von Pareto (1975b) in seinem Aufsatz »Das Individuelle und das Soziale.« 50 Münch (1982:21) bspw. charakterisiert unter mehr soziologischen Gesichtspunkten 48

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Abbildung 4–11: Systematisierung von Handlungsformen nach ihren Referenzobjekten

sches Handeln) immer auch im Schnittpunkt mit anderen Handlungen wie bspw. wirtschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen oder religiösen 51 möglich. Der Begriff der politischen Handlung ist despolitisches Handeln als ein Handeln, »das weiteres Handeln in seinem Spielraum einengt, d. h. auf bestimmte Inhalte festlegt, ohne daß dadurch jedoch die Komplexität artikulierbarer Symbole (Sinnorientierungen, Normen, Kognitionen, Urteile) und der Kontingenz des Handelns gebildet wird«. Zum Begriff des ›sozialen Handelns‹ (seiner Intension und Extension) auch weiterhin grundlegend kann jedoch die Definition von Max Weber (1978:9) angesehen werden, die wie folgt lautet: »›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist«. (Für Interpretationen dieser Definition siehe bspw. (Weiß, 1975:82–86, (Käsler, 1979:151–159) und neuerdings – wenn auch nicht überzeugend, wie die WeberForscherin Barlucchi (1999) dargelegt hat – (Ringer, 1997:157–161)). 51 Worauf insbesondere Max Weber hingewiesen hat (Weber, 1976:464). (Vgl. dazu ebenso (Burger, 1987:195)). Siehe zur Einschätzung der Funktion religiösen Handelns

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halb als ein zwar grundlegender, letztendlich nicht aber als ein seinen Wirkungsbereich präzise abgrenzenden Begriff aufzufassen. Eine mögliche Verortung des politischen Handlungsbegriffs im Kontext der verschiedenen Handlungsbereiche könnte im Rahmen von Mengenverhältnissen wie folgt verdeutlicht werden (Abb. 4–11) (wobei hier natürlich weder Vollständigkeit in bezug auf alle möglichen Handlungsreferenten angestrebt wird noch angestrebt werden kann). In der mengentheoretischen Notation können die in Abb. 4–11 angeführten Mengenverhältnisse differenzierter durch Definition der Handlungsmengen und Angabe der Teil- und Schnittmengen dargestellt werden: 4–8:

Definition der Handlungsmengen A := Menge der persönlichen Handlungen formal: A = {a1, a2, a3,…,an} Bedingung: A ist endlich und nicht leer B := Menge der sozialen Handlungen formal: B = {b1, b2, b3,…,bm} Bedingung: B ist endlich und nicht leer C := Menge der politischen Handlungen formal: C = {c1, c2, c3,…,cl} Bedingung: C ist endlich und nicht leer D := Menge der kulturellen Handlungen formal: D = {d1, d2, d3,…,dk} Bedingung: D ist endlich und nicht leer E := Menge der wirtschaftlichen Handlungen formal: E = {e1, e2, e3,…,ej} Bedingung: E ist endlich und nicht leer F := Menge der wissenschaftlichen Handlungen formal: F = {f1, f2, f3,…,fi} Bedingung: F ist endlich und nicht leer

4–9:

Teilmengenverhältnisse 1. (C  B)  A 2. (D  B)  A 3. (E  B)  A 4. (F  B)  A

bzw. religiöser Werte für politisches Handeln und deren zweckrationaler Interrelation auch (Machiavelli, 1997e:228–231, 1833:151, 1965:165, 1997 f.:655). A

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4–10:Schnittmengen 1. C \ D 2. C \ E 3. C \ F 4. D \ E 5. D \ F 6. E \ F 7. C \ D \ E 8. C \ E \ F 9. D \ E \ F 10. C \ D \ E \ F 4.5.2 Zur Analyse ›politischen Handelns‹ : Dimensionen des Politikbegriffs und Diskussion metatheoretischer Zugangsweisen Ist ›Politik‹ als ein bestimmtes menschliches Handeln im Hinblick auf die Verwirklichung bestimmer Ziele, nämlich auf die Herstellung allgemeiner Verbindlichkeit, definiert, so gilt es in einem weiteren Schritt anzugeben, was der Inhalt dieser Verbindlichkeit ist, wie diese Verbindlichkeit letztendlich hergestellt wird, und in welchem Rahmen diese Herstellung von Verbindlichkeit erfolgt. Innerhalb der modernen Wissenschaft von Politik werden diese drei Fragenkomplexe unter den aus dem angelsächsischen Sprachgebrauch übernommenen Begriffen ›policies‹, ›politics‹ und ›polities‹ analysiert. Die Analysedimension ›policy‹ umfaßt die Inhalte, die im Kontext von Interessen, Aufgaben oder Problemlösungen verbindlich gemacht werden sollen, bspw. Steuern, Maßgaben zur Erhaltung der Umwelt, Wehrpflicht etc. Solche Inhalte sind traditionell Bestandteile der politischen Programme von Parteien, die mehrheitsfähig gemacht werden sollen. Solche Entscheidungen für Verbindlichkeiten kommen u. a. im Rahmen von verschiedenen Motiven und Interessenlagen zustande und beruhen auf Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen (›politics‹). Sie sind im Rahmen solcher Prozesse dabei oftmals durch unterschiedliche Interessenlagen der Beteiligten determiniert und implizieren so auch Konflikte, deren Lösungen meistens von den Machtpotentialen der beteiligten Partner abhängig sind. Solche Konfliktaustragungen um bestimmte Verbindlichkeiten verlaufen, zumindest in demokratisch verfaßten Gesellschaften, im 196

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Abbildung 4–12: Der interdynamische Prozeß von Politik A

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Rahmen bestimmer Organisationsformen und entsprechender normierter Verfahrensregeln (›polity‹). Das Zusammenwirken von ›policies‹, ›politics‹ und ›polities‹ ist nun jedoch nicht voraussetzungs- bzw. folgenlos für deren prozessuale, in der Zeit erfolgende Ausgestaltung. D. h. ›Politik‹ als ein bestimmtes menschliches Handeln ist infinit, es verändert und beeinflußt permanent unsere Umwelt (Gesellschaft) und steht in einer interdependenten Relation sowohl zu den sie konstituierenden und die sie konstituierenden Faktoren Macht, Ideologie, Kommunikation und Normen als auch zu der Entität ›Gesellschaft‹ selbst. Dieser interdynamische Prozeß von Politik kann wie folgt diagrammatisch veranschaulicht werden (Abb. 4–12): Alle in Abb. 4–12 angeführten Begriffe sind nun jedoch in sich selbst keineswegs klar definiert, sondern jeder einzelne wird innerhalb der politikwissenschaftlichen Fachliteratur sehr unterschiedlich bestimmt. Ein Grund liegt darin, daß diese Begriffe keine direkt empirisch zugänglichen Entitäten bezeichnen. Sie sind als theoretische Begriffe aufzufassen, deren Bedeutung erst über die Theorie erfolgt, in der sie auftreten. 52 Sehen wir von dieser definitorischen Problematik ab, so haben wir mit unseren Ausführungen eine mögliche, konsensual akzeptierbare Bestimmung des Untersuchungsobjekts ›Politik‹ vorgestellt. Die Form der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Entität ›Politik‹, wie wir sie hier vorgestellt haben, hängt nun primär von dem ihr zugrundeliegenden Wissenschaftskonzept ab. Innerhalb der metatheoretischen Diskussion in der deutschen Politikwissenschaft wird von der Existenz dreier solcher Wissenschaftskonzepte ausgegangen: 53 von einem normativ-ontologischen, einem kritisch-dialektischen und einem empirisch-analytischen. Dem normativ-ontologischen Ansatz zufolge gibt es nur eine Realität, und diese wird als absolut gesetzt. Es wird ferner unterstellt, daß objektive Werte existieren, die richtig sind und denen zeitlose Gültigkeit zukommt, bspw. das ›Gemeinwohl‹ in der Variante von Hennis (1963). Das Ziel dieses Ansatzes besteht in der Beschreibung und Erklärung politischer Realität und in der Festlegung, wie diese politische Realität sein sollte (normativer Aspekt). Um dieses Projekt Siehe dazu eingehender Kapitel 2. Wobei angemerkt werden muß, daß diese drei Ansätze in sich nicht uniform, sondern selbst wieder in unterschiedliche Subansätze differenziert sind.

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verwirklichen zu können, werden insbesondere historisch-genetische, hermeneutische und phänomenologische Verfahren angewandt. Nach Druwe (1993a:20) stehen dabei u. a. folgende Problemstellungen im Vordergrund: »Suche nach der ›richtigen‹ politischen Ordnung, Suche und Bestimmung des ›wahren‹ menschlichen Wesens, Ratschläge zur Verwirklichung ›guter‹ Politik und die Interpretation der Geschichte unter dem Aspekt des linearen Fortschritts, der stetigen Verbesserung oder einer sonstigen Zielsetzung.«

Dem kritisch-dialektischen Ansatz zufolge gibt es ebenfalls nur eine Realität, die als absolut gesetzt wird, doch steht ihre Erfassung in Relation zu den jeweiligen sozio-politischen und sozio-ökonomischen Bedingungen. Sie ist somit dem Prinzip der Geschichtlichkeit unterworfen, demzufolge erst die klassenlose Gesellschaft diese als absolut gesetzte Realität und die damit verbundene absolute Wahrheitsvorstellung zum Ausdruck bringen kann. Als grundlegendes Verfahren gilt innerhalb dieses Ansatzes neben der Hermeneutik die Dialektik. Ausgehend von dem Postulat, daß Gesellschaft nur als ›Totalität‹ analysiert werden kann, stellt die Dialektik das erste Strukturprinzip der Welt dar, ist geschichtliches Entwicklungsprinzip und Methode zur Erfassung der Gesellschaft als ›Totalität‹. Das Ziel des kritisch-dialektischen Ansatzes innerhalb der Politikwissenschaft besteht in der Erfassung historisch-politischer ›Gesetze‹ und der Totalität politischer Phänomene, wobei im Rahmen dieser Projektverwirklichung Wissenschaft als kritische Wissenschaft bzw. als Gesellschaftskritik verstanden wird. Diesen beiden Ansätzen diametral entgegengesetzt ist der empirisch-analytische Ansatz. Zwar kommt auch dieser Ansatz nicht ohne eine ontologische Setzung der Wirklichkeit aus, doch beansprucht er nicht, diese in toto erfassen zu können, sondern nur Segmente, noch sind seine Ergebnisse wertenden Charakters, sondern potentiell ›wertfrei‹, noch wird mit den Ergebnissen ein absoluter Wahrheitsanspruch verbunden, sondern bestenfalls eine Annäherung an die Wahrheit. Grundlage des empirisch-analytischen Ansatzes ist das Postulat, demzufolge Erkenntnisse über Wirklichkeitssegmente nur durch Erfahrung möglich sind. Das Ziel dieses Ansatzes besteht in der Entwicklung von Theorien zur Beschreibung, Erklärung und Prognose dieser Wirklichkeitssegmente, wobei diese Theorien permanent einer Überprüfung an der Wirklichkeit ausA

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gesetzt werden müssen und sich dabei auch als ›falsch‹ erweisen können. ›Wahrheit‹ besteht dabei in der Übereinstimmung der empirischen Aussagen mit der Wirklichkeit (Korrespondenztheorie der Wahrheit). Mit dieser Variante von Wahrheit eng verknüpft ist das Projekt der Konstruktion einer einheitlichen Wissenschaftssprache. In Abgrenzung von der eher vagen Alltagssprache wurde diese Wissenschaftssprache soweit wie möglich formalisiert. Verbunden ist damit die Vorstellung, daß mit zunehmender Formalisierung auch eine zunehmende Präzisierung verbunden ist. Als normative Forderung für diesen Ansatz gilt das Rationalitätspostulat 54 . Im Rahmen der Politikwissenschaft stellen die quantitativen und qualitativen Verfahren der empirischen Sozialforschung, wie Befragung, Experiment, Beobachtung und Inhaltsanalyse, das methodische Instrumentarium dieses Ansatzes und die je unterschiedlichen Formalisierungsverfahren das Fundament der Theoriebildung. Je vom metatheoretischen Standpunkt des Betrachters aus lassen sich diese drei Ansätze unterschiedlich kritisieren. Vom Standpunkt des empirisch-analytischen Ansatzes aus zielt die Kritik an den beiden anderen Ansätzen auf deren Unvereinbarkeit mit dem Rationalitätsprinzip. So ist bspw. zu hinterfragen, inwieweit beim normativ-ontologischen Ansatz das Postulat einer umfassenden Seinsordnung mit absoluter Wahrheit rational begründbar ist, d. h. nach welchen Kriterien kann angegeben werden, wann man die absolute Wahrheit gefunden hat? Weiter kann bspw. gegenüber dem kritischdialektischen Ansatz gefragt werden, wie es gelingen kann, die Totalität und Geschichtlichkeit der Phänomene wirklich vollständig zu erfassen? Beide Ansätze schließlich lassen sich auch in bezug auf ihre postulierten normativen Aussagen kritisch hinterfragen. So ist bspw. nicht klar, nach welchen empirischen Kriterien die als existent angenommen Normen erfaßt werden sollen, noch das Verfahren des Nachweises, daß diese überhaupt existieren. Diese Problematik mündet in folgende Fragestellung: Kann man etwas empirisch finden, das normativ vorausgesetzt wird? Die Kritikpunkte am empirisch-analytischen Ansatz lassen sich Um die im Forschungsprozeß gewonnenen Aussagen und Sätze als ›wissenschaftlich‹ attributieren zu können, müssen sie als Minimalforderung den formalen Kriterien der sprachlichen Klarheit und Präzision, der Intersubjektivität und der Begründbarkeit genügen. Zusammengefaßt können diese Kriterien als »rationale Suche nach Wahrheit« (Stegmüller, 1973:5) bezeichnet werden bzw. als Rationalitätspostulat für die Wissenschaftlichkeit von Forschung und deren Ergebnisse.

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aus der Perspektive des kritisch-dialektischen Ansatzes unter Bezug auf das Erkenntnisinteresse (bspw. Habermas, 1973) wie folgt benennen: Während dem ontologisch-normativen Ansatz positiv ein praktisches Erkenntnisinteresse zugeschrieben wird, ist das Erkenntnisinteresse des empirisch-analytischen Ansatzes ein rein technisches, das sich vom kritisch-dialektischen dadurch unterscheidet, daß letzteren ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse leitet. Pointiert zum Ausdruck kam dieser Vorwurf im sogenannten ›Positivismusstreit‹ im Rahmen der ›Werturteilsfreiheit‹ wissenschaftlicher Aussagen (Adorno, Albert & et.al., 1984). Ohne auf diese Trias von Erkenntnisinteressen näher einzugehen, soll dennoch kritisch angemerkt werden, daß die Notwendigkeit wissenschaftskonstitutiver, transzendentaler Interessen zu bestreiten ist (Lobkowicz, 1976:60 ff.), und daß unabhängig vom metatheoretischen Standpunkt ohne auf Grundlage der Regeln der Forschungslogik ermitteltes empirisches Wissen »weder die ›Politik als praktische Wissenschaft‹ noch eine wie immer gerichtete Emanzipationspolitik mit Erfolgsaussicht betrieben werden [kann].« (Kammler, 1980:487)

Ein letzter, hier noch anzuführender Kritikpunkt am empirisch-analytischen Ansatz betrifft seine Übernahme des naturwissenschaftlichen Paradigmas und die damit verbundene Auffassung, daß sich die politische Wirklichkeit ebenso erfassen läßt wie die naturwissenschaftliche, nämlich mit deren Methoden. Die Kritik dieser Auffassung besteht insbesondere in der Unterstellung, daß naturwissenschaftliche Forschung ein gegenüber dem Subjekt unabhängiges Untersuchungsobjekt darstellt und Exaktheit anstrebt, während die kulturwissenschaftliche Forschung Menschen und deren interindividuellen Produkte zum Untersuchungsgegenstand hat, die sowohl ständiger, nichtprognostizierbarer Veränderung unterworfen sind wie auch irreversible Prozesse induzieren und so per Definition schon keine Exaktheit erreichen können. Diese Kritik mag auf den ersten Blick einleuchtend sein, doch verkennt sie, wohl aus Unwissenheit naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse, daß bspw. das die physikalische Forschung lange leitende mechanische Weltbild Newtons, wenn nicht überholt, so doch zumindest nur noch in Ausschnitten gültig ist. So zeigen bspw. neuere kosmologische Untersuchungen, daß die Entwicklung des Universums selbst dynamisch A

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und somit irreversibel ist 55 – ein Sachverhalt, der auch auf Naturprozesse auf der Erde zutrifft. 56 Darüber hinaus ist zumindest seit der Entwicklung der Quantentheorie schon seit längerem bekannt, daß die Beobachtung subatomarer Elemente nicht im Kontext der Scheidung von Beobachter und Beobachtungsobjekt möglich ist, sondern dieser die Ergebnisse maßgeblich mitbeeinflußt (Heisenbergs Unschärferelation). Zuletzt gilt es auch wiederholt anzumerken, daß sich sowohl in der naturwissenschaftlichen wie auch in der kulturwissenschaftlichen Forschung exakte und unexakte Teile identifizieren lassen (Helmer & Rescher, 1969:181).

Siehe dazu bspw. (Jantsch, 1982) und (Weinberg, 1987). Wie die Arbeiten von (Haken, 1984, 1990), (Nicolis & Prigogine, 1987), (Prigogine, 1988) und (Prigogine & Stengers, 1986) exemplarisch eindrucksvoll belegen.

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Kapitel 5 Macht

5.0 Einleitende Vorbemerkungen Obwohl das Phänomen ›Macht‹ eine der ältesten Grundeinheiten politikwissenschaftlicher Forschung darstellt, 1 konnte bis heute noch keine konsensuale über Max Weber (1976:28) hinausgehende einheitliche Konzeption des Begriffs ›Macht‹ bzw. einer Machttheorie vorgelegt werden (Wenturis, 1978a:192). Wir sehen uns gegenwärtig vielmehr mit einer Fülle von machttheoretischen Ansätzen konfrontiert, die je nach metatheoretischem Standpunkt des jeweiligen Konstrukteurs unterschiedliche Semantiken und Interpretationsanalysen 2 sowie Intensionen und Extensionen des Begriffs ›Macht‹ beinhalten 3 bzw. diesen – negativ formuliert – für die Beschreibung Der Begiff ›Macht‹ steht nach einer Erhebung von Böhret (1985:308) unter lehrenden Politikwissenschaftlern nach den Begriffen ›Konflikt(e)‹ und ›Interesse‹ an dritter Stelle unverzichtbarer Begriffe der Politikwissenschaft. 2 Siehe dazu bspw. (Keck, 1991) für eine, in seiner Ausführung auch gelungene, spieltheoretische Rekonstruktion von Macht und Information bei Max Weber. 3 Siehe dazu auswahlsweise für einen allgemeinen Überblick etwa (Bell, Edwards & Wagner, 1969) mit den wichtigsten US-amerikanischen Beiträgen zum Machtbegriff bis zum Ende des 20. Jahrhunderts sowie (Zelger, 1975), (Niemann, 1978), (Ball, 1988:80–105), (Birch, 1993:135–203), (Rieger & Schulze, 1994) und (Imbusch, 1998). Für weitere, teilweise ältere Ansätze zum Machtbegriff siehe bspw. (Russell, 1947), (Morgenthau, 1963), (March, 1966), (Parsons, 1967b,c), (Naschold, 1971:128–158), (Deutsch, 1973) und (Luhmann, 1969, 1975) sowie kritisch dazu (zumindest bis 1978) und mit dem Vorschlag einer Weiterentwicklung (Wenturis, 1978a:192–210) und allgemeiner (Matz, 1988). Für neuere und detailliertere Ansätze und Zusammenfassungen siehe u. a. (Schneider, 1978), (Foucault, 1977, 1978, 1980, 1998, 1999), (Lukes, 1978, 1982, 1986), (Hradil, 1980), (Debnam, 1984), (Galbraith, 1985), (Issac, 1987), (Wartenberg, 1988a, 1988b, 1990), (Wrong, 1988), (Blalock, 1989), (Clegg, 1989), (Albrecht & Hummel, 1990), (Boulding, 1990), (Barry, 1991b), (Greven, 1991), (Koller, 1991), (Kersting, 1991), (Rigotti, 1993), (Dowding, 1996), (Hindess, 1996), (Haugaard, 1997) und (Rolshausen, 1997) sowie kritisch (Bunge, 1998:159–167). Für Machtinterpretationen innerhalb der feministisch orientierten Ansätze siehe u. a. (Hartsock, 1983), (Trebilcot, 1984), (Agger, 1994), (Müller-Funk, 1994) und (Penrose & Rudolph, 1996). Für eine ›sozio- und polit-ökonomische‹ sowie für eine verfassungsgeschichtlich determinierte 1

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und Analyse polit-ökonomischer Zusamnmenhänge bereits a priori verneinen. 4 Für unsere Analyse und Rekonstruktion von Machiavelli’s Modellen politischen Verhaltens und Handelns werden wir uns aus der Fülle von Ansätzen einer Konzeption von ›Macht‹ bedienen, die ihre semantische Verortung in einem realistischen Politikverständnis besitzt und ›Macht‹ voluntaristisch faßt. 5 Dieser Auffassung zufolge ist ›Macht‹ als eine relationelle Entität zwischen mindestens zwei Akteuren anzusehen, der eine kausale Grundstruktur zugrundeliegt. Sie kann mit Koller (1991:119) bspw. wie folgt definiert werden: »Ein Akteur A hat (aktuelle oder potentielle) Macht über einen Akteur B genau dann, wenn A die (zugeschriebene oder tatsächliche) Fähigkeit besitzt, zum Zwecke der Realisierung seiner – tatsächlichen oder ihm unterstellten – Absichten auf die Handlungsumstände von B durch bestimmte Mittel auf eine Weise einzuwirken, die B’s Handlungsmöglichkeiten erheblich berührt.«

›Macht‹ kann dieser Definition zufolge unter zwei Modi betrachtet werden, unter einem aktuellen Modus und unter einem dispositionellen Modus. Im aktuellen Modus ist ›Macht‹ im Sinne ihrer Ausübung durch intendierte Handlungen zu verstehen; im dispositionellen Modus ist ›Macht‹ im Sinne eines ›Verfügens über Macht‹ zu verstehen. Die Ausübung von ›Macht‹ eines Akteurs a über einen Akteur a’ ist in unserer Konzeption von Macht so zu verstehen, daß die intendierte Handlung h von Akteur a zum Zeitpunkt t Akteur a’ dazu bringt, eine Handlung h* zum Zeitpunkt t’ durchzuführen. Formal kann diese Ausübung von Macht wie folgt angegeben werden: (5–1)

MACHT(t,t’,a,h,a’,h*)

Geschichte der »Macht« von ihren Anfängen bis heute siehe die Studien von Michael Mann (1990, 1991, 1998), Wim Blockmans (1997) und Wolfgang Reinhard (1999). Für eine Analyse von Macht über Macht, d. h. zur Konzeption von Meta-Macht, siehe u. a. (Baumgartner, Buckley, Burns & Schuster, 1975) und (Baumgartner, Buckley & Burns, 1976). Zu Interpretationen von Machiavelli’s Machtbegriff siehe bspw. (Kamp, 1993) und (Münkler, 1993a). 4 So bspw. Luhmann (1969, 1975) und (Naschold, 1970:49). Siehe dazu auch (Dreier, 1986:3 f.). 5 Eine auf dieser Konzeption fußende Machttheorie liegt bspw. in präzise ausgearbeiteter Form in den Arbeiten von Balzer (1992a, 1993:Kap. 10,11) vor, der wir uns auch in unserer Rekonstruktion bedienen werden.

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Macht

Das Verfügen von Macht eines Akteurs a über einen Akteur a’ kann dazu analog wie folgt ausgedrückt werden: (5–2)

pot(MACHT(t,t’,a,h,a’,h*))

Diese Relation ist zu lesen als: »Der Akteur a besitzt zum Zeitpunkt t potentiell die Möglichkeit, durch die intendierte Handlung h Akteur a’ dazu zu bringen, zum Zeitpunkt t’ die Handlung h* durchzuführen.« Als Möglichkeiten der Ausübung von Macht eines Akteurs a über einen Akteur a’ betrachten wir die Menge der möglichen Handlungen H von a. Diese Menge beinhaltet bspw. Handlungstypen wie Gewalt, Erpressung, Bestechung und Einflußnahme sowie einzelne, konkrete Handlungen. Verwenden wir diese Definition von ›Macht‹, so ist damit zumindest impliziert, daß wir ›Macht‹ individualistisch fassen, d. h. von individuellen Akteuren ausgehen, die Macht besitzen und ausüben, ihre Macht erweitern oder aber erst Macht erlangen wollen. Solche individuellen Akteure können einzelne Individuen sein, sehr wohl aber auch sozio-politische Systeme wie Organisationen oder Staaten.

5.1 Grundstruktur eines einfachen Basis-Modells politischer Macht 5.1.1 Definition eines politischen Handlungsraums Sowohl das potentielle Verfügen über, als auch die Ausübung von Macht rekurriert auf Handlungen: zum einen auf intendierten Handlungen des Akteurs, der über Macht verfügt bzw. diese ausübt, und zum anderen auf Handlungen seitens des Akteurs, über den Macht verfügt bzw. ausgeübt wird. Grundlegend für ein Basis-Modell politischer Macht ist deshalb zunächst einmal die Konzeption eines allgemeinen Handlungsmodells, in das die angegebene Machtrelation (5–1) anschließend einzufügen ist. Für ein solches Handlungsmodell erachten wir folgende Grundbegriffe als konstitutiv 6 : Vgl. für erste Ansätze eines solchen Modells (Dreier, 1998d) und für eine präzisere Fassung (Dreier, 1997b, 1997c, 1998b, 1998c, 1999b, 1999d).

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1. 2. 3. 4. 5. 6.

Eine Menge von mindestens zwei politischen Akteuren (Handlungssubjekte); eine Menge von politischen Zielen, die realisiert werden sollen (Handlungsziele); eine Menge von politischen Handlungen, um Handlungsziele zu realisieren; ein Zeitkontinuum, innerhalb dem politische Handlungen intendiert und auch realisiert werden; eine Menge von Situationen, im Rahmen derer gehandelt wird bzw. gehandelt werden kann; und eine Menge von ›Gegebenheiten‹, die Ereignisse, Zustände und Prozesse umfaßt.

Für diese Grundbegriffe führen wir folgende Symbolismen ein: 1. A symbolisiert eine nicht-leere Menge von politischen Akteuren mit A = {a1,a2,a3,…,an}, d. h. a, a’ sind Variablen für die Akteure und a 6¼ a’; 2. Z symbolisiert eine nicht-leere Menge von politischen Handlungszielen mit Z = {z1, z2, z3,…,zm}; 3. H symbolisiert eine nicht-leere Menge von möglichen politischen Handlungen mit H = {h1, h2, h3,…,hk}; 4. T symbolisiert eine nicht-leere Menge von Zeitpunkten ti, die durch die Relation » 1), so ist es erforderlich, daß er aus seiner Menge Z von Zielen zum Zeitpunkt t ein bestimmtes Ziel z auswählt. Wie diese Auswahl jeweils von einem Akteur vorgenommen wird und auf welchen Grundlagen sie beruht, lassen wir in unserem Modell unspezifiziert. Wir drücken diese Zielauswahl durch eine Relation AUSWAHLz aus. Der Ausdruck (5–5)

AUSWAHLz(t,a,Z,z)

besagt dann »a wählt zum Zeitpunkt t aus der Menge seiner Ziele Z das Ziel z aus.« Jedes Ziel z eines Akteurs a kann prinzipiell durch mehrere Handlungen realisiert bzw. erreicht werden. Wir gehen davon aus, daß ein Akteur in bezug auf sein(e) Ziel(e) zwar nicht alle prinzipiell möglichen Handlungen kennt, um diese zu realisieren, zumindest jedoch eine Teilmenge dieser. Die Menge aller Handlungen, die in bezug auf ein einzelnes Ziel z dieses realisieren können, bezeichnen wir als Menge H(z). Aus dieser Menge kennt ein Akteur eine Teilmenge von Handlungen H’(z), von denen er glaubt, daß ihre Realisierung im Kontext einer bestimmten Situation zur Zielverwirklichung führt. Wir führen dafür die Relation GLAUBT ein. Der Ausdruck (5–6)

GLAUBT(t0,a,H’,z,s,g)

besagt dann: »a glaubt zum Zeitpunkt t0 in der Situation s, daß die Realisierung der Handlungen H’ zur Verwirklichung seines Ziels z führt und die ›Gegebenheit‹ g herbeiführt.« Da ein Akteur a die zur Verwirklichung eines Ziels z als erforderlich geglaubten Handlungen H’ nicht gleichzeitig durchführen A

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kann bzw. es oftmals erforderlich ist, zur Erreichung eines Ziels mehrere Handlungsalternativen zeitlich nacheinander zu realisieren, gehen wir davon aus, daß er die Elemente von H’ (Handlungsalternativen) ordnet. Eine solche Ordnung von Handlungsalternativen kann durch eine Präferenzrelation zum Ausdruck gebracht werden. Wir führen dafür die Relation PRÄF ein. Der Ausdruck (5–7)

PRÄF(t1,a,hi,hj,s)

besagt dann: »a zieht zum Zeitpunkt t1 in der Situation s die Handlungsalternative hi der Handlungsalternative hj vor.« Auf der Grundlage des Ergebnisses der Ordnung der Handlungsalternativen in H’(z) entscheidet sich a für eine bestimmte Handlungsalternative h’, d. h. er wählt eine der ihm bekannten Handlungsalternativen aus. Wir benützen dazu wieder die Relation AUSWAHLh. Der Ausdruck (5–8)

AUSWAHLh(t2,a,h’(z),s)

besagt dann: »a wählt zum Zeitpunkt t2 in der Situation s aus der Menge der ihm zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen H’(z) in bezug auf sein Ziel z die Handlungsalternative h’ aus.« Hat ein Akteur a aus der Menge der ihm bekannten Handlungsalternativen die ihm für die Zielrealisierung geeignete(n) ausgewählt, so muß er auch, soll diese nicht nur eine theoretische Möglichkeit bleiben, diese sowohl durchführen wollen und können als auch tatsächlich durchführen. Wir führen dazu die drei Relationen INTEND, KANN und REAL ein. INTEND drückt das »HandelnWollen« in einer bestimmten Situation aus, so daß der Ausdruck (5–9)

INTEND(t3,a,h’,s)

wie folgt zu lesen ist: »a intendiert zum Zeitpunkt t3 in der Situation s die Handlungsalternative h’ durchzuführen.« KANN drückt das »Handeln-Können« aus, d. h. das sowohl psychische (immaterielle Ressourcen) als auch physische Potential (materielle Ressourcen) eines Akteurs, eine bestimmte Handlung tatsächlich auch durchführen zu können. Der Ausdruck (5–10)

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KANN(t4,a,h’,s)

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Macht

ist dabei wie folgt zu lesen: »a ist zum Zeitpunkt t4 in der Situation s physisch und psychisch in der Lage, die Handlungsalternative h’ durchzuführen.« REAL drückt die tatsächliche Realisierung von h’ durch a in s aus, so daß der Ausdruck (5–11)

REAL(t5,a,h’,s)

wie folgt zu lesen ist: »a realisiert zum Zeitpunkt t5 in der Situation s die Handlungsalternative h’.« Durch Zusammenfassen der bis jetzt angeführten Grundbegriffe, Relationen und der Funktion fZU sowie der Hinzufügung von drei Axiomen (D5–1–2, D5–1–8 und D5–1–9) läßt sich der Handlungsraum eines politischen Akteurs mengentheoretisch wie folgt definieren: D5–1:

x ist ein politischer Handlungsraum dann und nur dann, wenn es A, Z, H, H’, T,