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AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte
In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von Karl Eibl, Norbert Hinske, Lothar Kreimendahl und Monika Neugebauer-Wölk unter Mitwirkung von Klaus Gerteis, Rudolf Vierhaus sowie Carsten Zelle
– Band 15 · Jg. 2003 – Themenschwerpunkt: ARKANWELTEN IM POLITISCHEN KONTEXT
Herausgegeben von Monika Neugebauer-Wölk Mit zwei Nachträgen zum Themenschwerpunkt „Politische Theorie im 18. Jahrhundert“ (Band 13, 2001) Herausgegeben von Diethelm Klippel
FELIX MEINER VERLAG
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Inhalt
ISSN 0178-7128 Aufklärung. Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. – In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von Karl Eibl, Norbert Hinske, Lothar Kreimendahl und Monika Neugebauer-Wölk. – Redaktion: Dr. Marianne Willems, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für deutsche Philologie, Schellingstraße 3, 80799 München, E-mail: [email protected]. © Felix Meiner Verlag 2003. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Textformatierung: Katja Mellmann. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza. Printed in Germany.
INHALT
ARKANWELTEN IM POLITISCHEN KONTEXT
Einleitung. Von Monika Neugebauer Wölk ................................................. Monika Neugebauer-Wölk: Arkanwelten im 18. Jahrhundert. Zur Struktur des Politischen im Kontext von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit ...................................................................... Joachim Bauer, Gerhard Müller: Von Johnssen zu Cagliostro. Freimaurerische ‘Hochstapler’ und arkanpolitische Machtakkumulation im 18. Jahrhundert .................................................. Renko Geffarth: Geheimrat und Rosenkreuzer. Geheimbundmitglieder in der kursächsischen Regierung und Verwaltung 1780–1794 ................ Yvonne Wübben: Moses als Staatsgründer. Schiller und Reinhold über die Arkanpolitik der Spätaufklärung ............................................... Ute Lotz-Heumann: Unterirdische Gänge, oberirdische Gänge, Spaziergänge: Freimaurerei und deutsche Kurorte im 18. Jahrhundert .............. Holger Zaunstöck: Überwachung durch Denunziation? Studentische Arkanwelten als Gegenstand der Politikgestaltung vor 1800 .................. Wilhelm Kreutz: Masonische Netzwerke und Politik im deutschen Südwesten am Vorabend der Französischen Revolution .........................
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POLITISCHE THEORIE IM 18 . JAHRHUNDERT
Einleitung. Von Diethelm Klippel ............................................................... Jan Rolin: Recht, Gesetz und Gesetzgebung bei Montesquieu. Zur Kontextualisierung eines Klassikers des politischen Denkens ......... Louis Pahlow: Zur Theorie der Gewaltenteilung im 18. Jahrhundert .........
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KURZBIOGRAPHIE
Alexander Košenina: Christian Wilhelm von Dohm (1751–1820) .............
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Inhalt
A B H A N D L U N G E N Z U A R K A N WE LT E N IM P O L IT IS C H E N K O N T E X T
E IN LE IT U N G
Am 13. Juni 2003 fand am Institut für Geschichte an der Universität HalleWittenberg ein Workshop zum Thema „Arkanwelten im historischen Kontext“ statt, und intendiert war – wie der Untertitel signalisierte – ein Beitrag zur Struktur des Politischen im Jahrhundert der Aufklärung. Der etwas sperrige Begriff der Arkanwelten sollte einerseits das Schwerpunktthema benennen: die freimaurerischen Bewegungen und Geheimbünde des 18. Jahrhunderts. Andererseits war es erklärtes Ziel des Tagungskonzepts, deutlich zu machen, daß das ‘Geheimnis’ auch einen allgemeineren Aspekt frühneuzeitlicher Geschichte darstellt, der sich vor allem im Bereich des Politischen ausprägt. Theorie und Praxis vormoderner politischer Mentalitäten und Entwürfe sind vielfach auch außerhalb von Logen und Orden vom Denken in arkanen Kategorien geprägt. So lautete die Ausgangsthese, daß die Struktur des Politischen im Jahrhundert der Aufklärung in weiten Teilen von arkanen Denk- und Verhaltensweisen auf den verschiedensten Ebenen geprägt ist, und daß die Welt der Geheimhaltung insgesamt als eine ‘Parallelwelt’ der Sphäre des öffentlichen Handelns gegenübersteht und mit ihr korrespondiert. Die Referate dieser Veranstaltung, die hier nun im Druck präsentiert werden, versuchen diesem Ansatz auf vielen Ebenen und unter verschiedensten Aspekten nachzugehen. Ein Anliegen war es dabei, der stark theorielastig und modellbezogen operierenden wissenschaftlichen Freimaurerforschung konkrete historische Untersuchungen gegenüberzustellen. Fürsten, Räte und Beamte, Reichstagsgesandte und Diplomaten, Richter an Reichs- und Territorialgerichten, die adlig-bürgerlichen Eliten insgesamt waren seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem hohen Prozentsatz in Logen und Orden organisiert; sie waren Mitglieder und Funktionsträger masonischer Verbindungen und eingebunden in eine arkane informelle Kommunikation. Wilhelm Kreutz und Renko Geffarth stellen solche Konnexionen vor; Holger Zaunstöck zeigt, wie entsprechende Verhaltensweisen im studentischen Milieu zu spezifischen Formen der Politikgestaltung an den Universitäten führen. Skandalfiguren des esoterischen Umfeldes werden von Joachim Bauer und Gerhard Müller auf ihre Wirkungs-
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Einleitung
macht und Wirkungsgeschichte im öffentlichen Raum der Staatspolitik untersucht. Exemplarisch und in Fallstudien wird so ein Ursachen- und Motivationsgeflecht erhellt, das sich auf der Ebene öffentlich wahrnehmbarer Politik ausprägt und seinen Wurzelboden in einer zentralen Verhaltensform der Gesellschaft der Aufklärer findet: der arkanen Organisation und Kommunikation. Daß Fragestellungen dieses Zuschnitts auch mit Sichtweisen einer kulturgeschichtlich orientierten Forschung sinnvoll verbunden werden können, liegt auf der Hand. Symbolik, Ausdrucksformen, Gesprächskreise und Kontakte sind Gegenstände kulturgeschichtlicher Forschung und bezeichnen Formierungsund Orientierungsebenen für politisches Handeln. Hier ist der Übergang auch zur literarischen Sphäre nahe. Das Arkane als Thema der Literatur – Ute LotzHeumann zeigt, wie eines der berühmtesten Beispiele dieser Gattung, Lessings Ernst und Falk, auf seinen kulturgeschichtlich einschlägig relevanten Entstehungsraum im Kurbad Pyrmont bezogen werden kann. Yvonne Wübben untersucht die politiktheoretische Relevanz zweier Texte von Schiller und Reinhold im Kontext einschlägiger Diskurse des 18. Jahrhunderts. Der Dank der Herausgeberin geht an die Autoren der Beiträge, die nicht nur parallel zur Vorbereitung auf den halleschen Workshop bereits die Druckfassung fertiggestellt haben, sondern darüber hinaus noch bereit waren, Anregungen aus der Diskussion aufzugreifen und einzuarbeiten. So ist ein Text entstanden, von dem alle Beteiligten hoffen, daß er den aktuellen Forschungsstand zum Thema nicht nur reflektiert, sondern auch ein wenig vorantreibt. Möglichkeiten und Perspektiven der Erforschung des Arkanen im Zeitalter der Aufklärung sind jedenfalls noch lange nicht erschöpft. Monika Neugebauer-Wölk
M O N IK A N E U GEB AU ER -W Ö LK Arkanwelten im 18. Jahrhundert Zur Struktur des Politischen im Kontext von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit
Die Erkenntnis, daß die Sphäre des Politischen im 18. Jahrhundert nicht nur durch eine entstehende bürgerliche Öffentlichkeit ein neues Profil erhält, sondern daß das Zeitalter mindestens ebenso durch die politischen Implikationen der arkanen Vergesellschaftung großer Teile der bürgerlich-adligen Elite geprägt ist, ist nicht neu. Es gehört daher seit geraumer Zeit zur Strategie der Aufklärungsforschung, auch die Geschichte von Freimaurerei und Geheimbünden in ihre Untersuchungen einzubeziehen. Umgekehrt bedeutet dies, daß die Entwicklung masonischer Organisationen ganz wesentlich unter Fragestellungen betrachtet wird, die auf die politischen Voraussetzungen des Übergangs von der Gesellschaft des Ancien Régime zu den neuen staatlichen Formen der bürgerlichen Welt gerichtet sind. Die Argumentationsmuster und Untersuchungsstrategien, die dieser wissenschaftlichen Wahrnehmung zugrundeliegen, sind hingegen noch kaum systematisch betrachtet und in ihrem Tendenz- und Perspektivenwandel dargestellt worden. Die folgende Abhandlung wird daher mit einer einschlägigen Übersicht über die Historiographie beginnen und zunächst die Entwicklung der Freimaurereiforschung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 verfolgen.1 Auf diesem forschungsgeschichtlichen Fundament wird die Arbeit dann aufbauen und einen neuen Zugang zur Untersuchung der politikDie weitgehende Beschränkung auf die Forschung zur deutschen Freimaurerei ist dadurch geboten, daß die masonische Geschichte ebenso wie die Rahmenbedingungen ihrer Historiographie bedeutende nationale Unterschiede aufweisen und eine in dieser Hinsicht übergreifend verfahrende Darstellung den hier gegebenen Rahmen sprengen würde. Zur Übersicht über die internationale Forschung immer noch Ludwig Hammermayer, Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei und der Geheimgesellschaften im 18. Jahrhundert. Genese-Historiographie-Forschungsprobleme, in: Éva H. Balázs u.a. (Hg.), Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs, Berlin 1979, 9–68. 1
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geschichtlichen Relevanz von Arkanwelten im Jahrhundert der Aufklärung anbieten. Dieser Neuansatz wird dadurch gekennzeichnet sein, daß er Aspekte der jüngsten Forschung zur masonischen Entwicklung in Bezug setzt zur Frage nach den Konstituentien des Arkanen in der allgemeinen Geschichte der Frühen Neuzeit. Dies wird so unterschiedliche Bereiche wie die Entwicklung des Staatsrechts und der vormodernen Religionsgeschichte berühren, seine Konvergenz aber stets im Blick auf die Gestaltung der Geheimsphäre des 18. Jahrhunderts finden. Das Ziel der Betrachtung wird es sein, ein erweitertes, aber auch ein korrigiertes Strukturbild des Politischen im Zeitalter der Aufklärung zu gewinnen und damit unser Verständnis von den Prozessen und Zusammenhängen, die die politische Welt in den Jahrzehnten des Umbruchs zwischen Früher Neuzeit und Moderne charakterisieren, zu präzisieren und zu ergänzen. Für seinen ganz persönlichen Erkenntnisprozeß und aus der Erfahrung der Arkanwelten seiner Epoche hat ein engagierter Zeitgenosse bereits formuliert, in welch engem Zusammenhang öffentlicher und arkaner Raum des 18. Jahrhunderts stehen und wie sehr der Vergleich beider Sphären ihre wechselseitigen Beziehungen erhellt. 1788 schrieb der Freimaurer, Illuminat und Aufklärer Friedrich Nicolai: Ich ward in verschiedene geheime Gesellschaften aufgenommen, in verschiedenen weiter geführt. Ich habe dadurch meine Kenntnisse auf mancherley Art vermehrt, und möchte daher um vieles nicht, daß ich die Schritte in die geheimen Gesellschaften nicht gethan hätte. Schon deswegen gereuet es mich gar nicht, sie gethan zu haben, weil ich dadurch die wirkliche Welt von ganz neuen Seiten habe kennen lernen [...]2
I. Von der Dialektik der Aufklärung zur Kulturgeschichte der Logen Die moderne geschichtswissenschaftliche Erforschung von Freimaurerei und Geheimbünden begann in Deutschland mit der Publikation von Reinhart Kosellecks Dissertation Kritik und Krise.3 Weit entfernt davon, herkömmlichen poliFriedrich Nicolai, Öffentliche Erklärung über seine geheime Verbindung mit dem Illuminatenorden. Nebst beiläufigen Digressionen betreffend Hrn. Johann August Stark und Hrn. Johann Kaspar Lavater, Berlin, Stettin 1788, 18. 3 Entstanden war die Arbeit in den Jahren zwischen 1952 und 1954; die Manuskriptfassung, mit der Koselleck 1954 in Heidelberg promoviert wurde, trug den Titel „Kritik und Krise. Eine Untersuchung über die politische Funktion des dualistischen Weltbildes im 18. Jahrhundert“. Ein Exemplar dieses Manuskripts befindet sich heute in der Bibliothek des „Interdisziplinären Zentrums zur Erforschung der Europäischen Aufklärung“ in Halle, vom Verfasser anläßlich des Symposiums „Kritik und Krise“ im Februar 2002 persönlich übereignet. Werner Conze, dessen Assistent Koselleck war, brachte die Arbeit seit 1957 in der von ihm mitherausgegebenen Reihe Orbis academicus heraus. Sie erschien noch unter der leicht mißverständlichen Überschrift „Kritik und 2
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tikgeschichtlichen Fragestellungen zu folgen, war diese Arbeit doch eminent politisch – sowohl in ihrer Grundlage wie in ihren Ergebnissen. Zwischen Aufklärung und Freimaurerei wurde eine Verbindung hergestellt, wie sie enger kaum gedacht werden konnte. Koselleck ging davon aus, daß der absolutistische Staat trotz seines umfassenden Herrschaftsanspruchs der individuellen Meinungsbildung einen Freiraum läßt, der der Sphäre des Privaten zugewiesen und solange geduldet wird, wie er sich nicht offen politisiert. Die herrschaftspolitischen Grenzen des öffentlichen aufgeklärten Diskurses konnten also im Schutz des Geheimraums überschritten werden, und die Freimaurer boten mit ihren Logen diesen Geheimraum an.4 Hier liegt nach Koselleck die Ursache ihrer beeindruckenden Erfolgsgeschichte im 18. Jahrhundert; hier kann das moralische Selbstbewußtsein des Bürgers entwickelt werden, das sich aus den Grundgedanken der Aufklärung speist. Dabei geht es nicht nur um die äußerliche Schutzdimension des geschlossenen Raumes. Das Arkanum selbst nimmt in dieser Sicht den Charakter des Spannungsverhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft an – wie Koselleck schreibt: „das maurerische Geheimnis führt in das Zentrum der Dialektik von Moral und Politik. Das Geheimnis verdeckt [...] die politische Kehrseite der Aufklärung“.5 Denn die Freimaurerei hat in dieser Sicht eine politische Funktion. Es wäre naiv, so Koselleck, vom Grundgesetz der englischen Maurer, den Andersonschen Konstitutionen und deren Politikverbot für die Logen,6 auf die Realität zu schließen.7 Die politische Funktion der Maurerei habe vielmehr einen bedeutend subtileren und strukturelleren Charakter als ihn das deklaratorische Stereotyp des Verbots politischer DiskusKrise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“, Freiburg, München 1959. Ihren endgültigen Titel erhielt sie daher erst in der Taschenbuchausgabe: Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1973. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. 4 Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 3), 49–103. 5 Ebd., 56. Als Titel der Dissertation war denn auch zunächst „Dialektik der Aufklärung“ vorgesehen. Erst als Koselleck bemerkte, daß ein Buch mit diesem Titel bereits kurz nach Kriegsende erschienen war (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947), entstand der Haupttitel „Kritik und Krise“ (Freundliche Mitteilung des Autors während des halleschen Symposiums 2002 [wie Anm. 3]). 6 The Constitutions of the Free-Masons. Containing the History, Charges, Regulations, &c. of that most Ancient and Right Worshipful Fraternity. For the Use of the Lodges, London In the Year of Masonry 5723. Anno Domini 1723, Abschnitt VI/2: „Therefore no private Piques or Quarrels must be brought within the Door of the Lodge, far less any Quarrels about Religion, or Nations, or State Policy, we being only, as Masons, of the Catholick Religion above-mention’d; we are also of all Nations, Tongues, Kindreds, and Languages, and are resolv’d against all Politicks, as what never yet conduc’d to the Welfare of the Lodge, nor ever will.“ (Zitiert nach dem FaksimileDruck in der Ausgabe: Die Alten Pflichten von 1723. In neuer Übersetzung herausgegeben von der Großloge A.F.u.A.M.v.D., Bonn 1994). 7 Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 3), z.B. 59 und 68.
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sionen in den Logen besitzt: „Die Freiheit vom bestehenden Staat war [...] das eigentliche Politicum der bürgerlichen Logen.“8 Es handelte sich um eine „indirekt wirkende politische Gewalt“, die in aller Stille und langfristig die Grundlagen der bestehenden Staaten untergrub.9 Manifest wurden diese Tendenzen im Geheimbund der Illuminaten, denn hier werde sich die aufgeklärte Elite ihrer Macht bewußt. „Die Phase“, so Koselleck, „in der die geheime Gesellschaft nicht nur potentiell, sondern de facto als Gegner des absolutistischen Staates auftritt [...] ist erreicht.“10 Einen offenen Angriff aber konnten auch die Illuminaten nicht gegen den Staat führen; dazu seien sie zu schwach gewesen: Die Wendung in das Politische birgt also in sich eine spezifische Dialektik. Die Verdekkung der politischen Aktion gegen den Staat ist identisch mit der steten polemischen Verschärfung der Antithetik zwischen Staat und Gesellschaft. Der Gegensatz wird moralisch verschärft, aber politisch verdeckt. Diese Dialektik gehört zur Dialektik der Krise. Sie war seit Beginn der Auseinandersetzung zwischen Staat und Gesellschaft in den moralischen Antithesen angelegt: der kritische Prozeß hat sie forciert und die indirekte Gewaltnahme vorangetrieben. In ihrem Zeichen wurde der absolutistische Staat zerstört.11
Damit hatte Koselleck die älteren rechtskonservativen Verschwörungstheorien mit ihrer Vorstellung, Freimaurer und Illuminaten hätten mit einer internationalen Konspiration die bürgerliche Revolution gegen die Throne direkt und gezielt vorbereitet,12 zurückgewiesen, gleichzeitig aber die Verbindung zwischen masonischer Bewegung und gesellschaftlicher Revolutionierung auf eine Weise hergestellt, die intellektuell weit anspruchsvoller und deutlich weniger angreifbar war. Nicht Verschwörung, sondern Geschichtsphilosophie war nun das Stichwort: Die Geschichtsphilosophie lieferte dem elitären Bewußtsein der Aufklärer seine Evidenz. Sie war die Macht, die die Illuminaten gehabt haben, und diese Macht hatten sie gemeinsam mit der ganzen Aufklärung. Sie war die Drohung, in ihr trat der Plan der Eroberung [...] für die Angegriffenen deutlich ans Licht.13
Ebd., 58. Ebd., 54. 10 Ebd., 77. 11 Ebd., 80. 12 Vgl. dazu etwa Wilhelm Kreutz, „L’inscription qu’on pourra mettre sur les ruines des trônes, [...] peut être conçue dans ces deux mots: ‘L’ouvrage de l’Illuminatisme!’ ”. Johann August Starck und die ‘Verschwörungstheorie’, in: Christoph Weiß (Hg.), Von ‘Obscuranten’ und ‘Eudämonisten’. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997, 269–304. 13 Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 3), 108. 8 9
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Koselleck entwarf diese Konzeption nur wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft,14 und das tiefgreifende Erleben dieser Zeit hatte ihn ganz offenbar in die Herausforderung gestellt, den Zusammenbruch des starken Staates in einem Terrorsystem des 20. Jahrhunderts nicht nur zu erklären, sondern die Dignität des älteren Machtstaates auch aus diesem Zusammenbruch zu retten.15 Als empirischer Bezug diente ihm dabei das 18. Jahrhundert als jene Epoche, in der der frühneuzeitliche Absolutismus fundamental herausgefordert worden war, und Agentur des verhängnisvollen Übergangs vom absolutistischen Staat zur bürgerlichen Revolution war ihm die Aufklärung geworden – die Aufklärung in der geistigen und gesellschaftlichen Form der Freimaurerei.16 Das Thema der arkanen Bewegungen des Aufklärungszeitalters wurde also unter dem Vorzeichen einer eminent politischen Betrachtung in die Geschichtswissenschaft eingeführt, einer Betrachtung, die Sichtweise und Beurteilungskriterien den Konflikten des 20. Jahrhunderts verdankte. Möglich gewesen war das nur auf einem außerordentlich hohen Abstraktionsniveau.17 Das Verständnis des politischen Charakters von Struktur und Funktion der Freimaurerei in der Vormoderne war in der unmittelbaren Nachkriegsphase ebenso exponiert wie theoretisch begründet worden. Diese Karriere des Geheimen in der Aufklärungsforschung war bemerkenswert und blieb trotzdem zunächst weitgehend folgenlos. In den frühen sechziger Jahren hatten große Teile der bundesrepublikanischen Intellektuellen damit begonnen, sich an den Leitlinien des Denkens von Jürgen Habermas zu orientieren, der nicht die Arkanwelt, sondern den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ zur Grundlage seines Verständnisses von der Entstehung der modernen Welt gemacht hatte.18 Bedeutung gewann der Blick auf die Logen erst wieder ein Jahrzehnt später: Rudolf Vierhaus publizierte 1973, also zeitgleich zur ersten Taschenbuchausgabe von Kritik und Krise, die kurze, aber folgenreiche
Rudolf Vierhaus, Laudatio auf Reinhart Koselleck, in: Historische Zeitschrift 251 (1990), 529–538, hier 530. 15 Vgl. dazu bereits Michael Schwartz, Leviathan oder Lucifer. Reinhart Kosellecks ‘Kritik und Krise’ revisited, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 45 (1993), 33–57, hier besonders 56. 16 In Kritik und Krise findet sich der Hinweis auf den „moralischen“ Terror im Geheimbund der Illuminaten (S. 63). 17 Siehe dazu auch Michael Voges, Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987, 12–18. 18 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied, Berlin 1962. In der Arbeit von Habermas werden Freimaurerei und Logen des 18. Jahrhunderts nur einmal erwähnt (S. 51). Sie spielen für das systematische Verständnismodell der Studie keine Rolle. 14
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Studie Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland.19 Vierhaus und Koselleck kannten sich aus ihrer gemeinsamen Zeit als Hochschullehrer in Bochum und aus der Zusammenarbeit im Gründungsausschuß der Universität Bielefeld.20 Zu Beginn der siebziger Jahre war Vierhaus bereits Direktor am Max-PlanckInstitut für Geschichte in Göttingen, und er war dabei, einen Arbeitsschwerpunkt zu konzipieren, der die Aufklärungsforschung für die neue Sozialgeschichte öffnen sollte, die in dieser Zeit ihren Siegeszug antrat. Dafür brauchte er ein Verständnismodell der Freimaurerei, denn ohne die quantitativ stärkste gesellschaftsbildende Bewegung der Epoche war eine Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts nicht formulierbar. Der Blick auf die Öffentlichkeit und die Diskursgesellschaft reichte dafür nicht aus.21 Der Rekurs auf Kritik und Krise im Neuentwurf der Freimaurerforschung durch Rudolf Vierhaus ist das klassische Beispiel einer partiellen Rezeption. Vierhaus übernahm von Koselleck den Blick auf die Sozietätsbildungen der aufgeklärten Gesellschaft und die Integration der Freimaurerei in dieses Bild. Er übernahm auch die Vorstellung von der gleichsam idealtypischen Realisierung der bürgerlichen Gesellschaft in den Logen und ihrer die Gesellschaft des Ancien Régime modernisierenden Funktion. Hier findet man Formulierungen, die unmittelbar auf das Kosellecksche Konzept zurückgehen. „Gleichsam ein Modell bürgerlicher Gesellschaft [...] war die Freimaurerei“, heißt es bei Vierhaus, „sie war als private Vereinigung organisiert, die die Kollision mit dem Staat zu vermeiden suchte, und dazu sollten das Geheimnis und die Geheimhaltung als Mittel dienen [...] Das aber war indirekt eminent politisch.“22 Was Vierhaus nicht übernahm, das war die Wertung, die Koselleck diesem Modell gegeben hatte. Vierhaus löste das Freimaurerbild von Kritik und Krise aus dem inzwischen historischen Kontext des konservativen Selbstbehauptungswillens der frühen fünfziger Jahre und übersetzte es in die Zeit nach Habermas, in das nach Westen geöffnete Selbstverständnis der Bundesrepublik. Aufklärung und bürgerliche Emanzipation waren nun positiv besetzte Begriffe, der ‘absolutistische Machtstaat’ dagegen eine datierte Größe, deren Dekon-
19 Rudolf Vierhaus, Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in: Rudolf von Thadden u.a. (Hg.), Das Vergangene und die Geschichte. Festschrift für Reinhard Wittram zum 70. Geburtstag, Göttingen 1973, 23–41. 20 Koselleck war 1966–1968, Vierhaus 1964–1971 Professor an der Universität Bochum. Zum Bielefelder Kontext: Peter Lundgreen (Hg.), Reformuniversität Bielefeld 1969–1994. Zwischen Defensive und Innovation, Bielefeld 1994, 140. 21 Zur einschlägigen Forschungssituation zu Beginn der siebziger Jahre vgl. Monika Neugebauer-Wölk, Die Geheimnisse der Maurer. Plädoyer für die Akzeptanz des Esoterischen in der historischen Aufklärungsforschung, in: Das achtzehnte Jahrhundert 21 (1997), 15–32, hier 15–17. 22 Vierhaus, Aufklärung und Freimaurerei (wie Anm. 19), 31 f.
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struktion bejaht wurde. Jetzt galten die Werte der Demokratie. Zu den Ursachen für die Affinität von Aufklärung und Freimaurerei hieß es: Beide sind zeitlich und räumlich gemeinsam mit der modernen „bürgerlichen Gesellschaft“ entstanden – und haben deren Krisen geteilt. Ihrer Idee nach war diese eine soziale Ordnung auf der Basis des vertragsartigen Consensus. In ihr wird politische Herrschaft als Funktion der Gesellschaft ausgeübt, bleiben den Menschen bestimmte unveräußerliche Grundrechte erhalten und kommen ihnen als Bürgern bestimmte, prinzipiell gleiche Rechte zu. Standesunterschiede können sich nur aus den verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen der Bürger legitimieren.23
In dieser von Vierhaus gebändigten Form zündete die Idee von der Einbindung der Arkanwelt des 18. Jahrhunderts in den Prozeß der Aufklärung und begründete eine historiographische Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält. Das Konzept fand Eingang in Überblickswerke und Standarddarstellungen;24 es wurde zum Denkmuster einer Gesellschaftsgeschichte der Aufklärung, die die arkanen Bünde nun nicht mehr als ihre bedeutendste – aber negativ akzentuierte – Form hervorhob, sondern sie gleichgewichtig, dafür mit positivem Akzent, in ein neuentwickeltes Gesamtspektrum aufgeklärter Sozietäten einband.25 Die Freimaurerei stand nun neben Deutschen und Literarischen Gesellschaften, neben Patriotischen, Ökonomischen und Lesegesellschaften, war ein Faktor in der Organisationsgeschichte der Gesellschaft der Aufklärer. Der Spannungsbogen des Arkanen von der diskreten Welt der Logen bis zur geheimen Existenz der Orden wurde selbstverständlich immer erwähnt, war aber nicht eigentlich Gegenstand der Betrachtung. Freimaurerei und Geheimbünde wurden mit Fragestellungen analysiert, die der Untersuchung der nichtarkanen Gesellschaften völlig analog waren. Es ging um quantitative Proportionen, um die Ausbreitung des Logenwesens in zeitlicher und räumlicher Perspektive, um die innere Organisation des Gesellschaftslebens oder um die Repräsentanz von Sozial- und Berufsgruppen in der maurerischen Mitgliedschaft und ihrer Ämterhierarchie. Es war Norbert Schindler, damals Doktorand in München, der 1982 als erster auf die Problematik der Verdrängung des Arkanums aus der Sozietätengeschichte der Aufklärung hinwies und diese Forschungsstrategie in einem groß angelegten programmatischen Aufsatz kritisch hinterfragte.26 Als Hintergrund Ebd., 31. Vgl. etwa Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1987, 322–325. 25 Vgl. die bekanntesten und wirkungsmächtigsten Gesamtdarstellungen: Ulrich Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982, 163–171, und Richard van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt am Main 1986. 26 Norbert Schindler, Freimaurerkultur im 18. Jahrhundert. Zur sozialen Funktion des Geheimnisses in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, in: [Robert M.] Berdahl u.a. (Hg.), Klassen 23 24
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für die fehlende Sensibilität gegenüber der Bedeutung des Geheimnisses diagnostizierte er das Unvermögen, mit dem „Irrationalen“ im Zeitalter der Aufklärung umzugehen. Der Zusammenhang zwischen „rationaler“ Organisationsstruktur und „irrationaler“ Kultpraxis würde nicht untersucht, weil die Aufklärung als ein einseitig rationalistisches Konzept wahrgenommen werde.27 Er empfahl, „vom geraden, fortschrittsbeflissenen Weg der Aufklärungshistoriker abzuweichen“.28 Der Aufsatz basierte auf einem Vortrag, den Schindler 1978 auf einer Göttinger Tagung gehalten hatte – das Symposium war die erste Veranstaltung einer kleinen Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut gewesen, die sich mit den neuen Tendenzen der internationalen Kulturanthropologie auseinandersetzte.29 Damit hatte die Sichtweise der modernen Kulturgeschichte vergleichsweise früh und auf hohem Niveau in die Geschichte der Freimaurerei im Aufklärungszeitalter Eingang gefunden. Schindler schlug vor, das heuristische Konzept des „Fremden in der eigenen Kultur“ auf das Verständnis des maurerischen Arkanums anzuwenden. Dieses Konzept beruhe auf der Annahme, daß sich elementare Erfahrungen der Ethnologie über die Unvereinbarkeit der fremden Kultur, die man untersucht, und der eigenen Kultur, der man angehört [...], mit bestimmten Modifikationen auch für die Beschäftigung des Historikers mit der Entwicklung der ‘eigenen’ Gesellschaft analytisch fruchtbar machen lassen.30
Es ergebe sich so ein schärferer Blick für den Sinn von Verfremdungsphänomenen auch innerhalb ein und desselben Kulturkontextes. Mit diesem Blick und in diesem Sinne untersuchte Schindler nun die Aufnahmerituale masonischer Basisgrade und beschrieb „Reinigungszeremonien, Schwellenerlebnisse und eine gezielte Schocktherapie, die schon die Zeitgenossen an die Initiationsriten der Stammesgesellschaften“ erinnert habe.31 Er entdeckte Elemente „magischer Praktiken“32 und sah eine Verbindung von christlicher Religiosität und dem Verhalten von Naturvölkern: „Das Ritual der Beförderung eines Gesellen zum Meister etwa verknüpft Anklänge an die christliche Resurrektionsme-
und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1982, 205–262. 27 Ebd., 206. 28 Ebd. 29 Zu dieser Gruppe um Hans Medick, Alf Lüdtke und David Sabean siehe Richard van Dülmen, Historische Anthropologie in der deutschen Sozialgeschichtsschreibung, in: ders., Gesellschaft der Frühen Neuzeit: Kulturelles Handeln und sozialer Prozeß. Beiträge zur historischen Kulturforschung, Wien, Köln, Weimar 1993, 372–401, besonders 377–379. 30 Schindler, Freimaurerkultur im 18. Jahrhundert (wie Anm. 26), 248. 31 Rückbindung an die ethnologische Literatur über Initiationsriten ebd., 255 Anm. 72. 32 Ebd., 225.
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taphorik geschickt mit sozialintegrativen Mechanismen, wie sie auch von den Rebellionsritualen afrikanischer Stämme bekannt sind.“33 Diese Beobachtungen ließen sich insofern für ein politikgeschichtlich orientiertes Verständnis des 18. Jahrhunderts fruchtbar machen, als sie analysiert und verstanden werden konnten als Ausdrucksmittel der Bedeutungsverschiebung zwischen den großen sozialen Gruppen der ständischen Gesellschaft. Es wäre denkbar, schrieb Schindler, „daß gerade das ‘Fremde in der eigenen Kultur’ [...] ein konstitutives Element des gesellschaftlichen Umbruchs gewesen ist“,34 denn es war die „esoterisch-virtualisierende Funktion“ der Aufnahmerituale, daß sie „sowohl soziale Barrieren als auch traditionelle Bewußtseinsinhalte eigentümlich entgrenzte“.35 Der Autor demonstrierte diese Wirkung an den Formen freimaurerischer Soziabilität: Die masonische Festkultur wurde analysiert als „moralisches Spiel“ mit einer ständig wechselnden Rollenverteilung zwischen Adel und Bürgertum, ein „Gesellschaftsspiel“, das sich zum Machtkampf um „symbolische Positionen“ entwickeln kann, „in dem die Freimaurerloge die Mittel der traditionellen Kultur aufgreift, um sie gegen diese einzusetzen“.36 Der freimaurerische Brüderlichkeitskult erlaubte dem Adel die Aneignung neuer bürgerlicher Verhaltensweisen – „nicht so sehr als einen kognitiven Lernprozeß“, sondern durch „verhaltenspraktische Einübung und Routinisierung“, die umso stärker und nachhaltiger war, als sie auf den Alltag der Brüder einwirkte: Gerade durch den experimentellen Charakter ihres Geheimkults, der die soziale Phantasie entgrenzte und vielfältige Möglichkeiten der allmählichen Übersetzung vorbürgerlicher und bürgerlicher Verhaltensmuster bereitstellte, wurde die Freimaurerei zu einer wichtigen Sozialisationsagentur in der Formierungsphase des Bürgertums.37
Das masonische Arkanum ordnete sich damit ein in den Strukturwandel von der „feudalabsolutistischen zur bürgerlichen Gesellschaftsordnung“,38 seine Transformationspotentiale richteten sich auf die höfische Welt des Adels, nachdem „der Aufstieg der absolutistischen Territorialherrschaft die altständische Adelsautonomie weitgehend gebrochen [...] hatte.“39 Mit dieser kulturgeschichtlichen Erweiterung und Überformung des sozialgeschichtlichen Ansatzes war ein Paradigma gefunden, das die Wahrnehmung des Themas bis heute vielfach bestimmt und mit der Dissertation von Florian Maurice auch eine Mo-
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Ebd., 228. Ebd., 206. Ebd., 207. Ebd., 244 und 215. Ebd., 207. Ebd. Ebd., 209.
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nographie hervorgebracht hat, die das Konzept an einem konkreten empirischen Fallbeispiel erprobte: Maurice stellte 1997 seine Analyse einer Berliner Großloge um 1800 vor, in der er ausführlich auf die Strukturen des Verhältnisses von Logenleben und Freizeitverhalten einging, eine Verbindung, die er als Formierungsauftakt der modernen Konsumgesellschaft verstand.40 Mit seiner Strategie, die Verhaltensweisen im Arkanraum der Logen als Einübung moderner bürgerlicher Verhaltensweisen zu verstehen, fügt sich der kulturgeschichtliche Ansatz in ein Konzept „Neuer Politikgeschichte“, wie es für einen Sonderforschungsbereich der Universität Bielefeld unter Federführung von Ute Frevert entwickelt worden ist.41 Politisches Handeln wird hier in seiner Konstituierung durch Kommunikation verstanden; gerade die vormoderne Gesellschaft verfüge über „ein breites Arsenal kommunikativer Formen und Instrumente“, zu dem an erster Stelle Rituale und symbolische Praktiken gehörten, „die die gegebenen oder erwünschten politischen Verhältnisse einerseits abbilden, andererseits aber (und mehr noch) herstellen helfen.“42 Das Thema der arkanen Bünde des 18. Jahrhunderts spielt in diesem Kontext bisher allerdings noch keine erkennbare Rolle.43
II. Arkanwelt und frühmoderner Staat: Vom Absolutismusparadigma zur Reichsgeschichte Betrachtet man die Verfahrensweise der sozialgeschichtlichen wie der kulturgeschichtlich orientierten Freimaurerforschung, wie sie in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts begründet wurde, so wird man eine signifikante Übereinstimmung feststellen, die sich aus dem zugrundeliegenden frühneuzeitlichen Geschichtsbild ergibt, das beide Ansätze verbindet, und das die aufsteigende bürgerliche Gesellschaft dem absolutistischen Staat des Florian Maurice, Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997, zum Ansatz in der Einleitung XXII f.; zur programmatischen Vertiefung der Sichtweise siehe auch ders., Die Mysterien der Aufklärung. Esoterische Traditionen in der Freimaurerei?, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.), Aufklärung und Esoterik, Hamburg 1999, 274–287; ein Überblick über Leistungsfähigkeit und Erklärungspotentiale kulturgeschichtlicher Freimaurerforschung jetzt bei Manfred Hettling, Soziale Figurationen und psychische Valenzen. Die Dynamik von Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, in: ders. u.a. (Hg.), Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, München 2002, 263– 276. 41 SFB 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“. 42 Ute Frevert, Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach, Günther Lottes (Hg.), Kompass der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2002, 152–177, Zitat 159. 43 Vgl. die Präsentation des Sonderforschungsbereichs im Internet: www.geschichte.unibielefeld.de/sfb584/ (Herbst 2002). 40
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18. Jahrhunderts gegenüberstellt. Die ganz selbstverständliche und nirgendwo problematisierte Anwendung dieses Grundmodells führt zu einer bemerkenswerten Asymmetrie, was die Einpassung dieses Forschungsthemas in den Kontext der Frühneuzeitgeschichte insgesamt betrifft. Denn das entwickelte Verständnismuster folgt einerseits dem Modernisierungsgang der Frühneuzeitforschung mit großer Innovationskraft und wendet die sozialgeschichtlichen und historisch-anthropologischen Konzepte auf das Thema der arkanen Bewegungen an, andererseits aber bleibt das Verständnis des staatlichen Rahmens, innerhalb dessen die einschlägigen Verhaltensweisen beobachtet werden, dem Konventionellen verhaftet. Es dürfte schwer fallen, ein zweites Forschungsthema zu benennen, wo ähnlich wie in der Freimaurerforschung das Stereotyp des „Absolutismus“ als Signum aller Staatlichkeit des 18. Jahrhunderts in einer so unreflektierten Weise überlebt hat und bis heute überlebt. Dies gilt für Einzelstudien bis zu Überblickswerken. Wolfgang Hardtwigs Übersicht über die Geheimgesellschaften und die Politisierung der Aufklärung dokumentiert diesen Forschungsstand aus neuester Sicht, wenn er schreibt: Allerdings ließ die absolutistische Monopolisierung aller Gewalt in der Person des Herrschers die freie Entfaltung politischer Strömungen noch nicht zu. Im absolutistischen Staat, auch wenn er die aufklärerische Herrschaftslegitimierung übernommen und seine Wohlfahrtspolitik nach aufklärerischen Rationalitätsvorstellungen ausgerichtet hatte, blieb der politisch interessierten Öffentlichkeit keine andere Wahl, als immer noch kryptopolitisch zu agieren. Politische Bedürfnisse und Meinungen äußerten sich daher in einer Weise, die zumindest nach außen hin das herrscherliche Politikmonopol nicht in Frage stellte.44
Als Reinhart Koselleck seine Dissertation konzipierte und das Bild des Gegensatzes von absolutem Staat und aufgeklärter Bürgergesellschaft für die Freimaurerforschung festschrieb,45 da bewegte er sich in der damals gültigen historiographischen Vorstellung vom Machtstaat der Vormoderne, wie sie die Staatsund Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. Noch bevor die Arbeit dann erschienen war, nämlich 1957, hatte Kurt von Raumer jedoch bereits damit begonnen, dem Konzept vom absoluten Staat Überlegungen zur korporativen Libertät gegenüberzustellen;46 in den sechziger Jahren erfolgte
Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1, München 1997, 328–359, Zitat 330. 45 Vgl. z.B. die Überschriften der ersten beiden Hauptkapitel: „Die politische Struktur des Absolutismus als Voraussetzung der Aufklärung“ und „Das Selbstverständnis der Aufklärer als Antwort auf ihre Situation im absolutistischen Staat“. Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 3), 11 und 41. 46 Kurt von Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit, in: Historische Zeitschrift 183 (1957), 55–96. 44
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der Durchbruch zur Ständeforschung,47 schließlich schloß der Aufsatz von Gerhard Oestreich zu den Strukturproblemen des europäischen Absolutismus die erste und entscheidende Phase der Revision des älteren Absolutismusbildes ab.48 Gleichzeitig hatte sich ein neuer Blick auf das Alte Reich entwickelt. Die Frühneuzeitforschung löste sich aus der Fixierung auf das allein gültige Bild des Staates als Machtstaat und befreite die Reichsgeschichte aus ihrer älteren Wahrnehmung, die Züge der Karikatur getragen hatte. Intensive Einzelforschung zu den Institutionen des Reiches, zum politischen Funktionieren der Reichskreise, zum Reichskammergericht und seiner Rechtssprechung, zum Reichstag und seinen Verfahrensweisen, führten in Verbindung mit der europäischen Ständeforschung zu einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel des Staatsdenkens in der frühneuzeitlichen Verfassungsgeschichte; wie er sich etwa im Gesamtwerk von Volker Press unter vielfältigen Aspekten niederschlug.49 In den siebziger und achtziger Jahren entstand ein hochkomplexes Bild frühmoderner Staatlichkeit, das sich für das Gebiet des Heiligen Römischen Reiches aus den verschiedensten Formen und Ebenen reichsständischer Partikulargewalten und übergreifender Gesamtverfassung zusammensetzte. Die Vorstellung von der grundsätzlichen und allgemeingültigen Gegenüberstellung eines absolutistischen Politikmonopols in der Hand der Fürsten und einer rein sozialgeschichtlich und politikfern verstandenen ständischen Gesellschaft gehörte damit der Vergangenheit an. Diese Ergebnisse frühneuzeitlicher Verfassungsgeschichte haben die Freimaurerforschung lange nicht erreicht. Dies ist sicher kein Zufall, sondern Resultat der historischen Gesamtkonzeption, die seit Kosellecks Kritik und Krise der Freimaurergeschichte im Rahmen der Aufklärungsforschung zugrundelag, und die sich auch nicht geändert hatte, als sein konservativer Entwurf der frühen Nachkriegszeit im Zuge der zunehmenden Westorientierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft einer Neuinterpretation unterzogen worden war. Danach wurde die Destruktion des absolutistischen Staates den aufgeklärten
Wichtig vor allem die Arbeiten von Dietrich Gerhard, siehe z.B.: Probleme ständischer Vertretungen im früheren 18. Jahrhundert und ihre Behandlung in der gegenwärtigen internationalen Forschung, in: ders. (Hg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1969, 9–31. 48 Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968), 329–347. 49 Vgl. die Darstellung des Übergangs von der älteren zur neueren Reichsgeschichte bei Volker Press, Das Römisch-deutsche Reich – ein politisches System in verfassungs- und sozialgeschichtlicher Fragestellung, in: Grete Klingenstein, Heinrich Lutz (Hg.), Spezialforschung und „Gesamtgeschichte“. Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der frühen Neuzeit, München 1982, 221–242, und als Querschnitt seines Gesamtwerkes: ders., Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Johannes Kunisch, Berlin 1997. 47
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Freimaurern zwar nicht mehr zur Last gelegt, seine Überwindung aber war nach wie vor das Thema – jetzt mit positiver Bewertung der emanzipatorischen Kraft einer sich modernisierenden Gesellschaft. Das Staatsbild des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatte also die Zäsur der politischen Umorientierung der Freimaurerforschung überlebt und hielt sich in diesem Segment der Frühneuzeitforschung hartnäckig, vor allem wohl deshalb, weil gerade die kulturgeschichtliche Sichtweise die dualistische Konfiguration zwischen starkem Staat und machtloser Ständegesellschaft benötigte, um die kulturanthropologischen Konzepte einer nur symbolisch und als Machtspiel zu verstehenden arkanen ‘Politik’ überzeugend darstellen zu können. Das „Machtspiel der Machtlosen“ blieb die Ratio der historischen Relevanz arkaner Bünde.50 Aufgrund der dargestellten Problematik liegt die Feststellung nahe, daß die Freimaurerforschung aus kulturgeschichtlicher Perspektive für manche Bereiche dieser Thematik, z.B. für das innere Leben der Logen als Soziabilitätsphänomen, interessante Erklärungspotentiale bietet, daß sie für das Verständnis der Arkanwelt im 18. Jahrhundert insgesamt jedoch nur begrenzte Reichweite besitzt. In den neunziger Jahren wurde dies zunehmend deutlich und führte zur Erarbeitung neuer und ergänzender Ansätze. Diese Entwicklung begann zunächst ganz unspektakulär und eher als Nebenprodukt anderer Forschungen. So war Werner Troßbach bei seinen Arbeiten zu den Wirtschafts- und Rechtskonflikten des 18. Jahrhunderts in Neuwied auf eine arkane Konnexion gestoßen, die sich daraus ergab, daß die dem Illuminatenorden angehörenden Geheimen Räte des Grafen von Wied-Neuwied ganz offenbar mit Mitgliedern des Ordens kooperierten, die der Assessorenschaft des Reichskammergerichts angehörten. Ein Prozeß zur Absetzung des regierenden Fürsten war in seiner politischen Stoßrichtung nur aus dieser Verbindung erklärbar.51 Troßbach hatte die weit über die niederrheinische Regionalgeschichte hinausgehende Bedeutung dieser Beobachtung erkannt und für das 2. Wissenschaftliche Kolloquium der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 1990 einen Vortrag erarbeitet, der die grundsätzliche Frage nach Rolle und Wirken der Illuminaten an diesem höchsten Reichsgericht aufwarf.52 Zeitgleich zu Troßbachs Forschungen arbeitete die Autorin des vorliegenden Beitrags an einem Strukturvergleich zwischen freimaurerischer und illuminatischer Präsenz in der amtlichen Hierarchie dieses nächst dem Reichstag zentralen Organs der Reichsverfassung.53 Es ergab Hardtwig, Genossenschaft (wie Anm. 44), 332. Werner Troßbach, Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger und Illuminaten in der Grafschaft Wied-Neuwied, Fulda 1991, besonders Kap. 5. 52 Werner Troßbach, Illuminaten am Reichskammergericht, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts, Köln, Weimar, Wien 1993, 135–156. 53 Monika Neugebauer-Wölk, Reichsjustiz und Aufklärung. Das Reichskammergericht im Netzwerk der Illuminaten, Wetzlar 1993. 50 51
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sich, daß die 1782 durchgeführte Reform der Gerichtsorganisation zu einer bemerkenswerten Vertretung von Ordensmitgliedern im Zweiten Senat geführt hatte;54 die Absicht, diese institutionelle Position verfassungspolitisch umzusetzen, ist durch ein Schreiben des Illuminaten und Reichsrichters von Ditfurth an die Ordensleitung vom April 1782 belegt.55 Darin entwickelte er als einer der einflußreichsten Freimaurer des ausgehenden 18. Jahrhunderts56 eine konkrete Strategie, wie der Kaiser das Gericht in eine Politik einbauen könnte, die sich gegen – aus illuminatischer Sicht – mißliebige Reichsfürsten richtete.57 Ziel dieses Allianzangebots war offenkundig „die Errichtung einer rechtsstaatlich verfaßten Nation der Reichsuntertanen“,58 die Umsetzung und Durchsetzung von Potentialen, wie sie die Reichsverfassung in der Grundstruktur ihres institutionellen Aufbaus durchaus anbot, wie sie aber nur sehr begrenzt in der Konkurrenz kaiserlich-reichsständischer Machtverhältnisse realisiert werden konnte. Weitergeführt wurden diese Untersuchungen in einem vergleichenden Beitrag, der das Reichskammergericht mit entsprechenden Strukturen der Kreisversammlung des Fränkischen Reichskreises in Beziehung setzte.59 War das Gericht Schauplatz und Bezugsfeld illuminatischer Projektionen, so war der Kreistag in Nürnberg von einer Führungsgruppe von Gesandten dominiert, die verschiedenen freimaurerischen Logen angehörten. Auch hier ließ sich die Bündelung masonischer Potentiale nach den Möglichkeiten des Aufbaus der Korporation feststellen. Damit hatte sich gezeigt, daß es fruchtbar sein konnte, die Ebene des Staates als Bezugssystem maurerischer Aktivitäten nicht generalisierend zu begreifen, sondern den ‘absolutistischen’ Strukturen den Blick auf das Reich, seine Institutionen und Politikmöglichkeiten gegenüberzustellen.
Ebd., 27–34. Kritisch dazu jetzt Karl Härter, Soziale Unruhen und Revolutionsabwehr. Auswirkungen der Französischen Revolution auf die Rechtsprechung des Reichskammergerichts, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht am Ende des Alten Reiches und sein Fortwirken im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2002, 43–104, besonders 53 und 81–88. 55 Neugebauer-Wölk, Reichsjustiz und Aufklärung (wie Anm. 53), 29 f. 56 Vgl. im Überblick den Artikel „Franz Dietrich von Ditfurth“ in: Eugen Lennhoff, Oskar Posner, Internationales Freimaurerlexikon, Zürich, Leipzig, Wien 1932, 373; zu seinem Wirken speziell im Entwicklungsgang der Wetzlarer Gesellschaftsbewegung jetzt Neugebauer-Wölk, Reichskammergericht, Reichsstadt und Aufklärung. Wetzlar im späten 18. Jahrhundert, in: Heiner Lück, Bernd Schildt (Hg.), Recht-Idee-Geschichte. Beiträge zur Rechts- und Ideengeschichte für Rolf Lieberwirth anläßlich seines 80. Geburtstags, Köln, Weimar, Wien 2000, 89–114, besonders 95 ff. 57 Neugebauer-Wölk, Reichsjustiz und Aufklärung (wie Anm. 53), 29–34. 58 Ebd., 30. 59 Monika Neugebauer-Wölk, Das Alte Reich und seine Institutionen im Zeichen der Aufklärung. Vergleichende Betrachtungen zum Reichskammergericht und zum Fränkischen Kreistag, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 58 (1998), 299–326. 54
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Die Verschiebung des Forschungsinteresses vom Blick auf symbolische Szenarien zur Analyse konkreter Politik unter verschiedenen politischen Rahmenbedingungen erhielt parallel zu diesen Untersuchungen, die sich aus der westdeutschen Forschung herausentwickelt hatten, Unterstützung aus ganz unerwarteter Richtung. Denn nach der Wende erschloß sich ein Potential, das sich in der letzten Phase der Geschichtswissenschaft der DDR entwickelt hatte, ohne daß dies vor 1989 durch Publikationen deutlich geworden wäre. Das Zentrum dieser Forschung war die Universität Jena, in der Wissenschaftslandschaft des anderen deutschen Staates Standort der Arbeiten zur Geschichte der bürgerlichen Parteien in Deutschland.60 Unter Leitung von Dieter Fricke waren hier seit den sechziger Jahren vor allem Übersichts- und Nachschlagewerke erarbeitet worden, zunächst das Handbuch der bürgerlichen Parteien, dann ein vierbändiges Lexikon zum gleichen Thema. Interessant war die Verschiebung des Zeitrahmens im Fortgang der Arbeit: Hatte das Handbuch noch 1830 eingesetzt,61 so war das Lexikon bereits für die Zeit ab 1789 konzipiert; Leiter der Arbeitsgruppe für diese frühe Phase war Siegfried Schmidt.62 Noch während das Lexikon zwischen 1983 und 1986 erschien, wurde eine nochmalige Vorverlegung des Untersuchungszeitraums geplant, ein Verständnis von der Vorgeschichte politischer Parteien in den politischen Strömungen der Frühen Neuzeit, wie es Fritz Valjavec bereits 1951 mit einem einschlägigen Standardwerk entwickelt hatte.63 Valjavec hatte in seinen Überlegungen zur Entstehung der politischen Strömungen auf die „Gruppenbildung“ des 18. Jahrhunderts hingewiesen, auf die Vereine und Gesellschaften der Aufklärung und damit auch auf die geheimen Bünde.64 In Jena wurde man nun auf ein Material aufmerksam, über das die DDR verfügte, und das bisher so gut wie nicht ausgewertet worden war: Ein immenser Bestand an Archivalien der deutschen Freimaurerei von ihren Ursprüngen bis 1933 lagerte im Zentralarchiv in Merseburg – in dem Umfang, wie er von der Gestapo nach der Machtübernahme beschlagnahmt und von der Sowjetunion aus ihrer Kriegsbeute 1957 zurückgegeben worden
Vgl. z.B. Historische Forschungen in der DDR 1970–1980. Analysen und Berichte zum XV. Internationalen Historikerkongreß in Bukarest 1980, Berlin 1980, 193 f. 61 Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945, hg. von einem Redaktionskollektiv unter der Leitung von Dieter Fricke, Bd. 1, Leipzig 1968, Bd. 2, Leipzig 1970, zur Jenaer „Forschungsgemeinschaft“ vgl. den Beginn des Vorworts. 62 Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), hg. von Dieter Fricke u.a., 4 Bde, Leipzig 1983–1986, zur Position Schmidts siehe das Vorwort, 7. 63 Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815, Nachdruck der Ausgabe von 1951, Düsseldorf 1978. 64 Ebd., 229 ff. 60
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war.65 Jenaer Nachwuchswissenschaftler wurden Mitte der achtziger Jahre damit beauftragt, auch in diesen Quellen nach den Ursprüngen der politischen Bewegungen zu forschen, und Joachim Bauer, Schüler von Siegfried Schmidt, und Gerhard Müller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Dieter Fricke, begannen damit, sich in die Geschichte der Freimaurerei einzuarbeiten und die Merseburger Materialien auf ihre Aussagekraft zu prüfen. Bevor Ergebnisse dieser Studien publiziert werden konnten, kam das Ende der DDR, und der institutionelle Rahmen der ostdeutschen Parteienforschung brach weg. Joachim Bauer und Jens Riederer veröffentlichten daher 1991 eine erste Übersicht der Erträge aus Diplomarbeiten und Dissertationen gleichsam im Selbstverlag: Man hatte landes- und universitätsgeschichtliches Interesse mit der Suche nach den Wurzeln politischer Strömungen verknüpft und sich schwerpunktmäßig zunächst der Jenaer Freimaurerei zugewandt.66 Der Blick auf die Geschichte Thüringens, besonders den Kulturraum um Jena und Weimar,67 bildete im Aufbau der Universität seit 1993 die Brücke zwischen alter und neuer historiographischer Ausrichtung. Georg Schmidt, Schüler von Volker Press und nun in Jena für die Geschichte der Frühen Neuzeit zuständig, brachte sein Interesse an Fragestellungen und Sichtweisen der westdeutschen Reichs- und Ständeforschung ein68 und eröffnete so den Arbeiten zum 18. Jahrhundert diesen Bezugsrahmen. Wichtigstes Ergebnis dieses langen Vorlaufs war ein schmales Buch mit eher beiläufigem Titel, das zur Jahrtausendwende im Nachklang zum Goethejubiläum herauskam, in dem Joachim Bauer und Gerhard Müller aber in außerordentlich interessanter Weise zeigen konnten, daß die bisher vor allem für die Illuminatenforschung und an einzelnen Fallbeispielen demonstrierten Zusammenhänge insofern generalisierbar waren, als das Wirken von Logen und Geheimbünden im 18. Jahrhundert
Siehe Renate Endler, Die Freimaurerbestände im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Merseburg, in: Helmut Reinalter (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften: Freimaurer, Illuminaten und Rosenkreuzer. Ideologie-Struktur und Wirkungen, Bayreuth 1992, 103–108. Die Bestände waren seit 1981 verzeichnet, ebd. 104. 66 Joachim Bauer, Jens Riederer (Hg.), Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Jenaer Freimaurerei und studentische Geheimgesellschaften, Jena, Erlangen 1991 (Copyright by academica & studentica Jenensia e.V.); vgl. ergänzend die Doktorarbeit von Jens Riederer, Aufgeklärte Sozietäten und gesellige Vereine in Jena und Weimar zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit 1730– 1830. Sozialstrukturelle Untersuchungen und ein Beitrag zur politischen Kultur eines Kleinstaates, Phil. Diss., Jena 1994 (MS). 67 Siehe die Arbeiten des Sonderforschungsbereichs 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“, der 1998 an der Friedrich-Schiller-Universität eingerichtet wurde. 68 Vgl. nach zahlreichen anderen einschlägigen Arbeiten jetzt Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999. 65
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grundsätzlich eine konkrete politische Komponente aufweist.69 Sie erreichten dies, indem sie das bedeutendste deutsche Freimaurersystem der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellten, nämlich den „Hohen Orden vom Heiligen Tempel zu Jerusalem“, besser bekannt unter der Kurzbezeichnung Strikte Observanz. Bauer und Müller setzten die Erfolgsgeschichte dieses masonischen Hochgradsystems, das an die Tradition des mittelalterlichen Ordens der Tempelritter anzuknüpfen glaubte, in Beziehung zur Renaissance des Ständetums im Alten Reich: Die Popularität der Templerlegende und die Entstehung der „Strikten Observanz“ können als Begleiterscheinungen dieser Ständerenaissance angesehen werden. In der „Strikten Observanz“ formierte sich ein Netzwerk, das zunächst vor allem die Ständeeliten der protestantischen deutschen Fürstentümer einbezog und miteinander verknüpfte.70
Zentrale Figuren der ersten Generation waren Personen des niederen Reichsadels – wie der Reichsfreiherr Karl Gotthelf von Hund, Mitglied der „Adelsrepublik“ der Oberlausitz mit ungewöhnlich weitgehenden Freiheiten und Selbstverwaltungsrechten71 – oder Exponenten der ständisch-korporativen Institutionen Kursachsens. Im Ausgreifen aus dem Ursprungsgebiet wurde jedoch die konfessionelle Begrenzung sehr schnell überwunden und auch das katholische Deutschland einbezogen: Sehr deutlich orientierte sich das System [...] an den ständischen Instituten des deutschen Adels, dessen katholische Familien in den Kapiteln der Dom- und Hochstifter der geistlichen Fürstentümer saßen und so einen nicht unerheblichen Einfluß auf die Joachim Bauer, Gerhard Müller, „Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben“. Tempelmaurerei, Aufklärung und Politik im klassischen Weimar, Rudolstadt, Jena 2000. Die Arbeit versteht sich selbst als Reaktion auf Forschungsergebnisse eines amerikanischen Germanisten, der bereits 1991 und dann verstärkt zum Goethe-Jubiläum am Ende des Jahrzehnts provozierende Thesen zum Verhalten Goethes gegenüber der Freimaurerei aufgestellt hatte. Vgl. W. Daniel Wilson, Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1991, und ders., Unterirdische Gänge. Goethe, Freimaurerei und Politik, Göttingen 1999. 70 Bauer, Müller, „Maurers Wandeln“ (wie Anm. 69), 31. Rudolf Schlögl hat die Strikte Observanz bereits 1997 als überregionales Kommunikationsnetz des Adels bezeichnet, ohne daß dies hier näher ausgeführt wäre (Rudolf Schlögl, Die Moderne auf der Nachtseite der Aufklärung. Zum Verhältnis von Freimaurerei und Naturphilosophie, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts 21 [1997], 33–60, hier 45). 71 Der Hinweis auf diesen Kontext bereits bei Hermann Schüttler, Zum Verhältnis von Ideologie, Organisation und Auswanderungsplänen im System der Strikten Observanz, in: Monika Neugebauer-Wölk, Richard Saage (Hg.), Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution, Tübingen 1996, 143–168, besonders 165. 69
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Reichspolitik ausüben konnten. Analog dazu vergaben auch die in der Reformation säkularisierten Dom- und Stiftskapitel in den protestantischen Teilen des Reiches erhebliche Würden und Pfründe. Zu den adligen Standes- und Versorgungsinstituten gehörten auch die aus dem Mittelalter überkommenen Ritterorden [...] Vor allem der jüngere Brief- und Beamtenadel, der zu den überkommenen exklusiven [...] Standesorganisationen nur allmählich Zugang fand, konnte an einem künstlich nachgebildeten Ritterorden, wie ihn die „Strikte Observanz“ darstellte, Interesse finden.72
Die Autoren sind jedoch bei der gesellschaftsgeschichtlichen Zuordnung masonischer Strukturen zu Strukturen des Reiches nicht stehengeblieben. Sie haben darauf aufbauend Politikintentionen der unterirdischen und oberirdischen Welt verglichen und die frühen Initiativen der Strikten Observanz in den Gegensatz zwischen preußischer und sächsischer Politik im Kontext des Siebenjährigen Krieges hineingestellt.73 Die erste große Krise des Ordens im Sommer 1766 wurde durch die Werbetätigkeit im Mainzer Domkapitel ausgelöst und durch das Gerücht, die masonischen Ritter schickten sich an, bei der nächsten Vakanz den Mainzer Erzstuhl zu besetzen. In Weimar wurde die Loge geschlossen, um nicht „in den Strudel eines maurerischen Skandals von unkalkulierbaren reichspolitischen Dimensionen hineingezogen zu werden“.74 Eine Entwicklungszäsur sehen Bauer und Müller in den Entscheidungen des Ordenskonvents von Kohlo 1772, als sich die Strikte Observanz für die Angehörigen fürstlicher Häuser öffnete.75 Der Orden stand jetzt nicht mehr in den Konfliktlinien des Siebenjährigen Krieges und seiner Nachwirkungen, sondern unter dem Eindruck der ersten polnischen Teilung. Bauer und Müller diagnostizieren nun den Wandel der Strikten Observanz von der Ständeopposition zum Netzwerk der kleinen Reichsstände:76 „Die Adels- und Beamtenelite der deutschen Kleinstaatenwelt, die Hauptklientel der ‘Strikten Observanz’, empfand das über ihren Landesherrn hängende Damoklesschwert der Großmächte gleichermaßen als Bedrohung ihrer gesellschaftlichen Position und war daher Bauer, Müller, „Maurers Wandeln“ (wie Anm. 69), 33 f. Ebd., 50 ff.; vgl. ergänzend Joachim Bauer, Gerhard Müller, Jena, Johnssen, Altenberga. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Freimaurerei im 18. Jahrhundert, in: Joachim Bauer, Birgitt Hellmann, Gerhard Müller (Hg.), Logenbrüder, Alchemisten und Studenten. Jena und seine geheimen Gesellschaften im 18. Jahrhundert, Rudolstadt 2002, 19–86. Die Autoren weisen vor allem 46–51 darauf hin, daß der Versuch Hunds, das Politikmodell der exilschottischen Fronde zu kopieren – nämlich den Widerstand depravierter politischer Kräfte gegen einen überlegenen Machtstaat – ebenfalls aus der sächsisch-preußischen Konfrontation heraus verständlich wird. 74 Ebd., 35 f., Zitat 86; vgl. dazu jetzt auch Gerhard Müller, Freimaurerei und politische Führungseliten. Die „Strikte Observanz“ in den thüringischen Staaten (1764–1782), in: Joachim Berger, Klaus Grün (Hg.), Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei, München, Wien 2002, 169–175, hier 171. 75 Müller, Freimaurerei und politische Führungseliten (wie Anm. 74), 172. 76 Bauer, Müller, „Maurers Wandeln“ (wie Anm. 69), 40 f. 72 73
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in ähnlicher Weise motiviert.“77 Dies bedeutete Konfrontation auch mit der kaiserlichen Politik: „Die templerischen Ambitionen der Mitglieder fürstlicher Häuser im ‘Norden’ Deutschlands wurden immer nachdrücklicher. Im Juni 1773 versuchte der Wiener Hof einen Gegenschlag. Der kaiserliche Gesandte forderte auf dem Regensburger Reichstag einen Erlaß zum Verbot der Freimaurerei im gesamten Reich [...]“.78 Die Unterdrückung gelang nicht, aber die Organisation der Strikten Observanz in den österreichischen Erblanden zeigte nun Tendenzen der Verselbständigung, auf die die Ordensleitung reagieren mußte. Denn nicht nur maurerische Handlungsweisen beeinflußten die Politik – dasselbe war auch umgekehrt der Fall: „Dem Druck der ‘oberirdischen’ Interessen folgten weitere ‘unterirdische’ Strukturanpassungen.“79 Die Erfolgsgeschichte des Ordens bei den kleineren Reichsfürsten beeinflußte dieses Geschehen nicht. Als Herzog Carl von Sachsen-Meiningen 1776 die Regierung antrat, stellte er der Meininger Loge ein Patent aus, in dem er sich verpflichtete, „sich in sämtliche höheren Grade der Strikten Observanz aufnehmenzulassen, den Orden zu schützen und zu fördern, dessen Gesetze, Regeln und Geheimnisse zu bewahren, eine für einen Reichsfürsten wohl einmalige Klausel, ‘dem Orden und dessen Oberen mit Huld zugetan’ zu bleiben.“80 In ihrem Artikel über die Strikte Observanz schreiben die freimaurerischen Historiographen Eugen Lennhoff und Oskar Posner: Als der Magnus superior ordinis per Germaniam inferiorem, Herzog Ferdinand von Braunschweig, „1775 in feierlicher Prozession zum Konvent von Braunschweig zog, gehörten 26 deutsche Fürsten seinem System an.“81 Schon die Strikte Observanz also und nicht erst der Illuminatenorden, wie dies als Konsequenz der „Politisierung der Aufklärung“ bisher allenfalls konzediert wurde,82 ist intentional und real Faktor der Großen Politik der Epoche. Die Neuorientierung der Freimaurerforschung seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte also vor allem zwei wichtige Resultate, die sich deutlich vom Paradigma des älteren sozial- und kulturgeschichtlichen Zu-
Ebd., 41. Ebd. Diese Initiative löste eine reichsrechtliche Debatte über die geheimen Gesellschaften aus. Vgl. dazu Monika Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts, Wolfenbüttel, Göttingen 1995, 20–22. 79 Bauer, Müller, „Maurers Wandeln“ (wie Anm. 69), 42. 80 Müller, Freimaurerei und politische Führungseliten (wie Anm. 74), 172 f. 81 Lennhoff, Posner, Internationales Freimaurerlexikon (wie Anm. 56), 1523; eingehende Untersuchung der masonischen Repräsentanz des europäischen Hochadels bei Hans Riegelmann, Die europäischen Dynastien in ihrem Verhältnis zur Freimaurerei, Berlin 1943, Nachdruck Struckum 1985. 82 Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein (wie Anm. 44), 334–336. 77 78
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gangs abhoben: Sie stellte der Vorstellung vom Machtspiel die Beobachtung gegenüber, daß es in den Logen Politikentwürfe gab, die sich weder selbst als Spiel verstanden noch aus der historischen Distanz und in wissenschaftlicher Analyse als solches gelten können – es handelt sich vielmehr um ein Element konkreter Politik als Faktor im politischen Gesamtgeschehen der Zeit. Und zweitens sind die Träger dieser Politik keineswegs ‘machtlos’, sondern es sind einflußreiche Gruppen des reichs- und landsässigen Adels, die hier agieren, bis hin zu Angehörigen fürstlicher Häuser oder zu den regierenden Fürsten selbst. Das bedeutet nicht, daß die älteren Ansätze des sozial- und kulturgeschichtlichen Zugangs damit obsolet wären. Wenn man nach heutigen Schätzungen davon ausgeht, daß es auf dem Gebiet des Alten Reiches über das gesamte 18. Jahrhundert hinweg zwischen 25.000 und 30.000 organisierte Freimaurer gegeben hat,83 so ist selbstverständlich nicht davon auszugehen, daß diese Personenzahl insgesamt eine Rolle in der Politik der Zeit spielte. Die These, daß es sich bei der einfachen Logenmitgliedschaft in den Basisgraden im wesentlichen um ein Soziabilitätsphänomen handelte, und daß die Logen – anderen Formen der aufgeklärten Geselligkeit vergleichbar – an den Beginn einer kulturgeschichtlichen Entwicklung zu stellen sind, die man später als Freizeitverhalten bezeichnen wird,84 ist sicher in vieler Hinsicht zutreffend. Die Einbeziehung der masonischen Bewegung in die Große Politik ist ein Elitenphänomen, so wie der überwiegend von adligen Mitgliedern besetzte „Innere Orden“ der Strikten Observanz eine aus der Gesamtfreimaurerschaft herausgehobene Gruppe darstellt.85 Die Analyse der adlig bzw. herrschaftlich inspirierten Politik im masonischen Kontext ist also weniger ein Konkurrenzmodell als eine notwendige Ergänzung der bestehenden Verständnismuster. Das heißt aber auch, daß der Blick auf das Bürgertum im Sinne seiner prärevolutionären Entwicklungsgeschichte nicht hinreicht, um die Bedeutung der arkanen Bünde im 18. Jahrhundert zu verstehen. Die Politikintentionen der angestammten Trägerschichten frühneuzeitlicher Machtausübung hatten wenig zu tun mit der Einübung bürgerlicher protodemokratischer Verhaltensweisen im geschützten Bei Dotzauer findet sich ein Näherungswert von ca. 27.000 Personen: Winfried Dotzauer, Zur Sozialstruktur der Freimaurerei in Deutschland, in: Helmut Reinalter (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert. München 1989, 109–149, hier 111–113. 84 Zur Freimaurerei als Freizeitkultur siehe Schindler, Freimaurerkultur (wie Anm. 26), 234 ff.; Maurice, Die Mysterien der Aufklärung (wie Anm. 40), z.B. 280. 85 Zum Verhältnis zwischen Innerem Orden und Logen der Strikten Observanz siehe Hermann Schüttler, Zwei freimaurerische Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts im Vergleich: Strikte Observanz und Illuminatenorden, in: Erich Donnert (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 4: Deutsche Aufklärung, Weimar, Köln, Wien 1997, 521–544, besonders 532 f. 83
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Logenraum.86 Masonische Politik des 18. Jahrhunderts ist auch genuin frühneuzeitlich und folgt der Logik vormodernen politischen Handelns.
III. Arcana imperii. Die Staatsrechtslehre der Frühen Neuzeit und die geheime Infrastruktur der Politik Die Einbeziehung masonischer Aktivitäten des 18. Jahrhunderts in die allgemeine Politikgeschichte der Frühen Neuzeit führt auf gänzlich neue Fragestellungen und veränderte Wahrnehmungsweisen. So ist nach einer neuen und anderen Logik des Agierens im Geheimen zu fragen, die nun nicht mehr die Ratio der Vorgeschichte der modernen bürgerlichen Gesellschaft sein kann. Es muß vielmehr nach dem Geheimnis als einer traditionellen Kategorie politischen Verhaltens gefragt werden. Und die Forschung ist dort auch schon fündig geworden, noch bevor sie sich diese Frage überhaupt in einer systematischen Weise gestellt hatte. Denn Begriff und Vorstellung des Arkanen sind im Kontext frühneuzeitlicher Politik so vielfach präsent, daß dies schlechterdings nicht übersehen werden kann. Bereits Norbert Schindler waren entsprechende Parallelen aufgefallen, als er die Freimaurerei in ein Modell von der Inszenierung höfischer Festkultur hineinstellte: „Zumindest auf den ersten Blick war die symbolisch strukturierte Welt des Freimaurerordens gar nicht so weit entfernt von den Verkehrsformen der höfischen Herrschaftskultur, die selbst mit der Dialektik von Arkanum und demonstrativer Öffentlichkeit spielte [...]“87 Es sind also zwei Arkanwelten, die im politischen Raum des 18. Jahrhunderts aufeinanderstoßen und ineinander übergehen: In seiner Wahrnehmung läuft letztlich beides auf dasselbe hinaus: die absolutistische Arkanpolitik des Hofes, die in der Fassade öffentlicher Repräsentation verborgen wird, und die feierliche Selbstdarstellung des freimaurerischen Geheimbundes [...] Repräsentative Öffentlichkeit, wie sie die höfische Gesellschaft vorexerziert und die Loge okkupiert, lebt von der unaufhebbaren Spannung zwischen extensiver ritualisierter Selbstdarstellung und dem allen Beteiligten präsenten Wissen darum, daß die Entscheidungen hinter den Kulissen fallen. In dieses widersprüchliche Spiel, in dem absolute Herrschaft sich legitimationswirksam auszubalancieren sucht, griff die geheime Organisationsform der Freimaurerei ein. Die äußerlichen Analogien mit den Techniken und Verlaufsfor-
So schon Wilson, Geheimräte gegen Geheimbünde (wie Anm. 69), 105, in einer allerdings sehr zugespitzten Allgemeingültigkeit: „Es ist einer der im 18. Jahrhundert am weitesten verbreiteten Gemeinplätze über Freimaurer und Illuminaten, daß sie Gleichheit praktizierten, aber es ist auch einer der irrigsten“. 87 Schindler, Freimaurerkultur (wie Anm. 26), 210. 86
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men höfisch-absolutistischer Herrschaftsdarstellung dürften erheblich zu der Faszination beigetragen haben, die sie auf die Oberschichten ausübte.88
Seit Schindler gehört dieser Hinweis auf die Analogie zwischen den Arcana imperii und den Geheimnissen der Maurer zu den Stereotypen freimaurerhistorischer Arbeiten.89 Es lohnt sich aber, diesen Gedanken nicht nur zu wiederholen, sondern ihm näher nachzugehen. Wir verlegen damit den Schwerpunkt unserer Betrachtung zunächst in den Bereich der Rechtsgeschichte, denn das Phänomen der geheimen Mittel frühneuzeitlicher Herrschaft ist traditionell ein Thema der Entwicklung vormoderner Staatsrechtstheorie. „‘Arcana imperii’ – die Geheimnisse der Herrschaftsausübung oder die verborgene Seite der Macht, das ist“ – darauf hat Michael Stolleis hingewiesen, „eine heute fast vergessene Formel“.90 Es bedarf also einer gewissen Einführung, die keine Eigenständigkeit oder Originalität beansprucht, sondern ausschließlich dazu dienen soll, Zusammenhänge aufzugreifen, die das Thema auf die Sozietätengeschichte der Aufklärung hinführen. Nach Lucian Hölscher ist das Geheimnis bis ins 18. Jahrhundert hinein eine anerkannte Dimension politischen Handelns, gleichsam das Kernstück der Staats- und Regierungskunst, der „Politik“.91 Das Konzept entstand durch die Übertragung antiker Staatslehre in die italienische Renaissance in der politischen Theorie Niccolò Machiavellis, eines republikanischen Politikers der Stadt Florenz, deren Bürgerschaft sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Aufstand gegen die Herrschaft der Medici befunden hatte. Machiavellis Karriere als politiktheoretischer Schriftsteller hatte 1512 begonnen, nach der Rückkehr der Medici aus dem Exil heraus und mit der Intention, das Vertrauen der Herrscherfamilie zurückzugewinnen. 1514 war seine berühmteste Abhandlung abgeschlossen, Il Principe, in der er die Techniken einer erfolgreichen Politik ohne Anbindung an ein morali-
Ebd., 216. Siehe noch jüngst Stefan-Ludwig Hoffmann, Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840–1918, Göttingen 2000, in seinem einleitenden Überblick über die Freimaurerei der Aufklärung: „Der Geheimkult war nicht nur eine Nachahmung der Hofkultur mit ihrer Vorliebe für Selbstmystifikation und Maskenspiel; er imitierte auch das Arkanum absolutistischer Herrschaftspolitik und machte ihr damit zumindest indirekt Konkurrenz“ (S. 40); unmittelbar nach Schindler und konkret zu den Illuminaten Manfred Agethen, Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, München 1984, 241: „Natürlich mußte das hier offenbar werdende Politikverständnis als bedrohliche Konkurrenz im Bereich der ‘arcana imperii’, der Staats- und Regierungskünste, empfunden werden.“ 90 Michael Stolleis, Arcana Imperii und Ratio status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts, in: ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main. 1990, 37–72, Zitat 37. 91 Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979, 7 f. 88 89
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sches Bezugssystem entwickelte.92 Antiker Referenzautor war Tacitus, dessen Schriften im Mittelalter praktisch vergessen gewesen waren.93 Eine Handschrift hatte in Florenz überdauert – hier fand sich der Schlüsselbegriff der Arcana imperii. Tacitus war also der Schöpfer dieser Formel, und auf der Basis seiner Rezeption begründete Machiavelli die These von der Dysfunktionalität der herkömmlichen Normen für politisches Handeln, die auf der mittelalterlichen Theologie beruhten.94 Machiavelli steht damit am Anfang der frühneuzeitlichen Staatsräsonliteratur; Scipione Ammirato, Hofhistoriograph der großherzoglichen Familie in Florenz95 und fast zwei Generationen jünger als Machiavelli, führte den Ansatz fort und unterschied in seinen Reden über Cornelius Tacitus von 1594 zwischen gutem und schlechtem, akzeptablem und nicht akzeptablem politischen Handeln: Die Lehre von den Arcana imperii umfaßte alle erlaubten Techniken geheimer Herrschaft.96 In der Fassung des Ammirato gelangte die Lehre von den Geheimnissen der Macht zu Anfang des 17. Jahrhunderts nach Deutschland.97 Der erste bekannte Rezipient, Arnold Clapmarius, Professor an der Universität Altdorf, entwarf das Standardwerk, auf das sich alle Nachfolger bezogen: De arcanis rerum publicarum, 1604 abgeschlossen und postum veröffentlicht.98 Bei Clapmarius wird in einem systematisch aufgeschlüsselten Ansatz deutlich, daß die Arkanalehre weit davon entfernt ist, eine Theorie zur Rechtfertigung tyrannischer Selbstbehauptung zu liefern – sie ist vielmehr die Lehre von der Legitimität aller Mittel, die dem Erhalt und dem Nutzen des Staates dienen. Diese ‘Legitimation’ gründet nicht im Recht, aber auch nicht in der Willkür, sondern im Staatswohl und schließt den Gebrauch geheimen Wissens und geheimer Kunstgriffe mit dem zwangsläufigen Effekt der Täuschung der Menschen über die
Herfried Münkler, Marina Münkler, Lexikon der Renaissance. Artikel „Niccolò Machiavelli“, München 2000, 244–248; vgl. auch Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens, Frankfurt am Main 1982. 93 Stolleis, Arcana Imperii (wie Anm. 90), 46–48, hier auch das Folgende. 94 Herfried Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsräson in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1987, 17. 95 Ebd., 283. 96 Ebd. 97 Michael Behnen, „Arcana – haec sunt ratio status“. Ragion di Stato und Staatsräson. Probleme und Perspektiven (1589–1651), in: Zeitschrift für Historische Forschung 14 (1987), 129– 195, hier 164 f. 98 „Die Gattung beginnt in Deutschland mit Arnold Clapmarius, dem ‘Dolmetscher und Außleger’ Ammiratos“ (Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, 202); zum Stand der Staatsräsonliteratur um 1600 vgl. Hermann Hegels, Arnold Clapmarius und die Publizistik über die arcana imperii im 17. Jahrhundert, Bonn 1918, 4 f. 92
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Wege der Macht mit ein.99 Die Wirkung des Clapmarius setzte schnell und nachhaltig ein – die ersten, die an den Altdorfer anknüpften, waren Johannes Gryphiander in Jena und Christoph Besold in Tübingen.100 Nach dem Dreißigjährigen Krieg folgte eine ganze Flut von Schriften, die das Thema variierten und kommentierten.101 Dabei verschob sich der Schwerpunkt der Betrachtung von der Behauptung der Herrschaft gegenüber den Untertanen auf die Außenpolitik; die Konkurrenz zu anderen Staaten und Fürsten, Durchsetzungsmöglichkeiten innerhalb der Mächtepolitik, traten ins Zentrum.102 Das 18. Jahrhundert bringt nun eine Weiterentwicklung und Veränderung der herkömmlichen Situation in zweifacher Hinsicht: Erstens wird die literarische Debatte zur Arkanpolitik beendet – 1710 erscheint in Deutschland der letzte einschlägige Titel103 – und zweitens gewinnen jetzt arkane Verbindungen, die sich aus der Gesellschaft heraus entwickeln, eine bisher nicht bekannte Bedeutung: 1717 wird die erste Großloge der Freimaurer in London gegründet.104 Beide Daten indizieren einen gegenüber der bisherigen Entwicklung neuen Praxisbezug der Lehre von den Arcana imperii, denn das Ende der Staatsräsonliteratur bedeutet selbstverständlich nicht das Ende arkaner Politik. Herfried Münkler hat diese neue Loslösung der Praxis von der Theorie treffend formuliert: Die Regierungen handeln nach den Grundsätzen der Staatsräson, und sie reden nicht länger darüber bzw. geben keine Propagandaschriften mehr in Auftrag, die ihre Politik rechtfertigen sollen. Staatsräson wird zu einem ebenso beschwiegenen wie verschwiegenen Leitkonzept der Politik, entsprechend ihren eigenen Direktiven, denen zufolge politische Grundsätze nicht in der Öffentlichkeit zu erörtern sind. Prinzip und Praxis der Staatsräson sind nun miteinander im Einklang: Die Macht schweigt.105
Dazu mit Bezug auf Clapmarius: Münkler, Im Namen des Staates (wie Anm. 94), 285 f., und Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis (wie Anm. 91), 133. 100 Behnen, „Arcana – haec sunt ratio status“ (wie Anm. 97), 171. 101 Vgl. Horst Dreitzel, Neustoizismus, Tacitismus und Staatsräson, in: Helmut Holzhey, Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.), Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4, Basel 2001, 694– 714, besonders Abschnitt 3: Staatsräson und arcana imperii (706–714), Bibliographie 696–699. 102 Ebd., 709. 103 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (wie Anm. 98), 202. 104 Vgl. zu dieser gut bekannten Tatsache Douglas Knoop, G. P. Jones, Die Genesis der Freimaurerei. Ein Bericht vom Ursprung und der Entwicklung der Freimaurerei in ihren operativen, angenommenen und spekulativen Phasen [zuerst Manchester 1948, deutsch:] Bayreuth 1968, besonders 166–193. 105 Münkler, Im Namen des Staates (wie Anm. 94), 323. Vgl. als empirisches Beispiel die Ausführungen von Schaich über das kurbayerische Regierungshandeln: „Noch im späten 18. Jahrhundert hatte das Arkanprinzip, das interne Entscheidungsfindungsprozesse und Diskussionen vor auswärtigen Beobachtern abschirmte, weithin Bestand.“ (Michael Schaich, Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung, München 2001, 2). 99
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Und gehandelt wird nun nicht mehr nur aus der angestammten Herrschaftssphäre heraus, sondern aus dem Arkanum der Logen erwächst allmählich ein neu strukturierter Raum, der konkurrierende und ergänzende politische Handlungsmuster entwickelt. Das Arkanum der Regierungen wird in Parallelität gesetzt zu einem neuen Geheimraum der Sozietäten. Dies ist der Hintergrund dafür, daß Friedrich Nicolai 1788 in der Rechtfertigungsschrift über seine Teilnahme am Illuminatenorden beide Arkansphären ganz selbstverständlich aufeinander bezieht, wenn er über „Gegenstände“ spricht, die ihrer Natur nach geheim bleiben sollen, „es sey nun in Kabinettern oder in Gesellschaften“.106 Da das Thema der Arcana imperii traditionell Gegenstand der Staatsrechtstheorie ist, die es naturgemäß nur soweit behandelt, wie seine Publikationsgeschichte reicht, sind wir bis heute weit davon entfernt, die Realgeschichte der politischen Arkanwelt des 18. Jahrhunderts in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen. Will man diesen Fragen näher kommen, muß man die Praxis des arkanen Handelns in beiden Bereichen genauer untersuchen und dabei vor allem die Anschlußstellen in den Blick nehmen. Arkane Politik der Regierungen vollzog sich entsprechend den theoretischen Vorgaben, „in ‘Geheimrat’ und ‘Kabinett’. ‘Geheimdienste’ wurden aufgebaut, und die Verschlüsselung von Nachrichten war nicht gelehrte Spielerei, sondern praktische Notwendigkeit.“107 In der Diskussion über die moralischen Probleme dieses geheimen Regierungshandelns oder über den Machtgewinn, den es den Fürsten und ihren Ratgebern verschaffte, wird aber viel zu wenig beachtet, daß es eines gewissen Aufwands bedurfte, um die Voraussetzungen für die Arkansphäre der Politik bereitzustellen. Für die Führungsspitze bedeutender Staaten war dies kein Problem; berühmt ist die Geheimpolitik Ludwigs XV. von Frankreich, die unter dem Stichwort „Secret du Roi“ in die Geschichte eingegangen ist.108 Kleinere Herrscher stießen dagegen bald an ihre Grenzen, wenn sie über ihre Geheimräte hinaus etwa ein Netz geheimer Diplomatie aufbauen wollten. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts änderten sich nun durch das Aufkommen der arkanen Gesellschaften die Rahmenbedingungen für arkane Politik: In den masonischen Sozietäten boten sich Organisationsformen an, die von allen, die sich dort engagierten, für entsprechende Ziele genutzt werden konnten. Für einen solchen Blick auf die masonische Arkanwelt des 18. Jahrhunderts bietet die traditionelle Sozialgeschichte der Aufklärungsgesellschaften weder Nicolai, Öffentliche Erklärung (wie Anm. 2), 14. Hinweis auf dieses Zitat bei Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft (wie Anm. 44), 348. 107 Stolleis, Arcana Imperii (wie Anm. 90), 70 f. 108 Siehe den Artikel zum Stichwort „Secret du Roi“ in Lucien Bély (Hg.), Dictionnaire de l’ancien régime. Royaume de France XVIe-XVIIIe siècle, Paris 1996, 1146–1148, und Günter Barudio, Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung 1648–1779, Frankfurt am Main 1981, 134–137. 106
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sachthematische noch methodische Ansatzpunkte. Denn hier geht es nicht nur um die Zuordnung der Mitgliedschaften zu den verschiedenen Spektren ständischer und beruflicher Positionen oder anderer gesellschaftlicher Stratifikationen, die die Verortung der Sozietäten im Gefüge der Gesamtgesellschaft ermitteln. Bei dieser Fragestellung steht vielmehr die Infrastruktur der Vernetzung im Vordergrund, die die Gesellschaften des 18. Jahrhunderts auf den verschiedensten Ebenen realisieren. Am Institut für Geschichte der Universität Halle wurde in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ein Zugang in der Sozietätenforschung entwickelt, der die Voraussetzungen für eine entsprechende Neuorientierung bot. Der Frühneuzeitler Holger Zaunstöck wandte erstmals die prosopographische Methode auf die Entwicklungsgeschichte der Aufklärungsgesellschaften an und zeigte für ein groß angelegtes regionales Untersuchungsfeld, daß es prinzipiell möglich ist, ein Beziehungssystem zwischen den jeweiligen Gesellschaften über die Analyse der Verbindungen einzelner Mitglieder darzustellen.109 So wurden Netzwerke sichtbar, die sich auf der Ebene gruppenspezifischer Erhebungen dem Blick entziehen.110 Dieses Interesse an Struktur und Funktion des organisierten Netzwerkes der Gesellschaft der Aufklärer hat Zaunstöck jetzt veranlaßt, eine grundlegende Neufassung des Paradigmas der Erforschung der Aufklärungsgesellschaften vorzuschlagen, die Sozialgeschichte als historiographisches Bezugssystem durch die Kommunikationsgeschichte zu erweitern und der Sozietätenforschung damit völlig neue Möglichkeiten und Perspektiven zu eröffnen. Das Konzept wurde erstmals im Dezember 2000 während einer Tagung des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung in Halle erprobt; die dort gehaltenen Vorträge wurden jetzt mit einem einleitenden Grundsatzartikel der Fachöffentlichkeit vorgestellt.111 Über diese Neukonzeption der Sozietätenforschung als Kommunikationsgeschichte läßt sich die erörterte Verbindung der Arkanwelten im 18. Jahrhundert adaquät aufschließen. Den Rahmen setzt die Überlegung, daß es sich dabei um den Sondertyp der arkanen Kommunikation handelt,112 eine Selbstverständlichkeit, die doch bedacht sein will. Denn die masonischen Sozietäten bieten 109 Holger Zaunstöck, Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999, besonders 200–250. 110 Vgl. dazu die Einführung von Monika Neugebauer-Wölk, in: Zaunstöck, Sozietätslandschaft (wie Anm. 109), VII–X. 111 Holger Zaunstöck, Markus Meumann (Hg.), Sozietäten-Netzwerke-Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003; darin Holger Zaunstöck, Zur Einleitung. Neue Wege in der Sozietätsgeschichte, 1–10. 112 Dazu Holger Zaunstöck, Die vernetzte Gesellschaft. Überlegungen zur Kommunikationsgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Berger, Grün, Geheime Gesellschaft (wie Anm. 74), 147–153, besonders 152.
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von vornherein ein anderes Niveau der Organisation als die nichtarkanen Gesellschaften. Die einzelne Lesegesellschaft und die einzelne Loge unterscheiden sich eben auch dadurch, daß die Lesegesellschaft keiner übergeordneten Gesamtorganisation angehört, die „Bauhütte“ dagegen regulär immer Tochtergründung einer Großloge ist. So darf von vornherein für die Kommunikationsstruktur der Mitglieder arkaner Sozietäten von einer größeren Dichte und Verbindlichkeit ausgegangen werden als beim nicht-arkanen Segment der Aufklärungsgesellschaften. Die Logen sind in Orden zusammengefaßt; für die Geheimbundzirkel gilt das bekanntlich in eher noch größerem Ausmaß. Es ergibt sich daher von vornherein eine überlokale organisatorische Plattform, die der Einzelne vorfand und nutzen konnte. Die masonischen Sozietäten bringen damit eine wichtige Innovation in die Entwicklung der frühneuzeitlichen Arkansphäre – so schon Joachim Bauer und Gerhard Müller: die „politische Brisanz dieses Mediums lag vor allem in seinen strukturellen Möglichkeiten“:113 „Mit ihrer Vielzahl von Logen in ganz Europa schuf die Strikte Observanz eine arkane Kommunikationsstruktur der Eliten in Staat und Gesellschaft. Sie war ein Medium, das den intellektuellen Diskurs ebenso transportierte wie politische Informationen oder klandestine Aktivitäten der Diplomatie.“114 Wer keine Diplomaten an anderen Höfen unterhalten konnte, hatte dort vielleicht Vertraute seines Ordens. Auch die Kunstgriffe und geheimen Techniken der Macht konnten sich in diesem Rahmen entfalten: Wichtige Nachrichten konnten auf diesem Wege unauffälliger empfangen und übermittelt werden, ebenso wie es möglich war, Botschaften zu manipulieren und Desinformation zu streuen.115 Geheimschriften standen zur Verfügung; in der Strikten Observanz waren Chiffreschriften üblich, die auf einem Schlüsselwort beruhten und zum Teil bis heute nicht entziffert sind; im Orden der Gold- und Rosenkreuzer führte jeder Grad eine besondere Geheimschrift.116 Der Geheimbund der Illuminaten entwickelte eine eigene Zeitrechnung;117 jedes System hatte seine eigenen Ordensnamen,118 so daß die involBauer, Müller, „Maurers Wandeln“ (wie Anm. 69), 21; vgl. dazu die Rezension Holger Zaunstöcks für den Server Frühe Neuzeit: http://www.sfn.uni-muenchen.de/rezensionen/ rez319.htm. 114 Müller, Freimaurerei und politische Führungseliten (wie Anm. 74), 169. 115 Bauer, Müller, „Maurers Wandeln“ (wie Anm. 69), 21. 116 Vgl. den Artikel „Geheimschrift“, in: Lennhoff, Posner, Internationales Freimaurerlexikon (wie Anm. 56), 579 f., und August Wolfstieg, Bibliographie der freimaurerischen Literatur, Bd. 1, Magdeburg 1911, Nachdruck Hildesheim, Zürich, New York 1992, 988 f., die Titel zur maurerischen Geheimschrift. 117 Übersicht über den Ordenskalender bei Wilson, Geheimräte gegen Geheimbünde (wie Anm. 69), 365. 118 Liste der Ritternamen des Inneren Ordens der Strikten Observanz: Versuch eines alphabetischen Verzeichnisses sämmtlicher innern Ordensbrüder der strikten Observanz. Zusammengestellt 113
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vierten Personen auch bei aufgefangenen Briefen nicht ohne weiteres bloßgestellt waren. Die masonischen Orden bieten das Kommunikationsnetz und damit die Infrastruktur für weite Bereiche geheimer Politik.
IV. Arkanum und Esoterik: Zu den Geheimnissen der Realisierung politischer Macht Bis heute hat der Begriff Staatsraison seine suggestive Kraft nicht verloren. Staatsraison ist ein Zauberwort, und wie bei allen Zauberworten ist es schier unmöglich, seine Bedeutung präzise zu ermitteln, es begrifflich exakt zu bestimmen. Ja, sofern es gelänge, Staatsraison zu definieren, d.h. sie in ihrer Bedeutung einzugrenzen und festzulegen, wäre es um sie geschehen. Die Aura der Macht, die dieses Wort umgibt, erwächst aus dessen Nähe zu politischer Magie und politischem Geheimnis, und beide verweigern sich ihrer definitorischen Vermessung und Begrenzung.119
Dieses Zitat eröffnet den nächsten Abschnitt unserer Darstellung, weil es in gelungener Prägnanz darauf hinweist, daß die frühneuzeitliche Staatslehre der Arcana imperii Implikationen beinhaltet, die über die unmittelbar nachvollziehbaren Techniken geheimer Macht hinausgehen. Es geht offenbar nicht nur um die organisierte Infrastruktur geheimer Kommunikation, sondern um weit mehr – aber definiert wird dieses ‘Mehr’ an Bedeutung nicht. Der bemerkenswert poetische Ton der Formulierung in einem sonst ganz nüchternen Buch von Herfried Münkler dokumentiert vielmehr, daß die moderne Wissenschaft bereit ist, die Attitüde des arkanen Denkens der Frühen Neuzeit dort zu übernehmen, wo ihr dieser überschießende Rest begegnet, der sich dem Verständnis nicht ohne weiteres erschließt. Gleichzeitig wird akzeptiert, daß es hier nichts zu definieren und zu erklären gibt. Die Arkanwelt der Macht kann also nicht wirklich verstanden werden. Hier beginnt der Historiker, selbst an das Geheimnis zu glauben. Dieser Verfahrensweise wollen wir uns im folgenden nicht anschließen. Es soll vielmehr versucht werden, das Arkanum auch in den verborgeneren Winkeln auszuleuchten und damit unser Verständnis von den Strukturen des Politischen im 18. Jahrhundert weiter zu präzisieren. Außerordentlich hilfreich ist dabei eine Arbeit, die zunächst als Studie zur europäischen Diplomatiegeschichte des frühen 18. Jahrhunderts angelegt war, sich dann aber unter dem produktiven Einfluß der Stuttgarter Historischen Verhaltensforschung um August Nitschke zu einem Ansatz weiterentwickelte, der die Relevanz visueller bei dem Engbunde in Dresden von Br[uder] von Lindt, durchges. und ergänzt von Ernst Zacharias, Theodor Merzdorf, Leipzig 1846, 73–92. 119 Münkler, Im Namen des Staates (wie Anm. 94), 11.
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Medien für diese Zeit aufgriff, also das breite Spektrum nonverbaler Kommunikation berücksichtigte. Die Habilitationsschrift von Andreas Gestrich, 1992 abgeschlossen, befaßt sich mit dem Verhältnis von Absolutismus und Öffentlichkeit und widmet dabei den Beziehungen zwischen Öffentlichkeit und Geheimnis als Symbolen der politischen Kommunikation der Vormoderne ein ganzes Kapitel.120 Ein Ergebnis der Arbeit faßt Gestrich selbst folgendermaßen zusammen: Es wurde gezeigt, daß der Aufstieg des Begriffs des Geheimnisses zu einem wichtigen und durchaus positiv besetzten Symbol der politischen Kommunikation verbunden war mit gravierenden Umbrüchen im allgemeinen Weltbild zu Beginn der Frühen Neuzeit und sich auch in anderen Bereichen, vor allem der Theologie, genau verfolgen läßt.121
Die Frage nach der ‘Aura der Macht’ führt also auf ein spezifisch frühneuzeitliches Weltbild, dessen Nähe zum religionsgeschichtlichen Wandel zwischen Mittelalter und beginnender Neuzeit konstatiert wird. Der Hinweis darauf, daß die Entstehung der Lehre von der Staatsräson im 16. Jahrhundert eine besondere religionsgeschichtliche Komponente aufweist, findet sich durchaus auch schon in der allgemeinen staatsrechtlichen Literatur, denn die zeitgenössischen Rezipienten der neuen Staatsrechtstheorie hatten vielfach die heidnischen Grundlagen dieses Denkens moniert: Die Lehre von den Arcana imperii war „nicht christlich fundiert“.122 Und diese Feststellung bezog sich keineswegs nur auf die einfache Beobachtung, daß mit den Texten des Tacitus ein heidnischer Schriftsteller sozusagen das Stichwort gegeben hatte; die Rezeption antiker Autoren war Tradition und damit nichts Besonderes in der christlichen Literatur. Die Kritik bezog sich vielmehr darauf, daß diese Rezeption offenbar nicht von einer christlichen Interpretation und Umformung begleitet war: Die Lehre von den Arcana imperii basierte auf antiken Vorlagen und bewahrte deren ethischen Gehalt ebenso wie Züge des Weltbildes, das ihnen zugrundelag. Dieses Weltbild beschreibt Andreas Gestrich nun in den Strukturen des magischen Denkens vom „sympathetischen Zusammenhang aller Dinge“ und verweist auf das darauf gegründete Selbstverständnis des gelehrten Magiers, „diese Zusammenhänge zu erkennen und dadurch manipulierend einzugreifen bzw. im Rahmen der Astrologie zukünftige Entwicklungen vorherzusehen“,123 eine, wie er konAndreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, hier Kap. 2, 34–74. Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit vgl. das Vorwort. 121 Ebd., 235. 122 Behnen, „Arcana – haec sunt ratio status“ (wie Anm. 97), 194. 123 Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit (wie Anm. 120), 43; siehe jetzt auch: Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720, Hamburg 2002, besonders 161–260: „Politische Theologie. Zum Verhältnis von Staatsräsondenken, historischem Pyrrhonismus und Religionskritik“. Diese Arbeit ist der Autorin erst nach Ab120
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statiert, „praxisnahe, aber elitäre politische Wissenschaft. Sie schien sich nicht nur vorzüglich dazu zu eignen, dem Herrscher Vorteile vor seinen Gegnern, Rivalen oder Untertanen zu verschaffen, sondern vermittelte ihm auch nach außen eine besondere Stellung, indem sie ihn mit höherem Wissen und höheren Kräften verband.“124 Der Herrscher wurde damit zu einem Kraftzentrum, „das den gesamten Staatsorganismus in Gang hält und von dessen Energie alles abhängt“.125 Ausdruck findet diese ‘politische Theorie’ nach Gestrich in symbolischen Inszenierungen höfischer Feste und in den nicht-verbalen Darstellungen der Emblematik, die diese Botschaften verschlüsselt visualisiert. Zeichen und Bilder, Hieroglyphen der Macht, repräsentieren und transportieren das einschlägige Verständnis frühneuzeitlicher Regierungskunst.126 Für den geistesgeschichtlichen Kontext der Magierezeption im Staatsräsondenken der Frühen Neuzeit verweist Gestrich auf Neuplatonismus und Hermetik der Renaissance.127 Damit bezieht er zwei Forschungsrichtungen aufeinander, die bisher nichts miteinander zu tun hatten, deren Kombination aber für die volle Ausschöpfung des hier behandelten Themas außerordentlich fruchtbar werden kann: Staatsrechtstheorie und Esoterikforschung. Im Gegensatz zur historischen Analyse politischer Theorie ist Esoterikforschung eine noch junge Disziplin, die – als Gesamtkonzept seit ungefähr zehn Jahren – neue religionsgeschichtliche Aspekte interdisziplinärer Herkunft zu einem integrierten Verständnis bündelt.128 Abendländische Esoterik entsteht seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der Rezeption antiker Quellen des hermetischen und neuplatonischen Schriftenkreises.129 Lektüre und Verarbeitung gehen vom humanistisch-kulturellen Milieu des Stadtstaats Florenz aus und verbreiten sich vergleichsweise schnell in Italien, von dort aus nach Frankreich, ins Heilige Römische Reich und in weitere europäische Länder. Esoterikforschung geht in ihrem Grundansatz davon aus, daß es sich bei dieser Aufnahme heidnisch-religiöser Weltbilder (zentriert um die ‘alten Wissenschaften’ Magie, Alchemie und Astrologie) nicht um eine einfache Übernahme handelt – daß also nicht das Heidentum in der Renaissance wiederersteht –, sondern daß die Aufnahme von Elementen schluß der vorliegenden Studie zur Kenntnis gekommen. Es kann darauf hier also nur ergänzend verwiesen werden. 124 Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit (wie Anm. 120), 43 f. 125 Ebd., 53. 126 Ebd., 44 f. 127 Ebd., 43. 128 Vgl. Wouter J. Hanegraaff, The Birth of a Discipline, in: Antoine Faivre, ders. (Hg.), Western Esotericism and the Science of Religion, Leuven 1998, VII-XVII. 129 Hierzu und zum Folgenden ausführlich Monika Neugebauer-Wölk. Esoterik in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), 321–364, besonders 324–331.
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antiker Religiosität im christlichen Kulturraum etwas Neues, Drittes hervorbringt, das daher auch mit einem neuen Begriff bezeichnet werden sollte. Dieses neue Konzept der Esoterik besteht wesentlich in der Vorstellung, daß die verschiedenen antiken Quellen und Traditionen komplementär seien, „daß man in den einen die Ergänzung der anderen zu sehen habe und es darauf ankomme, ihren gemeinsamen Nenner ausfindig zu machen“.130 Diese Syntheseleistung zielt auf die Erarbeitung einer „philosophia occulta“ oder „philosophia perennis“, die alle Glieder der Traditionskette in eine Gesamtkonzeption integriert.131 Diese verborgene oder ewige ‘Philosophie’, das esoterische Weltbild der Frühen Neuzeit, kreist um einige zentrale Grundannahmen, die im folgenden für die Zwecke unseres Themas nur knapp resümiert werden sollen.132 Im Mittelpunkt steht die Überzeugung, daß den Menschen die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit durch den Sündenfall Adams verloren gegangen sei, daß die Geheimnisse der Schöpfung aber dadurch wiedergewonnen werden können, daß die in der Welt befindlichen heiligen Zeichen – etwa die Hieroglyphen – entschlüsselt und gelesen werden, daß man die „Sprache Adams“ – etwa durch das Studium der Kabbala – zurückgewinnt, oder daß man die okkulten Qualitäten der Natur erforscht. Denkbar wird solche Erkenntnis durch das gelehrte Studium von Quellen, die zeitlich so nah wie möglich am Ursprung der Welt liegen, oder durch innere Erleuchtung. Ziel ist also die Entschlüsselung der Geheimnisse Gottes, das wahre Wesen der Dinge – allgemein: höheres Wissen, dessen Besitz die Elite der Weisen aus der übrigen Menschheit heraushebt. Es wird deutlich, daß der Begriff des ‘Arkanen’ sich hier nicht nur in äußerlicher Geheimhaltung erschöpft, sondern daß er mit den okkulten Qualitäten des Kosmos korrespondiert und dadurch seine Relevanz gewinnt. Für die hier interessierende politische Wirkung esoterischen Denkens ist es ungemein bedeutsam, daß das höhere Wissen nicht auf den kontemplativen Bereich beschränkt bleibt, sondern Macht verleiht. Das heißt, der Weise kann handeln, und zwar auf der Basis von Wahrheitserkenntnis: Er kann Blei in Gold verwandeln; er kann mit dem Lebenselixier Kranke heilen; er kann als Astrologe die Zukunft erkennen und danach seine Entscheidungen ausrichten; er kann als Magier Wirkung über weite Distanzen erzielen. Die Geheimnisse der Natur und die Geheimnisse der Menschen sind ihm offenbar, und er kann diese Kenntnisse nutzen. Höheres Wissen konstituiert Herrschaft in überlegeAntoine Faivre, Esoterik im Überblick, Freiburg im Breisgau 2001, 17. Vgl. das Standardwerk von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt am Main 1998. 132 Vgl. zum folgenden ausführlich Monika Neugebauer-Wölk, Esoterik und Christentum vor 1800. Prolegomena zu einer Bestimmung ihrer Differenz, in: Aries. Journal for the Study of Western Esotericism 3 (2003), 127–165. 130 131
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ner Qualität. Die Lehren der Esoterik bilden das religionsgeschichtlich identifizierbare Fundament für das neue Weltbild der Frühen Neuzeit, das seine Parallelen – wie Andreas Gestrich festgestellt hat – in der politischen Theorie der Zeit findet. Bemerkenswerte Parallelen weisen auch die Wege der literarischen Verbreitung auf. Ursprung sowohl des esoterischen Denkens als auch der Arcanaimperii-Literatur ist der Kulturraum Florenz. Die Übertragung nach Deutschland steht in Beziehung zum esoterischen Milieu: Arnold Clapmarius hat seine Altdorfer Professur auf Empfehlung des Landgrafen Moritz von Hessen erhalten,133 eines praktizierenden Alchemisten und esoterischen Universalgelehrten.134 Ebenfalls unter der Protektion des Moritz von Hessen erschien 1614 in Kassel der erste Druck der Fama Fraternitatis, eines Manifestes der Rosenkreuzer,135 deren geistige Bewegung der Esoterik des 17. Jahrhunderts Form und Richtung geben sollte.136 Die Fama Fraternitatis war zusammengebunden mit einem Werk des Traiano Boccalini: Allgemeine Reformation der gantzen Welt, der Utopiesatire eines italienischen Staatsräsonautors.137 Die Fama, der Begründungstext der Rosenkreuzer, wurde also bewußt in den Kontext dieser Literatur hineingestellt. Ebenfalls 1614 erschien das nach Clapmarius zweite wichtige Werk der frühen Staatsräsonliteratur in Deutschland, Christoph Besolds De arcanis rerum publicarum.138 Der schwäbische Jurist gehörte zum Umfeld des Tübinger Rosenkreuzerkreises und kannte Verfasser und Entstehungskontext der Fama.139 1618 veröffentlichte er eine Abhandlung über die Grundlagen der „wahren Philosophie“, die sich als die hermetische erweist.140
Vgl. Gerhard Oestreich, Artikel: „Arnold Clapmarius“, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 3, Berlin 1957, 260; vgl. die Bemerkungen bei Stolleis, Arcana Imperii (wie Anm. 90), 53 f. zur Verbindung zwischen Clapmarius-Rezeption und der Arcana-Literatur anderer Sachbereiche. 134 Dazu Bruce Th. Moran, Moritz der Gelehrte und die Alchemie, in: Heiner Borggrefe, Vera Lüpkes, Hans Ottomeyer (Hg.), Moritz der Gelehrte. Ein Renaissancefürst in Europa, Brake, Kassel 1997, 357–360. 135 Vgl. Heiner Borggrefe, Moritz der Gelehrte als Rosenkreuzer und die „Generalreformation der gantzen weiten Welt“, in: ders. u.a., Moritz der Gelehrte (wie Anm. 134), 339–344. 136 Cimelia Rhodostaurotica, Die Rosenkreuzer im Spiegel der zwischen 1610 und 1660 entstandenen Handschriften und Drucke, Amsterdam 1995, 70. 137 Zu Boccalini: Münkler, Im Namen des Staates (wie Anm. 94), 274–276; zur gemeinsamen Publikation mit dem Rosenkreuzertext: Rhodostaurotica (wie Anm. 136), 68 f. 138 Vgl. Horst Dreitzel, Politische Philosophie des Aristotelismus, in: Holzhey, SchmidtBiggemann, Philosophie des 17. Jahrhunderts (wie Anm. 101), 639–672, zu Besold 659–663. 139 Rhodostaurotica (wie Anm. 136), 62, 67. Der Hinweis auf die Beziehungen zwischen Besold und Johann Valentin Andreae schon bei Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit (wie Anm. 120), 254. 140 Rhodostaurotica (wie Anm. 136), 64 f.; zur Verbindung Jakobs I. mit der rosenkreuzerischen Bewegung in Schottland und England vgl. Adam McLean, The Impact of the Rosicrucian Manife133
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Die Entwicklung des esoterischen Weltbildes wie der Lehre von der arkanen Staatskunst griff zeitlich und argumentativ ineinander, und das Realisierungspotential des esoterischen Denkens stimulierte die Praxis der Politik: Der englische König Jakob I. setzte „the very highest mysteries of the Godhead“ den „deepest mysteries“ der Könige gleich;141 eines der biblischen Lieblingszitate seines Lordkanzlers Francis Bacon lautete: „Der Ruhm des Herrn ist es, seine Werke zu verhüllen, der Ruhm des Königs, sie zu erforschen.“142 Zur gleichen Zeit war der Leiter der französischen Politik, Kardinal Richelieu, für sein Interesse an den „dunklen Künsten“ und okkulten Wissenschaften bekannt.143 Robert A. Schneider hat für ein jetzt am Trinity College (N.Y.) laufendes Forschungsprojekt über „Geheimnisse in der Frühen Neuzeit“ diese Wesensmerkmale der Politik des 17. Jahrhunderts folgendermaßen zusammengefaßt: For example, a Prince, or advisor, who could dissimulate properly and effectively was necessarily endowed with a kind of political wisdom that commentators had difficulty describing. They often cited ‘prudence’ as the apposite virtue, but by this they meant not so much a definable set of techniques as an inherent quality of the superior statesman, for whom seeming and dissimulating, among other skills, were second nature. Indeed, they readily expressed not only admiration and awe for his qualities but acknowledged that statecraft of this artfulness transcended the normal limits of understanding and was rather a wondrous mystery.144
Es ist also in der neueren Forschungsliteratur zum Phänomen des Arkanen in der Vormoderne bekannt, daß nicht nur die Staatstheorie der Zeit mystische Züge aufwies, sondern daß in der Konsequenz besonderer Merkmale dieser Theorie auch den Trägern praktischer Politik der Frühen Neuzeit, den Leitern des Regierungshandelns, besondere Fähigkeiten zugeschrieben wurden. Was bisher völlig ausgeblendet wird, ist die daraus resultierende Herausforderung an die Betroffenen, dieser Erwartungshaltung nun auch zu entsprechen. Das esoterische Bild der Möglichkeiten und okkulten Potentiale praktischer Politik war ein völlig anderes, als es die Anforderungen an den Herrscher im Rahmen christlicher Religiosität jemals sein konnten. Also mußten auch das Selbstbild der Regierenden und der Blick auf sie völlig andere sein. Die Rahmenbedinstos in Britain, in: Das Erbe des Christian Rosenkreuz, Amsterdam 1988, 170–179, besonders 171. 141 Vgl. Ernst H. Kantorowicz, Mysteries of State. An Absolutist Concept and Its Late Medieval Origins, in: ders., Selected Studies, New York 1965, 381–398, Zitat 383. 142 Hier zitiert nach Gisela Engel, Heide Wunder, Einleitung, in: Gisela Engel u.a. (Hg.), Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne, Frankfurt am Main 2002, 3–11, hier 3. 143 Dazu Robert A. Schneider, Disclosing Mysteries. The Contradictions of Reason of State in 17th-Century France, in: Engel u.a., Das Geheimnis (wie Anm. 142), 165; zum gesamten Forschungsprojekt siehe Engel, Wunder, Einleitung (wie Anm. 142), 1. 144 Schneider, Disclosing Mysteries (wie Anm. 143), 165.
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gungen des Politischen vor 1800 sind ein besonders prägnantes Beispiel dafür, daß es für unser adäquates Verständnis dieser Zeit unerläßlich ist zu erkennen, daß die esoterische Religiosität seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert den christlichen Glauben zu überlagern beginnt und daß sich ihre Anhänger entsprechend verhalten. Die Arcana-imperii-Lehre eröffnete für die Sphäre des Regierungshandelns bisher unbekannte geheime Möglichkeiten, aber die lagen eben nicht nur im Bereich von rational nachvollziehbaren amoralischen Verfahrensweisen wie Betrug, Täuschung oder Verstellung; sie lagen nicht nur im Aufbau eines Corps von Geheimdiplomaten oder in der Verwendung von Geheimtinte und Geheimschrift. Politische geheime Kunst in ihrer höchsten Vollendung war esoterisch gedacht – als die Beherrschung magischer Mittel zur Förderung des Staatswohls. Dies verlieh die bisher unbekannte Aura der Macht und gab der Politik im geheimen, hermetisch geschlossenen Raum eine unangreifbare Legitimität. Denn die Ausübung okkulter Künste war nur im Geheimraum denkbar, also mußte er geschaffen und akzeptiert werden. Wie entsprach ein Fürst, ein Geheimer Rat, ein Staatsmann diesen Erwartungen? Wie konnte er sich Kenntnisse verschaffen, die magisches Handeln ermöglichten? Wie sah er die Zukunft voraus? Wie entschlüsselte er die Geheimnisse der Natur, um Gold zu machen und so die Finanzen des Staates zu sanieren? Mit Fragen dieser Art waren die Träger des Regierungshandelns an die Träger esoterischer Gelehrsamkeit verwiesen, an diejenigen, die das höhere Wissen hatten. In dieser Verbindung zwischen den Herrschenden und gelehrter esoterischer Kompetenz liegt der Grund für das bekannte, aber weitgehend unverstandene Phänomen der Betrüger und Hochstapler an den frühneuzeitlichen Höfen.145 In der Suche nach esoterischem Wissen liegt auch ein wichtiges Motiv für Exponenten des Herrschaftsraumes, sich der masonischen Bewegung anzuschließen. Denn die esoterische Bewegung der Frühen Neuzeit gibt sich mit der Entwicklung der Freimaurerei, die sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Schottland und England allmählich herausbildet, gesellschaftlich organisierte Strukturen.146 War die Suche nach dem geheimnisvollen Orden der Rosenkreuzer in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch die Jagd nach einem Phantom gewesen,147 so entwickelte sich nun im 18. Jahrhundert eine reale Perspektive für den Wunsch nach Zugang zum esoterischen
Vgl. jetzt: Bauer, Müller, Jena, Johnssen, Altenberga (wie Anm. 73), wo die Autoren die einschlägigen Vorgänge am Weimarer Hof der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts analysieren, der bekanntlich als Muster einer aufgeklärten Residenz gilt. 146 Vgl. zur Frühgeschichte der Freimaurerei die Arbeiten von David Stevenson, The First Freemasons. Scotland’s Early Lodges and their Members, Edinburgh 1988; ders., The Origins of Freemasonry. Scotland’s Century, 1590–1710, Cambridge 1988. 147 Vgl. Roland Edighoffer, Die Rosenkreuzer, München 1995, 11–15. 145
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Wissen. Die Logen wurden Sammelpunkte der englischen Frühaufklärung148 und tradierten gleichzeitig die frühneuzeitliche Esoterik in den neuen Zusammenhang.149 Das Verstehen dieser Verbindung ist eine ungemein wichtige Grundlage für das Verständnis des inneren Lebens der Freimaurerei, von ihren Ritualen und Symbolen. Es handelt sich dabei nämlich nicht um ein Element des Fremden in der eigenen Kultur – wie es der kulturgeschichtliche Ansatz suggeriert, der uns abfordert, ethnologische Erkenntnisse über die Riten vorzivilisatorischer Gesellschaften auf die europäische Kultur des 18. Jahrhunderts zu übertragen.150 Esoterik ist nicht der Kultur der Frühen Neuzeit fremd, sondern dem wissenschaftlichen Denken unserer Zeit. Unser heutiges Weltbild und die daraus folgende Unkenntnis des Gesamtspektrums frühneuzeitlicher Religionsgeschichte verstellt den Blick auf eine wesentliche Funktion der Freimaurerei im Zeitalter der Aufklärung und die Erkenntnis dessen, was die Zeitgenossen von ihr erwarteten. Die Freimaurerei des 18. Jahrhunderts bezog sich in mehrfacher Weise auf den Erwartungshorizont, den das esoterische Weltbild bei seinen Anhängern hervorrief: Sie antwortete auf den Mythos des Ursprungs, indem sie sich vom Anfang der Welt herleitete und ihren eigenen Kalender nicht an der Geburt Christi, sondern am Alter der Schöpfung ausrichtete.151 Sie besaß – nach System verschieden – Arbeitstafeln (sogenannte Teppiche), auf denen Zeichen und Bilder dargestellt waren, deren Bedeutung in den Arbeitslogen erklärt wurde. Mit der Zeichenhaftigkeit der Welt umzugehen, mit ‘Hieroglyphen’ und Emblemen, das konnte man als Maurer lernen.152 Die Logen bezeichneten Dazu insgesamt Margaret C. Jacob, The Radical Enlightenment. Pantheists, Freemasons and Republicans, London 1981. 149 Zu diesem Zusammenhang Monika Neugebauer-Wölk, ‘Höhere Vernunft’ und ‘höheres Wissen’ als Leitbegriffe in der esoterischen Gesellschaftsbewegung. Vom Nachleben eines Renaissancekonzepts im Jahrhundert der Aufklärung, in: dies. (Hg.), Aufklärung und Esoterik, Hamburg 1999, 170–210; siehe auch Schlögl, Die Moderne (wie Anm. 70), 34 f. 150 Siehe oben im ersten Abschnitt zum Ansatz Norbert Schindlers. 151 Der Druck der Andersonschen Konstitutionen ist datiert: „In the Year of Masonry 5723. Anno Domini 1723“. Entsprechend der Vorstellung der Zeit wurden den Jahren nach Christi Geburt viertausend Jahre bis zur Schöpfung hinzugezählt (Klaus C. F. Feddersen, Constitutionen, Statuten und Ordensregeln der Freimaurer in England, Frankreich, Deutschland und Skandinavien, hg. von der freimaurerischen Forschungsvereinigung Frederik der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland, Husum 1989, 95). 152 Siehe z.B. die „Erklärung des Schottischen Tapis“, in: Winfried Dotzauer (Hg.), Quellen zur Geschichte der deutschen Freimaurerei im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main. 1991, 198–204. Der Text beginnt mit folgenden Worten: „Hochachtbare Meister und Ritter. Da ich das Vergnügen haben soll, Ihnen dieses geheimnisvolle Tapis zu erklären, so wünschte ich mir diejenige männliche Beredsamkeit zu besitzen, wodurch ich die allerheiligsten Wahrheiten unsers erhabenen Schottischen Ordens in ein Helles Licht setzen und sämtlicher edlen R[itter] Aufmerksamkeit un148
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einen realen Ort, wo das höhere Wissen verwaltet wurde. Es gab nun einen konkreten und gangbaren Weg dorthin – die Initiation und gradweise Einführung. Die ständische Annäherung von Bürgertum und Adel in der Freimaurerei ist auch die Verbindung von gelehrtem ‘höheren’ Wissen und politischer Macht. Das Kupfer, das der ersten Großlogenkonstitution von 1723 vorangestellt wurde, bringt diese Beziehung symbolträchtig zum Ausdruck durch die geradezu demonstrative Darstellung der Sphäre von Herrschaft und Majestät: Der Herzog von Montagu, erster adliger Großmeister, Mitglied einer Familie, die über Generationen hinweg eine bedeutende Rolle in der englischen Politik spielte, übergibt die Freimaurerverfassung seinem Nachfolger im Amt, dem Herzog von Wharton.153 Hinter ihm steht der Gelehrte, John Desaguliers, Reverend und Physiker, Stellvertretender Großmeister nächst dem Herzog, Freund Newtons und Mitglied der Royal Society (Abb. 1). Desaguliers wird später die Deputationen anführen, die Franz Stephan von Lothringen und den Prinzen von Wales in den Orden aufnehmen.154 Wolfgang Hardtwig hat in seinem Überblickswerk zur frühneuzeitlichen Sozietätsbewegung noch einmal der Verwunderung Ausdruck gegeben, die den heutigen Beobachter befällt, wenn er sich die Repräsentanz regierender Häuser des europäischen Hochadels in den Logen des 18. Jahrhunderts vor Augen führt: „Auffällig ist [...] das Ausmaß, in dem die Dynasten selbst sich als Stifter, Protektoren, Großmeister u.ä. in der Freimaurerei engagierten.“155 Die Standarderklärung dafür zielt darauf ab, konkrete machtpolitische Defizite bestimmter Gruppen des fürstlichen Adels für dieses Engagement verantwortlich zu machen, etwa die Situation nachgeborener Prinzen oder von Herrschern kleiner Territorien.156 Dies ist auch dort durchaus zutreffend, wo es um die Kompensation realer Mängel ging. Im Bereich der esoterischen Kommunikation liegen die Dinge jedoch völlig anders. Hier geht es nicht darum, ein nicht finanzierbares Netz von Geheimdiplomaten zu ersetzen, Surrogate von Macht
ter halten könnte. Doch die Wahrheit bedarf keines Schmuks und die Erklärung dieses Hieroglyphen hat keine Zierde von Nöthen, um Ihnen allerseits verehrungswürdig zu seyn.“ (S. 199). 153 Vgl. den Artikel „John, zweiter Herzog von Montagu“, in: Lennhoff, Posner, Freimaurerlexikon (wie Anm. 56), 1055, und: Genealogisch=Historische Nachrichten von den Allerneuesten Begebenheiten, welche sich an Europäischen Höfen zugetragen, worinn zugleich Vieler Standes=Personen und anderer Berühmter Leute Lebens=Beschreibungen vorkommen [...] Der 133. Theil, Leipzig 1749, 360–362. 154 Artikel „John Theophilus Desaguliers“, in: Lennhoff, Posner, Freimaurerlexikon (wie Anm. 56), 336 f.; siehe auch: Freimaurer. Solange die Welt besteht, Katalog der Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1992, 179. 155 Hardtwig, Genossenschaft (wie Anm. 44), 333. 156 Ebd.; vgl. auch Schüttler, Zwei freimaurerische Geheimgesellschaften (wie Anm. 85), 528.
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Abb. 1: Frontispiz der Constitutions of the Free-Masons, London 1723
in Form hoher masonischer Positionen zu erringen oder andere Defizite der realen Welt in einer anderen Sphäre auszugleichen. In der esoterischen Kommunikation geht es um Qualitäten, die die reale Welt des ‘profanen’ Wissens gar nicht zu bieten hatte: um die Erkenntnis des Verborgenen im Sinne okkulter Kompetenzen, um die Fähigkeit zur Ausübung magischer Macht. Bei solcher Zielstellung spielten die weltlichen Rangunterschiede keine Rolle – Könige oder Thronfolger bedurften ihrer ebenso wie ihre mindermächtigen Verwandten, vielleicht mehr. Woher immer die Bezeichnung ‘Königliche Kunst’ für die
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Freimaurerei stammt und was immer sie meint – die Entstehung dieser Vorstellung ist ungeklärt157 –; sie benennt vorzüglich den hier angesprochenen Zusammenhang.
V. Esoterische Politik in der Erprobung: Reale Kontexte eines irrealen Konzepts Über Rolle und Bedeutung esoterischer Kommunikation im politischen Kontext der Geheimgesellschaften wissen wir so gut wie nichts – es ist bisher kein Gegenstand der Forschung. Denn nach dem Vorausgehenden dürfte nachvollziehbar geworden sein, daß die Begriffe ‘arkane Kommunikation’ einerseits, ‘esoterische Kommunikation’ andererseits nicht notwendig deckungsgleich sind. ‘Arkan’ ist jede Kommunikation, die sich im Geheimraum bewegt. Um von ‘esoterischer Kommunikation’ sprechen zu können, müssen die untersuchten Beziehungen dem Weltverständnis frühneuzeitlicher Esoterik entsprechen. Daß auch diese Form in der Politik des 18. Jahrhunderts eine Rolle spielte, das belegen schon die wenigen weithin bekannten Bruchstücke der Überlieferung, die gleichsam als besonders farbiges Element des Zeitkolorits durch die wissenschaftlichen Texte zu den Geheimgesellschaften geistern. Um diese Zusammenhänge systematisieren zu können, bedarf es eines zielgerichteteinschlägigen Forschungsinteresses, das bisher nicht vorhanden, ja nicht einmal formuliert ist. Nur das Erstaunen wird immer wieder spürbar, das den modernen Leser überfällt, wenn er auf derartige Belege stößt. Man spürt es, wenn W. Daniel Wilson über die Motive spricht, die den Herzog von SachsenWeimar veranlaßt haben könnten, dem Geheimbund der Illuminaten beizutreten. Wilson teilt mit, daß wenige Tage vor Carl Augusts Aufnahme das Interesse des Herzogs an den alchemistischen Kenntnissen deutlich wurde, die er im Orden vermutete: Er zitiert einen entsprechenden Brief des Herzogs Ernst von Gotha an Johann Joachim Bode, der die Rezeption der Fürsten zu dieser Zeit – im Februar 1783 – in Weimar betrieb: „Ich weiß nicht“, schreibt Ernst, „durch welchen Zufall der Herzog in Erfahrung gebracht hat, daß die GoldStange, die Sie mir heute anvertraut haben, sich in meinen Händen befände. Er verlangt ein Stück von derselben um sie Probieren zu laßen.“158 Wilson kommentiert: Ernst braucht Bodes Erlaubnis, um Carl August ein Stück von diesem Gold zu geben. Es scheint also, daß Bode alchemistische Versuche benutzte, um Interesse am Illuminatenorden unter den Weimarern (und bei Herzog Ernst) zu wecken. Diese Episode fasziDazu den Artikel „Königliche Kunst“, in: Lennhoff, Posner, Freimaurerlexikon (wie Anm. 56), 492 f. 158 Wilson, Geheimräte gegen Geheimbünde (wie Anm. 69), 62. 157
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niert vor allem deswegen, weil solche Umtriebe im Illuminatenorden sonst praktisch unbekannt sind. Sie werden eher mit den Gegnern der Illuminaten, den konservativen Gold- und Rosenkreuzern in Verbindung gebracht. Es läßt sich hier schon die Vermutung aussprechen, daß andere Motivationen als reines Interesse an den eigentlichen Zielen der Illuminaten ins Spiel gebracht wurden, um den Weimarer Herzog für den Orden zu gewinnen.159
Bei allem Unverständnis gegenüber diesen Vorgängen deutet Wilson in seiner Erläuterung richtig den Weg an, der einen Reichsfürsten noch in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts auf der Suche nach höherem Wissen durch die Geheimbünde führen konnte. Diese Suche vollzog sich im Spektrum der Hochgradfreimaurerei, denn die masonische Basisform mit ihrem begrenzten System aus nur drei Graden war schnell abgeschritten und erschöpft. Spätestens seit den sechziger Jahren war sie nur noch das Eingangstor für diejenigen, die esoterische Kompetenz suchten. In den siebziger Jahren richteten sich alle Hoffnungen auf die Strikte Observanz; nach 1780 war es eher der Orden der Gold- und Rosenkreuzer, der das Interesse auf sich zog. Zwei europäische Mächte, Schweden und Preußen, stehen für ein Programm esoterischer Politik in dieser Zeit; Schweden in der ersten, Preußen in der zweiten Phase. In der Dynastie des schwedischen Königshauses war die Freimaurerei etabliert, seit König Adolf Friedrich die „Obermeisterschaft aller Freimaurervereinigungen“, also das Protektorat übernommen hatte und sein Sohn, Gustav III., zusammen mit seinen beiden Brüdern Karl und Friedrich Adolf nach Regierungsantritt – wahrscheinlich 1772 – dem Bund beigetreten war.160 Dieses monarchische Engagement war sicher deutlich, aber nicht ungewöhnlich. Der schwedische Fall gewinnt erst dadurch besonderes Interesse, daß Gustav III. offenbar den Plan faßte, ein unsichtbares esoterisches Reich unter schwedischer Führung in Europa zu errichten und seinen ältesten Bruder, Karl von Södermanland, an dessen Spitze zu stellen. Ein Großteil dessen, was wir von diesen Vorgängen wissen, entstammt den Forschungen des Freiherrn Christian Carl Friedrich von Nettelbladt (1779–1843), eines masonischen Historiographen, dessen freimaurerisches Wirken in Vorpommern bis 1815 noch unter schwedischer Landeshoheit gestanden hatte.161 Als Mitglied der Großen Landesloge von Deutschland gehörte Nettelbladt nach dem Wiener Kongreß einem System an, das der schwedischen Freimaurerei nahe verwandt war, vor 1815 war er der sogenannten Schwedischen Lehrart verpflichtet und hatte Zugang zu schwedischen Akten.162 In seinen Historischen Instruktionen, 1836 als ManuEbd., 62 f. Vgl. Riegelmann, Die europäischen Dynastien (wie Anm. 81), 281. 161 Vgl. Lennhoff, Posner, Freimaurerlexikon (wie Anm. 56), 1104. 162 Vgl. Reinhard Horn, Studien zur deutschen freimaurerischen Historiographie des 19. Jahrhunderts: F. L. U. Schröder, K. C. F. Krause, C. C. F. W. Frhr. v. Nettelbladt und J. G. B. F. 159 160
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skript für Brüder gedruckt, verarbeitete er das einschlägige Material; seit 1879 stand dieses Werk auch der Öffentlichkeit zur Verfügung.163 Nettelbladt datiert den Beginn des Kontakts zwischen der Führungsgruppe der Strikten Observanz in Deutschland und der schwedischen Krone auf die zweite Jahreshälfte 1776.164 Der Tod des Freiherrn von Hundt, des Gründers des Templersystems, im November dieses Jahres, eröffnete die Möglichkeit der Übernahme des sogenannten Heermeisteramtes, der leitenden Position im Orden. Karl von Södermanland zeigte Interesse, und Nettelbladt schildert ausführlich den schwierigen Verlauf der fast dreijährigen Verhandlungen über die Bedingungen dieser Nachfolge.165 Im Sommer 1778 waren die Unionsakte zwischen der Strikten Observanz und dem schwedischen Freimaurersystem und der Entwurf einer Wahlkapitulation fertiggestellt; letzterer verweigerte Karl zunächst die Ratifikation und beschwor sie erst, nachdem einige Änderungen vorgenommen worden waren. Die auf dem Konvent von Wolfenbüttel im August 1778 bereits vollzogene Wahl wurde durch die Annahme der Wahlverpflichtung im September 1779 gültig. Der Bruder des schwedischen Monarchen, später selbst als Karl XIII. König, war damit Oberhaupt des wichtigsten und größten europäischen Freimaurersystems seiner Zeit. Daß diese geheime Politik auf eine arkane Renaissance der schwedischen Großmachtzeit zielte und ganz in dieser Kontinuität gesehen wurde, das zeigt eine Passage der späteren Abdankungsurkunde. Karl erklärte darin, er habe den deutschen Brüdern die „Alliance mit einem ganzen Reiche, und den Schutz und Schirm eines mächtigen Königs“ angeboten: Kaum dürfte wohl jemand in Deutschland haben vergessen können, welche wichtigen Dienste die ehemaligen großen Könige Schwedens dem Deutschen Reiche geleistet, und wie viel sowohl die Fürsten als Stände Deutschlands für die Aufrechterhaltung ihrer Gesetze und Freiheiten der Krone Schweden zu danken haben.166
Die schwedische Offensive arkaner Politik zielte aber keineswegs nur auf das Heilige Römische Reich, sondern mindestens in gleicher Weise auf Dänemark. Das in § 10 der Wahlkapitulation vorgesehene Amt des Koadjutors erhielt Karl, Landgraf von Hessen-Kassel, der als Schwiegersohn König Friedrichs V. von Dänemark in der öffentlichen politischen Welt Statthalter in den Herzogtümern Schleswig und Holstein und in Norwegen war, in der arkanen Welt als „SupeKloß, Phil. Diss. München 1980 (MS), zu Nettelbladt 221–351, besonders 224 zur Quellenlage – allerdings ohne Bezugnahme auf die hier interessierende allgemeinpolitische Fragestellung. 163 C. C. F. W. von Nettelbladt, Geschichte Freimaurerischer Systeme in England, Frankreich und Deutschland. Vornehmlich auf Grund der Archivalien der Gr. Landesloge der Freimaurer von Deutschland bearbeitet, Berlin 1879, siehe hier das Vorwort und die Kurzbiographie Nettelbladts. 164 Ebd., 383. 165 Ebd., 386–401. 166 Gesamttext der Urkunde ebd., 404–411.
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rior und Protektor Ordinis in den Königlich Dänischen Staaten“ fungierte.167 Und man griff noch weiter aus: Im Mai 1779 bereits hatte Schweden „die Gründung einer Großen Landesloge von Rußland im Tausch gegen eine Gehorsamkeitserklärung ihrer Mitglieder anerkannt“.168 Die politischen Motive des schwedischen Königshauses sind von den esoterischen Hoffnungen und Ambitionen der drei königlichen Brüder um Gustav III. untrennbar. Einer der Gründe dafür, daß Karl von Södermanland den Entwurf der Wahlkapitulation zunächst abgelehnt hatte, war die Formulierung des § 1 gewesen, nach der der Herzog das Amt des Heermeisters „nur als Ritter und in keiner clerikalischen Beziehung“169 übernehme. Damit hätte er nur eine Funktion in der Ordensregierung gehabt, keine spirituelle Autorität. Letzteres aber war ihm offenbar in gleicher Weise wichtig und wurde schließlich zugestanden. Im Frühjahr 1780, ein halbes Jahr nach Ratifikation und Vollzug der Verträge, wurde mit der Errichtung eines neuen esoterischen Systems, des wahren Templerordens, begonnen. Auf einem dafür einberufenen Konvent der schwedischen Freimaurer wurde ein neuer Aufbau der Gradfolge beschlossen und eine detailliert gegliederte neue Ämterhierarchie eingeführt.170 Als mystische Ordensspitze galt ein unsichtbarer „Avatar Christi“,171 eine erneuerte Reinkarnation Gottes auf Erden,172 zu dessen sichtbarem Stellvertreter Gustav III. seinen Bruder in feierlicher Sitzung erhob.173 Eine Kopie des Ornats, mit dem Karl während dieser Zeremonie eingekleidet wurde, befindet sich heute im Museum des schwedischen Freimaurerordens in Stockholm: Ein Mantel aus blauer Seide, übersät mit goldenen Sternen und ergänzt durch eine Stola, die die astrologischen Symbole des Tierkreises zeigt.174 (Abb. 2). Diese Herrschaft war esoterischer Natur – der Anspruch auf die Verbindung von irdischer mit kosmischer Macht war begründet im Besitz des höheren Wissens als arkaner Kompetenz.
Riegelmann, Die europäischen Dynastien (wie Anm. 81), 250; vgl. 289 zur komplizierten Vorgeschichte der masonischen Verbindung Schweden-Dänemark. 168 René Le Forestier, Die templerische und okkultistische Freimaurerei im 18. und 19. Jahrhundert, 3. Buch, Leimen 1990, 16. 169 Nettelbladt, Geschichte Freimaurerischer Systeme (wie Anm. 163), 401. 170 Le Forestier, Die templerische Freimaurerei (wie Anm. 168), 15. 171 Ebd., 16. 172 Zum Begriff „Avatar“: Julia Iwersen, Lexikon der Esoterik, Düsseldorf, Zürich 2001, 38. 173 Le Forestier, Die templerische Freimaurerei (wie Anm. 168), 16. 174 Vgl. die Abbildung in: Freimaurer. Solange die Welt besteht. 165. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Katalog, Wien 1992, 395. Beschreibung des Ornats auch bei Le Forestier, Die templerische Freimaurerei (wie Anm. 168), 16. 167
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Abb. 2: Ornat Karls von Södermanland. 1780 (Replik). Museum des Schwedischen Freimaurerordens Stockholm.
Woher aber sollte diese Kompetenz kommen? Karl von Södermanland hatte sie natürlich nicht; offenbar war er davon ausgegangen, daß ihm nach der Gewinnung des Heermeisteramtes der Strikten Observanz die Einweihung in die Arcana imperii, zuteil werden würde. Nach Forschungen des französischen Freimaurerhistorikers René Le Forestier hat er am 18. Januar 1780 ein Schrei-
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ben an Charles Edward Stuart gerichtet, den in Florenz lebenden jakobitischen Thronprätendenten von Schottland und England.175 Karl handelte damit entsprechend der templerischen Legende der Freimaurerei, die die Vorstellung umfaßte, daß sich die Dynastie der Stuarts hinter den „Unbekannten Oberen“ der Strikten Observanz verberge – man glaubte, daß der im 14. Jahrhundert aufgehobene mittelalterliche Templerorden in Schottland überlebt habe.176 Karl bat darum, sein fürstlicher Vetter möge ihm nun die „erhabenen theoretischen Kenntnisse“ mitteilen, über die er verfüge.177 Charles Stuart antwortete im September, er wisse von keinen Geheimnissen, und er könne ihn nur zu seiner neuen Würde beglückwünschen.178 Die wechselseitige Unfähigkeit, die Arkana zu erhellen, forcierte das schnelle Ende der Allianz zwischen schwedischer und deutscher Freimaurerei: auch die Führungsfiguren der Strikten Observanz im Reich warfen ihrem neuen Heermeister vor, „die Geheimnisse für sich zu behalten, welche er versprochen hatte, ihnen zu enthüllen“.179 Die schwedischen Ambitionen auf politischen Einfluß in Europa stießen ohne den erwarteten arkanen Zugewinn an überlegener Macht schnell an ihre Grenze. Realpolitisch war das Unternehmen ohnehin fragil: Als die russischen Freimaurer von der esoterischen „Inthronisation“ Karls im Frühjahr 1780 erfuhren, distanzierten sich die Petersburger und Moskauer Logen von der Oberhoheit des schwedischen Fürsten und weigerten sich, ihm künftig zu gehorchen.180 Auch der dänische König zeigte eine unmittelbare Reaktion: Christian VII. verbot mit Verfügung vom 29. April 1780 jede auswärtige Oberhoheit über die Freimaurerei seines Landes.181 Ein Jahr später legte Karl das Heermeisteramt nieder.182 Der Versuch der Etablierung eines esoterischen Großreichs auf der realpolitischen Basis einer europäischen Mittelmacht war gescheitert. Es gibt Hinweise darauf, daß sich Karl von Södermanland auf dem Höhepunkt seiner arkanen Stellung – zu Jahresbeginn 1780 – auch für ein Ausgreifen nach Preußen interessiert hat. Auf jeden Fall haben deutsche Führungsfiguren der Strikten Observanz in Potsdam Einfluß zu gewinnen versucht, und der Name des schwedischen Prinzen taucht in diesem Zusammenhang in den Quellen auf. Noch in der Phase der Verhandlungen zwischen Strikter Observanz und schwedischem Königshaus, belegbar für das Jahr 1777, bemühte sich der preußische Generalleutnant Prinz Friedrich August von Braunschweig, Neffe des 175 176 177 178 179 180 181 182
Ebd., 14. Vgl. Bauer, Müller, „Maurers Wandeln“ (wie Anm. 69), 28. Le Forestier, Die templerische Freimaurerei (wie Anm. 168), 14. Ebd., 15. Ebd., 13; vgl. auch Nettelbladt, Geschichte Freimaurerischer Systeme (wie Anm. 163), 401. Le Forestier, Die templerische Freimaurerei (wie Anm. 168), 17. Riegelmann, Die europäischen Dynastien (wie Anm. 81), 290. Nettelbladt, Geschichte Freimaurerischer Systeme (wie Anm. 163), 404.
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„Magnus superior ordinis“ der Strikten Observanz, des Herzogs Ferdinand von Braunschweig, darum, den preußischen König in die Logenarbeit hineinzuziehen; er versuchte, ihn für ein Mitwirken in der „Großen Königlichen Mutterloge zu den drei Weltkugeln“ in Berlin zu gewinnen, deren „Nationalgroßmeister“ Friedrich August war.183 Friedrich der Große, der wohl berühmteste unter den frühen Freimaurern Deutschlands,184 zeigte jedoch kein Interesse an den Hochgradsystemen des späten 18. Jahrhunderts. Herzog Ferdinand, der zur Unterstützung seines Neffen selbst nach Berlin kommen wollte, ließ er über Friedrich August ausrichten, „daß ich ihn innigst bitte, sich in meinem Lande nicht in die Freimaurerei zu mischen, weil mir das nicht paßt, aus einer Spielerei eine ernste Sache zu machen“.185 Nächst dem Versuch, den König für sich zu gewinnen, gab es die Möglichkeit, auf die Zukunft zu setzen und die Aufmerksamkeit auf den Thronfolger zu richten. Ein Jahr später, während des Bayerischen Erbfolgekrieges, hatte sich die Gelegenheit dazu ergeben, als sich Friedrich Wilhelm Prinz von Preußen und Herzog Friedrich August gemeinsam in einem böhmischen Feldlager aufhielten. Friedrich August war es hier gelungen, in dem Prinzen ein Erwekkungserlebnis auszulösen186 und ihn damit für die Botschaften der arkanen Welt empfänglich zu machen. Dann hatte er Friedrich Wilhelm der Obhut des Ritters der Strikten Observanz Johann Rudolph von Bischoffwerder übergeben.187 Die erfolgreiche Ansprache des preußischen Thronfolgers stand in zeitlichem Kontext zu einer Neuentwicklung innerhalb der arkanen Szenerie, die für diesen Vorgang von großer Bedeutung werden sollte. Denn für das zweite Halbjahr 1778 ist das Übergreifen des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer nach Preußen dadurch erschließbar, daß im Frühjahr 1779 bereits eine „Generalkonvention“ des neuen Ordenszweiges in Berlin stattfand. Träger dieser Entwicklung war ein „Triumvirat“, zu dem neben Friedrich August von Braunschweig der Ritter der Strikten Observanz Johann Christoph Wöllner gehör-
Geschichte der Grossen National-Mutterloge in den Preussischen Staaten, genannt zu den drei Weltkugeln, Berlin 61903, 55. 184 Bekanntlich war Friedrich noch als Kronprinz, 1738, Freimaurer geworden. Vgl. insgesamt Rüdiger Hachtmann, Friedrich II. von Preußen und die Freimaurerei, in: Historische Zeitschrift 264 (1997), 21–54. 185 Wiedergabe mehrerer einschlägiger Schreiben bei Riegelmann, Die europäischen Dynastien (wie Anm. 81), 150–152, Zitat 152. 186 Vgl. Christopher McIntosh, The Rose Cross and the Age of Reason. Eighteenth-Century Rosicrucianism in Central Europe and its Relationship to the Enlightenment, Leiden, New York, Köln 1992, 114 f. 187 „Eques a Grypho“, siehe: Liste der Ritternamen des Inneren Ordens der Strikten Observanz (wie Anm. 118), 15. 183
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te.188 Genau zu dieser Zeit also, als die Kontaktaufnahme mit dem Prinzen von Preußen gelang, entfernten sich die Protagonisten dieser Aktion aus der Strikten Observanz, dem arkanen System, dem sie bisher angehört hatten und wandten sich einem Geheimbund zu, der noch weit verschwiegener tätig war als ihre bisherige spirituelle Heimat. Die „neuen Rosenkreuzer“ betrachteten alle bisherigen Freimaurersysteme nur als Vorstufen zum Erwerb der göttlichen Geheimnisse. Auch die Strikte Observanz besaß in ihren Augen nur den „Schein des Lichtes“. Wahre Erleuchtung, der endgültige Durchbruch zum höheren Wissen, war nur in ihren Zirkeln zu erlangen.189 Im Sommer 1779 distanzierte sich die Berliner Loge „Zu den drei Weltkugeln“ von ihrem bisherigen System und beschloß, die hohen Grade der Strikten Observanz nicht mehr zu bearbeiten; „um kein Aufsehen zu erregen und aus Rücksicht auf den Herzog Ferdinand“ trennte man sich jedoch noch nicht offiziell „von diesem Logenverein“.190 Im November 1779 erklärte sich die Loge gegen die Union mit Schweden: „könnte sie sich auf die Wahl des Heermeisters für die höheren Grade der strikten Observanz, besonders in der Person eines fremden Prinzen, nicht einlassen“.191 Am Heiligabend 1779 wurde Johann Rudolph von Bischoffwerder in den Orden der Gold- und Rosenkreuzer aufgenommen.192 An eben diesem Tag setzen die Berichte ein, die Bischoffwerder an seine Ordensvorgesetzten gerichtet hat, und in denen er ihnen Rechenschaft ablegt über die Fortschritte des Prinzen von Preußen auf seinem spirituellen Entwicklungsgang. Diese Berichte sind uns im persönlichen Nachlaß König Friedrich Wilhelms II. als Bestandteil des Hausarchivs der Hohenzollern überliefert – zusammen mit weiteren Ordenspapieren, etwa Schreiben des Prinzen von Preußen an die ihm unbekannten Oberen des Ordens und deren Antworten.193 Hier hat sie der Bonner Extraordinarius und Schüler des Direktors der Preußischen Staatsarchive Heinrich von Sybel, Martin Philippson, in den siebziger Die vorausgehenden Informationen wie zahlreiche andere Hinweise für die folgende Darstellung verdankt die Autorin Renko Geffarth, der zur Zeit am Institut für Geschichte der Universität Halle-Wittenberg an einer Dissertation über die Gold- und Rosenkreuzer in Mittel- und Norddeutschland arbeitet. 189 Vgl. Edighoffer, Die Rosenkreuzer (wie Anm. 146), 108. 190 Vgl. Geschichte der Grossen National-Mutterloge (wie Anm. 183), 71 f. 191 Ebd., 72. 192 McIntosh, The Rose Cross (wie Anm. 186), 115. 193 Es wird Aufgabe zukünftiger Forschung sein zu prüfen, welche dieser Materialien heute noch vorhanden sind, welche verbrannt oder bisher unauffindbar neu zugeordnet sind. Reinhard Markner hat bereits mit dieser Rekonstruktionsarbeit begonnen und die Berichte Bischoffwerders jetzt erstmals wieder aus den Originalen benutzt: Reinhard Markner, Imakoromazypziloniakus. Mirabeau und der Niedergang der Berliner Rosenkreuzerei, in: Zaunstöck, Meumann, SozietätenNetzwerke-Kommunikation (wie Anm. 111), 215–230, hier 221 mit Anm. 35, siehe hier auch 229 zur zeitlichen Erstreckung des Materials. 188
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Jahren des 19. Jahrhunderts bearbeitet und in den ersten Band seiner Geschichte des Preußischen Staatswesens einbezogen.194 1929 hat der Berliner Staatsarchivrat Johannes Schultze die Berichte Bischoffwerders in Auszügen publiziert195 und gleichzeitig in einer Spezialstudie ausgewertet.196 Bereits der erste Bericht Bischoffwerders läßt erkennen, daß die Strikte Observanz keineswegs gewillt war, sich von den neuen Berliner Rosenkreuzern von ihrem Zugriff auf den preußischen Thronfolger kampflos abdrängen zu lassen. Bischoffwerder sah sich einer entschiedenen Konkurrenz ausgesetzt in der Person des „Tempelritters“ Carl Eberhard Wächter, eines engen Vertrauten des Herzogs Ferdinand von Braunschweig.197 Im Frühjahr 1780 wurde die Agitation noch verstärkt; Bischoffwerder meldete: „W[ächter] sucht noch immer unseren lieben [F.W.] in seine Projecte einzuflechten.“ „Ein neuer von obigem, Herzog F[erdinand], P[rinz] Carl v. H[essen] und Herzog v. S[üdermannland] ausgesandter Apostel wird ehestens auftreten.“198 Problematisch für die Rosenkreuzer waren nicht so sehr Wächters Hinweise auf die politischen Ambitionen des Tempelherrenordens – auf die Nachricht, daß er selbst „neben deren T[empel] H[erren] in Curland am Russischen Hofe“ das Projekt betreibe, „daß der Herzog von Südermannland Herzog von Curland werde“, reagierte der Prinz von Preußen mit der Bemerkung, daß er „bei der ersten politischen proposition mit ihm“ – dem Herzog von Södermanland – „und seinen Anhängern förmlich brechen“ werde.199 Gefährlich waren vielmehr die esoterischen Angebote: Wächter hatte Friedrich Wilhelm erklärt, er besitze ein Brustkreuz, „welches die Kraft habe, daß, sooft er es berühre, er seinen u. anderer Schutzgeist sehe.“200 Martin Philippson, Geschichte des Preußischen Staatswesens vom Tode Friedrichs des Großen bis zu den Freiheitskriegen, Bd. 1, Leipzig 1880; vgl. das Vorwort (S. V), zur Benutzungserlaubnis für das Königliche Hausarchiv; zu Philippson: 150 Jahre Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität zu Bonn 1818–1968, Bonn 1968, 226. 195 Johannes Schultze, Quellen zur Geschichte der Rosenkreuzer des 18. Jahrhunderts. Die Berichte Hans Rudolf von Bischoffwerders an seine Ordensvorgesetzten 1779–1781, in: Quellen zur Geschichte der Freimaurerei 3 (1929), 51–73. 196 Johannes Schultze, Die Rosenkreuzer und Friedrich Wilhelm II. [zuerst 1929], wieder in: ders., Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1964, 240–265. 197 Erwähnung Wächters in Bischoffwerders Bericht vom 24.12.1779: Schultze, Quellen zur Geschichte der Rosenkreuzer (wie Anm. 195), 55 f.; siehe die Verzeichnung Wächters in der Mitgliederliste des Inneren Ordens: Versuch eines alphabetischen Verzeichnisses (wie Anm. 118), 66; vgl. auch den Artikel „Carl Eberhard Wächter“, in: Lennhoff, Posner, Freimaurerlexikon (wie Anm. 56), 1163 f. 198 Schreiben Bischoffwerders vom 16.2.1780: Schultze, Quellen zur Geschichte der Rosenkreuzer (wie Anm. 195), 61. 199 Brief Bischoffwerders vom 10.3.1780: ebd., 64. 200 Schreiben Bischoffwerders vom 9.2.1780: ebd., 59. 194
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Neuere Studien zur Gesellschaft der Spätaufklärung haben eindringlich gezeigt, daß der Geisterglaube des ausgehenden 18. Jahrhunderts keineswegs Ausdruck antiquierter Anschauungen war, die im Widerspruch zum Denken der Zeit standen. Die Überzeugung von der Erkennbarkeit höherer Wesen durch den Menschen war vielmehr ein als aufregend neu empfundener Diskussionsund Gesprächsgegenstand. Diethard Sawicki hat gezeigt, daß der Begriff des Geistersehers im deutschen Sprachraum seit etwa 1770 begegnet; Kants Schrift über Swedenborg aus dem Jahre 1766 darf wohl als frühester Beleg gelten.201 In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts teilte sich die Welt der Gebildeten in solche, die an Geister glaubten und solche, die dies nicht taten – die Grenze zwischen beiden Gruppen war aber nicht die zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung. Die Aufklärung hatte vielmehr geradezu die Grundlage für das Interesse an den Geistern gelegt, indem sie in weiten Kreisen die Denkweisen der christlichen Religiosität aufgebrochen und den von den Kirchen reglementierten Glauben auf den Prüfstand gestellt hatte. Am Ende des 18. Jahrhunderts ging es nicht mehr darum, sich gegenüber einem religiösen Entwurf glaubend zu verhalten; es ging vielmehr darum, religiöse Vorgaben durch Erfahrung und Experiment zu beweisen und so Glauben und Wissen in Übereinstimmung zu bringen, eine zentrale Komponente esoterischer Religiosität. Der Hintergrund des Geisterglaubens war in diesem Zusammenhang der lebhaft geführte Diskurs über die Unsterblichkeit der Seele, die man bewiesen sehen wollte. Dieser Beweis war geführt, wenn es gelang, die Geister der Toten herbeizuzitieren. Anne Conrad hat eindrücklich beschrieben, wie die Vorstellung „umschwebender Geister“ den aufgeklärten Alltag bestimmte, Gegenstand von Journaldiskussionen und Salongesprächen war.202 Einschlägige Experimente ermöglichte die laterna magica: „zwischen 1770 und 1800“ lagen jene Jahre, „in denen die Technik der laterna magica zwar so weit ausgereift war, daß mit ihr zuverlässige Projektionen von Geistern möglich, ihre Effekte aber auch
Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 2, Darmstadt 1968, 923–989; dazu Diethard Sawicki, Die Gespenster und ihr Ancien régime. Geisterglauben als „Nachtseite“ der Spätaufklärung, in: Neugebauer-Wölk, Aufklärung und Esoterik (wie Anm. 149), 364–396, hier 367 f. 202 Anne Conrad, „Umschwebende Geister“ und aufgeklärter Alltag. Esoterik als Religiosität der Spätaufklärung, in: Neugebauer-Wölk, Aufklärung und Esoterik (wie Anm. 149), 397–415, zum Diskurs über die Unsterblichkeit der Seele hier 401–403; vgl. auch dies., „Wir verplauderten die Zeit recht angenehm, sprachen von Geistersehern, Ahnungen und dergleichen“. Religion als Thema aufklärerischer Geselligkeit, in: Ulrike Weckel u.a. (Hg.), Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert, Göttingen 1998, 203–225. 201
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noch neu und das Wissen um ihre Funktionsweise keineswegs allgemein waren“.203 In eben den Briefen, in denen Bischoffwerder seinen Ordensoberen über den Kontakt zum Thronfolger berichtet, verweist er nicht nur auf die einschlägigen Initiativen Wächters, sondern erwähnt einen weiteren Geisterseher: Es ist dem Könige gemeldet worden, daß sich in Berlin ein sogenannter Geisterbeschwörer aufhalte, welcher auch geneigt scheint, ihm seine Probe ablegen zu lassen, alles, was ich [...] davon erfahren können, ist, daß sich seit 2 Monaten ein Mensch daselbst aufhalte, welcher sich dieser Kunst gegen einige Mitglieder der Academie der Wissenschaften gerühmt u. darüber mit ihnen disputiert habe, daß aber noch von niemand eine praktische Operation gesehen worden [...].204
Friedrich der Große, der das Werben der Strikten Observanz so entschieden zurückgewiesen hatte, zeigte sich hieran offenbar interessiert, denn Bischoffwerder fährt fort: daß [der König] entschlossen sei, den Mann [...] hierher kommen u. eine Probe ablegen zu lassen.205
Die spiritistische Herausforderung brachte Bischoffwerder in nicht geringe Probleme. Was sollte er ihr entgegensetzen? Er selbst konnte weder Geister sehen noch beschwören, er war sich dessen bewußt, daß er als gerade erst in den Orden Aufgenommener noch ganz am Anfang seiner Karriere stand und weit entfernt davon war, über das Wissen der Hohen Oberen zu verfügen.206 Dem magischen Brustkreuz Wächters entgegenzutreten, war noch vergleichsweise einfach. Bischoffwerder belehrte Friedrich Wilhelm, daß es unrecht sei, sich dergl. Talismanen zu bedienen, weil ein guter Geist der Kraft dieses unter gewissen Konstellationen u. Conjurationen verfertigten Pectorals nicht könne unterworfen sein, daß dieses schon in alten Zeiten üblich gewesen u. zur Abgötterei geführt habe und ein wahrer Magus dessen Augen durch Einstrahlung und Inwohnung des göttlichen Lichtes geöffnet worden, solcher Mittel nicht bedürfe.207
Sawicki, Gespenster (wie Anm. 201), 394. Schultze, Quellen zur Geschichte der Rosenkreuzer (wie Anm. 195), 60, Schreiben vom 9.2.1780. 205 Ebd., Schreiben vom 12.2.1780, 60 f. 206 Im Januar 1780 hatte er die „Instructionen des Juniorats“ erhalten, des ersten von insgesamt neun Graden; vgl. ebd., Schreiben vom 25.1.1780, 59; zum Gradsystem: Bernhard Beyer, Das Lehrsystem des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer, Leipzig, Berlin 1925, Augsburg 21978, hier 107–120 die von Bischoffwerder erwähnte Instruktion. 207 Schultze, Quellen zur Geschichte der Rosenkreuzer (wie Anm. 195), 59 f. 203 204
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Bischoffwerder gab seinem königlichen Schüler magische und alchemistische Schriften zu lesen,208 aber der erklärte ihm, das Geheimnis des Goldmachens interessiere ihn nicht.209 Stattdessen erwähnte er „unablässig der palyngenesie“210 – wollte also über die Möglichkeiten der Wiedergeburt durch Seelenwanderung informiert werden. Bischoffwerder schrieb seinen Vorgesetzten, er habe ihn bisher damit abgewiesen, da er noch nicht befugt wäre, seine Wünsche zu erfüllen. Nun fürchte er aber langsam, daß Friedrich Wilhelm anfangen würde daran zu zweifeln, daß der von ihm vertretene Bund wirklich die höchsten Geheimnisse besitze.211 Schließlich übergab er ihm eigenmächtig den Text eines rosenkreuzerischen Vorbereitungsgrades, „weil dieser Grad eigentlich keine Ordensgeheimnisse, sondern nur verschiedene einem zum Regieren bestimmten Mann höchst nötige [...] Aufschlüsse über Gott, die Schöpfung und die Religion enthält.“212 Hilfe im Kampf gegen die Initiativen der Strikten Observanz aber war von ganz unerwarteter Seite dadurch gekommen, daß die Union zwischen der deutschen Führungsgruppe und dem schwedischen Königshaus bereits im Frühsommer 1780 soweit untergraben war, daß kein Vertrauen mehr zwischen den Beteiligten bestand.213 Jetzt antichambrierten Herzog Ferdinand und Prinz Carl von Hessen bei Friedrich Wilhelm, er möge ihnen doch Zugang „zur Connection mit wahren Ordens Oberen“, nämlich denen der Gold- und Rosenkreuzer, verschaffen.214 Wächter wurde nun zunehmend mehr isoliert, und Bischoffwerder konnte dem Orden am Jahresende triumphierend melden, der Thronfolger habe „seinen Vorsatz, mit W[ächter] alle fernere Connection aufzuheben, nunmehr wirklich ausgeführt“.215 Den endgültigen Durchbruch brachte aber erst eine Demonstration der alchemistischen Macht des Ordens auf medizinischem Gebiet. Anders als für das Goldmachen war der Thronfolger dafür zu begeistern: Friedrich Wilhelm erkrankte, und Bischoffwerder unterzog ihn zunächst einer „Astralkur“, dann verschaffte er ihm nach einer Operation durch eine ordenseigene „tinctura macrocosmi“ Linde-
Vgl. Schultze, Die Rosenkreuzer und Friedrich Wilhelm II. (wie Anm. 196), 251 f., Friedrich den Großen hatte dies durchaus noch interessiert. Zu seinem Kontrakt mit einer Goldmacherin vgl. Schlögl, die Moderne (wie Anm. 70), 34. 209 Schultze, Quellen zur Geschichte der Rosenkreuzer (wie Anm. 206), 65, Schreiben vom 12.5.1780; anders jetzt bei Wilhelm Bringmann, Preußen unter Friedrich Wilhelm II. (1786– 1797), Frankfurt am Main u.a. 2001, 108. 210 Ebd., 64, Schreiben vom 23.3.1780. 211 Ebd. 212 Ebd., 71, Schreiben vom 4. Januar 1781. 213 Siehe oben im Text bei Anm. 178. 214 Berichte Bischoffwerders aus dem Juni 1780, in: Schultze, Quellen zur Geschichte der Rosenkreuzer (wie Anm. 195), 66 f. 215 Ebd., 70. 208
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rung.216 Am 3. August 1781 konnte Bischoffwerder seinen Ordensvorgesetzten mitteilen, daß der preußische Thronfolger bereit war, sich aufnehmen zu lassen.217 Er konnte nun das werden, was sein spiritueller Führer sich von ihm erhofft hatte, „ein Werkzeug zur Ausbreitung des göttlichen Reiches“.218 Die Rezeption Friedrich Wilhelms am 8. August 1781 ist von dem Berliner Gymnasialprofessor Paul Schwartz 1925 aus den Akten geschildert worden.219 Zugegen waren Herzog Friedrich August von Braunschweig, Johann Christoph Wöllner und Bischoffwerder. Die sogenannte Einsegnungsrede Wöllners nannte die damit geschlossene „Alliance“ zwischen Thronfolger und Orden eine wichtigere, „als alle Reiche der Erde sie zu bieten vermöchten“; im Schutz des Bundes dürfe sich der Prinz „in jedem gerechten Kriege auf die Stärke des Ordens verlassen“.220 Im weiteren Verlauf seines Initiationsganges wurden die allgemein gebrauchten Gradtexte durch speziell erarbeitete Ansprachen ergänzt, die auf die spezifische politische Rolle des Kandidaten ausgerichtet waren. Bei der Erteilung des vierten Grades wurden ihm die Kaiser Augustus und Titus als Vorbilder weiser Herrschaft vor Augen gestellt – auch sie hätten bereits dem Orden angehört.221 Diese ausschließlich für den Thronfolger verfaßten Anreden entsprechen der esoterischen Konzeption arkaner Herrscherkompetenz, antworten auf die verborgenen Implikationen der Lehre von den Arcana imperii, den Geheimnissen höchster königlicher Regierungskunst. Friedrich Wilhelm wurde in Aussicht gestellt, daß ihm die esoterische Herrschermacht parallel zur realen Herrschermacht zuwachsen werde. Wenn er König werde, werde er auch Magus sein, d.h. den neunten und höchsten Grad der Rosenkreuzer erreichen. Dann werde er die Kraft besitzen 1. alle Menschen, die er in wichtigen Ämtern vorfindet, ganz untrüglich zu prüfen und nach der Prüfung die Unwürdigen zu entfernen, die Redlichen und Tugendhaften aber um sich zu sammeln; 2. die Untertanen, ohne über sie Berichte einzufordern – denn deren bedarf ein Magus nicht –, glücklich zu machen;
Im Juli 1781: ebd., 72 f. Ebd., 73. 218 Schultze, Die Rosenkreuzer und Friedrich Wilhelm II. (wie Anm. 196), 249. 219 Paul Schwartz, Der erste Kulturkampf in Preußen um Kirche und Schule (1788–1798), Berlin 1925, 41 f. Bei Philippson findet sich eine konkurrierende Version. Danach sei Friedrich Wilhelm bereits am 5. April 1781 in Dresden aufgenommen worden. Was mit dieser Darstellung genau gemeint ist, kann nur durch Neubearbeitung der Archivalien geklärt werden (Philippson, Geschichte des Preußischen Staatswesens [wie Anm. 194], 75 f.). 220 Schwartz, Der erste Kulturkampf (wie Anm. 219), 42. 221 Johannes Schultze, Das Geheimnis der Rosenkreuzer, in: Anita Mächler u.a. (Hg.), Historische Studien zu Politik, Verfassung und Gesellschaft. Festschrift für Richard Dietrich zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main, München 1976, 274–283, hier 280. 216 217
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3. in die Geheimnisse der fremden Kabinette zu schauen und ihre Anschläge zu vereiteln, ehe sie zum Ausbruch kommen können; 4. im Kriege zu siegen; 5. besser als ein profaner Gottesgelehrter in der ganzen Welt die wahre von der falschen Religion zu unterscheiden.222 Als der Prinz in den achten und vorletzten Grad erhoben wurde, wurde ihm das endgültige Szenarium der Aufnahme in den Kreis der Magi beschrieben: Die persönliche Bekanntschaft mit ihnen, den hohen Oberen, in ihrer ganzen Größe wird dem Prinzen zuteilwerden, wenn er auf den höchsten Stufen des Ordens angelangt ist. Dann wird er sie schauen, die durch göttliches Licht und seraphische Heiligkeit sich unendlich weit über die Masse der Sterblichen erheben; dann werden sie ihn in den Schoß ihrer geheimsten Verbrüderung aufnehmen und ihm gern das Große mitteilen, was alle Schatzkammern aller Potentaten der ganzen Erde zusammengenommen nicht zu bezahlen vermöchten.223
Die arkane Karriere Friedrich Wilhelms bei den Gold- und Rosenkreuzern scheint 1783 abgeschlossen gewesen zu sein:224 gleichzeitig beginnen die offiziellen Vorträge, die Wöllner für den Kronprinzen hielt und die er bis zum Tode Friedrichs des Großen fortsetzte.225 Darin entwickelte er ein radikales Reformprogramm für den preußischen Staat mit einem breiten Spektrum aufgeklärter Konzeptionen der Bevölkerungs-, Steuer- und Wirtschaftspolitik bis hin zu weitgehenden Vorschlägen für eine moderne Agrarpolitik und Bauernbefreiung. Beides ist der Forschung bekannt, die esoterische und die aufgeklärte Seite des Prinzenberaters, beides wird aber nicht systematisch aufeinander bezogen. Das Gesamtbild dieses Typs frühneuzeitlicher Politik erschließt sich erst, wenn wir verstehen, daß das aufgeklärte Regierungsprogramm eingebettet war in eine arkane Rahmenstruktur, die das Machtpotential nach innen und außen bereitstellen sollte, um diese Politik in ihrer Effizienz und Wirkung abzusichern. Es ist evident, daß die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms in eine Krise führen mußte, eine Krise, die von der arkanen Führungsgruppe des Prinzen wohl kaum vorausgesehen worden war. Denn es kann wenig Zweifel daran bestehen, daß Bischoffwerder und Wöllner selbst an die Wahrheit ihrer PropheAnsprache Wöllners bei einer Graderhebung des Thronfolgers am 19. Juni 1782 in der Zusammenfassung bei Paul Schwartz, Der Geisterspuk um Friedrich Wilhelm II., in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 47 (1930), 45–58, hier 47. 223 Ansprache Wöllners anläßlich der Erhebung Friedrich Wilhelms in den Grad der „Magistri exempte“, undatiert; zitiert nach Schwartz, Der erste Kulturkampf (wie Anm. 219), 43. 224 Philippson, Geschichte des Preußischen Staatswesens [wie Anm. 194], 77, berichtet von den den Gradaufstieg begleitenden Briefen von Ordensvorgesetzten aus den Jahren 1782 und 1783. 225 Vgl. den Artikel „Johann Christof von Woellner“ in der Allgemeinen Deutschen Biographie, Bd. 44, Leipzig 1898, 148–59, besonders 152 (Paul Bailleu). 222
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zeiungen glaubten. Sie erwarteten ganz offenbar das Eingreifen ihrer Ordenslenker bei Regierungsantritt des neuen Königs. Bei Philippson ist das Zitat einer Rede Wöllners als rosenkreuzerischer Zirkeldirektor wiedergegeben: „O, meine Brüder, nicht fern sind mehr die Zeiten, da wir hoffen dürfen, von jenen Weisen aus Osten, die wir erwarten, belehrt und zum Umgange mit den höhern unsichtbaren Wesen geführt zu werden.“226 Da die Ankunft der Oberen nach dem 17. August 1786, dem Todestag Friedrichs des Großen, ausblieb, saßen sie in der Falle, in die alle Esoteriker geraten, die den Realisierungsanspruch dieses Weltbildes in zu genaue und damit überprüfbare Prognosen umsetzen. Der neue König rechnete auf die Erhebung zum Magus, ein Wunsch, dem nicht entsprochen werden konnte, denn nur ein Mitglied aus dem Kreis der Magi selbst war nach den Ordensregeln dazu berechtigt. Unter diesem Druck muß der Entschluß gefallen sein, zum Mittel der Täuschung zu greifen, ein Mittel, das integraler Bestandteil der Staatsräsonlehre war, akzeptiert, wenn es dem Staatswohl diente. Nun wandten die Ratgeber des Königs dieses Mittel gegen ihn selbst an, um eine Politik nicht zu gefährden, die aus ihrer Sicht im Interesse des Staates lag. Wir wissen davon durch eine Enthüllungsschrift, die 1787 publiziert wurde und unter dem Titel Geheime Briefe über die Preußische Staatsverfassung seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms des Zweyten227 mit dem Arkancharakter der Politik am Hofe ein ironisches Spiel trieb. Auch Mirabeau wies in seiner Histoire secrete de la cour de Berlin im Brief vom 14. November 1786 auf einschlägige Gerüchte hin.228 Aus beiden Quellen wird klar, daß Wöllner und Bischoffwerder im Herbst 1786 die unumgängliche Verzögerung in der Realisierung der Magusposition durch das Beschwören von Geistern kompensierten. Die Geheimen Briefe berichteten über die Vorgänge in der Privatwohnung Wöllners: Schon seit Anfange der Regierung des jetzigen guten Königs hat man hier in der Stille erstaunende magische Operationen vorgenommen [...] Das Zimmer, worin die geheimen Künste getrieben werden, stellt ein Viereck vor, und an den Seiten ist in einem mässigen Zwischenraum eine grosse Anzahl kleiner und niedriger Ofen angebracht, wodurch der magische Dunst und das die Augen einnehmende Räucherwerk nach Gefallen unterhalten werden. In der Mitte dieses Tempels, in einiger Erhöhung, zeigt sich die Gestalt eines Geistes, im weißlichen Gewande [...] Man versteht sich überdem auf die besondere und geheime Kunst, dem Geiste, vermöge des an einem nicht sichtbaren
Philippson, Geschichte des Preußischen Staatswesens (wie Anm. 194), 73. Die Schrift erschien anonym Utrecht 1787. Die Identität des Verfassers ist bis heute umstritten. Vgl. Markner, Imakoromazypziloniakus (wie Anm. 193), 220. 228 Vgl. Dirk Kemper, Obskurantismus als Mittel der Politik. Johann Christoph von Wöllners Politik der Gegenaufklärung am Vorabend der Französischen Revolution, in: Weiß, Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“ (wie Anm. 12), 193–220, hier 202. 226 227
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Orte angebrachten magischen Spiegels und erforderlicher Bilder oder Abdrücke, die Gesichtsähnlichkeit des zu seinen Vätern versammelten Todten zu geben, den man aus dem Reiche der Schatten hervorruft.229
Mirabeau wollte gehört haben, daß man dem König den Geist Cäsars habe erscheinen lassen230 – ein glaubhaftes Detail angesichts der Tatsache, daß Friedrich Wilhelm die Cäsaren Augustus und Titus bereits bei der Erteilung des vierten Grades als Vorbilder empfohlen worden waren.231 Es ist bemerkenswert, daß diese Enthüllungen, die nicht nur die Arkansphäre des Hofes plötzlich vor aller Augen offenlegten, sondern auch die Manipulationen hinter der Geisterseherei verrieten – und zwar mit den Klarnamen aller Beteiligten – keine Vertrauenskrise zwischen dem König und seinen esoterischen Führungsfiguren herbeiführten. Offenbar gelang es den Rosenkreuzern, dem Monarchen weiszumachen, daß es sich bei den Berichten um Lügen handelte, denn es ist gut bekannt, daß der politische Einfluß dieser Gruppe auf die preußische Politik nun erst seinen eigentlichen Anfang nahm. Das Wirken Wöllners in der Religions-, Schul- und Pressepolitik der späten achtziger Jahre ist vielfach dargestellt232 und kann an dieser Stelle keine neuerliche Untersuchung erfahren. Hier ist nur die Einbettung dieser Politik in die Arkansphäre von Interesse. Als nämlich im Frühjahr 1788 der Leiter des Departements für Kirchen- und Schulsachen, der Staatsminister Karl Abraham Freiherr von Zedlitz, eine noch von der friderizianischen Religionspolitik beeinflußte Verwaltungsmaßnahme anordnete, schlug Wöllner dem König vor, „die Sache als eine Ordensangelegenheit [zu] behandeln“ und sich mit leitenden Ordensbrüdern in einer „Konvention“ zur Beratung von Gegenmaßnahmen zusammenzufinden.233 Das Ergebnis war das Ende der Ära Zedlitz, die Übernahme seiner Position durch Wöllner und der Erlaß des berühmten „Religionsedikts“ vom 9. Juli
Geheime Briefe über die Preußische Staatsverfassung seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms des Zweyten, Utrecht 1787, 69–71. 230 Vgl. Henry Welschinger (Hg.), Mirabeau in Berlin als geheimer Agent der französischen Regierung 1786–1787. Nach Originalberichten in den Staatsarchiven von Berlin und Paris, Leipzig 1900, 351–353: die deutsche Übersetzung des 47. Briefes; siehe auch Markner, Imakoromazypziloniakus (wie Anm. 193), 228. 231 Siehe oben bei Anm. 221; zu weiteren detaillierten Angaben über Geisterbeschwörungen in Gegenwart Friedrich Wilhelms II. siehe Hans-Joachim Neumann, Friedrich Wilhelm II. Preußen unter den Rosenkreuzern, Berlin 1997, 161–164, jedoch ohne Quellenbelege. 232 Vgl. im Überblick Horst Möller, Die Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer anti-aufklärerischen Geheimgesellschaft, in: Peter Christian Ludz (Hg.), Geheime Gesellschaften, Heidelberg 1979, 153–202; kritisch zur realen Wirkungskraft dieser Politik Wolfgang Neugebauer, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen, Berlin, New York 1985, z.B. 189–201 und 454–459. 233 Schultze, Die Rosenkreuzer und Friedrich Wilhelm II. (wie Anm. 196), 261 f. 229
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1788.234 Diese Entwicklung vollzog sich mithin institutionell und personell in den Strukturen des Ordens. Den König erreichte ein Dankesschreiben der Hohen Oberen, die Tränen der Freude über seine Entscheidung vergossen hätten. Sie forderten nun die Ausdehnung dieser Politik auf die Publizistik, wiesen also den Weg zu dem bereits wenige Monate später erlassenen Zensuredikt.235 Es blieb das Problem, daß die Hohen Oberen, das rosenkreuzerische Generalat, nie erschienen, stets nur brieflich präsent waren. Wöllner lebte in dem Glauben, daß sein eigener „Introduktor“, also dasjenige Ordensmitglied, das ihn selbst zur Aufnahme geführt hatte, und das er den „alten Hannageron“ nannte,236 unmittelbaren Zugang zu diesem Generalat hatte. Im September 1789 konnte er dem König berichten, sein Introduktor habe sich endlich wieder bei ihm gemeldet, er sei zur Zeit „beim Konzil der höchsten Oberen gegenwärtig“.237 1790 stellte ihm „Hannageron“ in Aussicht, daß er sich „die Erlaubnisz auswirken wollte, übers Meer herüberzukommen“.238 Die letztgenannte Information stammt schon nicht mehr aus den Akten des königlichen Hausarchivs, sondern aus einem Briefbestand, der sich im Nachlaß Wöllners erhalten hat. Durch familiäre Verbindungen befinden sich Teile dieser Materialien bis heute im Besitz der Familie von der Marwitz. Von einem Königsberger Doktoranden wurden sie zu Beginn der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts dort entdeckt und in Auszügen publiziert.239 Die Schreiben dokumentieren die letzte Phase der arkanen Politik am Berliner Hof, die Jahre 1792 bis 1796. In ihnen wird die zunehmende Angst spürbar, die den preußischen Staatsminister angesichts der Revolution in Frankreich befallen hatte – ein Schlüsseldokument ist sein Brief an das Hohe Generalat vom 21. Juli 1792. In Paris hatte gerade die Kampagne zum Sturz Ludwigs XVI. begonnen,240 und Wöllner hatte Morddrohungen erhalten.241 Er sah sich und Vgl. zu dieser Phase auch Monika Neugebauer-Wölk, Der Kampf um die Aufklärung. Die Universität Halle 1730–1806, in: Gunnar Berg, Hans-Hermann Hartwich (Hg.), Martin-LutherUniversität. Von der Gründung bis zur Neugestaltung nach zwei Diktaturen, Opladen 1994, 27– 56, besonders 49–51. 235 Schultze, Die Rosenkreuzer und Friedrich Wilhelm II. (wie Anm. 196), 262. 236 Ebd. 237 Ebd. 238 Neumann, Friedrich Wilhelm II. (wie Anm. 231), 133. 239 Friedrich W. Eismann, Neue Beiträge zur Geschichte des Staatsministers von Woellner, Phil. Diss. Königsberg 1923 [MS], 8–24. Hans-Joachim Neumann hat jetzt in seiner Arbeit erstmals wieder auf diese Quelle hingewiesen und Teile des Materials in Auszügen abgedruckt. Vgl. Neumann, Friedrich Wilhelm II. (wie Anm. 231), 130–136. 240 Jacques Godechot, La Révolution française. Chronologie commentée 1787–1799, Paris 1988, 108. 241 Schreiben Wöllners „An ein Hohes Generalat d. 21.July 1792“, Druck bei Eismann, Neue Beiträge (wie Anm. 239), 16 f. 234
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den König von Feinden umstellt: „fordere ich Ihre von Gott Ihnen verliehene magische Kräfte auf, und flehe um Schutz [...]“, und er erweiterte diese Bitte für sich selbst auf Friedrich Wilhelm: „[...] Schützen Sie ihn, er thut alles, was in seinen Kräften stehet, die reine Religion in seinen Ländern aufrecht zu erhalten, er [...] erfüllet alle Pflichten des O[rde]ns mit unerschütterlicher Standhaftigkeit.“242 Das Schreiben erreicht seinen Höhepunkt in der Klage über die ausbleibende Hilfe: Mein O[rde]ns Vater Hannageron versprach mir schon vor zwei Jahren dass Er sich die Erlaubniz auswirken wollte, übers Meer herüberzukommen, um uns näher zu sein, allein sein Versprechen ist nicht in Erfüllung gegangen. Wir sind daher völlig ohne O[rde]ns Beistand uns selbst überlassen. Ach! wieviel Gutes könnte in der jetzigen grossen Krisi[s] durch [den König]243 geschehen, wenn die H[ohen] O[rdens] O[beren] sich im nähern wollten [...]244
Gegenüber seinem Monarchen hielt Wöllner bis zum Schluß die Hoffnung aufrecht und damit die Fiktion der esoterischen Absicherung seiner Politik. Die Franzosen versuchten zwar, das „Höllenreich auf Erden zu etablieren“, und Wöllner fürchtete besonders die deutschen Illuminaten, die er mit den Franzosen im Bunde glaubte. Doch gegen deren „Schwarze Magie“, so versicherte er Friedrich Wilhelm in einem Brief vom September 1796, hätten sie „das Schem[hamphorasch], welches unser Avancement sicher stellet“.245 Das „Schemhamphorasch“ war ein kabbalistisches Symbol aus Reihen hebräischer Buchstaben, die die Namen von 72 Attributen Gottes bildeten.246 Ein entsprechendes Amulett war bereits zu Beginn der achtziger Jahre von den Oberen der Gold- und Rosenkreuzer an das Führungspersonal auf mittlerer Ebene ausgeteilt worden.247 Wöllner schloß diesen Brief mit den Worten: „Unser gnädigster König und H[err], wir sind ganz sicher nicht verlassen.“248
VI. Fazit Die Realisierung arkaner Politik in und mit den Hochgradsystemen und Geheimbünden des 18. Jahrhunderts verweist auf eine wichtige Funktion von Freimaurerei im Zeitalter der Aufklärung und zeigt gleichzeitig die bemerEbd. Im Original: O[rmesus] M[agnus], der Ordensname Friedrich Wilhelms II. 244 Zitiert nach Eismann, Neue Beiträge (wie Anm. 239), 17. 245 Ebd., 21. 246 Helmut Werner, Lexikon der Esoterik, Wiesbaden 1991, 592. 247 Freundlicher Hinweis von Renko Geffarth (wie Anm. 187), dem ich auch die Auflösung dieser Abkürzung verdanke. 248 Zitiert nach Eismann, Neue Beiträge (wie Anm. 239), 21. 242 243
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kenswerte Nachhaltigkeit frühneuzeitlichen Staatsräsondenkens bis an die Schwelle der Moderne und in das Zeitalter der Bürgerlichen Revolution. Verbindet man beide Tendenzen miteinander, so ergibt sich für die Struktur des Politischen in dieser Epoche eine Parallelität zweier Welten, die die offizielle Politikebene mit der arkanen in Beziehung setzt. Die Kommunikationsstruktur der Freimaurer wurde von politischen Handlungsträgern – wie man bei Holger Zaunstöck lesen kann – „als alternative Aktionsplattform [genutzt]; Gespräche und Entscheidungen wurden aus dem offiziellen Rahmen in diese ‚Parallelwelt‘ verlagert.“249 Wurde die arkane Ebene der Politik zusätzlich mit esoterischen Verheißungen aufgeladen, so war dieser hybride Machtanspruch zwar zum Scheitern verurteilt; eine entsprechende Politik konnte aber trotzdem realitätsrelevante Auswirkungen haben. Die Untersuchung neuester Tendenzen der Freimaurerforschung hat gezeigt, daß die Bedeutung der Verbürgerlichung des gesellschaftlichen Lebens für das Verständnis des arkanen Segments der Aufklärungsgesellschaften relativiert werden muß. Gleichberechtigt neben dieses Erklärungsmodell sollte die Wahrnehmung der Tatsache treten, daß die Logen und Geheimbünde auch ein wichtiger Raum von Formierung und Durchsetzung herrschaftlicher Politik waren, wie sie von Adel und Fürsten getragen wurde. Der bürgerliche Faktor bot dafür zunächst das organisatorische Umfeld: Im Schutzraum der vielen Logen, deren gesellschaftliches Leben von Brüderlichkeitsgefühlen der Mitglieder, festlichen Zusammenkünften und Ritualerlebnissen geprägt war, lebte und wirkte eine deutlich kleinere Führungsgruppe, die ihr esoterisches Selbstverständnis in Hochgradsystemen entfaltete, die Kommunikationswege und arkane Verbindungen der großen maurerischen Gemeinschaft intensiv und kreativ nutzte und so die herrschaftlich-politische Adelskultur der Frühen Neuzeit auf eine letzte Höhe führte. Es wäre allerdings ein Mißverständnis, ein äußerliches – bürgerliches – Milieu von einem inneren – adligen – scharf abzugrenzen, etwa entsprechend der bekannten These von der Dreigradmaurerei als der einzigen legitimen Form, innerhalb derer die Hochgradsysteme als irrationale Abarten wucherten.250 Die Verbindung von Bürgertum und Adel ist vielmehr durch eine esoterisch aufgeladene arkane Kompetenz bürgerlicher Führungsfiguren der Freimaurerei von vornherein präsent und verstärkt sich im Laufe der Entwicklung, indem bürgerliche Maurer in der konzeptionellen Ausgestaltung der Hochgrade vorangingen oder geheimbündische Positionen bereits besetzt hatten, bevor Mitglieder des Adels ein neues System annahmen. Bürgerliche boten
Zaunstöck, Die vernetzte Gesellschaft (wie Anm. 112), 152. Vgl. zur Kritik dieses Modells Neugebauer-Wölk, Die Geheimnisse der Maurer (wie Anm. 21). 249 250
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auch im Arkanraum gelehrte Kompetenz und fungierten als Ratgeber.251 So konnten sie aufgrund ihrer geheimen Verdienste ebenso geadelt werden wie die Geheimen Räte der Fürsten in der Parallelwelt der offiziellen Politik. Die Karriere des Johann Christoph [von] Wöllner ist nur ein besonders berühmtes Beispiel für das Ineinandergreifen beider Ebenen: Auch andere Geheimbündler erhielten Positionen in der öffentlich wahrnehmbaren Welt, die ihre arkane Laufbahn ergänzten und Handlungsmöglichkeiten in beiden Bereichen sicherstellten. Carl Eberhard [von] Wächter etwa war als Ritter der Strikten Observanz bereits Sachsen-Meiningenscher Hofrat und Geheimer Legationsrat am Reichstag geworden, bevor ihn der dänische König auf Empfehlung des „Superior ordinis“ der Strikten Observanz in Dänemark, Carl von Hessen, zum Bevollmächtigten Gesandten für Südwestdeutschland erhob.252 In den elitären Zirkeln der Logen des 18. Jahrhunderts wurden Karrieren vorbereitet und gemacht, die in die äußere Welt hinüberreichten. Als schließlich erkennbar wurde, daß der Geheimbund der Illuminaten sich diese duale Struktur der Politik zu eigen gemacht hatte, um nun den inneren Kreis der masonischen Welt für Ziele zu nutzen, die sich letztlich gegen die fürstliche Herrschaft und die ständische Struktur der Gesellschaft richteten, da wurde eben dieses Verhaltensmuster zum öffentlich aufgedeckten politischen Skandal. An diesem prominenten Beispiel wird deutlich, wie differenziert sich die innergesellschaftlichen Konfliktlinien des 18. Jahrhunderts im masonischen Raum abbilden. Das Verhältnis zwischen den ständischen Schichten und Gruppen ist weit komplexer, als es der Standardhinweis auf die brüderliche Überschreitung der Standesgrenzen in den Logen zeigen kann. Daß dieses egalitäre Selbstverständnis als eine besondere politische Moralität im Zeitalter der Aufklärung existierte, ist unbestritten. Es bietet aber nur den Rahmen, innerhalb dessen sich divergente Strukturen entwickeln, deren Rückbindung an das Grundmodell nicht offensichtlich ist, sondern erst erarbeitet werden muß. Überhaupt täuscht der Eindruck, die moderne Wissenschaft habe mit ihren Erklärungsangeboten die masonische Bewegung des 18. Jahrhunderts im Grundsatz verstanden, und es gelte jetzt nur noch, das umfangreiche Quellenmaterial empirisch zu erschließen und den theoretischen Vorgaben entsprechend zu präsentieren. Mit den bisher entwickelten Kategorien erfassen wir vielmehr erst Ausschnitte des Gesamtphänomens. Gerade die konzeptionelle Arbeit liegt noch in weiten Teilen vor uns. Dieses zu sehen, bedarf es einer neuen Grundhaltung des Historikers gegenüber einer Überlieferung, deren Inhalte und Ausdrucksformen sich dem unmittelbaren Verständnis durch das moderne Denken entziehen. Nur wenn alle 251 252
Vgl. dazu schon Schlögl, Die Moderne (wie Anm. 70), 45. Lennhoff, Posner, Internationales Freimaurerlexikon (wie Anm. 56), 1663.
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Äußerungsformen masonischen Denkens und Handelns ernstgenommen werden, erschließt sich der Bedeutungsgehalt der Quellen. Die Basis dafür ist die Rezeption von Grundlinien einer neuen Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit, die uns das deutlich anders geartete Weltbild zahlreicher Zeitgenossen auch noch des 18. Jahrhunderts verständlich macht. Erst auf diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, weshalb der Gold- und Rosenkreuzer Wöllner die Illuminaten nicht nur konkret als potentielle Königsmörder fürchtete, sondern sich auch durch deren ‘Schwarze Magie’ spirituell bedroht glaubte. Das breite Spektrum der Angst, das die Entwicklung aufgeklärter Weltsicht begleitet, und das heute in der Forschung zunehmend Aufmerksamkeit findet,253 hat auch eine esoterische Facette. Dabei befreit uns der religionsgeschichtliche Blick von der Notwendigkeit, für die Analyse der Freimaurerei im Zeitalter der Aufklärung zu anthropologischen Grundkonstanten oder gar ethnologischen Vergleichen greifen zu müssen. Wo die Mentalität gebildeter Europäer aus den Parametern der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte abgeleitet werden kann, da erübrigt sich der Rekurs auf die Exotik des Fremden. Die Konzepte einer modernen Politikgeschichte, die darauf ausgerichtet sind, dieses traditionelle geschichtswissenschaftliche Themenfeld auf neuen empirischen Feldern neu zu konstituieren, gewinnen ebenfalls durch ihre Öffnung für die Arkanbereiche. Durch den Blick auf eine Kommunikationsgeschichte der Sozietäten des 18. Jahrhunderts richtet sich die Aufmerksamkeit auf beide Ebenen der Realisierung politischen Handelns, die öffentliche und die geheime. Deren interne Strukturen sind zu untersuchen, ebenso wie die Relationen und Verbindungen zwischen den Ebenen. Die Erkenntnis, daß beide politische Welten in einem übergeordneten Netzwerk miteinander verbunden sind, ist die entscheidende Grundlage dafür, Politikhandeln in maurerischen Konnexionen aus dem Bereich des Fiktiven zu holen. Machtspiele und -inszenierungen hat es selbstverständlich gegeben, aber diese erschöpfen das Phänomen nicht: Neue Politikgeschichte vor allem der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird erst dann ihre Möglichkeiten ganz realisieren, wenn es zum Standard wird, die in herkömmlichen Quellen wahrnehmbare Politik auf ihre arkanen Korrespondenzen zu durchleuchten. Auch dies wäre ein Stück Aufklärung über das 18. Jahrhundert.
Vgl. allgemein Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1987. 253
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Die Arbeit beginnt mit einem Forschungsüberblick zur Historiographie von Freimaurerei und Geheimbünden, der kritisch feststellt, daß bis heute ein Bild von der Dichotomie zwischen ‘absolutistischem Staat’ und Bürgertum als Verständnismodell privilegiert wird, das das ‘Machtspiel der Machtlosen’ in den Logen der offiziellen Herrschaftssphäre gegenüberstellt. Der Beitrag schlägt vor, dieses ältere Erklärungsmodell für das Arkane im Zeitalter der Aufklärung durch einen Neuansatz zu ergänzen, der konkrete korporativ-ständische Politik in die Untersuchung der masonischen Handlungsoptionen ebenso einbezieht wie das Selbstverständnis fürstlicher Machtrepräsentanz. Ein solcher Zugang bindet die Analyse der Arkanwelten des 18. Jahrhunderts an die frühneuzeitliche Tradition der Arcana-imperiiLehre zurück, die ihrerseits auf ihre esoterischen Implikationen untersucht wird. An zwei Beispielen fürstlicher Arkanpolitik im Zeitalter der Spätaufklärung wird abschließend die Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes überprüft. Das Fazit fordert, in einer neuen Politikgeschichte des 18. Jahrhunderts öffentliche und geheime Politik häufiger als bisher als Parallelwelten zu verstehen und in einer systematischen Weise aufeinander zu beziehen. First of all, the paper supplies a research overview of the historiography of freemasonry and the secret societies, critically noticing that up to this day, the idea of a dichotonomy between the “absolutist state” and the bourgeoisie is still preferred as a model of understanding; a concept which puts the “struggle for power of the powerless in the lodges” opposite to the official sphere of control. The author suggests to supplement this dated attempt at explanation of the arcane in the period of enlightenment with a new type of approach. This approach should include the concrete corporate policy as well as the self-image of the princes with regard to their power. Such an approach to explain the arcane world of the eighteenth-century
continues with the early modern tradition of the Arcana-imperii-theory; a theory which itself is examined in this contribution with regard to its esoteric implications. Focussing on two examples of the princely arcane policy in the period of the late enlightenment, the article tests the efficiency of this approach. The result is a demand for a new political history of the eighteenth-century, namely to understand public and secret policy mainly as two parallel worlds and to relate one to another in a more systematic way. Prof. Dr. Monika Neugebauer-Wölk, Lehrstuhl für Frühe Neuzeit, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Kröllwitzerstraße 44, 06099 Halle, E-Mail: [email protected]
J O AC H IM B AUE R /G E RHAR D M Ü LLE R Von Johnssen zu Cagliostro Freimaurerische ‘Hochstapler’ und arkanpolitische Machtakkumulation im 18. Jahrhundert
Ich erzähle eine Begebenheit, die vielen unglaublich scheinen wird [...] Den wenigen, welche von einem gewissen politischen Vorfalle unterrichtet sind, wird sie [...] einen willkommenen Aufschluß darüber geben; und auch ohne diesen Schlüssel wird sie den übrigen, als ein Beitrag zur Geschichte des Betrugs und der Verirrungen des menschlichen Geistes, vielleicht wichtig sein.1
Der zitierte Satz aus Schillers Geisterseher wirft ein bezeichnendes Licht auf die intellektuelle Situation der 1780er Jahre. Die Debatte um den ebenso angefeindeten wie bewunderten Grafen Cagliostro alias Joseph Balsamo hatte in der europäischen Öffentlichkeit tiefe Gräben aufgerissen. Alte Freundschaften, wie die zwischen Goethe und Lavater, zerbrachen. Die ‘Gesellschaft der Aufklärung’ war traumatisiert von den Umtrieben der geheimen Gesellschaften und freimaurerischen ‘Hochstapler’, die, wie man glaubte, im Auftrag Unbekannter Verschwörungen anzettelten und selbst mächtige Staaten erschütterten. Was aber waren damals eigentlich ‘Hochstapler’, was machte sie als Medienereignis und literarisches Sujet so faszinierend? Der naheliegende Rückgriff auf Zedlers Grosses vollständiges Universal Lexikon hilft nicht weiter. Zwar stößt man auf Begriffe wie „Jauner-Gesindel“,2 „Betrug“ und „Betrügen“3 nebst zahlreichen Beispielen,4 den ‘Hochstapler’
Friedrich Schiller, Der Geisterseher. Aus den Memoiren des Grafen von O**, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 16: Erzählungen, Weimar 1954, 45. 2 Vgl. Grosses vollständiges Universal Lexikon Aller Wissenschaften und Künste […], Bd. 1, Halle, Leipzig 1732, Spalte 285. 3 Vgl. ebd., Bd. 3, Spalte 1558 ff. 4 Unter anderem „Olaus“, „Theodas, ein Zauberer und Betrüger“, „Tiberius, ein beschriehener Betrüger“, „Valvasor“. 1
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aber findet man nicht. Adelung verweist auf „Gauner“,5 läßt den ‘Hochstapler’ jedoch auch vermissen. Erst Friedrich Ludwig Jahn moniert im Jahre 1806 das Fehlen dieses Begriffs: „Hochstapler habe ich noch in keinem Wörterbuche gefunden; wir haben nun leider ein Mahl die Sache, also müssen wir auch ein Wort dafür besitzen.“6 Er definiert es schließlich selbst: Hochstapeler sind betrügerische Bettler. Ihre Nahmen haben sie von stapeln […] Die Kriege und Staatsumwandelungen unserer Zeiten, die verheerenden Seuchen, die Theuerungen und Nahrungslosigkeit, gewähren den Hochstapelern eine nie versiegende Quelle, ihre Aussagen glaublich zu machen. Sie geben sich aus: Für verarmte Kaufleute, vertriebene Prediger, brotlos gewordene Diener von ehemaligen Fürsten in den linken Rheingegenden, verabschiedete Officiere, entsprungene Mönche, wegen freier Meinungen Verwiesene […].7
Unter Bezug auf das Neue Hannöversche Magazin verweist Jahn darauf, daß die ‘Hochstapler’ „Weibspersonen“ bei sich führten, die von ihren Männern als Köder ausgeschickt würden. Wegen ihrer guten Kleidung und ihres rechtlichen Aussehens würden sie „nicht wie gemeine Bettler abgefertiget, sondern sie erschleichen ein unverdientes Mitleiden und bekommen ganz beträchtliche Gaben.“ Er ordnet den Begriff in einen Sinnzusammenhang – „Betrüger. Gauner. Schwindler. Hochstapler“.8 Damit ist die Fährte gelegt. Das ‘Hochstapeln’ an sich galt im 18. Jahrhundert ebenso wie das verbreitete Spiel mit dem Inkognito, solange es nicht mit konkreten Betrugshandlungen verbunden war, weder als kriminell, noch war es juristisch zu belangen. So sah auch Goethe nichts Verwerfliches darin, mit einer fremden Identität aufzutreten: „Mir ist’s eine sonderbare Empfindung“, so schrieb er während seiner Harzreise im Winter 1777, „unbekannt in der Welt herumzuziehen, es ist mir, als wenn ich mein Verhältnis zu den Menschen und Sachen weit wahrer fühlte. Ich heiße Weber, bin ein Mahler, habe iura studirt, oder ein Reisender überhaupt, betrage mich sehr höflich gegen jedermann und bin überall wohl aufgenommen.“9 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liefert Grimms Deutsches Wörterbuch eine über Jahn hinausgehende Deutung. ‘Hochstapler’ seien „vornehme Bettler“. Das Wort stamme aus der Gaunersprache, sei aber vor allem eine 5 Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart […], von Johann Christoph Adelung […] Vierter Theil, Wien 1811, Spalte 438 f. 6 J.F.L.Ch. Jahn, Bereicherung des Hochdeutschen Sprachschatzes versucht im Gebiethe der Sinnverwandtschaft, ein Nachtrag zu Adelung’s und eine Nachlese zu Eberhard’s Wörterbuch, Leipzig 1806, 19. 7 Ebd., 18 f. 8 Ebd., 17 ff. 9 Goethe an Charlotte von Stein, 06./07.12.1777, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 133 Bde. Weimar 1887-1919 (Weimarer Ausgabe) [im folgenden: WA], Abt. IV: Briefe, Bd. 3, 192.
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„polizeiliche Bezeichnung“. Es beschreibe einen Menschen, der vermeintlich oder tatsächlich der gebildeten Gesellschaft angehöre und „die mitglieder dieser gesellschaft unter allerhand vorspiegelungen in contribution setzt“.10 So scheint ‘Hochstapelei’ bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts durch Kriminaljustiz, Polizeiberichte und öffentliche Medien allmählich als Straftatbestand definiert worden zu sein.11 Nun war es bereits ein Vergehen, überhaupt eine bestimmte Identität durch Titel, Namen oder Amtsbezeichnung ohne amtliche Erlaubnis anzunehmen. Hier liegt eine wesentliche Ursache dafür, daß die Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem die Literaturgeschichte, die freimaurerischen ‘Hochstapler’ als solche kriminalisierte, während die ‘Aufklärer’ des 18. Jahrhunderts hierzu noch zusätzliche Zuschreibungen justitiabler Tatbestände wie Schwindler, Gauner und Betrüger benötigt hatten.12 Treffend beobachtete der Literaturhistoriker Walter Müller-Seidel, daß die Gestalt Cagliostros jeder Würde zu ermangeln scheine und „mehr schlecht als recht“ in das Bild des „goldenen Zeitalters unserer Literatur“ um 1800 passe. „Zum Bild einer betont aristokratischen Kultur, wie der Weimarer Klassik, gesellt sich eine merkwürdig schillernde Subkultur.“13 Die Kriminalisierung bildet jedoch nur eine der Strategien, um die freimaurerischen ‘Hochstapler’ aus dem kanonisierten Geschichtsbild zu verdrängen. Nicht minder wirkungsvoll ist ihre scheinbar wissenschaftlich objektive Umdeutung zum kulturellen Atavismus oder zum soziopathologischen Randphänomen. Als ‘Magier’ sind sie nur noch für Psychologen, Volkskundler, Kulturhistoriker und mit dem Absonderlichen spielende Romanciers interessant. So titulierte Johannes von Günther Cagliostro 1919 als „Erzzauberer“, und die neueste Cagliostro-Biographie von Thomas Freller verweist ihn auf die „dunkle Seite der Aufklärung“.14 Im folgenden soll der Begriff des freimaurerischen ‘Hochstaplers’ oder ‘Magiers’ weder mit kriminalisierender Konnotation noch im Sinne einer wie auch immer gearteten Verdrängung aus der soziokulturellen Normalität verwendet werden. Für ein offenes Begriffsverständnis scheint der Rückgriff auf soziologische Erklärungsmodelle zum Phänomen des ‘Magiers’ und der ‘MaVgl. Jacob und Wilhelm Grimm (Hg.), Deutsches Wörterbuch, Bd. 4/2, Leipzig 1877, Spalte 1633. 11 Eine Untersuchung der juristischen Aspekte des ‘Hochstapler’-Begriffes steht noch aus. 12 Zur Debatte über die ‘Gaunergesellschaft’ vgl. u.a. Wolfgang Seidenspinner, Mythos Gegengesellschaft, Erkundungen in der Subkultur der Jauner, Münster u.a. 1998; Uwe Danker, Die Geschichte der Räuber und Gauner, Düsseldorf u.a. 2001. 13 Vgl. Walter Müller-Seidel, Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik, in: ders., Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik. Literatur und Denkformen um 1800, Stuttgart 1983, 49. 14 Johannes von Guenther (Hg.), Der Erzzauberer Cagliostro, München 1919; Thomas Freller, Cagliostro. Die dunkle Seite der Aufklärung, Erfurt 2001. 10
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gie’ nützlich. In seinem Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie stellt der französische Soziologe Marcel Mauss die These auf: „Der Magier erhält seine Qualifikation häufig von der magischen Gesellschaft, der er angehört, immer jedoch von der Gesellschaft im allgemeinen.“15 Diethard Sawicki greift diesen Ansatz auf und unterstreicht, daß eine Person nur deshalb Magier sein kann, weil „ihr diese Funktion von der Gruppe im Konsens zugewiesen wird“. Es handle sich um eine soziale Qualifikation, die niemand aus eigenem Entschluß und innerer Überzeugung übernehmen könne, sondern die ihm als Amt übertragen werde.16 Mit Blick auf die freimaurerischen ‘Hochstapler’ erscheint das durchaus plausibel. Wie steht es aber mit dem Einwand, es handele sich lediglich um Betrug? Mauss gibt hier zu bedenken: Der Magier simuliert, weil man von ihm verlangt, dass er simuliert, weil man sich aufmacht, ihn zu finden, und weil man ihn zu agieren nötigt: er ist nicht frei, sondern er wird gezwungen zu spielen, sei es eine traditionelle Rolle, sei es eine Rolle, die die Erwartungen seines Publikums befriedigt. Es kann vorkommen, dass der Magier sich freiwillig rühmt, doch gibt er dann einer unwiderstehlichen Versuchung durch die Leichtgläubigkeit seines Publikums nach […] Der Glaube des Magiers und des Publikums sind also nicht zwei verschiedene Dinge; ersterer ist der Reflex des zweiten, denn die Simulation des Magiers ist nur durch die Leichtgläubigkeit des Publikums möglich.17
Ohne den in der Gesellschaft vorhandenen Glauben an ‘magische Fähigkeiten’ kann ein ‘Magier’ kaum erfolgreich agieren. Manchmal wird er sogar wider seinen Willen gezwungen, „die Rituale und zauberischen Effekte wie ein Schauspieler oder Täuschungskünstler zu simulieren […] Die ‘sympathetische Gruppe’ mit ihren Erwartungen ist eine notwendige Voraussetzung für den erfolgreichen Ablauf der spiritistischen Sitzungen.“18 Diese Axiome scheinen auch für die folgenden Betrachtungen über die Funktion der freimaurerischen ‘Hochstapler’ bei der strukturellen Vermittlung zwischen Arkanwelten und offizieller Politik grundlegend. Ihr Auftreten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ging stets mit kritischen Umbruchsituationen einher, in denen die Identität der freimaurerischen Bewegung oder bestimmter ihrer Strömungen so, wie sie sich aus der Tradition heraus definierte, in Frage gestellt war, und Neuorientierungen gesucht werden mußten. In der Regel korrelierte dies mit politik-, sozial- und geistesgeschichtlichen Krisen oder Zäsuren. Den freimaurerischen ‘Hochstaplern’ fiel in diesen Situationen Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, Bd. 1, Frankfurt am Main 1989, 122 (1. Aufl. 1950). 16 Diethard Sawicki, Leben mit den Toten. Geisterglaube und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900, Paderborn u.a. 2000, 33. 17 Mauss, Soziologie (wie Anm. 15), 129. 18 Sawicki, Leben (wie Anm. 16), 33 f. 15
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die Aufgabe zu, die Konfiguration der esoterischen Gruppen neu zu initiieren, d.h. deren Identität, die sie ‘magisch’ symbolisierten, zu definieren und zu legitimieren. Entscheidend war dafür die Rollenzuweisung der Gruppen. Die ‘Magier’ mußten diese Rollen lediglich in ihrem Auftreten antizipieren können. Vermochten sie dies, so floß ihnen fast wie von selbst eine enorme Autorität zu und öffnete ihnen soziale und politische Handlungsräume, die ihnen sonst unzugänglich geblieben wären.19 Solange ein ‘Magier’ seine Gruppe mit seiner charismatischen Ausstrahlung so bediente, daß ihre Erwartungen, Hoffnungen und Gefühle von ihm auf sie rückprojiziert werden konnten, war es auch relativ unerheblich, wie redlich er war und ob er tatsächlich relevante ‘Geheimnisse’ besaß. Er brauchte die Verfügbarkeit besonderer esoterischer ‘Kenntnisse’ und Prädestinationen nicht einmal immer sofort zu beweisen. Nicht selten hielt die Identitätsprojektion selbst dann noch an bzw. wurde restauriert, wenn die ‘Magier’ bereits ‘entlarvt’ oder nicht mehr am Leben waren. Ganz in diesem Sinne fragt Umberto Eco in seinem Aufsatz Wanderungen Cagliostros, „warum Cagliostro ein so großes Interesse bei den Geheimnis-Jägern erregt hat, obwohl er eine so gänzlich geheimnislose Figur ist“.20 Da für die hier verfolgte Fragestellung vor allem die politische Bedeutung dieses soziologischen Phänomens, sein Zusammenhang mit der Formierung von Machteliten, interessiert, ist die Hypothese zu erweitern: Die mit Hilfe der freimaurerischen ‘Hochstapler’ initiierten Neuformierungsprozesse in den Arkanwelten besaßen die Tendenz, neue personelle und institutionelle Machtkonstellationen auf der offiziellen Politikebene zu präfigurieren, die dann im Zuge der arkanen Expansion zu realisieren versucht wurden. Im folgenden soll die historische Relevanz dieses Paradigmas an zwei Beispielen – Johnssen und Cagliostro – demonstriert werden. Beide waren besonders berühmte freimaurerische ‘Hochstapler’.21 Cagliostro, der als herausragendstes ‘Medienereignis’ vor der französischen Revolution gilt,22 Vgl. Mauss, Soziologie (wie Anm. 15), 63. Umberto Eco, Wanderungen Cagliostros, in: ders., Lüge und Ironie. Vier Lesarten zwischen Klassik und Comic, München 2002, 53 f. 21 Zu Johnssen vgl. zusammenfassend: [Ludwig von Aigner] Ludwig Abafi [pseud.], Johnson. Ein Hochstapler des XVIII. Jahrhunderts. Beitrag zur Geschichte der Freimaurerei, Frankfurt am Main 1902; Joachim Bauer, Gerhard Müller, Jena, Johnssen, Altenberga. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Freimaurerei im 18. Jahrhundert, in: Joachim Bauer, Birgitt Hellmann, Gerhard Müller (Hg.), Logenbrüder, Alchemisten und Studenten. Jena und seine geheimen Gesellschaften im 18. Jahrhundert, Rudolstadt 2002 (Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte, 6), 19– 85. Literaturüberblick zu Cagliostro zusammenfassend bei Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 210–222. 22 Vgl. Klaus H. Kiefer, Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht. Zur Cagliostro-Rezeption Goethes und Schillers im zeitgenössischen Kontext, in: Karl Richter, Jörg Schönert (Hg.), Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß, Stuttgart 1983, 207–227. 19 20
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besitzt bis heute einen hohen literarischen Unterhaltungswert. Weniger bekannt ist, daß Johnssen und Cagliostro auch die politische Geschichte nachhaltig beeinflußt haben. Friedrich von Johnssen, so nannte sich der 1763/64 in Jena aufgetretene Wundermann und Mitbegründer der Strikten Observanz, jenes Freimaurerordens, der in den 1770er Jahren zum bedeutendsten maurerischen Geheimbund in Europa aufstieg. Die wahre Identität Johnssens ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Er soll Jude und sein wahrer Name Samuel Leucht (auch „Leuchte“, „Leichter“, „Becker“, „der schwarze Salma Schlone“ oder „Salomon“) gewesen sein. Die gleiche rassisch stigmatisierende Identität wurde auch Cagliostro zugeschrieben.23 Sicher sind diese Angaben keineswegs, denn noch das Eisenacher Bestattungsbuch von 1775 verzeichnete ihn als „Rittmeister von Jonson von d[er] Warteburg ein Arrestant“.24 In einem ihm zugeschriebenen Pro memoria beklagt sich Johnssen selbst über diese ‘Namensvielfalt’,25 ein Phänomen, das Cagliostro später geradezu virtuos handhabte. Auch Johnssens Biographie ist über weite Strecken unsicher, da sie überwiegend mit der Absicht kolportiert wurde, ihn als Kriminellen zu diffamieren. Auch dagegen lehnte sich Johnssen, wie später Cagliostro, in Appellen an die Zeitgenossen auf. Beide hatten wenig Erfolg.26 Erstmals soll Johnssen 1752 unter dem Namen „de Martin“ in Prag als Rosenkreuzer und Alchemist in Erscheinung getreten und in die Freimaurerloge „Zu den 3 Säulen“ aufgenommen worden sein. Danach habe er sich als Alchemist im Dienst des Kaisers Franz in Wien betätigt, aber gewisser Betrügereien wegen fliehen müssen. Karl Gotthelf von Hund berichtete, daß er 1753 unter dem Namen „Leucht“ in eine merkantile Betrugsaffäre im kursächsischen Wolkenstein verwickelt gewesen sei, bei der Leipziger Kaufleute und die kursächsische Amtsbehörde um mehrere Zehntausend Taler geprellt wurden.27 1755 tritt ein „Johann Samuel Leuchte“ im Dienste des Fürsten von Anhalt-Bernburg auf,28 der dort jahrelang in einem alchemistischen Laboratorium experimentiert, den Fürsten mit einem Goldmacherei-
Vgl. Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 30 f. Vgl. Bestattungsbuch Eisenach 1764–1781, Landesarchiv der Evangelisch-lutherischen Kirche in Thüringen Eisenach, K1/1–48, Eintrag vom 19.05.1775. 25 Pro memoria. An jeden rechtschaffenen Weltbürger und Patrioten (Abschrift), in: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar [im folgenden: ThHStAW], B 2769, Bl. 118–33, hier Bl. 30. 26 Vgl. ebd., Bl. 30 ff.; zu Cagliostro siehe unten. 27 Vgl. Bauer, Müller, Jena, Johnssen, Altenberga, (wie Anm. 21), 76, Fußnote 55. 28 Vgl. Kurzer Auszug der Geschichte des Leuchts am Fürstl. Hofe zu B., in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [im folgenden: GStAPK], Freimaurer, 5.1.10. Große Loge von Hamburg, Nr. 1175, unpag. Ob diese Aktensignatur nach der Rückführung des Bestandes in die Hände der Eigentümer, die Vereinigten 5 Hamburgischen Logen, noch zutrifft, entzieht sich der Kenntnis der Verfasser. 23 24
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projekt an der Nase herum geführt und ihn schließlich um seine Edelmetallbestände erleichtert haben soll. In jene Zeit fielen auch erste Kontakte zu wichtigen Freimaurerlogen im mitteldeutschen Raum, z.B. zur Loge „Philadelphia“ in Halle und „Zu den drei Rosen“ in Jena.29 Er ehelichte aber auch eine ehrbare Bürgerstochter.30 Diese begleitete ihn auf seinen abenteuerlichen Wegen, ohne bisher näher in das Blickfeld der wissenschaftlichen Betrachtung gerückt zu sein. Wie Lorenza Feliciani, die Gattin Cagliostros, geriet auch sie in den Verdacht unsittlicher Machenschaften mit den ‘Geschäftspartnern’ ihres Mannes oder der Beihilfe bei dessen Betrügereien.31 Dies gehört wohl zu den gängigen Klischees über das sogenannte ‘Gaunermilieu’.32 Erst am Ende des Siebenjährigen Krieges wird ein „Rittmeister von Johnssen“ aktenmäßig faßbar, der in Altona bei einem Regiment württembergischer Hilfstruppen diente. Diesem gelang es, sich in das Vertrauen des ebenfalls dort in Militärdiensten stehenden Erbprinzen von Anhalt-Bernburg, des Sohnes des so fatal düpierten Fürsten, einzuschleichen, der ihn im Oktober 1762 als Betrüger verhaften ließ. Nach Verbüßung einer mehrmonatigen Festungshaft hielt sich Johnssen mit seiner Familie in Reinbek bei Hamburg auf, wo er mit dem Versuch, seine angeschlagene Ehre durch eine Duellforderung wieder herzustellen, erneut mit dem Gesetz in Konflikt geriet und sich einem neuerlichen Haftbefehl im August 1763 durch Flucht entzog.33 Geradezu abenteuerlich sind die Gerüchte darüber, wie er in die Rolle des Rittmeisters Johnssen geschlüpft sein soll. Schubart von Kleefeld kolportierte die Mär, „Leucht“ habe einen dänischen Rittmeister von Johnssen als Diener auf einer Schiffsreise begleitet, diesen ermordet und dessen Identität angenommen.34 Das gleiche Gerücht gab es zwanzig Jahre später auch über Balsamo alias Cagliostro. Betrachtet man nun die ‘Hochstaplerbiographie’ Johnssens unter der oben genannten Fragestellung, so fällt auf, daß sie erst in dem Augenblick historische Bedeutung erlangte, als er begann, im Herbst 1763 in Jena als geheimer Vgl. Friedrich August Eckstein, Geschichte der Freimaurer-Loge im Orient Halle. Eine Festgabe zur Säkularfeier der Loge „Zu den drei Degen“, Halle 1844, 48. 30 L. Aigner, Beiträge zur Biographie Johnsons, in: Die Bauhütte. Organ für die GesamtInteressen der Freimaurerei, 33 (1899), 65–68, 76–79, 100–101; Reinhold Taute, Johnson und die strikte Observanz, in: Asträa. Taschenbuch für Freimaurer, 4 (1885), 54–95; W. Daniel Wilson, Unterirdische Gänge. Goethe, Freimaurerei und Politik, Göttingen 1999, 34, hier Verweis auf einen Brief Bodes und dessen Kontakt zur Wittwe Johnssens. 31 Vgl. Hund an J.H. von Schröder, 20.01.1765, in: C.C.F.W. Nettelbladt, Geschichte Freimaurerischer Systeme in England, Frankreich und Deutschland. Neudruck, Vaduz 1993, 271. 32 Vgl. Seidenspinner, Mythos (wie Anm. 12); Danker, Geschichte der Räuber und Gauner (wie Anm. 12), passim. 33 Vgl. Bauer, Müller, Jena, Johnssen, Altenberga, (wie Anm. 21), 38 f. 34 Vgl. C.C.F.W von Nettelbladt, Geschichte Freimaurerischer Systeme in England, Frankreich und Deutschland, Berlin 1879, 254 f. 29
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Ordensreformator der Freimaurer aufzutreten. Bis dahin hob sich sein Erscheinungsbild von dem für die frühe Neuzeit gewöhnlichen Typus des ambulanten Alchemisten, Münzschwindlers, Wunderheilers oder Quacksalbers kaum ab. Seine ‘exotische’ Personenbeschreibung, die ihn als südländisch-jüdischen Typus darstellt, entspricht dem Standard der zeitgenössischen Steckbriefe und Gaunerlisten.35 Offensichtlich war Leucht alias Johnssen jedoch schon in seiner Bernburger Zeit bemüht, sich den Anschein einer soliden bürgerlichen Existenz zu geben, bis auftretende Schwierigkeiten ihn wieder in seine alte Existenzform als ambulanter Betrüger zurückwarfen. Auch die hamburgischen Untersuchungsakten von 1763 zeigen ihn eher als einen biederen Familienvater denn als geheimnisvollen Abgesandten eines verborgenen Ritterordens. In diese Rolle schlüpfte er erst auf seiner Flucht nach Jena. Erst das zufällige Zusammentreffen seiner persönlichen Existenzkrise mit einer besonderen Umbruchssituation in der Freimaurerei am Ende des Siebenjährigen Krieges bot ihm diese außergewöhnliche Chance. Warum Johnssen sich nach Jena wandte, ist unbekannt. Er tauchte dort plötzlich wie aus dem Nichts auf. Dennoch – ganz zufällig kann diese Ortswahl nicht gewesen sein, denn Zeitpunkt und Situation waren für ihn geradezu ideal: Die Jenaer Loge war nach der Abwerbung ihres Meisters vom Stuhl durch den Preußenkönig Friedrich II. verwaist, und es herrschte hier wie in vielen anderen deutschen Logen große Unzufriedenheit mit dem Clermont-Rosaischen System und der Berliner Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“. Damit korrespondierten auf politischer Ebene das Ende der Hegemonie Preußens und die Restauration des früheren Suprematiesystems des Dresdener Hofes über die sächsisch-mitteldeutsche Kleinstaatenwelt infolge des Hubertusburger Friedens. Ein preußenfeindlich auftretender Ordensreformator konnte hier jetzt reüssieren. Es ist nicht belegt, aber doch sehr wahrscheinlich, daß Johnssen von Teichmeyer und anderen Mitgliedern des Hochgradkapitels „Zion“ nach Jena geholt und zu seinem Plan, den Berliner Generallegaten Rosa zu stürzen, angeregt worden ist. Am 7. Oktober 1763 inszenierte er das spektakuläre Verhör des Rosa, stellte diesen als Schwindler bloß, verhieß die Enthüllung des ‘wahren’ Systems der Freimaurerei und warb in einem Rundschreiben an die deutschen Logen für einen allgemeinen Freimaurerkonvent. Die erste Etappe von Johnssens Jenaer Karriere als geheimer Ordensvisitator trug noch die Züge einer persönlichen Abrechnung mit Rosa. Beide waren als ‘Magier’ Konkurrenten auf dem offenbar sehr lukrativen Absatzmarkt für freiVgl. zu den Beschreibungen von Johnssens Physiognomie Taute, Johnson und die strikte Observanz (wie Anm. 30), 61 ff.; Nettelbladt, Freimaurerische Systeme, (wie Anm. 31), 252, 268; vgl. auch die Ausführungen von Mauss, Soziologie (wie Anm. 15), 61, 64, über die bestimmten physischen Merkmale und Besonderheiten von Magiern. 35
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maurerische Hochgrade. Im Gefolge der preußischen Vorstöße nach Süden im Siebenjährigen Krieg hatte zunächst der mit den Berliner „Drei Weltkugeln“ kooperierende Rosa das Rennen gemacht. Seine Konjunktur endete ziemlich abrupt im Herbst 1763. Offensichtlich stieß das dürftige Konstrukt der Clermont-Rosaischen Ordenslegende und ihrer Hochgrade nicht nur in Jena auf Unzufriedenheit, denn es gab in der deutschen Freimaurerei große Erwartungen auf eine substantiellere Untersetzung der Hochgrade durch neue ‘praktische’ Inhalte der maurerischen Logenarbeit. Johnssen bediente diese Erwartungen zunächst vor allem durch den Rückgriff auf die hermetisch-alchemistische Tradition. Die Wirkung seiner Aktion bestand also zunächst darin, die Krise der deutschen Hochgradmaurerei öffentlich sichtbar zu machen. Seine Stärke war die Kritik, und es fiel ihm als versiertem Alchemisten relativ leicht, den Theologen Rosa aus dem Sattel zu heben. Die Inhalte, die er anbot, vermochten jedoch trotz der fast grenzenlosen Bewunderung, mit der Professoren und Fachgelehrte unter den Jenaer Logenbrüdern seine „tiefste und ausgedehnteste Kenntnis der Natur, zur Bereitung der herrlichsten Medizin [...] und zur Veredlung und Verwandlung der Metalle“ zu rühmen wußten,36 nicht alle der angeschriebenen Logen zu überzeugen, zumal er sie mit ihren Fragen nach konkreten Details seiner maurerischen Reformpläne auf künftige Eröffnungen vertröstete. Lieber wollten sie unter der Obödienz der Berliner Großloge bleiben, wenn Johnssen nur die „7 Wissenschaften“ sowie die „unrichtige Systemation der RosenCreuzer“ zu bieten habe und nichts über seine Person verlauten lasse.37 Ungeachtet vieler Warnungen über Johnssens Vorleben nötigten ihn die Jenaer Freimaurer, seine Rolle als Ordensreformator auch nach der Entlarvung Rosas weiter zu spielen. Erst jetzt kam es zur Kontaktaufnahme mit dem Freiherrn Karl Gotthelf von Hund aus Kittlitz (Lausitz), der als „Heermeister“ der Provinz „Elbe und Oder“ des Tempelherrenordens auftrat. Hund verfügte über genau das, was Johnssen jetzt dringend brauchte: ein fertiges, detailliert ausgefeiltes freimaurerisches Hochgradsystem. Hunds anhand mittelalterlicher Quellen rekonstruiertes Tempelherrenmodell konzipierte eine militärisch disziplinierte, monastisch-bürokratische Organisation. Offensichtlich bereits unter Hunds Einfluß veranlaßte Johnssen am 6. November 1763 die Verbrennung der Clermont-Rosaischen Patente und Konstitutionen und verkündete die feierliche Sezession der Jenaer Freimaurer von der Mutterloge in Berlin.
Vgl. Johann Ludwig von Bechtolsheim, Brief an seinen Sohn, 07.02.1801, in: Weimarische Freimaurer-Analekten Heft 8, Weimar 1852, 60. 37 Hochkapitel Dresden an Hochkapitel Jena, 10.11.1763, in: GStAPK, Freimaurer, 5.2. J 12, Carl August zu den drei Rosen, Jena, Nr. 8, Bl. 74–74v. 36
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Im Winter 1763/64 erreichte Johnssens Karriere ihren Höhepunkt. Eine relativ große Zahl anderer deutscher Freimaurerkapitel unterstellte sich seiner Obödienz. Besonders aus Hof- und Adelskreisen strömte ihm jetzt eine Anhängerschaft zu, die ihn fast wie einen Heiligen verehrte. So berichtet Johann Ludwig von Bechtolsheim, Johnssens persönlicher Sekretär, daß ihn der „Alte“ schon vor dem projektierten Konvent zum Ordenskanzler ernannt und ein Jahresgehalt von 4.000 Dukaten schriftlich zugesichert habe. Den jungen Mann von Kopf und Hang zum Wohlleben und zu einer glücklichen, freien Existenz hätte ich wohl sehen mögen, der unter diesen Umständen nicht [...] bis an den Hals in diesen Graben voll trüben Wassers [...] getreten wäre [...] Ich hätte mich für einen Toren halten müssen, wenn ich ein Glück, das mir so früh und so leicht angeboten wurde, nicht angenommen und benutzt hätte, auch wurde mir ein angemessenes, sehr weites Feld zur Wirksamkeit eröffnet, viele und große Veranstaltungen zum Nutzen der Menschheit zu machen, da der Alte immer im Munde führte, daß man zu seiner Zeit über eine unerschöpfliche Kasse disponieren könne.38
Die Jenaer Loge mutierte zu einer templerischen Kommende, die Freimaurer nahmen lateinische Ritternamen an, und der Rittmeister Franz von Prangen, Johnssens Duellkumpan aus dem Altonaer Regiment, wurde ihr Hauskomtur. Auf dem Konvent von Altenberga im Mai 1764 vollzog Johnssen als „Großprior“ und Generalvisitator der geheimen Oberen der Tempelherren unter pompösen Feierlichkeiten die Inkorporation des Jenaer Hochkapitels in die „VII. Provinz“ des Ordens der Strikten Observanz, die Organisation Hunds. Einen Unionsvertrag mit dem Kittlitzer Generalkapitel der Strikten Observanz, der die Modalitäten regelte, hatte man bereits im Februar 1764 ausgehandelt. Die Hilfe des ‘Magiers’ Johnssen in Altenberga war vonnöten, um die Strikte Observanz Hunds als überregionale Organisation zu etablieren. Mit der Übernahme des Hundschen Konzepts hatte sich auch Johnssens Selbstverständnis als freimaurerischer Ordensreformer gewandelt. Hatte er bis dahin den Freimaurern das ersehnte Licht der ‘wahren’ Weisheit bringen wollen, so verkündete er jetzt, daß es bei der intendierten Reform nicht um spirituelle Ziele, ja überhaupt nicht um die Freimaurerei selbst gehe. Kein Mitglied eines Hochkapitels dürfe glauben, so hieß es in einem eigenhändigen Briefentwurf vom 11. November 1763, daß der ganze Aufwand nur betrieben werde, „um alle B[rüder] auf Erden glücklich zu sehen [...]“, und man danach strebe, „bloß mit einer lächerlichen Ceremonie und einem Tabie von Wachß einen buche mit wenig Creiden bezeichent, sich zu vergnügen“. Man habe vielmehr
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Bechtolsheim, Brief (wie Anm. 36), 64.
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„so viele taußent profane In zu gelassen ohne an sehen der religion“, um „die würdigsten von denen unwürdigen zu unterscheiden [...]“39 Die Inkorporation in Hunds System zerstörte jedoch auch die Basis, auf der Johnssens freimaurerische ‘Hochstapler’-Karriere selbst beruht hatte. Seine Aufgabe als charismatischer Reformator war erfüllt, als der neue Orden konstituiert war. Man bedurfte seiner nicht mehr zwingend zur Rückprojektion der neu geschaffenen Gruppenidentität, denn mit der Entgegennahme der spektakulären Huldigung Hunds in Altenberga hatte er diese Funktion, die nach seiner Legende auf einem Auftrag der geheimen Oberen der Templer beruhte, auf den „Heermeister“ übertragen. Johnssen täuschte sich, wenn er glaubte, als wissender Träger begehrter hermetisch-alchemistischer Kenntnisse mit dieser Autorität konkurrieren zu können. Der Konfliktfall zeigte alsbald, daß die meisten Deputierten die Loyalität gegen das neue Ordenssystem höher bewerteten. Die Aura des ‘Magiers’ Johnssen war damit aber keineswegs völlig gebrochen. Den Konflikt entschied erst seine Bloßstellung als ‘Betrüger’. Johnssens Rettung war die Flucht, denn nun geriet die Strikte Observanz selbst in Gefahr, durch den Magier ‘entlarvt’ zu werden. Die Johnssen-Affäre war zum Störfall geworden, über den man durch Geheimhaltung des Geschehenen, sowie durch die Zwangsauflösung des widerborstigen Jenaer Kapitels und Ausschluß derjenigen hinwegzukommen suchte, die sich weiterhin zu Johnssen bekannten. Johnssens weiterer Lebensweg ist kurz berichtet: nach einer Odyssee durch das Alte Reich wurde er schließlich 1765 in dem anhaltischen Amt Alsleben als Vagabund festgesetzt und an die weimarischen Behörden ausgeliefert. Auf Anweisung der Herzogin Anna Amalia und ihres Geheimen Consiliums wurde Johnssen nun auf die Wartburg transportiert, wo er im Mai 1775 nach zehnjähriger Kerkerhaft starb. Die Haftkosten trug der Orden. Ob Johnssen, wie er selbst glaubte, durch den Eisenacher Arzt Reindel, ein Mitglied der dortigen Loge „Caroline“, nach und nach mit Arsenik vergiftet wurde, wird sich wohl niemals aufklären lassen. Sein Tod kam aber gerade noch zur rechten Zeit, um den Skandal zu verhindern, den man bei der bevorstehenden Regierungsübergabe an Carl August im September 1775 fürchtete.40 Doch zeigte der Konflikt um Johnssen und das Jenaer Kapitel auch bereits die Achillesferse der Strikten Observanz: Altenberga hatte die Erwartung auf neue spirituelle Erkenntnisse unerfüllt gelassen. Die Strikte Observanz blieb eine Gemeinschaft, die lediglich auf den Zeitpunkt hinarbeitete, an dem die geheimen Oberen ihr geheimes Wissen enthüllen und den Orden in seiner früheren Herrlichkeit offiziell wieder herstellen würden. Statt zu einer maureriJohnssen an das Hochkapitel zu Rostock (Konzept), o.D. [nach 11.11.1763], in: GStAPK, Freimaurer, 5.2. J 12, Carl August zu den drei Rosen, Jena, Nr. 8, Bl. 66–69. 40 Vgl. ausführlich Bauer, Müller, Jena, Johnssen, Altenberga (wie Anm. 21), passim. 39
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schen Erneuerung war es zur Überwölbung der Freimaurerei durch einen konspirativen Geheimbund gekommen, der nicht mehr genuin maurerische Interessen, sondern ein politisches Ziel verfolgte, dem die Maurerei nur noch als Mittel dienen sollte. So war es kein Zufall, daß der Rittmeister von Prangen, Hauskomtur des aufgelösten Jenaer Kapitels, den ursprünglichen Ansatz der Jenaer später wieder aufnahm, indem er gemeinsam mit dem mecklenburgischen Altenberga-Teilnehmer von Raven und dem Prediger Johann August Starck das sogenannte Klerikat gründete. Dieser Sonderbund leitete seine Legitimität von dem Gedanken ab, daß die verborgene Weisheit der alten Templer nicht von den zumeist ungebildeten Rittern, sondern von den Priestern und Gelehrten des Ordens überliefert worden sei. Diese aktiv zu erforschen, betrachteten die Mystiker des 1772 in Kohlo auch offiziell anerkannten Klerikats41 als ihre besondere Aufgabe. Die Expansionsgeschichte des Ordens demonstriert die Verquickung von Arkanwelten und offizieller Politik. Es ist an dieser Stelle unmöglich, die vielfältigen und in alle Richtungen laufenden Unterwanderungsaktivitäten der Strikten Observanz auch nur annähernd zu beleuchten.42 Nur wenige Jahre nach Altenberga waren die Gründerväter des Ordens in fast alle geheimen Räte und andere politische Schlüsselpositionen der thüringischen Kleinstaaten eingerückt.43 Auch in den politischen Führungseliten anderer deutscher Territorien konzentrierten sich Ordensmitglieder, besonders in Kursachsen und Braunschweig-Wolfenbüttel, wohin sich später auch die Führung des Ordens verlagerte. Seit dem Konvent von Kohlo strömten immer mehr Mitglieder fürstlicher Häuser in den Orden ein und übernahmen dort Führungs- oder Protektorfunktionen. Die Expansion des Ordens führte weit über die Reichsgrenzen hinaus und überrollte den gesamten Kontinent. Stets agierte der Orden in den Zentren der politischen Macht, so im Herzogtum Kurland, in Schweden, in Dänemark oder sogar in St. Petersburg. Im Süden war der Orden in Prag präsent, begann seit 1775 den Ausbau der VIII. Ordensprovinz in Süddeutschland und Reichsitalien und expandierte schließlich auch über das Elsaß bis nach Frankreich hinein. Ein besonders spektakulärer Erfolg der arkanen Expansion des Ordens war die Übernahme des bisherigen Zentrums der deutschen Hochgradmaurerei, der Vgl. Nettelbladt, Freimaurerische Systeme (wie Anm. 31), 311 ff. Vgl. Joachim Bauer, Gerhard Müller, Die „Strikte Observanz“ – Freimaurerisches System oder politisches Instrument?, erscheint demnächst in der Zeitschrift Quatuor Coronati Jahrbuch. 43 Vgl. Gerhard Müller, Freimaurerei und politische Führungseliten. Die Strikte Observanz in den thüringischen Staaten (1761–1782), in: Joachim Berger, Klaus-Jürgen Grün (Hg.), Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei. Katalog zur Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik im Schiller-Museum Weimar 21. Juni bis 31. Dezember 2002, München, Wien 2002, 169–175. 41 42
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Berliner Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ im Jahre 1765. Dies schuf den Ausgangspunkt für die Unterwanderung der Hof- und Regierungssphäre Preußens durch prominente Ordensmitglieder, unter denen Wöllner, Prinz Friedrich August von Braunschweig-Öls, ein Bruder der weimarischen Herzogin Anna Amalia, und der Altenberga-Veteran Hans Rudolf von Bischofwerder besonders hervorzuheben sind.44 Ein bisher kaum bekanntes Kapitel der Expansion der Strikten Observanz hingegen spielte am südlichen Ende Europas, im Königreich beider Sizilien. In Neapel entstand Anfang der 1770er Jahre die Loge „Della Vittoria“, die ebenfalls vorwiegend jüngere Adlige, Gelehrte und Persönlichkeiten aus Hof- und Verwaltungskreisen vereinigte. Die Loge löste sich von der Londoner Großloge und wurde zur parthenopeischen Landesloge ausgebaut. Nach einem Logenverbot 1775 kam es zu einem spektakulären Konflikt mit der politischen Führung, in dessen Verlauf der Premierminister Tanucci stürzte. Sein Rivale, der Großmeister der Loge Francesco d’Aquino, der über europaweite freimaurerische Verbindungen verfügte und von der Königin Maria Carolina sowie deren Schwager Herzog Albert von Sachsen-Teschen unterstützt wurde, setzte sich durch.45 Die neapolitanische Großloge schloß sich der Strikten Observanz sowie dem Grand Orient de France an. Viele Logenmitglieder machten Karriere, und in Neapel begann eine Periode aufgeklärter Reformen. D’Aquino wurde zunächst Botschafter in London und Paris, 1786 Vizekönig von Sizilien. Vor dem Hintergrund der Expansion der Strikten Observanz und ihres Einflusses auf die Politik vieler europäischer Staaten besaßen die heimlichen Enthüllungsberichte, die Johnssen aus seinem Gefängnis auf der Wartburg zu schmuggeln vermochte,46 trotz der Abstrusität der These von einer templerischen Weltverschwörung zum Sturz der Fürsten einen rationalen Kern. Natürlich konnte Johnssen in seiner Haft von dem, was sich in der europäischen Arkanwelt abspielte, nicht viel erfahren. Aber er war offenbar doch in gewisse Planspiele Hunds eingeweiht worden. Immerhin hatten die Altenbergaer Konventsbeschlüsse auch bestimmt, daß jeder in offiziellen Dienstverhältnissen Vgl. Monika Neugebauer-Wölk, Arkanwelten im 18. Jahrhundert. Zur Struktur des Politischen im Kontext von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit, in diesem Band. 45 Vgl. Antonello Scibilia, Aquino, Francesco Maria Venanzio d’, in: Dizionario Biographio degli Italiani, Bd. 3, Rom 1961, 664 f.; Carlo Francovich, Storia della Massoneria in Italia. Dalle Origini alla Rivoluzione francese, Florenz 1975, 187 ff. Albert von Sachsen-Teschen war das Oberhaupt der Strikten Observanz in den habsburgischen Territorien, vgl. Walter Koschatzky, Selma Krasa, Herzog Albert von Sachsen-Teschen. 1738–1822. Reichsfeldmarschall und Kunstmäzen, Wien 1982 (Veröffentlichungen der Albertina, 18). 46 Vgl. Pro memoria (wie Anm. 10), Bl. 30; vgl. auch „Extract“ dieses Schreibens ThHStAW F 1452 Bl. 186–190; [Friedrich Ludwig Schröder,] Materialien zur Geschichte der Freymaurerey seit der Wiederherstellung der großen Loge in London, 5717, 2. Teil, 288–306. 44
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stehende Ritter ungeachtet der Treuepflicht gegen seinen Dienstherrn Angelegenheiten seines Amtes, die für den Orden von Interesse sein konnten, mitzuteilen habe, und die Ordensleitung sollte entscheiden dürfen, wann und wo die Ritter amtliche Dienstverhältnisse antreten sollten. So blieb Johnssen, dessen Darstellung der Vorgänge von Altenberga bereits nach wenigen Jahren von Renegatenberichten bestätigt wurde, für den Orden weiterhin ein Problem. Johnssen wirkte sogar über seinen Tod hinaus, und schon Knigge behauptete wider besseres Wissen, Johnssen auf der Wartburg mehrfach getroffen zu haben.47 Der Vorwurf des Mißbrauchs der Maurerei für unlautere Bestrebungen, einst erhoben, um Johnssen auszuschalten, richtete sich nun gegen die Gesamtheit der Gründerväter der Strikten Observanz48 und gerann zum festen Topos in der masonischen Historiographie. Da die Strikte Observanz für die geistige Krise der Hochgradmaurerei keine Lösung zu bieten vermochte, wurde sie zum Spielball mannigfaltiger arkaner Strömungen, Sonderbünde und immer wieder auch freimaurerischer ‘Hochstapler’, die sich in ihren „unterirdischen Gängen“ (Goethe) tummelten. Zu erwähnen sind neben dem templerischen Klerikat Persönlichkeiten wie der schwer faßbare St. Germain, der Leipziger Kaffeehauswirt Schröpfer und Gugomos. Deren Auftreten führte, zumeist im Umfeld von Konventen der Strikten Observanz, zu Konflikten innerhalb des Ordens sowie zunehmend auch zu öffentlichen Angriffen. Seit Mitte der 70er Jahre geriet die zum konspirativen Aktionsfeld der Politik gewordene Strikte Observanz in eine Dauerkrise. An deren Ende stand der Konvent von Wilhelmsbad, der die Tempelherrenlegende aufgab, aber keine neue verbindliche Organisationsgrundlage zu schaffen vermochte.49 Damit entstand Raum für den Beginn eines neuen Wettbewerbs der freimaurerischen Systeme, eine Situation, wie sie Johnssen 1763 vorgefunden hatte. Dies war die Stunde eines neuen freimaurerischen ‘Hochstaplers’, des Grafen Cagliostro. Cagliostros Lebensgang weist, wie schon angedeutet, viele Ähnlichkeiten mit dem Johnssens auf. Auch er kam aus dem Unterschichtenmilieu. Unter den Vgl. Hermann Schüttler, Der Wilhelmsbader Freimaurerkonvent im Spiegel der Illuminaten, in: Berger, Grün, Geheime Gesellschaft (wie Anm. 43), 176. 48 Vgl. ebd. Charakteristisch dafür ist auch das von Weimarer Illuminatenkreisen kolportierte Urteil über Fritsch. So berichtet Friedrich Münter über Gespräche mit Reinhold und den Herders im Jahre 1787: „[...] wir redeten viel von München, vom Geheimen Rath Fritsch, den ich schon sonst als einen elenden Kerl kannte, der das Land aussaugt, den Herzog betrügt, u. seine Verbindungen zu lauter bösem misbraucht, so daß kein rechtschaffener Mann gegen ihn ankommen kann [...].“ Øjvind Andreasen (Hg.), Aus den Tagebüchern Friedrich Münters. Wander- und Lehrjahre eines dänischen Gelehrten, Teil 2, Kopenhagen, Leipzig 1927, 402. 49 Vgl. René Le Forestier, Die templerische und okkultistische Freimaurerei im 18. und 19. Jahrhundert, 4 Bde., Leimen 1987 ff. 47
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mannigfaltigen Berichten über seine Herkunft scheint derjenige, daß er unter dem Namen Giuseppe Balsamo als Spross einer alteingesessenen, aber verarmten Familie in Palermo geboren wurde, frühzeitig verwaiste und von einem Onkel aufgezogen wurde, der wahrscheinlichste zu sein.50 Nach dem Eintritt in ein Kloster betätigte er sich in der Krankenpflege und erwarb ein umfangreiches praktisches Wissen auf dem Gebiet der Heilkunde und Pharmazie. Schon in jungen Jahren soll seine Karriere als ‘Betrüger’ – ihm wird Talent im Imitieren von Handschriften nachgesagt – begonnen haben. Man darf aber nicht übersehen, daß die Balsamo-Theorie von Cagliostro selbst niemals eingeräumt und nur durch Indizien evident gemacht worden ist. Wie im Fall Johnssens müssen nicht nur seine eigenen Legenden, sondern auch die Darstellungen seiner Gegner höchst kritisch betrachtet werden. Die Spekulation um die Herkunft des Namens „Cagliostro“ erledigt sich bereits durch die schon Goethe bekannte Tatsache, daß dieser unter den Vorfahren und Verwandten Balsamos vorkam. Balsamo hatte ihn von seinem Großonkel und Ehemann seiner Taufpatin, Giuseppe Cagliostro, entlehnt.51 Auf seinen Reisen durch Europa nannte er sich zeitweilig auch Joseph Cagliostro, während er den Titel eines Grafen mit dem Vornamen „Alessandro“ erst später annahm.52 Spätere Betrachter wollten bereits in der Adaption des Adelstitels den Tatbestand der ‘Hochstapelei’ verwirklicht sehen. In der feudalen Ständeverfassung Siziliens aber war es völlig normal, daß auch Angehörige der unteren Stände, die ein Feudalgut kauften und dazu die sehr teure königliche Investitur erwarben, auch den daran haftenden Adelstitel führen durften.53 Vor dem Hintergrund der Sozialisationserfahrung einer solchen sozialen Diffusion zwischen den Ständen erscheint die in der Cagliostro-Literatur mitunter vorgetragene Annahme, daß Balsamo auf eine eigene adlige Familientradition Bezug genommen hat, keineswegs abwegig. Cagliostro hätte also in seiner Heimat einen Adelstitel völlig legal erwerben können. In Neapel verkehrte er auch in Adelskreisen und berichtete, daß der Vgl. Klaus H. Kiefer (Hg.), Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus, München 1991. 51 Dies war neben der Bestätigung der Identität Balsamos mit Cagliostro die entscheidende Information der Zeugenaussage Bracconieris gewesen, die in dem Spitzelbericht vom 02.11.1786 (Lettre de Bernard) nach Paris mitgeteilt und dann im März 1787 durch notariell beglaubigte Dokumente belegt worden war. Vgl. Bruno Marty u.a (Hg.), Le Comte de Cagliostro. Exposition organisée par l’Association culturelle „Les Amis du Prince Noir” 27 mai – 11 juin 1989, Le Beaux de Provence 1989, 59 f. 52 Balsamo nannte sich in seinem Freimaurerrevers, den er bei seiner Aufnahme in eine Londoner Loge 1776 ausstellen mußte, „Giuseppe Cagliostro“. Vgl. Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 46. 53 Vgl. August Sartorius von Waltershausen, Die sizilianische Agrarverfassung und ihre Wandlungen. Eine sozialpolitische und volkswirtschaftliche Untersuchung, Leipzig 1912, 126 ff. 50
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Malteserkomtur Luigi d’Aquino aus dem Hause Caramanico, Bruder des erwähnten Freimaureroberen und Vizekönigs von Sizilien, sein Freund und Förderer gewesen sei.54 Mit Hilfe d’Aquinos soll er in Neapel sogar in den Besitz eines stattlichen Anwesens gelangt sein.55 Auch seine urkundlich belegte Heirat mit der Römerin Lorenza Feliciani im Jahre 1768 deutet – ähnlich wie Johnssens Heirat in Bernburg – nicht darauf hin, daß er sich zu jener Zeit im Zustand eines unbehausten und mittellosen Vagabunden befunden hätte. Wie Cagliostros früher Lebensweg, der wie derjenige Johnssens weitgehend im Dunkeln liegt, im einzelnen auch verlaufen sein mag – irgendwann hat er die gesicherte Lebensperspektive mit der unsteten und gefahrvollen Existenz als ambulanter Geschäftemacher, Alchemist und Heilpraktiker vertauscht. Cagliostro hob sich aus dem üblichen Milieu der ‘Quacksalber’ und ‘Schwindler’ jedoch heraus, denn er trat unter diversen Pseudonymen weiterhin meist in höheren Gesellschaftskreisen auf. Er war damit ungemein erfolgreich, nicht zuletzt auch dank seiner Gattin Lorenza, die sich später Seraphina nannte. Es ist hier nicht erforderlich, Cagliostros Aufenthalte in den italienischen Staaten, Frankreich, Spanien, Portugal, London, Den Haag, Deutschland, Kurland, St. Petersburg, Warschau u.a. im einzelnen zu schildern. Anders als Johnssen hatte er viel Zeit, um immer tiefer in die Arkanwelt einzudringen und sich Tradition und aktuelle Trends von Esoterik, Mystik und Okkultismus anzueignen. Auf der überkommenen Klaviatur von alchemistischer Hermetik und Theosophie spielte er bald ebenso virtuos wie auf der relativ neuen der Geisterlehre Swedenborgs. Seit der Verbindung mit Luigi d’Aquino waren es immer wieder auch Malteserritter, die den Kontakt zu ihm suchten und ihn förderten wie etwa der französische Malteserbotschafter in Rom, de Breteuil, der Großprior des polnischen Zweigs der Malteser, Fürst Adam Poninski, der ihn während seines Aufenthalts in Warschau mit einem alchemistischen Laboratorium ausstattete, oder der Lyoner Bailli Charles-Abel de Loras, der ihm sogar noch nach seiner Verhaftung in Rom die Treue hielt. Die schon in seiner Familientradition angelegte Affinität zu dem katholischen Zweig des Ritterordens der Johanniter, der auf Malta einen souveränen Ordensstaat verwaltete, trug wesentlich dazu bei, daß er bei den protestantischen Aufklärern um Bode und Nicolai schon relativ frühzeitig in den Verdacht des Kryptokatholizismus geriet. Auch Goethes Interesse an Cagliostro ging schon auf die Jahre 1779/80 zurück, als der Dichter in engere Fühlung mit Johann Joachim Bode trat und Mitglied der Weimarer Freimaurerloge „Amalia“ wurde. Bode bereitete damals seine 1781 erschienene erste EnthüllungsZur Beziehung zwischen Cagliostro und Luigi d’Aquino vgl. Ruggiero di Castiglione, Il Maestro di Cagliostro: Luigi d’Aquino, Rom 1989. 55 Vgl. Denise Dalbian, Le Comte de Cagliostro, Paris 1983, 98 ff. 54
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schrift über Cagliostro56 vor, die durch die Mitteilungen Elisa von der Reckes über die Auftritte des Magiers in Mitau57 angeregt worden war. Goethe wies die Annahme seines Freundes Lavater, der Magier verfüge wirklich über die Fähigkeit zur Divination, von Anfang an energisch zurück. In Cagliostros esoterischen Praktiken, die religiöse Schwärmerei mit alternativer Medizin, Geisterbeschwörungen, Alchemie und Elementen der freimaurerischen Ideenwelt kombinierten und spektakuläre Erweckungserlebnisse induzierten, argwöhnte Goethe ebenso wie Bode geheime Unterwanderungsbestrebungen jesuitischklerikaler Kräfte. Daß Cagliostro seit seiner Ankunft in Straßburg 1780 die Protektion eines hochrangigen katholischen Kirchenfürsten genoß, des Kardinals Louis René Edouard Prince de Rohan, Fürstbischof von Straßburg, Großalmosenier des französischen Königs und Landgraf des Elsaß, schien diesen Verdacht nachhaltig zu bestätigen. Bereits damals schufen die Berichte der Verehrer und Gegner eine regelrechte Cagliostro-Literatur. Diese formte das Bild des Magiers zu einer literarischen Kunstfigur um, in der Phantasie und Realität, Apotheose und Verteufelung verschwammen. Der Basler Bankier Jacob Sarasin, ein Freund Lavaters, hielt Cagliostro für den „größten Mann, den die Welt trägt“, und aufgrund bestimmter physiognomischer Merkmale auch für eine Reinkarnation des angeblich unsterblichen Grafen von St. Germain.58 Kontakte zur Freimaurerei besaß Cagliostro nachweislich seit seinem Aufenthalt in London 1776/77, wo er in eine Loge aufgenommen wurde.59 Wie ein Förderband transportierten ihn die maurerischen Verbindungen durch ganz Europa. In Mitau, wo mit dem Freiherrn Ernst Joachim von Fircks ein Altenberga-Veteran als Ordenspräfekt residierte, agierte er auch in der Strikten Observanz, gründete aber für die weiblichen Mitglieder seines okkulten Zirkels
Vgl. Johann Joachim Christoph Bode, Ein paar Tröpflein aus dem Brunnen der Wahrheit. Ausgegossen vor dem neuen Thaumaturgen Caljostros, Frankfurt am Main 1781. 57 Charlotta Elisabeth Constantia von der Recke, Nachricht von des beruechtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau im Jahre 1779 und von dessen dortigen magischen Operationen, Berlin 1787. 58 Vgl. August Langmesser, Jacob Sarasin, der Freund Lavaters, Lenzens, Klingers u.a. Ein Beitrag zur Geschichte der Genieperiode, Zürich 1899, 31 ff., 51; Ernst Baumann, Straßburg, Basel und Zürich in ihren geistigen und kulturellen Beziehungen im ausgehenden 18. Jahrhundert. Beiträge und Briefe aus dem Freundeskreise der Lavater, Pfeffel, Sarasin und Schweighäuser (1770–1810), Frankfurt am Main 1938 (Schriften des Wissenschaftlichen Instituts der ElsaßLothringer im Reich an der Universität Frankfurt, N.F. 20), 19 f. 59 Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 46 f. Wahrscheinlich geht Cagliostros Beziehung zur Freimaurerei jedoch bereits auf seine Zeit in Palermo und Neapel zurück und stand mit seinem Kontakt zu Luigi d’Aquino in Zusammenhang. Vgl. Castiglione, Il Maestro di Cagliostro (wie Anm. 54), 17 ff. 56
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eine eigene Adoptionsloge.60 Sein Aufenthalt in Straßburg, der damaligen Hauptstadt des Mesmerismus und der Esoterik, brachte ihn schließlich mit der ganzen Vielfalt jener Strömungen der Freimaurerei in Kontakt, die in Wilhelmsbad um die Vorherrschaft gerungen hatten. Hier agierten sowohl die alten Tempelritter aus der VIII. Ordensprovinz der Strikten Observanz, die Hunds Tradition hoch hielten, als auch die martinistischen Mystiker um Willermoz. Es gab aber auch eine Loge namens „Isis“, die sich mit einer völlig neuen Idee, der Arbeit mit altägyptischen Legenden und der Entschlüsselung von Hieroglyphen beschäftigte.61 Die Geheimnisse des alten Ägypten avancierten damals zum Modethema und beflügelten die Phantasie des europäischen Publikums.62 Eine Reise nach Südfrankreich und Neapel brachte Cagliostro 1783 in Kontakt mit dem damaligen Sekretär der französischen Botschaft in Neapel, Dominique Vivant Denon,63 dem bekannten Archäologen und Kunstkenner, der später gemeinsam mit Napoleon die Pyramiden besteigen und Direktor der Pariser Museen werden sollte. 1784 schließlich trat er in Lyon mit einem eigenen System der Maurerei auf, das dem neuen Trend huldigte und die angestaubte Mystik der Rittertümelei von Templern und Martinisten völlig in den Schatten stellte: dem sogenannten „ägyptischen Ritus“.64 Ähnlich wie bei Johnssen kann man bei Cagliostros Auftreten als Freimaurerreformer vom Beginn einer ‘zweiten Karriere’ sprechen. Während Hund und Johnssen jedoch ihre Autorität lediglich von einer angeblichen Berufung durch unbekannte Obere der Tempelherren abgeleitet hatten, trat Cagliostro selbst als Oberhaupt seines „ägyptischen Ritus“ auf. Der „Graf“ war kreativer als Johnssen. So wie sich wenige Jahre zuvor der schwedische Herzog und spätere König Carl von Södermanland in der Strikten Observanz als Stellvertreter Christi auf Erden geriert hatte, verkündete auch Cagliostro einen magisch-religiösen Heilsanspruch. Die Autoritäten, mit denen er angeblich kommunizierte, waren biblische Propheten, Engel und diverse Geister. In Mitau hatte er noch behauptet, er unterstehe dem Propheten Elias, und Kophta, einer der mächtigsten Geister überhaupt, sei sein Schutzgeist. Jetzt war er selbst der „Großkophta“. Man war nicht mehr im Jahr 1763, und die Romantik der Ritterorden wurde mittlerweile überlagert von wesentlich faszinierenderen parawissenschaftlichen, esoterischen und mystizistischen Lehren, bei denen Cagliostro vielfältige Recke, Nachricht (wie Anm. 57), passim. Dalbian, Le Comte de Cagliostro (wie Anm. 55), 74 ff.; Le Forestier, Die templerische und okkultistische Maurerei (wie Anm. 49), Bd. 4, 95. 62 Vgl. Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 89 ff. 63 Vgl. Dalbian, Le Comte de Cagliostro (wie Anm. 55), 98 ff. 64 Vgl. unter anderen Robert Amadou, Le rituel de la maçonnerie égyptienne, in: Daniela Gallingani (Hg.), Presenza di Cagliostro. Atti del Convegno Internazionale Presenza di Cagliostro, San Leo, 20, 21, 22 Giugno 1991, Florenz 1994, 83–131. 60 61
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Anleihen machen konnte. Dazu zählten Lavaters Physiognomik und Mesmers Magnetismus ebenso wie die Theosophie Swedenborgs, die hermetischkabbalistischen Systeme der neuen Gold- und Rosenkreuzer oder das bereits erwähnte Klerikat Johann August Starcks. Letzterer, so teilte Elisa von der Recke einmal in einem ihrer Briefe an Lavater aus dem Jahre 178165 mit, habe sich als „Schrepferischer Anhänger“ zu erkennen gegeben und halte „viel auf die Kraft gewisser Worte, Zeichen, Figuren und Zahlen“. Einer der geheimsten Freunde Starks habe ihr gegenüber geäußert, daß dieser „tiefe Kenntnisse in geheimen Wissenschaften“ besäße, sie aber „gewisser Ursachen wegen nie für sich praktisch“ machen könne. Auch Cagliostro sei „in geheimen Wissenschaften sehr weit gekommen“, doch weil dieser sie „bei einem so schlechten Charakter praktisch machen könne“, sei gewiß zu glauben, daß er „mit bösen Geistern in Gemeinschaft wäre […]. Aber was hätten wir von Cagliostro gedacht, wenn er gewisse Dinge nur bloß erzählt und nicht durch seine Experimente unser Erstaunen so hoch getrieben hätte. Unbegreiflich ist dieser Mann; aber noch unbegreiflicher ist die Erfahrung mir, daß die Ausrufung gewisser Worte und einige dazu gehörige Gebräuche solche Wirkungen in der Natur hervorbringen.“ Cagliostros „ägyptischer Ritus“ wollte eine spirituelle Alternative zu den vorhandenen esoterischen Strömungen in der europäischen Freimaurerei sein. Ihnen allen hatte Cagliostro voraus, daß er moderner und, ebenso wie seine Heil- und Hypnosetätigkeit, eminent ‘praktisch’ war. Er bot keine mystischen Grübeleien an, sondern zitierte die Legenden, Hieroglyphen und monumentalen Artefakte einer uralten, am Anfang der menschlichen Geschichte stehenden Kultur. Deren verborgene Geheimnisse waren wirklich noch zu entschlüsseln. Ihre Mysterien konnten zwar nicht erkannt, aber doch – mit hypnotischer Unterstützung – sowohl über okkulte Praktiken als auch durch die Ästhetik der altägyptischen Kunst erlebbar werden. Und nicht nur das – Cagliostro ließ die geheimnisvollen Geister jener alten Zeit sogar vor aller Augen auferstehen. Sein System verband die traditionelle biblische Mystik mit esoterischen Elementen der altägyptischen Religion wie dem Isiskult, dem Mythos von der Auferstehung des Osiris und den Ritualen der Totenbeschwörung, aber auch mit heiligen Handlungen wie Besprengen mit läuterndem Wasser, magischen Worten und Formeln, weißen Gewändern, Läuterungssalben usw. Wie Johnssen in Jena bezog sich Cagliostro neben Johannes dem Täufer (24. Juni) auch auf Johannes den Evangelisten (27. Dezember) als Schutzpatron, da dessen Offenbarung – der Magier kommunizierte ja mit den sieben Geistern Gottes – besondere Bezüge zu seinem Freimaurersystem aufwies. Im Mittelpunkt seiner Heinrich Funck, Briefwechsel zwischen Lavater und Frau von der Recke, in: Euphorion 25 (1924), 57. 65
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Seancen stand ein in angebliche magische Riten der alten Ägypter eingekleidetes Hellsehverfahren. Das Orakel ließ sich dabei aus dem Munde eines geweihten, in weißes Leinen gekleideten ‘unschuldigen’ Kindes, meist einer Waise, vernehmen, dem Cagliostro den symbolischen Namen ‘Taube’ gab.66 Cagliostro sah in der Freimaurerei ebenso wie einst Johnssen und Hund eine Art Pflanzschule, deren Mitglieder nach der Erkenntnis des Göttlichen in sich selbst streben müßten. So sollten die Würdigsten ausfindig gemacht werden, die zur Mystik bestimmt seien. Die Kombination von Freimaurerei, Ägyptomanie und Okkultismus sicherte Cagliostro einen geradezu durchschlagenden Erfolg. Er eroberte die Freimaurerei Lyons im Sturm. Seine neue Mutterloge „La Sagesse triomphante“ entzog den etablierten Logen Willermoz’ in kurzer Zeit eine große Anzahl Mitglieder.67 Darüber hinaus verfügte Cagliostro über reich sprudelnde Finanzquellen, eine davon war Sarasin in Basel. So konnte man sofort beginnen, einen prächtigen Logentempel zu errichten, der von angesehenen Künstlern Frankreichs ausgeschmückt wurde.68 Im Sommer 1786 sollte er feierlich eröffnet werden. Unterdessen ging Cagliostro im Januar 1785 nach Paris. Von hier aus wollte der „Großkophta“ sein System in der Freimaurerei etablieren und dann europaweit expandieren. Damals tagte in Paris der Kongreß der Philaleten, der durch die Klärung der Fragen nach Herkunft, Wesen und Zielen der Freimaurerei eine Vereinigung der nach Wilhelmsbad heillos zerstrittenen maurerischen Strömungen anstrebte. Die Veranstalter hatten auch Cagliostro eingeladen. Dieser lehnte es jedoch ab, irgendwelche Diskussionen zu führen und forderte die Kongreßteilnehmer zum radikalen Bruch mit den bestehenden Systemen auf. Sie sollten – auch hier glichen sich Johnssen und Cagliostro – ihre Archive verbrennen und sich dem neuen Ritus unterstellen.69 Auf Resonanz konnte ein derartiges Ansinnen bei den Philaleten allerdings kaum stoßen. Es war eher dazu angetan, Widerstände herauszufordern. Der Kongreß ignorierte Cagliostros Briefe, konnte aber auch zu keiner Einigung über seinen Beratungsgegen[Giovanni Barberi], Leben und Taten des Joseph Balsamo, sogenannten Grafen Cagliostro, in: Kiefer, Cagliostro. Dokumente (wie Anm. 50), 522 f. Erst die Forschung des 19. Jahrhunderts gelangte zu der Erkenntnis, daß das Corpus Johanneum im Neuen Testament nicht von ein und derselben Person stammt. Vgl. Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 4, Tübingen 2001, 541 ff. Dieses Wissen stand Cagliostro noch nicht zur Verfügung. Über die seit dem 18. Jahrhundert in der Freimaurerei praktizierten beiden Johannisfeste vgl. Eugen Lennhoff, Oskar Posner, Dieter A. Binder (Hg.), Internationales Freimaurerlexikon, München 2000, 437. 67 Vgl. Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 89 ff.; Le Forestier, Die templerische und okkultistische Freimaurerei (wie Anm. 49), Bd. 4, 95 ff. 68 Vgl. die Dokumentation bei Marty u.a., Le Comte de Cagliostro (wie Anm. 51), 3ff, 11 ff. 69 Charles Porset, Cagliostro philalèthe?, in: Gallingani, Presenza di Cagliostro (wie Anm. 64), 627 ff. 66
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stand kommen und vertagte sich auf eine zweite Zusammenkunft im Frühjahr 1787. Cagliostros freimaurerische Konkurrenten betrachteten dessen Aktivitäten weiterhin außerordentlich mißtrauisch. So alarmierte Willermoz Anfang August 1785 Carl von Hessen-Kassel, den Statthalter des dänischen Königs in Schleswig-Holstein, Cagliostro sei ein Freimaurer gefährlichster Art, der Gottes Namen ständig im Mund führe. „Er reißt die Schwachen mit sich, errichtet Altäre für Baal und leugnet vor allem die Göttlichkeit Jesu Christi. Er versucht die Logen für die Einführung der ägyptischen Art zu formen: in Lyon hat er Erfolg gehabt. Dadurch waren wir gezwungen, schnellstens das Wort ‘Tubalkain’ abzuschaffen, mit welchem er nach seinem System eng verbunden ist und sein muss.“70 Als der Termin für den zweiten Philaletenkongreß heranrückte, hatte sich Cagliostros Lage bereits entscheidend verändert. Er war in die Affäre um das Halsband der Königin verwickelt und am 22. August 1785 verhaftet worden. Daß man ihn auf die bloße Denunziation einer selbst der Tat höchst verdächtigen Person hin überhaupt mit diesem spektakulären Betrugsverbrechen in Zusammenhang brachte und für ein Dreivierteljahr in der Bastille verschwinden ließ, obwohl er an den fraglichen Vorgängen überhaupt nicht beteiligt gewesen sein konnte,71 läßt darauf schließen, daß eine vorgefaßte Absicht bestand, ihn auszuschalten.72 Offensichtlich galt Cagliostro schon aufgrund seines selbstherrlichen Auftretens wie der souveräne Fürst eines obgleich nur esoterischen Reiches in der königlichen Residenz, seiner geheimnisvollen magischen Fähigkeiten, des von ihm erregten Publikumsinteresses und seiner intimen Nähe zu Kardinal Rohan als unberechenbare Gefahr. Regierung und Königshaus sahen in ihm den eigentlichen Drahtzieher der Affäre, die in ihren Augen eine
Zitiert nach Freller, Cagliostro, (wie Anm. 14), 98. Das Wort „Tubal Kain“ bezieht sich auf 1. Moses 4.22. Tubal Kain gilt als Erfinder der Musik bzw. der Kunstfertigkeit des Menschen. Das Wort wurde in der Freimaurerei als Paßwort verwendet. 71 Schon im August 1784 hatte der Kardinal Rohan auf Vorschlag der Gräfin de la MotteValois ein Diamantenhalsband im Werte von 1,6 Millionen Livres in Auftrag gegeben, das der Königin Marie Antoinette als Geschenk überreicht werden sollte. Die La Motte-Valois hatte den Hofjuwelieren dabei eine gefälschte Bürgschaftszusicherung der Königin vorgelegt. Die berühmte Versöhnungsszene im nächtlichen Park von Versailles, bei der eine gemietete Schauspielerin in die Rolle der Königin schlüpfte und dem Kardinal zum Zeichen vermeintlich wieder gewonnener Gunst eine rote Rose überreichte, fand am 11. August 1784 statt. Am 1. Februar 1785 hatte der Kardinal das Halsband durch einen Beauftragten an die Königin übergeben lassen, doch spielte dieser es der La Motte-Valois zu, die es zerlegte und die Brillanten im Ausland zu verkaufen versuchte. 72 Zur Sündenbock-Rolle Cagliostros im Zusammenhang mit der Halsbandaffäre vgl. bereits Friedrich Bülau, Geheime Geschichten und rätselhafte Menschen. Sammlung verborgener und rätselhafter Merkwürdigkeiten, Bd. 1, Leipzig 1850, 323 f. 70
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subversive Intrige zur öffentlichen Diskreditierung der Monarchie darstellte. Aus der Halsbandaffäre wurde so eine Affäre Cagliostro. Obwohl völlig anders gelagert, besitzt der Vorgang grundlegende Gemeinsamkeiten mit der Ausschaltung Johnssens nach dem Skandal von Altenberga. In Johnssens Fall arbeiteten Staatsmacht und Strikte Observanz Hand in Hand. Bei Cagliostros Verhaftung handelte offenbar allein die Staatsmacht, doch lag seine Ausschaltung auch im Interesse der etablierten Freimaurerbünde, die nach den Vorgängen in Lyon befürchteten, daß sich der „ägyptische Ritus“ wie ein Flächenbrand ausbreiten werde. Es war keineswegs zufällig, daß sich die Arkanwelt von den Illuminaten bis zu den Rosenkreuzern unbeschadet aller zwischen ihnen herrschenden Konflikte in der Verurteilung Cagliostros nahezu einig war. Mahnungen zur Besonnenheit im Urteil über den Magier gingen nur von jenen Aufklärern aus, die, wie z.B. Wieland in Weimar, mittlerweile zu einer grundsätzlichen Ablehnung der Arkangesellschaften überhaupt gelangt waren.73 So warnte Wieland, der bekanntlich immer ein Streiter gegen den Geisterglauben war, 1786 im Teutschen Merkur, es sei noch ein „unaufgelöstes Räthsel“, ob Cagliostro „ein Betrüger oder ein Betrogener, ein Schwärmer oder ein Scharlatan, oder vielleicht in gewissem Sinne und Maaße beydes zugleich“ sei. Immerhin könne Cagliostro auf seinen geheimnisvollen Reisen gewisse Weisheiten von den koptischen Mönchen Ägyptens und aus anderen orientalischen Quellen empfangen haben und kolportiere sie nun, ohne sie selbst zu verstehen.74 Während Johnssens Schicksal nach seiner Verbringung auf die Wartburg besiegelt war, nahm der Halsbandprozeß eine völlig andere, unerwartete Wendung. Schon in den Monaten der Haft hatten Cagliostro und seine Anwälte eine öffentliche Gegenoffensive angekurbelt. Es kam zu einem regelrechten ‘Krieg der Advokaten’, der europaweit eine ungeheure Medienresonanz auslöste.75 Aus der Bastille heraus faszinierte Cagliostro die Öffentlichkeit mit der phantastischen Legende seiner Biographie. Die mit einem Kupferstich des „Großkophtas“ versehene Verteidigungsschrift aus der Feder des Anwalts Jean-
73 Vgl. zur prinzipiell geheimbundfeindlichen Haltung Wielands dessen Brief an Johann Wilhelm von Archenholtz, 17.04.1786, in: Wielands Briefwechsel, hg. von Hans Werner Seiffert, Klaus Gerlach, Siegfried Scheibe, Berlin 1963 ff., Bd. 9/1, Berlin 1996, 145, sowie Herders Erklärung, er habe „allen geheimen Gesellschaften und ihren Anführern den Tod geschworen“, Herder an Johann Georg Müller, 19.12.1785, in: Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803, hg. von Karl-Heinz Hahn, Bd. 5: September 1783-August 1788, Weimar 1979, 160. 74 [Christoph Martin Wieland], Vermuthliche Auflösung des Problems wie der Graf Cagliostro seine hermetische Weisheit von Egyptischen Priestern bekommen haben könnte, in: Teutscher Merkur, 3. Stück, Juli 1786, 93–96. 75 Vgl. Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 109 ff.
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Jacques Thilorier wurde ein Bestseller.76 Da die wahren Schuldigen bald überführt waren und die Vorwürfe gegen Cagliostro sich als pure Verleumdungen erwiesen, blieb dem Pariser Parlement in seiner Sitzung vom 31. Mai 1786 nur noch eine Entscheidung: Cagliostro freizusprechen. Damit war nicht nur der Plan gescheitert, Cagliostro im Kerker verschwinden zu lassen. Seine spektakuläre Rehabilitierung und der begeisterte Empfang, den ihm die Pariser Bevölkerung bei seiner Haftentlassung bereitete, bedeuteten zugleich eine unerhörte Demütigung der Krone.77 Empört erließ der König eine Ausweisungsverfügung. Instinktloser hätte er kaum verfahren können. Sein Willkürakt erneuerte gleichsam das Cagliostro zugefügte Unrecht, und da dieser soeben in einem öffentlichen und in jeder Hinsicht gesetzmäßigen Verfahren rehabilitiert worden war, brüskierte er zugleich das allgemeine Rechtsempfinden. Die Krone stellte so ihre eigene moralische Legitimation in Frage, denn nach dem Naturrecht leitete die Staatsgewalt ihre Daseinsberechtigung allein aus der Zwecksetzung eines friedlichen Zusammenlebens der Gesellschaftsglieder in einer gesetzlichen Rechtsordnung ab. Der Ausgang des Halsband-Prozesses ließ die latenten Akzeptanzprobleme des absoluten Machtanspruchs der Krone in voller Schärfe hervortreten. Die Affäre weitete sich zu einer politischen Krise aus, in der es vordergründig um die Person Cagliostros, in Wirklichkeit aber um die Legitimität des absolutistischen Herrschaftssystems ging. Die öffentliche Empörung über die Krone löste eine regelrechte Cagliostromanie aus. Der Magier wurde im Triumphzug nach Boulogne-sur-Mer geleitet, wo er sich nach England einschiffte. Das öffentliche Interesse konnte er nun leicht von London aus weiter anheizen. Sofort gründete der „Großkophta“ hier eine neue Loge und begann die französische Regierung mit einer Serie von Streitschriften öffentlich anzugreifen.78 Der Magier und die sich für ihn engagierenden Pamphletisten zielten genau auf den politischen Kern des Konflikts, indem sie nicht nur den Fall Cagliostro, sondern den despotischen Charakter
Vgl. die deutsche Übersetzung des Mémoire: Verteidigungsschrift des Grafen von Cagliostro, Beklagten, entgegen den Herrn General-Prokurator, Ankläger, mit Hinsicht auf den Kardinal von Rohan, die Gräfin von la Motte und andre Mitbeklagte, in: Kiefer, Cagliostro (wie Anm. 50), 199–244. 77 Vgl. zu den empörten Reaktionen der Königsfamilie auf das Urteil François Ribadeau Dumas, Cagliostro. Ein Lebensbericht, Paris 1966, 188 f. 78 Cagliostro veröffentlichte zwei Schriften, das Mémoire vom 21.06.1786, das seine am 29.05.1786 eingereichte Klage um die Rückerstattung der Summe von 250.000 Livres, die ihm angeblich 1785 bei seiner Verhaftung und der damit verbundenen Haussuchung entwendet worden sein sollte, betraf, und einen Brief an das französische Volk vom 20.06.1786, das ganz den Charakter einer politischen Streitschrift trug. Vgl. Ribadeau Dumas, Cagliostro (wie Anm. 77), 197 ff. 76
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des französischen Staates und die offenbare Gesetzesverachtung der Machthaber überhaupt anprangerten. In der öffentlichen Wahrnehmung des Magiers trat infolgedessen ein deutlicher Wandel ein. Immer mehr umgab ihn jetzt die Aura des mutigen Anklägers absolutistischer Willkür.79 Damit tat Cagliostro etwas bis dahin Unerhörtes: er stellte einen direkten und offensiven Bezug zwischen Arkanwelt und Politik her. Ein höchst zwielichtiger Mann, der nicht einmal seine persönliche Identität zu kennen behauptete, trat öffentlich als politischer Widersacher eines der ältesten europäischen Herrscherhäuser auf und stellte konstitutionelle Reformforderungen auf: Abschaffung der Lettres de cachet und Einberufung der Generalstände. Das war zugleich eine ‘magische’ Kollision, entzauberte doch der ‘ägyptische’ Magier Cagliostro die uralte Magie des fränkischen Königsheils. Weit mehr als die kriminelle Halsband-Intrige selbst habe, wie Goethe meinte, „die durch jenen Prozeß entstandene Erschütterung [...] die Grundfesten des Staates“ ergriffen.80 Es wäre die Aufgabe künftiger Forschungen, die publizistische Kampagne Cagliostros unter politikgeschichtlichen Fragestellungen zu analysieren und diejenigen Kreise zu benennen, die hinter seinem Lettre au peuple français standen. Hier soll nur den Wirkungen dieser Vorgänge auf die deutsche ‘aufgeklärte’ Öffentlichkeit und die Arkanszene nachgegangen werden. Anders als in der Öffentlichkeit Frankreichs und anderer Staaten Europas, die den politischen Protest gegen das absolutistische ‘Willkürsystem’ unterstützte, wirkte der Ausgang des Cagliostro-Prozesses auf nicht wenige Intellektuelle in Deutschland ungemein deprimierend. Sie empfanden den Konflikt zwischen Arkanwelt und offizieller Politik als eine Katastrophe, war doch in ihren Augen die arkane Einflußnahme auf die Regierenden gerade das Mittel, die bestehenden Verhältnisse allmählich zu verbessern, während Cagliostros Vorgehen eindeutig konfliktorientiert war und damit ähnlich diskreditierend wirkte wie die Enthüllungen über die bayerischen Illuminaten. Symptomatisch dafür war die Reaktion Goethes. Hatte ihn schon die Halsbandaffäre im Herbst 1785 psychisch erschüttert, so vertiefte die politische Krise nach dem Freispruch des Magiers seine Nervosität ungemein.81 Der Dichter beschaffte sich fast alle Materialien über den Halsbandprozeß, sie umfassen drei gebundene Konvolute in seiner Bibliothek. Am Weimarer Hof riß man sie sich regelrecht aus den Händen. Goethe, Bode, Bertuch und der Berliner Aufklärerkreis um Nicolai, zu dem sich auch Mirabeau gesellte, sahen sich jetzt in ihrem Urteil Vgl. Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 116. Johann Wolfgang Goethe, Campagne in Frankreich, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter u.a., München 1985 ff. (im folgenden: MA), Bd. 14, 419. 81 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Tag- und Jahreshefte 1789, in: MA, Bd. 15, 14. 79 80
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über die Gefährlichkeit Cagliostros bestätigt. Sie begannen ihren Kampf gegen den Kryptokatholizismus jetzt auf den Magier und seine Anhänger zu fokussieren und brachten eine Flut von Enthüllungsschriften auf den Markt. Den Höhepunkt bildeten der von Bode veranlaßte Druck der Nachricht der Gräfin Elisa von der Recke über Cagliostros Auftritt in Mitau, die durch die detaillierte Schilderung der okkulten Mystik des Magiers Beweise für einen jesuitischen Hintergrund zu erbringen suchte,82 und der 1786 in Berlin erschienene Brief des Grafen Mirabeau über Cagliostro und Lavater.83 Bertuch steuerte eine Übersetzung der Enthüllungen des Grafen Mosczynski über Cagliostros Aufenthalt in Warschau bei, wo der Magier mit Goldmacherkünsten aufgetreten war.84 Über Bertuchs Zeitschriften lief auch Bodes Agitation gegen den Magnetismus.85 Die Polarisierung der Meinungen um Cagliostro führte so zu einer merkwürdigen Inversion der Frontverläufe. Während auf der einen Seite viele Aufklärer die Anti-Cagliostro-Kampagne unterstützten und sich mit dem absolutistischen System in Frankreich solidarisierten, war Cagliostro auf der anderen Seite nicht nur der Mann jener Mystiker, die ihn, wie der Lavater-Kreis in Zürich, seit jeher schwärmerisch verehrten, sondern auch der französischen Opposition.86 Die anschwellende Enthüllungsliteratur konnte deren Cagliostromanie nicht erschüttern; im Gegenteil, man stilisierte ihn jetzt zum Märtyrer. Jacob Sarasin, Cagliostros Basler Bankier, schrieb am 1. März 1786 an Lavater: „Wir sind wohl, stille, ruhig und fester an unsern Vater und Wohltäter attachiert als nie. Und sollte er auch Sokrates Schicksal haben, wir würden’s uns Vgl. [Charlotta Elisabeth Constantia von der Recke], Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalt in Mitau im Jahre 1779 und von dessen dortigen magischen Operationen, Berlin 1787. Ein Vorabdruck der Nachricht erschien schon im Sommer 1786 in der Berlinischen Monatschrift. Zu ihrer Rolle als Kampfschrift gegen den Kryptokatholizismus zur ‘Verschwörung’ gegen Cagliostro im Jahre 1786 vgl. Ribadeau Dumas, Cagliostro (wie Anm. 77), 195 ff.; Steven Luckert, Cagliostro as Conspirator: chanching images of Joseph Balsamo in late 18th-century Germay, in: Callingani, Presenza die Cagliostro (wie Anm. 64), 191–210; Giulia Cantarutti, Dintorni del „Gran Cofto”, in: ebd., 211–248. 83 Vgl. [Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau], Brief des Grafen Mirabeau an Herrn *** über die Herren Cagliostro und Lavater, Berlin 1786. 84 [Augustus Graf Mosczynski], Cagliostro in Warschau oder Nachricht und Tagebuch über desselben magische und alchymische Operationen in Warschau im Jahre 1780, geführt von einem Augenzeugen. Aus dem Französischen übersetzt von Friedrich Justin Bertuch, Straßburg 1786. 85 Zur Anti-Magnetismus-Publizistik im Journal des Luxus und der Moden vgl. Hermann Schüttler, Mode oder mehr? Der animalische Magnetismus, in: Johann Joachim Christoph Bode, Journal von einer Reise von Weimar nach Frankreich. Im Jahr 1787, hg. von Hermann Schüttler, München 1994, 130 ff. 86 Zur Mitgliederanalyse von Cagliostros Loge in Rom, der mehrere später als Jakobiner hervorgetretene Vertreter der dortigen französischen Malerakademie angehörten, vgl. Frankovich, Storia della Massoneria (wie Anm. 45), 456 ff. 82
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immer noch zur Ehre rechnen, seine Schüler und Jünger zu heißen.“87 Im Sommer 1786 unternahm Lavater eine Reise durch das Alte Reich. Sie stand im Zeichen einer Werbekampagne für den Magnetismus, in dem er ein Übergangsphänomen zum Bereich des Übersinnlichen sah.88 Diese Reise löste unter den deutschen Aufklärern um Goethe, Bode und Nicolai größte Besorgnis aus, denn es gab Indizien, die darauf hindeuteten, daß Lavater bei seinen fürstlichen Freunden auch Werbung für Cagliostro betrieb, dessen Verteidigungsschrift verteilte und vielleicht sogar ein künftiges Refugium für ihn ausfindig zu machen suchte, wo er, wie zuvor St. Germain und Adam Weishaupt, unter dem Schutz eines Potentaten vor den Verfolgungen seiner Gegner sicher war. Sarasin streckte seine Fühler sogar nach Berlin aus, wo er den Prinzen Heinrich ersuchte, die Protektion Preußens für einen Aufenthalt Cagliostros in Neufchâtel zu erwirken.89 Auch Goethes Verhältnis zu Lavater war merklich abgekühlt, seit dieser seine früheren Warnungen vor Cagliostro ignoriert hatte. Der Halsband-Skandal und der Cagliostro-Prozeß vertieften die Entfremdung. Als Lavater im Juni 1786 in Weimar weilte, gewährte ihm der Dichter Gastfreundschaft, wechselte aber mit ihm kein einziges vertrauliches Wort. Die französische Regierung konnte die publizistische Unterstützung der deutschen Aufklärer gut gebrauchen, denn ihre Handlungsoptionen waren in der Cagliostro-Krise denkbar gering. Sie hatte nur dann eine Chance, ihr ramponiertes Ansehen einigermaßen wiederherzustellen, wenn sie die Öffentlichkeit davon zu überzeugen vermochte, daß Cagliostro auch ungeachtet des gerichtlichen Freispruchs im Halsbandprozeß ein gefährlicher ‘Betrüger’ sei. Nur wenn Cagliostro erfolgreich kriminalisiert wurde, konnte seine Ausweisung zum Schutz von Staat und Gesellschaft notwendig erscheinen. Die französische Regierung antwortete daher seit August 1786 mit einer publizistischen Gegenkampagne des berüchtigten Pamphletisten Charles Théveneau de Morande in dessen in London erscheinender Zeitschrift Courrier de l’Europe. Ihr Hauptangriffspunkt war Cagliostros biographische Legende. Um sie als betrügerische Fiktion zu entlarven, mußte man aber die wirkliche Identität Cagliostros beweisen, die das Pariser Parlement nicht hatte klären können. Von mehreren Seiten begann man jetzt nach Cagliostros Herkunft zu forschen. Vielfältige Spekulationen und Gerüchte kamen auf. Der Courrier de l’Europe behauptete, der „Großkophta“ sei Sizilianer, heiße in Wirklichkeit Zitiert nach: Langmesser, Sarasin (wie Anm. 58), 50. Schon am 26.12.1785 hatte Carl August an Knebel geschrieben: „Lavater magnetisirt, und hätte gern, daß die Fürsten Deutschlands ex officio Versuche damit anstellen ließen.“ Herzog Carl August an Carl Ludwig von Knebel, 26.12.1785, in: Heinrich Düntzer (Hg.), Briefe des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach an Knebel und Herder, Leipzig 1883, 59. 89 Vgl. Langmesser, Sarasin (wie Anm. 58), 51. 87 88
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Giuseppe Balsamo und stamme aus einfacher Familie. Auch für die deutschen Aufklärer wurde die Enthüllung seiner wirklichen Biographie immer mehr zur Schlüsselfrage. Nicolais Berlinische Monatsschrift bot eine Variante an, die Cagliostro unter Berufung auf dessen ehemaligen Bedienten als Sohn eines neapolitanischen Tischlers ausgab, sich aber bald als unwahr erwies. Geschäftemacher aller Couleur versuchten auf ihre Kosten zu kommen, indem sie das Verwirrspiel um Cagliostros Lebenslauf bedenkenlos um weitere Stories bereicherten. Der Magier, der den Medienrummel um seine Person sichtlich genoß, konnte in diesem Legendenwirrwarr leicht bestreiten, Balsamo zu sein,90 doch begannen sich die Indizien dafür immer mehr zu verdichten. Schon 1785, als Cagliostros Lebenslauf im Zusammenhang mit der Halsbandaffäre Gegenstand der öffentlichen Spekulation geworden war, hatte ein französischer Malteserritter, Charles Emile de St. Priest, im Auftrag seines Ordens in Malta und Palermo zu recherchieren begonnen. St. Priest war auch der erste, der Belege für Cagliostros Identität mit Balsamo aufspürte und dessen Familie in Palermo persönlich besuchte. Die Ergebnisse seiner Nachforschungen blieben jedoch ein Geheimnis des Ordens und gelangten weder in die Hände der französischen Ermittlungsbehörden, noch zur Kenntnis des Pariser Parlement.91 Erst im Sommer 1786 stieß der zu Cagliostros Herkunft ermittelnde Pariser Polizeikommissar Fontaine auf relevante Indizien. Akten über eine „Affäre Duplessis“ tauchten auf, aus denen hervorging, daß ein gewisser, Ende 1772 aus England nach Frankreich gekommener Joseph Balsamo eine Klage gegen seine Ehefrau Lorenza Feliciani wegen Ehebruchs eingereicht hatte, die daraufhin eingesperrt worden war.92 Fakten, Personenbeschreibungen und Unterschriften – man verglich die Schriftproben – ließen darauf schließen, daß Balsamo und Cagliostro ein und dieselbe Person waren. Das Material ging Mitte September 1786 an Morande, der es im Courrier de l’Europe brachte und damit die öffentliche Gegenerklärung Cagliostros provozierte, daß es vielleicht Indizien, aber keinerlei Beweise für seine Identität mit Balsamo gebe. Diese lieferte ein anonymer Spitzelbericht aus Palermo vom 2. November 1786, Lettre de Bernard genannt. Der Anonymus kolportierte die Behauptung, ein Onkel Balsamos, Antonio Bracconieri, sei bereit, Cagliostro als Giuseppe Balsamo zu identifizieren, und schilderte Balsamos Herkunft und seine schon in jungen Jahren begonnene kriminelle Karriere als Betrüger und Urkundenfälscher. Da „Bernards“ Angaben als solche nicht gerichtsverwertbar waren, erVgl. Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 120. Die Zurückweisung der ihm von Morande unterstellten Identität mit Balsamo publizierte Cagliostro in seinem Lettre du Comte Cagliostro au Peuple Anglais, der Ende Dezember 1786 herauskam. Vgl. Marty, Le Comte de Cagliostro (wie Anm. 51), 54, sowie Ribadeau Dumas, Cagliostro (wie Anm. 77), 207 ff. 91 Vgl. Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 28 f. 92 Vgl. Philippe Brunet, Cagliostro, Paris 1992, 292 ff. 90
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suchte man die Regierung des Königreichs Neapel, wo Maria Carolina, die Schwester der französischen Königin Marie Antoinette, die Fäden der Politik in der Hand hielt, um Amtshilfe, und der parlermitanische Advokat Antonio Vivona erhielt den Auftrag, die Beweise juristisch zu dokumentieren und notariell zu beurkunden. Vivonas Mémoire mit den entsprechenden Anlagen wurde schließlich im März 1787 nach Paris gesandt.93 In einem Notifikationsschreiben vom 12. März 1787, das die Versendung der Dokumente anzeigte, betonte der Vizekönig von Sizilien, Francesco d’Aquino, ausdrücklich, daß diese Ermittlungen eine Staatsangelegenheit seien.94 Unter den Motiven für die Denunziation spielte sicherlich die dynastische Solidarität der Königin Maria Carolina eine wichtige Rolle. Aber auch die Familie des Vizekönigs d’Aquino, deren Name in Cagliostros Verteidigungsschrift mehrfach mit der Biographie des Magiers in Verbindung gebracht wurde, und die Malteser hatten ein Interesse, ihn auszuschalten. In dem Legendengewirr um Cagliostros Biographie bildeten die Behauptungen, er sei ein Sohn des Malteser-Großmeisters Pinto, habe auf Malta seine ‘Lehrzeit’ erlebt, seine arkane Initiation erhalten und den Namen eines Grafen Cagliostro angenommen, feste Konstanten. Noch heute meinen einige Autoren, er habe Beziehungen zu den Maltesern gehabt und von ihnen Kenntnisse in der Medizin sowie in magisch-alchemistischen Geheimlehren erlangt.95 Da Cagliostro wirklich von gewissen Kreisen des Ordens protegiert wurde, fiel es diesem, zumal ihm ohnehin der Verdacht geheimer jesuitischer Beziehungen anhaftete,96 natürlich schwer, solchen Gerüchten öffentlich entgegenzutreten. Die Bemühungen um
Vgl. Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 120. Vgl. Marty, Le Comte de Cagliostro (wie Anm. 51), 59. Die Cagliostros Identität belegenden Papiere, die Goethe wahrscheinlich ebenfalls bei Vivona eingesehen hat, waren neben dem Mémoire eine eigenhändige Erklärung von Cagliostros Onkel mütterlicherseits, Antonio Bracconieri, vom 09.03.1787, ein Brief eines Giuseppe Maria Guggino vom 10.03.1787, der die Echtheit des berühmten Lettre de Bernard vom 02.11.1786 bestätigte, sowie zwei Belege über die Taufe des Giuseppe Balsamo in Palermo vom 08.03.1787. Vgl. ebd. 95 Vgl. zuletzt Edith Rosenstrauch-Königsberg, Cagliostro und Wien – Das letzte Opfer der päpstlichen Inquisition, in: Gerhard Ammerer, Hanns Haas (Hg.), Ambivalenzen der Aufklärung. Festschrift für Ernst Wangermann, Wien, München 1997, 140. Einen Überblick mit insgesamt zurückweisender Tendenz liefert Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 18. 96 Der Malteserorden hatte seine Positionen im katholischen Europa seit den 1770er Jahren stark ausbauen können. 1782 war mit der anglo-bayerischen „Language“ eine eigene deutsche Abteilung des Ritterordens gegründet und aus dem eingezogenen Vermögen des Jesuitenordens mit Besitzungen im Wert von 170.000 Gulden ausgestattet worden. Vgl. Alexander Sutherland, The Achievement of the Knights of Malta, Bd. 2, Edinburgh 1830, 288. 93 94
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die Entlarvung der wahren Identität Cagliostros spiegelten zugleich einen ordensinternen Konflikt, der sich zunehmend verschärfte.97 So formierte sich eine staatenübergreifende Anti-Cagliostro-Koalition, in der mehrere europäische Regierungen mit bedeutenden Repräsentanten der aufgeklärten Öffentlichkeit zusammenwirkten. Teil dieser Koalition war auch die Arkanwelt, deren europaweite Netzwerke jetzt eng mit der offiziellen Politik zusammenwirkten. Besonders engagierten sich dabei die Illuminaten, die, seit der Verfolgung ihres Ordens in Bayern selbst in schwere Bedrängnis geraten, ihre noch intakten Strukturen im Kampf gegen das Vordringen mystischokkulter Strömungen zu bündeln und Verbindungen mit Gesinnungsgenossen in anderen europäischen Staaten herzustellen suchten. Eines ihrer Ziele bestand darin, sich mit ihrem dezidiert rationalistischen Konzept der Freimaurerei auf dem zweiten Kongreß der Philaleten im Frühjahr 1787 durchzusetzen. Für sie waren Cagliostro und sein „ägyptischer Ritus“ gleichsam die Spitze eines Eisbergs aufklärungsfeindlicher Degenerationserscheinungen in der Freimaurerei. Andererseits aber zeigten sich auch aufklärungsgegnerische Arkanbünde wie die Gold- und Rosenkreuzer, die seit dem Thronwechsel von 1786 unter dem neuen preußischen König Friedrich Wilhelm II. in das Zentrum der politischen Macht vorgedrungen waren, daran interessiert, das Aufkommen einer so gefährlichen Konkurrenz, wie sie Cagliostros neues System darstellte, zu verhindern. Eine der wichtigsten Schnittstellen der arkanen Aktivitäten gegen Cagliostro formierte sich in Weimar, das bereits im Sommer 1786 im Zusammenwirken mit den Berliner Aufklärern um Nicolai einen nicht unbedeutenden Part in der Pressekampagne gegen Cagliostro, Lavater und Mesmer übernommen hatte. Im Herbst 1786 bereitete sich Bode in Abstimmung mit Herzog Carl August auf seine Reise zum Philaletenkongreß nach Paris vor. Bode selbst und der Meister vom Stuhl der 1784 auf illuminatische Initiative gegründeten Rudolstädter Loge „Günther zum stehenden Löwen“, Friedrich Wilhelm Ludwig von Beulwitz,98 beteiligten sich durch Einsendung umfangreicher, in Paris wohlÜber die kompromittierende Wirkung der Cagliostro-Affäre für den Orden sowie die Auseinandersetzung über Cagliostro innerhalb des Ordens zwischen dem Geologen Déodat Gratet de Dolomieu und dem Cagliostro-Anhänger Charles-Abel de Loras, der Cagliostro erstmals 1783 in Neapel kennen gelernt hatte und in Lyon Mitglied des „ägyptischen Ritus“ geworden war, vgl. Claire Éliane Engel, L’Ordre de Malte en Méditeranée (1530–1798), Monaco 1957, 248 f. 98 Vgl. Thomas Richert, Der Geheime Rat Goethe als Freimaurer und Illuminat. SachsenWeimars Politik gegenüber den geheimen Gesellschaften, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 36 (1999), 45–103, hier 58 ff. Zur amtlichen Funktion von Beulwitz als Mitglied des Geheimen Ratskollegiums im Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt vgl. Ulrich Heß, Geschichte der Staatsbehörden in Schwarzburg-Rudolstadt, Jena, Stuttgart 1994 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Große Reihe, 2), 29 ff., 173 f. 97
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wollend aufgenommener Denkschriften bereits an der Vorbereitung des Kongresses.99 Carl August wiederum koordinierte die Aktivitäten der thüringischen Illuminaten um Bode mit der preußischen Fürstenbundpolitik, auf die er im Zusammenhang mit den im Herbst 1786 einsetzenden Aktivitäten zur Manipulation der Mainzer Koadjutorwahl erheblichen, wenn auch in der Vergangenheit überschätzten Einfluß gewann.100 Carl Augusts Geheimdiplomatie wurde unter Umgehung der alten ‘friderizianischen’ Minister Herzberg und Finckenstein unmittelbar mit dem König und seinen engsten Beratern abgestimmt, und Bischoffwerder sein wichtigster Verbindungsmann. Sarasins Versuch, über den mit Lavater bekannten Prinzen Heinrich von Preußen die Protektion des Berliner Hofes für Cagliostro zu erlangen, hatte vor diesem Hintergrund keine Chance.101 Der Einfluß Carl Augusts, der im Frühjahr 1787 auch offiziell zum Fürstenbund-Beauftragten des preußischen Königs ernannt wurde, wirkte zudem darauf hin, daß Cagliostro, obwohl von gewissen deutschen Höfen heimlich unterstützt,102 auch anderswo im Alten Reich keinen Unterschlupf finden konnte. Auch die internationalen Bemühungen um die Aufklärung der wirklichen Identität Cagliostros wurden vom Weimarer Hof und den thüringischen Illuminaten nachhaltig unterstützt. Schon 1785/86 hatte der Illuminat Friedrich Münter eine ausgedehnte Reise nach Italien unternommen, dort vielfältige Kontakte zu Freimaurerlogen geknüpft und mehrere eklektische Logen gegründet, unter Vgl. Hermann Schüttler, Freimaurer und Illuminaten. Bodes Wirken in geheimen Gesellschaften, in: Bode, Journal (wie Anm. 85), 108. 100 Vgl. Karl Otmar von Aretin, Höhepunkt und Krise des deutschen Fürstenbundes. Die Wahl Dalbergs zum Coadjutor von Mainz (1787), in: Historische Zeitschrift 196 (1963), 49 f., sowie ders., Das Reich. Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht 1648–1806, Stuttgart 1986, 368 ff; außerdem die Dokumentation der politischen Aktivitäten Carl Augusts in: Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Carl August von Weimar, hg. von Willy Andreas, bearb. von Hans Tümmler, Bd. 1, Stuttgart 1954, 259 ff. Die Position von Hans Tümmler, Carl August von Weimar, Goethes Freund. Eine vorwiegend politische Biographie, Stuttgart 1978, 63 ff., muß als überholt angesehen werden. 101 Sarasin schrieb am 15.02.1787 an Prinz Heinrich von Preußen. Das bei Langmesser, Sarasin (wie Anm. 58), 53, abgedruckte Antwortschreiben des Prinzen vom 15.03.1787 machte jedoch deutlich, daß der preußische König nicht bereit war, einen so zweifelhaften Abenteurer wie Cagliostro zu protegieren. Ein Mann mit reinen Sitten, der die Gesetze achte, brauche eine solche Verwendung nicht. Hätte hingegen eine auswärtige Macht ein Recht darauf, auf seine Person zu reklamieren, könnte man ihn auch trotz einer besonderen Protektion nicht unterstützen. 102 So suchte z.B. Sophie von La Roche Cagliostro im Sommer und Herbst 1787 mehrfach in London auf und übermittelte ihm dabei namhafte, als Kredit an ihren Begleiter, den kurtrierischen Staatsminister von Hohenfeld, getarnte Geldtransaktionen Sarasins. Sie teilte bereits im November 1786 mit, daß Cagliostro wegen der vielen Anfeindungen keine Besucher mehr empfange. Vgl. Sophie von La Roche an Jacob Sarasin, 20.07.1786 und 11.11.1786, in: Langmesser, Sarasin (wie Anm. 58), 140 ff. 99
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anderem in Rom und Neapel.103 Besonders gute Kontakte pflegte er zu dem neapolitanischen Kreis der Reformer um Gaetano Filangieri, einem der bedeutendsten Staats- und Rechtstheoretiker der europäischen Aufklärung.104 Im Winter 1785/86 weilte er in Sizilien und blieb dann bis zum Herbst 1786 in Neapel. Es ist also durchaus möglich, daß es einen Zusammenhang zwischen Münters Aufenthalt und den erwähnten geheimen Ermittlungen der sizilianischen Behörden zu Cagliostros Identität gab. Ende Oktober 1786 reiste Münter nach Rom weiter, wo im November Goethe ankam, mit dem er viel Zeit verbrachte. Im Februar 1786, als sich die Gerüchte verdichteten, daß Cagliostro London verlassen und sich mit Unterstützung Sarasins in der Schweiz niederlassen wolle, ging er nach Zürich. Zur gleichen Zeit wurde auch Goethe in die Ermittlungen um Cagliostros Identität aktiv einbezogen. Schon im Januar oder Februar 1787 war ihm übermittelt worden, es sei „des Herzogs Wille“, daß er seine Italienreise nach Neapel und Sizilien ausdehne.105 Goethe, der monatelang in banger Ungewißheit gelebt hatte, ob Carl August ihm seine heimliche ‘Flucht’ nach Italien verzeihen würde,106 war glücklich über diesen Freundschaftsbeweis und trat die Exkursion umgehend an. Als Münter seinen Züricher Beobachtungsposten bezog, Vgl. Andreasen, Münter (wie Anm. 48). Sein Geheimes Tagebuch. Excerpta ad usum fratris Frederici ab itinere (1784–1791), das vermutlich genauere Hinweise auf seine illuminatische Mission und die damit verbundenen Aktivitäten enthält, befindet sich in einem Kopenhagener Freimaurerarchiv. Vgl. auch Francovich, Storia della Massoneria (wie Anm. 45), 382 ff. 104 Vgl. Eugenio Lo Sardo, Filangieri, Gaetano, in: Dizionario Biographico degli Italiani, Bd. 47, Rom 1997, 580; Paolo Becchi, Aspetti e Figure della Recezione di Filangieri in Germania, in: Antonio Villani (Hg.), Gaetano Filangieri e l’Illuminismo Europeo, Neapel 1991, 231–245. 105 Vgl. Herder an Charlotte von Stein, o.D. [Ende Januar 1787], in: Herder, Briefe (wie Anm. 73), 206 f. 106 Nach einer Äußerung an seine Mutter, Herzogin Anna Amalia, schrieb Carl August seinen ersten, nicht überlieferten Brief an Goethe nach dessen Abreise am 13.12.1786. Zwei Tage zuvor hatte Karl Ludwig von Knebel, der nach Goethes Abreise zum diplomatischen Geheimsekretär des Herzogs avancierte, mit Bode lange über „Freimäurer“ konferiert. Vgl. Tagebuch Knebels, 1786, in: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 54/363. Goethe erhielt das Schreiben Anfang Januar in Rom und antwortete darauf mit enthusiastischen Bekundungen seiner Dankbarkeit und Dienstbereitschaft, vgl. Goethe an Carl August, 13./20.01.1787, in: WA, IV, 8, 136–138. Da Goethe den Gedanken an eine Exkursion nach Neapel und Sizilien in seinen Briefen erst diskutierte, als die sehnlich erwartete Kontaktaufnahme des Herzogs zu ihm erfolgt war – noch eine Woche zuvor hatte er an Charlotte von Stein geschrieben, daß er nicht nach Sizilien gehen wolle – kann vermutet werden, daß Carl August oder in dessen Auftrag Knebel ihm im Zusammenhang mit der Erlaubnis, die Dauer seines Italienaufenthalts nach eigenem Ermessen bestimmen zu dürfen, auch die Reise nach Sizilien nahe gelegt hat. In einem gleichzeitig abgesandten Brief an seinen Diener Seidel in Weimar bat Goethe diesen, Grüße an Bode zu bestellen. Eine Woche zuvor hatte er seinen Weimarer Freundeskreis in einem ostensiblen Schreiben ersucht, darüber zu befinden, ob er nach Sizilien gehen solle. Es ist also nahe liegend, daß auch Bode in diesen Meinungsbildungsprozeß einbezogen werden sollte. 103
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weilte Goethe bereits in Neapel. Hier besaß er in Filangieri, mit dem er ebenso wie Münter schon seit Jahren im Briefwechsel stand und den er mehrfach besuchte, sowie in dem einflußreichen britischen Botschafter Sir William Hamilton gute Informationskanäle zu Hof und Politik,107 die ihn über die aktuellen Schritte Cagliostros auf dem laufenden halten konnten. So dürfte er auch erfahren haben, daß Cagliostro London am 20. März 1787 verlassen und der Vizekönig von Sizilien dem Hof den Abgang von Vivonas Dossier über den Magier an die Pariser Behörden Mitte März notifiziert hatte. Es spricht viel für die Vermutung, daß Goethe den Entschluß zu seinen Recherchen über Cagliostro nicht erst, wie seine Italienische Reise suggeriert, spontan in Palermo, sondern bereits in Rom oder Neapel gefaßt hat,108 und daß es sich dabei um eine vorbereitete politische Aktion handelte. Am 29. März bestieg er nach langem Schwanken das Schiff nach Sizilien. Am 2. April in Palermo angekommen, wurde Goethe schon am Ostersonntag 1787 vom Vizekönig empfangen. D’Aquino behandelte den Dichter mit größter Zuvorkommenheit und plazierte ihn an der Tafel neben sich, so daß man Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch hatte. Der Vizekönig habe ihn, so teilt Goethe vielsagend mit, über das Anliegen seiner Reise befragt und Befehl erteilt, ihn alles sehen zu lassen, was er wünsche. Ausführlich schildert er auch die Begegnung mit einem alten Bekannten, dem Malteserritter Antonio Graf Statella, der ihm – zufällig? – vor dem Empfangssaal in den Weg getreten war. In der folgenden Woche suchte Goethe den Advokaten Vivona auf. Der gewährte ihm Einsicht in alle Unterlagen, und Goethe fertigte eine Kopie von Cagliostros Stammbaum an.109 Am 16. April suchte er erstmals die Balsamos auf, gab sich als Engländer aus, der mit dem berühmten Sohn der Familie gut bekannt sei, und gewann das Vertrauen dieser arglosen Leute.110 Als physiognomisch geschulter Beobachter glaubte er aus der Familienähnlichkeit ableiten zu können, daß Vivonas Angaben stimmten und Cagliostro tatsächlich Balsamo sein müsse. Damit konnte die Identität Cagliostros erstmals durch einen unabhängigen und prominenten Zeugen, dessen Ruf über jeden Zweifel erhaben schien, bestätigt werden. Zweifellos war dies für d’Aquino und die neapolitanischen Behörden das wichtigste Motiv gewesen, Goethes Recherchen jene Unterstützung Der Briefwechsel Goethes mit Filangieri ist nicht überliefert, da Goethe 1797 fast alle an ihn gerichteten Briefe verbrannte, während die Briefe an Filangieri durch Brand im Jahre 1799 vernichtet wurden. Vgl. Benedetto Croce, Volfango Goethe a Napoli, in: ders., Aneddoti die varia Letteratura, Bari 1954, 32 f. Zu Goethes Zusammentreffen mit Filangieri und Hamilton vgl. Italienische Reise, in: MA, Bd. 15, 215 ff. 108 So z.B. Norbert Miller, Der Wanderer. Goethe in Italien, München, Wien 2002, 261. 109 Vgl. Italienische Reise, in: MA, Bd. 15, 283 ff. 110 Vgl. ebd., 318 ff. 107
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zu gewähren, ohne die er als landfremder Inkognito-Reisender niemals an Vivona und dessen Unterlagen heran gekommen wäre. In den folgenden Wochen unternahm Goethe eine Rundreise durch Sizilien und kam am 14. Mai wieder in Neapel an. Ursprünglich hatte er auch noch Malta besuchen wollen, dann aber auf diese Exkursion verzichtet. Wahrscheinlich hatte er angesichts der Legenden, die Cagliostro über die besondere Rolle Maltas in seiner Biographie verbreitet hatte, zunächst angenommen, auch dort recherchieren zu müssen, was die Ergebnisse seiner palermitanischen Ermittlungen nun jedoch überflüssig erscheinen ließen. Am 1. Juni traf er in Neapel den preußischen Gesandten Lucchesini und ließ sich von ihm, wie ihm Carl August geraten hatte, ausführlich über die geheimen Aktivitäten des Herzogs zur Wahl Karl Theodor von Dalbergs zum Koadjutor von Mainz informieren. Damit war Goethe wieder voll in die ‘arcana imperii’ der weimarischen Politik integriert. Es ist deshalb anzunehmen, daß er auch seinerseits Lucchesini über die Ergebnisse seiner detektivischen Aktivitäten in Palermo informiert und so dafür gesorgt hat, daß diplomatische Kanäle die von ihm erlangte Gewißheit über die Richtigkeit der Balsamo-Theorie sofort in ganz Europa verbreiteten. Doch der preußische Diplomat war nicht der erste, der davon erfuhr. Noch ehe Lucchesini in Neapel ankam, war die Nachricht bereits in Weimar. Goethe, dessen Korrespondenz überwacht wurde, hatte sie nicht auf dem Postweg, sondern durch einen persönlichen Botschafter übermitteln lassen, den Malteser Statella. Dieser tauchte Ende Mai 1787 überraschend bei Charlotte von Stein in Weimar auf und überbrachte ihr Grüße Goethes. Daß er auch eine Nachricht von Goethe zu übermitteln hatte, wissen wir nur aus einem Brief Charlottes an ihre Freundin Charlotte von Lengefeld in Rudolstadt, die spätere Gattin Schillers. Erstaunt berichtete sie darin über Statellas Besuch und fuhr fort: „Goethe hat des Cagliostro Mutter und Schwester kennen lernen, eine ehrbare arme Familie. Sagen Sie doch dem Beulwitz, daß er eine gewisse Schrift zu bekommen suche, welche ein sicilianischer Rechtsgelehrter geschrieben hat, und die zum Titel den Stammbaum des Josephs Balsamo hat. Goethe hat mir’s empfohlen, und es hat vermuthlich Beziehung auf Cagliostro und soll interessant sein. In Paris ist es gedruckt worden.“111
Charlotte von Stein wußte offensichtlich nicht, wer mit dem im Titel genannten Balsamo gemeint war, denn sie vermutete lediglich, daß die Schrift etwas mit Cagliostro zu tun habe, und Goethe hatte zunächst geglaubt, daß man Vivonas Mémoire in Paris publizieren würde, was jedoch nicht erfolgte.112 Dennoch war Charlotte von Stein an Charlotte von Lengefeld, 01.06.1787, in: Ludwig Urlichs (Hg.), Charlotte von Schiller an ihre Freunde, Bd. 2, Stuttgart 1862, 259. 112 Goethe nutzte dieses Argument 1792 als Begründung dafür, daß er den Bericht über seinen Besuch bei Cagliostros Familie in Palermo bis dahin geheim gehalten hatte. Vgl. MA, Bd. 4.2, 111
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die Information hinreichend; es war nun klar, daß Goethe die von Cagliostro so vehement bestrittene Balsamo-Theorie bestätigte. Da Bode bereits auf dem Weg nach Paris war, adressierte Goethe die Nachricht an Beulwitz, der mit Bode und den Pariser Philaleten in Verbindung stand.113 Goethe muß also trotz seiner räumlichen Entfernung über Kommunikationswege und Aktivitäten der thüringischen Illuminaten informiert gewesen sein. Daß auch der Weimarer Hof und Herzog Carl August seine Botschaft erfuhren, darf als selbstverständlich angenommen werden.114 Möglicherweise war die Sache mit Münter abgesprochen, denn dieser wartete bereits auf Neuigkeiten von Goethe. Nach seinem Aufenthalt in der Schweiz, wo er Cagliostros Anreise beobachtet und Bode über dessen neuen Aufenthaltsort informiert hatte, war Münter sofort nach Jena und Weimar gereist und hatte sich nur wenige Tage vor Statellas überraschendem Auftauchen dort aufgehalten. Hier konferierte er ausführlich mit Carl August, Herder, Wieland, Reinhold und Hufeland. Man sprach über ‘Ordensangelegenheiten’, Geheimbünde, Lavater, Goethe und Italien, und Münter wurde Mitarbeiter der Allgemeinen Literatur-Zeitung.115 Doch weder diese Gespräche noch ein mehrstündiger Spaziergang mit Charlotte von Stein brachten Münter die erhoffte Nachricht von Goethe; sie erreichte ihn aber dann zweifellos in Gotha, wo er bis Anfang Juni blieb. Goethes Beitrag zur Kampagne gegen Cagliostro war keineswegs von geringer Bedeutung, obwohl er den Bericht über seine palermitanischen Recherchen zunächst nicht publizierte. Die sowohl von Zeitgenossen wie Lavater als auch von späteren Autoren angezweifelte,116 nach den Maßstäben der zeitgenössischen Forensik jedoch als sicher anzusehende Identität Cagliostros mit 456, MA, Bd. 15, 317, sowie den Bericht über die Versammlung der Weimarer Freitagsgesellschaft am 23.03.1792, in: Karl August Böttiger, Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar, hg. von Klaus Gerlach, René Sternke, Berlin 21998, 57 ff. 113 Vgl. Bode, Journal (wie Anm. 85), 180 und Fußnote 491. 114 Daß auch die Herzogin Anna Amalia an den Aktivitäten der Illuminaten höchst interessiert war, zeigt Bodes Schilderung, wie er auf der Rückreise von Paris bereits in Erfurt von Anna Amalia und deren Bruder, dem Rosenkreuzer Prinz Friedrich August von Braunschweig-Öls, abgefangen wurde, um Bericht zu erstatten. Vgl. Bode, Journal (wie Anm. 85), 359 und Fußnote 953. 115 Vgl. Andreasen, Münter (wie Anm. 48), 396 ff. 116 Vgl. Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 8 und 177. In der späteren Literatur über Cagliostro wurde Goethes Rechercheergebnis teilweise vehement angezweifelt, vor allem von Marc Haven [d.i. Emmanuel Lalande], Le Maitre inconnu, Cagliostro – Étude historique et critique sur la haute Magie, Paris o. J. [1912], 273; im Anschluß daran Ribadeau Dumas, Cagliostro (wie Anm. 77), 236 ff., 278; und neuerdings Rosenstrauch-Königsberg, Cagliostro und Wien (wie Anm. 98), 153. In der Goethe-Forschung hingegen wird die Identität Cagliostros mit Giuseppe Balsamo als gesicherte Tatsache angesehen. Vgl. Klaus H. Kiefer, Joseph Balsamo, in: Goethe Handbuch 4/1, 96– 98.
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dem sizilianischen Kleinkriminellen Giuseppe Balsamo erhärtete nicht nur die Rechtfertigungsgründe der französischen Regierung für dessen Ausweisung. Sie nahm dem Magier auch nahezu jede Chance, mit seiner ‘ägyptischen Maurerei’ künftig noch in einem europäischen Land geduldet zu werden. Selbst an seinem Zufluchtsort in der Schweiz vermochte er sich kaum ein Jahr zu halten. So ging er schließlich nach Rom, wo er – vielleicht als „Doppelagent“ der Kurie117 – erneut eine „ägyptische Loge“ errichtete. Als Cagliostro jedoch nach der revolutionären Wende vom Sommer 1789 versuchte, an seine frühere Publizität anzuknüpfen und nach Frankreich zurückzukehren, schlug die päpstliche Inquisition zu. Nach seiner Verhaftung am 27. Dezember 1789, dem Stiftungstag der „ägyptischen Loge“, teilte Cagliostro nun auch das Schicksal Johnssens, bis an sein Lebensende eingekerkert zu werden, und starb 1795 in San Leo als ‘letztes Opfer der päpstlichen Inquisition’. Die Cagliostro-Legende aber besaß längst eine Eigendynamik. Der Prozeß, das Urteil und das spektakuläre Autodafé über das Inventar der „ägyptischen Loge“ am 8. Juni 1791 sorgten für eine neue Welle der Cagliostromanie. Noch zu Lebzeiten setzten die Wiener Freimaurer Schikaneder und Mozart dem Magier mit der 1791 uraufgeführten Oper Die Zauberflöte ein Denkmal.118 Als im ewigen Kampf mit der „Königin der Nacht“ liegender Priester der altägyptischen Gottheiten Isis und Osiris lebt er seither als Inbegriff alles Guten und Edlen im kulturellen Gedächtnis der Menschheit. Goethe reagierte auf diese Herausforderung sofort. Im Dezember 1791 brachte er an dem soeben gegründeten Weimarer Hoftheater seine Komödie Der Groß-Cophta auf die Bretter.119 Mozarts Lichtgestalt des „Sarastro“ setzte er die Figur des „Conte di Rostro“ entgegen, die Cagliostro als schamlosen Scharlatan zeichnet. Gleichzeitig brachte er die Geschichte seines Besuchs bei Cagliostros Familie in Palermo an die Öffentlichkeit, „damit über diesen Nichtswürdigen gar kein Zweifel übrig bleibe“.120 Der Kampf der Cagliostro-Legenden zieht sich seither durch eine inzwischen kaum noch zu überblickende Literatur.121 So die These von Freller, Cagliostro (wie Anm. 14), 142 ff. Vgl. Rosenstrauch-Königsberg, Cagliostro und Wien (wie Anm. 98), 143 ff. 119 Johann Wolfgang Goethe, Der Gross-Kophta, in: MA, Bd. 4.1, 9–93. 120 Goethe an Friedrich Heinrich Jacobi, 01.06.1791, in: WA, IV, 9, 270. Vgl. auch Johann Wolfgang Goethe, Des Joseph Balsamo, genannt Cagliostro, Stammbaum. Mit einigen Nachrichten von seiner in Palermo noch lebenden Familie, in: MA, Bd. 4.2, 451–468; parallel dazu [Johann Joachim Bode], Ist Cagliostro Chef der Illuminaten? Oder, das Buch: Sur la secte des Illuminés in Deutsch, Gotha 1790. 121 Einen instruktiven Gesamtüberblick liefert der Protokollband des Internationalen CagliostroKongresses, der 1991 in San Leo stattfand. Vgl. Gallingani, Presenza di Cagliostro (wie Anm. 64), vgl. ferner die Bibliographien: Hugo Hayn, Vier neue Curiositäten-Bibliographien, Jena 1905, und Agostino Lattanzi, Bibliografia della Massoneria Italiana e di Cagliostro, Florenz 1974. 117 118
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Mancher Zeitgenosse hatte geglaubt, Cagliostro sei der wieder auferstandene Graf St. Germain, und die Angst vor mysteriösen Machenschaften nicht identifizierbarer ‘Magier’ nahm auch nach Cagliostros ‘Entlarvung’ nicht ab. Das war auch im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach nicht anders. So wirkungsvoll auch die aufgeklärte Propaganda von Schiller, Herder, Bode, Wieland und Goethe gegen Cagliostro, Esoterik, Geheimbünde (an denen die meisten von ihnen selbst beteiligt waren) und Geisterseherei gewesen sein mochte, so reagierte die politische Führung des Herzogtums doch weiterhin auf alles, was in dieser Hinsicht geschah, äußerst sensibel. 1793, fast 20 Jahre nach seinem Tod, sah sie sich sogar von Johnssen wieder in Aufregung versetzt. Ein Eisenacher Bürger hatte ein Exemplar von Johnssens Verteidigungsschrift an den kursächsischen Hof nach Dresden geschickt und damit die Weimarer Führung denunziert, schon seit Jahrzehnten mit jenen Kräften zu konspirieren, die eine hysterische Propaganda jetzt für die französische Revolution verantwortlich machte. Immerhin hatte Johnssen schon in den 1770er Jahren eine vermeintlich weltweite Tempelherren-Verschwörung angeprangert und behauptet, die mit den Jesuiten verquickte Strikte Observanz gefährde alle „Puissancen“ Europas.122 Kopien dieser Schriften kursierten nicht nur in Eisenach,123 auch wenn man annehmen darf, daß hinter der Aktion die konservative Gruppe um den gegenrevolutionären Pamphletisten Göchhausen und den Eisenacher Generalsuperintendenten Schneider stand, denen insbesondere das Wirken so aufrührerischer Geister wie dem Juristen Gottlieb Hufeland, dem Theologen Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, Fichte und dem von Grolman in Gießen verfolgten Theologen Carl Christian Erhard Schmid an der Jenaer Universität ein Dorn im Auge war.124 Nach Cagliostro nun noch Johnssen redivivus – ein Alptraum für die Weimarer Führung und ihre universitäre ‘Freihafen’-Politik. Es gelang wohl, den Verdacht des Dresdner Hofes, der eine Anfrage nach
Vgl. Pro memoria (wie Anm. 10) Bl. 30; vgl. auch „Extract“ dieses Schreibens ThHStAW, F 1452, Bl. 186–190; [Friedrich Ludwig Schröder,] Materialien (wie Anm. 46), 288–306. 123 Die Überlieferungsgeschichte ist ungeklärt. Es gibt verschiedene Hinweise, so in GStAPK, Freimaurer, 5.1.4., Große Nationalmutterloge „Zu den drei Weltkugeln“, Berlin, Nr. 4076, Bl. 1– 18v; vgl. auch W. Daniel Wilson, Unterirdische Gänge. Goethe, Freimaurerei und Politik, Göttingen 1999, 33. 124 Da Göchhausen mit der Untersuchung des Falles beauftragt war, kamen derartige Hintergründe natürlich nicht offiziell zur Sprache. Schon im Herbst 1792 waren jedoch aufgrund anonymer Denunziationen Beschwerden des Dresdner Hofes über die Vorlesungen Gottlieb Hufelands zur französischen Verfassung eingegangen. Vgl. dazu sowie zu den Berufungen Schmids und Fichtes W. Daniel Wilson, Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar, München 1999, 228 ff. Obwohl Wilson sich sehr intensiv mit der Geheimbundproblematik beschäftigt hat, verkennt er die Intensität des politischen Drucks, dem die Weimarer Führung ausgesetzt war, weitgehend. 122
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Weimar gerichtet und Aufklärung verlangt hatte, zu zerstreuen – der lange Schatten der freimaurerischen ‘Hochstapler’ aber blieb.125 Der Beitrag widmet sich dem Phänomen der freimaurerischen Hochstapler im Spannungsfeld zwischen arkaner und regulärer Politikebene in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Im Unterschied zu der Tendenz der masonischen Historiographie, die Hochstapler als skurrile Randerscheinung in der freimaurerischen Bewegung zu betrachten, verweisen die Autoren auf die entscheidende Rolle, die solchen Persönlichkeiten in den Formierungs- und Umbruchphasen der Freimaurerei zukam. Sie vertreten die These, daß die vielfach von Hochstaplern initiierten Formierungsprozesse personelle Konstellationen schufen, die Beziehungs- und Kommunikationsnetzwerke von Teilen der politischen Eliten präfigurierten. So führte die von den Hochstaplern ausgehende esoterische Expansion zu politischen Verwicklungen mit teilweise enormen historischen Wirkungen. Anhand zweier Fallbeispiele, dem vor allem im mitteldeutschen Raum wirkenden Georg Friedrich von Johnssen, der eine maßgebliche Rolle bei der Gründung der Strikten Observanz auf dem Freimaurerkonvent von Altenberga 1764 spielte, und dem bekannten Wunderheiler und Begründer des „ägyptischen Ritus“ in der Freimaurerei, Giuseppe Balsamo alias Cagliostro, wird versucht, diese Zusammenhänge historiographisch zu konkretisieren.
This article deals with the phenomenon of masonic “impostors” and scrutinises their conduct as well as their attitude at the interface of the secret and the regular political level in the second half of the eighteenth-century. Different to the tendency found in the masonic historiography, where “impostors” are regarded as a grotesque marginal phenomenon within this tradition, the authors of the present text point out the significant role of these people in the formation and the deep-rooted change of freemasonry. They take the view that the various processes of formation, often initiated by such “impostors”, used to result in new personal constellations which indicated future networks of relationships and ways of communicating between parts of the political elite. The esoteric expansion, for example, initiated by the “impostors”, caused political complications with partly huge historical effects. Focussing on two individual cases – on the one of Georg Friedrich von Johnssen, who operated predominantly in the Midgerman region and played an important role in the foundation of the Strikte Observanz at the masonic meeting in Altenberga in 1764, and on the case of Giuseppe Balsamo, alias Cagliostro, the famous medic and founder of the “Egyptian Rite“ within the masonic tradition – the authors intend to concretize and work out the outlined correlations historiographically.
Vgl. die Polemik gegen das an Johnssen verübte Justizverbrechen bei [Friedrich Ludwig Schröder], Materialien (wie Anm. 46), 75 f. 125
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Dr. Joachim Bauer, Friedrich-Schiller-Universität Jena, ThULB/Universitätsarchiv, 07740 Jena, E-Mail: [email protected] Dr. Gerhard Müller, SFB 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“, FriedrichSchiller-Universität Jena, Humboldtstraße 34, 07743 Jena, E-Mail: [email protected]
R EN K O G EF FARTH Geheimrat und Rosenkreuzer Geheimbundmitglieder in der kursächsischen Regierung und Verwaltung 1780–1794
Am 10. Mai des Jahres 1784 erhielt der kursächsische Geheime Rat Friedrich Ludwig von Wurmb, im bürgerlichen Leben Conferenz-Minister und Mitglied des Geheimen Consiliums in Dresden,1 ein Zertifikat, das den „hochehrwürdigen Bruder Colurus Veridicus von allem Directions-Verbande, Conventionen und practischen Arbeiten“ ‘eximirte’, ihn also von jeglicher Teilhabe daran ausschloß. Zugleich wurde besagtem Bruder zugesichert, daß er wieder zur Teilnahme zugelassen werden könne, sollte er jemals „aus reinem Geistestriebe, und wahrer Überzeugung“ darum nachsuchen. Das Zertifikat war unterzeichnet und gesiegelt von einem „Vice-Generalats Vorsteher“ des Geheimbunds der Gold- und Rosenkreuzer unter dem Decknamen Degos, der nach eigener Angabe im Auftrage „eines hohen Generalats“ handelte, sich also auf die höchsten Stellen dieser geheimen Gesellschaft berief.2 Was war geschehen? Was hatte ein kursächsischer Minister mit dem Orden der Gold- und Rosenkreuzer zu tun, und wie kam er zu einem derartigen Zertifikat? Dieser Geheimbund bestand seit Mitte der 1760er Jahre, war im Zuge der Herausbildung von ‘Hochgradsystemen’ der Freimaurerei in den deutschsprachigen Ländern entstanden und besonders für seine intensive Beschäfti1 Friedrich Ludwig von Wurmb, 1723–18.1.1800, 1748 Hof- und Justizienrat, 1762 Geheimrat, 1764 Direktor der Landes-Ökonomie-Manufaktur- und Kommerzien-Deputation, 1769 wirklicher Geheimer Rat und Konferenzminister mit Sitz und Stimme im Geheimen Consilium in Dresden. Angaben aus: Simone Lässig, Wie aufgeklärt war das Rétablissement? Religiöse Toleranz als Gradmesser, in: Uwe Schirmer (Hg.), Sachsen 1763–1832. Zwischen Rétablissement und bürgerlichen Reformen, Beucha 22000, 40–76, hier 57, Anm. 2. 2 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (im folgenden: GStA PK), Freimaurerlogen und freimaurerähnliche Vereinigungen (im folgenden: FM), 5.2 D 34 Johannisloge „Zum Goldenen Apfel“, Dresden (im folgenden: 5.2 D 34), Nr. 1714: Der Obere Vice Generalats Vorsteher eximiert den Hw. Br. Colurus Veridicus von allen Arbeiten, 10.5.1784.
Aufklärung 15 · © Felix Meiner Verlag 2003 · ISSN 0178-7128
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gung mit der Alchemie bekannt.3 In der kursächsischen Residenzstadt Dresden war der Orden seit dem Jahre 1781 mit einer Loge – in dieser Gesellschaft ‘Zirkel’ genannt – vertreten, an deren Versammlungen Wurmb seit demselben Jahr teilnahm. Er war von dem ursprünglich in Leipzig ansässigen Kaufmann François Du Bosc (geb. 1722), nunmehr Direktor des Dresdener Rosenkreuzerzirkels, unter dem Ordensnamen Colurus Veridicus in den Geheimbund aufgenommen worden und suchte nun darin nach den „geheimen Wissenschaften“, die ihm nach eigener Aussage während seiner bis dato bereits langjährigen und wechselhaften Karriere in freimaurerischen Gesellschaften versagt geblieben waren.4 Besagter Du Bosc wiederum war seit langem mit Wurmb bekannt, hatten beide doch zu den Förderern des Leipziger Kaffeehauswirtes und Geisterbeschwörers Johann Georg Schrepfer gehört, der einige Jahre zuvor die deutschsprachige freimaurerische Szenerie in Unruhe versetzt hatte.5 Nach seiner Aufnahme Anfang 1780 war Wurmb zunächst ein ebenso eifriger wie wißbegieriger ‘Bruder’, der rasch die ersten sieben von insgesamt neun Graden des Ordens und daneben das nach dem Direktor zweithöchste Amt im Zirkel mit
Vgl. etwa Joseph Aloisius Maier [d.i. Adolf Freiherr Knigge], Über Jesuiten, Freymaurer und deutsche Rosencreutzer, Leipzig 1781, einführend zu den Gold- und Rosenkreuzern: Arnold Marx, Die Gold- und Rosenkreuzer. Ein Mysterienbund des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Das Freimauer-Museum 5 (1930), 1–168. 4 Friedrich Ludwig von Wurmb, Cours de Maçonnerie, in: GStA PK, FM, 5.2 G 39 Johannisloge „Ernst zum Kompaß“, Gotha, Nr. 99/66: Abschrift eines Aufsatzes, der sich unter dem Titel Cours de Maçonnerie zu Anfange des Jahres 1800 unter dem Nachlaße des am 18ten Jan. 1800 zu Dresden verstorbenen Herrn Kabinets=Ministers Friedrich Ludwig Wurmb aufgefunden hat, und deßen Original sich, ohne die darinn angezogenen Beilagen, welche insgesamt bei dieser Abschrift geblieben sind, in den Händen seines Sohnes, des Herrn Stifts=Kammer Rath und Domherren Wurmb von Zinck befindet, 1–60, hier 42 ff. Die Aufnahme fand Anfang des Jahres 1780 statt; die dabei unterzeichnete „Verpflichtungserklärung“ Wurmbs datiert vom 6. Januar 1780: GStA PK, FM, 5.2 D 34 Nr. 1708: Friedrich Ludwig von Wurmb. 5 Eine detaillierte Schilderung dieser Vorgänge bei Wurmb, Cours (wie Anm. 4), 5–19, zu Johann Georg Schrepfer vgl. auch René Le Forestier, Die templerische und okkultistische Freimaurerei im 18. und 19. Jahrhundert, hg. von Antoine Faivre, deutsche Ausgabe hg. von Alain Durocher, 4 Bde, Leimen 1987, Bd. 1, 292–295; sowie Karl R.H. Frick, Die Erleuchteten, Teil 1: Gnostisch-theosophische und alchemistisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Neuzeit, Graz 1973, 448–454. Der von Frick in der Überschrift dieses Abschnitts behauptete „Einfluß des Abenteurers und Scharlatans Johann Georg Schrepfer (1739–1774) auf den Orden der Gold- und Rosenkreuzer“ (448) ist allerdings zweifelhaft, wie schon das Sterbejahr 1774 erkennen läßt: Der Orden trat in Mitteldeutschland erst 1777 in Erscheinung. Vgl. dazu Renko Geffarth, Zirkel, Brüder, Unbekannte Obere. Zur inneren Struktur des Gold- und Rosenkreuzerordens in Mittel- und Norddeutschland, in: Holger Zaunstöck, Markus Meumann (Hg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 21), 159–175, hier 161 f. 3
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dem Titel ‘Senior’ erhielt.6 Zugleich geriet er jedoch in Konflikt mit seinem Ordensvorgesetzten, dem er allzu ungeduldig und vor allem kritisch erschien: Nicht einmal drei Jahre nach Wurmbs Eintritt in den Geheimbund sah sich sein Zirkeldirektor Du Bosc dazu veranlaßt, den übrigen Brüdern „alle Ons Communication einstweilen mit ihm“ zu verbieten und der Ordensleitung dessen ‘ordenswidriges’ Verhalten anzuzeigen.7 Nach längeren Auseinandersetzungen zwischen dem Beschuldigten und den höchsten Oberen der Gold- und Rosenkreuzer waren letztere schließlich dazu bereit, das als Privileg geltende ‘Eximirungszertifikat’ auszustellen und Wurmb so mit der eigentlich üblichen Androhung von Strafen und Flüchen zu verschonen.8 Daß dabei die Prominenz und der Einfluß Wurmbs in Freimaurerkreisen wie im bürgerlichen Leben eine Rolle spielten, kann hier nur vermutet werden; angesichts der Seltenheit solcher Vorgänge bei den Gold- und Rosenkreuzern besitzt diese Erklärung aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit.9 Der Geheimrat und Minister Friedrich Ludwig von Wurmb stellt also ein besonders herausragendes Beispiel dar für die Verbindungen zwischen Politik und Geheimbünden im achtzehnten Jahrhundert über Einzelpersonen und personelle Netzwerke. Die vorliegende Fallstudie widmet sich von seinem Beispiel ausgehend einem größeren Personenkreis, der in der kursächsischen Regierung und Verwaltung der 1780er und frühen 1790er Jahre teilweise einflußreiche Positionen besetzte und zugleich den personellen Kern des Dresdener Rosenkreuzerzirkels sowie einer weiteren rosenkreuzerisch kontrollierten geheimen Dresdener Loge bildete – und dies zumeist mit größerer Kontinuität als Wurmb, der schon zu Beginn des betrachteten Zeitraums aus diesen Nach der Mitgliederliste des Dresdener Zirkels vom 21.12.1782 war Wurmb zu diesem Zeitpunkt Inhaber des Grades eines „Adeptus exemptus“, des siebten Grades der Gold- und Rosenkreuzer, und außerdem ‘Senior’: GStA PK, FM, 5.2 D 34 Nr. 1710: „Characteres“ aus dem Soc’schen [Franz du Bosc] Kreise 1783 ff., Liste vom 21.12.1782. 7 So die Eintragung unter der Rubrik ‘Bemerkungen’ in der genannten Mitgliederliste (wie Anm. 6). Die Abkürzung „Ons“ steht für „Ordens-“ (R.G.). 8 Strafdrohungen waren in den Statuten vorgesehen, vgl. Commentarius über verschiedene Ordens=Wahrheiten zum Gebrauch der würdigen Bbr. {. Directoren. 1781, Cap. II §5, in: [Johann Joachim Christoph Bode:] Starke Erweise aus den eigenen Schriften Des Hochheiligen Ordens Gold- und Rosenkreutzer, Rom 5555 [Leipzig 1788]. Zitiert wird nach dem anhand einer Manuskriptversion verifizierten Wiederabdruck in: Schriften der Gold- und Rosenkreuzer, hg. vom H. Frietsch-Verlag, Sinzheim 1999, 92–202, hier 142. 9 Nach eigener Darstellung war Wurmb unter anderem maßgeblich an der Ernennung des schwedischen Herzogs Karl von Södermanland zum ‘Heermeister’ des freimaurerischen Hochgradsystems der Strikten Observanz beteiligt: Wurmb, Cours (wie Anm. 4), 30–35. Zu Karl von Södermanland vgl. auch den Aufsatz von Monika Neugebauer-Wölk, Arkanwelten im 18. Jahrhundert. Zur Struktur des Politischen im Kontext von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit, im vorliegenden Band, 45–49. 6
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Zusammenhängen ausschied. Dabei soll für ausgewählte Mitglieder des Zirkels untersucht werden, wie sich ihre beruflichen Laufbahnen während der etwa zehnjährigen Lebensdauer des Zirkels entwickelten und welche ‘Karrieren’ sie zur gleichen Zeit im Geheimbund der Gold- und Rosenkreuzer machten. Ergebnis ist eine Prosopographie des Dresdener Rosenkreuzerzirkels, auf deren Grundlage in einem Ausblick versucht werden soll, Zusammenhänge und Parallelen zwischen beiden Entwicklungen aufzuzeigen. Die Studie stützt sich auf Mitgliederlisten, Versammlungsprotokolle und Korrespondenzen aus der Überlieferung des Dresdener Rosenkreuzerzirkels, auf biographische Handbücher sowie die Hof- und Staatscalender des Kurfürstentums Sachsen aus den einschlägigen Jahren.
I. Rekruten der Gold- und Rosenkreuzer: Die ‘Theoretischen Brüder’ Eine Betrachtung über das Engagement bestimmter Personen im Gold- und Rosenkreuzerorden muß in Rechnung stellen, daß zwischen diesem und der Freimaurerei Zusammenhänge bestanden, die hier kurz erläutert werden sollen: Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß die Mehrzahl derjenigen Personen, die Mitglied in einem Gold- und Rosenkreuzerzirkel waren, zugleich auch einer der örtlichen Freimaurerlogen angehörte, denn für eine Aufnahme bei den Gold- und Rosenkreuzern war es formal Voraussetzung, Inhaber des Meistergrades der Freimaurerei zu sein.10 Notfalls reichte allerdings auch die Erteilung dieses Grades durch einen Rosenkreuzer aus, und tatsächlich konnten für drei Mitglieder des Dresdener Gold- und Rosenkreuzerzirkels bisher keine parallelen oder vorhergehenden Mitgliedschaften in ortsansässigen Freimaurerlogen ermittelt werden; ihre arkangesellschaftlichen Aktivitäten beschränkten sich also wohl auf den Geheimbund der Gold- und Rosenkreuzer.11 Grundsätzlich bestand zwischen den Freimaurerlogen und den Rosenkreuzerzirkeln keine
In einer bei der Aufnahme zu unterzeichnenden ‘Verpflichtung’ hieß es: „Imo Soll und muß jeder Candidat entweder schon Freymäurer seyn, oder sich noch ehevor aufnehmen lassen, und in dem königl. Orden zum Meister des Scheins vom Licht [Meister der Freimaurerei, R.G.] geworden seyn […]“. Zitiert nach GStA PK, FM, 5.2 D 34 Nr. 1701: Verpflichtungen verschiedener Mitglieder 1778–1780, Verpflichtung des Johann Georg Bormann vom 19.9.1778. 11 Für diesen Hinweis gilt der besondere Dank des Autors Frau Hannelore Knöfler vom Geheimen Staatsarchiv PK in Berlin, die anhand der Mitgliederlisten der Dresdener Freimaurerlogen aus den einschlägigen Jahren für die Zirkelmitglieder Heinrich Friedrich Carl Brand von Lindau, August Gottlieb Freiherr von Gärtner sowie Wolf Carl Heinrich von Gössnitz keine freimaurerischen Mitgliedschaften ermitteln konnte (persönliche Mitteilung vom 31.03.2003). Zu diesen Personen vgl. die Ausführungen weiter unten im vorliegenden Aufsatz. 10
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organisatorische Verbindung – es waren zwei voneinander getrennte arkane Sozietäten. Im Falle Dresdens ist es aber besonders aufschlußreich, zunächst eine dort gewissermaßen zwischen den Stühlen sitzende Loge heranzuziehen: Dies waren die „Theoretischen Brüder der Salomonischen Wissenschaft“,12 die dem Gold- und Rosenkreuzerorden als Vorstufe dienten, mit deren Hilfe geeignete Kandidaten aus der ‘einfachen’ Freimaurerei ausgewählt und anschließend für den Gold- und Rosenkreuzerorden vorgeschlagen wurden.13 Zwar war diese Vorauswahl die eigentliche Aufgabe der „Theoretischen Brüder“, es wurden aber auch Mitglieder des Rosenkreuzerzirkels noch nach ihrer rosenkreuzerischen Initiation bei den „Theoretischen Brüdern“ aufgenommen, so etwa der uns bereits bekannte Friedrich Ludwig von Wurmb.14 Außerdem fanden Personen Aufnahme, die zuvor keine Freimaurer gewesen waren, so beispielsweise der Hof- und Justizienrat August Gottlieb von Gärtner;15 in solchen Fällen diente die Teilnahme an den Sitzungen der „Theoretischen Brüder“ wohl als Ausgleich mangelnder masonischer Erfahrungen. Die „Theoretischen Brüder“ gehörten damit weder unmittelbar zur Freimaurerei noch zu den Gold- und Rosenkreuzern, sondern waren eine lediglich rosenkreuzerisch kontrollierte Sozietät. Die Dresdener Loge existierte seit 1781,16 und in ihr versammelten sich weitaus mehr Männer als im Rosenkreuzerzirkel des François Du Bosc, was auch darin begründet lag, daß die Anzahl permanenter Mitglieder des Zirkels
Dieser Hochgrad wurde auch als fünfter Grad der sogenannten ‘Schottischen Maurerei’ bezeichnet, von dem deren Führung jedoch keine Kenntnis erhalten durfte; dies geht hervor aus einer Anweisung der vom Berliner ‘Oberhauptdirektor’ der Gold- und Rosenkreuzer geleiteten Berliner Freimaurerloge „Friedrich zum goldenen Löwen“ vom 7.4.1780: GStA PK, FM, 5.2 F 28 Johannisloge „Zum aufrichtigen Herzen“, Frankfurt an der Oder, Nr. 203: Die Stiftung eines 5. Grades 1780. Publicandum und Regulativ für sämtliche Logen. 13 Die Etablierung dieses Grades in Dresden ist in einem Briefwechsel Du Boscs mit seinem Vorgesetzten dokumentiert: GStA PK, FM, 5.2 D 34 Nr. 1694: Antworten No. 2, Brief vom 2.4.1781. 14 Wurmb nahm ab 1781, also seit der Gründung, an den Versammlungen der „Theoretischen Brüder“ teil, obwohl er bereits seit 1780 Mitglied des Rosenkreuzerzirkels war. Vgl. GStA PK, FM, 5.2 D 34 Nr. 1685: Rosenkreuzerische Schriften Salom. Grad., passim. 15 Rosenkreuzerische Schriften (wie Anm. 14), Protokoll vom 27.12.1781. 16 Die Existenz dieser Loge ist bekannt durch ihre bis 1784 reichenden Sitzungsprotokolle in: Rosenkreuzerische Schriften (wie Anm. 14). Da hier keine Mitgliederlisten überliefert sind, sind von dieser Seite keine biographischen Angaben zu ermitteln. Nicht zu verwechseln sind die „Theoretischen Brüder der Salomonischen Wissenschaft“ mit dem zweiten Grad der Gold- und Rosenkreuzer, den ‘Theoretici’; vgl. das Gradsystem in GStA PK, FM, 5.2 D 34 Nr. 1759: HauptPlan für das gegenwärtige Decennium. Nach Übereinstimmung der Brüder des Goldnen Rosen Kreuzes bei der gewöhnlichen Ordens Reformation errichtet im Jahr des Herrn 1777. Eine Transkription ist abgedruckt bei Frick, Die Erleuchteten (wie Anm. 5), nach 368. 12
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neun nicht überschreiten durfte, wohingegen diese Beschränkung für die „Theoretischen Brüder“ offensichtlich nicht galt.17 Du Bosc war an der Errichtung dieser Loge maßgeblich beteiligt gewesen, hatte die leitende Funktion des ‘Obervorstehers’ dann jedoch an den Sekretär seines Rosenkreuzerzirkels, Carl Friedrich von Seydewitz (geb. 1747), übertragen.18 Unter dessen Aufsicht trafen sich neben der Mehrzahl der im nächsten Abschnitt näher vorzustellenden Mitglieder des Rosenkreuzerzirkels weitere Männer, deren Namen im Churfürstlichen Sächsischen Hof- und Staatscalender nachzuweisen sind, die also der kursächsischen Regierung oder Verwaltung angehörten. So finden sich etwa zwei Personen, deren Name unspezifisch mit „von Hopfgarten“, teilweise auch mit „v. Hopfgarten sen. und jun.“ angegeben wird und von denen vermutet werden kann, daß sie verwandt waren mit dem Kriegsrat Johann Ernst gleichen Namens, Mitglied des Rosenkreuzerzirkels. Außerdem erscheint ein „Ober-Forster u. Kammerj. v. Hopfg. zu Colditz“, und ein Kammerjunker dieses Namens ist tatsächlich im Hof- und Staatscalender nachweisbar.19 Die Familie Hopfgarten war offensichtlich sowohl in dieser Loge als auch in der kursächsischen Administration gleich mehrfach engagiert:20 Der spätere Kabinettsminister21 Georg Wilhelm von Hopfgarten stieg bis 1785 zum Kanzler der Landesregierung auf, während ein Christian Friedrich von Hopfgarten Kammerherr, „Titular-geheimer“ Kriegsrat sowie Obersteuereinnehmer „gesammter Landschaft wegen“ war – daneben finden sich noch der Sohn des letzteren, der Appellationsrat Ludwig Ferdinand von Hopfgarten, sowie ein Kammerherr und Oberforstmeister Friedrich Wilhelm von Hopfgarten, und da nur von zwei in der Loge tätigen Hopfgarten die genaue Identität bekannt ist, bleibt für den dritten die Wahl zwischen vier möglichen Identitäten, deren einflußreichste Position die des Kanzlers der Landesregierung gewesen wäre.22 Die Zahl neun war in den Statuten der Gold- und Rosenkreuzer festgelegt: Commentarius (wie Anm. 8) Cap. II § 1, 176. Die Einhaltung geht aus der Tatsache hervor, daß in keiner Mitgliederliste des Dresdener Zirkels gleichzeitig mehr als neun Personen erscheinen: Characteres (wie Anm. 6), passim. Bei Sitzungen der „Theoretischen Brüder“ waren bis zu 16 Personen anwesend: Rosenkreuzerische Schriften (wie Anm. 14), Protokoll vom 4.7.1783. 18 Rosenkreuzerische Schriften (wie Anm. 14), Protokoll vom 27.12.1781. 19 Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1778–1794. 20 Die Familie Hopfgarten steht nicht im Fokus der Forschungen zum sächsischen Adel in der Frühen Neuzeit; vgl. zuletzt Katrin Keller, Josef Matzerath (Hg.), Geschichte des sächsischen Adels, Köln, Weimar, Wien 1997. 21 Georg Wilhelm von Hopfgarten (1740–1813) war ab 1804 in diesem Rang für „die innere Verwaltung“ zuständig: Reiner Groß, Geschichte Sachsens, Berlin 2001, 182. 22 Rosenkreuzerische Schriften (wie Anm. 14), passim; Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1778–1794. Der Kanzler von Hopfgarten war zunächst unmittelbarer Vorgesetzter des späteren Kanzlers von Burgsdorff, ebenfalls Mitglied der Loge und des Rosen17
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Die Aufzählung der Dresdener „Theoretischen Brüder“ in staatlichen Funktionen läßt sich fortsetzen mit dem Generalmajor und Oberzeugmeister Carl Friedrich Benjamin von Fröden, dem Inspektor der Dresdener Pulvermühle Heinrich Ludwig Dietrich, dem Legationsrat Carl Ludwig Piani des Planes, dem Münzmeister bei der Dresdener Münze Johann Ernst Croll sowie einem „Gr. v. Solms“, der möglicherweise mit dem General und Festungskommandanten Friedrich Christoph Graf zu Solms, aber auch mit dem späteren Zirkeldirektor in Wildenfels bei Zwickau, Friedrich Magnus Graf zu Solms, identisch gewesen sein könnte.23 Offensichtlich waren die Dresdener „Theoretischen Brüder“ also ein gut besuchtes Sammelbecken für Mitglieder der kursächsischen Regierung und Verwaltung, die Interesse am ‘System’ der Gold- und Rosenkreuzer hatten, ohne zugleich unbedingt in der örtlichen freimaurerischen Szenerie aktiv sein zu müssen.
II. Der Dresdener Gold- und Rosenkreuzerzirkel: Eine Beamtenloge Abgesehen von Friedrich Ludwig von Wurmb, der als Mitglied des Geheimen Consiliums zweifellos das höchste für einen Dresdener Rosenkreuzer nachgewiesene politische Amt bekleidete, waren auch die meisten anderen Mitglieder des Dresdener Gold- und Rosenkreuzerzirkels kursächsische Beamte in unterschiedlichen Positionen. Diese Beobachtung bestätigt den bereits bekannten Befund für Berlin, wo ebenfalls ein besonders hoher Anteil von Mitgliedern dortiger Rosenkreuzerzirkel in der Administration tätig war.24 Bevor ausgewählte Karrieren im Detail verfolgt werden, soll ein Überblick über die personelle Zusammensetzung des Dresdener Rosenkreuzerzirkels die Nähe seiner Mitglieder insgesamt zum kursächsischen Hof, zu Regierung und Verwaltung veranschaulichen. Der Direktor des Zirkels, der Kaufmann François Du Bosc, führte schon vor seinem Umzug von Leipzig nach Dresden den Titel eines „Titular-Cammerkreuzerzirkels. Die Zuordnung des Christian Friedrich v. H. als Vater des Ludwig Ferdinand v. H. nach Deutsches Biographisches Archiv, München 1985 (MF 566, Bl. 362 und 365). 23 Nachweise wie Anm. 22. Für den Wildenfelser Zirkel: GStA PK, FM, 5.2 D 34 Nr. 1712: Kalkulaturtabellen, Zirkel Magnus. Mit Wildenfels bestand wohl seit 1781 eine enge Verbindung, da die dortige Freimaurerloge in diesem Jahr nach Dresden „übersiedelte“. Vgl. den Artikel „Dresden“ in: Eugen Lennhoff, Oskar Posner, Dieter A. Binder, Internationales FreimaurerLexikon. Überarbeitete und erweiterte Neuauflage der Ausgabe von 1932, München 2000, 235. 24 Im Unterschied zu Dresden war in Berlin allerdings auch der Anteil der Militärangehörigen unter den Zirkelmitgliedern sehr hoch. Vgl. Karlheinz Gerlach, Die Gold- und Rosenkreuzer in Berlin und Potsdam (1779–1789). Zur Sozialgeschichte des Gold- und Rosenkreuzerordens in Brandenburg-Preußen, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 32 (1995), 87–147, hier 102–105.
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Raths“ im „Cammer-Collegium“,25 also in der Finanzverwaltung, womit nach der Amtsbezeichnung allerdings keine aktive Teilnahme an diesem Collegium verbunden war. Im Unterschied dazu war der Sekretär des Zirkels, Carl Friedrich von Seydewitz, spätestens seit 1778 offensichtlich hauptberuflich als Hofund Justizienrat in der Landesregierung tätig und ab 1790 außerdem zum Kommissar der „Brandschäden-Commission“ bestellt.26 Der Schatzmeister des Zirkels, Christian Friedrich Geyer (geb. 1739), hatte die Funktion des ‘Professors der Moral’ bei den kurfürstlichen Pagen in der „Ober-Hof-MarschallAmts-Expedition“ inne und war bis 1784 im Rosenkreuzerorden aktiv.27 Ähnlich nah am Kurfürsten wie der Minister von Wurmb war der „Hof-Medicus“ Carl Heinrich Meuder (geb. 1737), der auch Vorlesungen im „Collegium medicum“ in Dresden hielt; er ist in Mitgliederlisten des Geheimbunds bis 1784 und im Hof- und Staatskalender bis 1785 verzeichnet und dürfte wohl in diesem Jahr verstorben sein.28 Der 1784 als Kandidat des Rosenkreuzerzirkels genannte Heinrich Friedrich Carl Brand von Lindau (geb. 1759) stieg vom Assessor der Landesregierung über verschiedene Referendarsposten zum Hof- und Justizienrat auf und wurde später in den Mitgliederlisten eines Zirkels in Wildenfels bei Zwickau geführt.29 Keine nennenswerte Karriere ist für den „Gegenguardein“30 bei der Dresdener Münze Johann Georg Sonntag (geb. 1736) nachweisbar, der seine Stellung im betrachteten Zeitraum nicht verändern konnte; er wurde 1788 von Zirkeldirektor Du Bosc „gewißer unzüchtiger Umstände wegen […] verlaßen“ und war demnach bis dahin im Zirkel aktiv.31 Dagegen stieg der Kammerherr Albrecht Christian Heinrich Graf von Brühl (1743–1792), Sohn des 1763 verstorbenen kursächsischen Premierministers Heinrich Graf von Brühl, zwischen 1780 und 1786 vom Obristen zum Generalmajor auf – er war der einzige hochrangige Militär im Dresdener Rosenkreuzerzirkel. Brühl wurde ab 1783 als „auswärtiger Bruder“ und ab 1786 bei einem mecklenburgiSo der Eintrag in: Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender auf das Jahr 1778, Kap. „Cammer-Collegium“, ebenso verzeichnet für das Jahr 1780 und wieder von 1786 bis 1794. 26 Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1778 und 1790. 27 Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1783–1794; Characteres (wie Anm. 6), passim. 28 Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1778–1786; Characteres (wie Anm. 6), Listen bis 21.12.1784. 29 Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1780–1790; Characteres (wie Anm. 6); sowie Kalkulaturtabellen (wie Anm. 23), Zirkel Magnus. 30 Der „Münzwardein“ oder „-guardein“ überwachte den Münzstempel und den Feingehalt der Münzen bei der Prägung; ein „Gegenguardein“ war entsprechend für die Gegenprüfung zuständig. Vgl. den Eintrag „Wardein“ in: Heinz Fengler, Gerhard Gierow, Willy Unger, Lexikon Numismatik, Berlin 21976, 415. 31 Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1780–1794; Characteres (wie Anm. 6), 21.12.1788. 25
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schen Zirkel geführt. Er war nicht in Dresden ansässig und konnte somit nicht aktiv an den Versammlungen der dortigen ‘Brüder’ teilnehmen.32 Der Appellationsrat und Kammerherr Friedrich Adolph von Burgsdorff (1744–1799) war zeitweilig Kanzler der Regierung des Stiftes Merseburg und schließlich Kanzler der Landesregierung in Dresden, während der Hof- und Justizienrat der Landesregierung August Gottlieb Edler von Gärtner (geb. 1738) im hier untersuchten Zeitraum zum Vizekanzler der Landesregierung – und mithin unmittelbaren Untergebenen des Vorgenannten – und Kommissar der „PoliceyCommission“ aufstieg.33 Der Kammerherr Johann Ernst von Hopfgarten (geb. 1738), dessen Familie in der Loge der „Theoretischen Brüder“ wie auch in der kursächsischen Administration so breit vertreten war, brachte es zum Geheimen Kriegsrat und Mitglied des Geheimen Kriegsrats-Consiliums mit Sitz und Stimme.34 Neben den genannten Personen, die in Regierung oder Verwaltung angestellt waren, hatte der Dresdener Zirkel auch einige Mitglieder, deren bürgerliche Tätigkeit nicht so deutlich mit dem kursächsischen Staatswesen verbunden war. Dies gilt für den ‘Redner’ des Zirkels Wolf Carl Heinrich von Gössnitz (geb. 1739), Leutnant bei einem Dragonerregiment, und den ‘Dienstbruder’ des Zirkels, Johann Gottfried Steinert (geb. 1749), der „von dem monathl. Beitrag der hiesigen Bbr [Brüder, R.G.]“ lebte und dafür Dienstaufgaben im Zirkel versah, und außerdem für eine Reihe ‘Auswärtiger’, darunter einen preußischen Geheimrat, einen mecklenburgischen Hofmeister, einen Leipziger Strumpffabrikanten und einen Chemnitzer Kaufmann.35 Insgesamt waren also im betrachteten Zeitraum elf in Regierung und Verwaltung des kursächsischen Staates tätige Personen zeitweise oder dauerhaft Mitglieder des Geheimbunds der Gold- und Rosenkreuzer, und einige erfüllten in dessen Dresdener Zirkel administrative oder zeremonielle Funktionen. Dieser Rosenkreuzerzirkel bestand demnach zum überwiegenden Teil aus Beamten, von denen einige über einflußreiche Positionen verfügten. Nun ist diese Tatsache allein nicht ungewöhnlich für eine derartige Geheimgesellschaft, bestanden doch beispielsweise die Logen der Freimaurer zum großen Teil aus Angehörigen der gebildeten Stände und besonders der Beamtenschaft.36 Über 32 Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1780–1786; Characteres (wie Anm. 6) bis 21.12.1784; sowie Kalkulaturtabellen (wie Anm. 23), Zirkel Orthosophus; die Abstammung Brühls nach Ernst Heinrich Kneschke (Hg.), Neues allgemeines Deutsches AdelsLexicon, Leipzig 1860, Bd. 2, 100. 33 Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1778–1794. 34 Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1780–1794. 35 Characteres (wie Anm. 6), passim. 36 Vgl. Holger Zaunstöck, Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 9), 177 f. und dort Abb. 36; einführend zur Freimaurerei Joachim Berger,
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die empirischen Beobachtungen hinaus ist daher nun zu überprüfen, welche personellen Zusammenhänge im bürgerlichen Leben der Logen- bzw. Zirkelmitglieder parallel zu ihren Kontakten in der arkanen Szene der Residenzstadt bestanden, denn erst so erhalten die Daten eine Aussagekraft im Hinblick auf eine mögliche Rolle der zwei untersuchten Dresdener geheimen Logen in der kursächsischen Politik im achtzehnten Jahrhundert.
III. Bezüge und Beziehungen Unmittelbare Zusammenhänge oder auch nur Parallelen zwischen der Laufbahn im kursächsischen Staat und der Mitgliedschaft im Dresdener Zirkel der Gold- und Rosenkreuzer respektive der Loge der „Theoretischen Brüder“ sind nicht für alle der aufgeführten Personen nachweisbar. Für einige in teilweise hohen Positionen der Regierung angesiedelte Figuren lassen sich jedoch aufschlußreiche Entwicklungen nachvollziehen. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf drei der oben genannten Männer. Da ist zunächst der Kammerherr Friedrich Adolph von Burgsdorff, dessen Vater Gottlob kursächsischer Assessor beim Reichskammergericht in Wetzlar sowie Stiftskanzler in Zeitz gewesen war und der nach dem Jurastudium in Leipzig 1765 kursächsischer Appellationsrat wurde.37 Im hier betrachteten Zeitraum war er außerdem bis 1783 Referendar in der Geheimen Kanzlei, wurde im selben Jahr zum Stiftskanzler in Merseburg ernannt und kehrte 1788 oder 1789 nach Dresden zurück, um dort seit 1790 zuerst Vizekanzler und schließlich Kanzler der Landesregierung zu werden.38 Burgsdorff wurde aus dem Rosenkreuzerzirkel des François Du Bosc 1783 „bis zur Beßerung“ ausgeschlossen und ab 1786 nicht mehr in den Mitgliederlisten geführt; dieser Vorgang fällt zeitlich mit seiner Ernennung zum Kanzler der Stiftsregierung Merseburg zusammen, und es ist denkbar, daß ihm dieses Amt als mit einer Mitgliedschaft im Gold- und Rosenkreuzerorden unvereinbar erschien.39 Dem Ausschluß war allerdings ein besonders langes ordensinternes Verfahren vorausgegangen, in dessen Verlauf Burgsdorff mehrmals ‘Suspension’ für einige Monate erhalten hatte, ihm also Klaus-Jürgen Grün (Hg.), Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei. Katalog zur Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik im Schiller-Museum Weimar 21. Juni bis 31. Dezember 2002, München, Wien 2002. 37 Biographische Angaben aus: Deutsches Biographisches Archiv, München 1985 (MF 168, Bl. 156). 38 Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1780–1794. Burgsdorff war daneben auch wenigstens zweimal kursächsischer Delegierter der Kammergerichtsvisitation: Deutsches Biographisches Archiv, München 1985 (MF 168, Bl. 157). 39 Characteres (wie Anm. 6), Liste vom 21.12.1783, Zitat ebd.
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die Möglichkeit gegeben worden war, sein Verhalten in ordenskonformer Weise zu verändern; begründet wurde dies mit „besonderer Affectation“ nicht näher spezifizierter Oberer des Ordens für ihn.40 Vermutlich waren sich also höhere Stellen des Geheimbunds darüber im Klaren, daß Burgsdorff eine nicht unbedeutende Person darstellte und es opportun sein könnte, ihn dem Orden gewogen zu erhalten. Die demnach naheliegende Ausstellung eines ‘Eximirungszertifikats’ – wie im Falle von Wurmbs – ist allerdings nicht überliefert. Der schon innerhalb der Familie eng mit der kursächsischen Regierung und Verwaltung verbundene Johann Ernst von Hopfgarten blieb im Gegensatz zu Burgsdorff den Gold- und Rosenkreuzern bis zur mutmaßlichen Auflösung des Dresdener Zirkels treu und wurde von Du Bosc noch 1791 zu den wenigen verbliebenen „zuverläßigen Sächsischen BBrn [Brüdern, R.G.]“ gezählt.41 Hopfgarten war dem Geheimbund bereits 1779 in Leipzig beigetreten und hatte seit 1782 in Dresden an den Versammlungen der „Theoretischen Brüder“ teilgenommen; in den Unterlagen des ‘eigentlichen’ Zirkels ist er ab 1786 verzeichnet.42 Seine bürgerliche Karriere nimmt sich etwas bescheidener aus als diejenige von Burgsdorffs: Bis 1785 war er zwar kursächsischer Kammerherr, bekleidete jedoch keine Ämter in Regierung oder Verwaltung, was durchaus damit zu erklären sein könnte, daß er noch in Leipzig ansässig war; ab 1786 erscheint er dann als geheimer Kriegsrat mit Sitz und Stimme, und diese Funktion hatte er über das Jahr des letzten Nachweises des Rosenkreuzerzirkels hinaus durchgehend inne.43 Ihn macht weniger die eigene, wenig spektakuläre Laufbahn interessant als vielmehr die Tatsache, daß seine Familie zu den einflußreichsten am kursächsischen Hof gehört haben dürfte, stellt man einmal die weiter oben genannten Namen und Positionen in Rechnung: Über den Vorgänger Burgsdorffs auf der Stelle des Kanzlers der Landesregierung, Georg Wilhelm von Hopfgarten, der zeitweise zudem unmittelbarer Vorgesetzter Burgsdorffs war, dürfte eine enge Verbindung Johann Ernst von Hopfgartens zur Landesregierung hergestellt worden sein, und die persönliche Bekanntschaft mit Burgsdorff wurde nicht nur dadurch ermöglicht, sondern bestand mit Sicherheit schon vorher durch die Begegnungen im Rosenkreuzerzirkel oder in der Loge der „Theoretischen Brüder“. Nach einem Sitzungsprotokoll des von Du Bosc geleiteten Verwaltungsgremiums des Geheimbunds für Sachsen: GStA PK, 5.2 D 34 Nr. 1765: Rosenkr. Schreiben, „Ordinaire Triumvirats-Convention“ vom 26.12.1782. 41 Calculations-Tabelle der unter dem Francquischen ersten Haupt-Directorio stehenden zuverläßigen Sächsischen BBrn., mit Auslaßung derer die sich nicht zum H.O. qualificiren, in: Characteres (wie Anm. 6), 21.12.1791. 42 Kalkulaturtabellen (wie Anm. 23), Tabellen des Zirkels Mihriffon; Rosenkreuzerische Schriften (wie Anm. 14), passim; sowie Characteres (wie Anm. 6), 21.12.1786. 43 Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1780–1794. 40
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Die dritte Figur, die hier besonders bemerkenswert erscheint, ist die des Hof- und Justizienrats der Landesregierung August Gottlieb Edler von Gärtner. Er durchlief mehrere Stationen in kursächsischen Behörden, angefangen mit der Landes-Ökonomie-, Manufaktur- und Kommerziendeputation, deren Direktor der eingangs genannte Minister von Wurmb war und in der Gärtner bis 1783 als Deputierter Rat vertreten war.44 Von 1780 bis 1783 und wieder von 1786 bis mindestens 1790 war er zudem Deputierter im „Collegium-MedicoChirurgicum“ sowie 1790 Kommissar der Brandschäden-Kommission – gemeinsam mit seinem ‘Ordensbruder’ Carl Friedrich von Seydewitz.45 Der bedeutendste Aufstieg erfolgte jedoch zwischen 1790 und 1794: Gärtner wurde vom Stand eines ‘Edlen’ in denjenigen eines Freiherrn erhoben und erhielt das Amt des Vizekanzlers der Landesregierung sowie eines Kommissars der „Policey-Commission“ zu Dresden.46 An den Versammlungen der „Theoretischen Brüder“ hatte er ab Ende 1781 teilgenommen und wurde 1783 in den Goldund Rosenkreuzerorden eingeführt, dem er bis in die 1790er Jahre hinein verbunden blieb – allerdings wurde er nach 1784 nicht mehr in den Mitgliederlisten des Dresdener Zirkels geführt, sondern unterstand, obwohl er in Dresden blieb, der Aufsicht eines anderen Direktors in Gotha, ohne daß dafür ein Grund – etwa ein Zerwürfnis – erkennbar wäre.47 Betrachtet man die Entwicklungen vor allem von Burgsdorffs und von Gärtners in Regierung und Verwaltung vor dem Hintergrund ihrer Mitgliedschaft im Orden der Gold- und Rosenkreuzer, so fällt einerseits die etwa zeitgleiche Abkehr der beiden Personen vom Dresdener Zirkel und andererseits die zeitliche Parallelität ihrer bürgerlichen Karrieren ins Auge. Beide erscheinen ab 1785 nicht mehr in den Mitgliederlisten des Zirkels, und beide erreichten zwischen 1790 und 1794 den Gipfelpunkt ihrer beruflichen Laufbahn. Die Jahre 1784 und 1785 markieren einen Wendepunkt für den Gold- und Rosenkreuzerorden insgesamt: Nach dem 4. Juni 1784 haben in Dresden offensichtlich keine Versammlungen der „Theoretischen Brüder“ mehr stattgefunden.48 Die Begründung dafür ist in den Protokollen festgehalten: Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1778–1783. Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgänge 1780–1790. 46 Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender, Jahrgang 1794. 47 Die Aufnahme bei den „Theoretischen Brüdern“ fand am 27.12.1781 statt, die beim Goldund Rosenkreuzerzirkel am 13.10.1783. Rosenkreuzerische Schriften (wie Anm. 14), Protokolle vom 27.12.1781 bzw. 13.10.1783 (dies ist ein Protokoll des Rosenkreuzerzirkels); Characteres (wie Anm. 6), passim; sowie Kalkulaturtabellen (wie Anm. 23), Tabellen des Zirkels Hegrilogena. Dieser Zirkeldirektor war Johann Georg Liebing, Haushofmeister in Gotha, der im Orden Du Bosc unterstellt war. Vgl. GStA PK, FM, 5.2 D 34 Nr. 1686: Berichte 1783 No. 3, Brief Du Boscs an seinen Vorgesetzten Wöllner vom 29.9.1783. 48 Rosenkreuzerische Schriften (wie Anm. 14), passim. 44 45
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Es walten Umstände ob, ad tempus zum Besten der BBr folgendes an sämtliche {Directoria, zur Strictesten Befolgung verordnen u. gelangen zu laßen: nemlich, Es wird Ihnen, meine Bbr! auf Oberbrüderlichen Befehl und von Rechtens wegen hiemit bekannt gemacht, daß à dato ein außerordentliches Ons Silanum statt haben müße, d.i., ein Stillstand aller Ons Arbeiten ohne Ausname, während welcher Zeit keine Convention, also auch keine Reception, oder auch Grades Erhöhung statthaben kann, muß und soll; indeßen wird ein jeder Br. ermahnet in Ons Sachen für sich zu studiren, damit er nicht zurückkomme.49
Diese „Silanum“ genannte Zwangspause für alle Tätigkeiten erstreckte sich nicht nur auf die „Theoretischen Brüder“, sondern betraf vor allem die Goldund Rosenkreuzer; während allerdings letztere später wieder zusammentraten, bedeutete die Pause wohl das Ende der Dresdener Loge.50 Die hier zitierten ‘obwaltenden Umstände’ bestanden in der Aufdeckung der drei unteren Grade der Gold- und Rosenkreuzer mit ihren Lehren, Ritualen und Geheimschriften durch Mitglieder des Illuminatenordens, dem die Gold- und Rosenkreuzer bekanntlich in inniger Feindschaft verbunden waren.51 Diesem Ungemach schloß sich im folgenden Jahr das nächste an, als die gesamten Schriften des Grades der „Theoretischen Brüder“ anonym veröffentlicht wurden52 und damit als Arbeitsgrundlage für diese Logen nicht mehr geeignet erschienen, woraufhin der Grad insgesamt abgeschafft wurde.53 Damit reduzierte sich der Kreis derjenigen Personen, die sich zu rosenkreuzerischen ‘Ordens-Arbeiten’ in Dresden versammelten, auf die verbliebenen Mitglieder des Gold- und RosenkreuzerRosenkreuzerische Schriften (wie Anm. 14), Ordonnance, undatiert. Die Abkürzungen bedeuten: Br=Bruder, BBr bzw. Bbr=Brüder, {=Kreis bzw. Zirkel, Ons=Ordens-. Obgleich die Datierung fehlt, kann aus anderen rosenkreuzerischen Quellen vergleichbaren Inhalts auf das Frühjahr 1784 geschlossen werden. 50 Die Überlieferung der „Theoretischen Brüder“ endet hier; der Zirkel der Gold- und Rosenkreuzer bestand bis 1791. Vgl. Rosenkreuzerische Schriften (wie Anm. 14); sowie Characteres (wie Anm. 6). 51 Das „Silanum“ wurde mit dieser Begründung im Berliner Zirkel des Herzogs Friedrich August von Braunschweig-Lüneburg am 28.2.1784 bekanntgegeben. Derselbe Zirkel nahm seine ‘Arbeiten’ erst am 21.7.1784 wieder auf. GStA PK, FM, 5.1.4. Große National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“, Berlin, Nr. 4152: Braunschweig-Oels, Friedrich von: Alchemistische Arbeiten 1780–1789, Sitzungsprotokolle Nr. 11 vom 28.2.1784 sowie Nr. 12 vom 21.7.1784. 52 [Graf von Löhrbach], Die theoretischen Brüder oder zweite Stuffe der Rosenkreutzer und ihrer Instruktion das erstemahl ans Licht herausgegeben von einem Prophanen nebst einem Anhang aus dem dritten und fünften Grad, als Probe, Athen [Regensburg] 1785. Die Formulierung „zweite Stuffe der Rosenkreutzer“ beruht auf der Verwechslung mit dem Grad der ‘Theoretici’ (vgl. Anm. 14). 53 So schrieb der Oberhauptdirektor des Geheimbunds für Mittel- und Norddeutschland, Johann Christoph Wöllner, in einem Brief an Du Bosc, dieser Grad werde „allenthalben nunmehro völlig sistiret, u. in selbigen durchaus nicht mehr gearbeitet“. GStA PK, FM, 5.2 D 34 Nr. 1688: Erlaesse No. 3, Brief Wöllners an Du Bosc vom 13.3.1786 (in Beantwortung eines Briefs von Du Bosc vom 11.11.1785). 49
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zirkels unter dem Zirkeldirektor François Du Bosc, und von den drei hier besonders beachteten Männern blieb nur noch Johann Ernst von Hopfgarten übrig, während Burgsdorff ganz ausschied und Gärtner anstelle aktiver Teilnahme an den Sitzungen in Dresden ‘korrespondierendes’ Mitglied eines anderen Zirkels wurde. Die Beobachtung, daß viele Mitglieder nur bis zur Mitte der 1780er Jahre im Gold- und Rosenkreuzerorden aktiv waren, findet demnach ihre Erklärung in den einschneidenden ordensinternen Veränderungen der Jahre 1784 und 1785.
IV. Beziehungen: Ergebnis oder Voraussetzung? Natürlich kann man an dieser Stelle fragen, ob die bürgerlichen Karrieren insbesondere Burgsdorffs und Gärtners wegen oder eher trotz ihrer geheimbündischen Aktivitäten so verliefen wie hier beschrieben, oder ob sie sich nur gleichzeitig in diesen zwei ‘Welten’ bewegten, ohne daß ein Kausalzusammenhang bestanden hätte. Sicherlich war eine Karriere, an deren Ende das Amt eines Kanzlers der Landesregierung des Kurfürstentums Sachsen stand, auch ohne persönliche Verankerung im arkanen Milieu möglich; die enge zeitliche und persönliche Verbindung der beiden Männer fällt aber dennoch ins Auge: August Gottlieb von Gärtner hatte sowohl den Konferenzminister Friedrich Ludwig von Wurmb zum Vorgesetzten als auch später den Kanzler der Landesregierung und ‘Ordensbruder’ Friedrich Adolph von Burgsdorff. Dieser wiederum war ebenfalls einige Jahre im Umkreis Wurmbs als Referendar in der geheimen Kanzlei tätig und dann einem vermuteten Familienangehörigen seines ‘Bruders’ Johann Ernst von Hopfgarten zugeordnet, bevor er schließlich selbst Kanzler wurde. Die Bezüge sind also deutlich erkennbar, und es bleibt zu ihrer genaueren Beurteilung noch zu klären, mit welcher Überzeugung sich die Genannten dem rosenkreuzerischen Geschäft widmeten, wie sehr sie sich im Geheimbund engagierten und welche ‘Karriere’ sie dabei durchliefen. Friedrich Adolph von Burgsdorff wurde von François Du Bosc bereits 1778 in Leipzig in den Gold- und Rosenkreuzerorden aufgenommen,54 bereitete seinem Zirkeldirektor aber sogleich Schwierigkeiten, die zu seinem Ausschluß führten: Du Bosc beschwerte sich bei seinem Vorgesetzten im Orden über das Ausbleiben von Antworten Burgsdorffs auf seine Briefe und vermutete als Ursache dafür, „das der adeliche Stolz ihn dazu verleite; Höflinge seyen den Verweisen nicht gewohnt.“55 Im Frühjahr 1780 erhielt Burgsdorff dennoch eine Nach der Datierung der bei der Aufnahme unterzeichneten Erklärung: Verpflichtungen (wie Anm. 10), Friedrich Adolph von Burgsdorff, Leipzig, 13.10.1778. 55 Antworten No. 2 (wie Anm. 13), Brief Du Boscs an Orion vom 13.11.1779. 54
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zweite Gelegenheit und wurde erneut aufgenommen,56 diesmal wohl mit nachhaltigerem Erfolg, denn bei der Einrichtung der Loge der „Theoretischen Brüder“ im darauffolgenden Jahr wollte ihn Du Bosc zunächst zu deren „Directori constituiren“.57 Hatte Burgsdorff demnach größeren Eifer an den Tag gelegt, so klagte Du Bosc aber wenig später bereits wieder, daß anlangend des Br. Baruch ich mit langsamen Schritten zu wercke gehen muß, viele Geduld haben, nach u. nach überzeugen, Lust erwecken u. Geschmack zu unsern, ihn ganz fremden Wahrheiten einflößen; er ist im Grunde ein recht guter, verständiger, activer, u. thätiger Mensch, der sehr brauchbar werden könnte, u. wie ich hoffe, es auch werden wird; stürmen aber darf ich nicht, weil ich bey den hiesigen Leuten es verderben, sie abschrecken, u. dem H.O. hier sehr schlechte Dienste erweisen würde.58
Du Bosc wußte sehr wohl um die Bedeutung der Person Burgsdorffs für den Orden, konnte aber in dessen Unterweisung in die ordenseigene Spiritualität nicht so voranschreiten, wie er es gern getan hätte. Kurz darauf stellte er fest, „daß uns. Bücher ihm nicht gefallen wollen, u. er zu viele Zeit in Durchlesung profaner Natur=Schreiber verliehret“;59 zwar dauerte es noch zwei Jahre bis zu Burgsdorffs Ausschluß aus dem Zirkel, aber eine „Beßerung“ scheint nicht mehr eingetreten zu sein.60 Offensichtlich war der in seiner bürgerlichen Karriere recht erfolgreiche Friedrich Adolph von Burgsdorff also kein besonders überzeugter Gold- und Rosenkreuzer, sein Verhalten erinnert eher an das des Ministers von Wurmb. Über den rosenkreuzerischen Eifer des August Gottlieb von Gärtner sind keine detaillierten Informationen verfügbar. Er wird aber nirgends in der gleichen Weise wie Wurmb oder Burgsdorff als besonders schwieriges Mitglied bezeichnet und außerdem noch im Jahre 1795 in der Mitgliederliste des ihn betreuenden Zirkeldirektors in Gotha erwähnt. Zwar geschah dies nur mit der Bemerkung, er lasse „nichts von sich hören“,61 daß dies überhaupt auffiel, beweist aber, daß Gärtner bis dahin wenigstens formal noch zum Orden gehört haben muß und also der Gipfelpunkt seiner Laufbahn und die enge persönliche Verbindung zu seinem ehemaligen, nunmehr ausgeschlossenen ‘Bruder’ Burgsdorff ihn nicht zur Loslösung von den Gold- und Rosenkreuzern veranlaßt hatten.
Antworten No. 2 (wie Anm. 13), Brief Du Boscs an das Generalat vom 20.5.1780. Antworten No. 2 (wie Anm. 13), Brief Du Boscs an Wöllner vom 30.1.1781. 58 Antworten No. 2 (wie Anm. 13), Brief Du Boscs an Orion vom 13.8.1781. Baruch war der Ordensname Burgsdorffs. „H.O.“ bedeutet „Hoher Orden“. 59 Antworten No. 2 (wie Anm. 13), Brief Du Boscs an Wöllner vom 18.8.1781. 60 Vgl. Anm. 39. 61 Kalkulaturtabelle des Zirkels Hegrilogena vom 21.12.1795, in: GStA PK, FM, 5.2 D 34 Nr. 1780: Schriftstücke, Rosenkreuzer betr. 56 57
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Der dritte hier näher betrachtete Gold- und Rosenkreuzer, Johann Ernst von Hopfgarten, hinterließ zwar keine so deutlichen Spuren wie Burgsdorff, wird aber im Gegensatz zu beiden Vorgenannten über die Dauer seiner Mitgliedschaft im Orden hinweg regelmäßig sehr positiv beurteilt, was wohl auch die abschließende Einschätzung seiner Person als besonders ‘zuverläßig’ erklären dürfte.62 So setzte sich Du Bosc beispielsweise dafür ein, Hopfgarten noch während des oben erwähnten ‘Silanums’ in den achten Grad befördern zu dürfen, obwohl zu diesem Zeitpunkt eine solche „Grades Erhöhung“ doch ausdrücklich nicht erlaubt war, ein Vorgang, der deutlich die Wertschätzung Du Boscs für einen engagierten ‘Bruder’ zeigt.63 Hopfgarten war also der einzige der drei Männer, der sich dauerhaft und mit einigem Interesse und Einsatz im Sinne des Geheimbunds und seiner spirituellen Vorstellungen um Erkenntnis und Erleuchtung bemühte. Es ist also festzuhalten, daß der Dresdener Rosenkreuzerzirkel ein Treffpunkt teilweise hochrangiger Dresdener Beamter war, von denen einige sehr enge persönliche Beziehungen zueinander unterhielten, die sich in ihren beruflichen Laufbahnen widerspiegeln. Zwar waren sie im Verlaufe ihrer Karrieren in der kursächsischen Administration nicht unbedingt auf die Mitgliedschaft im Geheimbund angewiesen, konnten dort aber einschlägige Kontakte knüpfen. Von Seiten der Gold- und Rosenkreuzer bestand ein reges Interesse daran, einflußreiche Beamte in ihren Reihen zu halten oder sie wenigstens nicht durch Konflikte, die zum Ausschluß führen mußten, zu Gegnern des Ordens werden zu lassen.
V. Machtstreben – Teil des esoterischen Selbstverständnisses Auf der Basis des oben Ausgeführten soll eine kurze Betrachtung über den Gold- und Rosenkreuzerorden im Kontext der Politikgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts eine Perspektive für weitergehende Forschungen auf diesem Gebiet aufzeigen. Die Gold- und Rosenkreuzer sind politikhistorisch vor allem durch ihre Rolle in der preußischen Religionspolitik unter Friedrich Wilhelm II. (1786–1797) zu einiger Bedeutung gelangt.64 Führende Mitglieder des Ordens nutzten ihren persönlichen Einfluß auf den Thronfolger, über den sie bereits seit dessen Aufnahme in den Geheimbund 1781 verfügten, zur Umsetzung ihrer religionspolitischen Vorstellungen in den preußischen Staaten. Das Wie Anm. 41. Berichte No. 3 (wie Anm. 47), Brief Du Boscs an Wöllner vom 20.9.1784. Vgl. auch die „Ordonnance“ wegen des ‘Silanums’ (wie Anm. 49). 64 Vgl. Neugebauer-Wölk, Arkanwelten im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), 50–61. 62 63
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‘Religionsedikt’ von 1788, das aus der Feder des ‘Oberhauptdirektors’ der Gold- und Rosenkreuzer und – seit demselben Jahr – Ministers im Geistlichen Departement Johann Christoph Wöllner stammte, war der sichtbarste und schon zeitgenössisch kontrovers diskutierte Ausdruck dieser Bestrebungen.65 Für eine Politikgeschichte, die arkane Bezüge als Wege politischer Entscheidungsfindung einbezieht, besteht der entscheidende interpretatorische Ansatz darin, diese Form von Machstreben als Teil esoterischen Denkens zu verstehen.66 Der Orden der Gold- und Rosenkreuzer beispielsweise verfügte über eine eigenständige Form esoterischer Spiritualität, die aus einer Verbindung christlicher Elemente mit den frühneuzeitlichen Strömungen von Alchemie, Kabbala und Magie bestand.67 Da es im Unterschied zum Christentum dem esoterischen Denken immanent ist, den praktischen Beweis dieser Spiritualität anzutreten, ist das Streben nach politischer Macht ebenso als systematisch bedingt einzuordnen wie die in den Zirkeln des Geheimbunds bearbeiteten alchemistischen Prozesse, die auf die Herstellung der Universalmedizin oder des Steins der Weisen zielten: Erst in der Realisierung in Form von ‘Naturerkenntnis’ und weltlicher Macht erweist sich aus der Sicht der Betroffenen die Stichhaltigkeit der esoterischen Religiosität.68 Nur so wird es möglich, im Gegensatz zu dem auch in der jüngsten Literatur noch anzutreffenden Hinweis auf das Machtstreben als Charaktermerkmal einzelner Personen eine objektivierte Perspektive einzunehmen.69 Für das konkrete Beispiel der Gold- und Rosenkreuzer muß aus politikhistorischer Sicht ergänzend beachtet werden, daß sie schon zeitgenössisch und auch im eigenen Selbstverständnis als Gegenspieler des Illuminatenordens galZur Debatte um das Religionsedikt vgl. Dirk Kemper (Hg.), Mißbrauchte Aufklärung? Schriften zum preußischen Religionsedikt vom 9. Juli 1788, 118 Schriften auf 202 Mikrofiches, Hildesheim, Zürich, New York 1996. 66 Vgl. Neugebauer-Wölk, Arkanwelten im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), 34–44, besonders 40. 67 Zu den geistesgeschichtlichen Zusammenhängen Wilhelm Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt am Main 1998. Der Autor der vorliegenden Studie bereitet eine Dissertation vor, in der die Spiritualität der Gold- und Rosenkreuzer im Kontext einer Neuen Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit gedeutet wird. ‘Spiritualität’ dient hier als Sammelbezeichnung für alle das „Leben aus dem Geist“ betreffenden existenziellen Grundhaltungen. Vgl. den Artikel: Spiritualität, in: Herbert Vorgrimler, Neues Theologisches Wörterbuch, Freiburg 2000, 587. 68 Hierzu Monika Neugebauer-Wölk, Esoterik und Christentum vor 1800: Prolegomena zu einer Bestimmung ihrer Differenz, in: ARIES. Journal for the Study of Western Esotericism 3/2 (2003), 127–165, hier 139. 69 Eine solche Erklärung bot zuletzt noch Reinhard Markner in seinem ansonsten sehr instruktiven Aufsatz über Mirabeau und die Gold- und Rosenkreuzer am Berliner Hof: Reinhard Markner, Imakoromazypziloniakus. Mirabeau und der Niedergang der Berliner Rosenkreuzerei, in: Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation (wie Anm. 5), 215-230. 65
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ten und sich als Verteidiger sowohl der christlichen Religion gegen die Säkularisierungstendenzen der Aufklärung als auch der legitimen Macht der regierenden Fürsten sahen – revolutionierende politische Ziele hingegen waren ihnen fremd.70 Aus diesem Grund wurden die Gold- und Rosenkreuzer von der politikgeschichtlichen Forschung auch als Vorläufer und Wegbereiter des politischen Konservativismus in Deutschland betrachtet.71 Insofern war die Mitgliedschaft in dieser geheimen Gesellschaft ohne Schwierigkeiten mit einer engen Anbindung an das Staatswesen des späten achtzehnten Jahrhunderts vereinbar; es mußte aus der Perspektive des Ordens sogar erstrebenswert erscheinen, politische und administrative Strukturen für die Umsetzung des esoterischen Ordensprogramms in die Praxis nutzen zu können und sie also personell zu durchdringen. Die hier vorgestellte Prosopographie der beiden rosenkreuzerischen Dresdener Sozietäten zeigt das Ausmaß einer solchen Durchdringung von Regierung und Verwaltung und ist damit geeignet, die scheinbare Einzigartigkeit der politischen Einflußmöglichkeiten des Geheimbunds in der preußischen Regierung zu relativieren. Gleichwohl darf die personelle Verflechtung des Ordens mit der kursächsischen Administration nicht mit einer planvollen aktiven Einflußnahme des Ordens auf politische Entscheidungsprozesse der Dresdener Regierung oder des Hofes gleichgesetzt werden. Der Beitrag widmet sich einem Personenkreis, der in der kursächsischen Regierung und Verwaltung der 1780er und frühen 1790er Jahre teilweise einflußreiche Positionen bis hin zum Mitglied des Geheimen Consiliums besetzte und zugleich den Kern zweier Dresdner Geheimbundlogen bildete, die beide vom esoterischen Orden der Gold- und Rosenkreuzer kontrolliert wurden. Für ausgewählte Personen wird untersucht, wie sich ihre beruflichen Laufbahnen entwickelten und welche ‚Karrieren‘ sie zur gleichen Zeit im Geheimbund machten. Ergebnis ist eine Prosopographie, auf deren Grundlage versucht wird, Zusammenhänge und Parallelen zwischen beiden Entwicklungen und einen möglichen Konnex von frühneuzeitlicher Esoterik, arkaner Gesellschaft und politischer Administration aufzuzeigen, wie er im Kontext der Rosenkreuzer bislang nur für den preußischen Staat unter Friedrich Wilhelm II. bekannt ist.
The article is about a small circle of people who held partially influential positions in the Saxon government and administration between the 1780s and the early 1790s, up to being members of the Secret Council. At the same time, they formed the centre of two secret lodges in the city of Dresden, both of which beSo hieß es in den Statuten, es sei Pflicht jedes Mitglieds, „weder wider Gott noch wider die Liebe des Nächsten, auch nicht wider den Staat und das gemeine Beste sich [zu] verfehlen […]“. [Bode], Starke Erweise (wie Anm. 8), 172. 71 Etwa von Klaus Epstein, The Genesis of German Conservatism, Princeton 1966, bes. 84– 111. 70
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ing controlled by the esoteric order of the Golden Rosicrucians. Both the occupational development of those selected persons and their parallel “careers” in the secret order are investigated in the text, and the result is a prosopography which provides a basis for the examination of correlations and parallels between the two developments and for the presentation of a possible connection between esoteric aspects of early modern history, secret society structures and politico-administrative features; a nexus which until now has predominantly been known for the Prussian State under Frederic William II. Renko Geffarth, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Kröllwitzerstraße 44, 06099 Halle, E-Mail: [email protected]
Y V O NN E W Ü BB EN Moses als Staatsgründer. Schiller und Reinhold über die Arkanpolitik der Spätaufklärung
Im letzten Abschnitt der 1790 erschienenen universalhistorischen Vorlesung Die Sendung Moses verweist Schiller auf eine Schrift seines Jenenser Kollegen, des Illuminaten Carl Leonard Reinhold (1757–1825), die drei Jahre zuvor unter dessen Ordensnamen Bruder Decius erschienen war. „Ich muß“, heißt es bei Schiller, die Leser dieses Aufsatzes auf eine Schrift von ähnlichem Innhalt: Ueber die ältesten hebräischen Mysterien von Br. Decius: verweisen, welche einen berühmten und verdienstvollen Schriftsteller zum Verfasser hat, und woraus ich verschiedene der hier zum Grund gelegten Ideen und Daten genommen habe.1
Reinholds Schrift, welche die hebräischen Mysterien behandelt, hat Schiller demnach als wesentliche Quelle für die eigenen Ausführungen gedient und entscheidende Ideen und Daten für seine Moses-Interpretation geliefert. Wohl aufgrund dieses Hinweises und der nicht unerheblichen Übereinstimmungen zwischen beiden Texten setzte sich in der Forschungsliteratur die Auffassung durch, Schillers Text sei ein „Plagiat“2 oder eine „resümierende Paraphrase“ von Reinholds Buch, die „keine neuen Argumente [bringt], sondern nur hervor[hebt], was ihm [Schiller] in Reinholds Darlegung besonders wichtig erscheint“.3 Friedrich Schiller, Die Sendung Moses, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, hg. von KarlHeinz Hahn [künftig zitiert als NA], Bd. 17: Historische Schriften, Erster Teil, Weimar 1970, 377–397, hier 397. Der Text Reinholds liegt jetzt in einer neuen Ausgabe vor: Karl Leonard Reinhold. Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey, hg. von Jan Assmann, Neckargemünd 2001. 2 Wolf-Daniel Hartwich, Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann, München 1997, 30. Die Rede vom Plagiat ist allerdings mißverständlich, weil Schiller seine Quelle ja kennzeichnet. 3 Jan Assmann, Nachwort, in: Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 157–199, hier 184; sowie ders., Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München, Wien 1998, zu Schillers Sendung Moses 186–205, hier 188. Diese Auffassung vertreten ebenso Nathali Jückstock, „Ver1
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Dieses Urteil, das auch von dem Ägyptologen und Kulturwissenschaftler Jan Assmann geteilt wurde, ist bislang nicht weiter hinterfragt bzw. relativiert worden. Insofern sich die Forschung intensiver mit Schillers Sendung Moses befaßte, rückten sein Beitrag zur gelehrten Moses-Diskussion,4 Aspekte seiner historiographischen Praxis oder der Bezug zur aufgeklärten Geschichtsschreibung5 in den Vordergrund. Eine nähere Untersuchung des Verhältnisses zu Reinholds Hebräischen Mysterien blieb bis heute ein Desiderat – trotz eines wachsenden Interesses an Schillers historischen Schriften.6 Die eher marginale Berücksichtigung der Sendung Moses ist schon deshalb erstaunlich, weil Schillers Beziehung zum Geheimbund der Illuminaten in der germanistischen Forschung bereits ausführlich beschrieben wurde.7 Gerade für diesen Zusammenhüllte Wahrheit“. Anmerkungen zu biblischen und theologischen Wurzeln eines Topos, in: Bettina Knauer (Hg.), Das Buch und die Bücher. Beiträge zum Verhältnis von Bibel, Religion und Literatur, Würzburg 1997, 29–39, hier 32 f.; Waltraud Strickhausen, Prophet, Staatsmann, Erzieher des Menschengeschlechts. Moses-Bilder in der politischen Diskussion und Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Barbara Bauer, Wolfgang Müller (Hg.), Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800, Wiesbaden 1998, 137–167, hier 152 f. 4 Johannes Janßen, Schiller als Historiker, Freiburg 1879; Reinhard Buchwald, Schiller und die Geschichte, in: ders., Das Vermächtnis der deutschen Klassiker, Leipzig 1944, 281–291, hier 288; Theodor Schieder, Schiller als Historiker, in: Historische Zeitschrift 190 (1960), 31–54; Karl-Heinz Jahn, Schiller und die Geschichte, in: Weimarer Beiträge 16 (1970), 39–69; Ernst Engelberg, Schiller als Historiker, in: Joachim Streisand (Hg.), Die Deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, Berlin 1969 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Schriften des Instituts für Geschichte, 1), 11–31; Lesley Sharpe, Schiller and the Historical Character. Presentation and Interpretation in the Historiographical Works and the Historical Drama, Oxford 1982; Karl Heinz Hahn, Schiller als Historiker, in: Hans Erich Bödeker u.a. (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, 81), 388–415; Klaus Weimar, Der Effekt Geschichte, in: Otto Dann u.a. (Hg.), Schiller als Historiker, Stuttgart, Weimar 1995, 191–204; Rudolf Malter, Schiller und Kant, in: ebd., weitere Literatur siehe Helmut Koopmann (Hg.), Schiller-Handbuch, Stuttgart 1998, 697 f.; Johannes Süßmann, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824), Stuttgart 2000 (Frankfurter Historische Abhandlungen, 41). 5 Karl-Heinz Hahn, Schillers Beitrag zur Theorie der Geschichtswissenschaft, in: Helmut Brandt (Hg.), Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs. Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft, Berlin, Weimar 1987, 79–90; Helmut Koopmann, Das Rad der Geschichte. Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, in: Dann, Schiller als Historiker (wie Anm. 4), 59–76. 6 Siehe dazu auch die neue, ausführlich kommentierte Ausgabe der historischen Schriften: Friedrich Schiller, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u.a., Bd. 1: Historische Schriften und Erzählungen, Frankfurt am Main 2000. 7 Hans-Jürgen Schings, Die Illuminaten in Stuttgart. Auch ein Beitrag zur Geschichte des jungen Schiller, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66/1 (1992), 48–87; Hans-Jürgen Schings, Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund
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hang könnte eine vergleichende Analyse der Texte Reinholds und Schillers durchaus aufschlußreich sein, denn der Orden der Illuminaten befaßte sich Anfang der 1780er Jahre intensiv mit den antiken Mysterienreligionen – sowohl mit ägyptischen als auch mit der hebräischen. In diesem Kontext wurde unter anderem diskutiert, ob Moses als Übermittler eines ägyptischen Geheimwissens gelten konnte. Darüber hinaus entstehen die Schriften zu einem Zeitpunkt, als in Weimar eine Debatte über die Bedeutung der Illuminaten geführt wurde. Reinhold war ein wichtiger Protagonist der illuminatischen Ordensreform, und er stand schon Mitte der 1780er Jahre mit Schiller in engerem Kontakt.8 Schiller wiederum hat mehrfach an den Treffen der Illuminaten in Weimar und Jena teilgenommen und sich für das illuminatische Projekt eingehender interessiert. Schillers Sendung Moses und Reinholds Hebräische Mysterien sind in diesen Kontext situiert, beide Schriften nehmen, wie im folgenden zu zeigen ist, auf das Problem der politischen Legitimität der Arkansysteme Bezug. Daß ihre Auffassungen hier womöglich differierten, macht schon ein weiterer Umstand deutlich: Schiller lehnte im Gegensatz zu Reinhold einen Ordensbeitritt trotz wiederholter Werbungsversuche der Illuminaten zeitlebens ab.9 Diese bislang kaum behandelten masonischen Kontexte lassen folglich Zweifel an seiner These einer völligen Übereinstimmung beider Schriften aufkommen. Die vorliegende Untersuchung geht diesen Zusammenhängen nach, indem sie die Differenzen zwischen Reinhold und Schiller zu skizzieren und der spätaufklärerischen Arkandiskussion damit ein weiteres Detail hinzuzufügen versucht. Sie folgt dabei dem von Monika Neugebauer-Wölk in diesem Band formulierten Vorschlag, die Arkansysteme der Spätaufklärung nicht als prärevolutionäre Vorformen des modernen Staates zu verstehen, sondern sie als komplexes politisches Beziehungsgeflecht zu begreifen, das in der Struktur des alten Reichs fest verankert ist.10 Dieser Zugriff differenziert die verbreitete Auffassung, die Arkansysteme haben – wie Reinhart Koselleck in den 50er Jahren annahm11 – maßgeblich zur Erosion des vormodernen Staats beigetrader Illuminaten, Tübingen 1996; dazu neuerdings: Walter Müller-Seidel, Zur Einführung, in: ders., Wolfgang Riedel (Hg.), Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde, Würzburg 2002, 9– 26, hier 9; Wolfgang Riedel, Aufklärung und Macht. Schiller, Abel und die Illuminaten, in: ebd., 107–125; Dieter Borchmeyer, „Marquis Posa ist große Mode.“ Schillers Tragödie ‘Don Carlos’ und die Dialektik der Gesinnungsethik, in: ebd., 127–144. 8 Schings, Die Brüder des Marquis Posa (wie Anm. 7), 130 ff. 9 Friedrich Schiller, Briefe über Don Karlos, Zehnter Brief, NA, Bd. 22, 168. 10 Vgl. dazu den Aufsatz im vorliegenden Band von Monika Neugebauer-Wölk, Arkanwelten im 18. Jahrhundert. Zur Struktur des Politischen im Kontext von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit. 11 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 81997, besonders 105–115.
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gen. Leitend für Neugebauer-Wölks Kritik an dieser Deutung war unter anderem die Beobachtung verzweigter, personeller Verflechtungen und Allianzen. Zahlreiche Mitglieder der Arkanorden bekleideten zugleich einflußreiche Positionen und Ämter in den vormodernen Fürstenstaaten. Um die spätaufklärerische Arkanpraxis zu legitimieren, knüpften die Vertreter der Ordenssysteme zudem an die frühneuzeitliche Tradition der Staatsräson an, die offenkundig einen gemeinsamen Bezugsrahmen der politischen Praxis der Frühen Neuzeit und der Arkanpolitik bildete.12 Die Rekonstruktion dieser Zusammenhänge soll erhellen, welche politische Funktion den Arkansystemen noch zu Ende des 18. Jahrhunderts von ihren Apologeten und Kritikern zugeschrieben wurde. Das besondere Augenmerk wird hierbei auf die Versuche der Zeitgenossen gerichtet, die Arkanpolitik bzw. -praktiken mit der Lehre der Staatsräson zu legitimieren.13
I. Staatsräson und Esoterik. Moses mit zweifachem Angesicht „Die Maxime,“ heißt es in einem Aufsatz, der 1786 im Journal für Freymaurer erschien, welche ein philosophischer [d.i. aufgeklärter] Fürst unsers Jahrhunderts durch Worte und Thaten behauptet hat, daß in einer weisen und glänzenden Regierung die Religionsbegriffe des Volks von jenen des Gesetzgebers ganz unterschieden seyn müßten, war diejenige, auf welche so wie in Aegypten, also auch in Italien und Griechenland das Institut der Mysterien am Ende hinauslief.14
Mit entschiedenen Worten hebt der Wiener Freimaurer Augustin Veith von Schittlersberg (1751–1811) hier eine Parallele zwischen dem aufgeklärten Fürstenstaat und den antiken Mysterienreligionen hervor, die sich auf die Maxime bezieht, zwischen einer allgemein propagierten Volksreligion und einer vernünftigen Religion zu unterscheiden. Gemessen an den geläufigen Annahmen der Aufklärungsforschung ist von Schittlersbergs Vergleich zunächst indes irritierend. Zum einen setzt er eine aufgeklärte Staatsform mit einem esoterischen 12 Dazu Michael Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main 1990, 37–120. 13 Neugebauer-Wölk, Arkanwelten (wie Anm. 10). 14 Br. S***g. [Augustin Veith von Schittlersberg], Ueber den Einfluß der Mysterien der Alten auf den Flor der Nationen, in: Journal für Freymaurer. Als Manuskript gedruckt für Brüder und Meister des Ordens. Hg. von den Brüdern der Loge zur Wahrheit im Orient, Wien 3 (1786), 80– 116, hier 105. In der Autorzuweisung folge ich Markus Meumann, Zur Rezeption antiker Mysterien im Geheimbund der Illuminaten: Ignaz von Born, Karl Leonard Reinhold und die Wiener Freimaurer-Loge ‘Zur wahren Eintracht’, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.), Aufklärung und Esoterik, Hamburg 1999 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 24), 288–304, 297.
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Mysterienkult in Relation. Zum anderen deutet die Maxime auf mögliche Überschneidungen zwischen fürstenstaatlichen und freimaurerischen Politikintentionen hin.15 Schittlersbergs Diktum wirft wohl die Frage auf, warum eine Fraktion von Spätaufklärern die esoterischen Mysterienkulte offenkundig zum exemplum für das politische Aufklärungsprojekt zu stilisieren begann und warum sie im aufgeklärten Fürstenstaat geradezu eine Neuauflage der antiken Mysterienreligionen sah. Ein entscheidendes Zeitgespräch, aus dem die oben zitierte Maxime hervorgegangen sein könnte, bildet die seit der Frühaufklärung verbreitete Auffassung von der Nützlichkeit der sogenannten doppelten Lehre für den Machterhalt im Staat. Mit ihr wurde die Unterscheidung zwischen einer Volksreligion, die öffentlich propagiert wurde, und einer elitären, in Staatskreisen verbreiteten, aufgeklärten Religion überhaupt erst legitimiert. Der Freimaurer führt die Anwendung der doppelten Lehre darüber hinaus auf die Staatsräson zurück und weist sie als Kunstgriff einer „weisen und glänzenden Regierung“ aus. Die Adjektive ‘weise’ und ‘glänzend’ deuten bereits auf eine mögliche zweifache Funktionsbestimmung des Arkanraums hin. Mit ‘weise’ wird zunächst der Nutzen der Lehre für den Erhalt des Staats benannt. Das Adjektiv ‘glänzend’ könnte dagegen einen in Aussicht gestellten, konkreten Zugewinn indizieren, der sich nach Schittlersberg in den antiken Mysterienkulten nachweisen ließ,16 denn der Auffassung des Freimaurers zufolge wurde in den Mysterien offenbar nicht nur eine vernünftige Religion gelehrt, sondern auch ein Geheimwissen tradiert, das sich für den Staat nutzbar machen ließ. Damit sind zwei Aspekte angeführt, welche die Mysterienkulte für die Spätaufklärung attraktiv gemacht und zugleich dazu beigetragen haben dürften, daß sie zur Folie für die masonischen Hochgradsysteme avancierten.
Zu Vorurteilsstrukturen in der Aufklärungsforschung Monika Neugebauer-Wölk, Die Geheimnisse der Maurer. Plädoyer für die Akzeptanz des Esoterischen in der historischen Aufklärungsforschung, in: Das 18. Jahrhundert 21/1 (1997), 15–32. 16 Im Zusammenhang mit den antiken Mysterien könnte das Adjektiv auf die geheimen Wissenschaften, z.B. alchemistische Metallbearbeitungsverfahren verweisen. Vgl. dazu Eintrag ‘Glänzen’, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 4. Bd., I. Abteilung, 4. Teil. Gewöhnlich-Gleve. Leipzig 1949, Sp. 7627–7645, Sp. 7630. Die Funktionalisierung der Religion gilt darüber hinaus als ein probates Mittel der Staatsklugheit. Dazu auch Artikel ‘Religions=Klugheit’, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 31, Sp. 117. „[n]achdem man voraussetzet, daß die Religion zur Erhaltung eines Staats nöthig sey – wie im Artikel Religionsrecht erwiesen worden – so zeigt die Klugheit, wie ein Fürst selbige so einrichten müsse, daß sie dem Staat mehr helffe, als schade […] Man darf auch diese Klugheit nicht nach Machiavellistischen Principiis abmessen, und in eine Arglistigkeit verwandeln, als wolte der Regent die Religion zum Werckzeuge seiner herrschsüchtigen und andern bösen Begierden brauchen.“ 15
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Im Rahmen dieser Mysterien-Deutung kam Moses in der Regel eine zentrale Rolle zu.17 Denn Moses galt nicht nur als Gründer des hebräischen Staates, sondern, nach der einschlägigen Untersuchung des englischen Hebraisten John Spencer, zudem als ein in die ägyptischen Mysterienkulte Eingeweihter. Er wurde als Magier verstanden, der über ein altes, d.h. auch praktisch anwendbares Geheimwissen verfügte.18 Von den unterschiedlichen Akzentuierungen, welche die Moses-Figur erfahren hat, werden in der hier behandelten Diskussion also vornehmlich zwei Aspekte zusammengeführt: zum einen der Aspekt der mosaischen Staatsgründung, zum anderen die Frage nach der Tradierung eines als ägyptisch ausgewiesenen Arkanwissens.19 Beide Aspekte lassen sich mit der Funktionsbestimmung der antiken Mysterien verbinden, auch wenn sie je unterschiedlich gewichtet werden. Entweder wird der Nutzen des magischen Wissens für das Wohl des Staats hervorgehoben oder der Akzent liegt auf der Anwendung der doppelten Lehre, auf der von Moses praktizierten Unterscheidung zwischen einer Volks- und einer Vernunftreligion. Unter machtstrategischen Gesichtspunkten wurde die mosaische Staatsgründung vor allem in der politischen Theorie der Frühen Neuzeit diskutiert. Zu nennen sind hier das Lob Machiavellis,20 die vernichtende Kritik Spinozas21 und die Tribus Impostoribus-Literatur.22 Ins Zentrum des Interesses rückte in dieser Diskussion die Frage, ob die göttliche Sendung und die Annahme eines strafenden Gottes ein (zu legitimierender) Betrug waren, mit welchem den Willkürgesetzen nachhaltig Geltung verschafft werden sollte.23 Staatstheoretische Legitimation und Kritik gingen dabei Hand in Hand. Von einer Fraktion wurde die Sendung als sinnvoller Kunstgriff erachtet, der die Gründung des jüStrickhausen, Prophet, Staatsmann, Erzieher des Menschengeschlechts (wie Anm. 3), 137– 167, zu Schiller 152 ff.; Herbert Schmid, Die Gestalt Mose. Probleme alttestamentlicher Forschung unter Berücksichtigung der Pentateuchkrise, Darmstadt 1986, besonders Kap. 3; Werner H. Schmidt, Mose, in: Peter Antes (Hg.), Große Religionsstifter. Zarathustra, Mose, Jesu, Mani, Muhammad, Nakak, Buddha, Konfuzius, Lao Zi, München 1992, 32–48, hier 47; Herfried Münkler, Moses, David und Ahab. Biblische Gestalten in der politischen Theorie der Frühen Neuzeit, in: Jürgen Ebach, Richard Faber (Hg.), Bibel und Literatur, München 1995, 113–136. Nicht eingesehen werden konnte bis zum Abschluß des Manuskripts das von Barbara Bauer angekündigte Buch zur Moses-Diskussion in der Frühen Neuzeit. 18 John Spencer, De legibus Hebraeorum ritualibus, Cambridge 1685; vertreten autoritativ auch von Paul Ernst Jablonski, Pantheon Aegyptiorum, sive de diis eorum commentarius […], Frankfurt 1752; dazu Assmann, Moses der Ägypter (wie Anm. 3), 85 f. 19 Ebd., 37 f. 20 Philipp Rippel (Hg.), Niccolò Machiavelli, Il Principe. Der Fürst. Italienisch/Deutsch, Stuttgart 1986, 43–47. 21 Baruch Spinoza, Tractatus theologico-politicus (1670), Kap. 8 und 9. 22 Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland (1680–1720), Hamburg 2002, 115–137. 23 Thomas Hobbes, Leviathan (1651), Kap. 33. 17
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dischen Staats erst ermöglichte. Eine weitere Fraktion interpretierte diesen Kunstgriff dagegen als despotische Lüge.24 Einen neuen Ansatz, der nicht nur für die Moses-Interpretation, sondern für die Entwicklung der Hochgradsysteme überhaupt relevant war, eröffnete die gegen die Freidenker gerichtete Schrift William Warburtons The Divine Legation of Moses Demonstrated (1737–1740). Sie entkräftete zunächst den gegen Moses gerichteten Lügenvorwurf, indem sie erneut für den göttlichen Ursprung der mosaischen Sendung plädierte. Der Hebräer war demnach kein Betrüger, der eine pagane Weisheitslehre oder die Idee einer göttlichen Offenbarung instrumentalisiert, d.h. sich ihrer zur Staatsgründung bedient hatte. Ausschlaggebend und von rezeptionsgeschichtlicher Bedeutung für die Hochgradsysteme war jedoch weniger die Deismuskritik Warburtons als vielmehr seine spezifische Interpretation der Moses-Figur bzw. der ägyptischen Mysterien. Nach Warburton hatten die antiken Mysterien zuvörderst eine Funktion bei der Etablierung von Sittengesetzen. Karriere machte in diesem Kontext die Unterscheidung von den sogenannten kleinen und großen Geheimnissen. Während in den kleinen Mysterien die Religionsriten etabliert wurden, beinhalteten die großen die eigentliche verborgene Lehre (‘hidden doctrines’). Auch auf Moses wird diese Interpretation übertragen. Denn Warburton skizziert den Hebräer als einen in die ägyptischen Mysterien Eingeweihten, der um die sinnvolle Anwendung der doppelten Lehre wie auch um den eigentlichen esoterischen Kern der Mysterien wußte.25 Der Lügenvorwurf wurde von Spinoza vorgebracht, der sich auf die Gemeinsamkeiten zwischen der jüdischen und anderen Religionen berief und die mosaische Religionsstiftung als Plagiat verworfen hat. Vermittelt wird Spinozas Moses-Interpretation in der deutschsprachigen Hochaufklärung auch durch Johann Christian Edelmanns anonym erschienenen Traktat: Moses mit aufgedeckten Angesichte von zwey ungleichen Brüdern, Lichtlieb und Blindling beschauet […] o.O. und o.J. Für eine Kontroverse sorgte die Schrift vor allem wegen ihrer pantheistischen Implikationen. Vgl. zur Kritik an Edelmanns Moses-Interpretation u.a. Johann Christoph Harenberg, Die Gerettete Religion. Oder Gründliche Widerlegung des Glaubensbekentnißes welches Johann Christan Edelmann […] vorzulegen ihm unterstanden, Braunschweig, Hildesheim 1747, 69. 25 Aus der Auslassung wird bei Warburton die Wahrheit der göttlichen Sendung abgeleitet. William Warburton, The Divine Legation of Moses Demonstrated, on the Principles of a Religious Deist. From the Omission of the Doctrine of a Future State of Reward and Punishment in the Jewish Dispensation. In Nine Books. The First Volume. The Third Edition, Corrected and Enlarged by W.W. London 1742, Section IV, zur Funktion der antiken Mysterienkulte und zur Doppelstruktur von großen und kleinen Mysterien, die am Beispiel der Eleusinischen Mysterien demonstriert, aber grundsätzlich auch auf andere Mysterienkulte angewandt werden konnte, vgl. 131 f. sowie 143, zu den ‘hidden doctrines’ der großen Mysterien dagegen 149; in deutscher Übersetzung: Wilhelm Warburton, Göttliche Sendung Mosis. Aus den Grundsätzen der Deisten bewiesen. In der Sprache der Deutschen übersetzt, und mit verschiedenen Anmerkungen versehen von Johann Christian Schmidt, 3 Bde., Frankfurt, Leipzig 1751–1753; zu Warburton im masonischen Kontext siehe Florian Maurice, Esoterische Traditionen in der Freimaurerei, in: Neugebau24
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Die auch von Warburton behandelte Frage nach dem Inhalt und den Tradierungsformen einer ägyptischen Weisheitslehre hatte im Vorfeld bereits einer weiteren Gruppierung Auftrieb geliefert. Gemeint sind jene Hermetiker des 18. Jahrhunderts, die sich auf Deutungen stützen, wie sie unter anderen vom Cambridger Philosoph Ralph Cudworth (1617–1688) vertreten wurden. Im Gegensatz zu Warburton hatte sich Cudworth für das hohe Alter einer zu dechiffrierenden, ägyptischen Weisheits- bzw. Geheimlehre ausgesprochen.26 Die sich auf ihn berufende Gruppierung hielt Moses nicht nur für einen Eingeweihten, sondern sah im Buch Genesis ein uraltes, hermetisches Schöpfungswissen tradiert. Sie war auf der Suche nach einem über Moses vermittelten esoterischmagischen Kernwissen, mit dem sich die gesamte Natur durch die Kenntnis der ‘Kräfte’, wie es im Anschluß an Newton hieß, aufschlüsseln ließ.27 Die Diskussion über das Alter der ägyptischen Weisheit und Mysterien-Kultur bzw. ihrer Rekonstruierbarkeit war deshalb kein ausschließlich philologisch-historischer Gelehrtenstreit, sondern der springende Punkt einer Debatte, aus der disparate Denkformationen ihre Legitimität bezogen. Als ‘basso continuo’ zieht sich dieser frühaufklärerische Disput bis weit ins 18. Jahrhundert. Welch ungemein breite Wirkung Warburtons Moses-Interpretation auch außerhalb des theologischen Kontextes entfaltete, läßt sich noch an der Diskussion der 1780er Jahre ablesen. Die Berliner Aufklärung beschäftigt sich intensiv
er-Wölk (Hg.), Aufklärung und Esoterik (wie Anm. 14), 274–287, 283 f.; dazu auch Assmann, Moses der Ägypter (wie Anm. 3), 138–146. 26 Ralph Cudworth, The True Intellectual System of the Universe, wherein all the Reason and Philosophy of Atheism is confuted, and its Impossibility demonstrated [...], in Three Volumes, London 1995 [Reprint of the 1895 Edition], Vol. 1, 537, 541, zum Alter der ägyptischen Lehre und zur Arkantheologie: „And the Egyptian hieroglyphics [...] were chiefly made use of by them to this purpose, to express the mysteries of their religion and theology, so as that they might be concealed from the profane vulgar [...] and therefore Moses was as well instructed in this hieroglyphic learning and metaphysical theology of theirs as in their mathematics.” Zur Kritik an Ralph Cudworth: Warburton, The Divine Legation of Moses Demonstrated (wie Anm. 25), Tom II, Part I, 66: „But to give this Argument fair Play, it will be necessary to trace up Hieroglyphic Writing to its Original; which an universal Mistake concerning its primeval Use, hath rendered extremely difficult. The Mistake I mean, is that which makes the Hieroglyphics to be invented by the Egyptian Priests, in order to hide and secrete their Wisdom from the Knowledge of the Vulgar.“ 27 Vgl. dazu die Arbeiten von Martin Mulsow, Pythagoreer und Wolffianer: Zu den Formationsbedingungen von vernünftiger Hermetik und gelehrter ‘Esoterik’ im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: Anne-Charlotte Trepp, Hartmut Lehmann (Hg.), Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der frühen Neuzeit, Göttingen 2001, 337–395; sowie ders., Vernünftige Metempsychosis. Über Monadenlehre, Esoterik und geheime Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, in: Neugebauer-Wölk, Aufklärung und Esoterik (wie Anm. 14), 211–273, hier 215–225.
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mit wesentlichen staatstheoretischen Aspekten der Debatte.28 In den Kreisen der Mittwochsgesellschaft findet die Theorie der doppelten Lehre zunächst wieder Anklang. Dort wird auf breitem Raum verhandelt, ob eine Volksaufklärung überhaupt sinnvoll ist, oder ob die Unterscheidung zwischen einer öffentlich propagierten Volks- und einer elitären Vernunftreligion nicht vielmehr zum Wohl des Staats aufrechterhalten werden müsse. Mit der Diskussion reagierten die Berliner zum einen auf eine Kritik aus dem anti-aufklärerischen Lager. Sie griffen damit zum anderen eine in den 1780er Jahren innerhalb der Arkansysteme ausgetragene Debatte auf. Um 1780 nämlich, also einige Jahre vor der Berliner Aufklärungskontroverse, setzte eine Welle an Publikationen von Moses- und Mysterien-Texten ein, die in auffälliger Weise mit den Interessen der Arkanorden koinzidierte.29 Der erste hierfür einschlägige Text war die Abtrünnigenschrift Der Rosenkreuzer in seiner Blösse, die der Ex-Rosenkreuzer und Gründer der Asiatischen Brüder Hans Heinrich Freiherr Ecker von Eckhoffen 1781 publizierte. Darin folgt von Eckhoffen Warburtons These und erklärt Moses zum Eingeweihten der ägyptischen Mysterien. Er plädiert in diesem Zusammenhang für die doppelte Lehre, die auch Moses angewandt haben soll. Darüber hinaus betont er jedoch, daß letzterer den Hebräern den esoterischen Kern des Mysteriums nicht mitgeteilt habe. Indem er die Annahme eines kontinuierlich vermittelten (und rekonstruierbaren) Mysterienwissens verneint, kritisiert er zunächst jene Orden, die sich auf diese Tradition berufen.30 Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß das leitende Mitglied des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer Joseph Bernhard Schleiss von Löwenfeld, Verfasser mehrerer rosenkreuzerischer Schriften, der These von Eckhoffens vehement Das geht aus den Diskussionen der Berliner Mittwochsgesellschaft hervor, vgl. Birgit Nehren, Selbstdenken und gesunde Vernunft. Über eine wiederaufgefundene Quelle zur Berliner Mittwochsgesellschaft, in: Aufklärung 1 (1986), 87–101; sowie zum Problemzusammenhang Peter Weber, „Ist der Volksbetrug von Nutzen?“ Zur politischen Konstellation deutscher Spätaufklärung, in: Richard Fisher (Hg.), Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Festschrift für Wolfgang Wittkowski, Frankfurt am Main, Berlin 1995 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 52), 135–146; zu Reinholds im Teutschen Merkur erschienenen Beitrag über Aufklärung vgl. Gerhard W. Fuchs, Karl Leonard Reinhold – Illuminat und Philosoph. Eine Studie über den Zusammenhang seines Engagements als Freimaurer und Illuminat mit seinem Leben und philosophischen Wirken, Frankfurt am Main u.a. 1994 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle ‘Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770– 1850’, 16), 41 f. 29 Zahlreiche der Autoren von Mysterientexten waren Mitglieder in spätaufkärerischen Arkansystemen oder mit ihnen assoziiert: August von Starck (1775), Ignaz von Born (1782), Friedrich Victor Leberecht Plessing (1787), Carl Gotthold Lenz (1790). 30 Hans Heinrich Freiherr Ecker von Eckhoffen [=Pianco], Der Rosenkreuzer in seiner Blösse. Zum Nutzen der Staaten hingestellt durch Zweifel wider die Weisheit der so genannten ächten Freymäurer oder goldnen Rosenkreuzer des alten Systems, Amsterdam [Nürnberg] 1782, 165 ff. 28
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widersprochen und Moses im Gegenzug zu einem Magier stilisiert hat, der über ein altes Wissen in Kenntnis gesetzt war.31 Seine Schrift Der im Lichte der Wahrheit stralende Rosencreutzer (1782) löste in Folge die Publikation zahlreicher weiterer Moses- und Mysterien-Schriften aus, die sich, wie die Bibliographie des Archivs für Freimaeurer und Rosenkreuzer (1785) dokumentiert, ebenfalls mit jenen genealogischen Problemen befaßten. Eine dieser Schriften mit dem Titel Vergleichung des Stammes der Juden, nach Mose Einrichtung, mit dem vormaligen Priesterstande der Egyptier,32 bezieht sich explizit auf den Bericht des abtrünnigen Rosenkreuzers Ecker von Eckhoffen sowie auf Schleiss von Löwenfelds Replik. Sie belegt zumindest, daß die Debatte weite Kreise gezogen hat und wohl auch Reinhold und Schiller bekannt gewesen sein dürfte. Der Disput zwischen Eckhoffen und Löwenfeld erhellt ferner, daß die Moses-Figur zu einem kontroversen Gegenstand der Arkandiskussion avanciert war. Gerade der Orden der Rosenkreuzer, der für sich die Kenntnis eines alten Schöpfungswissens in Anspruch nahm, plädierte jetzt nämlich erneut für eine ungebrochene antike Überlieferungstradition. Er machte Moses zum Magier und Träger eines göttlichen Wissens, einer ‘theologia prisca’, und lieferte damit möglicherweise den theoretischen Legitimationsrahmen für zahlreiche Magier, die seit den späten 1770er Jahren in der Ordenszene auftraten.33 Der Orden der Illuminaten setzte dagegen zu einem Angriff auf die Rosenkreuzer und andere sogenannte Theosophen an. Die Ordensvertreter beriefen sich in diesem Kontext auf Schriften, mit denen der Anciennitätsanspruch der Rosenkreuzer und anderer Systeme widerlegt werden konnte. Von Interesse war dabei zunächst die Schrift des Göttinger Popularphilosophen Christoph Meiners Über die Mysterien der Alten, besonders die Eleusinischen Geheimnisse. Daß dieser bereits 1776 publizierte Text für die Ausbildung des arkanen Hochgradsystems der Illuminaten eine hervorgehobene Bedeutung hatte, ist in der Forschung schon seit längerem bekannt.34 Darüber hinaus dürfte auch Meiners Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker (1775) hier einJoseph Bernhard Schleiss von Löwenfeld [=Phoebron], Der im Lichte der Wahrheit strahlende Rosenkreuzer allen lieben Mitmenschen auch dem Magister Pianco zum Nutzen hingestellt, Leipzig 1782; dazu Arnold Marx, Die Gold- und Rosenkreuzer. Ein Mysterienbund des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Deutschland, Leipzig 1923, 159; sowie Karl Frick, Die Erleuchteten. Gnostisch-theosophische und alchemistisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Neuzeit, Graz 1973, 337. 32 Archiv für Freimaeurer und Rosenkreuzer, Theil II, 414–447, hier 414. 33 Eine Fundgrube sind hier die Cagliostro-Schriften, dazu Klaus Kiefer (Hg.), Cagliostro – Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus, München 1991. 34 Zum Einfluß von Meiners Abhandlung auf das illuminatische Hochgradsystem vgl. Monika Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1995 (Kleine Schriften zur Aufklärung, 8), 27. 31
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schlägig gewesen sein. Diese Schrift ließ sich zumindest gegen die MosesDeutung der Rosenkreuzer anführen. Denn Meiners differenzierte darin die seit Spencer verbreitete Auffassung, daß wesentliche Elemente des mosaischen Monotheismus auf die ägyptischen Mysterien verwiesen. Meiners konnte zwar wie Spencer Gemeinsamkeiten zwischen dem Pentateuch und anderen Quellendokumenten nachweisen, die im 18. Jahrhundert verfügbar waren.35 Er hielt die neuplatonischen und biblischen Quellen allerdings für korrumpierte Dokumente der ägyptischen Weisheitslehre und delegitimierte Moses gleichsam als Übermittler eines uralten, ägyptischen Arkanwissens. Genau auf diesem Stand der Diskussion greift Reinhold in die Debatte ein.36
II. Moses theologico-politicus. Reinholds Apologie der Arkansysteme Daß sich Reinholds Schrift Hebräische Mysterien auf die oben skizzierte Moses-Debatte bezieht, macht nicht zuletzt ihre Anlehnung an Warburton offenkundig.37 Schon in der Disposition folgt sie der von Warburton aufgegriffenen Um die zeitgenössischen Positionen zu verstehen, ist es sinnvoll, sich die Quellensituation zu vergegenwärtigen: Um 1780 waren die Hieroglyphen noch nicht entziffert, auch kann von einer eigenständigen wissenschaftlichen Ägyptologie nicht gesprochen werden. Zentrale Quellen waren somit die Bibel wie auch die neuplatonischen Schriften. Zu diesem Kontext ferner: Christoph Meiners, Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker besonders der Egyptier, Göttingen 1775, besonders 80 f. Darin kritisiert Meiners Versuche, aus den Büchern Moses Rückschlüsse auf die ägyptische Mysterienkultur zu ziehen. Auch die spätantiken Quellen werden wegen ihrer platonischen Überlagerungen als unzuverlässig gekennzeichnet. Zur esoterischen Ägypten-Rezeption: Erik Hornung, Das esoterische Ägypten. Das geheime Wissen der Ägypter und sein Einfluß auf das Abendland, München 1999. 36 Zwischen den Rosenkreuzern und den Illuminaten hatte sich spätestens seit Beginn der 1780er Jahre eine Debatte um die Legitimität wie auch um den Altersanspruch der Systeme ausgebildet. Die hier skizzierte Kontroverse stellt sich als Legitimationsstreit dar, bei dem es zugleich um die Ausbildung arkaner Konnexionen ging. Zu Johann Christian Bodes Versuchen, Herzog Karl August von Sachsen-Weimar anzuwerben vgl. Neugebauer-Wölk, Arkanwelten (wie Anm. 10); zur rosenkreuzerischen Anwerbung des preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm siehe Hans-Joachim Neumann, Friedrich Wilhelm II. Preußen unter den Rosenkreuzern, Berlin 1997. 37 Zu Reinhold vgl. ferner Alfred Klemmt, Karl Leonard Reinholds Elementarphilosophie. Eine Studie über den Ursprung des spekulativen deutschen Idealismus, Hamburg 1958; Reinhard Lauth, Nouvelles Recherches sur Reinhold et l’Aufklärung, in: Archives de Philosophie 42 (1979), 593–629; Reinhard Lauth u.a. (Hg.), Karl Leonard Reinhold, Korrespondenzausgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1: Korrespondenz 1773–1788, Stuttgart-Bad Cannstatt, Wien 1983; Hermann Schüttler, Karl Leonard Reinhold und die Illuminaten im Vorfeld der Französischen Revolution, in: Manfred Buhr u.a. (Hg.), Deutscher Idealismus und Französische Revolution, Trier 1988, 49–75; Yun Ku Kim, Religion, Moral und Aufklärung. Reinholds philosophischer Werdegang, Frankfurt am Main 1996; Manfred Frank, Unendliche Annäherung. 35
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Unterscheidung zwischen den großen und kleinen Mysterien. Damit sind hier die Ritualsysteme und Symbole auf der einen Seite und die höchsten Geheimnisse, also die Lehre von der Einheit Gottes sowie die theologisch-politischen Geheimnisse des Ordens auf der anderen Seite gemeint. Letztere betrafen auch bei Reinhold den eigentlichen esoterischen Kern. Im Gegensatz zu Warburton befaßt sich der Text des Illuminaten jedoch nicht nur mit dem Zusammenhang zwischen den ägyptischen und hebräischen Mysterien, sondern ausführlich auch mit der Funktion und Bestimmung der maurerischen Geheimnisse. Der antike Mysterienkult stellt bei Reinhold die gesellschaftspolitische ‘Institution’ dar, auf die das Arkanwesen zurückgeführt wird. Die ‘Institution’ war ihm zufolge der historische Ort, an dem das maurerische Geheimnis möglicherweise aufbewahrt wurde, unabhängig davon, ob es symbolisch oder esoterisch zu interpretieren war. Anders als Warburton interessiert sich Reinhold für die antiken Mysterien besonders im Hinblick auf die Maurerei, als deren historische Vorformen er die Mysterienkulte zunächst zu begreifen scheint.38 Dieser Zusammenhang macht bereits deutlich, daß Reinholds Schrift aus dem Kontext seiner freimaurerischen Ordensaktivitäten hervorgegangen ist.39 Das legt jedenfalls ihre Erstpublikation im Journal für Freymaurer von 1786 nah. Wie auch ein Vergleich mit den Sitzungs-Protokollen der Wiener Freimaurer Loge „Zur Wahren Eintracht“ (deren Mitglied Reinhold war) ergeben hat,
Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt am Main 1997; Wilgert te Lindert, Aufklärung und Heilserwartung. Philosophische und religiöse Ideen. Wiener Freimaurer (1780– 1795), Frankfurt am Main u.a. 1998 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle ‘Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770–1850’, 26). Nach Assmann, Moses der Ägypter (wie Anm. 3), 176 f. besteht Reinholds wesentlicher Beitrag zur Moses-Debatte in der Gleichsetzung von Isis und Natur und der daraus entwickelten erhabenen Gottesidee. 38 Dafür spricht zumindest, daß Reinholds Text am 6.3.1786 und am 3.4.1786 in der Wiener Freimaurer-Loge „Zur wahren Eintracht“ vorgetragen wurde. Abgedruckt ist er im ersten und zweiten Band des Journals für Freymaurer von 1786. Reinhold, Korrespondenz 1773–1788 (wie Anm. 37), 397. 39 Zu Reinhold und den Ordenspublikationen der Wiener Illuminaten vgl. Meumann, Zur Rezeption antiker Mysterien (wie Anm. 14), 295. Demnach handelt es sich bei Reinholds Abhandlung keineswegs um eine ‘Spätschrift’, die erst nach dem Verbot der Illuminaten publiziert worden und damit von dem aktuellen Ordensprogramm und -aktivitäten gänzlich abgelöst wäre. Die Rede von einer ‘Spätschrift’ ist auch deshalb irreführend, weil sich nach der Aufhebung des Illuminatenordens in Kur-Bayern, in Weimar, Gotha und Jena zahlreiche Reform-Logen gruppierten, als deren aktives Mitglied Reinhold fungierte.
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knüpft die Schrift eng an die dort diskutierten Fragen an.40 Die Loge befaßte sich um 1785 intensiv mit den antiken Mysterienkulten.41 1787 wird der Text ein zweites Mal bei Göschen publiziert, zu einem Zeitpunkt, als verschiedene Mitglieder, darunter Reinhold, um eine Konsolidierung des Illuminatenordens bemüht waren.42 Die Zweitpublikation ist deshalb nicht nur vor dem Hintergrund von Reinholds Wiener Logenaktivitäten zu lesen, sondern auch als Reaktion auf eine sich zuspitzende Krise innerhalb des Ordens zu deuten. Beide Textfassungen unterscheiden sich zwar nur marginal, ihre Differenz könnte aber für die folgenden Überlegungen instruktiv sein. Die zweite Fassung enthält gegenüber der ersten nämlich weitere, explizite Verweise auf verschiedene Enthüllungsschriften von sogenannten Oberen, u.a. von Anton Mesmer, von dem berüchtigten Geisterseher Cagliostro sowie von Johann August Starck, die in der von Erich Biester und Friedrich Gedike herausgegebenen Berlinischen Monatsschrift abgedruckt waren.43 Die belegbaren Veränderungen der späten Textfassung dokumentieren, daß Reinhold die gegen Starck gerichteten Diffamierungen in der Berlinischen Monatsschrift zur Hans-Josef Irmen (Hg.), Die Protokolle der Wiener Freimaurerloge „Zur wahren Eintracht“ (1781–1785), Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York u.a. 1994 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle ‘Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770–1850’, 15). 41 Sie setzte sich auch mit der Kritik auseinander, die auf dem Wilhelmsbader Konvent 1782 an den Arkansystemen formuliert worden war. Verschiedene Konventteilnehmer hatten sich abschätzig über die spätaufklärerischen Hochgradsysteme geäußert, ihren Trägern einen gezielten Betrug nachweisen wollen und in diesem Zusammenhang auf die Enttarnung der geheimen Oberen sowie die angeblich von jenen verwahrten Geheimnisse gedrängt. Ludwig Hammermayer, Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782, Heidelberg 1980 (Wolfenbüttler Studien zur Aufklärung, 5/2). 42 Die zweite Ausgabe liegt Jan Assmanns Edition zugrunde. Beide Textfassungen sind in weiten Teilen identisch, sie unterscheiden sich in einigen Untertiteln, in der Einteilung sowie im Anmerkungsapparat. Der 1786 veröffentlichte Text beginnt mit der Genese der Hieroglyphen, diese Passage ist in der Publikation von 1787 bereits in die Einleitung übernommen worden. Hinzugefügt wurden 1787 mehrere Sätze, unter anderem ein Satz, der auf die Geltung des maurerischen Geheimnisses verweist: „Ich hingegen gebe darum meine Behauptung hebräischer Mysterien noch nicht auf: denn vielleicht finden sich im Innern des Hebraismus, so wie im Innern der Freymaurerey, Geheimnisse, denen diese Benennung im eigentlichsten Verstande zukommt.“ Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 57; zu weiteren Veränderungen vgl. Reinhold, Korrespondenz 1773–1788 (wie Anm. 37), 255. Das Druckjahr des Textes ist mit 1788 angegeben, bereits 1787 erscheint jedoch eine Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung. Der vollständige Titel der gegen Adam Weishaupt gerichteten, diskreditierenden Schrift lautet: Einige Originalschriften des Illuminatenordens, welche bey dem gewesenen Regierungsrath Zwack durch vorgenommene Hausvisitation zu Landshut den 11. und 12. Oktob. etc. 1786 vorgefunden worden. Auf höchsten Befehl Seiner Churfürstlichen Durchleucht zum Druck befördert, München 1787. 43 Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 126; Johann August Starck, Hephästion, Berlin, Königsberg 21776, zu Warburton 32–39; sowie ders., Ueber die alten und neuen Mysterien, Berlin 1782, 6; vgl. Maurice, Esoterische Traditionen in der Freimaurerei (wie Anm. 14), 284. 40
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Kenntnis genommen hat.44 Sie dokumentieren darüber hinaus, daß er sich der Polemik der Berliner anschließt, die sich auch gegen andere, mit den Illuminaten konkurrierende Hochgradsysteme richtete. Eben diese polemische, von der Berlinischen Monatsschrift übernommene Zielsetzung wirft nun ein Licht auf seine Interpretation der antiken Mysterienkulte und der Moses-Figur. Reinholds Text ist aus der Perspektive eines Freimaurers geschrieben, den das Titelblatt als Bruder Decius kennzeichnet. Den eingeweihten Zeitgenossen dürfte wohl bekannt gewesen sein, daß ‘Decius’ Reinholds Ordensname bei den Illuminaten war. Dem Titelblatt ist ferner zu entnehmen, daß es sich bei dem Text offenkundig um eine Vorlesung handelt, die in einer nicht näher bezeichneten Johannisloge gehalten wurde. Zentral für den vorliegenden Kontext sind bereits die einleitenden Worte der Schrift, mit denen der Maurer zur Bestimmung des Geheimnisses ansetzt. Das Geheimnis, so lautet eine erste Spitze, sei ein Begriff, der durch einen allzu inflationären Gebrauch seine Bedeutung verloren habe: Wie wenig eine lange und vielfältige Wiederholung eines Wortes beytrage, um den Sinn desselben festzusetzen, hievon, meine Brüder, können Sie Sich durch eine auch nur mittelmäßige Aufmerksamkeit auf den Gebrauch überzeugen, der von dem Worte Mysterien in der maurerischen sowohl, als in der profanen Welt gemacht wird.45
Hinter dieser allgemeinen und stark verklausulierten Bemerkung verbirgt sich nicht nur der Versuch, das masonische Geheimnis zu bestimmen, sondern gleichermaßen ein Angriff gegen jene Maurer, die „fast allen Inhalt aus denselben [den Mysterien] herausgeblasen hatten“.46 Auf diesen Hinweis folgt eine Darstellung der antiken Mysterienkultur, die sich in zwei Phasen zergliedern lasse: in eine Hochphase, in der die Epopten herrschten, und in die Zeit des Verfalls, die durch die Herrschaft der Hierophanten markiert wird. Die Phase des Verfalls ist zudem dadurch gekennzeichnet, daß die ägyptische Priesterklasse der Hierophanten den Kern des Mysteriums auf den „Eigennutz“ reduziert und mit wachsender „Unbegreiflichkeit“ die Institution ausschließlich als Herrschaftsmittel benutzt habe. Die Wahrheiten und innere Bedeutung des Mysteriums seien dabei verloren gegangen und die Rituale zu leeren Zeichen verkommen. Dieser Verlust wurde von den Hierophanten durch eine ‘magische’ Verwendung der Hieroglyphen kompensiert.47 Als Beleg für dieses mutmaßlich falsche Arkanverständnis, das auf Auf die Debatte in der Berlinischen Monatsschrift nimmt Reinhold allerdings schon 1786 Bezug, siehe dazu Meumann, Rezeption antiker Mysterien (wie Anm. 14), 304. 45 Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 13. 46 Ebd., 14. 47 Ebd., 17; vgl. dazu Warburton, The Divine Legation of Moses Demonstrated (wie Anm. 25), 154: „We must observe in the last Place, that besides the many Changes the ancient Egyptian Hieroglyphics underwent, they at length suffered a very perverse Corruption. It hath been already 44
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die Dechiffrierung eines in den Hieroglyphen angeblich codierten geheimen Wissens dringt und auf der magischen Vorstellung der Kraft der hieroglyphischen Zeichen basierte, wird eine unmittelbar aus dem Umfeld der Rosenkreuzer hervorgegangene Schrift genannt, der von Haugwitz verfaßte Hirtenbrief an die wahren und ächten Freimaurer alten Systems.48 Bei der zitierten Schrift handelt es sich um eine Apologie, die – das könnte Reinholds Interesse an ihrer Diffamierung verständlich machen – sich ihrerseits gegen die Illuminaten gerichtet hatte. Sie begegnete dem Orden mit dem bekannten DespotismusVorwurf, wie er seit der Publikation der Originalschriften im deutschen Sprachraum verbreitet wurde.49 Eine scheinbar beiläufige Nebenbemerkung indiziert darüber hinaus, daß Reinhold zu einem umfassenden Angriff gegen den Orden der Gold- und Rosenkreuzer ansetzt. Zwar erörtert er vordergründig die „ungeheuren Ähnlichkeiten“ zwischen den ägyptischen Mysterien und dem Religionsgesetz der Hebräer (Kasten, Bundeslade, Stier). Er erteilt aber zugleich der Hypothese eine Absage, daß Moses’ Weisheit auf eine noch ältere, also vorägyptische Tradition zurückgeführt werden könne:50 Wenn man dieser Art von Aenlichkeiten jenes Gewicht einräumen könnte und wollte, das ihnen von gewissen engländischen Philosophen beygelegt wurde: so würde Moses noch mehr als ein Eingeweihter der Mysterien; er würde, wenigstens so wie er mitten unter seinen Thaten und Wunderwerken erscheint, so gar einer der vornehmsten Gegen-
seen how the Mysteries, that other grand Vehicle of Egyptian Wisdom, degenerated into Magic: And just so it happened with the Hieroglyphics; for their Characters being become, in a proper Sense, Sacred (as will be explain’d hereafter) it disposed the more superstitious to engrave them upon Gems, and wear them as Amulets or Charms.“ 48 Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 23. Es handelt sich hierbei um einen späteren Einschub, der sich in der ersten Fassung von 1786 noch nicht nachweisen läßt, obwohl die Schrift bereits 1785 publiziert wurde. Auch ein Brief an den Meister vom Stuhl der Oldenburgischen Loge „Zum goldenen Hirsch“ Gerhard Anton von Halem vom 20.8.1787 signalisiert Reinholds Auseinandersetzung mit der Publikation der Originalschriften und belegt, daß sich der Illuminat u.a. gegen die Rosenkreuzer richtet und damit zugleich die Konsolidierung des Illuminatenordens vorantreiben möchte: „Ich vermute eine gänzlich Umschmelzung – denn aufgegeben kan weder der Zweck noch die wesentlichsten Mittel desselben nie von Männern werden die das Eine was dem Menschen noth ist, mehr als vom blossen Hören sagen kennen. – Wie[,] die Theosophen, Rosenk. Jesuiten & sollten besser davon kommen als die gute Sache.“ Reinhold, Korrespondenz 1773–1788 (wie Anm. 37), 252 f. 49 Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 121. 50 Folgende Schriften, die im Umkreis der Rosenkreuzer publiziert wurden, nehmen diese Gedanken auf: Friedrich Joseph Wilhelm Schröder (Hg.), Hermetisches A.B.C. vom Stein der Weisen, Berlin 1778 f.; Christian Erdmann von Jäger, Compass der Weisen, Berlin, Leipzig 1779, 40; Johann Joseph Kirchweger, Annulus Platonis. Aurea Catena Homeri oder Physikalisch= chymische Erklärung der Natur nach ihrer Entstehung, Erhaltung und Zerstörung, Berlin 21782, 10.
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stände jener Mysterien und seine Geschichte ein Fragment der Traditionen seyn, aus welchen die ägyptische Geheimlehre bestanden haben soll.51
Der Hinweis auf gewisse ‘englische Philosophen’ ist als Spitze zu lesen, die sich gegen die Cambridger Neuplatoniker richtet. Kritisiert werden damit Ralph Cudworth und seine Schrift The True Intellectual System of the Universe (1678), die in der lateinischen Übersetzung Mosheims vorlag. In dieser Schrift hatte Cudworth nicht nur auf die doppelte Lehre der Ägypter hingewiesen, sondern die ägyptische Tradition auf eine uralte Weisheit verpflichtet und war deshalb von den Rosenkreuzern rezipiert worden.52 Der Hinweis läßt sich somit als Kritik am Versuch der Rosenkreuzer verstehen, die mosaischen Bücher zum Gegenstand einer arkanen Weisheitslehre zu stilisieren sowie Moses neben Hermes und Plato zum Träger eines göttlichen Arkanwissens zu erheben, das in der sogenannten Schule der Propheten (in dem ‘Urim’, ‘Thummin’) bis in Reinholds Gegenwart wirksam sein soll.53 Von der Phase des Verfalls, in der die Hierophanten herrschten, wird nun eine Hochzeit unterschieden, in der die Epopten den Mysterien vorstanden und in der die ‘erhabene Lehre’ von der Einheit Gottes und der Unsterblichkeit der Seele gelehrt wurde. In dieser Hochphase haben die Hieroglyphen und Zeremonien lediglich als Kunstgriff der kleinen Mysterien gedient, die mit den großen Mysterien in keinem näheren Zusammenhang standen. Diese Form antiker Arkankultur, die besonders für die eleusinischen Mysterien konstitutiv war, werde in Reinholds Zeit vor allem durch Adam Weishaupts Verbessertes System der Illuminaten repräsentiert. Der als Bruder Decius bezeichnete Freimaurer unterscheidet hier also zwei Formen der Arkankultur hinsichtlich der Bedeutung ihrer Symbole. Den Hierophanten wirft er eine Zweckentfremdung des Mysteriums vor und degradiert ihren Arkanstil als magisch bzw. vernunftwidrig. Zudem kennzeichnet er ihre Arkanpolitik als ausschließlich auf eigennützige Herrschaftsinteressen ausgerichtete Machtpolitik. Dieser Tendenz wird Weishaupts Mysterienverständnis Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 31. Reinholds Kritik an Cudworth wirft womöglich ein zweifelhaftes Licht auf die Parallelisierung einer spinozistischen Gottesidee mit der Inschrift des verschleierten Bilds zu Sais. Vgl. Assmann, Nachwort (wie Anm. 3), 165; siehe ders., ‘Hen kai pan’. Ralph Cudworth und die Rehabilitierung der hermetischen Tradition, in: Neugebauer-Wölk, Aufklärung und Esoterik (wie Anm. 14) 38–52, sowie ders., Immanuel Kant und Friedrich Schiller über Isis und das Erhabene, in: Sigrun Anselm, Caroline Neubaur (Hg.), Talismane. Klaus Heinrich zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main 1998, 102-113, hier 111. 53 Vgl. dazu Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 120 f. Die Erwähnung des ‘Urim’, ‘Thummin’ der hohen priesterlichen Geheimnisse, die auf Aaron zurück geführt werden, ist eine Anspielung auf ein in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlichtes Manuskript, das Archidemides ab Aquila fulva, also August von Starck zugeschrieben wird. Bei den Rosenkreuzern galt es als Signum des höchsten Grades. Marx, Die Gold- und Rosenkreuzer (wie Anm. 31), 73. 51 52
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als Exempel einer nicht auf Eigennutz ausgerichteten Arkanpraxis gegenübergestellt. Als ihr historisches Vorbild dient die Mysterienkultur zur Zeit der Epopten.54 In Abgrenzung zu den oben referierten Auffassungen, also in Abgrenzung zu Weishaupts bzw. Haugwitz’ Mysterienverständnis, setzt der Text zur Bestimmung des eigentlichen masonischen Geheimnisses an. Von einer Sinnentleerung der Hieroglyphen grenzt er eine vermeintlich authentische Arkanpraxis ab: Gleichwie uns die Erklärung des Conventes dafür steht, daß jenes Geheimniß, weil es nicht selbst Zweck ist, Mittel zum Zwecke seyn müsse; eben so ist uns jener Eyd Bürge, daß es aus unserm Heiligthume noch nicht verlohren gegangen sey. So wenig nun unsre Hieroglyphen unser ganzes Geheimniß ausmachen können; so gewiß gehören sie zu diesem Geheimnisse, weil sie in unserm Eyde mitbegriffen sind und ohne Beziehung auf dasselbe sinnlos seyn müßten.55
Positiv hervorgehoben wird hier das antike, den Mysterienkulten entnommene masonische Basisinventar, die bis auf Reinholds Zeit gültigen „Feyerlichkeiten“, „Ceremonien“, „Hieroglyphen“ sowie die „geheimen Wissenschaften, die man uns vermuten läßt.“56 Die Hieroglyphe (hier als Synonym für Symbol)57 codiert demnach den wie auch immer zu deutenden esoterischen Restbestand des masonischen Ordensgeheimnisses,58 als dessen mögliche historische Vorform die antiken, hebräischen Hieroglyphen fungieren sollen.59 Von zentraler Bedeutung ist nun der letzte, siebte Abschnitt des Buches, der ein Licht auf das polemische Anliegen der Schrift sowie auf Reinholds aktuelles Interesse an ihrer Publikation wirft. Dieser Abschnitt beinhaltet den Vergleich zwischen hebräischen und masonischen Symbolen, in dem es um die mögliche Analogisierung der alten hebräischen mit den zeitgenössischen, freimaurerischen Arkana geht. Aufschlüsse über die masonischen Geheimnisse liefern zunächst zwei in der Berlinischen Monatsschrift publizierte Enthüllungsschriften. Bei der ersten hier zitierten Schrift handelt es sich um einen 1785 von Erich Biester veröfReinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 16. Ebd., 19. 56 Ebd., 14. 57 Assmann, Nachwort (wie Anm. 3), 162. 58 Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 14, orientiert sich ggf. an Bodes Schrift Deduktion über den historischen Ursprung, Zweck, die Hieroglyphen etc. der FMY in französischer Sprache. 59 Indem er die neuplatonischen von den vermeintlich authentischen Quellen trennt, greift der Maurer bei der Rekonstruktion auf eine in der Frühaufklärung etablierte Tendenz zurück, nämlich auf die Destruktion des Neuplatonismus aus dem ‘Geist’ der Quellenkritik bzw. Historie; vgl. dazu Mulsow, Moderne aus dem Untergrund (wie Anm. 22), 261 f. Auch weil Reinhold mit der neuplatonischen Tradition der prisca theologia bricht, scheint es problematisch, sein Interesse an den ägyptischen Mysterien auf die darin vermutete, versteckte Anweisung zurück zu führen, den „Stein der Weisen“ zu finden; das behauptet Jückstock, „Verhüllte Wahrheit“ (wie Anm. 3), 32 f. 54 55
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fentlichten (fingierten?) Brief eines angeblichen Mitglieds der Gold- und Rosenkreuzer, der über die höheren Ordensgeheimnisse, über die kabbalistischen Künste und die mosaische Ordnung berichtet. Darüber hinaus wird auf einen 1786 in der Berlinischen Monatsschrift publizierten (möglicherweise ebenfalls erdichteten) Brief von Johann August Starck an den Leipziger Thaumaturgen Johann Georg Schrepffer verwiesen.60 Diese beiden ‘Quellen’ sollen dokumentieren, daß die Geheimnisse des Klerikats und der Rosenkreuzer magische, kabbalistische Täuschungsmanöver darstellen, die auf Erdichtungen der Ordensgründer basieren. In diesem Zug wird die Etablierung höherer hebräischer Mysterien in den Orden als gezielter Betrug entlarvt. Bei den von Bruder Decius konsultierten ‘Quellen’ handelt es sich freilich nicht um bezeugte, ordensinterne Dokumente, sondern wohl eher um Authentizitätsfiktionen, die als vermeintliche Belege den in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlichten Skandalschriften und Pamphleten beigefügt wurden. Schon der Umstand, daß diese durchaus fragwürdigen ‘Quellen’ hier Aufschlüsse über innere Ordensgeheimnisse und -strukturen liefern sollen, signalisiert den polemischen und fiktiven Charakter der Schrift. Sie ist aus der Perspektive eines Freimaurers geschrieben, der sich im letzten Abschnitt mit der Enttarnung von vermeintlichen Oberen auseinandersetzt. Dafür spricht zumindest der Verweis auf Johann August Starck. Die Hebräischen Mysterien stellen sich somit als kritischer Bericht eines Maurers dar, der an die höheren Mysterien seines Ordens glaubte und durch die in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlichten Enthüllungen über einen vermeintlichen Betrug ‘aufgeklärt’ wurde. Aus dieser Konstruktion läßt sich jetzt das polemische Interesse ableiten, das Reinhold mit der Zweitpublikation der Schrift verbindet. Die Etablierung höherer hebräischer Geheimnisse (‘Sanhedrim’, ‘Urim,’ ‘Thummim’) innerhalb der Freimaurerorden wird von ihm nämlich als gezielter Unterwanderungsversuch des Klerikats interpretiert. In gleichem Zug bewertet der Jenenser die anti-illuminatische Kritik dieses Arkanordens als politisches Kalkül, das sich vor dem Hintergrund eines spezifischen, ordensinternen Machtinteresses deuten läßt. Bei Reinholds fingiertem, gegen das Klerikat und die Rosenkreu[Anonym], An die würdigen und geliebten Brüder D[es]. H[ohen]. O[rdens]. D[er]. G[old]. U[nd]. R[osen]. C[reuzer], in: Berlinische Monatsschrift 6 (1785), 107–164, 126 f. Daß sich Reinhold auf diesen Artikel bezieht, bezeugen zahlreiche Übereinstimmungen im Detail, unter anderem seine Erwähnung von Chrysophiron sowie der mosaischen Ordnung des rosenkreuzerischen Systems. Die zweite Schrift, auf die sich Reinhold beruft, lautet: [Anonym], Noch etwas über geheime Gesellschaften, in: Berlinische Monatsschrift 8 (1786), 44–67. Dieser Schrift sind die hier genannten angeblichen Ordensinterna zu entnehmen, beigefügt wird ihr zudem ein Starck zugeschriebener Brief, 68–76. Der Ordensname von Starck lautete Archidemides ab Aquila Fulva, unter diesem Namen wird er auch von Reinhold zitiert. 60
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zer gerichteten ‘Lehrstück’ handelt es sich somit um eine im Interesse der Illuminaten geschriebene Replik, welche die Illuminaten von der Despotismuskritik zu entlasten versuchte, indem sie die vermeintlichen Initiatoren dieser Kritik ihrerseits denunzierte. Die Abhandlung ist damit in den Kontext einer Diskussion zu platzieren, in der sich Illuminaten und Rosenkreuzer wechselseitig die Funktionalisierung des maurerischen Arkanums vorhielten. Die Rosenkreuzer und andere Systeme bezichtigten die Illuminaten dabei des Despotismus und beschuldigten sie, die Mysterien bloß zum Zweck der Herrschaft mißbraucht und durch die Ausgrenzung hermetischer Wissensbestände entleert zu haben. Im Gegenzug vertritt der Jenenser die Auffassung, die Entleerung bestünde gerade in der von den Rosenkreuzern praktizierten magischen Deutung und Verwendung der masonischen Zeichen. Reinholds Kritik an den höheren hebräischen Mysterien sowie sein gegen Starck gerichteter Vorwurf des Priesterbetrugs gehen allerdings nicht mit einer generellen Ablehnung der spätaufklärerischen Hochgradsysteme einher. Grundsätzlich hält der Illuminat an der Möglichkeit einer nicht betrügerischen, legitimen Arkanpraxis fest, wie schon sein (wenn auch verhaltener) Hinweis auf Adam Weishaupt vermuten läßt.61 Aus diesem Hinweis wird ersichtlich, warum Reinhold zu einer Bestimmung des Arkanums ansetzen muß, die über die doppelte Lehre hinausgeht. Bestünde das Mysterium der Illuminaten ausschließlich in der Anwendung der doppelten Lehre, könnte der von den Rosenkreuzern vorgebrachte Instrumentalisierungsvorwurf wohl nicht glaubwürdig entkräftet werden, ebenso wenig wie sich Reinholds offenkundiger Vorbehalt gegenüber den angeblich entleerten Mysterien der Rosenkreuzer dann nachhaltig untermauern ließe. Gehen wir also von diesem Diskussionsstand und von Reinholds eigener Kritik am rosenkreuzerischen Arkanwesen aus, stellt sich die Frage nach der Funktion und dem eigentlichen esoterischen Kern des Arkanraums, der den wahren Maurern (den Illuminaten?) zugänglich gemacht worden ist bzw. werden soll.62 Darüber kann zwar an dieser Stelle nur spekuliert werden, aufschlußreich ist hier jedoch Reinholds verblüffende Deutung der Moses-Figur. Warum nämlich, so könnte man fragen, greift Reinhold in seiner Schrift überhaupt die von Meiners längst widerlegte These von Moses als dem Verwahrer des ägyptischen-hebräischen Geheimwissens wieder auf, wenn sie zugleich das spekulative Einfallstor jener Konkurrenzorganisation war, die er bekämpfen wollte? Begab er sich damit nicht in eine ungewollte Nähe zu dieser Fraktion? Obschon der Verweis auf Moses als Begründer der hebräischen Mysterien hier Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 16. Ebd., 57. Daß sich der Ausdruck ‘wahre Maurer’ auf die Hochgradmaurerei beziehen könnte, vermutet Fuchs, Karl Leonard Reinhold – Illuminat und Philosoph (wie Anm. 28), 39. 61 62
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der inneren Logik des Textes geschuldet ist, läßt sich aus dem Umstand, daß die Schrift überhaupt die von Meiners widerlegte Kontinuitätshypothese von Moses als dem Verwahrer des ägyptisch-hebräischen Geheimwissens aufgreift, jedoch ein weiteres Argument ableiten. Dieser Rückgriff könnte zumindest darauf hindeuten, daß Warburtons politische Interpretation der antiken Mysterienkultur für Reinhold weiterhin als Modell fungierte, mit dem sich das Arkansystem der Illuminaten legitimieren ließ. Warburtons Auffassung jedenfalls, die Unsterblichkeit sowie die Lehre von einem künftigen Staat sei notwendig für alle Zivilgesellschaften, verpflichtete die tragenden politischen Strukturen auf die zentralen, universalen Religionswahrheiten.63 Die Bedeutung der Mysterien bestand nach Warburton ja vor allem darin, die Lehre vom künftigen Staat zu verbreiten und damit die moralischen Gesetze zu stützen. Auch Reinholds Schrift greift diesen Gedanken auf. Im Abschnitt „Von dem Gegenstande der kleineren Mysterien der Hebräer“ richtet Bruder Decius sein Augenmerk auf jene Aspekte der ägyptischen Lehre, die Moses den Hebräern vermittelt haben soll. Darin erwähnt er die Annahme der „Einheit Gottes“ und zweitens die „historisch-philologische Widerlegung der Irrthümer“ der gemeinen Volksreligion. Die Unsterblichkeitslehre wird hier allerdings ausgespart.64 Der Grund für die Aussparung, die bei Warburton als Beleg für die Göttlichkeit der Sendung fungierte, besteht nach Auffassung des Freimaurers in dem geringen Bildungsstand der Hebräer.65 Da letzterer sich im Gegensatz zu Warburton nicht auf die christliche Offenbarung beruft und die Unsterblichkeitslehre auch nicht zu den einsehbaren Vernunftwahrheiten zählt (obschon sie eine Denkfigur darstellt, mit der sich Moralgesetze etablieren ließen), könnte sie ein bis heute verborgenes Geheimnis darstellen. Jedenfalls zählt sie weder zum äußeren Bestand der maurerischen Sozietät, noch wurde sie von Moses in den hebräischen Gesetzen verankert. Aus dem fehlenden Zeugnis ließe sich schließen, daß die (wie auch immer auszulegende) Unsterblichkeits- bzw. Morallehre ein bis auf Reinholds Zeit verborgenes Element der großen Mysterien darstellen könnte. Unabhängig davon, ob sie utopisch oder naturphilosophisch zu deuten ist, verwiese sie damit in den eigentlichen esoterischen Kernbereich des Mysteriums. Als solche wäre sie wiederum in zweifacher Weise interpretierbar. Sie zählt zum Gebiet der Staatsgeheimnisse, weil ihr eine Funktion bei der Etablierung der öffentlichen Gesetze zukäme66 und weil sie ein Wissen enthielte, das auch praktisch zum Wohl des Staates genutzt werden könnte. Aus der Funktion der Unsterblichkeits-Doktrin ließe sich ferner die 63 64 65 66
Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 15. Ebd., 34 sowie 70. Ebd., 43. Ebd., 67.
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Relevanz der maurerischen Sozietät und der Hochgradsysteme ableiten. Das Arkansystem wäre demnach bis in Reinholds Gegenwart nicht nur deshalb notwendig, weil es die Gesellschaftsbildung fördert, sondern auch deshalb, weil es eine geheime Lehre verwahrt, die den Grundpfeiler einer öffentlichen Gesetzgebung bildet. Nach diesem politischen Modell verlöre das Arkansystem erst dann seine gesellschaftliche Funktion, wenn der positive Glaube durch eine allgemeine Vernunftidee substituiert wäre. Das zumindest könnte die politische Vision sein, die der Text entfaltet.67 Ein Blick auf Reinholds weitere, hierzu einschlägige Publikationen macht deutlich, daß die obigen Überlegungen nicht ganz abwegig sind. Mit der Begründbarkeit von Moralität und der Legitimität der öffentlichen Gesetzgebung beschäftigte sich der Illuminat ebenfalls im Rahmen seiner Kant-Rezeption. Parallel zu seiner Weimarer und Jenaer Ordensaktivität setzt sich der Philosoph eingehend mit dem Versuch auseinander, die normative Geltung universaler moralischer Gesetze synthetisch aus der Vernunft abzuleiten und somit einen Legitimationsrahmen für die geltende Verfassung bzw. für die Sittengesetze zu entwickeln. An dieser Stelle überschneiden sich seine moralphilosophischen Interessen und seine Kant-Rezeption möglicherweise mit jenen Problemen, die von den Illuminaten und anderen Arkanorden diskutiert wurden.68 Es läßt sich somit festhalten, daß bei Reinhold für die Funktion der Religion im Staat offenbar die antike Mysterienreligion zur Zeit der Epopten als Vorbild gedient hat,69 weil sie zwei wesentliche Funktionen erfüllt: Zum einen ermöglicht sie die Installierung verschiedener Religionsriten und Sakralgebote, zum anderen garantiert sie die Bewahrung des Herrschaftsgeheimnisses im Inneren An dieser Stelle findet möglicherweise eine Auseinandersetzung mit der Philosophie Adam Weishaupts und seinen Größeren Mysterien statt. Vgl. dazu Mulsow, Vernünftige Metempsychose (wie Anm. 27), 226 ff. Die Enttarnung des Aberglaubens als Herrschaftsstrategie hatte Weishaupt offenbar in derselben Stufe vorgesehen. Weishaupt, Brief an Zwack, 5. März 1778, Originalschriften (wie Anm. 42), 210; dazu Schings, Die Brüder des Marquis Posa (wie Anm. 7), 145. 68 Vgl. dazu Wolfhart Pannenberg, Moral und Religion, in: Marcelo Stamm (Hg.), Philosophie in synthetischer Absicht. Synthesis in Mind, Stuttgart 1998, 515–526, hier 516 f. Zu konträren Auffassungen, die sich gegen die Berliner Aufklärer richteten, unter anderen bei Johann Georg Schlosser vgl. Friedrich Vollhardt, Selbstreflexive Aufklärung. Johann Georg Schlosser in den literarischen Kontroversen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann (Hg.), Zwischen Josephinismus und Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800, Freiburg 2001, 367–394; zu Reinholds Hinwendung zu Kant und seiner Abkehr von Weishaupt vgl. jetzt Martin Mulsow, „Steige also, wenn du kannst, höher und höher zu uns herauf“. Adam Weishaupt als Philosoph, in: Müller-Seidel, Riedel (Hg.), Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde (wie Anm. 7), 27–66, hier 65 f; aufschlußreich hierzu auch Reinholds Brief an Kant vom 12.10.1787: „Der von Ihnen entwickelte moralische Erkenntnißgrund der Grundwahrheiten der Religion, das einzige Morceau das mir […] verständlich war, hat mich zuerst zum Studium der Kritik d.r.V. eingeladen.“ Reinhold, Korrespondenz 1773–1788 (wie Anm. 37), 271. 69 Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 81. 67
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des Mysteriums. Esoterischer Kern und politische Funktion der Mysterien verbinden sich in diesem Modell zu einem unserem modernen Politikverständnis nicht ohne weiteres zugänglichen Amalgam. Auch wenn sich der Illuminat von den konkreten (als magisch degradierten) Anwendungen des Arkanwissens distanziert, bedient er sich ebenfalls esoterischer Kommunikationsformen.70 Davon abzugrenzen ist Schillers Bewertung der Arkansysteme, bei der es sich, wie im folgenden zu zeigen ist, keineswegs um eine mögliche Legitimation des Illuminatenordens handelt.
III. Moses fabulator. Staatsräson, Reform und Despotismus in Schillers Sendung Im Gegensatz zu Reinhold, der sich in erster Linie den hebräischen bzw. ägyptischen Mysterien zuwandte, rückt Schiller den Auszug der Hebräer aus Ägypten und ihre Befreiung vom Despotismus ins Zentrum.71 Er konzentriert sich in seiner Schrift Sendung Moses, die er bereits im Sommersemester 1789 in Jena als Vorlesung gehalten und dann ein Jahr später in der Thalia publiziert hat, nicht auf die Funktion der Mysterien, sondern vor allem auf jenen politischen Handlungszusammenhang, welcher der hebräischen Staatsgründung vorausging. Moses wird in Schillers Sendung – Klaus Weimar hat bereits darauf hingewiesen – nicht mehr als Vollstrecker einer göttlichen Sendung, das heißt als Vermittler zwischen Gott und den Hebräern porträtiert, sondern als politisch Handelnder beschrieben, der eine sich ihm bietende ‘occasio’ ergreift.72 Diesen Umbruch in der Moses-Interpretation signalisiert bereits der Titel der Vorle-
Zugleich enthält Reinholds Schrift eine verdeckte Kritik am religiösen Sendungsbewußtsein Einzelner. Dazu Reinhold, Mysterien (wie Anm. 1), 66: „Allenthalben traten Männer von Talenten mit übernatürlichen Sendungen auf; und es kam nur auf sie an, ob sie die Schaaren, die sich dicht um sie herandrängten, zu Bürgern oder Sklaven umschaffen wollten.“ Moses wird bei Reinhold jedoch keine Tendenz zum Despotismus unterstellt, anders als bei Paul Thierry d’Holbach in seiner Schrift Christianisme dévoilé (1785). Letzterer vertritt dagegen nochmals die These, Moses habe die Israeliten aus Ägypten geführt, um sie an den blinden Glauben zu gewöhnen. 71 Zur Moses-Diskussion der gelehrten Bibelkritik, auf die hier nicht Bezug genommen wird, siehe Weimar, Der Effekt Geschichte (wie Anm. 4), 192–198; vgl. dazu Hartwich, Die Sendung Moses (wie Anm. 2), 21–38. 72 Ähnlich die Deutung Machiavellis, der den Exodus als Zusammenspiel von virtus und fortuna begreift, dabei allerdings den göttlichen Ursprung der Sendung nicht in Frage stellt. Machiavelli, Il Principe (wie Anm. 20), 43–47. Schiller dagegen führt die Tat auf die „große Hand der Vorsicht“ sowie auf eine „List“ zurück, die den Hebräern den mit „Kraft“ und „Geist“ ausgestatteten ‘Erlöser’ Moses zuführte. Schiller, Sendung (wie Anm. 1), 381. 70
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sung. Denn im Gegensatz zu Warburton, der noch von einer göttlichen Sendung sprach, nennt Schiller die Abhandlung nur noch „Sendung Moses“.73 Bei der Rekonstruktion der Ereignisse folgt er über weite Strecken dem biblischen Bericht.74 Er beschreibt das Nomadendasein der Hebräer, ihren Auszug aus Ägypten sowie die Gesetzgebung am Berg Sinai. Im Unterschied zur biblischen Schilderung, die nur spärlich Auskunft über das Leben und den Charakter des Staatsgründers gibt,75 stellt Schiller die Figur Moses deutlicher ins Zentrum der Handlung. Der Hebräer bildet den geheimen Punkt, an dem die einzelnen Fäden der Episode zusammengeführt werden. Beschrieben wird zunächst ausführlich Moses’ Erziehung in der ägyptischen Mysterienreligion und sein Austritt aus dem Priesterkult. Eine Ergänzung gegenüber der biblischen Vorlage stellt die detaillierte Darstellung der Einsamkeit in der Wüste dar, die Moses’ Entschluß festigt, die Hebräer aus Ägypten zu befreien. Die Wüstenepisode ist nicht nur deshalb zentral, weil sie Moses’ Umschlag vom „müßigen“ zum „lebendigen“ Enthusiasten markiert,76 sondern weil sie zudem einen Einblick in seine Motivlage eröffnet. Daß Schillers Sendung eine „resümierende Paraphrase von Reinholds Buch“77 sei, die wesentliche Ideen nochmals aufgreift, scheint vor dem Hintergrund der zahlreichen Überschneidungen beider Texte zunächst einleuchtend. Ganz offenkundig rekurriert Schiller auf zentrale Argumentationsfiguren seines Kollegen. Wie Reinhold sieht er in der mosaischen Gesetzgebung Elemente der Weimar, Der Effekt Geschichte (wie Anm. 4), 192. Daß Schiller die Bibel als eine Urkunde behandelt, die Auskunft über die Gesetzes- und Rechtslage der Hebräer gibt, ist kein Novum, sondern ein Gemeinplatz der aufgeklärten Bibelkritik. Das taten vor ihm nach dem Vorbild Montesquieus vor allem Johann David Michaelis, Mosaisches Recht, erster Theil, dritte vermehrte Auflage, Frankfurt 1793; und im Anschluß an Michaelis auch Schillers Vorgänger in Jena Johann Gottfried Eichborn. Vgl. dazu Bodo Seidel, Aufklärung und Bibelwissenschaft in Jena. Erörterungen an Hand des Werkes zweier Jenenser Theologen. Oder: Warum und wie betreibt man in der Späten Aufklärung historische Bibelkritik?, in: Starck (Hg.), Evolution des Geistes (wie Anm. 58), 443–459; sowie Rudolf Smend, Aufgeklärte Bemühungen um das Gesetz. Johann David Michaelis’ ‘Mosaisches Recht’, in: Hans-Georg Geyer (Hg.), Wenn nicht jetzt, wann dann. Aufsätze für Hans-Joachim Kraus zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1983, 129–139; dazu auch: Regine Otto, „… es ist schwer, aus dem, was ein Schriftsteller geschrieben, auf das zu schließen, was er nicht würde ausgelassen haben.“ Philologische Vermutungen über Herders Moses-Plan, in: Herder Yearbook 1 (1992), 118–133. 75 Als ergänzende Quellen fungierten unter anderem die spätantiken Lebensbeschreibungen: z.B. Philo von Alexandrien, De vita Mosis, in der Übersetzung: Philo, vom Leben Moses, das ist: von der Gottesgelahrtheit und dem prophetischen Geiste, Dresden 1778; Flavius Josephus, Jüdische Altertümer. Übersetzt und eingeleitet und mit Anm. versehen von Heinrich Clementz, Buch 1–10, Berlin 1923; Gregorius von Nyssenus, Der Aufstieg des Moses. Übersetzt und eingeleitet von Manfred Blum, Freiburg 1963, vgl. dazu den Kommentar des Herausgebers. 76 Vgl. dazu auch Friedrich Schiller, Briefe über Don Karlos, Dritter Brief, NA, Bd. 22, 144. 77 Assmann, Nachwort (wie Anm. 3), 184. 73 74
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ägyptischen Mysterienreligion. Wie Reinhold unterscheidet er zwischen zwei Entwicklungsstadien innerhalb der ägyptischen Mysterienkultur. In Anlehnung an den Illuminaten differenziert Schiller zwischen den (bei Reinhold mit den Rosenkreuzern identifizierten) Hierophanten, den Priestern also, welche die „Gaukelbuden des Aberglaubens“ errichteten und das „Geheimniß zum Zweck des Instituts“78 machten, und den Epopten als Trägern des eigentlichen Arkanums. Eine weitere Parallele besteht in den zahlreichen Bezügen zur StaatsräsonTheorie und zur doppelten Lehre. So kann Schiller auf das Attribut ‘göttlich’ hier auch deshalb verzichten, weil er Moses als einen politischen Handlungsträger interpretiert, der sich der Offenbarungsfabel (z.B. der Epiphanie am Dornbusch) als eines Kunstgriffs bedient, den er bei den Ägyptern gelernt hat. Die Frage nach der Funktion der Mysterien- bzw. Offenbarungsreligion im Staat hebt also auch Schiller hervor; von Staatsräson oder vielmehr Staatsklugheit spricht er das erste Mal in Bezug auf die Herrschafts- bzw. Unterdrükkungstechniken der Ägypter: Eine solche abgesonderte Menschenmenge im Herzen des Reichs, durch ihre nomadische Lebensart müssig, die unter sich sehr genau zusammenhielt, mit dem Staat aber kein Interesse gemein hatte, konnte bey einem feindlichen Einfall gefährlich werden, und leicht in Versuchung gerathen, die Schwäche des Staats, deren müssige Zuschauerin sie war, zu benutzen. Die Staatsklugheit riet also, sie [die Hebräer] zu bewachen, zu beschäftigen und auf Verminderung ihrer Anzahl zu denken. Man drückte sie also mit schwerer Arbeit, und wie man auf diesem Wege gelernt hatte, sie dem Staat sogar nützlich zu machen, so vereinigte sich nun auch der Eigennutz mit der Politik, um ihre Lasten zu vermehren. Unmenschlich zwang man sie zu öffentlichem Frondienst, und stellte besondre Vögte an, sie anzutreiben und zu misshandeln.79
Die Absonderung der Hebräer wird zunächst als Maxime der „Staatsklugheit“80 eingeführt, die einem spezifischen Bereich der Lehre von der Staatsräson entnommen ist. Sie enthält die Anweisung für die Beherrschung eines fremden Volkes im eigenen Staat.81 Nun ist es durchaus aufschlußreich, daß die Anwendung dieser Maxime auch dann, wenn sie den moralischen Normen menschlichen Handels widerspricht, nicht in Frage gestellt, sondern als eine für den Erhalt des Staats nützliche politische Handlungsweise legitimiert wird. Dieser affirmative Rekurs auf die Staatsräson verdeutlicht, daß sie eine für Schiller grundsätzlich akzeptable Folie politischen Handels darstellt und keinesfalls mit
78 79 80 81
Schiller, Sendung (wie Anm. 1), 387. Ebd., 378 Ebd. Machiavelli, Il Principe (wie Anm. 20), 21.
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dem negativ konnotierten Machiavellismus gleichzusetzen ist.82 Erst in Verbindung mit dem wachsenden Egoismus, dem „Eigennutz“83 der Ägypter schlägt die Klugheit in Despotismus um. Der Umschlag ist klar gekennzeichnet und vollzieht sich am Übergang von der anfänglichen Ausgrenzung zur despotischen Unterdrückung der Hebräer. Genau hier endet nach Schiller die „gesunde“ Politik der Ägypter.84 Ihr Despotismus kulminiert schließlich in der Mißachtung der „Menschenrechte“ und in allgemeinen „Abscheulichkeiten“.85 Daß der Herrschaftsstil der Ägypter als Despotismus gekennzeichnet wird, indiziert auch die Motivlage der politischen Handlungsträger. So lassen sich die Ägypter bei der Unterdrückung der Hebräer von ihrem Affekt leiten.86 Ihr Despotismus rückt hier allerdings nicht deshalb ins Zwielicht, weil er einen Verstoß gegen die allgemeinen Menschenrechte darstellt, sondern weil er der Staatsräson widerspricht. Sie ist der Maßstab, vor deren Hintergrund der Despotismus kritisiert wird. Gegenüber der despotischen Herrschaftsweise hätte eine „gesunde“ Politik (angesichts ihres massiven Zuwachses) nicht im Ausschluß der Hebräer und ihrer Versklavung, sondern vielmehr in dem Integrations- und Toleranzbestreben bestanden, sie „auf die übrigen Einwohner zu vertheilen und ihnen gleiche Rechte mit diesen zu geben.“87 Als vorteilhaft wird diese Politik erneut nicht deshalb erachtet, weil sie die Hebräer in ihre Menschenrechte wiedereinsetzt, sondern weil sie möglicherweise eine länger andauernde Herrschaft über das fremde Volk garantiert hätte. Angesichts des Despotismus der Ägypter läßt sich der von Moses eingeleitete Exodus als eine legitime und für die Hebräer notwendige Befreiung deuten, die nicht nur auf die Regeln der Staatsklugheit gegründet ist, sondern auf ein persönliches, idealistisches (wenn man so will) Motiv. Die Befreiung basiert nämlich auf dem Entschluß, die Lebenssituation der Hebräer zu verbessern. Schon ein näherer Blick auf den Text zeigt jedoch, daß es sich bei der mosaischen Staatsgründung nicht um einen von persönlichen Zwecken freien politischen Idealismus handelt. Das macht schon die Erwähnung des Motivs deutlich, das Moses’ Entschluß festigt. Es sind sein „Stolz“ und die langjährige Kränkung des „Nationalgefühls“,88 die den Hebräer 82 Friedrich Meinecke, Werke, Bd. 1: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, hg. von Walther Hofer, München 1957, hier 78. Schillers Quellen sind unter anderem Gracian, Rousseau und Diego Saavrada Fajardos, vgl. Peter-André Alt, Friedrich Schiller. Leben – Werk – Zeit. Eine Biographie, Bd. 1, München 2000, 452. 83 Schiller, Sendung (wie Anm. 1), 378. 84 Ebd. 85 Schiller, Sendung (wie Anm. 1), 380. 86 Ebd., 379. 87 Schiller, Sendung (wie Anm. 1), 378. 88 Ebd., 388.
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zur ‘Erlösungs’-Tat bewegen. Beides, „Stolz“ und der „Stachel“ der Kränkung,89 bilden einen psychologischen Handlungszusammenhang aus, der sich hier als fragwürdiger Enthusiasmus interpretieren läßt90 und Moses aufgrund seines ‘furor politicus’ in die Nähe des Schwärmers rückt. Der Enthusiasmus führte – so wird es psychologisch angedeutet – zu einer Handlung, die als Reaktion auf eine Kränkung zu verstehen ist. Das grundlegende Motiv der heroischen Tat ist also eine kompensatorische Schwärmerei.91 Obwohl Moses’ politisches Handeln ebenso affektgesteuert ist wie das der Ägypter und er in der Durchführung zahlreiche Anleihen bei den Ägyptern nimmt, unterscheidet sich sein Kalkül in wesentlichen Aspekten von der despotischen Politik der Unterdrücker. Das hängt jedoch nicht mit den idealistischen Aspekten des politischen Handelns (also mit dem Vorsatz, die Lebenssituation der Hebräer zu verbessern) zusammen. Die zentrale Differenz zwischen Moses und den Ägyptern besteht – und hierin weicht Schillers Deutung wesentlich von der Interpretation Reinholds ab – in der Art, wie Moses die Religion zur Stabilisierung bzw. Gründung des Staates benutzt. Ich komme nun also zum eigentlichen Kernpunkt der Untersuchung zurück. Schiller bezeichnet Moses als einen „Staatskundigen“, der sich eines „wirksamen Instruments erinnerte, wodurch ein kleiner Priester-Orden Millionen roher Menschen nach seinem Gefallen lenkte.“92 Mit diesem Instrument ist wiederum die ägyptische Mysterien-Religion gemeint, deren Funktion auch nach Schiller (und hier folgt er Reinhold) darin bestand, die Volksreligion zu predigen und die eigentlichen Vernunftwahrheiten sowie die politischen Geheimnisse im Kern des Mysteriums zu verwahren.93 Gegenüber der Institution der Mysterien und ihrer doppelten Lehre unterscheidet sich Moses’ politische Handlungsweise, wie Schiller sie skizziert, in mehrfacher Hinsicht von der der Ägypter. Zunächst etabliert er keinen Mysterienkult, sondern eine Nomokratie, die Schiller als eine öffentliche Staatsverfassung interpretiert. Zwar gibt Moses die öffentlichen Gesetze als Willensbekundungen eines einzigen mächtigen Gottes aus und verankert die staatliche Gesetzgebung in einer Offenbarungsfiktion.94 Der entscheidende Unterschied jedoch, der zugleich das Ende der Mysterienreligion markiert, besteht in der öffentlichen Bekanntmachung des Mysteriums und in der Art, wie er den Hebräern die deistische Vernunftidee, den ehemaligen Kern des Mysteriums vermittelt. Das esoterische Wissen, über das Ebd., 389. Zur Nähe der Religionsstifter und Staatsgründer, zu Schwärmern und Fantasten vgl. Meinecke, Die Idee der Staatsräson (wie Anm. 82), 98. 91 Dies ist ein im anthropologischen Roman der Spätaufklärung verbreitetes Deutungsschema. 92 Schiller, Sendung (wie Anm. 1), 390. 93 Ebd., 383 f. 94 Ebd., 390. 89 90
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Moses verfügte und das Wissen, das er den Hebräern öffentlich mitteilt, sind jetzt nicht mehr (wie noch bei Reinhold) dem Inhalt nach unterschieden, sondern nur noch in der ‘Art der Einkleidung’. Während die ägyptischen Priester die Lehre vor dem Volk verborgen hielten, macht Moses sie öffentlich, indem er sie in eine Fabel kleidet95 und sie damit der Fassungskraft der Hebräer anpaßt. Die Anpassung der Lehre an die Fassungskraft der Hebräer ermöglicht es, die unter der ägyptischen Herrschaft ‘verrohte’ Nation zu erziehen und ihr vernünftigere Religionsbegriffe zu vermitteln. Nach Schillers Auffassung kommt Moses’ Offenbarungsfiktion somit die erzieherische Funktion zu, die bei Lessing die Offenbarung hatte. Aus dem Umstand, daß die Wahrheit mit dieser Fabel öffentlich gemacht wurde und je nach Vernunftstand der Nation bzw. Aufklärungsgrad des Einzelnen aus dem Offenbarungszeugnis erschlossen werden kann, ergibt sich ferner, daß mit der Gesetzgebung Moses’ die Institution des Mysterienkults (vor allem die Konstitution eines inneren Arkanraumes durch Etablierung von Initiationsgraden) hinfällig wird. Auch schon deshalb spricht Schiller im Gegensatz zu Reinhold an keiner Stelle von hebräischen Mysterien. Moses’ einziges Geheimnis besteht darin, daß er selbst um die politische Funktion der Fabel weiß, diese Funktionalisierung jedoch nicht öffentlich machen kann, weil er sie damit ‘ad absurdum’ führen würde. Davon abgesehen besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Schiller und Reinhold in ihrer jeweiligen historischen Bewertung der mosaischen Theokratie. Sind die Bücher Moses’ bei Reinhold ein historisches Denkmal, das zur Rekonstruktion der masonischen Mysterien beitragen und das Alter der Bewegung belegen kann, deutet Schiller das Buch Exodus als Urkunde über den Fortgang des Menschengeschlechts. Die Gesetzgebung und die Bücher sind für ihn nicht mehr aufgrund der in ihnen enthaltenen Symbolik interessant. Sie werden primär unter zivilisationsgeschichtlichen und universalhistorischen Aspekten betrachtet und von Schiller in diesem Zusammenhang als erste Form der bürgerlichen, d.h. hier öffentlichen Gesetzgebung interpretiert. Ebd., 391. Der Vergleich der Bücher Moses mit den äsopischen Fabeln war alt. Auf diese Diskussion nimmt auch Edelmann in seinem Moses-Buch Bezug. Edelmann, Moses mit aufgedeckten Angesichte (wie Anm. 24), 137 f. Schiller spielt hier auf ein weiteres Moment an, um die Offenbarungsfiktion zu rechtfertigen. Demnach paßt Moses seine fabulöse Rede dem Stand der Menschheitsentwicklung an, auf dem sich die hebräische Nation befand. Nach dem Verständnis der Aufklärung war das ein Stadium, welches von einem mythologischen Denkstil bestimmt war. Dieses Argument konnte Schiller ebenfalls den Schriften seines Vorgängers Johann Gottfried Eichhorn entnehmen. Vgl. dazu Seidel, Aufklärung und Bibelwissenschaft (wie Anm. 74), 450 f. Daraus, daß die Bibel nicht als Offenbarungsschrift oder als Religionsdokument gelesen wird, folgt zudem, daß der theoretische Rahmen des Akkommodationsgedankens hier nicht der der exegetischen, sondern vor allem der der rhetorischen Tradition ist. 95
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Eine weitere Differenz läßt sich aus den historiographischen Basiskonzeptionen ableiten, die beiden Schriften zugrunde liegen. Schillers Schrift ist in eine universalhistorische Tiefengrammatik eingebettet, die teleologisch bzw. perfektibilistisch argumentiert.96 Aus dieser Konzeption folgt zum einen, daß jede Zeit ihre eigenen Gesetze hat, die sich aus den Konstellationen, dem Aufklärungsstand und den Kulturleistungen ergeben. Daraus folgt zum anderen, daß der jeweilige Entwicklungsstand eines Volkes vor dem Hintergrund eines externen, kosmopolitischen, d.h. weltbürgerlichen und gesamtgesellschaftlichen Geschichtsideals bewertet wird. Gemessen an diesem Ideal stellt die mosaische Gesetzgebung nach Schiller ein Ereignis dar,97 das den Übergang der Menschheitsentwicklung in das Stadium der öffentlich-bürgerlichen Gesetzgebung ankündigt und somit zugleich die historische Überwindung der elitären Mysterienkultur bedeutet. Deshalb muß die ägyptische Arkankultur als eine rückständige Gesellschaftsform erscheinen, und deshalb ist ihr Fortbestand, ihre Aufrechterhaltung oder gar Wiederbelebung für die Entwicklung und Verbesserung der spätaufklärerischen Zivilgesellschaft nicht notwendig. Denn die erneute Installierung einer allgemeinen politischen Arkanpraxis würde am historischen ‘telos’ gemessen einem Rückschritt in der Menschheitsentwicklung entsprechen. Eine Auffassung, die Reinhold wohl nicht geteilt hat. Schillers universalgeschichtliche Historisierung der politischen Arkankultur läßt sich deshalb als implizite Kritik am Geheimbund der Illuminaten lesen, wie nicht nur der oben skizzierte Kontext, sondern auch ein Vergleich zwischen Moses und der Dramen-Figur Marquis Posa deutlich macht. Letzterer – dies blieb zwar nicht unumstritten – wurde in der Forschungsliteratur als ‘Illuminat avant la lettre’ interpretiert.98 Schon die Entstehungszeit des Dramas, der Briefe über den Don Karlos und der Sendung legt hier einen Vergleich nahe. Darüber hinaus sind die inhaltlichen Überschneidungen der Texte nicht zu übersehen, denn mit den Figuren Dazu Koopmann, Das Rad der Geschichte (wie Anm. 5), 61; zu Schillers Rezeption von Kants Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht vgl. Bernd Bräutigam, Vergangenheitserfahrung und Zukunftserwartung. Zum Geschichtsverständnis bei Kant, Schiller und Friedrich Schlegel, in: Starck, Evolution des Geistes (wie Anm. 58), 197–212, hier 202–208. 97 Fritz Heuer, Spuren der Universalgeschichte in Schillers Jenaer Umkreis: Der Fall von Karl Ludwig Woltmann, in: Starck, Evolution des Geistes (wie Anm. 58), 132–155, hier 134–137. 98 Schings, Die Brüder des Marquis Posa (wie Anm. 7), Kap. 101–115; so auch Alt, Friedrich Schiller (wie Anm. 82), 457–465. Eine andere Posa-Deutung vertritt Wilfried Malsch, Robespierre ad Portas? Zur Deutungsgeschichte der ‘Briefe über Don Carlos’ von Schiller, in: Gertrud Bauer Pickar, Sabine Cramer (Hg.), The Age of Goethe Today. Critical Reexamination and Literary Reflection, München 1990, 69–103; sowie Borchmeyer, „Marquis Posa ist große Mode“ (wie Anm. 7), 136 f. Einen Überblick über die Posa-Interpretationen liefert Karl S. Guthke, Der Künstler Marquis Posa. Despot der Idee oder Idealist von Welt?, in: ders., Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis, Tübingen 1994, 133–164. 96
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Posa und Moses werden offenbar zwei Facetten desselben Themenkreises aufgegriffen.99 Ihre Gemeinsamkeiten liegen auf der Hand. Beide verstehen sich als Befreier eines unterdrückten Volkes, beide sind Gegner des Despotismus und beide handeln ‘expressis verbis’ im Namen der Menschenrechte. Während Moses vor allem der politische ‘furor’ und die Kränkung antreiben, ist Posas Kalkül (wie auch seine persönliche Motivlage) durchaus vielschichtig.100 Für den vorliegenden Kontext ist zudem relevant, daß beide Figuren am politischen Arkanbereich partizipieren. Moses partizipiert an diesem Bereich durch seine Einweihung in die ägyptischen Mysterien, der Marquis Posa hat daran ebenfalls in mehrfacher Weise teil: zum einen macht er sich das Handeln im Verborgenen zur eigenen Maxime. Das gilt im Bezug auf seine geheime Politikintention – die Rebellion der Niederlande – ebenso wie für das angewandte Mittel, die höfische Intrige (die Semantik des Dramas belegt, das sie ebenfalls zum politischen Arkankomplex gehört).101 Posa kennt zum anderen zwei konkrete Geheimnisse: die Liebe des Prinzen zur Königin sowie die Liebschaft des Königs. Er benutzt diese Geheimnisse, um den Prinzen zu manipulieren und ihn zum Anführer der geplanten niederländischen Rebellion zu machen. Allerdings sieht er davon ab, den Prinzen in seine konkreten politischen Pläne einzuweihen. Das Geheimnis bleibt somit sein übergeordneter politischer Handlungsstil, der auch den Umgang der Wahlbrüder, den Umgang zwischen Posa und dem Prinzen bestimmt. Als Repräsentant der Illuminaten ist Posa Teil einer Arkankultur, die ihn zum Instrument höherer politischer Ziele macht und dem Schweigegelübde unterwirft.102 Formal unterscheidet sich die Handlungsweise des Illuminaten und Republikaners kaum von der seiner Gegner.103 Gemessen an ihrem Erfolg und den angewandten Mitteln stellen Posa und Moses zugleich Gegenfiguren dar. So kann Moses als Überwinder der Arkankultur angesehen werden. Er teilt den Hebräern die vormals in den ägyptischen Mysterien tradierte Wahrheit mit, indem er sich einer fabulösen Redeweise bedient. Posa Dafür spricht auch, daß Schiller die Sendung Moses nicht nur (wie seine anderen universalhistorischen Schriften) in der Thalia veröffentlicht, sondern im Verbund mit den Don-CarlosBriefen in den später erschienenen Kleineren Prosaischen Schriften (1792) publiziert. 100 Schiller, Briefe über Don Karlos, Zweiter Brief, NA, Bd. 22, 139 f. 101 Koopmann, Schiller-Handbuch (wie Anm. 4), 51. 102 Dazu: Schiller, Briefe über Don Karlos, Zweiter Brief, NA, Bd. 22, 140. Nach Schiller wurde Posas ‘republikanischer Idealismus’ durch seine Erziehung in einem Geheimorden begünstigt: „Die Ideen von Freiheit und Menschenadel, die ein glücklicher Zufall, vielleicht eine günstige Erziehung in diese rein organisierte empfängliche Seele warf, machen sie durch ihre Neuheit erstaunen […] selbst das Geheimnis, unter welchem sie ihr wahrscheinlicht mitgeteilt wurden, mußte die Stärke ihres Eindrucks erhöhen.“ 103 Vgl. dagegen Alt, Friedrich Schiller (wie Anm. 82), 465, der bei Schiller eine Gleichsetzung von Staatsräson und Machiavellismus annimmt und darüber hinaus vermutet, Schiller weise beide (in modernitätskritischem Gestus) als Elemente einer fortschrittlichen Politik aus. 99
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dagegen repräsentiert die Arkanpolitik (zu der hier auch die Ausbildung der arkanen Konnexion, d.h. die Involvierung und Manipulation des Prinzen zählt),104 während er seine Haltung ‘in politicis’ in einer der Zeit und dem Ort nach unangemessenen Weise propagiert. Abgesehen davon unterliegt er der Anmaßung, den konkreten Erfolg bzw. Mißerfolg einer politischen Handlung bemessen zu wollen; ein Unterfangen, das zum Scheitern verurteilt ist, weil die Anzahl externer Faktoren, die sich seinem Kalkül entziehen, unüberschaubar erscheint.105 Das gilt natürlich nicht nur für den prospektiven Bereich menschlicher Handlungsentwürfe generell,106 sondern auch für ihre nachträgliche Rekonstruktion im Rahmen der Historiographie. Denn die historiographische Rekonstruktion stellt nach Schiller lediglich eine mehr oder weniger überzeugende, subjektive Anordnung der Ereignisse und menschlichen Motive dar,107 die einem geheimen Punkt nachgeht und über deren begrenzte Gültigkeit er bereits in der Antrittsvorlesung reflektiert.108 Moses’ Erfolg bzw. Posas Mißerfolg können deshalb zwar historisch plausibilisiert, aber wohl kaum nachhaltig begründet werden. Abschließend bleibt also eine Frage unbeantwortet: Warum eigentlich läßt Schiller in der historischen Situation um 1789 Moses zum erfolgreichen Begründer der hebräischen Theokratie avancieren und damit eine neue Epoche in der Menschheitsgeschichte einleiten? Und warum verwehrt er seiner literarischen Gegenfigur (unabhängig vom Zwang der historischen Vorlage) diesen Erfolg? Die Frage kann hier nicht mehr auf eine textimmanente Beantwortung abzielen, gefragt wird vielmehr nach dem spezifischen Interesse, das Schillers Konzeption zugrunde liegt – also nach dem ideologischen Kernbereich seiner Geschichtsschreibung.109
Gemeint ist damit die Prinzenmanipulation, wie sie von den Rosenkreuzern mutmaßlich praktiziert und auch in Schillers Romanfragment Der Geisterseher thematisch wurde. Zum vorliegenden Kontext und möglichen Analogien im Hinblick auf den Illuminatenorden Schiller, Briefe über den Don Karlos, Fünfter bis Siebenter Brief, NA, Bd. 22, 152–160. 105 Gerd Ueding, Redende Geschichte: Der Historiker Friedrich Schiller, in: Starck (Hg.), Evolution des Geistes (wie Anm. 58), 156–175, hier 159. 106 Vgl. dazu Walter Müller-Seidel, Der Zweck und die Mittel. Zum Bild des handelnden Menschen in Schillers Don Carlos, in: Schiller-Jahrbuch 43 (1999), 188–221; sowie Peter-André Alt, „Arbeit für mehr als ein Jahrhundert“. Schillers Verständnis von Ästhetik und Politik in der Periode der Französischen Revolution (1790-1800), in: Schiller-Jahrbuch 46 (2000), 102–133. 107 So auch Ueding, Redende Geschichte (wie Anm. 105), 168. 108 Bräutigam, Vergangenheitserfahrung und Zukunftserwartung (wie Anm. 96), 204; dagegen argumentiert Koopmann, Das Rad der Geschichte (wie Anm. 5) hier 70. 109 Weimar, Der Effekt Geschichte (wie Anm. 4), 203 f., der in diesem Zusammenhang den narrativen Verfahren und ihrem Plausibilitätskalkül nachgeht, dabei aber anders als Ueding, Redende 104
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Auffällig ist zunächst, daß in Schillers Version der Verweis auf die Unsterblichkeitslehre fehlt, auf jene Problematik also, die möglicherweise das geheime Zentrum von Reinholds Schrift darstellte. Diese Auslassung könnte auf eine entscheidende Differenz in der Unsterblichkeitsauffassung verweisen. Für letzteres spricht zumindest ein Dokument, auf dessen Entstehungskontext hier nicht näher eingegangen werden kann. Im Anschluß an ein persönliches Treffen im Sommer 1787 äußert sich Schiller in einem Brief an Reinhold: „Verschieden […] ist der Weg, auf dem wir […] die Unsterblichkeit suchen.“110 Zwar bezieht er sich dabei auf das unterschiedliche Betätigungsfeld beider, möglicherweise enthält das Zitat jedoch eine Anspielung auf die Lehren der Illuminaten, mit denen Schiller bei seinem Besuch in Jena konfrontiert worden war. Darüber hinaus kann die Sendung als Umsetzung ihrer eigenen Programmatik gelesen werden, die auf den Effekt der ‘fabulösen Rede’ zielt. Denn Schiller rekonstruiert hier einen Ereigniszusammenhang und kleidet sein geschichtsphilosophisches Ideal damit in eine historische Erzählung. So hat das „Kraftgenie primi ordinis“111 nach dem Zeugnis eines Studenten auch weniger über detaillierte historische Kenntnisse verfügt, als über die Kunst zu überreden und mitzureißen. Demnach hätte Schiller die Geschichtsschreibung in ihrer normativen Funktion genutzt.112 Er hat sie mit einer impliziten politischen Handlungsanweisung versehen und – so könnte eine mögliche Schlußfolgerung lauten – sie gleichsam als Alternative zu den rhetorischen Strategien der Arkansysteme entworfen. Gerade weil sich Schiller mit seinem Entwurf offenkundig von Reinhold abgrenzt, sei hier abschließend nochmals die Frage nach der Funktion des eingangs zitierten Verweises aufgeworfen, der sich am Ende von Schillers Schrift befindet. Die erörterten Differenzen lassen es nun wohl kaum mehr plausibel erscheinen, daß Schiller Reinholds Ausführungen schlicht gefolgt ist. Aus dem Verweis ließe sich jedoch möglicherweise ein dritter und letzter Aspekt des Schillerschen Textes ableiten. Zwar ist es in der Forschungsliteratur umstritten, Schillers historische Schriften auf die aktuelle Geschichte seiner Zeit zu beziehen,113 die Sendung könnte aber gleichwohl eine versteckte AnGeschichte (wie Anm. 105), 175, die Fiktion von der Historiographie unterscheidet, indem er die Wirklichkeit als Präsentationseffekt der Geschichte kennzeichnet. 110 Schiller an Reinhold, 29. August 1787, NA, Bd. 24, 151. 111 Aus einem studentischen Brief aus Jena vom 26./27. 5. 1789, zitiert nach, Schiller, Historische Schriften (wie Anm. 6), 845, zuerst erschienen in: Euphorion 2 (1895), 125. 112 Walter Hinderer, Die Rhetorik der Parabel. Zu ihrem ästhetischen Funktionszusammenhang und Funktionswechsel bei Friedrich Schiller, in: Theo Elm, Peter Hasubek (Hg.), Fabel und Parabel. Kulturgeschichtliche Prozesse im 18. Jahrhundert, München 1994, 109–127, hier 120 und 126. 113 Diesen Bezug bestreitet z.B. Koopmann, Das Rad der Geschichte (wie Anm. 5), hier 67.
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spielung auf die Ereignisse in Frankreich enthalten. Der Text distanziert sich an einer Stelle mehr oder weniger explizit von Umsturzbewegungen jeglicher Art, dazu heißt es: Da er [Moses] sie [die Hebräer] nicht überzeugen kann, so muß er sie überreden, hinreißen, bestechen. Er muß also dem wahren Gott den er ihnen ankündigt, Eigenschaften geben, die ihn den schwachen Köpfen faßlich und empfehlungswürdig machen […] Und dadurch gewinnt er schon unendlich, er gewinnt – daß der Grund seiner Gesetzgebung wahr ist, daß also ein künftiger Reformator die Grundverfassung nicht einzustürzen braucht, wenn er die Begriffe verbessert, welches bey allen falschen Religionen die unausbleibliche Folge ist, sobald die Fackel der Vernunft sie beleuchtet.114
Als Begründung wird hier wiederum ein bereits bekanntes Argument angeführt: Zur Verbesserung der Zivilgesellschaft ist nach Schiller ein neuer Verfassungsentwurf nicht notwendig, weil die mosaische Gesetzgebung die Vernunftwahrheit bereits ‘in nuce’ enthalte. Durch Reformen allein kann die allgemeine Progression des Menschengeschlechts befördert werden.115 Dieser Hinweis wirft nochmals eine andere Perspektive auf die Sendung Moses. Gehalten wurde die Vorlesung im Sommer 1789, zu einem Zeitpunkt, als in Frankreich die verfassunggebende Nationalversammlung tagte.116 Publiziert wurde der Text erstmals 1790, als Kritiker den Illuminaten eine Beteiligung an politischen Unruhen nachzuweisen und damit die illuminatische Arkanpolitik als subversives Machtinstrument zu denunzieren versuchten.117 Die Tatsache, Schiller, Sendung (wie Anm. 1), 396. Zur Bedeutung von Revolution als Verfassungswechsel sowie zum Begriffswandel des Wortes durch die Französische Revolution siehe Reinhart Koselleck, Art. ‘Revolution’, in: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart, 1984, 653–788, hier 725–729. Zwar nimmt auch dieser Abschnitt auf die in den Schriften Lessings, Mendelssohns und Dohms virulente Toleranz-Frage Bezug. Da Schillers Schrift aber über weite Strecken eine allgemeine Zivilisations- bzw. Staatsgeschichte darstellt, ist die Anspielung auf die Revolution wohl der eigentliche Kern der Passage. Zum Kontext der Toleranz: Ulrich Johannes Schneider, Toleranz und historische Gleichgültigkeit. Zur Geschichtsauffassung der Aufklärung, in: Peter Freimark, Franklin Kopitzsch, Helga Slessaev (Hg.), Lessing und die Toleranz. Sonderband zum Lessing Yearbook, München 1986, 15–128, hier vor allem 121. Auch Strickhausen, Prophet, Staatsmann, Erzieher des Menschengeschlechts (wie Anm. 3), 154, stellt die Toleranz-Frage in den Vordergrund, ebenso Karl-Heinz Hahn, Schiller und die Geschichte, in: Klaus Berghahn (Hg.), Friedrich Schiller. Zur Geschichtlichkeit seines Werkes, Kronberg/Ts 1975, 25–54, besonders 40. Für die Staatsräson spielte sie ebenso eine Rolle, z.B. im Zusammenhang mit den Religionskriegen, Meinecke, Die Idee der Staatsräson (wie Anm. 82), 98. 116 Schiller, Historische Schriften, (wie Anm. 6), 831 f.; Werner Greiling, Jena und seine Erhalterstaaten im Einflußfeld der französischen Aufklärung und der Revolution von 1789, in: Stark, Evolution des Geistes (wie Anm. 58), 40–58, zu Schiller 48, 50. 117 Johann Joachim Bode, Ist Cagliostro Chef der Illuminaten? Oder, das Buch: Sur la Secte des Illuminés in Deutsch. Mit erklärenden Anmerkungen des deutschen Translators, Gotha 1790, 23– 31; Jean Pierre de Luchet, Essai sur la Secte des Illuminés, Paris 1789. Zwar geht es Bode hier 114 115
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daß unmittelbar auf die allgemeine Revolutionskritik der Verweis auf Reinholds Text folgt.118 Damit ließe sich Schillers Schrift wiederum als Versuch lesen, den Orden der Illuminaten von dem verschwörungstheoretischen Vorwurf zu entlasten, eine kosmopolitische Revolution herbeiführen zu wollen oder (wie es später hieß) als Drahtzieher der Französischen Revolution fungiert zu haben. Diese Lesart ist zwar nicht weiter zu belegen, ganz abwegig erscheint sie jedoch nicht. Die sich hier anbietende Deutungsmöglichkeit würde jedenfalls nicht nur die Komplexität einer äußert virulenten Debatte signalisieren, sie würde zudem für eine gewisse ‘äsopische Indirektheit’ als politischem Kommunikationsmodell sprechen, die sich im vorliegenden Kontext als kalkuliertes Mittel der Textpolitik interpretieren ließe.119 Der Beitrag befaßt sich mit der spätaufklärerischen Debatte über die antike Mysterienkultur, die von den Vertretern verschiedener Hochgradsysteme (unter anderen von den Illuminaten und den Gold- und Rosenkreuzern) geführt wurde, um die eigene Arkanpraxis darzustellen bzw. zu legitimieren. Analysiert werden insbesondere zwei Schriften: Die Hebräischen Mysterien des Jenenser Illuminaten Carl Leonard Reinhold sowie Friedrich Schillers Sendung Moses. Beide Texte nehmen unmittelbar auf die zeitgenössische Diskussion Bezug, sie unterscheiden sich jedoch in ihrer jeweiligen Bewertung der Mysterienkultur. Während Reinholds Schrift – aus der Perspektive eines Freimaurers geschrieben – trotz wachsender Kritik nochmals zur Legitimierung der Hochgradsysteme ansetzt, ist es Schiller in seiner Replik um eine relativierende, historische Einordnung der Arkanpraxis und ihrer gesellschaftspolitischen Funktion zu tun.
The subject of this contribution is the discussion of the classical mystery culture, held by representatives of various “Hochgradsysteme” (e.g. of the Illuminati, the Goldcrucians and the Rosicrucians) in the period of the late enlightenment in order to portray and legitimate the own arcane practice. In this connection, two texts are examined in particular: Die Hebräischen Mysterien by Carl Leonard Reinhold, a memeber of the Illuminati of Jena, and Friedrich zunächst um den Nachweis, daß die Illuminaten nicht mit den Illuminés gleichzusetzen sind, das Buch setzt sich zudem mit der These von der jesuitischen Universalverschwörung sowie mit der Frage auseinander, ob die Orden der Gesellschaft nützlich sind. Dazu auch Johannes Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776–1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Frankfurt am Main 1976 (Europäische Hochschulschriften, Reihe II, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, 63), 89 f. 118 Zur Moses-Figur als Vorbild für die Protagonisten revolutionärer Bewegungen Michael Walzer, Exodus und Revolution. Aus dem Amerikanischen von Bernd Rullköter, Berlin 1988. 119 Stephen Greenblatt, Formen der Macht und die Macht der Formen in der englischen Renaissance, in: Moritz Baßler (Hg), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt am Main 22001, 29–59; vgl. dazu Barbara Bauer, Wolfgang G. Müller, Einleitung, in: dies. (Hg.), Staatstheoretische Diskurse (wie Anm. 3), 6–22.
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Schiller’s Sendung Moses. Both texts refer directly to the mystery discussion of those days, but nevertheless differ in their judgement about this culture. Reinhold’s text, even though it is written from a freemason‘s perspective, aims at the legitimation of “Hochgradsysteme”, notwithstanding the growing criticism of them, whereas Schiller’s intention is to supply a qualifying and historical classification of the arcane practice and its socio-political function. Dr. Yvonne Wübben, Graduiertenkolleg „Klassizismus und Romantik“, Institut für neuere deutsche Literatur, Justus-Liebig-Universität Gießen, Otto-Behaghel-Str. 10, 35394 Gießen, E-Mail: [email protected]
U TE L O TZ -H E UM AN N Unterirdische Gänge, oberirdische Gänge, Spaziergänge: Freimaurerei und deutsche Kurorte im 18. Jahrhundert
Die Forschung zur Entwicklung und Bedeutung der Freimaurerei im 18. Jahrhundert hat sich seit Reinhart Kosellecks Studie Kritik und Krise1 deutlich gewandelt und diversifiziert.2 Während Koselleck noch den engen Konnex zwischen gesellschaftlicher und politischer Bedeutung der Freimaurerei betont hatte, verschob sich der historiographische Schwerpunkt danach zunehmend auf gesellschafts- und kulturgeschichtliche Aspekte, ohne daß die politische Bedeutung der Freimaurerei und anderer Geheimgesellschaften gänzlich aus dem Blickfeld geraten wäre. So erfuhr erstens die Frage nach der „sozialen Funktion des Geheimnisses“3 vielfältige Behandlung. Dazu hat beispielsweise Norbert Schindler seine These von der spielerischen Einübung zivilisierter bürgerlicher Umgangsformen vorgelegt,4 und Florian Maurice hat die Freimaurerlogen als „Raum für Selbstverwirklichung“5 interpretiert und den Sinn von Geheimnis und Esoterik im Kontext der entstehenden Konsumgesellschaft erläutert. Trotz dieser unterReinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 81997. – Die Verfasserin möchte Frau Prof. Neugebauer-Wölk für konstruktive Kritik an einer vorangegangenen Version dieses Aufsatzes herzlich danken. 2 Der folgende historiographische Überblick wird bewußt kurz und zugespitzt gehalten. Für Einzelheiten sei auf Ausführungen des Einleitungsaufsatzes in diesem Band verwiesen: Monika Neugebauer-Wölk, Arkanwelten im 18. Jahrhundert. Zur Struktur des Politischen im Kontext von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit. 3 Vgl. Norbert Schindler, Freimaurerkultur im 18. Jahrhundert. Zur sozialen Funktion des Geheimnisses in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, in: Robert M. Berdahl u.a. (Hg.), Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1982, 205–262. 4 Vgl. Schindler, Freimaurerkultur (wie Anm. 3), 245. 5 Florian Maurice, Die Mysterien der Aufklärung. Esoterische Traditonen in der Freimaurerei?, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.), Aufklärung und Esoterik, Hamburg 1999, 274–287, hier 278; vgl. auch Florian Maurice, Freimauerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997. 1
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schiedlichen Akzentuierungen ist es Konsens der Forschung, daß das Geheimnis eine notwendige Abgrenzung nach außen, zur ständischen Gesellschaft, schuf, um im Binnenraum der Logen die ständische Ordnung außer Kraft zu setzen und im Rahmen der Geselligkeit neue gesellschaftliche Verhaltens- und Umgangsformen zu realisieren.6 Zweitens werden die Freimaurer in der Forschung als Aufklärungsgesellschaften klassifiziert, die jedoch zunächst trotz der gemeinsamen Charakterisierung einzeln untersucht und beschrieben wurden.7 Dies hat sich mit der Pionierstudie von Holger Zaunstöck geändert, der in seiner Arbeit über die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften erstmals die sich durch eine hohe Zahl von Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften auszeichnenden Mitgliederstrukturen einer „Sozietätslandschaft“ analysiert hat.8 Zum einen wird damit deutlich, daß die Freimaurerlogen mit ihren etwa 27.000 Mitgliedern im Reich9 untereinander vielfältig vernetzt waren und ein arkanes Kommunikationssystem bildeten.10 Zum anderen fügten sich die Freimaurerlogen ein in die übergreifenden Kommunikationsnetze der Aufklärungsgesellschaften insgesamt, Vgl. in diesem Sinn unter anderem Helmut Reinalter, Freimaurerei und Geheimgesellschaften, in: ders. (Hg.), Aufklärungsgesellschaften, Frankfurt am Main 1993, 83–96, hier 86–88; Wolfgang Hardtwig, Eliteanspruch und Geheimnis in den Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts, in: Helmut Reinalter (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion der Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert, München 1989, 63– 86, hier 73–78; Florian Maurice, „Staat im Staate“ oder „Schule der Untertanen“? Die Freimaurerei im Staat des aufgeklärten Absolutismus, in: Helmut Reinalter (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften. Freimaurer, Illuminaten, Rosenkreuzer. Ideologie, Struktur und Wirkungen, Bayreuth 1992, 9–22, hier 10; Manfred Hettling, Soziale Figurationen und psychische Valenzen. Die Dynamik von Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, in: ders., Uwe Schirmer, Susanne Schötz (Hg.), Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, München 2002, 263–276, hier 265. 7 Vgl. unter anderem Rudolf Vierhaus, Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in: ders., Deutschland im 18. Jahrhundert: Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1987, 110–125; Ulrich Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982; Reinalter, Freimaurerei und Geheimgesellschaften (wie Anm. 6); Richard van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt am Main 21996. 8 Vgl. Holger Zaunstöck, Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999. 9 Vgl. Winfried Dotzauer, Zur Sozialstruktur der Freimaurerei in Deutschland, in: Reinalter (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften (wie Anm. 6), 109–149, hier 112. 10 Vgl. Holger Zaunstöck, Die vernetzte Gesellschaft. Überlegungen zur Kommunikationsgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Joachim Berger, Klaus-Jürgen Grün (Hg.), Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei. Katalog zur Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik im Schiller-Museum Weimar 21. Juni bis 31. Dezember 2002, München, Wien 2002, 147–153, hier 152. 6
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die Zaunstöck anhand der vielfältigen personellen Verbindungen für Mitteldeutschland erstmals ‘dingfest’ machen konnte.11 Zaunstöck leitet daraus einen integrativen Forschungsansatz ab, der darauf zielt, die Sozietäten in den übergreifenden Prozeß der Kommunikationsausweitung (durch Infrastruktur, Medien, Vernetzung, Geselligkeit etc.) im 18. Jahrhundert einzuordnen.12 Drittens werden die stärker sozial- und kulturgeschichtlichen Arbeiten seit einigen Jahren ergänzt von einem neuen politikgeschichtlichen Zugriff, der nichts mehr mit der Koselleckschen Sicht auf den Absolutismus gemein hat.13 Das generelle Interesse an der politischen Bedeutung von Geheimgesellschaften war allerdings, wie oben bereits erwähnt, nie abgebrochen, wie die Widerlegung der älteren These von der „freimaurerischen Verschwörung“, die die französische Revolution herbeigeführt habe, und die Untersuchungen zum Illuminatenorden und seiner Wirksamkeit am Reichskammergericht deutlich machen.14 Der neue politikgeschichtliche Ansatz wird derzeit vor allem von zwei Seiten vorangetrieben: Zum einen beschreibt Monika Neugebauer-Wölk, aufbauend auf ihrem „Plädoyer für die Akzeptanz des Esoterischen“ in der Aufklärung,15 im vorliegenden Band die politische Bedeutung der Esoterik in
Auf die kommunikative Vernetzung der Aufklärer und Aufklärungsgesellschaften wurde in der Forschung wiederholt hingewiesen, ohne daraus, wie Zaunstöck schreibt, „einen spezifischen Forschungszugang“ zu entwickeln. Holger Zaunstöck, Zur Einleitung. Neue Wege in der Sozietätsgeschichte, in: ders., Markus Meumann (Hg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003, 1–10, hier 3; mit Bezug auf Hans Erich Bödeker, Aufklärung als Kommunikationsprozeß, in: Aufklärung 2 (1988), 89–111, und Schindler, Freimaurerkultur (wie Anm. 3). Ich danke Holger Zaunstöck für die Überlassung seines Aufsatzes vor der Publikation. 12 Vgl. Zaunstöck, Neue Wege (wie Anm. 11), 1–6. 13 Ausgehend von der Koselleckschen Analyse ist das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Politik in der Forschung lange Zeit stark dichotomisch gesehen worden. Auch heute stehen sich in entsprechenden Untersuchungen noch häufig ein monolithischer ‘Staat’ oder der ‘Absolutismus’ einerseits und die Freimaurerei andererseits gegenüber. Vgl. z.B. Maurice, „Staat im Staate“ (wie Anm. 6). Auf dieses Problem der unreflektierten Übernahme des „Stereotyps des ‘Absolutismus’“ macht auch Monika Neugebauer-Wölk aufmerksam. Neugebauer-Wölk, Arkanwelten (wie Anm. 2), 17. 14 Vgl. unter anderem Johannes Rogalla von Bieberstein, Die These von der freimaurerischen Verschwörung, in: Helmut Reinalter (Hg.), Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa, Frankfurt am Main 1983, 85–111; Richard van Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung – Analyse – Dokumentation, Stuttgart-Bad Cannstadt 1975; Monika Neugebauer-Wölk, Reichsjustiz und Aufklärung. Das Reichskammergericht im Netzwerk der Illuminaten, Wetzlar 1992. 15 Vgl. Monika Neugebauer-Wölk, Die Geheimnisse der Maurer. Plädoyer für die Akzeptanz des Esoterischen in der historischen Aufklärungsforschung, in: Das achtzehnte Jahrhundert 21 (1997), 15–32. 11
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den Geheimgesellschaften im Kontext der „Ausübung magischer Macht“.16 Zum anderen wird – im Gegensatz zur älteren These von der kompensatorischen Funktion der Machtausübung in der Freimaurerei für Prinzen von Geblüt und politisch entmachteten Adel17 – die konkrete politische Bedeutung der Kommunikationsnetze der Freimaurerei für die Herrschaftseliten insbesondere der kleinen Territorialstaaten herausgearbeitet. Dieser Zugang steht im Zusammenhang mit der von W. Daniel Wilson angestoßenen Kontroverse um die Haltung Goethes zur Freimaurerei. Ausgehend von dem Erkenntnisinteresse, eine angebliche deutsche Überhöhung Goethes zurechtzurücken, hat Wilson die These aufgestellt, Goethe und sein Landesherr, Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, hätten sich dem vorherrschenden freimaurerischen System der Strikten Observanz angeschlossen, um dieses zu überwachen.18 Dieser Einschätzung ist von Joachim Bauer und Gerhard Müller widersprochen worden, die zeigen konnten, daß der Konnex zwischen der Freimaurerei und den politisch Handelnden gänzlich anders gelagert war. An Goethes parallelem Aufstieg in landesherrlichen Diensten und in der Strikten Observanz machen sie plausibel, daß die Freimaurerei den politisch Handelnden insbesondere der nord- und mitteldeutschen Kleinstaaten neben der offiziellen Politik als ergänzendes Kommunikationsnetz diente.19 Bauer und Müller interpretieren die Beziehungen zwischen den ‘unterirdischen’ und den ‘oberirdischen Gängen’ – die Begriffe sind abgeleitet aus einem Goethe-Brief an Lavater20 – als politische Aktivitäten in einem engeren SinVgl. Neugebauer-Wölk, Arkanwelten (wie Anm. 2), 44; vgl. auch den Aufsatz von Joachim Bauer, Gerhard Müller, Von Johnssen zu Cagliostro. Freimaurerische ‘Hochstapler’ und arkanpolitische Machtakkumulation im 18. Jahrhundert, in diesem Band. 17 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997, 333. 18 Vgl. W. Daniel Wilson, Unterirdische Gänge. Goethe, Freimaurerei und Politik, Göttingen 1999. 19 „In einer deutschen Freimaurerloge der 1770er und 80er Jahre rezipiert zu sein [...] wirkte wie ein Kreditiv, das [...] verschlossene Türen zu öffnen und vielfältige Kontakte zu erschließen vermochte. In einer partikularen Staatenwelt, wie sie das Alte Reich darstellte, waren derartige ‘private’ Kommunikationsnetzwerke besonders für die kleinen Reichsstände eine politische Lebensfrage, denn sie konnten ein umfangreiches diplomatisches Korps schlicht nicht finanzieren.“ Joachim Bauer, Gerhard Müller, „Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben“. Tempelmaurerei, Aufklärung und Politik im klassischen Weimar, Rudolstadt, Jena 2000, 102. 20 „Glaube mir, unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Cloaken miniret, wie eine große Stadt zu seyn pflegt, an deren Zusammenhang, und ihrer Bewohnenden Verhältniße wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden. Glaube mir, das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische [...].“ Brief Goethes an Lavater vom 22.6.1781, zit. nach: Bauer, Müller, Des Maurers Wandeln (wie Anm. 19), 7. 16
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ne.21 Sie verstehen den auch von Goethe selbst angeführten „Geselligkeitszweck“22, die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme über die in den ‘oberirdischen Gängen’ bestehenden ständischen Hürden hinweg, als politisch funktional. Bedenkt man jedoch, daß der „gesellige Verkehr“23 in den Freimaurerlogen die unentbehrliche Grundlage für die politische Nutzung der freimaurerischen Kommunikationsnetze war, so wird man hier offener formulieren wollen: Die geknüpften Kontakte konnten in unterschiedlichen Kontexten aktiviert und funktionalisiert werden, natürlich auch für politische Zwecke im engeren Sinn, aber nicht notwendigerweise.24 Umgekehrt waren die kommunikativen Strukturen und sozialen Praktiken in der Binnenöffentlichkeit der Freimaurerlogen unentbehrliche Voraussetzung und Grundlage für die Schaffung einer alternativen politischen „Aktionsplattform“25 in der Strikten Observanz.26 Hier schließt sich in einem wichtigen Punkt der Kreis zu Zaunstöcks Kommunikationsmodell der Aufklärungsgesellschaften. Indem die personelle Vernetzung der Sozietäten mit ihrer „Geselligkeitskultur“ als Grundlage für ein „diskursives Klima“ diente, das „einen Informations-, Meinungs- und Wissenstransfer und daraus resultierend einen kritischen Austausch“27 beförderte, wurden vielfältige ‘unterirdische’ und ‘oberirdische’ Handlungsmöglichkeiten geschaffen. Die Kontakte, die durch die Geselligkeit in den ‘unterirdischen Gängen’, im Arkanbereich der Freimaurerei, geknüpft wurden, konnten in vielfältiger Weise auf die ‘oberirdischen Gänge’, auf Politik und Gesellschaft, zurückwirken. Vor diesem Forschungshintergrund werden die politische und gesellschaftliche Funktion sowie kommunikative Strukturen der Freimaurerei im vorliegenden Aufsatz mit einer Art ‘Seitenblick’ untersucht, nämlich aus der Perspektive der Kur- und Badeorte,28 die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeitgleich Vgl. ebd., 102. Hardtwig, Eliteanspruch (wie Anm. 6), 73, vgl. 74; vgl. auch Bauer, Müller, Des Maurers Wandeln (wie Anm. 19), 102. 23 Goethe, zit. nach: ebd. 24 Zu Beginn ihres Buches sprechen Bauer und Müller selbst davon, daß die „Bedeutung und Brisanz“ der Freimaurerei als „Medium“ der Kommunikation „vor allem in seinen strukturellen Möglichkeiten“ lag. Ebd., 21. 25 Zaunstöck, Die vernetzte Gesellschaft (wie Anm. 10), 152. 26 Vgl. die Verbindung, die Monika Neugebauer-Wölk zwischen der kulturgeschichtlichen Interpretation nach Maurice und der neuen Politikgeschichte zieht: Neugebauer-Wölk, Arkanwelten (wie Anm. 2), 16. 27 Zaunstöck, Neue Wege (wie Anm. 11), 5. 28 Die Verfasserin bereitet zur Zeit eine Habilitationsschrift vor, die die deutschen Kurorte unter einem kommunikationsgeschichtlichen Zugriff untersucht. Vgl. einstweilen den Überblicksaufsatz, der auch versucht, die Relevanz der Kurorte für die allgemeine Geschichte des 18. Jahrhunderts herauszuarbeiten: Ute Lotz-Heumann, Kurorte im Reich des 18. Jahrhunderts. 21 22
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mit der Freimaurerei einen großen Aufschwung nahmen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen zwei führende Kurorte des späten 18. Jahrhunderts: Bad Pyrmont als wichtiger gesellschaftlicher Treffpunkt Norddeutschlands und Wilhelmsbad bei Hanau, wo 1782 der bekannte Freimaurerkonvent der Strikten Observanz stattfand. Pyrmont und Wilhelmsbad sind Beispiele für einen spezifischen Kurorttypus des 18. Jahrhunderts, der sich durch „Urbanität auf dem Lande“29 auszeichnete: Es handelte sich um neu errichtete, abgeschlossene Kuranlagen in einer ländlichen Umgebung.30 In Pyrmont hatte diese Entwicklung bereits im späten 17. Jahrhundert begonnen und die zwischen zwei Dörfern errichteten Kuranlagen wurden 1720 zur Akzisestadt erhoben,31 ohne im klassischen Sinne ‘Stadt’ zu sein. Pyrmont war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts „eines der großen europäischen Bäder“.32 Wilhelmsbad wurde dagegen erst ab 1779 erbaut, stieg jedoch rasch zu einem Modebad auf.33 Im folgenden sollen in einem ersten Schritt signifikante Parallelen zwischen Freimaurerlogen und Kurorten als Begegnungs- und Kommunikationsstätten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgezeigt werden. In einem zweiten Schritt werden die zahlreichen Verbindungslinien zwischen der Freimaurerei und den Kurorten im späten 18. Jahrhundert beschrieben, die in der Forschung zwar gelegentlich am Rande vermerkt, deren enge VerzahEin Typus urbanen Lebens und Laboratorium der bürgerlichen Gesellschaft, in: Raingard Eßer, Thomas Fuchs (Hg.), Bäder und Kuren in der Aufklärung. Medizinaldiskurs und Freizeitvergnügen, Berlin 2003, 15–35. 29 So der Titel des einschlägigen Werkes zur Geschichte Pyrmonts im 18. Jahrhundert, das zugleich die einzige Monographie zur frühneuzeitlichen deutschen Bädergeschichte ist, die über die lokal- und regionalgeschichtliche Forschung hinausgeht: Reinhold P. Kuhnert, Urbanität auf dem Lande. Badereisen nach Pyrmont im 18. Jahrhundert, Göttingen 1984. 30 Dagegen sind Kuranlagen abzugrenzen, die in einer Stadt entstanden bzw. mit ihr eng verbunden waren, wie z.B. die Reichsstadt Aachen, die im 18. Jahrhundert als Badestadt europäische Bedeutung hatte, sowie die damaligen Kleinstädte Wiesbaden oder Baden-Baden, die jedoch im 18. Jahrhundert als Kurorte noch untergeordneter Bedeutung waren. Deren Freimaurerlogen sind deshalb auch in diesem städtischen Zusammenhang und nicht, wie Pyrmont, im saisonalen Kontext des Kurortes zu untersuchen, weshalb sie hier ausgeklammert werden. Vgl. August Pauls, Geschichte der Aachener Freimaurerei, Bd. 1: Die Aachener Freimaurerei in der reichsstädtischen Zeit (Bis Ende September 1794), Clausthal-Zellerfeld 1928; August Pauls, Annalen der Aachener Freimaurerei. Festschrift zum 175. Stiftungsfest der Aachener Johannisloge „Zur Beständigkeit und Eintracht“, Frankfurt am Main 1949; Horst Stange, Freimaurer in Wiesbaden, Wiesbaden 2002. 31 Vgl. Hermann Engel, Die „Akzisestadt“ Pyrmont von 1720, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 45 (1973), 377–392. 32 Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 9. 33 Vgl. Elke Conert, Wilhelmsbad. Garten der Empfindsamkeit, Hanau 1997; Bettina Clausmeyer-Ewers, Staatspark Wilhelmsbad Hanau. Kuranlage mit frühem Landschaftspark des Erbprinzen Wilhelm von Hessen-Kassel, Regensburg 2002; Gerhard Bott, Badeanlagen Wilhelmsbad, in: Anton Merk (Hg.), Natur wird Kultur. Gartenkunst in Hanau, Hanau 2002.
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nung bislang jedoch nicht deutlich gemacht wurde. Dabei wird der Blick auf die Kommunikationsformen gelenkt, die Freimaurer im Spannungsfeld zwischen maurerischem Arkanum und ‘Außenwelt’ in Kurorten praktizierten. Mit Hilfe wohlbekannter Quellen der Freimaurerforschung, nämlich Lessings Ernst und Falk34 sowie Ditfurths Bericht über den Wilhelmsbader Konvent,35 wird versucht, die Gesprächskultur von Freimaurern im Kontext der Kurorte zu erschließen. Untersucht wird also nicht die Binnenkommunikation in Freimaurerlogen, sondern Kommunikationsverhalten von Freimaurern auf der Schwelle zwischen den ‘unterirdischen Gängen’ und den ‘Spaziergängen’, wobei der Spaziergang eine der wichtigsten sozialen Praktiken am Kurort darstellte und die Grundlage für vielfältige informelle Kommunikationsformen bildete.36 Vor dem Hintergrund des oben erläuterten Zusammenhangs zwischen der Herstellung sozialer Kontakte über die Freimaurerei und der daraus resultierenden ‘Aktivierbarkeit’ dieser Kontakte und Kommunikationsnetze auch für politische Zwecke, geht die Analyse davon aus, daß die in den Quellen greifbaren Kommunikationssituationen inhaltlich sozusagen ‘universell’ waren, also mit den verschiedensten Themen ausgefüllt werden konnten. Im dritten Schritt wird die Rolle der Freimaurerei im Interessen- und Handlungskontext der regierenden Landesherren untersucht. Diese Frage wird zwar gelegentlich in der Forschung thematisiert,37 doch ist es angesichts der noch sehr unzureichenden Forschungslage38 insgesamt zu früh für Pauschalurteile Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Ernst und Falk. Mit den Fortsetzungen Johann Gottfried Herders und Friedrich Schlegels, hg. von Ion Contiades, Frankfurt am Main 1968. 35 Vgl. Franz Dietrich von Ditfurth, Bericht über den Wilhelmsbader Konvent, 1782, hg. von Georg Kloß, in: Freimaurer-Zeitung 5 (1847), 33–39 und 6 (1847), 41–48. 36 Zum Spazierengehen als „bürgerlicher Praktik“ vgl. Bernd Jürgen Warneken, Bürgerliche Gehkultur in der Epoche der Französischen Revolution, in: Zeitschrift für Volkskunde 85 (1989), 177–187; Gudrun M. König, Eine Kulturgeschichte des Spazierganges. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780–1850, Wien, Köln, Weimar 1996. 37 Die allgemein dazu vertretene These lautet: „[...] die Chefs der großen dynastischen Hauptlinien [...] [haben] sich nicht direkt in Führungspositionen der Freimaurerei engagiert. Typischer sind die Regenten der mittleren Teildynastien, noch typischer die Prinzen von Geblüt. Es ist jene Gruppe von an Macht und Einfluß im absolutistischen Herrschaftsraum benachteiligten Geblütsangehörigen [...].“ Dotzauer, Sozialstruktur (wie Anm. 9), 115, 128; vgl. auch Hardtwig, Genossenschaft (wie Anm. 17), 332 f. Dieser Auffassung wird in der neueren Freimaurerforschung widersprochen mit dem Hinweis, es handele sich um „einflußreiche Gruppen des reichs- und landsässigen Adels [...] bis hin zu Angehörigen regierender fürstlicher Häuser oder zu den regierenden Fürsten selbst“, die keineswegs „machtlos“ waren. Vielmehr seien die ‘unterirdischen’ Politikentwürfe reale „Faktor[en] im politischen Gesamtgeschehen der Zeit“ gewesen. NeugebauerWölk, Arkanwelten (wie Anm. 2), 26, mit Bezug auf Bauer, Müller, Des Maurers Wandeln (wie Anm. 19). 38 Man hat sich in diesem Kontext bislang vornehmlich mit Friedrich II. befaßt. Vgl. Winfried Dotzauer, Friedrich der Große im Brennpunkt von Freimaurerei und Aufklärung, in: Archiv für 34
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zum Verhältnis regierender Fürsten und Prinzen von Geblüt zur Freimaurerei. Es fehlen Arbeiten, die für die Freimaurer aus dem Hochadel erstens die jeweils unterschiedlichen Interessenlagen und deren Hintergründe analysieren und zweitens auch das jeweilige Verhältnis der regierenden Landesherren zu ihren maurerisch engagierten Verwandten in den Blick nehmen. Deshalb soll im dritten Abschnitt das Verhältnis des Fürsten von Waldeck-Pyrmont und des Grafen von Hanau zu den ‘Manifestationen’ von Freimaurerei in ihren Kurorten, nämlich zur Pyrmonter Loge einerseits und zum Wilhelmsbader Konvent andererseits, vor dem Hintergrund ihrer Beziehungen zu ihren jüngeren Brüdern, den Prinzen Ludwig und Karl, beschrieben werden.
I. Die ‘Urbanität’, die führende Kurorte wie Pyrmont und Wilhelmsbad im späten 18. Jahrhundert auszeichnete, drückte sich darin aus, daß sie neben der Gesundheitsfunktion und den dafür notwendigen Einrichtungen eine ‘Freizeitfunktion’ erfüllten, die nicht selten die Gesundheitsfunktion sogar in den Hintergrund drängte.39 Die Kuranlagen verfügten über Theater, Kaffeehäuser, Lesebibliotheken, Ballsäle, Spielbanken und Spieleinrichtungen im Freien wie Karussells und Kegelspiele. Alleen und Gärten schufen den Raum für Spaziergänge und waren deshalb die kommunikativen Mittelpunkte der Orte. Das früher angelegte und deshalb dem barocken Stil verpflichtete Pyrmont besaß eine Alleenanlage, deren Mittelpunkt von der sogenannten Hauptallee gebildet wurde. Wilhelmsbad verfügte neben einer Promenade auch über einen Landschaftsgarten im englischen Stil.40 Dieser Kurorttypus des späten 18. Jahrhunderts fungierte als Begegnungsund Kommunikationsstätte für den Adel und die bürgerliche Elite. Die Badeorte stellten eine Plattform dar, auf der soziale und politische Kontakte geknüpft Kulturgeschichte 70 (1988), 411–441; Thomas Richert, Zur freimaurerischen Tätigkeit Friedrich des Großen, in: Archiv für Kulturgeschichte 74 (1992), 173–189; Rüdiger Hachtmann, Friedrich II. von Preußen und die Freimaurerei, in: Historische Zeitschrift 264 (1997), 21–54. 39 Vgl. [Justus Möser], Schreiben des Verfassers an seine Schwester über den angenehmen Aufenthalt zu Pyrmont (1746), in: Brigitte Erker, Justus Möser in Pyrmont 1746–1793, Bad Pyrmont 1991, 24–31, hier 25 f.; Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 77 mit einem Zitat aus dem Journal des Luxus und der Moden. Bezeichnend für diese ‘Freizeitfunktion’ ist die Tatsache, daß die Wilhelmsbader Quelle weder heilkräftig noch besonders ergiebig war, Wilhelmsbad jedoch bis ins 19. Jahrhundert aufgrund seiner ‘Freizeiteinrichtungen’ ein beliebter Kurort blieb. Vgl. HansHeinz Eulner, Der Kur- und Badebetrieb am Wilhelmsbad in medizinhistorischer Sicht, in: Hanauer Geschichtsblätter 21 (1966), 125–164. 40 Vgl. dazu die Abbildungen am Ende dieses Aufsatzes.
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werden konnten, und sie waren – neben den Sozietäten – auch Zentren des aufklärerischen Diskurses.41 Doch zeichneten sich die Kurorte auch durch spezifische Formen sozialer Ab- und Eingrenzung aus, die ebenfalls deutliche Parallelen mit den Aufklärungsgesellschaften und insbesondere der Freimaurerei aufweisen. Denn andere gesellschaftliche Gruppen, vom einfachen Bürgertum bis hin zu den Bettlern, wurden von der elitären Badegesellschaft streng separiert.42 Eine ähnliche Exklusivität wurde in Aufklärungsgesellschaften beispielsweise über die Erhebung von Aufnahmegebühren und Mitgliedsbeiträgen sichergestellt.43 In Kurorten griffen neben diesen finanziellen weitere Mechanismen, um die Abtrennung des Adels und der bürgerlichen Elite von den anderen Besuchern des Bades selbst auf kleinstem Raum aufrechtzuerhalten. So wurden nur die Kurgäste der adelig-bürgerlichen Oberschicht namentlich in den Kurlisten aufgeführt44 und durch die Brunnenordnungen trotz der räumlichen Enge streng getrennte Bereiche und Zeiten für die Aktivitäten der einzelnen Gruppen definiert.45 Auf dieser Basis schufen die Kurorte für die gesellschaftlichen Eliten einen abgegrenzten Raum, in dem sie aus ihrer täglichen Lebenswelt heraustreten und unter den „gelockerten Rahmenbedingungen“46 des Kurortes neue soziale Praktiken erproben konnten, um die ständische Grenze zwischen Adel und Bürgertum zu überwinden. Die am Kurort praktizierte Kommunikation und Geselligkeit sollte frei von Standesschranken sein, ein Ideal, das von den Zeitgenossen immer wieder mit Nachdruck formuliert wurde. So schrieb beispielweise Heinrich Matthias Marcard in seiner Beschreibung von Pyrmont aus dem Jahr 1784: Uebrigens ist der Umgang leicht und ungezwungen in Pyrmont, und hat eine gewisse Freymüthigkeit, die man sonst unter dieser nordlichen Breite nicht leicht mehr findet. Man redet ohne Bedenken jedermann an, in dessen Bekanntschaft man eingeführt ist,
Vgl. Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 9–13. Vgl. ebd., 127 f. 43 Vgl. z.B. Marlies Stützel-Prüsener, Lesegesellschaften, in: Reinalter (Hg.), Aufklärungsgesellschaften (wie Anm. 6), 39–59, hier 48; zum Eliteanspruch der Freimaurerlogen gegenüber dem „großen Haufen“ vgl. Hardtwig, Eliteanspruch (wie Anm. 6), 67. 44 Vgl. Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 128 f. 45 So trank beispielsweise in Pyrmont die elitäre Badegesellschaft ab sechs Uhr morgens am Brunnen, die anderen Gäste mußten dies vorher tun; der Zugang zur Hauptallee wurde durch Allee-Knechte kontrolliert und auch der Zutritt zu Ballsaal und Kaffeehaus war streng reglementiert. Vgl. ebd., 137. In Wilhelmsbad, das als Neugründung bewußt für die adelig-bürgerliche Elite geschaffen worden war und keine Tradition als Kurort aufwies, war diese Exklusivität entsprechend einfacher herzustellen und zu sichern. Vgl. ebd., 33. 46 Vgl. ebd., 10. 41 42
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oder macht die Bekanntschaft selbst; man nähert sich jedem Cirkel nach Gefallen, um an der Conversation Theil zu nehmen.47
Ähnliches wurde in einer Werbeschrift für das Wilhelmsbad bei Hanau von 1780 postuliert: Gute Nacht, Etiquette! Rangordnung gehab dich wohl! Hier unterhält sich eine königliche Prinzeßinn im Kreise gesitteter Bürger, und bey dieser Herablassung unterscheidet Ihre Hoheit nichts, als ein erhabenerer Grad von Menschenliebe, der jedes Wort auf Ihren Lippen und jede Handlung in ihrer Entstehung mit dem Gepräge der Sanftmuth und Leutseligkeit stempelt.48
Doch wie auch in den Aufklärungsgesellschaften und nicht zuletzt in der Strikten Observanz wurde dieses Ideal vor dem Hintergrund der außerhalb des jeweils abgegrenzten Kommunikationsraumes fortbestehenden ständischen Trennung nie völlig erreicht. Es gab Bruchstellen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Der Abgrenzung des stark adelig geprägten Inneren Ordens in der Strikten Observanz von den übrigen Logenmitgliedern und der starken Hierarchisierung der Ordensgrade49 entsprachen am Kurort die immer wieder auftretenden Separierungstendenzen meist adeliger Kreise, die jedoch in der zeitgenössischen Literatur auf heftige Kritik stießen. Das adelige Verhalten wurde dabei als ‘höfisch’ und – einem Freimaurer oder Kurortbesucher – ‘unangemessen’ interpretiert; es stand einem ‘ungezwungenen’ und ‘ehrlichen’ Umgang im Wege.50 Ein wesentlicher Testfall für die Überwindung ständischer Trennung in den Kurorten waren die Tischordnungen bei den Mahlzeiten. Als
Heinrich Matthias Marcard, Beschreibung von Pyrmont, 2 Bde., Leipzig 1784/85, Bd. 1, 74. Briefe eines Schweizers über das Wilhelmsbad bei Hanau, neue, verbesserte Ausg., Hanau, Offenbach 1780, 29 f. 49 Vgl. Hermann Schüttler, Geschichte, Organisation und Ideologie der Strikten Observanz, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 25 (1988), 159–175, hier 165. 50 Als Beispiele seien hier zwei Kommentare von Freimaurern angeführt, die sich einmal auf maurerisches Verhalten und einmal auf das Verhalten am Kurort beziehen. Negativ kommentierte Franz Dietrich von Ditfurth das Verhalten Karls von Hessen bei der gemeinsamen Verabschiedung auf dem Wilhelmsbader Freimaurerkonvent: „Ja! recht! sagte er, leben Sie wohl, lieber Bruder, und behalten Sie mich lieb! Verführerische Aufführung eines Prinzen, die mich hinreißen würde, wenn ich ihn nicht kennte, nicht wüßte, daß es Falschheit und Hofton ist!“ Ditfurth, Bericht (wie Anm. 35), 46. Positiv vermerkte dagegen Leopold Gökingk über die Umgangsformen des Adels in Bad Brückenau: „Ich habe gefunden, daß die Domherren aus Fulda, die vornehmsten Hofbedienten, und überhaupt der fuldische Adel gegen jeden Fremden, ohne Rücksicht auf seine Geburt und seinen Rang in der bürgerlichen Welt, überaus gefällig war; [...] kurz, daß man vernünftig war, den Unterschied zwischen dem ‘am Hofe und im Bade sein’ nicht blos einzusehen, sondern sich auch darnach zu betragen.“ Michael Renner, Ein Dichter auf Badereise. Leopold Gökingks Bad Brückenauer Impressionen 1781, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27 (1964), 600–620, hier 609. 47 48
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Ideal galt – wie dies auch für die Aufklärungsgesellschaften bekannt ist –,51 daß man ständisch durchmischt und nicht hierarchisch gegliedert saß.52 Die Kurorte waren ihrem Anspruch nach also Orte „sozialer Exterritorialität“53 – so der Begriff Horst Möllers für die Salons – und dienten, wie die Freimaurerlogen und andere Sozietäten des 18. Jahrhunderts als „Exerzierfelder eines neuen Verhaltensstils“54 und damit als „Laboratorium der bürgerlichen Gesellschaft“.55 In diesen Funktionen mit den Sozietäten übereinstimmend, gingen sie doch in ihrer Kommunikationsfunktion über diese hinaus. Denn sie waren nicht, wie die meisten Sozietäten, primär auf ein lokales Publikum beschränkt, sondern brachten während der Saison Besucher aus einem weiten geographischen Umfeld zusammen. Reinhold P. Kuhnert schreibt den Kurorten vor diesem Hintergrund eine Ersatzfunktion für die fehlende Hauptstadt des Reiches zu, wobei sich in Pyrmont insbesondere die Eliten der norddeutschen Territorien trafen.56 Auch gegenüber der Freimaurerei, die sich ebenso durch überregionale Kommunikationsstrukturen auszeichnete, wiesen die Kurorte eine Besonderheit auf, indem sie face-to-face-Kommunikation innerhalb einer großen Personengruppe über längere Zeit ermöglichten, wobei diese direkte Kommunikation dann von den Anwesenden durch brieflichen Kontakt mit nicht am Kurort weilenden Freunden und Verwandten in ein weitgespanntes Kommunikationsnetz eingebunden wurde. Darüber hinaus ist die Kommunikationsfunktion der Kurorte als doppelt strukturiert zu beschreiben. Denn der Kurort als Kommunikationszentrum beherbergte wiederum zahlreiche Kommunikationskreise: von Freimaurerlogen und Kaffeehäusern über die vielfältige Interaktion auf der Promenade und die Treffen in informellen Zirkeln bis hin zum vertraulichen Vieraugengespräch. Vgl. z.B. Rudolf Schlögl, Die patriotisch-gemeinnützigen Gesellschaften: Organisation, Sozialstruktur, Tätigkeitsfelder, in: Reinalter, Aufklärungsgesellschaften (wie Anm. 6), 61–81, hier 75. 52 Vgl. Wir Wilhelm von Gottes Gnaden. Die Lebenserinnerungen Kurfürst Wilhelms I. von Hessen 1743–1821, hg. von Rainer von Hessen, Frankfurt am Main, New York 1996, 164, 184. 53 Horst Möller, Fürstenstaat und Bürgernation. Deutschland 1763–1815, Berlin 1994, 480. 54 Schindler, Freimaurerkultur (wie Anm. 3), 245. 55 Lotz-Heumann, Kurorte im Reich des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 28). Die in der Forschung zuweilen vertretene These, ausschließlich der freimaurerische Arkanraum habe der Einübung neuer Geselligkeits- und Kommunikationsformen auf dem Weg zur bürgerlichen Gesellschaft gedient, ist aus der Sicht der Kurortforschung in Zweifel zu ziehen. Vgl. dazu z.B. die Äußerung von Maurice: „Die Trennung der Stände war nur in der Privatheit der kleineren, zumeist rein männlichen Gesellschaften aufgehoben; in den ‘Assembleen’, den aus Männern und Frauen gemischten, öffentlichen festlichen Zusammenkünften bestand sie fort, und ein starres, höfisch geprägtes Zeremoniell der Ränge regelte den Umgang miteinander.“ Maurice, Freimaurerei (wie Anm. 5), 7. 56 Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 16 f. 51
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Es wurden verschiedene Formen der Kommunikation – von arkan bis öffentlich – praktiziert und diese gingen, wie unten noch zu zeigen sein wird, häufig auch ineinander über. Der Kurort als Kommunikationsplattform integrierte also verschiedene Assoziationsformen und ermöglichte damit – potenziert durch seine räumliche Konzentration und klare zeitliche Begrenzung – ein außerordentlich hohes Maß an personeller Vernetzung, sozialer Interaktion und kommunikativem Austausch.57
II. Im Jahr 1746 verfaßte Justus Möser, der später über Jahre Dauergast in Pyrmont war, anläßlich seines ersten Aufenthalts in diesem Kurort ein anonym veröffentlichtes, fiktives Schreiben des Verfassers an seine Schwester über den angenehmen Aufenthalt zu Pyrmont.58 Darin schrieb Möser: „Man findet hier wie im Paradiese allerley Nationen und Religionen, vom Richter zu Lüda an, bis zum Prinzen vom Libanon.“59 Mit diesem Hinweis auf den ‘Prinz von Libanon’ als den 22. Hochgrad der Schottischen Maurerei60 konnte Möser allen Eingeweihten mitteilen, daß Pyrmont ein Kommunikationszentrum der Freimaurerei war, lange bevor dort 1776 eine Loge gegründet wurde. Zieht man allein die Namen bekannter Persönlichkeiten in Betracht, die Freimaurer waren und als Brunnengäste in Pyrmont geweilt haben, unter anderen Bertuch, Claudius, Goethe, Herder, Hufeland, Knigge, Kotzebue, Nicolai und Pütter,61 so wird man die Bedeutung Pyrmonts als Kommunikationsplattform für Freimaurer und über Freimaurerei nicht überschätzen können. Gotthold Ephraim Lessing weilte im Jahr 1766 zu einem Kuraufenthalt in Bad Pyrmont, wo er sich mit Justus Möser über Freimaurerei unterhielt.62 Im Jahr 1771 wurde Lessing, nun Hofrat und Bibliothekar in Wolfenbüttel, in die Hamburger Freimaurerloge „Zu den drei Rosen“, eine Loge der ZinnendorfDiesen Konnex betont auch Zaunstöck für die Aufklärungsgesellschaften. Vgl. Zaunstöck, Die vernetzte Gesellschaft (wie Anm. 10). 58 Vgl. [Möser], Schreiben (wie Anm. 39). 59 Ebd., 26. 60 Vgl. Artikel „Schottischer Ritus“, in: Eugen Lennhoff, Osker Posner, Dieter A. Binder, Internationales Freimaurerlexikon, München 2000, überarb. und erw. Neuaufl. der Ausgabe von 1932, 753–756, hier 754. 61 Vgl. Brigitte Erker, „Brunnenfreiheit“ in Pyrmont. Gesundheit und Geselligkeit im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in: Eßer, Fuchs, Bäder (wie Anm. 28), 53–97, hier 86. 62 Vgl. Erker, Möser (wie Anm. 39), 9 f.; Michael Voges, Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987, 147 f. 57
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schen Großen Landesloge, aufgenommen. Lessing war zwar offensichtlich enttäuscht von der Freimaurerei und betrat Zeit seines Lebens keine Loge mehr,63 doch beschäftigte er sich sowohl vor seiner Aufnahme als auch noch nach der enttäuschenden Erfahrung intensiv mit der Freimaurerei. Ergebnis dieser Beschäftigung war die in Dialogform gestaltete Schrift Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer, die auf der Pyrmonter Hauptallee spielt. Lessing stellte diese Schrift 1777 fertig und ließ sie zunächst unter seinen Freunden kursieren.64 Er sandte das Manuskript auch an Herzog Ferdinand von BraunschweigLüneburg-Wolfenbüttel, dem Magnus Superior Ordinis der Strikten Observanz und Bruder seines Landesherrn Herzog Karls I.65 Die ersten drei Gespräche wurden 1778 gedruckt, während die beiden letzten Gespräche ohne Wissen Lessings 1780 publiziert wurden.66 Lessings Schrift wurde in der Folge Teil eines „publizistischen Kesseltreibens“67 im Vorfeld des Wilhelmsbader Freimaurerkonvents von 1782, das sich vor allem um die Tempelrittermaurerei drehte. Mitten in einer Zeit von Wirren innerhalb der Strikten Observanz68 war die Reaktion Herzog Ferdinands auf das Manuskript einerseits und den Druck andererseits sehr unterschiedlich: Während er in Lessings Manuskript offenbar ein hilfreiches Mittel sah, um die Reformdiskussion innerhalb der Strikten Observanz voranzutreiben, denn er verbreitete das Manuskript innerhalb des Ordens weiter,69 wandte er sich gegen die Veröffentlichung von Ernst und Falk mit dem Hinweis, Lessing habe gegen die freiwillige Verpflichtung „nichts von denen wesentlichen Kenntnissen der Gesellschaft drucken zu lassen“ verstoßen und dieser „öffentliche Druck“70 sei ohne seine Zustimmung erfolgt. Vgl. Voges, Aufklärung (wie Anm. 62), 148 f.; Wolfgang Kelsch, Der Freimaurer Lessing. Idee und Wirklichkeit einer freimaurerischen Utopie?, in: Braunschweigisches Jahrbuch 58 (1977), 103–119. Die Einzelheiten dieser Aufnahme und Lessings Verhältnis zur Freimaurerei, das in der Forschung verschiedentlich behandelt wurde, sind für die hier behandelte Fragestellung von untergeordneter Bedeutung. 64 Vgl. Lessing, Ernst und Falk (wie Anm. 34), 93. 65 Vgl. Kelsch, Freimaurer Lessing (wie Anm. 63), 111. 66 Die gedruckte Fassung von 1778 versah Lessing mit einer Widmung an Herzog Ferdinand – der einzigen in seinem Gesamtwerk. Vgl. Lessing, Ernst und Falk (wie Anm. 34), 93 f. 67 Ludwig Hammermayer, Der Wilhelmsbader Freimauerer-Konvent von 1782, Heidelberg 1980, 26, vgl. auch 26–28. 68 Nach dem Gugomos-Skandal und dem Tod des Ordensgründers von Hund 1776 war ein Machtkampf zwischen dem schwedischen Herzog Karl von Södermanland und Herzog Ferdinand ausgebrochen. Zu den Details der Krise der Strikten Observanz vgl. Bauer, Müller, Des Maurers Wandeln (wie Anm. 19), 43–48. 69 Vgl. Hammermayer, Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent (wie Anm. 67), 27. 70 Brief von Herzog Ferdinand an Lessing vom 21.10.1778, zit. nach: Lessing, Ernst und Falk (wie Anm. 34), 99 f., hier 99. 63
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In diesem Gesamtkontext wird man die Tatsache, daß Lessing Pyrmont als Schauplatz seines Werkes Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer gewählt hat, ernster nehmen wollen, als die Forschung dies bislang getan hat. In der Literatur ist zwar wiederholt darauf hingewiesen worden, daß die ersten drei Gespräche von Ernst und Falk in Pyrmont spielen;71 es wurde aber nicht thematisiert, daß diese Gespräche einen typischen Tag am Brunnen nachzeichnen. Liest man Ernst und Falk mit dem oben angesprochenen ‘Blick von der Seite’, erschließt sich über das Werk eine typische Kommunikationssituation am Kurort.72 Der dänische Schriftsteller Jens Baggesen beschrieb das morgendliche Pyrmonter Ritual folgendermaßen: Um sechs Uhr sieht man die feine Welt schon in voller Bewegung in der großen Allee [...] Diese Gezeitenwelle beider Geschlechter, die in Morgenkleidung unter den majestätischen Linden auf und ab wogt, hat etwas sehr Angenehmes im Ganzen [...] Man grüßt seine Bekannten, der Freund sucht den Freund, und das ganze Heer teilt sich nach und nach in größere und kleinere Gruppen auf, die am Ende der Allee gemeinsam Brunnen trinken, bis die Bewegung gegen neun Uhr in ebenso viele Frühstücksgruppen mündet. Hier sitzt einer mit seiner Pfeife Tabak, dort sind es zwei, dort drei, hier eine kleine und da eine große Gesellschaft unter den Lindenschatten der Allee.73
Der Tag in Pyrmont begann also mit dem Brunnentrinken und dem Spaziergang auf der Hauptallee, auf der das erste und zweite Gespräch Ernst und Falks stattfinden, unterbrochen von Falks Interesse an einem Schmetterling.74 Hier Vgl. Rolf Appel, Lessing als Freimaurer, Hamburg 1997, 19; Kelsch, Freimaurer Lessing (wie Anm. 63), 112. – Dagegen verkennt Voges, Aufklärung (wie Anm. 62), 164, diesen Gesprächskontext völlig. Er leitet aus der Annahme, alle fünf Gespräche fänden auf dem Landgut Falks statt, eine These zum „quasi utopischen Standort“ (164 f.) der Konversation ab, die sich durch „Distanz zur gesellschaftlichen Realität“ (165) auszeichne. Die Behauptung Voges’ „Das Gespräch scheint bewußt abgesetzt gegen andere genuin gesellschaftliche Formen der Kommunikation“ (164) wird im folgenden widerlegt. 72 Die Verfasserin ist sich der Tatsache wohl bewußt, daß sie mit der Konzentration auf Lessing zu einer Analyseform ‘zurückkehrt’, die in der jüngsten Freimaurerforschung stark kritisiert wurde. Vgl. Monika Neugebauer-Wölk, Zur Einführung, in: Maurice, Freimaurerei (wie Anm. 5), XVII f.: „Die Geschichtsschreibung der Freimaurerei wird sich lösen müssen von der Manier, die Worte der literaturgeschichtlichen Berühmtheiten des 18. Jahrhunderts zu Leitvorstellungen des Verständnisses einer Bewegung zu machen, die aus Zehntausenden heute überwiegend unbekannter, wenn auch keineswegs namenloser Mitglieder bestand.“ Das hier gewählte Vorgehen ist jedoch nach Ansicht der Verfasserin durch den oben genannten ‘Seitenblick’ gerechtfertigt, der nicht die inhaltlichen Thesen über die Maurerei, sondern die indirekt transportierte Kommunikationssituation in den Vordergrund stellt. 73 Jens Baggesen, Das Labyrinth oder Reise durch Deutschland und die Schweiz 1789, Leipzig, Weimar 1985, 163. Einen typischen Tagesablauf in Pyrmont beschreibt auch Marcard, Beschreibung (wie Anm. 47), Bd. 1, 55–65. 74 Vgl. Lessing, Ernst und Falk (wie Anm. 34), 10–28. 71
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führen Ernst und Falk „im Rausche des Pyrmonter“, wie es zu Beginn des dritten Gesprächs mit Bezug auf die morgendliche Aktivität heißt,75 ein vertrauliches Vieraugengespräch über die Freimaurerei, das jedoch inmitten der Menschenmenge auf der Hauptallee stattfindet. Am Ende des zweiten Gespräches bricht Falk die Unterredung ab, indem er Ernst auffordert, die Gesellschaft anderer Kurgäste beim Frühstück zu suchen.76 Dadurch erweitert Falk bewußt den Kommunikationskreis, so daß eine Fortsetzung der ‘geheimen Aussprache’ unmöglich wird. In dieser Weise verhält sich Falk den gesamten Brunnentag über; er weicht Ernst „im Gedränge der Gesellschaft“77 aus.78 Hier wird eine spezifische Kommunikationssituation am Kurort abgebildet. Zum einen gelingt es zwei Personen auch inmitten der Brunnengesellschaft auf der Pyrmonter Hauptallee, ihre face-to-face-Kommunikation soweit zu separieren, daß ein vertrauliches Gespräch geführt werden kann. Zum anderen kann dies jedoch durch ein Eintauchen in die größeren Kommunikationskreise des Bades vollständig verhindert werden. Daß Lessing hier keine fiktive Kommunikationssituation präsentiert, sondern die kommunikativen Strukturen Pyrmonts in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abbildet, wird dadurch untermauert, daß er selbst, wie bereits erwähnt, 1766 in Pyrmont intensive Gespräche über seine Thesen zur Freimaurerei mit Möser führte.79 Grundsätzlich wurde die Möglichkeit zum Vieraugengespräch, die der Kurort bot, von den Zeitgenossen sehr geschätzt. Hier konnten heikle Themen, auch solche politischer Natur,80 besprochen werden, ohne daß „man sich den Gefahren einer schriftlichen Fixierung [...] aussetzte“.81 Ebd., 29. „Dort winkt man uns eben zum Frühstück. Komm!“ Ebd. 77 Ebd. 78 Zu Beginn des dritten Gesprächs versucht Ernst das Gespräch mit Falk abends wieder aufzunehmen, indem er Falk auf dessen Schlafzimmer besucht. Vgl. ebd. Folgen wir der Beschreibung Marcards, so ist dies als Ausdruck der Freundschaft zu werten, denn „Visiten in den Wohnungen zu geben, ist in Pyrmont gar nicht gebräuchlich, nur besonders vertraute Bekannte besuchen sich einander auf ihren Zimmern [...]“ Marcard, Beschreibung (wie Anm. 47), Bd. 1, 64 f. Am Ende des dritten Gespräches läßt Ernst seinen Freund bei der Brunnenkur alleine, um in „der Stadt“ Freimaurer zu werden. Vgl. Lessing, Ernst und Falk (wie Anm. 34), 35. Die beiden letzten Gespräche für Freimaurer spielen dann im Haus Falks auf dem Land. 79 Dies ist zum einen durch einen Brief Mösers an Abbt überliefert. Vgl. Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 183. Zum anderen durch einen Tagebucheintrag Lichtenbergs von 1772, dem Möser wiederum von seinen Gesprächen mit Lessing berichtet hatte. Vgl. Richard Daunicht (Hg.), Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen, München 1971, 207; vgl. auch Erker, Möser (wie Anm. 39), 10. 80 Vgl. hierzu die im Pyrmonter Brunnenarchiv von 1782 beschriebene Unterhaltung, die sich angeblich im Jahr 1780 vor dem Pyrmonter Kaffeehaus zugetragen haben soll. Hier wird zwei (anonymen) Personen eine Diskussion über das Verhalten des früheren österreichischen Archivars Senckenberg im Kontext des bayerischen Erbfolgestreits zugeschrieben. Nachdem der österrei75 76
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Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, daß Regenten und ihre Minister Pyrmont im 18. Jahrhundert bevorzugt für geheime politische Unterredungen nutzten. Hier konnte „Politik gleichsam im Vorfeld offizieller Kabinettsaktivitäten“82 betrieben werden. Im Zuge der sozialen Interaktion am Kurort konnten zugleich informell politische Absprachen getroffen werden, wobei hier die kommunikativen Rückzugsmöglichkeiten besonders genutzt wurden. So bahnte beispielsweise Friedrich II. 1744 sein Bündnis mit Frankreich in Pyrmont an, indem er sich mit dem französischen Militärbevollmächtigten Graf Montaigne zu einem Waldspaziergang traf.83 Auch in der Phase der napoleonischen Kriege und der schleichenden Auflösung des Reiches am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, insbesondere anläßlich der Kuraufenthalte Friedrich Wilhelms II. 1796 und 1797, wurden in Pyrmont politischdiplomatische Gespräche geführt.84 Die kommunikativen Möglichkeiten am Kurort Pyrmont wurden 1776 durch die Gründung der Freimaurerloge „Friedrich zu den drei Quellen“,85 die sich dem System der Strikten Observanz anschloß,86 entscheidend erweitert. Zu den oben beschriebenen informellen Kommunikationsmöglichkeiten trat die Loge als Raum der „institutionalisierten Intimität“87 hinzu. Die Pyrmonter Logen-
chische Staatskanzler Kaunitz durch Lehnsurkunden Kaiser Sigismunds von 1446 den österreichischen Anspruch auf Teile Bayerns sichern wollte, hatte Senckenberg im Jahr 1778 eine diese Ansprüche zunichte machende Verzichtsurkunde Herzog Albrechts von Österreich vorgelegt. Vgl. Das Pyrmonter Brunnenarchiv von 1782. Zum Jubiläum der Stadtrechte Pyrmont 1720–1995, mit einer Einführung hg. von Siegrid Düll, Nachdruck der Orig.-Ausg. Berlin 1782, Sankt Augustin 1995, 42–46; Karl Otmar Freiherr von Aretin, Das Alte Reich 1648–1806, Bd. 3: Das Reich und der österreichisch-preußische Dualismus (1745–1806), Stuttgart 1997, 186, 571 f. 81 Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 28. – Die Vorteile dieser face-to-face-Kommunikation und die Absicht ihrer Nutzung, wenn auch naturgemäß nicht die Themen, wurden gelegentlich in Briefen reflektiert. Für zahlreiche Beispiele von schriftlichen Andeutungen der Möglichkeit, bei einer persönlichen Begegnung in Pyrmont offen miteinander zu sprechen vgl. Brigitte Erker, Friedrich Nicolai in Pyrmont. Kontakte und Geselligkeit eines Aufklärers, in: Dieter Alfter (Hg.), Badegäste der Aufklärungszeit in Pyrmont. Beiträge zur Sonderausstellung „... bis wir uns in Pyrmont sehen“. Justus Mösers Badeaufenthalte 1746–1793 im Museum im Schloß Bad Pyrmont vom 14. April bis 29. Mai 1994, Bad Pyrmont 1994, 50–72, hier 66. 82 Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 237. 83 Vgl. ebd., 235–237. 84 Vgl. ebd., 237–239. – Spitzel waren deshalb in Pyrmont natürlich auch präsent. 85 Der Name der Gründung leitet sich von ihrem Protektor, dem regierenden Fürst Friedrich von Waldeck-Pyrmont, sowie von den drei Hauptquellen des Kurortes Pyrmont ab. Vgl. Christian Zetzsche, 200 Jahre Freimaurerei in Pyrmont, Langenhagen 1975, 7. 86 Vgl. Hermann Trommsdorff, Die Freimaurerei in Pyrmont. Festschrift zur Feier der Neugründung der Loge Friedrich zu den drei Quellen in Bad Pyrmont, Göttingen 1928, 13. 87 Helmut J. Schneider, Institution und Intimität. Zur Vergeistigung des Sozietätsgedankens in Lessings Freimaurergesprächen, in: Klaus Garber, Heinz Wismann (Hg.), Europäische Sozietäts-
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gründung fällt in die Zeit der beginnenden Krise der Strikten Observanz, die jedoch zugleich noch immer eine Phase massiver Expansion war.88 Die Krise der Strikten Observanz wollten Herzog Ferdinand und sein Stellvertreter Prinz Karl von Hessen-Kassel schließlich auf einem FreimaurerKonvent überwinden, den sie vom 16. Juli bis 1. September 1782 nach Wilhelmsbad bei Hanau einberiefen.89 Der Erbauer des Kurbades Wilhelmsbad war der Bruder Prinz Karls, Wilhelm IX., Graf von Hanau-Münzenberg und Erbprinz von Hessen-Kassel. Die maurerische Zusammenkunft in Wilhelmsbad ermöglicht uns einen weiteren Blick in die spezifische Kommunikationssituation der Kurorte sowie auf das Spannungsverhältnis zwischen ‘unterirdischen Gängen’ und ‘Spaziergängen’, zwischen maurerischem Arkanum und der ‘Öffentlichkeit’ der Kurgesellschaft.90 Angesichts der Brisanz der anstehenden Verhandlungen scheint für die Wahl Wilhelmsbads im Gegensatz zum ursprünglich angekündigten Tagungsort Frankfurt am Main auch der Aspekt der Geheimhaltung der Beratungen des
bewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, Bd. 2, Tübingen 1996, 1668–1696, hier 1670. 88 Vgl. Hermann Schüttler, Zwei freimaurerische Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts im Vergleich: Strikte Observanz und Illuminatenorden, in: Erich Donnert (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit, Bd. 4: Deutsche Aufklärung, Weimar, Köln, Wien 1997, 521–544, hier 528. Vgl. dazu auch Dotzauer, Sozialstruktur (wie Anm. 9), 112 und 122 (Karte IV), der für die Dekade zwischen 1771 und 1780 eine Verdoppelung der Logengründungen und der FreimaurerMitgliedschaften sowie eine dadurch bedingte massive geographische Ausbreitung der Freimaurerei feststellt. Die Gründung der Pyrmonter Loge fällt also in die Hochphase der Logengründungen im Reich. 89 Einschlägig zum Wilhelmsbader Freimaurerkonvent: Hammermayer, Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent (wie Anm. 67); vgl. außerdem Reinhold Taute, Der Wilhelmsbader Konvent und der Zusammenbruch der Strikten Observanz, Berlin 1909; Wilhelm Mensing, Der FreimaurerKonvent von Wilhelmsbad vom 14.7. bis zum 1.9.1782 am Vorabend der französischen Revolution von 1789, Bayreuth 1974; Wilhelm Mensing, Der Illuminatismus auf dem Freimaurer-Konvent in Wilhelmsbad vom 14.7. bis zum 1.9.1782, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 41 (1978), 271–291; Rainer von Hessen, Der Wilhelmsbader Freimaurerkonvent 1782. Aufklärung zwischen Vernunft und Offenbarung, in: Bernd Heidenreich (Hg.), Aufklärung in Hessen. Facetten ihrer Geschichte, Wiesbaden 1999, 10–23; Roland Hoede, Der Wilhelmsbader Konvent 1782. Freimaurerei zwischen Mystizismus und Aufklärung, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 37 (2000), 37–54; Hermann Schüttler, Der Wilhelmsbader Freimaurerkonvent im Spiegel der Illuminaten, in: Berger, Grün (Hg.), Geheime Gesellschaft (wie Anm. 10), 175–184. – Prinz Karl hatte sich bereits 1779 in Wilhelmsbad mit anderen Freimaurern getroffen, wie sein Bruder Wilhelm in seinen Memoiren berichtet. Vgl. Wir Wilhelm (wie Anm. 52), 159. 90 Hier und an anderer Stelle in diesem Aufsatz wird der Öffentlichkeitsbegriff mit Bezug auf die Kurorte benutzt, ohne daß diese Verwendung angemessen reflektiert werden kann. Dies muß einer größeren Arbeit vorbehalten bleiben.
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Konvents eine Rolle gespielt zu haben.91 Das Interesse an Abschirmung und Sicherstellung von geheimen Verhandlungen drückte sich vor allem darin aus, daß zu Beginn des Konvents „jeder Deputierte [sich] auf sein Ehrenwort reversiren sollte, seinen Committenten vor Beendigung des Convents Nichts von Dem, was darauf vorgeht, zu sagen“.92 Der Bericht Franz Dietrich von Ditfurths vom Wilhelmsbader Konvent macht jedoch deutlich, daß sich diese Geheimhaltung am Kurort selbst nicht aufrechterhalten ließ. „Die Vertraulichkeit des Gesprächs, die der Rahmen des Kurbades gewährte, darf [...] nicht über den ambivalenten Charakter eines Ortes hinwegtäuschen, der gleichzeitig als Forum gesteigerter Öffentlichkeit fungierte“, so die Analyse Kuhnerts mit Bezug auf Bad Pyrmont.93 Möglicherweise haben Herzog Ferdinand und Prinz Karl den ‘Öffentlichkeitscharakter’ des erst kürzlich etablierten Kurortes Wilhelmsbad unterschätzt.94 Die obigen Beispiele aus Pyrmont haben jedoch deutlich gemacht, daß die angestrebte Geheimhaltung durchaus erreichbar war. Deshalb wird man die Tatsache, daß in Wilhelmsbad mehrfach der „Erdboden einstürzt[e]“95 und den ‘Spaziergängern’ im Kurort den Blick auf die ‘unterirdischen Gänge’ freigab, wohl auf Einzelpersonen wie Ditfurth zurückführen müssen, die durch den Verlauf des Konvents aufgebracht waren. Die räumliche Verdichtung – um nicht zu sagen Enge – des Kurortes mit seiner Möglichkeit zur face-to-face-Kommunikation wirkte sich vor dem Hintergrund eines von tiefen Spaltungen geprägten Konvents und damit einer sich auflösenden maurerischen Kommunikationsgemeinschaft entgegengesetzt zur beschriebenen Pyrmonter Situation aus. Während sich dort Gesprächspartner im gegenseitigen Einvernehmen von der ‘Öffentlichkeit’ des Kurortes separieren und zu einer vertraulichen Unterredung zusammenfinden konnten, wurde in Wilhelmsbad infolge des Auseinanderbrechens des Vertrauens und der Kommunikation in den ‘unterirdischen Gängen’ das maurerische Arkanum in die ‘Spaziergänge’ hineingetragen. Denn der erst kürzlich gegründete Kurort implizierte offenbar durch seine ländliche Abgeschiedenheit für die Organisatoren auch eine kommunikative Abtrennung nicht nur von den ‘oberirdischen Gängen’, sondern auch von der maurerischen Binnenöffentlichkeit, insbesondere von der Frankfurter Unionsloge, „der einzigen deutschen Provinzialloge, die der reinen symbolischen [...] Maurerei treu geblieben war“. Hammermayer, Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent (wie Anm. 67), 42; vgl. Hoede, Wilhelmsbader Konvent (wie Anm. 89), 47. 92 Ditfurth, Bericht (wie Anm. 35), 35. 93 Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 28. 94 In der Literatur wird, indem nur die 35 Delegierten erwähnt werden, meist der Eindruck erweckt, der Konvent habe an einem abgeschiedenen Ort stattgefunden. Dagegen ist festzuhalten, daß der Konvent, zu dem die Delegierten mit Familie und Gefolge anreisten, neben den regulären Kurgästen kaum im Wilhemsbad untergebracht werden konnte. Zudem begann der Konvent Mitte Juli und damit noch im Rahmen der Hauptsaison. Vgl. Wir Wilhelm (wie Anm. 52), 183. 95 Wendung aus dem Brief Goethes an Lavater vom 22.6.1781, vgl. oben Fußnote 20. 91
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Ditfurth berichtet dementsprechend, daß Graf J. Gamba della Perosa (bei Ditfurth „Perouse“) „über den Convent sehr aufgebracht [war], so daß er es gegen Profane nicht verbergen konnte“.96 Ditfurth selbst, der während des Konvents eigentlich bei seinem Onkel in Hanau wohnte, blieb nach der 11. Sitzung am 30. Juli, die zu einem Eklat zwischen ihm und den Prinzen geführt hatte,97 bewußt in Wilhelmsbad, um seinem Ärger – offensichtlich auch gegenüber Nicht-Maurern – Luft zu machen. Hierbei reflektierte er in ironischer Überspitzung die oben beschriebene Kommunikationssituation zwischen maurerischem Geheimnis und der ‘Öffentlichkeit’ des Kurortes: Dann sagte ich Anderen: Ihr Leute, ich weiß mit Euch Nichts zu sprechen, ich weiß nicht, ob Ihr Alle Profane seid; aber es ist wenigstens eine ziemliche Menge Profaner im Convent, und wie kann man in Gegenwart solcher Leute deliberiren? Lasset uns lieber unter den Brunnen=Knechten, den Kutschers und dem Troß deliberiren!98
Es ist also nicht verwunderlich, daß Graf Wilhelm, der kein Freimaurer war, über den Fortgang des Konvents trotzdem gut informiert war.99 Der Wilhelmsbader Konvent endete durch die Übernahme des Lyoner Systems mit einer Art Pyrrhus-Sieg für die Strikte Observanz, deren Erosion unaufhaltsam war.100 Die Pyrmonter Loge, die in der Strikten Observanz verblieb, löste sich allmählich auf; die letzten Protokolle sind für 1789 erhalten.101 Das Logen- und Geheimbundwesen im Reich zersplitterte in der Folgezeit gänzlich.102 Neben den freimaurerischen Systemen der Zinnendorfschen Großen Landesloge und dem neuen, aus Wetzlar und Frankfurt initiierten Ekklektischen Bund standen auf radikal-aufklärerischer Seite die Geheimgesellschaften der Illuminaten und der Deutschen Union Karl Friedrich Bahrdts103 dem antiaufklärerischen Bund der Gold- und Rosenkreuzer104 gegenüber. Das damit verbundene Auseinanderbrechen der Aufklärungsbewegung spiegelte sich auch in der Kurstadt Pyrmont, die unmittelbar mit den publizistischen Auseinander-
Ditfurth, Bericht (wie Anm. 35), 45. Vgl. Hammermayer, Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent (wie Anm. 67), 71 f. 98 Ditfurth, Bericht (wie Anm. 35), 43. 99 Vgl. Wir Wilhelm (wie Anm. 52), 186, 188. 100 Vgl. Hammermayer, Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent (wie Anm. 67), 74–83. 101 Vgl. Trommsdorff, Freimaurerei in Pyrmont (wie Anm. 86), 55. 102 Vgl. dazu im Überblick Hammermayer, Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent (wie Anm. 67), 74–83. 103 Vgl. Günter Mühlphordt, Europapolitik im Duodezformat. Die internationale Geheimgesellschaft „Union“ – Ein radikalaufklärerischer Bund der Intelligenz (1786–1796), in: Reinalter, Freimaurer und Geheimbünde (wie Anm. 14), 319–364. 104 Vgl. Horst Möller, Die Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer anti-aufklärerischen Geheimgesellschaft, in: Reinalter (Hg.), Freimaurer und Geheimbünde (wie Anm. 14), 199–239. 96 97
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setzungen um das Pasquill Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn, oder Die deutsche Union gegen Zimmermann105 verbunden war. Die politisch-literarische Affäre um das Bahrdt-Pasquill106 steht im Kontext des „Gegeneinanders von Spätaufklärung und Frühkonservativismus“ und damit des Prozesses der „Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland“.107 Sie nahm ihren Lauf mit den scharfen Angriffen des Arztes Johann Georg Ritter von Zimmermann, der während der Saison in Pyrmont praktizierte,108 gegen die Berliner Aufklärung in seiner Schrift Über Friedrich den Großen und meine Unterredung mit ihm kurz vor seinem Tode (1788). Eine erste publizistische Auseinandersetzung folgte, an der sich Karl Friedrich Bahrdt 1790 mit einer Gegenschrift beteiligte, die, nach der Aussage Kotzebues, in Pyrmont „von allen Badegästen verschlungen, von Manchem mit Wohlgefallen belächelt“109 wurde. Kotzebue entschloß sich daraufhin zu einer Verteidigungsschrift für Zimmermann. Das Bahrdt-Pasquill, das noch 1790 erschien und dessen Titelblatt Adolph Freiherr von Knigge als Verfasser angab, verunglimpfte führende Vertreter der Aufklärung, darunter Nicolai, Knigge, Mauvillon und Campe, die Pyrmont-Besucher und in ihrer Mehrzahl Freimaurer und/oder Mitglieder des Illuminatenordens waren.110 Rasch stellte sich heraus, daß Kotzebue als wahrer Verfasser des Pasquills die Informationen und Gerüchte, die er für den persönlichen Angriff auf die Aufklärer benutzt hatte, von dem Brunnenarzt Heinrich Matthias Marcard111 erhalten hatte. Marcard hatte wie Zimmermann lange Jahre den aufklärerischen Kommunikationskreisen Pyrmonts angehört, war dann aber in den 1780er Jahren zunehmend auf eine antiaufklärerische, konservative politische Haltung eingeschwenkt. Marcard hatte diese „verschiedene[n] Nachrichten, BemerkunVgl. Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn, oder Die deutsche Union gegen Zimmermann. Ein Schauspiel in vier Aufzügen, von Freyherrn von Knigge (1790), Nachdruck in: Franz Blei (Hg.), Deutsche Litteratur-Pasquille, Leipzig 1907. 106 Vgl. Brigitte Erker, Winfried Siebers, „... von Pyrmont ab mit häßlichen Materialien beladen“. Das Bahrdt-Pasquill – Eine literarische Fehde zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung, in: Alfter, Badegäste (wie Anm. 81), 73–90; Erker, „Brunnenfreiheit“ (wie Anm. 61), 92–95; Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 255–258; Werner Rieck, „Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn ...“. Zimmermann und Kotzebue im Kampf gegen die Aufklärung, in: Weimarer Beiträge 12 (1966), 909–935. Die nachfolgende Zusammenfassung der Auseinandersetzung um das Pasquill folgt diesen Beiträgen. 107 Jörn Gaber, Nachwort. Politische Spätaufklärung und vorromantischer Frühkonservatismus. Aspekte der Forschung, in: Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815, Düsseldorf 1978, 543–592, hier 543. 108 Vgl. unten Fußnote 128. 109 Zit. nach: Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 257. 110 Mitglied der Deutschen Union war dagegen neben Bahrdt nur Knigge. Vgl. Erker, „Brunnenfreiheit“ (wie Anm. 61), 94. 111 Vgl. unten Fußnote 129. 105
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gen und ganz bekannte[n] Anekdoten“ als Brunnenarzt in Pyrmont erfahren und sie, wie er selbst im Widerspruch zur angeblichen ‘Bekanntheit’ der Informationen betonte, „im Vertrauen und auf Diskrezion“112 an Kotzebue weitergegeben. Im Moment ihres Zerbrechens wird hier nochmals das Spezifikum der Pyrmonter Kommunikationsstruktur sichtbar, wie sie auch Lessing in Ernst und Falk transportiert. Die Pyrmonter Badegesellschaft verstand sich vor ihrem Zerfall in den 1790er Jahren als großer Kommunikationskreis, innerhalb dessen sich kleinere Kommunikationskreise, die sowohl festere Organisationsformen wie die Freimaurerloge als auch informelle Zirkel umfaßten, sowie vertrauliche Vieraugengespräche entwickeln konnten. Der Möglichkeit, sozusagen in der ‘Öffentlichkeit’ des Kurortes das Arkanum zu verhandeln, wie es bei Lessing exemplarisch vorgeführt wird, lag ein grundsätzliches gegenseitiges Vertrauensverhältnis der Beteiligten zugrunde. Doch machte bereits Möser in seinem obengenannten Schreiben des Verfassers an seine Schwester auf die Ambivalenz von Vertrautheit und potentieller Öffentlichkeit aufmerksam, auf die Kuhnert hingewiesen hat:113 „Alle Gelehrten, die Lebensläufe schreiben wollen, will ich bitten hieher zu kommen, weil einem niergends mehr heimliche Nachrichten ins Ohr gesagt werden als hier [...].“114 Der Umstand, daß unter dem Siegel der Verschwiegenheit mündlich mitgeteilte Informationen ihren Weg zu anderen Personen und auch in den Druck finden konnten, hatte im Empfinden der Zeitgenossen eine problematischere Qualität als der nicht seltene Druck von Briefen und weitergegebenen Manuskripten ohne die Erlaubnis des Verfassers. Das Bahrdt-Pasquill wurde deshalb von der Pyrmonter Kurgesellschaft als tiefer Bruch ihrer Kommunikationsgemeinschaft erlebt.115 Dieser „Zerfall der Kommunikationsgemeinschaft des Bades“116 wurde in der Folgezeit durch die „heftige[n] Diskussionen“, die innerhalb der Kurgesellschaft um die Französische Revolution und ihre Folgen geführt wurden, weiter vorangetrieben.117 In den 1790er Jahren waren damit die ‘unterirdischen’, die ‘oberirdischen’ und die ‘Spaziergänge’ im Reich unwegsamer geworden.
112 113 114 115 116 117
Zit. nach: Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 257. Vgl. oben Fußnote 93. [Möser], Schreiben (wie Anm. 39), 30. Vgl. Erker, „Brunnenfreiheit“ (wie Anm. 61), 95. Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 250. Ebd., 255.
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III. Beide Landesherren der untersuchten Kurorte, Fürst Friedrich von WaldeckPyrmont und Graf Wilhelm von Hanau-Münzenberg, standen der Freimaurerei nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, ohne indes selbst Freimaurer zu sein. Ihr Verhältnis zur Freimaurerei und ihre Motive dabei sind insbesondere im Vergleich zu den Interessen des Herzogs Carl August von Sachsen-WeimarEisenach aufschlußreich. Wie von Joachim Bauer und Gerhard Müller herausgearbeitet, entschloß sich Carl August erst in dem Moment zu einem Eintritt in die ‘unterirdischen Gänge’, als sein politisches Interesse an einer freimaurerischen Partizipation beinahe überwältigend akut war.118 Für die hier untersuchten Landesherren lassen sich zwar theoretisch auch Gründe für ein Interesse an der Maurerei finden – nicht zuletzt zählten ihre Territorien zu den kleinsten im Reich und ihre politische Macht war somit begrenzt. Faktisch hielten sie sich jedoch beide von der Freimaurerei fern, wobei die Rolle ihrer jüngeren Brüder von entscheidender Bedeutung war. Die Initiative zur Gründung der Freimaurerloge „Friedrich zu den drei Quellen“ in Pyrmont im Jahr 1776 ging von Georg Friedrich Papen, dem fürstlich waldeckschen Leibarzt und „ordentlichen Physikus bei dem Gesundbrunnen zu Pyrmont“119 aus, der 1780 mit anderen Mitgliedern der Pyrmonter Loge in den Inneren Orden aufgenommen wurde.120 Fürst Friedrich, nach dem die Loge benannt war, übernahm das Protektorat. Freimaurerischer Protektor der Loge war Prinz Karl Ludwig Friedrich von Mecklenburg-Strelitz, der häufig Brunnengast in Pyrmont war.121 Mitglieder der Loge waren zahlreiche für den Brunnenbetrieb zuständige Amtsträger sowie Kaufleute in Pyrmont.122 Wichtig für unsere Fragestellungen sind jedoch die Mitgliedschaft des fürstlich waldeckschen Geheimen Sekretärs Georg August Frensdorff, der – am Hof in Arolsen tätig – sich offenbar im Auftrag des Landesherrn 1776 der Pyrmonter Loge anschloß,123 sowie die regelmäßige Teilnahme des Prinzen Ludwig von Waldeck an den Logensitzungen ab 1778.124 Prinz Ludwig, der in diesem Jahr auch in den Inneren Orden aufgenommen wurde, stellte sich bei MeinungsverschieVgl. Bauer, Müller, Des Maurers Wandeln (wie Anm. 19), 113. Trommsdorff, Freimaurerei in Pyrmont (wie Anm. 86), 17. 120 Vgl. ebd., 53. 121 Vgl. ebd., 41–43; Erker, Nicolai (wie Anm. 81), 58. 122 Vgl. dazu die ausführlichen familiengeschichtlichen Ausführungen bei Trommsdorff, Freimaurerei in Pyrmont (wie Anm. 86). 123 Vgl. ebd., 27. 124 Vgl. ebd., 43. 118 119
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denheiten mehrfach an die Seite des Logengründers und Meisters vom Stuhl, Papen.125 Vor dem Hintergrund der Gesamtsituation der Grafschaft Waldeck-Pyrmont, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts permanent vom Staatsbankrott bedroht war,126 scheint Prinz Ludwig mit seinem Engagement in der Loge auch die politisch-wirtschaftlichen Interessen seines Bruders vertreten zu haben. Denn zum einen diente die Pyrmonter Loge als Anziehungspunkt für den Kurort besuchende Freimaurer, trug also dazu bei, den Erfolg der Badestadt Pyrmont zu erhalten und zu festigen. Das wird allein an der Tatsache deutlich, daß die Quellen der Pyrmonter Loge eine höhere Zahl besuchender Brüder als Mitglieder ausweisen.127 Zum anderen mußte es auch im Interesse des Fürsten liegen, die Stellung seines Leib- und Brunnenarztes Papen in Pyrmont zu festigen und diesem einen exklusiven Zugang zur Badegesellschaft zu verschaffen. Denn Papen war im späten 18. Jahrhundert keineswegs der einzige und auch nicht der bekannteste Badearzt Pyrmonts. Diese Stellung wurde vielmehr von den jeweils nur während der Saison in Pyrmont praktizierenden Ärzten Johann Georg Ritter von Zimmermann und Heinrich Matthias Marcard eingenommen. Zimmermann war Leibarzt Georgs III. in Hannover.128 Dagegen war Marcard zwar seit 1776 Brunnenarzt und verfaßte 1784/85 ein bedeutendes Werk über Pyrmont, jedoch weilte er ebenfalls nur im Sommer in Pyrmont und war bereits seit 1778 hannoverscher Leibmedicus.129 Es ist bezeichnend für die Rivalität der Ärzte, daß offenbar weder Marcard noch Zimmermann die Loge jemals besuchten oder sich ihr gar anschlossen. Dagegen waren Marcard und Zimmermann in die oben beschriebenen Kommunikationskontexte des Bades intensiv eingebunden.130 Es bestand also eine Interessenkonvergenz zwischen Fürst Friedrich und seinem Brunnenarzt Papen an der Errichtung und Erhaltung der Freimaurerloge in Pyrmont, wobei der jüngere Bruder des Landesherrn innerhalb der Loge eine unterstützende Funktion einnahm. Vgl. ebd., 49. Vgl. Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 103–105. 127 Für die Jahre 1776–80 stehen 56 Mitglieder 70 besuchenden Brüdern gegenüber. Vgl. die Zusammenstellung bei Trommsdorff, Freimaurerei in Pyrmont (wie Anm. 86), 79–89. 128 Vgl. ausführlich über Zimmermann: Wilhelm Mehrdorf, Luise Stemler, Chronik von Bad Pyrmont, Bad Pyrmont 1967, 272–277; Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 63. 129 Vgl. ausführlich über Marcard: Berend Strahlmann, Heinrich Matthias Marcard. Leibmedicus des Herzogs Peter Friedrich von Oldenburg, in: Oldenburger Jahrbuch 60 (1961), 57–120; Mehrdorf, Stemler, Chronik (wie Anm. 128), 277–281; Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 63. 130 Marcard und Zimmermann waren nicht nur intensiv in die Geselligkeit der Hauptallee und der anderen gesellschaftlichen Treffpunkte Pyrmonts eingebunden, sie waren zudem in den sogenannten Pyrmont-Ohsener-Freundschaftskreis, einen Zirkel Pyrmonter Badegäste, integriert, dem beispielweise auch Nicolai, Möser und Jenny von Voigts angehörten. Vgl. Kuhnert, Urbanität (wie Anm. 29), 171–177; Erker, „Brunnenfreiheit“ (wie Anm. 61), 81–83. 125 126
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In Hanau und Wilhelmsbad stellte sich die Situation fast gegensätzlich dar. Graf Wilhelm, der auf Bitten seiner Brüder Karl und Friedrich 1778 die Protektion der von ihnen gegründeten Hanauer Loge „Wilhelmine Caroline“ übernommen hatte,131 begrüßte zwar – wahrscheinlich nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen – den Freimaurerkonvent in seinem Kurort, lehnte eine Mitgliedschaft in der Freimaurerei jedoch für sich persönlich entschieden ab. Anläßlich des Wilhelmsbader Konventes vermerkte er dazu in seinen Memoiren: Mein Bruder Karl hatte seit 1777 [...] alles Erdenkliche versucht, mich dafür [für die Freimaurerei] zu interessieren, allein meine Stellung und Pflichten als Souverän waren mit einer solchen Bindung gänzlich unvereinbar. Die extreme Familiarität und Gleichheit, welche in dieser Bruderschaft vorherrschen, könnten [mir] bei zu vielen Dingen hinderlich werden, was mich bewogen hat, ihr auch künftig fernzubleiben.132
Wilhelm war also der Auffassung, daß eine Mitgliedschaft in der Freimaurerei und die damit verbundene „Familiarität und Gleichheit“ nicht mit seiner Stellung als Souverän vereinbar sei. Da Wilhelm ein ausgeprägtes Bewußtsein für seine Position als Herrscher hatte – er lehnte es beispielsweise auch ab, in Theaterstücken bei Hof mitzuwirken133 –, wird man dieses Selbstverständnis und die daraus resultierende Haltung zur Freimaurerei bei der Erforschung des Verhältnisses der Territorialfürsten zur Strikten Observanz gegebenenfalls miteinbeziehen müssen. Wilhelms Abneigung gegen einen Beitritt ist jedoch auch, das machen seine Memoiren deutlich, im Zusammenhang mit der wichtigen Position seines jüngeren Bruders Karl innerhalb der Strikten Observanz zu sehen. Wilhelm war sichtlich erbost, ja eifersüchtig ob des Engagements seines Bruders in der Freimaurerei, durch das er sich als leiblicher Bruder zurückgesetzt fühlte.134 Er stand zudem der esoterischen Suche Karls, die diesen beispielsweise zum Gönner des Alchemisten Gard von Saint-Germain alias Welldone gemacht hatte,135 mit großem Mißtrauen gegenüber. Aber am schwersten wog offenbar, daß sein Vgl. Wir Wilhelm (wie Anm. 52), 454. Ebd., 180. 133 Vgl. ebd., 132. 134 Vgl. seine Äußerung zum Verlauf des Wilhelmsbader Freimaurerkonvents: „Meinen Bruder Karl sah ich schier überhaupt nicht mehr. Er hatte sich seinen Gesinnungsbrüdern ausgeliefert und vernachlässigte darüber gänzlich seinen leiblichen, der ihn von Grund seines Herzens liebte. Seine Vertraulichkeit mit den Ordensbrüdern ging sogar so weit, daß er Personen mit ‘mon cher’ anredete, die tags zuvor gekommen waren.“ Ebd., 183. 135 Vgl. Rainer von Hessen, Landgraf Carl von Hessen-Kassel (1744–1836). Eine Reise durch Freimaurerei und Geheimwissenschaften, in: Walter Heinemeyer (Hg.), Hundert Jahre Historische Kommission für Hessen 1897–1997. Festgabe dargebracht von Autorinnen und Autoren der Historischen Kommission, 2. Teil, Marburg 1997, 681–711; Wir Wilhelm (wie Anm. 52), 180 f., 458. 131 132
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Beitritt zur Freimaurerei „ein sicheres Mittel gewesen wäre, mich von den Prinzen [Herzog Ferdinand und Prinz Karl] bevormunden zu lassen“.136 Der Kreis zu Wilhelms Selbstverständnis als Herrscher schließt sich, wenn er seinen Bruder Karl mit den Worten kritisiert: „Am eigenartigsten aber dünkte mich, daß er sich allen Ernstes einbildete, ungemein viel beschäftigter zu sein als ich, und daß seine Eitelkeit, die er wohl vor anderen zur Schau tragen mußte, ihm kaum gestattete, den Unterschied zu beachten, der zwischen uns herrschte.“137 Vor die Wahl gestellt, die freimaurerischen Ambitionen seines Bruders durch einen eigenen Beitritt zu kontrollieren oder nicht, entschied Wilhelm sich für Distanz zur Freimaurerei. Man kann annehmen, daß dies auch vor dem Hintergrund der hohen Stellung geschah, die sein Bruder bereits innerhalb der Strikten Observanz erlangt hatte, denn auch bei schneller Aufnahme in höhere Rittergrade hätte Wilhelm immer unter seinem Bruder gestanden. Nimmt man Herzog Carl August, Fürst Friedrich und Graf Wilhelm als drei Beispiele für das Verhalten von kleinen Reichsfürsten gegenüber der Freimaurerei, so ergibt sich kein einheitliches Bild. Die politischen Gründe Carl Augusts für den Beitritt stehen neben den wirtschaftspolitischen Interessen Friedrichs, die jedoch nur zum Protektorat führten, und dem herrscherlichen Selbstverständnis Wilhelms, das einen Beitritt ausschloß. Doch macht die Rolle der jüngeren Brüder Ludwig und Karl deutlich, daß es in der Forschung noch detaillierter Untersuchungen bedarf, um die – offenbar auch sehr individuellen – Motive und Ziele der deutschen Territorialfürsten in ihrem Verhältnis zur Freimaurerei herauszuarbeiten. Im vorliegenden Aufsatz wurde versucht, einige der vielfältigen Verbindungen aufzuzeigen, die zwischen den ‘unterirdischen Gängen’, d.h. der Freimaurerei und insbesondere der Strikten Observanz, den ‘Spaziergängen’, d.h. den Kurorten, und den ‘oberirdischen Gängen’, d.h. der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in den deutschen Territorien des 18. Jahrhunderts, bestanden. Im ersten Schritt wurden Badeorte und Freimaurerei im Hinblick auf ihre Funktion verglichen, wobei signifikante Parallelen hervortraten: Sowohl Freimaurerlogen als auch Kurorte fungierten als Kommunikationszentren der gesellschaftlichen Eliten und spielten eine wichtige Rolle bei der Einübung neuer Verhaltens- und Umgangsformen im Rahmen adelig-bürgerlicher Begegnung. Im zweiten Schritt wurden Kommunikationssituationen und -strukturen auf der Schnittstelle zwischen (freimaurerischem) Arkanum und der ‘Öffentlichkeit’ des Kurortes analysiert. Hier wurde zum einen deutlich, daß der Kurort für die Zeitgenossen eine ideale Plattform für face-to-face-Kommunikation bereitstellte, in deren Rahmen auch politische Themen aktualisiert wurden. Zum anderen 136 137
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wurde jedoch auch gezeigt, wie fließend und prekär die Übergänge zwischen geheim-vertraulichen Kommunikationssituationen einerseits und den ‘Öffentlichkeiten’ der Kurorte und der ‘oberirdischen Gänge’ andererseits waren. Im dritten Schritt wurden anhand der Landesherren von Waldeck-Pyrmont und Hanau-Münzenberg, die in ihren Kurorten jeweils mit der Freimaurerei in Kontakt kamen, Motiv- und Interessenbündel als Grundlage individueller Einstellungen zur Freimaurerei untersucht. Die Analyse ergab kein einheitliches Bild: Die Haltung der Regenten zur Freimaurerei war jeweils durch eine spezifische Mischung politischer und persönlicher Motive bedingt, wobei das Verhältnis der regierenden Fürsten zu ihren in der Maurerei engagierten jüngeren Brüdern offenbar einen wesentlichen Faktor darstellte. Der Aufsatz untersucht Verbindungslinien zwischen der Freimaurerei und den Kurorten im Reich des 18. Jahrhunderts, insbesondere anhand der Beispiele Pyrmont und Wilhelmsbad. Es werden erstens funktionale Parallelen zwischen Badeorten und Freimaurerlogen als Kommunikationszentren der gesellschaftlichen Eliten aufgezeigt, zweitens Kommunikationssituationen und -strukturen auf der Schnittstelle zwischen (freimaurerischem) Arkanum und ‘Öffentlichkeit’ der Kurorte dargestellt und drittens die Haltung der Landesherren von Waldeck-Pyrmont und Hanau-Münzenberg zur Freimaurerei erörtert.
This article analyses the connections between freemasonry and spas in eighteenth-century Germany, focussing on Pyrmont and Wilhelmsbad as examples. First, the parallel function of lodges and spas as communication centres for the social elites is investigated. Second, the article examines situations and structures of communication at the interface of the masonic arcanum and the public sphere of the spas. Third, the article discusses the attitudes of the territorial princes of Waldeck-Pyrmont and Hanau-Münzenberg towards freemasonry. Dr. Ute Lotz-Heumann, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, E-Mail: [email protected]
Freimaurerei und deutsche Kurorte
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Abb. 1: Ansicht der Hauptallee von Pyrmont aus Heinrich Matthias Marcard, Beschreibung von Pyrmont, 2 Bde., Leipzig 1784/85, hier Bd. 1, 1784
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Abb. 2: Vue du Bain de Wilhelmsbad avec la Fontaine, l'Arcade et les Pavillons, Kupferstich von Gotthelf Wilhelm Weise nach Vorlage von Anton Wilhelm Tischbein, 1783 (mit freundlicher Genehmigung des Hanauer Geschichtsvereins)
H O LGE R Z AU N S TÖ C K Überwachung durch Denunziation? Studentische Arkanwelten als Gegenstand der Politikgestaltung vor 1800
Die im geheimen organisierten Studentenorden und Landsmannschaften waren zentrale Bestandteile der Arkanwelten des 18. Jahrhunderts, die in einer direkten Beziehung zur Politik der Zeit standen:1 Sie unterlagen Verboten und waren der obrigkeitlichen Verfolgung ausgesetzt. Die dabei betriebene Politik und die angewandten Maßnahmen folgten keinem vorgegebenen, stereotypen Muster, sondern wurden in einem über Jahrzehnte andauernden Prozeß gestaltet. Den Studenten kam dabei nicht nur die passive Rolle des Handlungsobjekts zu. Denn ohne die arkane Kommunikationsform der Denunziation, die aktiv im Studentenmilieu angewandt worden ist, wären die universitären Obrigkeiten oft chancenlos in der Ordensbekämpfung geblieben. Durch die Analyse dieser Denunziationsvorgänge an den Universitäten Halle und Jena − den Zentren der Ordensbewegung im 18. Jahrhundert − sowie der Maßnahmenentwicklung der Regierungen wird im vorliegenden Text ein Blick auf die Politikgestaltung im Jahrhundert der Aufklärung geworfen. Im Umfeld der geheim organisierten Studentenkultur kommt den Denunziationen zentrale Bedeutung zu. Sie waren offenbar die einzige kommunikative Interaktion zwischen den als Ordensbrüder geheim organisierten Studenten einerseits und der Universitätsobrigkeit andererseits.2 Insofern sind im Kontext
1 Zum Verhältnis von Arkanwelt und Politik siehe den Einführungstext zu diesem Band: Monika Neugebauer-Wölk, Arkanwelten im 18. Jahrhundert. Zur Struktur des Politischen im Kontext von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit, in diesem Band. 2 Die Beschreibung von Denunziationen als kommunikative Vorgänge spielt in der jüngsten Forschung eine zunehmend wichtigere Rolle; vgl. Michaela Hohkamp, Claudia Ulbrich, Wege zu einer inter- und intrakulturellen Denunziationsforschung, in: dies. (Hg.), Der Staatsbürger als Spitzel. Denunziation während des 18. und 19. Jahrhunderts aus europäischer Perspektive, Leipzig 2001 (Deutsch-Französische Kulturbibliothek, 19), 9−24, passim; Holger Zaunstöck, Denunziation und Kommunikation. Studentenorden und Universitätsobrigkeit in Halle zur Zeit der Spätaufklärung, in: ders., Markus Meumann (Hg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue
Aufklärung 15 · © Felix Meiner Verlag 2003 · ISSN 0178-7128
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der Verfolgung arkaner Studentengesellschaften an Universitäten der Aufklärungszeit im folgenden unter ‘Denunziationen’ kommunikative Akte zu verstehen, die zwischen zwei sich sonst nicht überschneidenden Informations- und Lebenskreisen, den obrigkeitlich verbotenen Studentenorden und der Leitungsebene der Universität, vollzogen werden. Diese sporadischen Beziehungen haben wesentlich zur Aufdeckung der Geheimgesellschaften beigetragen. Eine Feststellung, die sich auch generell für die frühneuzeitliche Justiz- und Verwaltungspraxis formulieren läßt.3 Beginnen wir mit den Denunziationen im Umfeld der Studentenorden und deren Bekämpfung an der hallischen Universität. In Bezug auf die Besonderheiten im akademischen Milieu steht dabei die Frage im Mittelpunkt, wer wie denunziert. In Halle sind die Denunziationsvorgänge deshalb gut zu fassen, weil wir auf eine ganz themenspezifische, in der Forschung kaum beachtete Quellengruppe zurückgreifen können: die sogenannten Denunziationszettel − in den Gerichtsakten auch oft als ‘anonymische Zettel’ bezeichnet. Dies sind Schriftstücke, mittels derer die Anzeigenden ihre Denunziation an die Universitätsobrigkeit − in der Regel an den Prorektor − übermittelt haben. Es finden sich unterschiedlich große Zettel (oft vorn und hinten beschrieben), die z.T. in Briefform abgefaßt sind. Ein inhaltliches Merkmal scheinen die Zettel gemeinsam zu haben: Alle Denunziationen sind − in manchen Fällen bis in Einzelheiten hinein − ausführlich und präzis. Ein Beispiel dafür ist die im Juli 1767 anonym erfolgte Denunziation der sogenannten ‘Niedersächsischen Landsmannschaft’, die sich vornehmlich aus Studenten Magdeburger und Halberstädter Herkunft zusammensetzte. Der Denunziationszettel ist über den Pedell Müller lanciert worden.4 In ihm wird angegeben, wann, wo, wer sich zu welchem Zweck bei welcher Verköstigung versammelt. Morgen in Fleischers Garten, wegen neu zu errichtender Landsmannschaft, Zusammenkunft der Magdeburger und Halberstädter unter dem Namen der Nieder= Sachsen. Der Senior heißt Nod, logirt dem Fechtboden über. Ein Adjutant ist Weinreich, Chemnitz Subsenior in des Maj. Ludwig Hause, Messow Secret. Der Billardeur Wagner in der kleinen Ulrichstraße besorgt das in den angezeigten Garten zu tragende Essen. auf dem Rathskeller sind bestellt 40. Kannen Merseburger 20. Kannen Wettiner [Verte] Soll die Untersuchung mit einigem Effekt folget werden, so müssen beide Pedelle morgen Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 21), 231−249. 3 Vgl. Achim Landwehr, Friso Ross, Denunziation und Justiz. Problemstellungen und Perspektiven, in: dies. (Hg.), Denunziation und Justiz. Historische Dimension eines sozialen Phänomens, Tübingen 2000, 7−23, hier 7. 4 Der Vorgang (und das weitere Verfahren der Universitätsobrigkeit) ist auch beschrieben bei Fritz König, Aus zwei Jahrhunderten. Geschichte der Studentenschaft und des studentischen Korporationswesens auf der Universität Halle, Halle an der Saale 1894, 117−119, hier 117.
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Abends oder um Mittern. durch die Scharwacht den Garten mit einem m[al] umringt halten und vornemlich den Senior, Subsen. und Adjutanten sogleich arretieren und sie von den üb[ri]gen wegreißen lassen. Auf solche Weise werden ihre Statuten oder lege[s] wenn sie in continenti visitirt werden, am füglichsten bekannt gemacht und dem Judicio Acad. ohnfehlbar überliefert werden. Der Numerus dieser Consorten beläuft sich zur Zeit auf 42.5
Abb. 1: Denunziation der Niedersächsischen Landsmannschaft in Halle, Juli 1767 [UA Halle, Rep. 5, Nr. 24, 1 und 1’]
Demnach kommt die Landsmannschaft zur Gründungsversammlung zusammen. Es werden die Studenten benannt, die die Ämter des Ordens übernehmen werden; Senior etwa ist der Student Nod. Es folgt die Benennung der Gastronomie − der Billardeur Wagner in der kleinen Ulrichstraße (eine Straße im Zentrum Halles) besorgt das Essen, und die Landsmannschaft hat vierzig Kannen Merseburger und zwanzig Kannen Wettiner Bier im Ratskeller bestellt. Da der Denunziant sicher gehen will, daß es auch tatsächlich zum Zugriff kommt, schlägt er auf der Rückseite des Denunziationszettels (der Text nach ‘Verte’) die Vorgehensweise vor, die er als die effektivste ansieht: Man müsse abends 5 Universitätsarchiv Halle. Rep. 5 Universitätsgericht. Abt. I 1702–1819. B. Verbindungswesen (1765–1821) [im folgenden UA Halle], Nr. 24, Beabsichtigte Errichtung einer Landsmannschaft durch die Studenten Nood, Kemnitz, Messow u.a. Juli 1767 – August 1767, 1 und 1’. Es sei an dieser Stelle angemerkt, daß die Denunziation gegen die Niedersächsische Landsmannschaft die formalen, übergreifenden Kriterien der Basisdefinition von Sheila Fitzpatrick und Robert Gellately erfüllen: Sie ist spontan (d.h. unerwartet und einmalig), sie ist an die zuständige Obrigkeit gerichtet und sie fordert implizit und explizit (‘arretieren’) Bestrafung. Vgl. dies., Introduction to the Practices of Denunciation in Modern European History, in: dies. (Hg.), Denunciation in Modern European History, 1789–1989 , Chicago, London 1997 (Studies in European History from the Journal of Modern History), 1–21, hier 1.
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oder um Mitternacht mit der Scharwache den Garten umstellen und dann insbesondere Wert darauf legen, den Senior, den Subsenior und die Adjutanten zu arretieren, um unverzüglich an die originalen Statuten der derzeit 42 Studenten umfassenden Landsmannschaft zu gelangen.6 Obwohl man vermuten darf, daß ein derartig gut informierter Denunziant wohl ein Student gewesen sein mag, der vielleicht sogar dem Personenkreis der Landsmannschaft sehr nahe stand, läßt die Quelle letztendlich doch offen, wer anzeigt. In einem anderen Beispiel aus dem September 1783 ist dies anders. Auf der rechten oberen Ecke des Schriftstücks hat der Prorektor Johann Ludwig Schulze vermerkt:7 „Am 11ten Sept. 1783 früh in meinem Hause gefunden. Es war versiegelt unter der Hausthür durchgesteckt worden.“8 Mit diesem Schreiben wurde der Konstantistenorden denunziert. Auch in diesem Fall wird ausführlich berichtet: Etwa daß der Orden eine neue ‘Decke’, d.h. einen Teppich bzw. ein Tischtuch für die Ordenszeremonien, in Dessau hat fertigen lassen, daß er seine eigenen ‘Feltschär’ und vier ‘Ordens Schwestern’ habe (die namentlich genannt werden) und wo sich in Halle Orte befinden, die der Orden frequentiert − sowie darüber hinaus im westlich von Halle gelegenen Passendorf, wo offensichtlich Glücksspiele betrieben wurden.9 Schließlich werden ausführlich Namen von Mitgliedern mitgeteilt (z.B. ‘Schultze der Berliner’, ‘Wolt [Wolf] ihr Bohte’, ‘Blume der Magdeburger’, ‘Fuchsius’). Im Gegensatz zur Denunziation der Niedersächsischen Landsmannschaft wird hier gesagt, wer anzeigt, denn es wird im Namen der Stadtbürger gesprochen: Der Text beginnt mit den Worten: „Wier [!] Bürger werden des Abends geprügelt, wenn wir an der [die] Post carde [die zentrale Poststelle, H.Z.]
Die Landsmannschaft ist späterhin zu einiger Berühmtheit gelangt, da einer der im Zuge der Denunziation erfaßten Studenten Gottfried August Bürger war, vgl. dazu Hans-Joachim Kertscher, „Unser Bürger ist ein Halberstädter“. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Gottfried August Bürger, in: ders. (Hg.), G. A. Bürger und J. W. L. Gleim, Tübingen 1996 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 3), 1–13, hier 4. 7 Zu Schulze siehe: Johann Christian Förster, Übersicht der Geschichte der Universität zu Halle in ihrem ersten Jahrhunderte. Nachdruck der bei Carl August Kümmel in Halle 1794 erschienenen ersten Auflage, hg. von Regina Meÿer und Günther Schenk, Halle 1998 (Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte), 261. 8 UA Halle, Nr. 38, Untersuchung und Aufhebung des sogenannten wiederentstandenen „Constantisten“- und „Unitisten“-Ordens. Sept. 1783 – Juli 1784, 3 (hier auch alle folgenden Zitate). Der Vorgang ist auch beschrieben bei König, Aus zwei Jahrhunderten (wie Anm. 4), 87−89, wobei hier insbesondere die während der sich anschließenden Untersuchung gefundenen Statuten der Konstantisten wiedergegeben sind. 9 Vgl. auch König, Aus zwei Jahrhunderten (wie Anm. 4), 87; außerdem Stefan Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert, Göttingen 1990 (Göttinger Universitätsschriften, A/15), 223. 6
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Abb. 2: Denunziation des Konstantistenordens in Halle, September 1783 [UA Halle, Rep. 5, Nr. 38, 3]
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kommen“. Und der letzte Satz des Textes lautet: „Die andern [Mitglieder] werden sie schon erfassen, weil sie an uns so handeln, so haben wir sie das gemeldet“. Dies bezieht sich jedoch nicht mehr auf die eingangs angezeigten Prügeleien, sondern auf die (oben schon genannten) Glücksspiele in Passendorf. Denn die, die hier anzeigen, werden dort − angeblich − um ihr Geld gebracht („so nehmen sie die andern das Gelt [!] ab“). Wohl kann es sein, daß Stadtbürger von Ordensbrüdern drangsaliert worden sind. Hätten sie dann aber mit diesen auch Glücksspiele betrieben? Außerdem ist hier ganz generell an die traditionellen Feindseligkeiten zwischen Studenten und ‘Philistern’ zu erinnern.10 Und die Angaben zum Orden und den Mitgliedern sind zu detailliert, als daß dies außenstehende Bürger ohne eigene Nachforschungen wissen könnten. Warum aber hätten sie solche von sich aus anstellen sollen? Daß es sich hier tatsächlich um anzeigende Stadtbürger handelt, darf also bezweifelt werden. Hinzu kommt ein weiterer Punkt. Die Denunziation ist in einer Form verfaßt, die darauf schließen läßt, daß der (oder die) Verfasser es darauf angelegt haben, unerkannt zu bleiben.11 Die Unruhe des Schriftbildes und die Ungelenkigkeit der Schreibweise des Textes lassen wohl weniger auf die tatsächliche Unfähigkeit des Verfassers schließen als vielmehr auf die Absicht, hier Stadtbürger als Absender zu fingieren. Belästigte Stadtbürger hätten eine solche Vorgehensweise aber wohl nicht nötig gehabt. Sie hätten sich unkomplizierter an städtische oder auch direkt an universitäre Institutionen wenden können. Und selbst im Falle eines tatsächlichen Glücksspiels zwischen Studenten und Bürgern wäre die Gefahr einer Identifizierung der Stadtbürger und damit zugleich auch der (oder des) Denunzianten viel zu hoch; man wäre dann im Blick der städtischen Obrigkeit und auch bei den Studenten in Verruf. So finden sich auch im Verlauf der sich anschließenden Untersuchung keine Hinweise auf beteiligte Bürger. Es ist demnach sehr wahrscheinlich, daß hier Studenten den Konstantistenorden denunzierten. Aus einer weiteren Quelle wird noch viel deutlicher, daß Studenten denunzierten. Im Dezember 1783 wurde der Indissociabilistenorden ebenfalls mit Hilfe eines Denunziationszettels unter ausführlicher Informationsweitergabe angezeigt.12 Der anonyme Verfasser schreibt darin, daß es durch die WachsamBrüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 9), 249 ff., sowie Jörg Schweigard, Aufklärung und Revolutionsbegeisterung. Die katholischen Universitäten in Mainz, Heidelberg und Würzburg im Zeitalter der Französischen Revolution (1789−1803), Frankfurt am Main u.a. 2000 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle ‘Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770–1850’, 29), 141−146. 11 Dies hat auch schon Fritz König vermutet: „Der offenbar mit verstellter Hand geschriebene, nicht ganz entzifferbare Zettel“; König, Aus zwei Jahrhunderten (wie Anm. 4), 87. 12 Der Vorgang und die sich anschließende Untersuchungen ist ausführlich beschrieben in meiner Studie Denunziation und Kommunikation (wie Anm. 2). 10
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keit des Prorektors für das „Beste der hiesigen Studierenden“ dahin gekommen ist, daß die „schändlichen Verbindungen“ der Unitisten und Constantisten aufgelöst sind, sie wenigstens „keinen Einfluß mehr haben können“. Dennoch, so argumentiert der Anonymus weiter, hätten sich andere den Zeitpunkt zunutze gemacht, „wo sie von den ehemals existierenden Ordensbrüdern keinen Wiederstand“ zu erwarten hätten und neue Geheimverbindungen geschaffen. Der anonyme Schreiber berichtet weiterhin, daß ein neuer Orden (die Indissociabilisten) von Frankfurt an der Oder nach Halle übertragen worden sei und nennt die beiden angeblichen Ordensanführer sowie die ihm bekannten weiteren Mitglieder der Gesellschaft. Und wie schon in der einleitenden Passage gibt der Denunziant am Schluß noch einmal seine (vorgebliche) Motivation wieder: Er habe keinen Haß gegen die Ordensbrüder, sondern handele mit der Anzeige im Interesse des Prorektors für die Beförderung des „Wohl[s] der hiesigen Studierenden“.13 Es muß sich um einen Intimus des geheim organisierten Studentenmilieus gehandelt haben. Denn die Bemerkung, daß die Unitisten und Konstantisten aufgelöst seien, bezieht sich auf die Tatsache, daß beide Orden unmittelbar zuvor im Herbst/Winter 1783 in Untersuchungen geraten waren − ausgelöst durch die oben beschriebene Denunziation (Abbildung 2). Der Anonymus gibt vor, in Sorge um Ruhe und Wohlergehen unter den Studenten im Sinn der Universitätsobrigkeit zu handeln. Wir dürfen wohl annehmen, daß dies Fassade ist. Denn die Hinweise darauf, daß die Unitisten und Constantisten keinen Einfluß und neue Ordensbrüder keinen Widerstand von den Mitgliedern anderer Orden mehr zu erwarten haben, lassen vermuten, daß hier ein Student, möglicherweise ein Unitist oder ein Constantist, denunziert hat. Diese Überlegung erhält zusätzlich Gewicht durch die in der Forschung unumstrittene Tatsache, daß die verschiedenen Orden untereinander in einem zum Teil vehementen Konkurrenzverhältnis standen.14 Wenn wir die beschriebenen Denunziationsbeispiele aus der Welt der arkanen Studentengesellschaften an der Universität Halle in der Zusammenschau betrachten, fallen zwei generelle Befunde auf: Zum ersten können wir davon 13 Zitate: UA Halle, Nr. 45, Untersuchung des sogenannten ”Indissociabilisten” Ordens. Dez. 1783 – Juni 1784, 5 und 5’. 14 Vgl. exemplarisch für die ältere Forschung König, Aus zwei Jahrhunderten (wie Anm. 4), 91: „Die Unitisten waren die Antipoden der Konstantisten. Wo beide Orden existierten, standen sie nicht nur Klinge an Klinge, sie suchten sich auch auf andere, nicht immer loyale Art zu schädigen.“ Für die neuere Forschung Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 9), 223: „Die Selbsteinteilung in verschiedene Gruppen mit jeweils elitärem Selbstverständnis mußte zu Eifersüchteleien und sowohl inneren als auch äußeren Streitigkeiten der Gruppen führen.“ Orden und Landsmannschaften „bekämpften“ sich untereinander (ebd., 225).
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ausgehen, daß die Denunzianten Studenten gewesen sind − und in den Akten des Universitätsgerichts Halle finden sich weitere vergleichbare Vorgänge.15 Zweitens sind diese Anzeigen freiwillig, also unaufgefordert zustande gekommen. Das zentrale Motiv ist in der permanenten Konkurrenz zwischen den Orden zu sehen.16 Das Bemerkenswerte an der Freiwilligkeit liegt in den obrigkeitlichen Rahmengegebenheiten. In der preußischen Verordnung, wegen der auf königlichen Befehl verbothenen Aufführung von Comödien, und Errichtung besonderer Landsmannschafften und Orden von 1767 war die explizite Aufforderung zur Anzeige nämlich nicht festgehalten worden.17 Somit war der formale gesetzliche Rahmen, auf den sich jeder Denunziant hätte gut beziehen können, nicht vorhanden. Erst Ende 1785, als sich die Obrigkeiten in Potsdam/Berlin und Halle der Tatsache bewußt geworden waren − und dies auch offen eingestanden −,18 daß sie die Orden nicht in den Griff bekommen hatten, wurden Belohnungen für Denunziationen ausgesetzt. Diese waren von jedermann, Bürgern oder Aufwärtern und nicht nur von Studenten willkommen: Demnach auf hiesiger Universität verschiedene sogenannte Ordensverbindungen, insbesondere unter dem Nahmen der Constantisten, Unitisten, Defensionisten, Inviolabilisten und dergleichen, unter den Studirenden, aller bisherigen ernstlichen Warnungen und Verbothe ohngeachtet, noch immer im Verborgenen im Schwange sind; Se. Königl. Majestät von Preussen unser allergnädigster König und Herr aber diesem Unwesen mit allem Nachdruck gesteuert, und dergleichen Verbindungen gänzlich ausgerottet wissen wollen, zu diesem Ende auch Allerhöchstdieselben um solchen schädlichen Verbindungen desto eher auf die Spuhr zu kommen, Dero hiesigen Universität anzubefehlen geruhet, jedem Denuncianten eines solchen akademischen Ordensbruders (der Denunciant mag selbst Student, Bürger oder Aufwärter seyn) fals seine Anzeige richtig befunden werden solte, außer völliger Verschweigung seines Nahmens, eine Belohnung von
Diese werden innerhalb des Habilitationsprojekts des Verfassers zur Kommunikations- und Denunziationsgeschichte an Universitäten zur Zeit der Spätaufklärung untersucht. 16 Vgl. in diesem Kontext auch die Feststellung von Stefan Brüdermann über die Göttinger Untersuchungen in den 1760er Jahren: „Die große Breite der Untersuchung 1762 bis 1766 wurde erst möglich durch die Eifersucht der Orden untereinander, deren Mitglieder sich gegenseitig vor Gericht denunzierten.“ Ders., Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 9), 240. Und Gerhard Sälter hat ganz generell festgestellt: „Denunziationen dienten immer wieder sozialen Gruppen zur Bekämpfung gegnerischer Gruppen“. Ders., Denunziation – Staatliche Verfolgungspraxis und Anzeigeverhalten der Bevölkerung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), 153–165, hier 162. 17 Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle [im folgenden ULB Halle], Pon. Yb 3775 w, QK, Verordnung, wegen der auf königlichen Befehl verbothenen Aufführung von Comödien, und Errichtung besonderer Landsmannschafften und Orden. 1767, in: Leges Academicae Studiosis in Regia Fridericiana observandae. Halae Magdeburgicae, o.O., 40−43. 18 Siehe Peter Mainka, Karl Abraham von Zedlitz und Leipe 1731−1793. Ein schlesischer Adliger in Diensten Friedrichs II. und Friedrich Wilhelms II. von Preußen, Berlin 1995 (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 8), 461. 15
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10 Thalern zu reichen, als wird solches hierdurch zu jedermanns Wissenschaft öffentlich bekannt gemacht. Halle den 12 December 1785.19
Hinter dieser nun ausdrücklichen Aufforderung zur Denunziation in Ordensangelegenheiten stand der politische Wille von Friedrich II. und Zedlitz, der sich im Rahmen einer Untersuchung manifestierte, die durch eine Anzeige der Universität Jena über Ordensvorgänge in Halle ausgelöst worden war.20 Aber auch dieses öffentliche Mittel, publiziert im Januar 1786 in den Wöchentlichen Hallischen Anzeigen¸ dem Intelligenzblatt der Stadt, sowie zusätzlich schon im Dezember 1785 gesondert für die Studentenschaft am ‘Schwarzen Brett’,21 hatte keinen durchschlagenden Erfolg. Dies bezeugen die Akten des Universitätsgerichts. Die nächst folgende Untersuchung gegen eine arkane Studentengesellschaft, die durch eine Denunziation ausgelöst wurde, kam erst im Dezember des Jahres zustande (gegen die Unitisten)22 − nachdem sich im Frühjahr dieses Jahres der Konstantistenorden und der Unitistenorden formell selbst aufgelöst hatten.23 Die erfolgreiche Zersetzung des studentischen Untergrunds24 mittels honorierter Denunziationen gelang offensichtlich nicht, bzw. nur schwer − man war im preußischen Halle in der Folgezeit gezwungen, andere Wege zu gehen.25 Lange vor der Französischen Revolution rumorte es innerWöchentliche Hallische Anzeigen vom 9. Januar 1786, 16 (ULB Halle, Ng 3002, 1786/87). Auch in Jena ist 1786 über ‘Denunziationsprämien’ nachgedacht worden; W. Daniel Wilson, Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar, München 1999, 180 f. 20 UA Halle, Nr. 39, Aufhebung der hiesigen Ordens-Verbindungen der sogenannten „Constantisten“ und „Unitisten“ auf Befehl des Hofes. Nov. 1785 – Okt. 1786; zu Zedlitz’ aktiver Ordenspolitik, die schon über ein Jahrzehnt zuvor eingesetzt hatte, siehe Mainka, Karl Abraham von Zedlitz und Leipe (wie Anm. 18), 460−463. 21 Ebd., 4−5’. 22 UA Halle, Nr. 42, Untersuchung wegen Fortdauer des aufgehobenen ”Unitisten”-Ordens und der Aufnahme zweier neuer Mitglieder. Dez. 1786 – Juli 1787. 23 Mainka, Karl Abraham von Zedlitz und Leipe (wie Anm. 18), 461 f. sowie UA Halle, Nr. 39, Aufhebung der hiesigen Ordens-Verbindungen (wie Anm. 20), 10 ff. Zedlitz hatte im Laufe dieser Untersuchung das Mittel der Selbstanzeige mit folgender Strafbefreiung für die Ordensmitglieder legitimiert (Januar/Februar 1786). 24 In Anlehnung an Gudrun Gersmann, Schattenmänner. Schriftsteller im Dienst der Pariser Polizei des Ancien Régime, in: Günter Jerouschek, Inge Marßolek, Hedwig Röckelein (Hg.), Denunziation. Historische, juristische und psychologische Aspekte, Tübingen 1997 (Forum Psychohistorie, 7), 99–126, hier 111. 25 Zu diesem, an dieser Stelle zunächst nicht weiter behandeltem Aspekt einer Duldungspolitik gegenüber den Landsmannschaften (und Kränzchen) mit dem Ziel der Ordensunterdrückung: Wilhelm Fabricius, Die Studentenorden des 18. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zu den gleichzeitigen Landsmannschaften, Jena 1891, 95. Auch in Weimar-Jena sind − 1786 − solche Überlegungen angestellt worden; vgl. Otto Götze, Die Jenaer akademischen Logen und Studentenorden des 18. Jahrhunderts, Jena 1932, 156; Wilson, Das Goethe-Tabu (wie Anm. 19), 180 f., 195; sowie Joachim Bauer, Gerhard Müller, „Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben“. Tempelmaurerei, Aufklärung und Politik im klassischen Weimar, Rudolstadt, Jena 2000 (Zeitschrift des Vereins für 19
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halb der hallischen Studentengesellschaft und insbesondere zwischen den konkurrierenden Orden so sehr, daß gegenseitig ausgiebig denunziert worden ist. Wen man aber wann anzeigte, dies ließen sich die Studenten nicht vorschreiben. Wenden wir unseren Blick nun auf die Verhältnisse in Jena. Ähnlich wie für Halle gilt in noch stärkerem Maße für Jena, daß die Studentengeschichte seit Beginn der 1990er Jahre wieder eine intensivere Untersuchung erfährt,26 wieder stärker in das Blickfeld der historischen Wissenschaften rückt.27 Dabei wird die Geschichte der Studenten zunehmend in übergreifendere Fragestellungen eingebettet; sie befreit sich zusehends aus der Position eines akademisch eher randständigen Sujets. In solch breiteren kultur- und politikgeschichtlichen Fragestellungen sind jüngst auch die Jenaer Verhältnisse in den Blick geraten. Für den amerikanischen Germanisten W. Daniel Wilson waren die studentischen Geheimgesellschaften im Kontext seiner Studien zur politischen Kultur des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach von besonderem Interesse, er räumte ihnen breiten Raum ein.28 Auch die Landsmannschaften und Orden kommen hier als Beispiel für die obrigkeitliche Überwachungspolitik der Weimarer Regierung unter Herzog Karl August, Goethe (als Geheimrat und Staatspolitiker) Thüringische Geschichte, Beiheft 32), 122: 1784 schlug Karl August öffentlich kontrollierte studentische Arkangesellschaften in Verbindung mit einer Freimaurerloge vor. 26 Für die hier interessierenden Kontexte Monika Neugebauer-Wölk, Der Kampf um die Aufklärung. Die Universität Halle 1730–1806, in: Gunnar Berg, Hans-Hermann Hartwich (Hg.), Martin-Luther-Universität. Von der Gründung bis zur Neugestaltung nach zwei Diktaturen, Opladen 1994, 27–55; Holger Zaunstöck, Die halleschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert. Eine Strukturanalyse, in: Erich Donnert (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 5: Aufklärung in Europa, Weimar, Köln, Wien 1999, 360–380; Emporium. 500 Jahre Universität Halle-Wittenberg. Landesausstellung Sachsen-Anhalt 2002, Katalog zur Ausstellung im Hauptgebäude der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hg. von Gunnar Berg u.a., Halle 2002, passim; Joachim Bauer, Jens Riederer (Hg.), Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Jenaer Freimaurerei und studentische Geheimgesellschaften, Erlangen, Jena 1991 (Schriften zur Stadt-, Universitäts- und Studentengeschichte Jenas, 1); Jens Riederer, Entwurf zu einer akademisch-studentischen Reformbewegung. Das Beispiel Jena 1720–1820, in: Herbert Gottwald u.a. (Hg.), Universität im Aufbruch. Die Alma mater Jenensis als Mittler zwischen Ost und West. Völkerverbindende Vergangenheit und europäische Zukunft einer deutschen Universität, Erlangen 1992 (Schriften des Collegium Europaeum Jenense, 4; Schriften zur Stadt-, Universitäts- und Studentengeschichte Jenas, 3), 185–198; Joachim Bauer, Birgitt Hellmann, Gerhard Müller (Hg.), Logenbrüder, Alchemisten und Studenten. Jena und seine geheimen Gesellschaften im 18. Jahrhundert, Rudolstadt, Jena 2002 (Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte, 6), passim. 27 Vgl. Ulrich Rasche, Über die deutschen, insbesondere über die Jenaer Universitätsmatrikel, in: Genealogie 25 (2000/2001), 29−46, 84−109; Matthias Stickler, Neuerscheinungen zur Studentengeschichte seit 1994. Ein Forschungsbericht über ein bisweilen unterschätztes Arbeitsfeld der Universitätsgeschichte, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4 (2001), 262–270. 28 Wilson, Das Goethe-Tabu (wie Anm. 19), insbesondere 173 ff.; ders., Unterirdische Gänge. Goethe, Freimaurerei und Politik, Göttingen 1999, insbesondere 51 ff.
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sowie dem Geheimen Konsilium (dem höchsten Regierungsgremium des Landes) in den Blick. Wilsons Motivation − darüber ist in den Feuilletons viel geschrieben worden − lag neben der Sache auch in der Absicht, den ‘Mythos’ Goethe zu dekonstruieren.29 Dies wird im wesentlichen durch die Anlegung liberaler Maßstäbe und Kategorien des 20. Jahrhunderts an den historischen Gegenstand bewerkstelligt. Die Studentenorden als Repressionsopfer des fürstlichen Staates sind ein wesentlicher Beleg für seine Überwachungsthese. Die These von der (planmäßigen) Überwachung besagt, daß der Weimarer Staat alle arkangesellschaftlichen Aktivitäten beobachtet, unterwandert und kontrolliert hätte. Eine Politikstruktur, die Wilson nicht nur auf die Geheimbünde bezieht, sondern als generelles Merkmal des Herzogtums sieht.30 So spricht er von einer „Strategie gegenüber Geheimgesellschaften und Freimaurerei“ und einer „Strategie der Überwachung“.31 Ausgehend von der Verunsicherung der Weimarer Obrigkeit durch die arkanen Studentenverbindungen erhält die Frage, wie man diese Organisationen zuverlässig kontrollieren kann, in Wilsons Argumentation zentralen Stellenwert. Ihre Beantwortung findet er in der zeitgenössischen Nutzung von Denunziationen und Anzeigen sowie durch die Beauftragung von Spitzeln zur Informationsbeschaffung. So schreibt Wilson: „Im Jahre 1792, aber auch schon vor dem Anfang der Revolution, wurden elementare juristische Prinzipien von der Weimarer Herrschaft massiv verletzt, als sie Studenten überwachen, sich gegenseitig denunzieren und ohne ausreichendes Beweismaterial bestrafen ließ.“32 Und auch generell, bei der Beschreibung des Spannungsverhältnisses zwischen Goethe und den geheimen Gesellschaften der Spätaufklärung, operiert er mit dem Denunziationsbegriff: „Der Groß-Kophta war eben eine De-
Hartmut Reinhardt, Der Ermittler. Über den amerikanischen Goethe-Kritiker W. Daniel Wilson, in: Karl Eibl, Bernd Scheffer (Hg.), Goethes Kritiker, Paderborn 2001, 191−208; Joachim Wohlleben, Die Geheimnisse des Geheimrats. Daniel Wilson müht sich, den Politiker Goethe als Reaktionär zu entlarven, in: Die Welt (6.3.1999); Hans-Jürgen Schings, Anschwellende Kaderakte für einen Klassiker. Todesstrafe für eine Kindsmörderin, Soldatenhandel, Überwachung Schillers: W. Daniel Wilson schreibt eine Anklageschrift gegen Goethe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.4.1999; Jörg Drews, Ein Kollektiv-Wesen, das den Namen Goethe trägt. Besichtigung der Bücher, die sich dem Weltliteraten im Jubeljahr zu nähern versuchen: Über Epigramme, Kisten, die Menschenrechte und Genofee Battista, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.8.1999. 30 Vgl. exemplarisch, bezogen auf die studentischen Unruhen 1792: Wilson, Das Goethe-Tabu (wie Anm. 19), 194: die „außerordentlichsten Überwachungsmaßnahmen [...], die Jena vor dem zwanzigsten Jahrhundert erfahren hat.“ 31 Wilson, Unterirdische Gänge (wie Anm. 28), 69. 32 Wilson, Goethe-Tabu (wie Anm. 19), 212. 29
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nunziation“ geheimer Verbindungen.33 An keiner Stelle seiner Arbeiten wird das Phänomen jedoch problematisiert und historisiert, in die Kontexte zeitgenössischen Verhaltens gestellt.34 Dies führt uns auf ein grundlegendes Verständnisproblem. Das Begriffspaar Spitzel und Denunziant wird bei Wilson (und auch oft an anderer Stelle in der Literatur) in der Regel synonym verwandt. Dies allerdings ist insofern problematisch, als hier zwei differente Motivationsmuster miteinander in Einklang gebracht werden. Denn ein Spitzel wird von einer wie auch immer definierten Obrigkeit oder Autorität beauftragt, Informationen zu beschaffen, und er wird dafür entlohnt.35 Diese Form der Denunziation aber steht jener diametral gegenüber, wie sie uns in großer Zahl innerhalb der Studentengesellschaft an den Universitäten der Aufklärung begegnet: Denunzierende Studenten sind nicht angeheuert und erhalten für ihre Anzeigen keine Vergütung. Erst spät, Mitte der 1780er Jahre, kommen Überlegungen ins Spiel, tatsächlich studentische Spitzel zu beschäftigen bzw. Denunziationen materiell zu entlohnen. Deshalb ist es zwingend, mit den Bezeichnungen Spitzel und Denunziation aufmerksamer umzugehen. Wilson nimmt jedoch das Vorhandensein von nicht obrigkeitlich initiierten Anzeigen nicht wahr bzw. ordnet diese sozusagen einheitlich in den Gesamtkontext des von ihm dargestellten Spitzelsystems an der Universität Jena ein. Es ist nach Wilsons Quellenarbeit unbestritten, daß es Spitzeltätigkeiten gegeben hat („Privat Nachrichten“).36 Daraus leitet er die These ab, daß der Weimarer Staat eine „kleine Armee von bezahlten Spitzeln unter Studenten und Professoren“ unterhalten hat.37 So lautet seine Grundannahme: Die Jenaer Studenten seien moralisch unverdorbene junge Männer gewesen, die ohne Fremdeinwirkung, d.h. ohne die Verführung durch die Weimarer Obrigkeit bzw. von Jenaer Professoren, nicht zu einem solch niederträchtigen Mittel wie der Denunziation gegriffen hätten. Wilson folgt dabei dem Jenaer OrientaliWilson, Unterirdische Gänge (wie Anm. 28), 217; zu Goethes Schauspiel Groß-Kophta (1792): Johann Wolfgang Goethe, Der Groß-Kophta. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen, hg. von Alwin Binder, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1998. 34 Oder mit Hans-Jürgen Schings, lakonisch aber treffend: „Wilson klammert den Kontext aus, um die Denunziation an den Mann zu bringen.“ Ders., Anschwellende Kaderakte für einen Klassiker (wie Anm. 29). 35 Vgl. etwa Günter Jerouschek, Inge Marßolek, Hedwig Röckelein, Denunziation – ein interdisziplinäres Forschungsfeld, in: dies. (Hg.), Denunziation. Historische, juristische und psychologische Aspekte, Tübingen 1997 (Forum Psychohistorie, 7), 9–25, hier 16 (‘angeheuerte Berufsspitzel’) und 19 (‘Berufsdenunziantentum’); siehe auch Sälter, Denunziation (wie Anm. 16), 156; Walter Müller-Seidel, Zur Einleitung, in ders., Wolfgang Riedel (Hg.), Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde, Würzburg 2003, 9−26, hier 10 f. 36 Vgl. Wilson, Goethe-Tabu (wie Anm. 19), 349, Anm. 55. 37 Ebd., 188; dazu auch 198. 33
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stikprofessor Johann Gottfried Eichhorn, der 1786 argumentierte: „Denn der Regel nach verräth kein Student von edler Denkungsart den andern außergerichtlich.“38 Diese Position erscheint gerade in Hinsicht auf die zu diesem Zeitpunkt schon mindestens gut zwei Jahrzehnte anhaltenden (inner)studentischen Reibereien und Konflikte im Umfeld der Landsmannschaften und Orden einigermaßen naiv. Die studentische Burschensprache, Ausdruck der selbständigen Studentenkultur und akademischen Freiheit, hatte zu diesem Zeitpunkt schon längst einen eigenen Begriff für Denunziationsvorgänge geprägt − diese Praxis war innerhalb der Studentengesellschaft so bekannt wie üblich: So vermerkt das 1781 in Halle erschienene Studenten=Lexicon Kindlebens dazu: „Anpetzen, einen [...] verklagen, oder bey seinen Vorgesetzten anschwärzen“.39 Hieran anschließend ist deshalb die Frage zu stellen: Wie gestalteten sich die einschlägigen Jenaer Verhältnisse? Im Vergleich zu Halle fällt zunächst eines sofort ins Auge: Für Jena sind keine Denunziationszettel archiviert − Stichproben in den einschlägigen Akten des Thüringischen Hauptstaatsarchivs in Weimar und im Universitätsarchiv Jena haben diesen Befund vorerst bestätigt. Denunziationszettel als spezifisches Medium scheinen hier in Jena keine Rolle gespielt zu haben. Was aber finden wir dann vor? Bereits in den Februarerlassen Anna Amalias bzw. der Erhalterstaaten der Universität Jena gegen die Orden und Duelle von 1767 ist die Anzeigepflicht bei Disziplinar- und Ordensverstößen festgeschrieben worden.40 Diese bezog sich im Wortlaut auf die „Professores und alle andere der Academie Verwandte Einwohner, [auf] alle iede HaußWirthe, in der Stadt und Vorstadt Jena und in denen Orthschafften, WirthsHäußern, Mühlen Schenken und privatHäußern außer der Stadt Jena, auch sonst iedermänniglich“.41 Den Denunzianten wurde Anonymität und Entlohung in Aussicht gestellt. Der Adressatenkreis der Anzeigeaufforderung war so umfangreich, daß praktisch niemand im Wirkungsbereich der Universität
Zitiert nach ebd., 192. Studenten=Lexicon. Aus den hinterlassenen Papieren eines unglücklichen Philosophen Florido genannt, ans Tageslicht gestellt von Christian Wilhem Kindleben der Weltweisheit Doktor und der freyen Künste Magister, Halle 1781, Nachdruck der Originalausgabe, Leipzig 1973, 18, siehe auch 156, hier unter „Petzen“: „einen verklagen“; siehe außerdem: Studentensprache und Studentenlied in Halle vor hundert Jahren. Neudruck des „Idiotikon der Burschensprache“ von 1795 und der „Studentenlieder“ von 1781. Eine Jubiläumsgabe für die Universität Halle=Wittenberg dargebracht vom Deutschen Abend in Halle, Halle 1990 (Reprint der Originalausgabe 1894), 11 und 86. 40 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW), A 8384, Regierungs=Acta die Abschaffung der bey der Universitaet Jena allzusehr überhand genommenen Ordens Verbindungen und was dem anhängig betr., 1767, 1788, 1789, 2’ und 3, 4’ und 5. 41 Ebd., 4’ und 5. 38 39
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unberücksichtigt blieb: Stadtbewohner, akademische Bürger (also Professoren und Studenten)42 und die Bewohner des ländlichen Umfelds. Die Obrigkeit in Weimar legte von Anfang an wert darauf, durch gesetzliche Grundlagen an die Informationen zu gelangen, diese einzufordern. Insofern wartete man nicht auf die Denunziationen, vertraute nicht auf die Spannungen innerhalb der Studentenschaft, sondern versuchte, Anzeigen zu initiieren − soweit ist sicher mit Wilson mitzugehen. Dies wurde flankiert durch die Arbeit der Pedelle, die ja traditionsgemäß u.a. den Auftrag hatten, zum Zweck der Disziplinerhaltung an Informationen über gesetzwidriges Verhalten zu gelangen. Pedelle kauften sich Informationen.43 Außerdem wurden von diesem Zeitpunkt an die Studenten durch Eidesbindung bei der Immatrikulation darauf verpflichtet, keiner geheimen Ordensgesellschaft beizutreten.44 Für das effektive Funktionieren dieser Maßnahmen hatte der (Pro)Rektor zu sorgen: „ein iedesmahliger Rector [hat] alle Mühe anzuwenden, um einige Ordens=Glieder zu entdecken, durch die Entdeckten die übrigen mittels Eydes nahmhafft machen zu lassen“.45 Vergleichend sei hier angefügt, daß im preußischen Edikt gegen die Orden und das sogenannte Komödienlaufen, das über ein halbes Jahr später, im Oktober 1767, öffentlich gemacht worden ist,46 eine weniger systematische Kontrollstruktur entworfen worden ist. Insgesamt ist der Ton in bezug auf die hallischen Studenten noch ‘väterlicher’:47 Während für Halle die AndroVgl. Silke Wagener, Pedelle, Mägde und Lakaien. Das Dienstpersonal an der Georg-AugustUniversität Göttingen, Göttingen 1996, 13; Heinz Kathe, Die halleschen Universitätsbürger und Freimeister im 18. Jahrhundert, in: Erich Donnert (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 2: Frühmoderne, Weimar, Köln, Wien 1997, 181–189, hier 185. 43 Zu Jena Ulrich Rasche, Über die „Unruhe“ am „academischen Uhrwerck“. Quellenstudien zur Geschichte des Dienstpersonals der Universität Jena vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 53 (1999), 45−112, hier 52 f.; zu Göttingen Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 9), 61 f.; siehe dazu auch Wilson, Goethe-Tabu (wie Anm. 19), 290: „Pedelle beschäftigten auch an anderen Universitäten Spione“; und „Spione waren an anderen Universitäten sicher nichts ungewöhnliches.“ − Mit Verweis auf Wagener, Pedelle, Mägde und Lakaien (wie Anm. 42), 280 (hier heißt es: „Auf Universitätskosten durften auch Späher angestellt werden.“). 44 ThHStAW, A 8384, Regierungs=Acta (wie Anm. 40), 2’ und 3. Ein solcher Eid ist in Göttingen bereits 1762 erlassen worden (Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit [wie Anm. 9], 229), und in Erlangen findet sich 1779 eine solche Anordnung (Klaus-Peter Schroeder, „Seine Hauptbeschäftigung war Schwelgen und alle Gelage besuchen“ − Georg Friedrich Rebmanns Studienzeit in Erlangen, in: Elmar Wadle, Gerhard Sauder (Hg.), Georg Friedrich Rebmann (1768−1824). Autor, Jakobiner, Richter, Sigmaringen 1997 (Schriften der Siebenpfeiffer-Stiftung, 4), 15−41, hier 34); zu Jena siehe auch Götze, Die Jenaer akademischen Logen und Studentenorden (wie Anm. 25), 151 f. und insbesondere 158 f. 45 Ebd. 46 ULB Halle, Pon. Yb 3775 w, QK, Verordnung (wie Anm. 17). 47 Vgl. ebd., 41 („auf eine väterliche Art“) und 43 („Unsere so treu=gemeinte väterliche Warnung“). 42
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hung der Relegation eher als warnendes Zeichen am Horizont dargestellt wird, erscheint dieselbe Androhung für Jena viel konkreter; u.a. weil die entsprechenden Bestimmungen wesentlich detaillierter ausformuliert sind (etwa in bezug auf eventuelle spätere Gnadengesuche). In Jena wird der Verlust der Perspektive auf eine Amtskarriere im Lande angedroht, während in Halle ‘nur’ mit dem Verlust der „Beneficii“ gedroht wird.48 Und in Jena wird des weiteren die Benachrichtigung des ‘Vaterlandes’ bei Ordensvergehen gefordert − eine Bestimmung, die sich für Halle 1767 nicht findet.49 Die preußischen Obrigkeiten in Berlin und Halle agierten ganz im − aufgeklärten − Zeitgeist, wonach auf prinzipielle Fähigkeit zur Besserung gesetzt wurde: So „leben wir in der guten Hoffnung, es werde nunmehro der aus dergleichen Gesetzwidrigen Unternehmungen ohnfehlbar entstehende Schaden unsern Studiosis endlich einmal begreiflich werden“.50 Die in Jena früh ausgeprägte repressive Strategie wurde bis zum Jahrhundertende beibehalten − im Frühjahr 1792 etwa erneuerte Karl August die seit 1767 bestehende Anzeigepflicht der jenaischen Gast- und Hauswirte bei Ordensverstößen.51 In der Zwischenzeit hatte man in Weimar und Jena außerdem versucht, die Effektivität der Disziplinarmaßnahmen zu erhöhen: Zu denken ist dabei etwa an den nur zum Teil gelungenen Versuch, 1786 das Consilium arctius um vier außerordentliche Assessoren mit „permanentem Status“ zu erweitern.52 In Goethes Augen sollte dies das Steuerungsinstrument der Ordensbekämpfung werden, zumal es mit zuverlässigen Professoren besetzt wurde.53
Ebd., 41. Was jedoch für eine Universitätsstadt wie Halle, die auf „mittellose Studenten Anziehungskraft“ ausübte und in der Freitische und Stipendien eine überaus wichtige Rolle spielten, ein nicht zu unterschätzendes Drohpotential darstellte. Vgl. Heinz Kathe, Die hallische Studentenschaft zur Zeit Friedrichs des Großen 1740−1786, in: Holger Zaunstöck (Hg.), Halle zwischen 806 und 2006. Neue Beiträge zur Geschichte der Stadt, Halle 2001 (Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte, 1), 129−145, 132−136 (Zitat 132). 49 Siehe ebd. und ThHStAW, A 8384, Regierungs=Acta (wie Anm. 40). 50 ULB Halle, Pon. Yb 3775 w, QK, Verordnung (wie Anm. 17), hier 43. 51 ThHStAW, A 8384, Regierungs=Acta (wie Anm. 40), 30; vgl. auch Götze, Die Jenaer akademischen Logen und Studentenorden (wie Anm. 25), 157 f. 52 Gerhard Müller, Perioden Goethescher Universitätspolitik, in: ders., Klaus Ries, Paul Ziche (Hg.), Die Universität Jena. Tradition und Innovation um 1800, Stuttgart 2001 (Pallas Athene, 2), 135−153, hier 142 f. (Zitat 142); siehe dazu auch Wilson, Goethe-Tabu (wie Anm. 19), 182. Auf Zedlitz’ Initiative sollte in Halle 1780 ein ‘Collegium censorum’ − eine Art Präventivorgan − eingerichtet werden, das sich mit den Diziplinarverstößen befassen sollte, die noch nicht gerichtsrelevant waren, wohl aber später zu Verstößen führen würden; das „Gremium kam allerdings nicht zustande“. Siehe Mainka, Karl Abraham von Zedlitz und Leipe (wie Anm. 18), 460 f.; Kathe, Die hallische Studentenschaft (wie Anm. 48), 141. 53 Vgl. ebd., 142. An dieser Stelle hat Gerhard Müller das Gremium auch als „Exekutivausschuß des Senats“ bezeichnet. 48
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Wie wir oben gesehen haben, resultierten Denunziationen in Ordensangelegenheiten oft aus innerstudentischen Konflikten. Wenn wir davon ausgehend der These Daniel Wilsons folgen, daß die aktive Politik der Weimarer Regierung die studentischen Denunziationen provoziert hat, dann ist zu prüfen, ob er hier möglicherweise einer Täuschung aufgesessen ist. Dietlind Hüchtker hat am Umgang mit Gerüchten und Anzeigen über Gauner und Räuber im Baden des späten 18. Jahrhunderts zeigen können, daß im Informationsfluß in der Verwaltungshierarchie von unten nach oben die Informationsquellen anonymisiert worden sind.54 Es interessierte nicht wer angezeigt hat, sondern ausschließlich was angezeigt worden ist. Dies spiegelt sich in den Akten durch Formeln wie „es soll sein“, „dem Vernehmen nach“ oder „sicheren Nachrichten zufolge“.55 Eben solche Formulierungen in der Berichtseröffnung finden wir auch in Sachsen-Weimar. So verwendet ein Pedellbericht im Sommer 1771 im Umfeld der studentischen Tumulte gegen die Jenaer Bäcker die Formulierung: „habe denunziret bekommen“.56 Einige Jahre später, 1775 in der Untersuchung gegen den Inseparable-Orden, übersendet der Jenaer Prorektor Johann Ludwig Schmidt ein Protokoll unter dem 24. Juli nach Weimar, das über seine Maßnahmen gegen die Studentenorden berichtet. Hier heißt es: „Nachdem bey dem Judicio academico Anzeige geschehen, daß [...]“.57 1780 wird im Bericht des Prorektors Johann Jakob Griesbach über die Untersuchung gegen den Elsässer bzw. Oberrheinischen Orden (d.i. der Amicistenorden) ganz allgemein von der
Dietlind Hüchtker, Das „Räubergesindel“ und die Unruhen in der Zeit der Französischen Revolution. Die Bedeutung von Anzeigen, Gerüchten und regelmäßigen Berichten für die Kommunikationspraxis der badischen Verwaltung am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Hohkamp, Ulbrich, Der Staatsbürger als Spitzel (wie Anm. 2), 147−192. 55 Ebd., 160. Michaela Hohkamp und Claudia Ulbrich haben diese Beobachtung weiter pointiert. In der Auswertung von Forschungsergebnissen zur Denunziationspraxis in Konstanz am Ende des 18. Jahrhunderts schreiben sie, daß das „Fehlen von Quellen nicht auf mangelnden Denunziationswillen“ zurückzuführen ist. Es ging vielmehr um deren Gebrauch: Anstatt die so gewonnenen Informationen „öffentlich zu registrieren, zu archivieren und zu dokumentieren verlegten sie sich in ihren Rats- und Amtsstuben auf stilles Sammeln.“ Hohkamp, Ulbrich, Wege zu einer inter- und intrakulturellen Denunziationsforschung (wie Anm. 2), 14 − hier in Bezug auf die Ergebnisse der Studie von Michaela Hohkamp, Denunziation für und gegen die Obrigkeit. Konstanz am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Hohkamp, Ulbrich, Der Staatsbürger als Spitzel (wie Anm. 2), 61−86. 56 Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Universitätsarchiv (UA Jena), Bestand E Abt. I Nr. 69, Acta die Untersuchung des 6 ten Jul[y] und 3 ten Aug. 1771 [...], 21. 57 ThHStAW, A 8430 Geheimde Canzley=Acta. Die zu Jena unter dem Nahmen Inseparable hervorgetretene Ordens=Verbindung betr. 1775, 3; zur Untersuchung gegen die Inseparableorden siehe auch Götze, Die Jenaer akademischen Logen und Studentenorden (wie Anm. 25), 37−42. 54
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„Entdeckung“ des Ordens gesprochen.58 Und der Bericht Griesbachs beginnt mit den Worten: „Eine von uns entdeckte und seit verschiedenen Jahren unter einigen hier sowohl, als auf den Academien zu Tübingen, Gießen, Halle und Erlangen studierenden Mosellanern, unter den Nahmen des Elsaser oder des Ober Rheinischen Ordens, sich ausgebreitete Verbindung“.59 In diesen Formulierungen spiegelt sich das oben beschriebene Verwaltungsverfahren. Die Obrigkeit (in Weimar) erhält Berichte über einen Vorgang, nicht über die diesem zugrunde liegenden Quellen.60 Dem gegenüber ermöglichen die hallischen Akten durch die Aufbewahrung der Denunziationszettel eine ungefilterte Sicht, eine Tatsache übrigens, die schon Goethe beschäftigt hat: Gerhard Müller hat gezeigt, daß Goethe mit der Erweiterung des Consilium arctius 1786 auch den Gedanken verfolgte, daß der Prorektor künftig die gesamten Untersuchungsakten dem Gremium vorlegen müsse und nicht mehr nur daraus − nach seinem Befinden − referieren solle.61 Wir haben also im Vergleich zwischen Halle und Jena offensichtlich zwei voneinander abweichende Verhaltenskulturen vor uns: Während an der Fridericiana der Informationsfluß an die Universitätsobrigkeit durch Denunziationen zustande kam, die auf Konflikten und Machtkämpfen in der Studentenschaft beruhten, ist es an der Salana eher so gewesen, daß sich die Kontrollinstanzen der Universität bemüht haben, Wege zu finden, um an Informationen zu gelangen. Bei dieser Einschätzung aber ist zugleich Vorsicht geboten. Denn wir haben eben gesehen, daß sich hinter den Abläufen, wie wir sie in den Akten finden, möglicherweise eine andere Realität verbirgt − vielleicht sind die Denunziationszettel ja durch die Pedelle und Dekane bzw. den Prorektor zurückgehalten oder vernichtet worden. Für eine solche Vermutung spricht eine Quelle aus dem Jahr 1780. Johann Jacob Griesbach hatte im Kontext seines eben genannten Vorgehens gegen den Amicistenorden als Prorektor an der Jenaer Universität eine Anordnung mit folgendem Wortlaut erlassen:
ThHStAW A 8451 Geheimde Canzley=Acta. Die bey der gesamt Academie Jena, unter dem Nahmen des Elsaser oder Ober Rheini[sch]en Ordens sich verbreitete Ordens Verbindung und die Bestrafung der Mitglieder derselben betr. 1780, 1’ und 6’. 59 Ebd., 1. 60 Das Procedere des Berichtsvorgangs nach Weimar durch den jeweiligen Prorektor ist bereits im Ordensmandat von 1767 festgelegt worden: Er hat, „was er während seines academischen Regiments zur Tilgung der Orden vorgekehret hat, in einem von den übrigen Rectorats= Angelegenheiten abgesonderten Protocolle treulich niederzuschreiben und 8. Tage vor geendigtem Rectorate in 4. gleichlautenden Abschrifften mit unterthänigstem Bericht an Uns einzuschikken.“ ThHStAW, A 8384, Regierungs=Acta (wie Anm. 40), 2’ und 3; vgl. auch Götze, Die Jenaer akademischen Logen und Studentenorden (wie Anm. 25), 154. 61 Müller, Perioden Goethescher Universitätspolitik (wie Anm. 52), 142. 58
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Hat jeder Prorector während seines Prorectorats zweymal, nämlich gleich nach dem Antritt und in der Mitte desselben, die Decanos der vier Facultäten zu veranlassen, daß sie sämtliche zu ihren Facultäten gehörige Professoren erinnern, falls einem oder dem andern irgend etwas auf Landsmannschaften oder OrdensVerbindungen sich Beziehendes bekannt wäre, solches in einem versiegelten Zeddel dem Decanus zu eröffnen, welcher aus allen eingegangenen Anzeigen ein Ganzes zu machen, und dieses, mit Verschweigung der Namen derjenigen, von welchen die Anzeigen herrühren, dem Prorectori mitzutheilen hat.62
Diese Anweisung läßt zwar beide Auslegungen zu − es mag erspitzelte Informationen ebenso wie Denunziationen freiwilliger Art gegeben haben. Fest steht, daß es Denunziationen gegeben hat, die Griesbach dazu gebracht haben, eine gesonderte Verfahrensweise einzuführen. Die hier durch alle universitären Ebenen gezogene Informationsstruktur zielt vor allem auf die Anonymisierung der Quellen. Diese Vorgehensweise deckt sich mit unseren Überlegungen. Griesbach war es egal, woher er seine Informationen bekam und von wem sie stammten. Wichtig war allein, daß er sie bekam. Die damit geschaffene Anonymität überdeckt alle Formen und Wege des Informationstransfers. Wenn Professoren (mündlich oder schriftlich) Anzeigen aus dem Studentenmilieu heraus erhielten, war deren Herkunft bereits auf der folgenden Hierarchieebene verwischt (und so wurden auch die materiellen Quellen wie Zettel oder Briefe nicht weitergegeben). Auf diese Weise behielten alle Beteiligten ihre Handlungshoheit: Die Studenten blieben anonym, die einzelnen Professoren waren keine Rechenschaft über ihre Informationswege schuldig, und die Dekane und der Prorektor waren durch Hinweise und Denunziationen handlungsfähig. Daß diese Wege funktionierten, kann jetzt aus der Forschung belegt werden. In seinen Studien über Justus Christian Loder als Hochschulpolitiker ist Steffen Kublik erstmals einem Jenaer Denunziationszettel auf die Spur gekommen.63 Kurz vor Ablauf seines Prorektorats im Februar 1798 war Loder ein Schlag gegen die Landsmannschaft der Rheinländer und den Amicistenorden in Jena gelungen – ausgelöst durch einen Denunziationszettel. Dies berichtet Loder bereits einen Tag nach dem Fund am 30. Januar 1798 dem Weimarischen Geheimrat Jakob Friedrich Freiherr von Fritsch: Ich bin dem Senior der Rheinländer (alias Mosellaner), welcher schon im Griesbachschen und Walchschen Prorectorat Unfug getrieben, aber es so listig angefangen hat, daß ihm niemand etwas anhaben konnte, auf die Spur gekommen. Gestern früh 8 Uhr
UA Jena, Bestand A Nr. 2563, Modellbuch der Universität Jena 1747 ff., 46’. Für den Hinweis und die Zuverfügungstellung des Textes danke ich herzlich Gerhard Müller (Jena). 63 Steffen Kublik, Loder als Hochschulpolitiker, Jena 2002 (Magisterarbeit), 74. 62
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fand sich auf meiner Hoftreppe ein anonymer Brief, worin mir von ihm und einigen andern Studenten Nachricht gegeben wurde.64
Loder hatte noch am Tag des Fundes (29. Januar) sofort eine intensive und verdeckte Untersuchung eingeleitet.65 Während dieser wurde der Senior der Landsmannschaft auch als Duellant überführt.66 Wenn wir diesen Vorgang mit den vergleichbaren Abläufen in Halle in Beziehung setzen, so fällt die frappierende Ähnlichkeit sofort ins Auge. Die Abläufe waren im Prinzip identisch. Der amtierende Prorektor entdeckt in seinem (Privat)Haus eine schriftliche, anonyme Nachricht, aufgrund derer umgehend eine Untersuchung gegen die Denunzierten eingeleitet wird. Dies belegt unsere Vermutung, daß es auch in Jena Denunziationsvorgänge gegeben hat, die aus innerstudentischen Machtkämpfen resultierten (nicht aus den Mitteilungen angeworbener und bezahlter Spitzel) und die auf eine für den Denunzianten sichere Weise kommuniziert worden sind, nämlich in Form der Denunziationszettel. Setzt man diesen Befund nun in Beziehung zur These Daniel Wilsons, so liegt die Überlegung nahe, daß die in den staatlichen Akten der Weimarer Regierung wiedergegebene Wirklichkeit über die auslösenden Ursachen der Untersuchungen gegen Studentenorden nur bedingt Beweiskraft besitzt. Auf der Suche nach Belegen für das vorgeblich widerrechtliche Handeln der Weimarer Regierung ist Wilson in der Herrschaftstechnik einer anonymisierten, alltagspolitischen Kommunikationsform vordergründig fündig geworden. Wenn er aber davon ausgeht, daß die Studenten zunächst einmal ‘unschuldige Wesen’ seien, denen die Denunziation grundsätzlich zuwider sei und sie nur durch obrigkeitliches Initiieren dazu verleitet worden seien, so irrt Wilson. Die hallischen und jenaischen Beispiele belegen dies. Greifbar werden diese Vorgänge am eindeutigsten in den Denunziationszetteln, die ein eigenständiges, spezifisches Kommunikationsmedium darstellen. Sie verlassen den oralen Diskurs des Hörensagens und verschriftlichen diesen ganz bewußt mit dem Ziel einer obrigkeitlichen Reaktion. Im hier untersuchten Universitätsmilieu sind Denunziationsschreiben ein Medium, das einen direkten aber zugleich anonymen Kontakt zwischen sonst nur vermittelt (über Gerüchte oder erkaufte Informationen) in Verbindung tretenden Kommunikationskreisen herstellt. Mit Hilfe der Denunziationszettel ist es den Studenten möglich, die Universitätsobrigkeit zu informieren, ohne selbst bekannt zu werden und ohne sich zum Spitzel machen zu müssen. Die schriftlichen Denunziationen ermöglichen so ein Ich danke Steffen Kublik (Jena) herzlich für die Überlassung einer transkribierten Fassung der Quelle. Das Original befindet sich im Goethe- und Schiller Archiv Weimar, Nachlaß Fritsch, 20/II, 5, 6. 65 Ebd.; vgl. dazu Kublik, Loder (wie Anm. 63), 74 (dort Anm. 464). 66 Ebd. 64
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kommunikatives Wechselspiel zwischen Studenten und Universitätsobrigkeit − beide hatten ihr jeweils ganz eigenes Interesse daran. Die Argumentation Wilsons baut auf einer Grundannahme studentischer Moralität auf, die wir in der Realität des 18. Jahrhunderts so nicht wiederfinden. Und gerade auf diesem Konstrukt einer tugendhaften Studentenschaft und deren Verführung durch skrupellose Machtträger baut er seine Kernvorstellung auf, die den Leser im Goethe-Tabu und den Unterirdischen Gängen auf Schritt und Tritt begleitet. Hier wird unterstellt, daß eine klare Vorstellung von ‘Überwachung’ und den dafür notwendigen Techniken bereits mehr oder weniger in den Köpfen der Protagonisten des 18. Jahrhunderts vorhanden gewesen (und im Fall Weimars) auch umgesetzt worden ist. Dies ist die zweite grundlegende Fehlannahme seiner Argumentation. Die Gegebenheiten des Jahrhunderts zeichnen ein anderes Bild. An dieser Stelle ist es sinnvoll, kurz einen weiteren Bogen zu spannen. Das überall im Reich in unterschiedlicher Intensität anzutreffende Anzeigeverhalten der Bevölkerung resultierte nicht aus repressiver Zwangspolitik der jeweiligen Herrschaft, sondern geht zurück auf die Vorstellungen der ‘guten Polizei’.67 Die Wohlfahrt des Gemeinwesens ist demnach durch die gemeinsame Sorge und Acht gegeben. Symbolisch begründet wird dieser Verbund in einem Eid.68 Praktisch realisiert wird er durch die Anzeigepflicht bei Verstößen in den Rüggerichten.69 Im 18. Jahrhundert sehen sich die Obrigkeiten mit drastischer werdenden bzw. gänzlich neuen Problemen (wie den studentischen Geheimorden) konfrontiert. Auch ein anderes latent vorhandenes Ordnungsproblem der frühneuzeitlichen Gesellschaft − die Gauner und Räuber − entwickelte sich im Jahrhundert der Aufklärung exzessiv. Überall hatte man im Reich mit den RäuSiehe exemplarisch Karl Härter (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000 (Ius Commune, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 129); Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt am Main 2000 (Studien zu Policey und Policeywissenschaft); Wolfgang Wüst, Die „gute“ Policey im Schwäbischen Reichskreis, unter besonderer Berücksichtigung BayerischSchwabens, Berlin 2001 (Die „gute“ Policey im Reichskreis. Zur frühmodernen Normsetzung in den Kernregionen des Alten Reiches, 1). 68 Siehe André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800−1800), Stuttgart u.a. 1991 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, 36); ders., Seelenheil und Untertanenpflicht. Zur gesellschaftlichen Funktion und theoretischen Begründung des Eides in der ständischen Gesellschaft, in: Peter Blickle (Hg.), Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft, Berlin 1993 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 15), 11−63. 69 Siehe dazu exemplarisch jüngst Andreas Klinger, Der Gothaer Fürstenstaat. Herrschaft, Konfession und Dynastie unter Herzog Ernst dem Frommen, Husum 2002 (Historische Studien, 469), 248 ff., insbesondere 272−281 zu den Rüggerichten im Herzogtum Sachsen-Gotha und deren praktischen, alltäglichen Problemen. 67
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berbanden zu kämpfen, so auch (insbesondere in der Mitte des Jahrhunderts) in den thüringischen Kleinstaaten.70 Ein Indiz dafür ist das gehäufte Auftreten von einschlägigen Edikten. In ihnen wurde die Anzeige- und Aufsichtspflicht der Wirte und der Bevölkerung festgeschrieben − so etwa 1758 im Fürstlich Sachsen=Weimar und Eisenachischen Mandat wider alles Rottenweise herumstreifende Jauner= Streicher= und Räuber=Gesindel, auch Zigeuner.71 Neben diesen traditionellen Mitteln versuchten die Behörden diesem Problem zudem mit Mitteln der Fahndungstechnik − insbesondere durch die Weiterentwicklung der Effizienz von Räuber- und Diebeslisten − sowie auch überterritorialer Kommunikation Herr zu werden.72 Auch hier war Sachsen-Weimar eingebunden, wie die 1774 erfolgte Publication des zwischen Weimar und Hessen-Cassel abgeschlossenen Vertrags, die Verfolgung des Diebes- und Räuber-Gesindels in die wechselseitigen Territorien betreffend zeigt.73 Erst im Zuge dieses Prozesses entwickelte sich nach und nach eine Vorstellung davon, was ‘Überwachung’ ist und wie man sie effektiv praktizieren kann.74 Eine Überwachung, die Vergleichen mit repressiven Systemen der Zeitgeschichte standhält, lag zur Zeit der Spätaufklärung noch in weiter Ferne. Und dieser Entwicklungsprozeß trifft auch auf die Maßnahmen gegen die geheimen Studentengesellschaften zu. Erst mit der Entstehung des Problems entwickelt sich sukzessive ein Bewußtsein dafür, welche Mittel man anwenden Siehe Günther Kraft, Historische Studien zu Schillers Schauspiel „Die Räuber“. Über eine mitteldeutsch-fränkische Räuberbande des 18. Jahrhunderts, Weimar 1959 (Beiträge zur deutschen Klassik, 3); Carsten Küther, Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 21987 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 20), passim. 71 ULB Halle, an Pon Wc 1506, 4o (6), insbesondere die §§ III und IV (Aufsichtspflicht der Wirte), sowie X und XI (Anzeigepflicht); siehe auch ULB Halle, an Pon Wc 1506, 4o (8), die handschriftliche Abschrift einer Herzoglich Eisenachischen Verordnung, in welcher die Strafen für diejenigen festgelegt wurden, die die wahren Täter nicht angeben, 1766/1767. 72 Siehe dazu Andreas Blauert, Eva Wiebel, Gauner- und Diebeslisten, Registrieren, Identifizieren und Fahnden im 18. Jahrhundert. Mit einem Repertorium gedruckter südwestdeutscher, schweizerischer und österreichischer Listen sowie einem Faksimilie der Schäffer’schen oder Sulzer Liste von 1784, Frankfurt am Main 2001 (Studien zu Policey und Policeywissenschaft); Ralf Brachtendorf, Ein Postkutschenüberfall im Jahre 1781 in der Eifel. Möglichkeiten und Probleme bei der Verfolgung von Straftätern in Kurtrier, in: Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel von 1500−2000. Gemeinsame Landesausstellung der rheinland-pfälzischen und saarländischen Archive. Wissenschaftlicher Begleitband, Koblenz 2002, 512−526. 73 Weimar 1774; Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena 2 Jur.XVII,59 (32), 81–81’ (hs. Kopie). 74 Blauert, Wiebel, Gauner- und Diebeslisten (wie Anm. 72), 31, 51; siehe auch Michael Schaich, Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung, München 2001 (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte, 136), 157, 161, 171 f. − hier im Kontext der Zensur. 70
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oder nutzen kann, um erfolgreich gegen Geheimorden vorgehen zu können. Wenn die Studenten 1792 in Jena argumentieren, daß man früher die Verbindungen geduldet hätte, während sie nun verfolgt würden,75 so mag diese Wahrnehmung (neben ihrem Zweck als rhetorisches Kampfmittel) auch den Prozeß einer zunehmend verdichteten Kontrolle und Einschränkung der akademischen Freiheit widerspiegeln. In diesem Prozeß der Genese von Kontrollmechanismen im Universitätsbereich gingen die Maßnahmen in Preußen und SachsenWeimar (zu Beginn auch in Kurhannover)76 Hand in Hand. Dem Fürstentum an Ilm und Saale aber scheint in dieser Entwicklung eine herausgehobene Rolle zuzukommen, denn es hat den Anschein, daß man hier in der Maßnahmengestaltung besonders aktiv agiert hat. Und dies ist eigentlich auch nicht verwunderlich: War man doch im vergleichsweise kleinen Sachsen-Weimar mit einem der Gravitationszentren der Ordensbewegung überhaupt konfrontiert und zugleich ökonomisch auf die dauerhafte Präsenz der Studenten aus allen Gegenden des Reichs angewiesen. Die Bekämpfung der studentischen Geheimbünde war also vordergründig eine Grundlage für die Prosperität der Salana.77 Dies mag durchaus für die 1770er und 1780er Jahre stimmen. In den 1790er Jahren aber wendete sich das Blatt, denn Teile der Studentenschaft sahen nun die Dinge aus einer ganz anderen Perspektive (und dies ist auch in Weimar durchaus registriert worden), denn die Ordensbekämpfung erzeugte gegenteilige Effekte, wie Ulrich Rasche jüngst gezeigt hat. Jena hatte als „Zentrum der studentischen Ordens- und Reformbewegung“ eine hohe „Anziehungskraft“ auf die Studenten; das „pulsierende studentische Leben“ zog „viele auswärtige Universitätsbesucher in die Saalestadt“.78 So war man in Weimar und Jena in eine unlösbare Problemkonstellation geraten: Verfolgte man die Orden allzu sehr, sank die Immatrikulationszahl, weil die akademische Jugend abgeschreckt wurde. Verfolgte man die Orden nicht, sank die Frequenz ebenfalls − durch Konsequenzen anderer Territorialherrschaften, denen die Zustände in Jena mißfielen.79 Auch deshalb ordnete sich die Disziplinarpolitik der Erhalterstaaten seit 1798 in das „Fahrwasser der preußischen Universitätspolitik“ ein.80 Dies geschah aber erst am Ende des Jahrhunderts aufgrund der eingetretenen außenpolitischen Konstellation und der innenpolitischen Bedürfnisse. Zuvor Siehe dazu Wilson, Goethe-Tabu (wie Anm. 19), 201. Siehe Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 9), 229−231. 77 Vgl. Wilson, Goethe-Tabu (wie Anm. 19), 199 f. 78 Siehe Ulrich Rasche, Umbrüche − Zur Frequenz der Universität Jena im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Müller, Ries, Ziche, Die Universität Jena (wie Anm. 52), 120 ff. (Zitate 120 und 122). 79 Ebd. 80 Müller, Perioden Goethescher Universitätspolitik (wie Anm. 52), 148 ff. (Zitat 149). 75 76
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war Jena eher Schrittmacher als Wegbegleiter. Und dies hat kurz darauf (1800) Johann Jakob Griesbach − der uns in Ordensuntersuchungen schon zwanzig Jahre zuvor begegnet ist − in einem Gutachten auch deutlich gesagt: Jena sei die Universität gewesen, die sich vehement der Verfolgung der Orden gewidmet hätte, und sie sei die Erste gewesen, die angeregt habe, die Namen der relegierten Studenten mitzuteilen.81 Weimar hat tatsächlich die frühzeitigen Bemühungen um die sogenannten Universitätskartelle vorangetrieben. Die Wurzeln dafür liegen bereits im Ordensmandat vom Februar 1767;82 1775 etwa wurde beschlossen, offizielle Informationsbriefe im Zuge der Untersuchung gegen den Inseparableorden nach Erfurt, Dresden und Stade abzuschicken.83 Und 1780 wurde in der Untersuchung gegen den Oberrheinischen Orden angekündigt, „Communication“ mit den anderen Universitäten aufzunehmen,84 was tatsächlich geschehen ist und in Halle zu einer Ordensuntersuchung geführt hat.85 Das Disziplinierungsproblem wurde über das Hoheitsdenken der einzelnen Herrschaft gestellt. Weitere Indizien für die These einer aktiven und agilen Disziplinarpolitik in Sachsen-Weimar finden sich in der frühzeitigen gesetzlichen Verankerung der Denunziationspflicht bei Ordensverstößen, die möglicherweise unmittelbar aus den Erfahrungen der Räuberverfolgungen auf die Ordensproblematik überführt worden ist (ein aus verwaltungstechnischer Sicht der Zeit durchaus plausibler Vorgang)86 sowie in den Strukturüberlegungen der 1780er Jahre (Consilium arctius). Auch die finanziellen Anreize zur Denunziation finden sich bereits 1767 und dann wieder (in Jena und auch Halle) 1786.87 Ebenso hat die Obrigkeit in Sachsen-Weimar schon in den 1780er Jahren das Konzept einer internen Kontrolle diskutiert: Staatlicherseits privilegierte Landsmannschaften sollten Die Quelle bei Rasche, Umbrüche (wie Anm. 78), 123, Anm. 137. ThHStAW, A 8384, Regierungs=Acta (wie Anm. 40), 2’ und 3: „die Fremden aber ihrer Landes=Herrschaft zur wohlverdienten Ahndung bekannt gemacht werden“. 83 ThHStAW, A 8430, Die zu Jena unter dem Nahmen Inseparable hervorgetretene Ordens=Verbindung (wie Anm. 57), 27’−28’; tatsächlich abgesandt wurde dann nur der Brief nach Erfurt (der Ordensinitiator kam aus Erfurt). 84 ThHStAW, A 8451, Die bey der gesamt Academie Jena, unter dem Nahmen des Elsaser oder Ober Rheini[sch]en Ordens sich verbreitete Ordens Verbindung (wie Anm. 58), 7. 85 UA Halle, Nr. 34, Untersuchung des sogenannten Elsässer- oder Oberrheinischen-Ordens. Bestrafung des Mitgliedes Karl Friedrich Meisner. Nov. 1780 – Jan. 1781. 86 Auch der Austausch der Namen von relegierten Studenten in den Universitätskartellen stellt ein Kontrollmuster dar, welches mit den Fahndungsaktivitäten gegen Diebe und Räuber (Listen) in Beziehung gesetzt werden kann. Zur Räuberfahndung siehe Blauert, Wiebel, Gauner- und Diebeslisten (wie Anm. 72). 87 ThHStAW, A 8384, Regierungs=Acta (wie Anm. 40), 4’ und 5 (im Duellmandat von 1767); Wilson, Goethe-Tabu (wie Anm. 19), 352, Anm. 75 − hier zu 1786: Die Anregung kam von Johann Daniel Succow. Sein Vorschlag wurde vom Prorektor Justus Christian Hennings erhöht (von 5 auf 25 Reichstaler) und Carl August unterbreitet. Zu Halle siehe oben im Text. 81 82
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die Studentenorden kontrollieren und unterbinden. Ein Konzept, das dann in den 1790er Jahren in Halle offensichtlich Anwendung gefunden hat.88 Diese Aktivitäten mündeten in den bekannten Vorstoß Karl Augusts auf dem Reichstag 1792 für ein Verbot geheimer Verbindungen.89 Karl August und Goethe haben mit Sicherheit nicht aus einer finsteren Überwachungsmentalität („Kontrollinstinkt“; „reaktionäre[r] Sicherheitspolitiker“; der aufgeklärte Absolutismus als „Fassade totalitärer Strukturen“)90 heraus Hochschulpolitik betrieben. Vielmehr ist ihr Handeln in den Gesamtkontext einer sich verändernden Gesellschaftswirklichkeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingebettet. Die Existenz neuer Sozialisationsformen wie der Studentenorden verlangte nach neuen Strategien der Regierungen. Diese bildeten sich in einem gegenseitigen Wechselspiel zwischen den Universitäten der unterschiedlichen Territorien heraus. Und sie waren eingebettet in einen größeren gestalterischen Zusammenhang, der die praktische Politik des Jahrhunderts bestimmte. Innerhalb dieses Findungsprozesses kam der Weimarer Administration sicher entscheidende Bedeutung zu. An dieser Stelle betreten wir ein Feld, das der Forschung zwar bewußt ist, von ihr zugleich aber bislang eher stiefmütterlich behandelt wurde: Die Gleichzeitigkeit von Aufklärung und Politikgestaltung, die nicht nur in den Strukturen, sondern insbesondere in den Individuen aufeinander stieß. Hier ist nicht der „Umschlag von Aufklärung zu Macht und Herrschaft“, die „Gefahr einer Verkehrung der Aufklärung in ein Herrschaftsverhältnis“, mithin die Dialektik der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts,91 gemeint, sondern das alltägliche Nebeneinander differenter Handlungsbereiche: Hat die Praxis der Denunziation den Diskurs der Aufklärer erreicht? Oder: Hat die Aufklärung die Praxis der Denunziation erreicht?92 Vgl. Anm. 25. Zu den Reichstagsverhandlungen siehe Karl Härter, Reichstag und Revolution 1789−1806. Die Auseinandersetzung des immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Alte Reich, Göttingen 1991 (Schriftenreihe der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 46), 357−377. 90 So in Bezug auf Wilson Hans-Jürgen Schings, Anschwellende Kaderakte für einen Klassiker (wie Anm. 29) und Reinhardt, Der Ermittler (wie Anm. 29), 194, 206. 91 Siehe dazu Müller-Seidel, Zur Einleitung (wie Anm. 35), Zitat 26, und Wolfgang Riedel, Aufklärung und Macht. Schiller, Abel und die Illuminaten, in: Müller-Seidel, ders., Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde (wie Anm. 35), 107−125, Zitat 113; auch Riedel spricht vom „Umschlag von Aufklärung in Macht“ (125). 92 Vgl. in diesem Kontext die Denunziationskritik von Cesare Beccaria und deren deutsche Rezeption durch den sächsischen Justizkritiker Karl Ferdinand Hommel; Günter Jerouschek, Mit Worten töten. Historische und psychologische Überlegungen zur Denunziation, in: Historical Social Research − Historische Sozialforschung 26/2,3 (2001), Sonderheft Denunziation, hg. von Inge Marßolek und Olaf Stieglitz, 44−54, hier 45−47; siehe auch Eberhard Weis, Cesare Beccaria (1738−1794). Mailänder Aufklärer und Anreger der Strafrechtsreformen in Europa. Vorgetragen am 10. Januar 1992, München 1992 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissen88 89
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Das bestehende Analysedefizit leistet Thesenbildungen im Sinne Wilsons Vorschub. Denn es fällt auf, daß in der aufwallenden, kenntnisreichen und detaillierten Kritik an Wilson93 bisher kaum Gegenentwürfe formuliert worden sind.94 Grundlagenarbeit ist also gefragt. Denkbar wären etwa Studien auf prosopographischer Basis,95 die der Frage nachgehen, inwieweit die Ordensstudenten später tatsächlich in politische Trägerfunktionen gelangt sind und in welcher Weise sich die Erfahrungen im Arkanmilieu in ihren Persönlichkeitsprägungen bemerkbar gemacht haben.96 So wäre zu fragen, inwieweit ihre unmittelbare Erfahrung von Verfolgung und Denunziation ihr (politisches) Gesellschaftsverständnis geprägt hat. Darüber hinaus bietet die Denunziationsforschung einen wesentlichen Zugang zur Materie des Arkanpolitischen. Inwieweit, so ist zu fragen, hat die Denunziation als machtgestaltendes und -erhaltendes Mittel überhaupt innerhalb der Universitätswelt eine (tragende) Funktion besessen? Haben auch Professoren und andere Universitätsbürger denunziert? Welche Bilder der Alltagsatmosphäre in den Universitätsstädten können wir daraufhin zeichnen?97 Soweit man sehen kann, alles unbeantwortete, bislang nicht gestellte Fragen. Und schließlich gilt es, vergleichende Perspektiven an den ‘Bezugspunkt Goethe’ anzulegen: Wie ist das Vorgehen anderer Entscheidungsträger gegen studentische Arkangesellschaften im Gesamtgefüge ihres Lebensbildes zu deuten? Fragen, die sich auf Männer, denen aufklärerische und reformerische Züge zugeschrieben werden, beziehen lassen: so etwa auf Gerlach Adolph von Münchhausen in Hannover, Karl Abraham Freiherr schaften. Philosophisch-Historische Klasse 1992, 5), und Regula Ludi, Die Fabrikation des Verbrechens. Zur Geschichte der modernen Kriminalpolitik 1750−1850, Tübingen 1999 (Frühneuzeit-Forschungen 5), 68 ff. sowie 157 ff. 93 Siehe dazu exemplarisch die Zusammenfassungen bei Bauer, Müller, „Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben“ (wie Anm. 25), 15 f., und Hartmut Reinhardt, Geheime Wege der Aufklärung. Goethe, der Illuminatenorden und das Epos-Fragment „Die Geheimnisse“, in: MüllerSeidel, Riedel, Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde (wie Anm. 35), 145−176, hier 147−162. 94 Ausnahmen sind das Buch von Joachim Bauer und Gerhard Müller über den Freimaurer Goethe (ebd.), sowie Hans-Jürgen Schings’ Arbeit über das Verhältnis Schillers zu den Illuminaten, das sich auf das erste Buch Wilsons − Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1991 − bezieht, in dem zum erstenmal die Überwachungsthese in Bezug auf den Illuminatenorden ausformuliert ist: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten, Tübingen 1996. 95 Siehe in diesem Kontext etwa auch Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 9), 227. 96 Vgl. hierzu jüngst Joachim Bauer, Studentische Organisationen zwischen Geselligkeit und Politik – Gedankenwelten und Selbstwahrnehmungen, in: Zaunstöck, Meumann, Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation (wie Anm. 2), 115−126. 97 Vgl. in diesem Kontext auch Wagener, Pedelle, Mägde und Lakaien (wie Anm. 42), 14−17 (Universitätsalltag), sowie Sälter, Denunziation (wie Anm. 16), 165 (Denunziation im Alltag).
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von Zedlitz in Preußen oder Karl August von Hardenberg als Staatsminister für die preußischen Gebiete in Franken.98 Vor uns eröffnet sich ein lohnenswertes Forschungsfeld. Und hierin − nach der Subtraktion aller ideologisch bedingten Verstellungen − liegt der Wert der Arbeiten Wilsons.99 Auf seiner Suche nach Belegen und Möglichkeiten, den Mythos ‘Goethe und die Weimarer Klassik’ empfindlich zu treffen, hat er quasi nebenbei, fast unbemerkt, ein kaum beachtetes Forschungsfeld betreten. Die Erscheinungsformen, Mechanismen, sozialen Kontexte und politischen Relevanzen von Denunziationen sind für den Lebensraum Universität noch nicht erforscht. Hieraus abgeleitete Fragestellungen erbringen Ergebnisse nicht nur für die Universitäts- und Studentengeschichte im engeren Sinn, sondern auch (und gerade) für eine breiter angelegte politische Kommunikationsgeschichte der Spätaufklärung. Denunziationen im Umfeld universitärer Arkangesellschaften sind Metaphern für den Zeitenwandel vor 1800. Der Text untersucht am Beispiel der Verfolgung studentischer Arkangesellschaften an den Universitäten Halle und Jena das Phänomen der Denunziation in der Zeit der Spätaufklärung. Dabei wird nachgezeichnet, wie sich sukzessive eine praktische Kontrollpolitik im überterritorialen Zusammenspiel der Instanzen in den Grundzügen bereits vor 1789 herausgebildet hat. Den Denunziationen kam dabei eine zentrale Rolle zu.
In this text, the phenomenon of denunciation in the period of the late enlightenment is analysed on the basis of the persecution of secret academic societies. The author illustrates the successive development of an actual policy of control in a supraterritorial interplay of various authorities, which had already existed in its basic form before 1789, with the denunciations playing a central role. Dr. Holger Zaunstöck, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Geschichte, Kröllwitzerstraße 44, 06099 Halle, E-Mail: [email protected]
Anknüpfungspunkte dazu finden sich bei: Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 9), passim; Mainka, Karl Abraham von Zedlitz und Leipe (wie Anm. 18); Müller, Perioden Goethescher Universitätspolitik (wie Anm. 52), 147 f. 99 Siehe dazu auch den Aufsatz von Hartmut Reinhardt, Der Ermittler (wie Anm. 29), der ebenfalls die Verdienste Wilsons hervorhebt; insbesondere 205−208. 98
W I LH E LM K RE U TZ Masonische Netzwerke und Politik im deutschen Südwesten am Vorabend der Französischen Revolution
Das Verhältnis von masonischen Netzwerken und Politik im deutschen Südwesten am Vorabend der Französischen Revolution ist ungeachtet aller verschwörungstheoretischer Spekulationen, zu denen es bereits die Zeitgenossen inspirierte,1 bis heute weder umfassend noch grundlegend untersucht worden. Zwar rückten im Zuge der historiographischen Konjunktur der revolutionären Demokraten Mitteleuropas seit den frühen 1970er Jahren ihre „präjakobinischen“ Vorläufer, allen voran die mittelrheinischen Illuminaten,2 ebenso in den Blickpunkt wie die links- und rechtsrheinischen Freimaurergesellschaften napoleonischer Provenienz, denen Winfried Dotzauer zahlreiche grundlegende Arbeiten widmete.3 Aber trotz der anhaltenden intensiven Auseinandersetzung mit Vgl. Wilhelm Kreutz, „L’inscription, qu’on pourra mettre sur les ruines des Trones, peut être conçue dans ceux deux mots : L’ouvrage de l’Illuminatisme!“ Johann August Starck und die „Verschwörungstheorie“, in: Christoph Weiß in Zusammenarbeit mit Wolfgang Albrecht (Hg.), Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997, 269–304 (mit weiterführenden Literaturhinweisen). 2 Zum mitteleuropäischen Jakobinismus vgl. zusammenfassend Wilhelm Kreutz, Von der „deutschen“ zur „europäischen“ Perspektive. Neuerscheinungen zu den Auswirkungen der Französischen Revolution in Deutschland und der Habsburger Monarchie, in: Neue Politische Literatur 31 (1986), 415–441; ders., Die Französische Revolution: Ereignis – Rezeption – Wirkungen. Deutschsprachige Neuerscheinungen zum Bicentenaire im europäischen Vergleich, in: Neue Politische Literatur 37 (1992), 351–383; zu den mittelrheinischen Illuminaten vgl. vor allem: Winfried Dotzauer, Mainzer Illuminaten und Freimaurer vom Ende der kurfürstlichen Zeit bis zu den Freiheitskriegen, in: Nassauische Annalen 83 (1972), 120–146; Günter Mühlpfordt: Deutsche Präjakobiner. Karl Friedrich Bahrdt und die beiden Forster, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 28 (1980), 970–989. 3 Winfried Dotzauer, Freimaurergesellschaften am Rhein. Aufgeklärte Sozietäten auf dem linken Rheinufer vom Ausgang des Ancien Régime bis zum Ende der napoleonischen Ära, Wiesbaden 1977; diese Publikation der maßgeblichen Ergebnisse seiner Habilitationsschrift ergänzte Dotzauer durch elf Aufsätze, in denen er die lokalen Verhältnisse der Logen von Köln, Bonn, Koblenz, Kreuznach, Mainz, Worms, Kirchheimbolanden, Alzey, Neustadt/Weinstraße, Landau, 1
Aufklärung 15 · © Felix Meiner Verlag 2003 · ISSN 0178-7128
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dem gesamten Spektrum geheimer Gesellschaften des Alten Reichs4 blieben in den letzten Jahren die Fortschritte der Forschung zu den Logen und Geheimbünden Südwestdeutschlands5 hinter jenen zu den regionalen Aufklärungsprozessen zurück.6 Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Denn im Unterschied zur gut dokumentierten Geschichte der „Mainzer Republik“7 oder der „Francs-Maçons“ der napoleonischen Ära8 fehlt es für differenzierte Studien zum vorrevolutionären Logen- und Geheimbundwesen Südwestdeutschlands an aussagekräftigen Quellen. Daß dieser Mangel nicht allein auf das Konto der nationalsozialistischen Freimaurerverfolgung sowie der abenteuerlichen Überlieferungsgeschichte der nach dem Dritten Reich zunächst verschollenen, dann für Forscher der ‘alten’ Bundesrepublik unzugänglichen Logenarchive zu buchen ist,9 zeigt die geringe Zahl lokaler oder regionaler Schriften aus der Feder rheinischZweibrücken und Speyer detailliert analysierte und zugleich die Mitgliederverzeichnisse der napoleonischen Sozietäten abdruckte (vgl. die Literaturangaben in ebd., 4 f.). 4 Zur Forschungsentwicklung vgl. die einleitenden Ausführungen im Beitrag von Monika Neugebauer-Wölk, Arkanwelten im 18. Jahrhundert. Zur Struktur des Politischen im Kontext von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit, in diesem Band. 5 Vgl. Wilhelm Kreutz, Die Illuminaten des rheinisch-pfälzischen Raums und anderer außerbayerischer Territorien. Eine ‘wiederentdeckte’ Quelle zur Ausbreitung des radikal aufklärerischen Geheimordens in den Jahren 1781 und 1782, in: Francia 18/2 (1991), 115–149, und in: Helmut Reinalter (Hg.), Der Illuminatenorden (1776−1785/87), Frankfurt am Main u.a. 1997, 79– 124. 6 Wilhelm Kreutz, Der „Rheinische Zuschauer“ (1778). Ein rheinisch-pfälzisches Aufklärungsjournal, in: Literatur und Kultur im deutschen Südwesten zwischen Humanismus und Aufklärung, Amsterdam 1995, 373–395; ders., Die Mannheimer Akademie der Wissenschaften im Kontext der regionalen, nationalen und europäischen Aufklärungsprozesse, in: Hans Erich Bödeker, Etienne François (Hg.), Aufklärung/Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung, Leipzig 1996, 275–299; ders., Von der höfischen Institution zur bürgerlichen Sozietät – Das regionale Netzwerk der kurpfälzischen Aufklärung, in: Mannheimer Geschichtsblätter Neue Folge 3 (1996), 235–254; ders., Zwischen Kosmopolitismus und Patriotismus: Aufgeklärte Sozietäten des rheinisch-pfälzischen Raums und ihre Beziehungen zu Westeuropa, in: Jürgen Keddigkeit u.a. (Hg.), Vestigiis Historiae Palatinae. Festschrift für Karl Scherer zum 65. Geburtstag, Kaiserslautern 2002, 67–94; ders., Adolph Freiherr Knigges Heidelberger Jahre, in: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 7 (2002), 33–51. 7 Vgl. immer noch vor allem Heinrich Scheel, Die Mainzer Republik, 3 Bde., Berlin 1975– 1989; Franz Dumont, Die Mainzer Republik von 1792/93. Studien zur Revolutionierung in Rheinhessen und der Pfalz, Alzey 1982. 8 Vgl. die Publikationen von Winfried Dotzauer (wie Anm. 3). 9 Vgl. Renate Endler, Die Freimaurerbestände im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Merseburg, in: Aufklärung und Geheimgesellschaften: Freimaurer, Illuminaten und Rosenkreuzer. Ideologie – Struktur und Wirkungen, Bayreuth 1992, 103–108; Helmut Reinalter (Hg.), Die deutschen und österreichischen Freimaurerbestände im Deutschen Sonderarchiv in Moskau (heute Aufbewahrungszentrum der historisch-dokumentarischen Kollektionen), Frankfurt am Main u.a. 2002.
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pfälzischer Freimaurer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die ansonsten nicht nur im deutschsprachigen Raum die wiederkehrenden Jubiläen von Bauhütten oder Logensystemen zur detaillierten Dokumentation ihrer Vergangenheit nutzten. All dies spiegelt die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht abreißende Folge von Freimaurerinterdikten und Logenverboten wider, die in den süd- und südwestdeutschen Territorien lange vor 1933 zur Vernichtung von Logentableaux, masonischen Arbeiten oder der Korrespondenz mit anderen Bauhütten geführt hatten. Geradezu symptomatischen Charakter gewinnt in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die Publikation des ersten Freimaurerverbots des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, das der pfälzische Kurfürst Carl Philipp am 21. Oktober 1737 in Mannheim verkündete, zweifelsfrei dokumentiert ist,10 nicht jedoch die Existenz einer Loge, ohne die jenes Verbot freilich keinen rechten Sinn macht. Immerhin legt eine wachsende Zahl von Indizien den Schluß nahe, daß in Mannheim seit Ausgang der 1720er Jahre einzelne „Francs-Maçons“ aktiv waren. Ob es sich bei ihnen wie im Falle des bereits 1735 verstorbenen französischen Malers und Stuhlmeisters Gotreau,11 um ausländische Künstler und Handwerker handelte, die der Bau der kurfürstlichen Residenz an Rhein und Neckar geführt hatte, oder um ausländische Offiziere im Dienste des Kurfürsten oder ob tatsächlich Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe, der auch den preußischen Kronprinzen Friedrich für die Sache der englischen „Freemasons“ gewann, während seiner beiden Mannheimer Interventionen zugunsten der benachteiligten Protestanten in der Quadratestadt die älteste deutsche Loge konstituierte,12 ist bis heute unklar geblieben. Vgl. das Dekret des Kurfürsten Carl Philipp vom 21.10.1737 gegen die Freimaurer in der Kurpfalz, in: Generalarchiv (GLA) Karlsruhe, Signatur Zc 1002/33; zitiert bzw. faksimiliert in: Wilhelm Schwarz, Geschichte der gerechten und vollkommenen St. Johannis-Loge „Karl zur Eintracht“ in Mannheim. Festschrift zur Feier der fünfzigjährigen Wiedererstehung dieser Loge, Mannheim 1896, 6; Julius Waldkirch, Ein Beitrag der Freimaurerei in Mannheim anläßlich des 225jährigen Jubiläums der Johannis-Freimaurerloge „Carl zur Eintracht“ i.O. Mannheim am Johannisfest 1981, Mannheim 1981, 7; Hans-Detlef Mebes, Die früheste deutsche Freimaurerverfolgung. Das kurpfälzische Dekret vom Herbst 1737, in: Badische Heimat 81/2 (2001), 263–271, hier 263. 11 Vgl. Waldkirch, Johannis-Freimaurerloge (wie Anm. 10), 8: bei dem hier – leider ohne weitere Quellenbelege – genannten „Kunstmaler und Katholik[en] Br. Gotreu“ handelt es sich wohl um den als Schöpfer des Hochaltargemäldes der Mannheimer Schloßkirche überlieferten französischen Maler „Gaudreau oder richtiger Gotreau“ (vgl. Friedrich Walter, Mannheim in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 1, Frankfurt am Main 1907, 431), der in anderen Darstellungen auch als „Goudreau“ bezeichnet wird. 12 Vgl. die Ausführungen von Julius Waldkirch (ebd.), der für seine durchaus richtungsweisenden Hinweise – etwa zur Korrespondenz mit dem am Stuttgarter Hof Carl Eugens wirkenden französischen Schauspieler, Bibliothekar, Professor für Geschichte und Geographie sowie Freimaurer, Joseph Uriot, der bereits in den 1740er Jahren durch sein „Sendschreiben eines Freymäu10
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Aber daß selbst die Mannheimer Bauhütte, die 1756 begründet, möglicherweise sogar wiederbegründet wurde und die sich vor der Französischen Revolution zur mitgliederstärksten am Oberrhein entwickelte, eine höchst wechselvolle Entwicklung durchlief, erhellt die fundamentalen Unterschiede zwischen den katholischen Regionen südlich und den protestantischen Regionen nördlich des Mains. Und so ist nur konsequent, wenn diese Ausführungen mit der Illuminatenverfolgung des Jahres 1785 enden: terminus post und terminus ad quem werden markiert durch kurfürstliche Logenverbote. Vor diesem Hintergrund soll im folgenden der Versuch unternommen werden, den Stellenwert masonischer und arkaner Gesellschaften im Netzwerk jener Sozietäten zu umreißen, das die Aufklärer seit Mitte der 1770er Jahre auch im rheinisch-pfälzischen Raum und in den angrenzenden Gebiete knüpften. Hierbei wird nicht nur die Frage zu klären sein, ob die Rede vom regionalen „Netzwerk“ aufgeklärter Gesellschaften mehr ist als ein Tribut an den aktuellen Trend der Aufklärungsforschung, die nach dem Habermasschen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“13 seit einigen Jahren eben die „Netzwerkanalyse“ auf ihre Fahnen geschrieben hat.14 Vielmehr wird es darum gehen, am Beispiel einzelner Aufklärer die Territorial- und Konfessionsgrenzen überschreitenden Interaktionen zwischen „nichtarkanen und arkanen Sozietäten“, den zwei „Organisationswelten“ der aufgeklärten Gesellschaftsbewegung, zu skizzieren und nach ihrem Umschlag in politische Praxis zu fragen.15 Zugleich soll am Beispiel der südwestdeutschen Logen die Funktion der Maurerei für die Diffusion rers“ in die Öffentlichkeit trat, – leider keine genauen Quellenbelege aufgeführt hat. Die These, daß die Mannheimer Loge eine Gründung Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippes sei, vertraten bereits Friedrich Walter (vgl. ebd., 659) sowie der Mannheimer Freimaurer Stefan Blum, dessen im Stadtarchiv überliefertes Typoskript Hans-Detlef Mebes unlängst publiziert hat (vgl. Mebes, Freimaurerverfolgung [wie Anm. 10], 266 ff.). Beide kamen freilich über vage Andeutungen und Spekulationen nicht hinaus. Zu Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe vgl. u.a. Ludwig Keller, Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg Lippe und die Anfänge des Maurerbundes in England, Holland und Deutschland (Vorträge und Aufsätze aus der Comenius-Gesellschaft, 9/3), Berlin 1901. 13 Vgl. Wilhelm Kreutz, Der lange Abschied von der Autonomie der Literatur. Zur Renaissance der Literaturgeschichte als Sozialgeschichte, in: Neue Politische Literatur 26 (1981), 385−396. 14 Vgl. Holger Zaunstöck, Die vernetzte Gesellschaft. Überlegungen zur Kommunikationsgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Joachim Berger, Klaus-Jürgen Grün (Hg.), Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei. Katalog zur Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik im Schiller-Museum Weimar 21. Juni bis 31. Dezember 2002, München, Wien 2002, 147–153, hier 148; siehe auch Hans Erich Bödeker, Aufklärung als Kommunikationsprozeß, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Aufklärung als Prozeß, Hamburg 1988, 89–111; Fred E. Schrader, Soziabilitätsgeschichte der Aufklärung. Zu einem europäischen Forschungsproblem, in: Francia 19/2 (1992), 177–194; ders., Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft 1550−1850, Frankfurt am Main 1996, 65 ff. 15 Zaunstöck, Die vernetzte Gesellschaft (wie Anm. 14), 147.
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der Ideen der Aufklärung ebenso heraus gearbeitet werden wie vice versa jene der sich gesellschaftlich organisierenden Aufklärung für den Breitenerfolg der Maurerei. In den Blickpunkt der Untersuchung rücken sowohl die Mannheimer Johannisloge „St. Charles de l’Union“ und ihre Tochterlogen,16 die regionalen Bauhütten der Strikten Observanz17 oder der templerischen „Chevaliers de Bienfaisance“18 sowie nicht zuletzt die rheinisch-pfälzischen Illuminaten19 und Mitglieder der Deutschen Union Karl Friedrich Bahrdts.20 Nicht zuletzt sollen daneben gerade am Beispiel der in der Vergangenheit immer wieder erörterten Tauschpläne Carl Theodors und Josephs II.21 die Fragen nach den politischpraktischen Auswirkungen arkaner Kommunikationsstrukturen aufgegriffen und anhand einiger neuer Fakten überprüft werden. Denn in der Forschung herrscht zwar seit langem Konsens darüber, daß das Scheitern der Tauschpläne und die in diesem Zusammenhang aufgedeckte vermeintliche masonische „Verschwörung“ die pfalz-bayerische Illuminatenverfolgung ebenso motivierte wie den Erlaß des josephinischen Freimaurerpatents.22 Aber erst die Dokumente aus dem Nachlaß des führenden Illuminaten Johann Joachim Christoph Bode, aus der sogenannten „Schwedenkiste“, enthüllten, in welch starkem Maße die von Baden, Sachsen-Weimar und anderen Reichsständen ausgehende diplomatische Gegenoffensive eines Fürstenbunds – vorsichtig ausgedrückt – illuminatisch grundiert war. Daniel W. Wilson gebührt das Verdienst, das Material vor gut zehn Jahren als erster publiziert, wenn auch in Einzelfällen leider
Vgl. Schwarz, Geschichte (wie Anm. 10), vor allem 1 ff. Vgl. vor allem Dotzauer, Freimaurergesellschaften (wie Anm. 3), 33 ff. 18 Vgl. René Le Forestier, La Franc-Maçonnerie templière et occultiste aux dix-huitième et dix-neuvième siècles (publié par Antoine Faivre), Louvain 1970. 19 Kreutz, Illuminaten (wie Anm. 5). 20 Vgl. Degenhard Pott, Geschichte der Deutschen Union [...] nebst dem vorzüglichsten Briefwechsel derselben, 5 Bde., Leipzig 1798. 21 René Le Forestier, Les Illuminés de Bavière et la Franc-Maçonnerie allemande, Paris 1914; Adalbert Prinz von Bayern, Max I. Joseph von Bayern. Pfalzgraf, Kurfürst und König, München 1957, 132 ff.; Richard van Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart 1975; Karl Otmar von Aretin, Die bayerische Staatsidee und die Tauschpläne des Kurfürsten Karl Theodor 1778–1799, in: ders., Bayerns Weg zum souveränen Staat. Landstände und konstitutionelle Monarchie 1714–1818, München 1976, 64–119; Ludwig Hammermayer, Illuminaten in Bayern. Zu Geschichte, Fortwirken und Legende des Geheimbundes, in: Hubert Glaser (Hg.), Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst, München 1980, 146–173; Eberhard Weis, Montgelas. Band 1: Zwischen Revolution und Reform. 1759–1799, München 21988; Michael Schaich, Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung, München 2001. 22 Edith Rosenstrauch-Königsberg, Illuminaten in der Habsburger Monarchie, zuerst 1983; wieder in: Dies., Zirkel und Zentren. Aufsätze zur Aufklärung in Österreich am Ende des 18. Jahrhunderts, hg. von Gunnar Hering, Wien 1993, 139–161. 16 17
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unzureichend interpretiert zu haben.23 Deshalb sollen im folgenden einige auf die personellen und institutionellen Querverbindungen im Südwesten des Reichs rekurrierende Überlegungen seine Ergebnisse korrigieren und ergänzen. Sie sind geeignet, die Meinung zu stärken, daß das illuminatische Netzwerk die politisch-diplomatische Kommunikation beim (nicht allein) gegen das pfalzbayerisch-österreichische Tauschprojekt gerichteten Fürstenbundprojekt zumindest erleichterte.
I. Bereits der vergleichende Blick auf die Gründungsdaten der Logen in Südwestdeutschland auf der einen, Mittel- und Norddeutschland auf der anderen Seite macht die Ausnahmestellung des rheinisch-pfälzischen Raums im Hinblick auf das masonische Sozietätswesen evident. Denn sieht man von den teilweise nur durch ihre Namen mit der Region verbundenen Militärlogen24 und der im Dunkeln liegenden Geschichte der wohl von Johann Wilhelm von Assum gegründeten Zweibrückener Loge „Zum helleuchtenden Morgenstern“ ab,25 bestand bis zum Ende der 1770er Jahre allein in Mannheim eine Bauhütte, die bereits erwähnte Loge „Charles de l’Union“. Sie hatte 1756 als französischschottische Loge ihre Arbeit begonnen und nahm diese – nach vierjähriger Krise – 1778, im Jahr von Carl Theodors Übersiedlung nach München, abermals unter der Verfassung der Berliner Loge „Royal York de l’amitié“ wieder auf.26 Dieser Mangel an regionalen Logen überrascht um so mehr, als in den Reichsstädten und Residenzen der benachbarten Territorien seit den 1740er Jahren
W. Daniel Wilson, Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassischromantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1991; zu den Fehldeutungen Wilsons vgl. im folgenden Anm. 84. 24 1762 wurde die Loge des unter dem Patronat der pfalz-zweibrückischen Herzöge stehenden französischen Fremdregiments „L’Union militaire du Régiment Royal Deux-Ponts“ gestiftet und in die Frankfurter Unionsloge aufgenommen; 1783 folgte ihr die Bauhütte „Dragons unis Orient du Régiment de Deux-Ponts Dragons“ (vgl. Dotzauer, Freimaurergesellschaften [wie Anm. 3], 45 mit Anm. 80), sowie Georg Kloss, Annalen der Loge zur Einigkeit, Graz 1972 (Nachdruck der Ausgabe Frankfurt am Main 1852), 30 f. und 37; zudem war während der 1760er Jahre in Pirmasens kurzzeitig die von Landgraf Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt konstituierte Militärloge „Zur brennenden Granate“ aktiv (vgl. Ludwig Türck, Freimaurerei in der Pfalz, o.O.u.J. [ca. 1965], 7). 25 Vgl. Karl R.H. Frick, Die Erleuchteten. Gnostisch-theosophische und alchemistischrosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Neuzeit, Graz 1973, 465. 26 Vgl. Schwarz, Geschichte (wie Anm. 10), 10 ff. 23
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und verstärkt seit dem Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs27 zahlreiche Logen aktiv waren:28 im Norden und Nordosten – neben den zumindest kurzzeitigen maurerischen Aktivitäten in Mainz (1763: „Zu den drei Disteln“) – die Logen des südhessischen Raums in Frankfurt (1742: „A l’Union“, 1755: „Bund der Treue und Wahrheit zu den drei Rosen, Weiß, Rot und Gold“), Wetzlar (1762: Drei-Schlüssel-Loge „Zum Winkelmaß“, 1767: „Joseph zu den drei Helmen“, 1772: „Joseph zum Reichsadler“) oder Darmstadt (1764: „Zur Weißen Taube“, 1768: „Große Loge des Heiligen Ludwig“), im Südosten die schwäbischen Logen von Ludwigsburg (1762: „De la parfaite Union“), Stuttgart (1774: „Zu den drei Cedern“) und Heilbronn29 sowie im Süden und Westen der Region die elsässischen und lothringischen Bauhütten, allen voran die Logen Straßburgs (1757: „St. Jean d’Heredom Ste. Geneviève“, 1763/1772: „La Candeur“, 1764: „L’Amitié“, 1764/1776: „Le Parfait Silence“/“La Vraie Lumière à l’Orient de la Légion de Lorraine“). Ebenso bemerkenswert wie der Mangel an Logen ist die bis zum Ende der 1770er Jahre zu beobachtende geringe masonische Aktivität von Angehörigen der regierenden Grafen- und Fürstenhäuser oder der niederadeligen Familien des rheinisch-pfälzischen Raums. Dies führte dazu, daß hier die Strikte Observanz des Reichsfreiherrn Karl Gotthelf von Hund nur punktuell Fuß fassen konnte, die in anderen Regionen des Alten Reichs die gegen den fortschreitenden absolutistischen Zentralismus der Territorialherrn gerichtete ständische Renaissance des niederen Adels unterstützte.30 Im Südwesten lassen sich die vor 1778 aktiven gräflichen oder fürstlichen Freimaurer an einer Hand abzählen. Hinzuweisen ist auf den badischen Markgrafen und späteren Großherzog, Karl Friedrich, dessen Aufnahme in eine Londoner Loge zwar verbürgt ist,31 in dessen Residenz gleichwohl masonische Aktivitäten erst nach der Verlegung Vgl. Winfried Dotzauer, Zur Sozialstruktur der Freimaurer in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: Helmut Reinalter (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert, München 1989, 109–149, hier 112 ff. 28 Vgl. im folgenden – sofern kein anderer bibliographischer Hinweis erfolgt – die Überblicksdarstellung und die detaillierten bibliographischen Einzelangaben in Dotzauer, Freimaurergesellschaften (wie Anm. 3), vor allem 33–75. 29 Zu Heilbronn vgl. die maurerischen, templerischen, rosenkreuzerischen, spiritistischen und alchemistischen Aktivitäten im Umfeld des hessen-darmstädtischen Landgrafen Ludwig Georg Karl, den Freiherrn von Gugomos u.a., Dotzauer, Freimaurergesellschaften (wie Anm. 3), 56 ff.; zu den Logen in Ludwigsburg und Stuttgart vgl. Karl Strempfle, Geschichte der Freimaurerloge „Zu den 3 Cedern“ i.O. Stuttgart, Stuttgart 1974, 12–14. 30 Vgl. Joachim Bauer, Gerhard Müller, „Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben“. Tempelmaurerei, Aufklärung und Politik im klassischen Weimar, Rudolstadt, Jena 2000. 31 Hugo Ficke, Geschichte der Freimaurerloge Zur Edlen Aussicht in Freiburg im Breisgau, Freiburg 1874, 26. 27
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der verbotenen Mannheimer Loge im Jahr 1785 zu erkennen sind. Engagierter in maurerischen Fragen waren – neben dem Erbprinzen und späteren Grafen Ludwig von Nassau-Saarbrücken, der bereits in jungen Jahren der Straßburger Loge „La Candeur“ beigetreten war und während dessen Regierungsjahren das Logenleben in und um Saarbrücken aufblühte32 – allein die Angehörigen des pfalz-zweibrückischen Hauses. Fehlt für die Aufnahme von Herzog Christian IV., in dessen Diensten vorübergehend drei Goldmacher gleichzeitig experimentierten,33 noch der letzte Beweis,34 so trat sein Bruder, der mit Kurfürst Carl Theodor verschwägerte Pfalzgraf Friedrich Michael,35 in den 1760er Jahren als Großmeister sowie als „wohlwollende[r] und fördersame[r] Protektor“36 der Mannheimer Loge „Charles de l’Union“ in Erscheinung. Dessen Sohn, Pfalzgraf Max Joseph, Oberst des französischen Königs und Inhaber des Fremdtruppen-Regiments „Royal Alsace“, bewohnte nicht nur seit 1776 das stattliche „Hôtel de Deux-Ponts“ in Straßburg.37 Vielmehr nahm ihn 1778/79 die Straßburger Loge „La Candeur“ auf, in der sich Militärs, grundbesitzende Adelige sowie Stadtpatrizier zusammenfanden,38 und seit dem selben Jahr fungierte er neben dem Provinzialgroßmeister, dem sachsen-meiningischen Minister Baron Franz Christian Eckbrecht von Dürckheim, als erster und einziger Präsident des „Directoire Ecossais de Bourgogne“,39 dem die Schottenlogen der Schweiz, des Elsaß, Lothringens, Luxemburgs, Flanderns, des Artois und des Fürstentums Saarbrücken unterstanden. Daß die Mehrzahl der elsässischen Illuminaten der „Candeur“-Loge angehörten,40 zu denen der nach dem frühen Tod seines Neffen zum Erben des Kurfürstentums Pfalz-Bayerns avancierte Pfalzgraf ebenso wie sein Bruder Karl II. August besondere Beziehungen knüpften, und daß Max Joseph 1780 als Bruder Visiteur in der von Illuminaten Helmut Bleymehl, Die Aufklärung in Nassau-Saarbrücken. Ein Beitrag zur Geschichte des aufgeklärten Absolutismus in den deutschen Kleinstaaten. Teildruck der gleichnamigen Dissertation Bonn 1962, o.O.u.J., 43 ff. 33 Vgl. Frick, Die Erleuchteten (wie Anm. 25), 465, sowie Hans Ammerich, Landesherr und Landesverwaltung. Beiträge zur Regierung von Pfalz-Zweibrücken am Ende des Alten Reiches, Saarbrücken 1981, 153 f. 34 Vgl. Dotzauer, Freimaurergesellschaften (wie Anm. 3), 43. 35 Ihre Ehefrauen, Elisabeth Auguste und Maria Franziska Dorothea, beides Enkelinnen von Kurfürst Carl Philipp, waren Schwestern. 36 Schwarz, Geschichte (wie Anm. 10), 20. 37 Weis, Montgelas (wie Anm. 21), 14. 38 Paul Leuilliot, Bourgeoisie d’Alsace et Franc-Maçonnerie aux XVIIIe et XIXe siècles, in : Le Bourgeoisie Alsaçienne. Publications de la Société savante d’Alsace et des régions de l’Est, Strasbourg 1967, 343−376, hier 345. 39 Ebd. sowie Walther Teufel, Geschichte der Freimaurerei im Saarland und in den angrenzenden Gebieten, Baden-Baden o.J., 27. 40 Vgl. die Angaben in Hermann Schüttler, Die Mitglieder des Illuminatenordens 1776−1787/93, München 1991, 224 f., und Leuilliot, Bourgeoisie d’Alsace (wie Anm. 38), 345 f. 32
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bereits unterwanderten Münchner Freimaurerloge „St. Theodor zum guten Rat“ feierliche Aufnahme fand,41 wird später noch zu diskutieren sein. Zu betonen ist an dieser Stelle zunächst der Hinweis auf die traditionell engen Beziehungen des Hauses Pfalz-Zweibrücken zur masonischen Bewegung des rheinischpfälzischen Raums und zu den Logen am Oberrhein. Ungeachtet des in anderen Linien des Hauses Wittelsbach verbreiteten Interesses für theosophisch-hermetische oder kabbalistische Kenntnisse und im Gegensatz zum freimaurerischen Engagement seines Erziehers und langjährigen Beraters, Franz Seedorf, der sich in Mannheim der Unions-Loge anschloß,42 stand der pfälzische Kurfürst Carl Theodor der Freimaurerei fern. Zu erinnern ist an die propagandistische Instrumentalisierung der Ideen der frühen Rosenkreuzer durch den „Winterkönig“ Friedrich V.,43 obgleich viele Forscher den Thesen von Frances A. Yates vehement widersprochen haben,44 oder an die im Detail noch nicht erhellten wissenschaftlichen wie hermetischen Interessen seines Sohnes und Nachfolgers, des pfälzischen Kurfürsten Karl Ludwig, seiner im Exil lebenden Mutter und Geschwister sowie an die Rolle, die den pfälzischen Emigranten bei der Gründung der Royal Society zufiel.45 Hinzuweisen ist in diesem Kontext nicht zuletzt auf die überragende Bedeutung des kleinen wittelsbachischen Herzogtums Pfalz-Sulzbach als Zentrum der rosenkreuzerisch-kabbalistisch-alchemistischen Bewegung des 17. und 18. Jahrhunderts.46 Den Schlußpunkt dieser Entwicklung markiert der 1731 im pfälzischen Lauterecken geborene Arzt und führende Rosenkreuzer, Dr. Bernhard Joseph Schleis(s) von Löwenfeld, der Leibarzt der wegen eines Fehltritts nach Sulzbach verbannten Mutter der zweibrückischen Pfalzgrafen Karl August und Max Joseph, den Carl Theodor schließlich zum kurfürstlichen Hof- und Medizinalrat sowie zum Pfalzgrafen ernannte.47
Le Forestier, Les Illuminés (wie Anm. 21), 442. Schwarz, Geschichte (wie Anm. 10), 27. 43 Frances A. Yates, Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes, Stuttgart 1975. 44 Vgl. zuletzt Carlos Gilly, Die Rosenkreuzer als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert und die verschlungenen Pfade der Forschung, in: Carlos Gilly (Hg.), Rosenkreuz als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert, Amsterdam 2002, 19–56, vor allem 22–26 und 37, sowie ders., Der ‘Löwe von Mitternacht’, der ‘Adler’ und der ‘Endchrist’: Die politische, religiöse und chiliastische Publizistik in den Flugschriften, illustrierten Flugblättern und Volksliedern des Dreißigjährigen Krieges, in: ebd., 234–268, besonders 252, 257–259 und 263. 45 Vgl. Yates, Aufklärung (wie Anm. 43), siehe Register. 46 Vgl. Frick, Die Erleuchteten (wie Anm. 25), 317 ff., sowie Hans Grassl, Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765–1785, München 1968, 102–114 und 418–424. 47 Frick, Die Erleuchteten (wie Anm. 25), 337. 41 42
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II. Aber ebenso bemerkenswert wie die zögerliche regionale Diffusion der masonischen Ideen bis zum Ausgang der 1770er Jahre ist deren rasche Ausbreitung zwischen 1779 und 1785, bevor ihr die in Bayern einsetzende Illuminatenverfolgung und das Freimaurerpatent Josephs II. in Süd(west)deutschland ein Ende setzte. In dieser kurzen Zeitspanne entstanden in Saarbrücken (1779: „La juste et parfaite loge de Saint Louis“, „St. Heinrichs-“ und „Maximiliansloge“),48 Worms (1781: „Johannes zur brüderlichen Liebe“),49 Heidelberg (1782: „Karl zum Reichsapfel“),50 Kaiserslautern (1782: „Karl August zu den drei flammenden Herzen“),51 Grünstadt (1784: „Zur schottischen Beständigkeit“),52 Essingen (1784: „L’Union franche aux trois colombes“),53 Freiburg (1784: „Zur edlen Aussicht“)54 und Karlsruhe (1785: „Karl zur Einigkeit“)55 mindestens zehn neue Logen, die sich zunächst unterschiedlichen Logensystemen anschlossen. Auf der einen Seite fanden die persönlichen Beziehungen des Saarbrücker Fürsten zum pfalz-zweibrückischen Haus und zum elsässischen Adel ihre freimaurerische Entsprechung in der engen Bindung der Saarbrücker Bauhütten an die Straßburger Loge „La Candeur“ und das dortige „Schottische Direktorium“: 1779 vollzog Max Joseph die Gründung und Namensgebung sowohl der „St. Heinrich-“ als auch der nach ihm benannten „Maximiliansloge“.56 Sie gehörten ebenso dem Hochgradsystem der Strikten Observanz an wie die Wormser und die aus ihr hervorgegangene Heidelberger Loge, unter deren Mitgliedern kurpfälzische Beamte dominierten, allen voran der Vizepräsident der kurpfälzischen Hofkammer und Intendant des Mannheimer Nationaltheaters, Wolfgang Heribert von Dalberg. Auf der anderen Seite standen die DepuVgl. Bleymehl, Aufklärung (wie Anm. 32), 43 ff. Philipp Schüler, Friedrich Lamb, Beiträge zur Geschichte der Wormser Freimaurerloge. Festgabe zur Feier des 100jährigen Jubiläums der Loge „Zum wiedererbauten Tempel der Bruderliebe“, Worms 1908; Winfried Dotzauer, Worms und seine Freimaurerlogen bis zum Ende der napoleonischen Zeit, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde NF 33 (1975), 137– 166. 50 Schwarz, Geschichte (wie Anm. 10), 30 f. 51 Schwarz, Geschichte (wie Anm. 10), 47 f. 52 Dotzauer, Freimaurergesellschaften (wie Anm. 3), 47 f. 53 Türck, Freimaurerei (wie Anm. 24), 6. 54 Hugo Ficke, Geschichte der Freimaurerloge Zur Edlen Aussicht in Freiburg im Breisgau, Freiburg im Breisgau 1874; Rolf Fauter, Zweihundert Jahre Freimaurer in Freiburg im Breisgau, Freiburg im Breisgau 1984; Wilhelm Kreutz, Die vorderösterreichischen Freimaurer und Illuminaten, in: Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann (Hg.), Zwischen Josephinismus und Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800, Freiburg im Breisgau 2002, 545–558. 55 Schwarz, Geschichte (wie Anm. 10), 57 f. 56 Bleymehl, Aufklärung (wie Anm. 32), 49. 48 49
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tationslogen der Mannheimer Bauhütte „St. Charles de l’Union“, die sich der Strikten Observanz verweigert und der Berliner Loge „Royal York de l’amitié“ die Treue gehalten hatte. Diese enge Verbindung zwischen den Mannheimer und den Berliner Maurern verkörpert der französische Schauspieler, Journalist und Dramatiker, Claude Le Bauld de Nans, der in beiden Logen den Hammer führte.57 Unter dem Eindruck des Wilhelmsbader Freimaurerkonvents und der von dort ausgehenden neuen Impulse gestand das Berliner Kapitel 1782 den Mannheimer Brüdern die Einrichtung eines Pfalzdirektoriums zu und ermächtigte sie, um im Konkurrenzkampf der erneuerten Systeme bestehen zu können, im gesamten südwestdeutschen Raum Affiliationslogen zu errichten.58 Noch im selben Jahr nahm in Kaiserslautern eine Mannheimer Deputationsloge, „Karl August zu den drei flammenden Herzen“, in der sich vor allem die Lehrer und Schüler der Kameral-Hohen-Schule versammelten, ihre Logenarbeit auf. Der 1784 im südpfälzischen Essingen errichteten zweiten Deputationsloge stand mit Freiherr Gottlob Armand von Dalberg ein weiteres Mitglied der für die masonische Bewegung des deutschen Südwestens so bedeutenden freiherrlichen Familie vor.59 Die 1785 in Karlsruhe begründete Loge „Karl zur Einigkeit“ stand in noch engeren Beziehungen zur im selben Jahr verbotenen Mannheimer Bauhütte: bereits ihr Name, nichts weiter als die deutsche Übersetzung des Namens der Mannheimer Loge, weist darauf hin, daß die Mannheimer Freimaurer das pfalz-bayerische Logenverbot, dem sie offiziell durch Deckung ihrer Bauhütte Folge zu leisten schienen, dadurch umgingen, daß sie mit Hilfe befreundeter Karlsruher Illuminaten ihre Loge in der badischen Residenz neu erstehen ließen.60 Davon abzugrenzen sind die Logen des seit Anfang der 1770er Jahre am Mittelrhein als Projekte- und Goldmacher aktiven ehemaligen preußischen Stabskapitäns Johann Wilhelm von Assum.61 1773 holte ihn der jüdische Hoffaktor und Goldmacher Samuel Wahl zur Unterstützung an den Hof Christians
Zu Le Bauld de Nans vgl. Ann Thomson, Claude Le Bauld de Nans (1731–1791), in: Dictionnaire des Journalistes 1600–1789, Bd. K-Y, Oxford 1999, N°471 592 f.; Hervé Guénot, Gazette littéraire de Berlin (1764–1790), in : Dictionnaire des Journaux 1600–1789, Bd. A-I, Paris 1991, N°572 515 f.; François Moureau, Lettre de Mannheim (1769). Lebauld de Nans ou le comédien sans paradoxe, in: Reinhard Bach, Roland Desné, Gerda Hassler (Hg.), Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption. Expressions des Lumières et de leur réception. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ulrich Ricken, Tübingen 1999, 531–539. 58 Vgl. Schwarz, Geschichte (wie Anm. 10), 46 ff. 59 Vgl. Türck, Freimaurerei (wie Anm. 24), 6, sowie Dotzauer, Freimaurergesellschaften (wie Anm. 3), siehe Register. 60 Vgl. Schwarz, Geschichte (wie Anm. 10), 57 f. 61 Vgl. Dotzauer, Freimaurergesellschaften (wie Anm. 3), 20, 43 und 47 f., sowie Frick, Die Erleuchteten (wie Anm. 25), 465 ff. 57
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IV. nach Zweibrücken,62 wo er auch das Stuhlmeisteramt der Loge „Zum hellleuchtenden Morgenstern“ innehatte, bis Karl II. August seinem Wirken ebenso ein Ende bereitete wie dem der anderen Alchemisten im Dienste seines Onkels. 1779 amtierte Assum in Neuwied als Stuhlmeister der Schottenloge „Zur wahren Hoffnung“,63 1784 begründete er in Grünstadt die Loge „Zur schottischen Beständigkeit“ und das Hochgradsystem der „Ritter vom Kreuz der Dreieinigkeit“ mit dem hessen-darmstädtischen Prinzen Ludwig Georg Karl als Großmeister, das sich wenig später mit den „Asiatischen Brüdern“ des Freiherrn Hans Karl von Ecker von Eckhoffens verband.64 All dies fand nach dem Tod Assums im Jahr 1787 ein jähes Ende, zumal weder seine Goldmacherprojekte noch seine Lottounternehmen genuesischer Provenienz in Darmstadt, Neuwied oder Grünstadt die erhofften Gewinne erbrachten. Doch all diese Logen unterschieden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen masonischen Systemen, sondern sie unterschieden sich auch in soziologischer Hinsicht, wenngleich die dürren Angaben zu ihren Mitgliedern nur eine grobe Analyse zulassen. Dennoch sind die weitgehend adelig geprägten Logen der regionalen Residenzstädte wie Saarbrücken, Grünstadt oder Mannheim, in denen die Mitglieder der fürstlichen oder gräflichen Hofgesellschaft, Militärs, Hofchargen und Beamte dominierten,65 von den Logen in Heidelberg, Kaiserslautern oder Freiburg zu unterscheiden, in denen bereits zu Beginn der 1780er Jahre die neue Funktionselite der Beamten und die Bildungsbürger dominierten.66 Dies gilt in noch stärkerem Maße für die Niederlassungen des Illuminatenordens, der sich nach dem Wilhelmsbader Freimaurerkonvent 1782 auch im deutschen Südwesten mit großer Geschwindigkeit ausbreitete. In kurzer Zeit nivellierten sich viele programmatische Unterschiede in dem Maße, in dem die Logen sich dem „Eklektischen Bund“ des Wetzlarer Kammergerichtsassessors Franz Dietrich Freiherr von Ditfurth anschlossen, jener Auffang- und Tarnorganisation des Ordens, die seit Wilhelmsbad vor allem dazu diente, die bereits bestehenden Logen an den Orden
62 Dieter Blinn, „Man will ja nichts als Ihnen zu dienen, und das bisgen Ehre“ – Die Hofjuden Herz und Saul Wahl im Fürstentum Pfalz-Zweibrücken, in: Rotraud Ries, J. Friedrich Battenberg (Hg.), Hofjuden – Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, Hamburg 2002, 307–331, hier 330. 63 Vgl. Dotzauer, Freimaurergesellschaften (wie Anm. 3), 47 f. 64 Vgl. Frick, Die Erleuchteten (wie Anm. 25), 474 ff. 65 Zu diesen Logen ist aus oben genannten Gründen auch die Bauhütte der freien Reichsstadt Worms zu rechnen. 66 Vgl. meine Ausführungen zur Freiburger Loge: Kreutz, Die vorderösterreichischen Freimaurer (wie Anm. 54), 553 f.
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‘heranzuführen’ und deren Übernahme vorzubereiten, wie die Beispiele Kaiserslauterns,67 Mannheims68 oder Freiburgs69 belegen. Im Zentrum des südwestdeutschen Erfolgs der Illuminaten stand zum einen der unermüdliche Streiter für die Sache Weishaupts, der reformierte Kirchenrat und Prediger der Heidelberger Heiliggeistkirche, Johann Friedrich Mieg, der 1776 nach neunjähriger Tätigkeit als niederländischer Gesandtschaftsprediger in Wien an den Neckar übergesiedelt war und sich hier rasch in der regionalen Aufklärungsszene – als Mitglied der Deutschen Gesellschaft, als Mitherausgeber des Rheinischen Zuschauers, als Autor anderer aufgeklärter Journale – etabliert hatte.70 Hierzu trugen seine zahlreichen brieflichen und persönlichen Kontakte zu Friedrich Nicolai71 ebenso bei wie jene zu Carl Friedrich Bahrdt,72 zu Georg Forster,73 zu Heinrich Pestalozzi74 und nicht zuletzt zu Adolph Freiherr Knigge. Wichtig waren auch die Beziehungen zu seinen Vertrauten aus Wiener Tagen, dem in Speyer tätigen Rechtskonsulenten Carl Ludwig Petersen75 oder Johann Michael Afsprung,76 dem schwäbischen Seume und publizistischen Kontrahenten Friedrichs des Großen, der 1783 ebenso nach Heidelberg übersiedelte wie Adolph Freiherr Knigge,77 in jenen Tagen der organisatorische und programmatische Kopf des Ordens, der ob dieser Tatsache jedoch bald in immer schärferen Gegensatz zu Weishaupt geraten sollte. Wie Vgl. Hans-Jürgen Schings, Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten, Tübingen 1996, 61 f. 68 Vgl. die detaillierte Darstellung von Schings, ebd., 62 f. (mit Hinweisen auf die ältere Literatur). 69 Kreutz, Die vorderösterreichischen Freimaurer (wie Anm. 54), 552–554. 70 Zu Johann Friedrich Mieg vgl. Wilhelm Kreutz, Johann Friedrich Mieg, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 17 (1994), 469 f.; Kreutz, Illuminaten [1997] (wie Anm. 5), 82 f., sowie Wilhelm Kreutz, Der „Rheinische Zuschauer“ (1778). Ein rheinisch-pfälzisches Aufklärungsjournal, in: Wilhelm Kühlmann (Hg.), Literatur und Kultur im deutschen Südwesten zwischen Humanismus und Aufklärung. Neue Studien. Walter E. Schäfer zum 65. Geburtstag gewidmet, Amsterdam 1995, 373–394. 71 Mit ihm korrespondierte Mieg zwischen 1771 und 1779; vgl. Kreutz, Illuminaten [1997] (wie Anm. 5), 104 Anm. 36. 72 Vgl. ebd., 104 Anm. 37. 73 Vgl. ebd., 104 Anm. 38. 74 Vgl. ebd., 104 Anm. 39. 75 Vgl. ebd., 105 Anm. 41. 76 Zu Johann Michael Afsprung vgl. Kreutz, Von der höfischen Institution (wie Anm. 6), 249; Thomas Höhle, Der „schwäbische Seume“. Über den radikaldemokratischen Publizisten Johann Michael Afsprung (1748–1800), in: Weimarer Beiträge 29 (1983), 2082–2091; Thomas Höhle, Der König und der Jakobiner. Johann Michael Afsprungs Polemik gegen König Friedrich II. Schrift „De la littérature allemande“, in : Hallesche Studien zur Wirkung von Sprache und Literatur 7 (1983), 4–18. 77 Zu Knigge vgl. zuletzt Wilhelm Kreutz, Adolph Freiherr Knigges Heidelberger Jahre, in: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 7 (2002), 33–51. 67
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stark Mieg die personelle Zusammensetzung der pfälzischen Ordensniederlassungen prägte, zeigt die Aufnahme seiner persönlichen Bekannten und die Vielzahl der von ihm angeworbenen reformierten Pfarrer und Theologiestudenten. Daneben konnte er seine Führungsrolle in der Mannheimer Deutschen Gesellschaft und seine engen persönlichen Beziehungen zur „Physikalischökonomischen Gesellschaft zu Lautern“ beziehungsweise zur 1774 ins Leben gerufenen „Kameral-Hohen-Schule“ nutzen,78 die 1784 an die Universität Heidelberg angegliedert wurde. Daß Mieg ebenso wie Knigge sich vor allem um die Zöglinge der Kameralhochschule wie später der kameralistischen Fakultät bemühte, liegt auf der Hand, waren doch per kurfürstlichem Dekret alle zukünftigen Staatsdiener der Kurpfalz zu einem zumindest zeitweisen Studium der Kameralistik verpflichtet. Wer demnach, wie der Illuminatenorden, die politische Zukunft gestalten wollte, mußte gerade auf diese Studenten Einfluß nehmen. Schwieriger gestaltete sich die Instrumentalisierung der Deutschen Gesellschaft, galt es in diesem Falle doch Rücksicht auf deren Obervorsteher, den Intendanten des Nationaltheaters Wolfgang Heribert von Dalberg, zu nehmen, der – Hans-Jürgen Schings hat dies pointiert herausgearbeitet79 – seit dem Wilhelmsbader Konvent für die Illuminaten persona non grata war. Er hatte den Schwenk von der Strikten Observanz zum Eklektischen Bund nicht vollzogen, sondern propagierte das theosophische System der französischen „Chevaliers de Bienfaisance“, der „Ritter der Wohltätigkeit“ um Jean Baptiste Willermoz, dem sich die Heidelberger Loge offiziell anschloß. In ihr führte – wie zuvor in der Wormser Loge – Wolfgang Heribert von Dalberg den Hammer, obgleich Ditfurth finanzielle Unregelmäßigkeiten der Wormser Loge nicht nur dazu genutzt hatte, diese aufzulösen, sondern auch Dalberg lebenslang vom Stuhlmeisteramt auszuschließen.80 Dies konnte freilich weder die illuminatische Unterwanderung der Heidelberger Loge noch deren weitgehend bildungsbürgerlichen Charakter verhindern, der gerade in den Logen und Ordensniederlassungen der Nicht-ResidenzStädte früher zu fassen ist als in den Residenzstädten Mannheim oder Bruchsal. Doch auch hier traten die Repräsentanten einer höfisch orientierten Aufklärung und einer adeligen Maurerei in den Hintergrund, gewannen die Vertreter der Zur engen Freundschaft Jung-Stillings und Miegs vgl. zuletzt: Gerhard Schwinge, Affinität und Aversion. Jung-Stillings Verhältnis zum Freimaurertum und zum Illuminatenorden, in: Erich Mertens (Hg.), Auf den Spuren von Jung-Stilling. Studien zu Johann Heinrich Jung-Stilling (1740−1817), Siegen 1998, 45–65; zu Jung-Stillings Leben und Oeuvre vgl. Gerhard Merk, JungStilling. Ein Umriß seines Lebens, Kreuztal 1989; Otto W. Hahn, Johann Heinrich Jung-Stilling, Wuppertal-Zürich 1990. 79 Vgl. Schings, Marquis Posa (wie Anm. 67), 46 ff. 80 Ebd., 47, 52 und 59. 78
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neuen Funktionselite oder gar wie im Hochstift Speyer die Exponenten der Opposition gegen das absolutistische Regiment des Fürstbischofs oder die Märtyrer der katholischen Aufklärung, Freiherr von Hohenfeld und Kanzler La Roche, die der Trierer Erzbischof, Klemens Wenzeslaus, 1780 entlassen hatte, an Einfluß. Hohenfeld, La Roche und dessen Ehefrau, die Schriftstellerin Sophie La Roche, wiederum waren mit Petersen befreundet, kamen zu Theateroder Privatbesuchen häufig nach Mannheim, wo sie mit allen Exponenten der literarisch-wissenschaftlichen Aufklärung befreundet oder zumindest gut bekannt waren.81 All dies legt den Schluß nahe, daß die Rede vom „Netzwerk“ der Aufklärung keine bloße modische Etikettierung ist, sondern die immer enger geknüpften Kommunikationsstränge auf den Begriff bringt.82 Die Frage, ob in dem rheinisch-pfälzischen Netzwerk den Logen eine besondere Rolle zufiel, ist angesichts der geringen Lebensdauer fast aller Bauhütten – sie stellten 1785 mehr oder weniger ihre Tätigkeit ein oder ‘überwinterten’ im Ausland – nur schwer zu beantworten. Festzuhalten ist gleichwohl, daß sich die Mehrzahl der arkanen Sozietäten, allen voran die Niederlassungen des Illuminatenordens, parallel zu den nicht-arkanen Sozietäten des rheinisch-pfälzischen Raums ausbreiteten und sich gerade in den Geheimbünden, bei den Illuminaten wie später bei der Deutschen Union, politisch oder gesellschaftlich engagierte Angehörige der bürgerlichen Funktionselite organisierten. Verfolgt man die regionale Elite bis in die napoleonische Ära hinein, so finden sich sowohl in den Reihen der napoleonischen Administration als auch in den neuen städtischen Führungsschichten Mannheims oder Heidelbergs viele der ehemaligen Mitglieder des Illuminatenordens sowie der Deutschen Union Bahrdts, die dessen pfälzischer Diözesan, Friedrich Andreas Böhme, auch er ein enger Vertrauter Miegs und ebenso wie dieser Pfarrer an der Heiliggeistkirche zu Heidelberg, angeworben hatte.83
III. Doch läßt sich das Verhältnis von masonischem Netzwerk und Politik noch auf andere Weise fassen? Das ‘konkreteste’ politische Ziel der unter der Herrschaft Carl Theodors leidenden Illuminaten war, daran kann kein Zweifel bestehen, die Einflußnahme auf den pfalz-zweibrückischen Hof und vor allem auf die Vgl. Kreutz, Illuminaten [1997] (wie Anm. 5), 83 f. Vgl. Kreutz, Von der höfischen Institution (wie Anm. 6). 83 Vgl. hierzu demnächst Wilhelm Kreutz, Zu Kontinuität und Diskontinuität der Funktionseliten des rheinisch-pfälzischen Raums im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. 81 82
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Erziehung des präsumtiven Gesamterben des Hauses Wittelsbach, des Sohnes Karls II. August. Mochten sich die Aktivitäten der Illuminaten anderer Provinzen auf die politische Gegenwart richten, die Plazierung eines Ordensmannes am Hof in Zweibrücken war das Projekt einer langfristigen politischen Perspektive.84 Wie stark die Gedanken Miegs oder Knigges um dieses Projekt kreisten, ist in gelegentlichen Bemerkungen mit Händen zu greifen. Sei es, daß Mieg Knigge scherzhaft als zukünftigen Minister in Zweibrücken apostrophierte,85 sei es, daß der Heidelberger Professor der Medizin und Illuminat, Franz Michael Gabriel Schönmetzel, vorschlug, den gegenwärtigen Erzieher „auf des [Ordens] Seite zu bringen und im [Orden]s Geist erziehen zu lassen, weil für die Zukunft vieler Glück davon abhängt“, und Mieg diesen Vorschlag in seinem Provinzialbericht breit abhandelte,86 oder sei es, daß Knigge dem reisenden Illuminaten aus Kopenhagen, Friedrich Münter, die Interna der kurpfälzischen Politik offenbarte, die dieser seinem Tagebuch anvertraute: Früh kam ich [in Heidelberg an] u[nd] ließ mich gleich bey baron Knigge melden; [...] Auch politisirten wir über die Verfassung der Pfalz. Es wird ein Glück seyn, wen[n] Carl Theodor einmal stirbt, u[nd] der Herzog von Zweibrücken Kurfürst wird. Der ist zwar streng, [...] aber er ist doch ein eifriger Freund der Gerechtigkeit, u[nd] die wird in der Pfalz öffentlich mit Füßen getreten [...]. 87
Fest steht, daß alle ein Ende der Herrschaft Carl Theodors herbeisehnten und auf die Erlösung hofften, die ein Regierungswechsel für sie mit sich zu bringen versprach, wenngleich zu diesem Zeitpunkt an eine Herrschaft des Freimaurers Max Joseph noch nicht zu denken war. Für diese goldene Zukunft galt es freilich schon jetzt die Weichen zu stellen, was angesichts des extrem mißtrauischen Charakters von Karl August nicht leicht zu bewerkstelligen war. Hinzu kam, daß seit dem bayerischen Erbfolgekrieg respektive seit dem Frieden von Teschen Pfalz-Zweibrücken eine Schlüsselrolle zufiel: Und zwar sowohl in den machtpolitischen Plänen Josephs II., der dem Haus Habsburg ‘mit aller Gewalt’ – dieser umgangssprachliche Ausdruck ist der treffendste – Bayern sichern wollte,88 als auch in den Überlegungen der antikaiserlichen ‘Koalition’, vor alVgl. in diesem Zusammenhang den interessanten Hinweis Wilsons, Carl Theodor von Dalberg habe noch ein halbes Jahr nach dem Tod des wittelsbachischen Prinzen, von dem er bis zu diesem Zeitpunkt nichts erfahren habe (was nachweislich falsch ist), dem Herzog Karl August von Pfalz-Zweibrücken den Ordensgründer Weishaupt als Prinzenerzieher angedient; Wilson, Geheimräte (wie Anm. 23), 320 f. Anm. 5. 85 Vgl. Schings, Marquis Posa (wie Anm. 67), 98. 86 Provinzialbericht Miegs, zitiert nach ebd., 98 f. 87 Friedrich Münter, Tagebücher. Handschriftliches Manuskript. Band 8, in: Königliche Bibliothek zu Kopenhagen. Ny Kongelig Samling 387ee, 8°, 118. 88 Vgl. Paul P. Bernard, Joseph II. and Bavaria. Two eighteenth century attempts at German unification, The Hague 1965, sowie Karl Otmar von Aretin, Die bayerische Staatsidee (wie Anm. 21). 84
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lem in den Plänen zu einem „Fürstenbund“ unter preußischer Führung oder zum Zusammenschluß der protestantischen Reichsstände.89 Denn das Tauschprojekt, ohne das ein Vordringen Habsburgs nach Bayern unmöglich war, konnte nur durch die Unterschrift Karl Augusts, des aktuellen Gesamterben, besiegelt werden. Entsprechend mußten alle, die dieses Tauschprojekt zu verhindern trachteten, die Gunst des Herzogs gewinnen, der trotz gigantischer Subventionen aus Paris chronisch überschuldet war. Seine zukünftige Stimme im Konzert der europäischen Mächte sicherte ihm bereits Jahre zuvor ein Leben in Saus und Braus. Karl II. August genoß es in vollen Zügen, wie die Anlage seiner Sommerresidenz, des Karlsbergs bei Homburg, eines der teuersten Schloßbauprojekte des ausgehenden 18. Jahrhunderts, unterstreicht.90 Es verwundert daher nicht, daß Karl Friedrich von Baden und Karl August von Sachsen-Weimar ab Ende 1783 gleichzeitig in Zweibrücken und Frankreich sondierten beziehungsweise sondieren ließen, wie die Chancen für einen Fürstenbund einzuschätzen seien: War Karl II. August von Pfalz-Zweibrücken bereit, einem Bund unter preußischer Führung beizutreten und vor allem, war Frankreich, an das der Herzog vertraglich gebunden war, bereit, einen solchen Schritt zu tolerieren? Diese Aufgabe fiel dem in Emmendingen wirkenden badischen Beamten, Schwager Goethes, Freimaurer und Illuminaten, Johann Georg Schlosser,91 zu, der seine privaten Kontakte zum französischen Diplomaten Gottlieb Konrad Freiherr von Pfeffel,92 dem Bruder seines engen Freundes, des blinden Dichters Gottlieb Konrad Pfeffel,93 nutzte, um auf inoffiziellem Weg eine Stellungnahme zu erhalten. Daß Schlosser, der seit 1782 an der Spitze der illuminatischen Minervalkirche Freiburgs und der schwäbisch-pannonischen Zu den Fürstenbundplänen vgl. bereits Leopold von Ranke, Die deutschen Mächte und der Fürstenbund. Deutsche Geschichte von 1780 bis 1790, in: Leopold von Ranke, Sämmtliche (sic!) Werke. Zweite Gesammtausgabe (sic!). Bd. 21/22, Leipzig 1877; Bernhard Erdmannsdörffer (Hg.), Politische Correspondenz Karl Friedrichs von Baden 1783−1806, Bd. 1, Heidelberg 1888; Willy Andreas (Hg.), Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Carl August von Weimar, bearb. von Hans Tümmler, Bd. 1, Stuttgart 1954; vgl. zuletzt außerdem: Hans Tümmler, Weimar, Wartburg, Fürstenbund 1776–1820. Geist und Politik im Thüringen der Goethezeit. Gesammelte Aufsätze, Bad Neustadt an der Saale 1995; Wilson, Geheimräte (wie Anm. 23), 113 ff.; Schings, Marquis Posa (wie Anm. 67), 97 ff. 90 Zur Sommerresidenz vgl. Wilhelm Weber, Schloß Karlsberg. Legende und Wirklichkeit. Die Wittelsbacher Schloßbauten im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken, Homburg 1987. 91 Vgl. Eberhard Gothein, Johann Georg Schlosser als badischer Beamter, Heidelberg 1899; Johan van der Zande, Bürger und Beamter. Johann Georg Schlosser 1739−1799, Wiesbaden 1986; Johann Georg Schlosser (1739–1799). Katalog der Ausstellung der Badischen Landesbibliothek und des Generallandesarchivs Karlsruhe, Karlsruhe 1989. 92 Ludwig Bergsträsser, Christian Friedrich Pfeffels politische Tätigkeit in französischem Dienste 1758–1784, Heidelberg 1906. 93 Gottlieb Konrad Pfeffel. Satiriker und Philanthrop. Katalog der Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe in Zusammenarbeit mit der Stadt Colmar, Karlsruhe 1986. 89
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Ordensprovinz stand,94 in jenen Monaten die vom Geist des Josephinismus erfüllte Freiburger Loge nach langem Zögern mitbegründete und in ihr als erster Meister vom Stuhl den Hammer führte, verleiht seinen – gerade gegen die Interessen Josephs II. gerichteten – dienstlichen Aufgaben besondere Pikanterie. Sein Engagement in der Freiburger Loge konnte wertvolle Informationen über die kaiserlichen Pläne liefern, zumal die Mehrzahl der Freiburger Brüder eng mit den Wiener Logen korrespondierten, denen sie selbst angehörten und im Frühjahr 1784 die habsburgische Seite mit der Entsendung des russischen Gesandten im Reich, Nikolaus Graf von Romanzoff, nach Zweibrücken eine neue Runde des Tauschprojekts eingeläutet hatte.95 Beide Seiten rüsteten für den Sommer respektive den Herbst 1784 zur Offensive, allen voran der längst dem Illuminatenbund angehörende Karl August von Sachsen-Weimar. Karl August bereitete in enger Absprache mit dem Kronprinzen von Preußen (den er noch vor Antritt seiner Reise für den Orden werben wollte, ohne zu wissen, daß dieser längst Rosenkreuzer war) und mit seinen Ordensbrüdern, dem Fürsten von Anhalt-Dessau, den Herzögen von Braunschweig und Gotha, sowie mit der badischen Regierung – unter strengster Wahrung seines Inkognitos – eine Reise in den deutschen Südwesten vor, um den Herzog in Zweibrücken durch eine beträchtliche Summe sowohl gegen die Begehrlichkeiten Österreichs als auch Frankreichs zu immunisieren.96 Doch Karl Augusts Schritt in die große Politik scheiterte. Er erreichte Zweibrücken nicht, weil sein Namensvetter ihn, nicht jedoch den russischen Gesandten, nach dem plötzlichen – und für viele Zeitgenossen geheimnisumwitterten – Tod des einzigen legitimen Nachfolgers mit Hinweis auf die Hoftrauer kurzerhand ‘auslud’. Der Tod des Achtjährigen, der am Morgen des 21. August 1784 verstarb, war in der Tat eine Katastrophe: eine, auch in der damaligen Zeit hoher Kindersterblichkeit, menschliche und vielleicht noch schwerwiegender, eine politische Katastrophe. Denn weitaus schwerer als die schnell kolportierten Gerüchte um eine angebliche Vergiftung des Prinzen97 fiel ins Gewicht, daß PfalzBayern seinen einzigen Erben verloren hatte und die Ehen Carl Theodors sowie seines Neffen Karl August so heillos zerrüttet waren, daß an legitime Erben vorderhand nicht zu denken war. Da überdies Max Joseph, der jüngere Sohn Pfalzgraf Michaels, der in Straßburg sein allein von einem wachsenden Schuldenberg überschattetes Junggesellenleben in vollen Zügen genoß, gerade zu diesem Zeitpunkt den Entschluss faßte, sich mit einer Schauspielerin zu verehelichen, schien das dynastische Schicksal der Wittelsbacher ebenso besieVgl. hierzu und im folgenden Kreutz, Die vorderösterreichischen Freimaurer (wie Anm. 54), 551 ff. 95 Vgl. Aretin, Staatsidee (wie Anm. 21), 101 ff. 96 Vgl. Wilson, Geheimräte (wie Anm. 23), 113 ff. 97 Vgl. Aretin, Staatsidee (wie Anm. 21), 103. 94
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gelt98 wie der Sieg der kaiserlichen Partei, denn die Krone des zu schaffenden Königreichs Burgund war noch viel verlockender, wenn man sich um die Zukunft seines ohnehin zum Aussterben verurteilten Hauses nicht mehr zu scheren brauchte. In dieser Situation gab es nur noch ein Gegenmittel: die finanziellen Möglichkeiten und den Druck der Großzügigkeit Frankreichs, zumal die kleinlichen finanziellen Avancen Österreichs und die Angebote der Fürstenbundprätendenten auch nicht annähernd ausreichten, um die Bedürfnisse Karl Augusts und seiner Mätresse zu befriedigen. Geradezu flehentlich bat der Minister Karls II. August, Hofenfels, den französischen Außenminister Vergennes99 um die Entsendung des vertrauten Unterhändlers Pfeffel, der allein in der Lage sei, das Schlimmste zu verhindern. Doch er war nicht der einzige, der in Paris intervenierte. Inzwischen hatte in Heidelberg auch Johann Friedrich Mieg vom unmittelbar bevorstehenden Erfolg der habsburgischen Seite Wind bekommen. Ob seine Informationen aus Wien oder aus München stammten, wie man früher vermutete,100 oder ob er jene im Zuge der Verhandlungen um den Austritt Knigges aus dem Illuminatenbund erhielt, die 1784 Bode nach Heidelberg führten,101 sei dahingestellt. Folgenreicher war sein Gespräch mit seinem Speyerer Vertrauten, dem Sohn eines pfalz-zweibrückischen Hofpredigers, Carl Ludwig Petersen, den die vermeintliche Stärkung des Katholizismus durch das Tauschgeschäft ebenso alarmierte wie den reformierten Kirchenrat.102 Er handelte! Er habe sich „auf vertrautem Wege“, so die Formulierung seines Enkels, an den französischen Außenminister gewandt und zehn Tage später sei Pfeffel in Zweibrücken eingetroffen. Max Joseph habe ihm Jahre später gar wegen dieser Verdienste um das Haus Wittelsbach eine Pension ausgesetzt, so daß der Vorwurf, dies sei nichts weiter als eine zwar hübsche, aber nichtssagende Familienlegende, wohl nicht zutrifft.103 Hatte er dabei auch verwandtschaftliche oder ältere berufliche Beziehungen spielen lassen, die zu den illuminatischen Protagonisten der Fürstenbundpolitik führten? Sein Vetter, Carl Ludwig von Knebel, war ein Vertrauter Goethes und beim Reichshofrat in Wien hatte Peter-
98 Adalbert Prinz von Bayern, Max I. Joseph von Bayern. Pfalzgraf, Kurfürst, König, München 1957, 51 ff. 99 Aretin, Staatsidee (wie Anm. 21), 103 f., sowie Bergsträsser, Pfeffel (wie Anm. 92), 78 ff.; vgl. auch Munro Price, Preserving the monarchy. The comte de Vergennes, 1774–1787, Cambridge 1995, 132 ff.; G. Grosjean, La politique rhénane de Vergennes, Paris 1925, 81–91 und 110– 115. 100 Adolf Petersen (Hg.), Chronik der Familie Petersen, Bd. 1, München 1895, 15. 101 Wilson, Geheimräte (wie Anm. 23), 86 ff. 102 Petersen, Chronik (wie Anm. 100), 16. 103 Ebd., 25.
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sen auch Herzog Ernst II. von Gotha vertreten.104 Der Weimarer Herzog konnte demnach bei seinem Aufenthalt an Neckar und Rhein im Herbst und Winter 1784 nicht allein seinen literarischen, sondern auch seinen illuminatischen Interessen nachgehen, bewegte er sich doch in Mannheim vorwiegend in deren Kreis.105 Die Wende im Tauschprojekt leitete tatsächlich Pfeffel mit seiner Zusage weiterer französischer Millionen ein: eine jährliche Apanage von 500.000 fl. für Karl August sowie die Garantie der französischen Krone für ein einmaliges genuesisches Darlehen in Höhe von 6 Millionen Gulden.106 Nicht zu übersehen aber sind die parallelen Aktivitäten der Protagonisten des Fürstenbunds, die im Sommer 1784 versuchten, Karl II. August für ihre Sache zu gewinnen. Daß sie parallel zu ihren häufig brieflich abgestimmten diplomatischen Aktivitäten auch eine illuminatische Korrespondenz unterhielten, ist seit Wilsons Funden nicht mehr zu leugnen. Aber sind in diesem Zusammenhang arkane und nichtarkane Beziehungen immer klar voneinander zu trennen? Für die ältere Forschung, die die illuminatischen Verbindungen nicht kannte, war dies keine Frage. Doch die seit langem bekannten, plötzlich in neuem Licht erscheinenden Zusammenhänge, legen den Schluß nahe, daß sich – gerade bei der Initiative Karl Augusts von Sachsen-Weimar – beide Kommunikationsnetze, das arkane und das nicht-arkane, durchdrangen. Dies ist freilich keinesfalls geeignet, die bescheidenen Erfolge dieser Politik im Jahr 1784 schönzureden. Karl II. August entzog sich allen Umgarnungsversuchen: Fürst Leopold III. von AnhaltDessau fand in Zweibrücken einen so „kühlen Empfang“, daß er es vorzog, die „ungastliche Stätte“ schnell wieder zu verlassen, und der Besuch Karl Augusts wurde gar mit Hinweis auf den Trauerfall direkt abgelehnt.107 Doch um den wittelsbachischen Herzog herum konnte das Netz der Beziehungen immer enger geknüpft werden. War es vor diesem Hintergrund bloßer Zufall, daß Pfeffel auf seiner Reise nach Zweibrücken in Forbach bei der verwitweten Herzogin von Pfalz-Zweibrücken Station machte und mit dem Erfurter Statthalter und Illuminaten Carl Theodor von Dalberg ausführlich die politische Lage PfalzZweibrückens wie des Reichs erörterte?108 Bestimmt kein Zufall war es, daß Karl August während seiner Süddeutschlandreise wenige Wochen später in Straßburg mit Max Josef zusammentraf, den er – ebenso wie zuvor und danach Pfeffel – nachdrücklich zur Übernahme seiner dynastischen Verantwortung aufforderte, vor allem zu einer standesgemäßen Heirat, die allein die Zukunft 104 105 106 107 108
Ebd., 11 f. Schings, Marquis Posa (wie Anm. 67), 97 ff. Aretin, Staatsidee (wie Anm. 21), 103 f. Bergsträsser, Pfeffel (wie Anm. 92), 76. Ebd., 80.
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Pfalz-Zweibrückens und des Fürstenbunds sichern konnte.109 So unspektakulär all diese Schritte sein mögen, auffällig bleibt doch, wie eng sich bei diesen Aktionen diplomatisches und arkanes Kommunikationsnetz berührten. Gewiß, noch gibt es keinen Hinweis darauf, daß Karl August versuchte, neben Friedrich Wilhelm weitere Fürsten für den Illuminatenbund zu werben oder sie mit dem Lobpreis des überlegenen Geheimwissens des neuen Ordens für seine politischen Ziele zu gewinnen. Bei einem hochrangigen „Ritter der Strikten Observanz wie Max Joseph, der sich in Straßburg überdies in illuminatischen Kreisen bewegte, hätte dies immerhin nahe gelegen. Doch Fragen dieser Art hat die neuere Forschung, die sich zu sehr auf die bayerischen Verhältnisse kaprizierte und die Aktivitäten anderer Illuminaten übersah, ausgeblendet. Statt dessen thematisierte sie – zurecht – den dramatischen Zusammenstoß von arkaner Welt und Politik im Jahr der Illuminaten- und Logenverbote. Er sollte nicht nur für die Freimaurer Südwestdeutschlands weitaus gravierendere Folgen zeitigen als der Austritt Knigges aus dem Illuminatenorden oder der Tod des pfalz-zweibrückischen Prinzen. Diese jedoch sind an dieser Stelle nicht noch einmal darzulegen.
Vgl. Memoire Carl Augusts an den Prinzen von Preußen, in: Ranke, Die deutschen Mächte (wie Anm. 89), 476. 109
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Ausgehend von einem Überblick über die masonischen Gesellschaften und Geheimbünde des rheinisch-pfälzischen Raums und der angrenzenden Gebiete rückt zum einen die Frage nach deren Stellenwert im Netzwerk des regionalen Aufklärungsprozesses und nach den Interaktionen zwischen arkanen und nichtarkanen Sozietäten in den Mittelpunkt der Analyse. Zum anderen wird am Beispiel der pfalzbayerisch-habsburgischen Tauschpläne der Frage nach den diplomatischen wie politischen Nutzungsmöglichkeiten arkaner Kommunikationsstrukturen am Vorabend der Französischen Revolution nachgegangen und die von den außerbayerischen Illuminaten entwickelten Gegeninitiativen, allen voran das Projekt eines ‘Fürstenbunds’, erörtert.
On the basis of an overview of the masonic and the secret societies of the Rheno-Palatine region together with its adjacent areas, the article discusses on one hand the question of their relative importance in the context of the regional process of enlightenment as well as the interaction between arcane and non-arcane societies. On the other hand, the author follows up the question of the diplomatic and political possibilities of usage of the arcane communication structures on the eve of the French Revolution, focussing on the PalatinateBavarian and the Habsburgian barter intentions, and analyses the counteractions that were initiated by extra-Bavarian Illuminati members, above all the project of a “federation of princes”. PD Dr. Wilhelm Kreutz, Universität Mannheim, Historisches Institut, Seminar für Neuere Geschichte, 68131 Mannheim, E-Mail: [email protected]
A B H A N D L U N G E N Z U R P O L IT IS C H E N T H E O R IE IM 1 8 . J A H R H U N D E RT
E IN LE IT U N G
Die Geschichte der politischen Theorie als Teilgebiet der Geschichtswissenschaft unterliegt seit etwa einem Jahrzehnt auch in Deutschland erheblichen Veränderungen. Hand in Hand mit einem neuen Interesse an der Geschichte der politischen (und anderer) Ideen gehen neue methodische Forderungen, die intensiv diskutiert und in zahlreichen Forschungsprojekten erprobt werden; hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Schwerpunktprogramm „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Ansätze zu einer neuen ‘Geistesgeschichte’“. Einige der methodischen Grundsätze der ‘neuen Ideengeschichte’ lassen sich, freilich erheblich verkürzt, schlagwortartig wie folgt zusammenfassen: Kontextualisierung, Ausdehnung der Quellenbasis, Berücksichtigung der Einbettung von Quellen in Diskurse und Erforschung der Wechselwirkung von Ideen und Lebenswelt.1 Auf einem anderen Blatt steht allerdings, daß große Teile der Wissenschaftsdisziplinen, die neben der (allgemeinen) Geschichtswissenschaft an der Erforschung von (politischen) Ideen beteiligt sind – u.a. Rechtsgeschichte, Politikwissenschaft, Philosophiegeschichte, historisch arbeitende Literaturwissenschaft –, noch keine Konsequenzen aus der Methodendiskussion gezogen haben.
Vgl. zusammenfassend: Hartmut Rosa, Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie. Der Beitrag der „Cambridge School“ zur Metatheorie, in: Politische Vierteljahresschrift 35 (1994), 197223; Günther Lottes, „The State of the Art“. Stand und Perspektiven der „intellectual history“, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen, Paderborn 1996, 27-45; Eckhart Hellmuth, Christoph von Ehrenstein, Intellectual History Made in Britain. Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 149172; ferner die Beiträge von Günther Lottes (Neue Ideengeschichte), Luise Schorn-Schütte (Neue Geistesgeschichte), Raingard Eßer (Historische Semantik), Iain Hampsher-Monk (Neuere angloamerikanische Ideengeschichte) und Robert Jütte (Diskursanalyse in Frankreich), alle in: Joachim Eibach, Günther Lottes (Hg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, 261-328 (mit weiteren Literaturnachweisen). 1
Aufklärung 15 · © Felix Meiner Verlag 2003 · ISSN 0178-7128
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Einleitung
Die beiden folgenden Beiträge von Jan Rolin und Louis Pahlow setzen die im 13. Band des Jahrbuchs Aufklärung (2001) begonnenen Abhandlungen zur Geschichte der politischen Ideen im 18. Jahrhundert fort. Die Aufsätze von Sandra Pott2 und Martin Fuhrmann3 beschäftigen sich auf unterschiedlichen Quellengrundlagen und aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Staatszweck- und Staatsaufgabendiskussion im Deutschland des 18. Jahrhunderts; Keith Tribe4 untersucht die politischen Grundlagen des deutschen Kameralismus, dessen Verhältnis zu den Theorien von Adam Smith und James Steuart und die Überwindung des kameralistischen Ordnungsmodells. Gemeinsam ist ihnen, daß sie innerhalb ihrer jeweiligen Wissenschaftsdisziplin – germanistische Literaturwissenschaft, Rechtsgeschichte und Geschichte der Wirtschaftstheorie – methodische Forderungen der ‘neuen Ideengeschichte’ aufnehmen und sie im Zusammenhang mit bisher vernachlässigten Fragestellungen und zur Revision eingefahrener Auffassungen verwenden. Ebenso wie die genannten Beiträge beruhen die Aufsätze von Rolin und Pahlow auf methodischen Grundsätzen der neuen Ideengeschichte. Beide behandeln Themen, die mit dem Namen Montesquieus verknüpft sind: Rolin geht es um die dezidierte Kontextualisierung eines Klassikers des politischen Denkens, genauer: von dessen Auffassungen zu Recht, Gesetz und Gesetzgebung; Pahlow kontextualisiert auf breiter Quellenbasis die Diskussion über die Gewaltenteilung im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Über die jeweiligen Ergebnisse im einzelnen hinaus lassen sich zwei generelle gemeinsame Erkenntnisse festhalten, die für viele mit ideengeschichtlichen Fragestellungen befaßte Disziplinen ebenso beunruhigend wie anregend sein könnten: Erstens stehen Auffassungen, die im Zusammenhang mit Montesquieu und mit der deutschen politischen Theorie bis ca. 1780 von liberalen, demokratischen oder gar revolutionären Gedanken sprechen, unter erheblichem Anachronismusverdacht. Als politische Akteure standen sich im 17. und 18. Jahrhundert, sehr verkürzt formuliert, vielmehr die sogenannten intermediären, ‘ständischen’ Gewalten und der seine absolutistischen Interessen verfolgende Herrscher gegenüber; auch in der politischen Theorie ging es dementsprechend um die Bewahrung überkommener Rechtspositionen oder um deren Überwindung durch Reformen im Staat des aufgeklärten Absolutismus.5 Es Gemeinwohl oder „schöner Schein“. Staatszwecke und Staatsideen bei Christoph Martin Wieland und in der Weimarer Klassik, in: Aufklärung 13 (2001), 211-242. 3 Die Politik der Volksvermehrung und Menschenveredelung. Der Bevölkerungsdiskurs in der politischen und ökonomischen Theorie der deutschen Aufklärung, ebd., 243-282. 4 Natürliche Ordnung und Ökonomie, ebd., 283-302. 5 Vgl. dazu Martin Fuhrmann, Diethelm Klippel, Der Staat und die Staatstheorie des aufgeklärten Absolutismus, in: Helmut Reinalter, Harm Klueting (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich, Wien u.a. 2002, 223-243. 2
Einleitung
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liegt auf der Hand, daß dies Auswirkungen auf den analytischen Aufklärungsbegriff jedenfalls der Geschichte der politischen Ideen hat. Zweitens kommt der Rezeptionsgeschichte (nicht nur) politischer Ideen größere Bedeutung zu als bisher, da die Kontextualisierung nicht zuletzt der ‘großen Autoren’ zwar zur Revision überkommener Auffassungen führen kann, zugleich aber die Frage aufwirft, wann, wie und warum inzwischen als anachronistisch erkannte Interpretationen entstanden sind. Zugleich wird das Geschäft der Erforschung der Rezeptionsgeschichte schwieriger, da die methodischen Forderungen der ‘neuen Ideengeschichte’ sich auch und gerade darauf beziehen müssen. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Die Rede ist hier von historischer Methode – ob auch potentiell oder offen anachronistische Fragestellungen legitim, förderlich oder gar geboten sind, muß jede Wissenschaftsdisziplin selbst entscheiden. Diethelm Klippel
J AN R O LI N Recht, Gesetz und Gesetzgebung bei Montesquieu Zur Kontextualisierung eines Klassikers des politischen Denkens1
„Toute critique sage de l’ouvrage De l’esprit des Loix“, so faßte Joseph Michel Antoine Servan die zeitgenössische Kritik2 an Montesquieus Hauptwerk 1781 zusammen, „doit donc être regardée comme un service rendu à la législation“.3 Angesichts dieser Äußerung des französischen Avocat-Général am Parlement von Grenoble überrascht es, daß Montesquieus De l’esprit des loix beispielsweise von Gerhard Dilcher als „Initialfunken“ für die nun beginnende theoretische Beschäftigung mit der Gesetzgebung, sogar als „theoretischer Ausgangspunkt für eine Gesetzgebungswissenschaft“ verstanden wird.4 Mehr noch: Montesquieu soll in dem Bündnis von Absolutismus, Aufklärung und Naturrecht maßgeblicher Einfluß auf Entstehen und Verlauf der europäischen Kodifikationsbewegung des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zukommen.5 Schon die Biographie von Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu6 läßt jedoch Zweifel daran aufkommen, ob er die auf VerändeFür wertvolle Hinweise und Anregungen bin ich meinem akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr. Diethelm Klippel zu Dank verpflichtet. 2 Hierzu instruktiv: Walter Wilhelm, Gesetzgebung und Kodifikation in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ius Commune 1 (1967), 241–270, hier 255 ff. 3 Joseph Michel Antoine Servan, Réflexions sur quelques points de nos loix, Genf 1781, 202, hier zitiert nach: Wilhelm, Gesetzgebung (wie Anm. 2), 256. 4 Gerhard Dilcher, Gesetzgebungswissenschaft und Naturrecht, in: Juristenzeitung (1969), 1– 7, hier 3. 5 Ulrich Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, München 31999, Rn. 278, 283; Dilcher, Gesetzgebungswissenschaft (wie Anm. 4); Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 21967, 330 Anm. 26; Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, Karlsruhe 1966, 378, 383, 436; ders., Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794, Köln, Opladen 1958, 11. 6 Dazu unter anderen Jean-François Chiappe, Montesquieu. L’homme et l’héritage, Monaco 1998; Louis Desgraves, Montesquieu, Frankfurt am Main. 1992; Robert Shackleton, Montes1
Aufklärung 15 · © Felix Meiner Verlag 2003 · ISSN 0178-7128
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rung gerichteten Ziele einer naturrechtlich legitimierten monarchischen Aufklärung, einschließlich legislatorischer Reformen, verfolgte: Zu fragen ist also, ob er als Mitglied der ‘Noblesse de robe’ des vorrevolutionären Frankreichs nicht ganz andere Interessen vertrat, nämlich diejenigen der politischen Gegner und Gegenspieler des Monarchen und dessen absolutistischen Ambitionen – also der intermediären, historisch gewachsenen und als autonom betrachteten Gewalten. Demnach liegt der Verdacht nahe, daß die Interpretation Montesquieus als Vater der aufgeklärten Gesetzgebungstheorie und Kodifikationsbestrebungen ein rezeptionsgeschichtlich7 gebrochenes Bild vermittelt und einer eingehenden Werkanalyse nicht standhält – geschweige denn einer Verortung im Diskurs der Zeit mit den methodischen Mitteln der „neuen Ideengeschichte“.8 Das gilt um so mehr für die verbreiteten und vorherrschenden Auffassungen, die Montesquieu als Vertreter liberalen,9 demokratischen10 oder gar revolutionären11 politiquieu. A critical Biography, Oxford 1961; vgl. auch die Beiträge in: Catherine Volpilhac-Auger (Hg.), Montesquieu. Les années de formation (1689–1720), Neapel u.a. 1999. 7 Zur Rezeption Montesquieus in Deutschland vgl. Horst Möller, Montesquieu im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Bemerkungen zur Rezeptionsgeschichte, in: Sven Externbrink, Jörg Ulbert (Hg.), Formen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Frankreich und das Alte Reich im europäischen Staatensystem, Berlin 2001, 69–76; Stefan Korioth, „Monarchisches Prinzip“ und Gewaltenteilung – Unvereinbar? Zur Wirkungsgeschichte der Gewaltenteilungslehre Montesquieus im deutschen Frühkonstitutionalismus, in: Der Staat 37 (1998), 27–55; Heinz Mohnhaupt, Deutsche Übersetzungen von Montesquieus „De l’esprit des lois“, in: Paul-Ludwig Weinacht (Hg.), Montesquieu. 250 Jahre „Geist der Gesetze“, Baden-Baden 1999, 135–151; ders., Montesquieu und die legislatorische Milieu-Theorie während der Aufklärungszeit in Deutschland, in: Gerhard Lingelbach, Heiner Lück (Hg.), Deutsches Recht zwischen Sachsenspiegel und Aufklärung. Rolf Lieberwirth zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main u.a. 1991, 177–191; Frank Herdmann, Montesquieurezeption in Deutschland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Hildesheim u.a. 1990; Rudolf Vierhaus, Montesquieu in Deutschland. Zur Geschichte seiner Wirkung als politischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde u.a. (Hg.), Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel u.a. 1965, 403–437. – Zur Rezeption französischer Rechtsphilosophie in Deutschland im 19. Jahrhundert im allgemeinen vgl. Diethelm Klippel, Jan Rolin, Französische und deutsche Rechtsphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein bibliographischer Überblick, in: Jean-François Kervégan, Heinz Mohnhaupt (Hg.), Wechselseitige Beeinflussungen und Rezeptionen von Recht und Philosophie in Deutschland und Frankreich. Influences et réceptions mutuelles du droit et de la philosophie en France et en Allemagne, Frankfurt am Main 2001, 231–257. 8 Dazu Günther Lottes, „The State of the Art“. Stand und Perspektiven der „intellectual history“, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen, Paderborn 1996, 27–45; Hartmut Rosa, Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie: Der Beitrag der „Cambridge School“ zur Metatheorie, in: Politische Vierteljahresschrift 35 (1994), 197–223; neuerdings Eckhart Hellmuth, Christoph von Ehrenstein, Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 149–172. 9 Vgl. Klaus Adomeit, 250 Jahre Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, in: Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 6 (1998), 849–853; Bernhard Groethuysen, Philosophie der Französischen
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schen Denkens einordnen: Sie stehen zum einen unter dem Einfluß einer politisch liberal orientierten Staatslehre des 19. Jahrhunderts, die Montesquieu für ihre politischen Ziele instrumentalisierte.12 Zum anderen zeigt sich darin eine anachronistische, überzeitliche Sicht auf Klassiker des politischen Denkens – also nicht nur auf Montesquieu –, die durchaus Erkenntnisgewinne zu erbringen vermag und deren Grenzen zu einer historischen Analyse fließend sind, die aber den Blick auf den Autor und dessen Werk historisch verstellt.13 Unter Beachtung der damit kurz angedeuteten methodischen Grundlagen und Ziele soll daher nach der Theorie des Rechts, der Gesetze und der Gesetzgebung bei Montesquieu gefragt werden. Im einzelnen wird zunächst der Gesetzesbegriff Montesquieus analysiert: Montesquieu ging es im Gegensatz zu den zeitgenössischen Naturrechtlern allein um eine systematische und rationale Erfassung der Prinzipien der Entstehung des positiven Rechts. Zu diesem Zweck stellte er den naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff in einen engen Revolution, Frankfurt am Main, New York 1989, 45; Jean-Jacques Chevallier, Montesquieu ou le libéralisme aristocratique, in: Revue internationale de philosophie 9 (1955), 330–345; Werner Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: Hans Barion u.a. (Hg.), Festschrift für Carl Schmitt, Berlin 1959, 253–272, hier 254; widersprüchlich: Richard Dietrich, „Prolem sine matre creatam“. Untersuchungen zum Begriff der Freiheit bei Montesquieu, in: Wilhelm Berges (Hg.), Zur Geschichte und Problematik der Demokratie. Festschrift für Hans Herzfeld, Berlin 1958, 33–53, hier 51, der Montesquieu als einen „der Väter des modernen Liberalismus nur mit Einschränkung“ bezeichnet. 10 So wird Montesquieu als Verfechter einer ‘gemäßigten Demokratie’ beschrieben: Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung, Opladen 32000, 74–90, oder als „Demokrat“ bezeichnet, der aber aufgrund der politischen Machbarkeit für eine „konstitutionell beschränkte Monarchie“ in der Form des „Wunschbild[es] des französischen Bürgertums“ eintrat: ChristanFriedrich Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Heidelberg 81993, Rn. 162; Alexander Schwan, Politische Theorien des Rationalismus und der Aufklärung, in: Hans J. Lieber (Hg), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, München 1991, 157–257, hier 218 f.; vgl. ähnliche Klassifizierungen Montesquieus bei René Duchac, Montesquieu et la démocratie: Une espèce de la république?, in: Cahiers internationaux de Sociologie 49 (1970), 31–52. 11 Vgl. E.V. Walter, Policies of Violence: From Montesquieu to the Terrorists, in: Kurt H. Wolff, Barrington Moore jr. (Hg.), The Critical Spirit. Essays in Honor of Herbert Marcuse, Boston 1967, 121–149, hier 123 ff.; Maxime Leroy, Histoire des Idées sociales en France. De Montesquieu à Robespierre, Paris 1946, 92 ff.; entschieden dagegen: Albert Mathiez, La place de Montesquieu dans l’Histoire des Doctrines Politiques du XVIIIe Siècle, in: Annales Historiques de la Révolution Française 7 (1930), 97–112, hier 109 ff. 12 Vgl. nur die Einleitung Adolf Ellissens zur deutschen Übersetzung des De l’esprit des loix, den er als den „Vorläufer des Gesellschaftsvertrages“ bezeichnet und als „Grundlage aller Konstituzionen Frankreichs seit 1791“ betrachtet, in: Der Geist der Gesetze von Montesquieu, deutsche Übersetzung von Adolf Ellissen, Bd. 1, Berlin 1851, 8; zur Rezeption Montesquieus durch liberale Autoren im 19. Jahrhundert: Herdmann, Montesquieurezeption (wie Anm. 7), 211 ff. 13 Zu solchen anachronistischen Sichtweisen vgl. z.B. Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin 21998, 481 ff.; ders., Klassikertexte im Verfassungsleben, Berlin, New York 1981.
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Zusammenhang mit dem positiven Gesetz (I.). Die Entstehung des positiven Rechts ist nach der Theorie Montesquieus durch eine Vielzahl von Determinanten beeinflußt, vor allem durch die Regierungsform und physische Faktoren wie das Klima. In gesetzgebungstheoretischer Perspektive setzen diese Determinanten gemeinsam mit dem jeweiligen „esprit général d’une nation“ dem Gesetzgeber einen so engen Rahmen, daß die „voluntas principis“, mithin der primäre Geltungsgrund der Gesetze nach der absolutistischen Theorie, eine erhebliche Relativierung erfährt (II.). Die Anwendung seiner rechts- und gesetzgebungstheoretischen Überlegungen auf die zeitgenössischen Herausforderungen, nämlich die vom absolutistisch ambitionierten Monarchen initiierten Rechtsreformen und die Gesetzesabfassung, zeigt die veränderungs- und reformfeindliche Haltung des auf die Bewahrung der feudalen Sonderrechte der intermediären Gewalten bedachten Autors (III.). Die Grundlage der rechts- und gesetzgebungstheoretischen Vorstellungen Montesquieus bildet das Idealbild einer durch starke Zwischengewalten gemäßigten französischen Monarchie, das eher am französischen Feudalstaat des Mittelalters denn – wie langläufig behauptet wird – am englischen Repräsentativmodell orientiert ist (IV.).14 Um das generelle, in einem abschließenden Fazit (V.) formulierte Ergebnis vorwegzunehmen: Montesquieu begriff den Prozeß der Rechts- und Gesetzesbildung zwar als rationales Produkt der natürlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes, gleichwohl enthalten seine Ideen zu Recht, Gesetz und Gesetzgebung einen antiabsolutistischen feudalen Kern, der sich insbesondere in der Ablehnung vereinheitlichender und erneuernder Gesetzgebung zeigt und damit gerade gegen das Streben des absolutistischen Herrschers nach unbeschränkter Gesetzgebungsgewalt gerichtet ist.
I. Der Gesetzesbegriff Montesquieus Im ersten Buch des De l’esprit des loix entwickelte Montesquieu ein Gesetzeskonzept, das die „loix en général“15 beschreibt. Montesquieu wird häufig – auch aufgrund dieses Konzepts – eine primär naturrechtliche Orientierung un-
Ähnlich: Ulrike Seif, Der missverstandene Montesquieu: Gewaltenbalance, nicht Gewaltentrennung, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 22 (2000), 149–166; Hans Schlosser, Montesquieu: der aristokratische Geist der Aufklärung, Berlin, New York 1990, 22 ff.; Thomas Chaimowicz, Freiheit und Gleichgewicht im Denken Montesquieus und Burkes. Ein analytischer Beitrag zur Geschichte der Lehre vom Staat im 18. Jahrhundert, Wien, New York 1985, 14 ff.; Ulrich Lange, Teilung und Trennung der Gewalten bei Montesquieu, in: Der Staat 19 (1980), 213–234, hier 226 ff. 15 So lautet auch der Titel des ersten Buches von De l’esprit des loix. 14
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terstellt16 oder gar als Naturrechtler bezeichnet.17 Sein Konzept diente ihm jedoch, wie gezeigt werden soll, lediglich einerseits der Standortbestimmung hinsichtlich der im 18. Jahrhundert diskutierten Gesetzesarten18 und andererseits der rational-wissenschaftlichen Begründung allein des positiven Rechts. Montesquieu beabsichtigte, die Gesetzmäßigkeiten der Entstehungsgründe und -bedingungen des positiven Rechts aufzuzeigen. Mehrere Schichten des „loi“-Begriffs Montesquieus sind zu unterscheiden: Neben der die „loix en général“ umschreibende ersten und weitesten Definition (1.) umfaßt der Gesetzesbegriff die „loix de la nature“, die naturrechtliche Normen bezeichnen (2.), und die „loix positives“, die die Gesamtheit der vom Menschen gemachten Rechtsordnung darstellen (3.). Letztere stehen im Zentrum der Darstellung und des Denkens Montesquieus (4.).
1. Die „loix en général“ Die „loix en géneral“ stellen nach Montesquieu „les rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses“19 dar. Dieser Gesetzesbegriff gilt für alle Wesen: für Gott, die materielle Welt, die Tiere und den Menschen.20 AusgangsSo Panajotis Kondylis, Montesquieu: Naturrecht und Gesetz, in: Der Staat 33 (1994), 351– 372, hier 356, der einen „primär naturrechtlich-ethisch eingestellten“ Montesquieu zu entdecken meint; vgl. auch Effi Böhlke, „Esprit de Nation“. Montesquieus politische Philosophie, Berlin 1999, 169 ff.; Mark H. Waddicor, Montesquieu and the Philosophy of Natural Law, The Hague 1970, 16 ff.; Hans Gustav Keller, Montesquieus „Esprit des Lois“. Eine methodologische Studie, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge 17 (1968), 33–63, hier 46. 17 Vgl. Rudolf Gmür, Grundriß der deutschen Rechtsgeschichte, 71996, Rn. 310, der Montesquieu unter Fortführung der von Hans Thieme vertretenen, heute überholten Unterscheidung zwischen einem „absoluten“ und „relativen“ Naturrecht (dazu Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, 188 ff.) als Vertreter eines „relativen Naturrechts“ ansieht; vgl. auch Kurt Becker-Marx, Der Naturrechtsgedanke bei Montesquieu, Mainz 1953, 29 ff. 18 Ebenso: Herdmann, Montesquieurezeption (wie Anm. 7), 54. 19 Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu, De l’esprit des loix, in: André Masson (Hg.), Oeuvres complètes de Montesquieu, Bd. 1, Paris 1950, 1. Buch, 1. Kapitel, 1 (im folgenden zitiert als EdL Buch Kapitel, Seite). Der rapport-Gedanke findet sich schon in Montesquieus Lettres persanes aus dem Jahre 1721: „La justice est un rapport de convenance, qui se trouve réellement entre deux choses“ (Lettres persanes, in: André Masson [Hg.], Oeuvres complètes de Montesquieu, Bd. 1, Paris 1950, Brief LXXXIII, 169 [im folgenden zitiert als: LP Brief, Seite]). – Zur möglichen Herkunft des rapport-Gedankens Montesquieus vgl. Keller, Studie (wie Anm. 16), 43 Anm. 39, der auf Jean Domat verweist. Anders: Jean Brethe de la Gressaye, La Philosophie du Droit de Montesquieu, in: Archives de philosophie du droit 7 (1962), 199–210, hier 203 Anm. 3, der Malebranche erwähnt. 20 Vgl. EdL I 1, 1. 16
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punkt der Definition ist die Festlegung eines solchen ersten „rapport“, nämlich denjenigen Gottes – als Schöpfer und Erhalter – zum Kosmos,21 gekennzeichnet durch den Begriff der „loix primitives“.22 Ursprung dieser Gesetze sei die „raison primitive“,23 die nicht dem Menschen, sondern Gott zugeordnet wird.24 Zu fragen ist, wie diese „loix primitives“ inhaltlich zu qualifizieren sind. Montesquieus Überlegung beginnt mit der Betrachtung des naturwissenschaftlich-physikalischen Vorgangs, der sich bei der Bewegung zweier Körper abspielt.25 Sein Ansatzpunkt bildet also die physische Welt, deren Regeln konstant gültig seien: „Ces règles sont un rapport constamment établi“.26 Die „loix primitives“ stellen daher zunächst nichts anderes als physikalisch-naturwissenschaftliche Gesetze dar, die auf Gott zurückzuführen und von ewigem Bestand sind. Dieser Gedanke bleibt allerdings nicht auf die physische Welt beschränkt, sondern wird von Montesquieu auf die Welt des Menschen übertragen. So besitze auch letztere ebenfalls ursprüngliche, ihrer Natur nach stets gültige Gesetze, die aber der Mensch als vernunftbegabtes Wesen nicht immer befolge: „Mais il s’en faut bien que le monde intelligent soit aussi bien gouverné que le monde physique. Car, quoique celui-là ait aussi des loix qui par leur nature sont invariables, il ne les suit pas constamment comme le monde physique suit les siennes [...] Ils [die Menschen] ne suivent donc pas constamment leurs loix primitives [...]“.27 Die „loix primitives“ der Menschen erörtert Montesquieu im zweiten Kapitel des ersten Buches als „loix de la nature“.28 Der „loi“-Begriff Montesquieus erfährt damit eine Erweiterung: Er enthält sowohl eine physikalisch-naturwissenschaftliche als auch eine naturrechtliche Komponente; beide unterscheiden sich zwar im Geltungsanspruch, beiden liegt aber der gleiche Ursprung, nämlich die „raison primitive“, zugrunde. Darüber hinaus umfaßt der „loi“-Begriff bei Montesquieu das positive normative Gesetz, das nicht auf kausaler Naturwirkung („loix primitives“), sondern auf der aphysischen Fähigkeit des Menschen beruht, aufgrund der ihm eiEdL I 1, 2: „Dieu a du rapport avec l’univers, comme créateur & comme conservateur“. EdL I 1, 3. 23 EdL I 1, 2. 24 Diese Zuordnung wird aus den unmittelbar folgenden Zeilen deutlich (EdL I 1, 2): „Dieu a du rapport avec l’univers, comme créateur & comme conservateur; les loix selon lesquelles il a créé sont celles selon lesquelles il conserve: il agit selon ces règles, parce qu’il les connoît; il les connoît parce qu’il les a faites; il les a faites, parce qu’elles ont du rapport avec sa sagesse & sa puissance“. 25 EdL I 1, 2. 26 Ebd. 27 EdL I 1, 3 f. Zwei Gründe nennt Montesquieu, die den Menschen zur Verletzung der „loix de la nature“ veranlassen: Zum einen seien sie durch ihre Natur dem Irrtum unterworfen, zum anderen „il est de leur nature qu’ils agissent par eux-mêmes“. 28 Dazu unten 2. 21 22
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genen Vernunft seinen Willen zu normieren.29 Diese Gesetze bezeichnet der Begriff der „loix positives“, denen Montesquieu sich im dritten Kapitel des ersten Buches widmet.30
2. Die „loix de la nature“ Die „loix de la nature“ ergeben sich nach Montesquieu allein aus dem Wesen des Menschseins.31 Ihre Erkenntnis setze die Betrachtung des Menschen vor seinem Eintritt in den Gesellschaftszustand, also im „état de nature“, voraus.32 Dieser sei durch vier Gesetze gekennzeichnet: nämlich Frieden,33 den Antrieb, auf Nahrungssuche zu gehen,34 den Wunsch nach geschlechtlicher Verbindung35 und den Wunsch nach Zusammenleben in Gesellschaftsform.36 Auffällig ist Montesquieus Ansicht, daß Frieden und der Wunsch nach Zusammenleben in Gesellschaftsform den Menschen im Naturzustand charakterisieren. Frieden stellt für Montesquieu ein natürliches Gesetz dar, weil der Mensch im Naturzustand lediglich nach Erhaltung seines Seins strebe. Infolgedessen verspüre jeder seine eigene Schwäche, „tout les fait trembler, tout les fait fuir“; daraus folge: „on ne chercheroit donc point à s’attaquer“.37 Diese Argumentation richtet sich ausdrücklich gegen Thomas Hobbes. Der englische Philosoph war davon ausgegangenen, daß das Leben des Menschen im status naturalis durch Kampf bestimmt sei, und hatte die Vergesellschaftung (status civilis) als notwendiges Instrument zur dauerhaften Herstellung des Friedens begriffen.38 Montesquieus Kritik setzte an der Ausgestaltung des Naturzustandes als Kriegszustand durch Hobbes ein: „Le désir que Hobbes donne d’abord aux hommes de se subjuguer les uns les autres, n’est pas raisonnable“.39 Montesquieu vertrat hingegen die Ansicht, der Kriegszustand entstehe
Vgl. EdL I 1, 4. Dazu unten 3. 31 EdL I 2, 5: „elles dérivent uniquement de la constitution de notre être“. 32 Ebd. 33 Ebd.: „la paix seroit la première loi naturelle“. 34 EdL I 2, 6: „une autre loi naturelle seroit celle qui lui inspireroit de chercher à se nourrir“. 35 Ebd.: „la prière naturelle qu’ils se font toujours l’un à l’autre“. 36 Ebd.: „le desir de vivre en société est une quatrième loi naturelle“ . 37 EdL I 2, 5. 38 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan. Sive de material, forma, et potestate civitatis ecclesiasticae et civilis, in: Gulielmi Molesworth (Hg.), Thomae Hobbes, Opera Philosophica, Bd. 3, London 1841 (Nachdruck Aalen 1966), 127 ff. 39 EdL I 2, 5. 29 30
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„en société“,40 denn erst durch die Vergesellschaftung finde der Mensch die „motifs pour s’attaquer & pour se défendre“.41
3. Die „loix positives“ Die Vergesellschaftung geht in Montesquieus Denken der Schaffung des positiven Rechts voran. Aussagen über den Vorgang der Entstehung der staatlich verfaßten Gesellschaft, also z.B. durch Vertrag, finden sich jedoch nicht.42 Im Gegenteil, Montesquieu hält den Menschen für das Leben in der Gesellschaft geschaffen: „L’homme n’a pas été fait pour vivre seul, mais pour être en société avec ses semblables“.43 Der Entstehungsgrund der „loix positives“ liegt daher bei Montesquieu in der vollzogenen Vergesellschaftung. Der noch im „état de nature“ bestehende Frieden, basierend auf einem allgemeinen Gefühl der Schwäche, schwinde, und ein Gefühl der Stärke wachse: „Si-tôt que les hommes sont en société, ils perdent le sentiment de leur foiblesse; l’égalité qui étoit entr’eux cesse, & l’état de guerre commence“.44 Diese Entwicklung münde sodann in zwei Arten von Kriegszuständen: Das Gefühl der Stärke erfasse die einzelnen Nationen, was einen Zustand des Krieges unter ihnen zur Konsequenz habe.45 Zudem treten innerhalb der Gesellschaften die Individuen im Verhältnis zueinander in den „état de guerre“ ein, denn „ils cherchent à tourner en leur faveur les principaux avantages de cette société“.46 Diese beiden Arten von Kriegszuständen veranlassen die Menschen zur Einführung von Gesetzen,47 von denen es drei Arten gebe: „Le droit des gens“ enthalte die zwischen den Völkern geltenden Normen.48 Innerhalb der Gesellschaft existierten zwei Arten der „loix positives“: „Le droit politique“ umfasse die Gesetze für die Regelung des Verhältnisses von Regierenden und Untertanen, und „le droit civil“ ziele auf die Normierung der Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen Bürgern.49 Dazu ausführlich sogleich unter 3. EdL I 2, 6. 42 Darauf weist auch hin: Claus-Peter Clostermeyer, Zwei Gesichter der Aufklärung. Spannungslagen in Montesquieus ‘Esprit des Lois’, Berlin 1983, 197. 43 Montesquieu, Essai touchant les loix naturelles et la distinction du juste et de l’injuste, in: André Masson, Oeuvres complètes de Montesquieu, Bd. 3, Paris 1955, 195. 44 EdL I 3, 7. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd.: „Ces deux sortes d’états de guerre font établir les loix parmi les hommes“. 48 Ebd.: „le droit des gens“ regelt das Kriegsrecht und den Friedensschluß der Nationen untereinander. 49 Ebd. 40 41
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Die Funktion des positiven Rechts liegt bei Montesquieu daher in der Rückführung des Menschen zu den „loix primitives“ und damit in der Beseitigung des nach der Gesellschaftsgründung entstandenen Kriegszustandes: „Fait pour vivre dans la société, il y pouvoit oublier les autres; les législateurs l’ont rendu à ses devoirs par les loix politiques & civiles“.50 Ursprung der „loix positives“ soll nach Montesquieu die menschliche Vernunft („la raison humaine“) sein, denn „les loix politiques & civiles de chaque nation ne doivent être que les cas particuliers où s’applique cette raison humaine“.51 Das bedeutet aber wiederum, daß jedes einzelne Volk seine eigentümlichen Gesetze hat, denn die Gesetze „doivent être tellement propres au peuple pour lequel elles sont faites, que c’est un très-grand hazard si celles d’une nation peuvent convenir à une autre“.52 Folglich müssen sie auf die jeweilige Regierungsform bezogen sein,53 sie müssen mit der physischen Beschaffenheit des Landes (z.B. Klima,54 Bodenbeschaffenheit,55 Lage und Größe des Landes) übereinstimmen, und sie müssen unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur des in Frage stehenden Landes (z.B. Handel,56 Sitten und Gebräuche57) erlassen werden. Die Summe dieser Bezüge eines Gesetzes („les rapports“) macht nach Montesquieu dann den „esprit des loix“ aus.58 Nur diese Bezüge des positiven Rechts beabsichtigte Montesquieu in seinem De l’esprit des loix zu untersuchen.59
4. Die Bedeutung des positiven Rechts Montesquieus Konzeption des „loi“-Begriffs umfaßte also alle bekannten Gesetzesarten, obwohl seine Untersuchungen im De l’esprit des loix vor allem dem positiven Recht gewidmet sind. Zu fragen ist dann aber, welche Bedeutung und Funktionen Montesquieu den im ersten Buch des De l’esprit des loix erörterten verschiedenen Arten des Rechts im allgemeinen und dem positiven Recht im besonderen zumißt.
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EdL I 1, 4. EdL I 3, 8. EdL I 3, 8 f. EdL II–VII, 11 ff. EdL XIV–XVII, 305 ff. EdL XVIII, 378 ff. EdL XX, 445 ff. EdL XIX, 410 ff. EdL I 3, 9. Ebd.
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Zunächst stellt sich das Problem, in welchem Verhältnis die beiden Arten der „loix primitives“, also physikalische Naturgesetze und naturrechtliche Normen einerseits und das positive Recht andererseits, zueinander stehen. Vordergründig erscheinen sie wegen ihrer unterschiedlichen Zuordnung, nämlich zur „raison primitive“ bzw. zur „raison humaine“, als Gegenbegriffe. Zwischen den Naturgesetzen und den „loix positives“ besteht bei Montesquieu jedoch ein tieferer Zusammenhang, der durch die weiteste und für beide gültige60 Definition der Gesetze als „les rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses“ beschrieben wird. Daher ist des weiteren nach Montesquieus Verständnis der Definitionselemente „rapports necéssaires“ und „nature des choses“ zu fragen. Seinem Denkmodell liegt die inhaltliche Beschreibung der „loix primitives“61 mittels der Analyse des physikalischen Vorgangs, der sich bei der Bewegung zweier Körper abspielt, zugrunde. Er kommt zu der Erkenntnis, daß für das Zustandekommen eines solchen Vorgangs zwei Elemente konstitutiv sind: zum einen die natürliche Beschaffenheit der konkret in Frage stehenden Körper selbst (hier: Masse und Dichte)62 – gemeint ist die „nature des choses“ –, zum anderen die Existenz von Gesetzen, die stets konstant bleiben.63 Die Gesetzmäßigkeit, die unveränderlich den Naturvorgängen zugrunde liegt, ist daher das, was Montesquieu zunächst „rapport“ nennt.64 Montesquieus Vorhaben ist jedoch auf die Untersuchung der Bezüge („rapports“) des positiven Rechts zu einer Vielzahl von Faktoren gerichtet: Er beabsichtigte, die Gesetzmäßigkeit der Rechtsbildung hinsichtlich des positiven Rechts nachzuweisen. Montesquieus Untersuchungsziel bestand insbesondere in der Beantwortung der Frage, wie das positive Recht in verschiedenen Ländern voneinander abweichen und dennoch Anspruch auf Gesetzmäßigkeit erheben könne. Diesen scheinbaren Widerspruch löste Montesquieu mit dem Konstrukt des „esprit des loix“ auf.65 Die Gesetzmäßigkeit liegt gerade in der Verschiedenheit der Gesetze: Diese sei die Folge davon, daß überall der „esprit des loix“ anders ausgeprägt ist. Die Gesetze sind damit regional unterschiedSiehe oben unter 1; darauf weisen ebenfalls hin: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, Berlin 1958, 33; Fritz Schalk, Montesquieu und die europäische Tradition, in: ders., Studien zur französischen Aufklärung, Frankfurt am Main 1977, 230–252, hier 232. 61 Siehe oben unter 1. 62 EdL I 1, 2. 63 Ebd. 64 Vgl. Becker-Marx, Der Naturrechtsgedanke (wie Anm. 17), 47; Adelheid Eiselin, Die Grundgedanken Montesquieus zu Staat und Gesetz, Köln 1964, 161. 65 So auch Kurt Weigand in der Einleitung zur deutschen Übersetzung des De l`esprit des loix, Stuttgart 1994, 25. 60
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lich, die Prinzipien der Rechtsbildung sind jedoch überall die gleichen, denn für Montesquieu gilt: „chaque diversité est uniformité, chaque changement est constance“.66 Montesquieu beabsichtigte folglich, die Gesetzmäßigkeit (Prinzipien) der Rechtsbildung, also des positiven Rechts, rational aufzuzeigen.67 Von diesem Standpunkt aus erklärt sich auch das Verständnis des Studiums der Jurisprudenz als Suche nach diesen variablen Bezüge des positiven Rechts: „Étudier la jurisprudence, c’est chercher ces rapports. Les loix suivent ces rapports, &, comme ils varient sans cesse, elles se modifient continuellement“.68 Das erste Buch des De l’esprit des loix enthält daher lediglich eine Standortbestimmung hinsichtlich der diskutierten Gesetzesarten. Montesquieu stellte den naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff in einen engen Zusammenhang mit dem positiven Gesetz des weltlichen Gesetzgebers,69 um die Gesetzmäßigkeit der Rechtsbildung zu betonen. Im Gegensatz zu den Naturrechtlern, die abstrakt nach der Stellung, den Rechten und Pflichten des Menschen fragten und deren Werke sich übrigens in großer Zahl in Montesquieus Bibliothek befanden,70 ging es Montesquieu vor allem um die Untersuchung der Grundlagen des positiven Rechts.71 Nicht nur setzte er die staatliche Gesellschaft als gegeben voraus72 – daher finden sich auch keine Ausführungen über die Staatsgründung73 –, vielmehr spottete er sogar über die Versuche vieler Naturrechtler, den Ursprung der Gesellschaft zu erforschen: „Je n’ai jamais oui parler du droit public, qu’on n’ait commencé par rechercher soigneusement quelle est l’origine des sociétés; ce
EdL I 1, 2. Im Ergebnis ebenso: Günter Köchling, Gesetz und Recht bei Montesquieu, Kiel 1975, 25; Weigand, Einleitung (wie Anm. 65), 23 ff. 68 Montesquieu, Composition des lois (Rejets de l’esprit des lois conservés dans les Dossiers de la Brède), in: André Masson (Hg.), Oeuvres complètes de Montesquieu, Bd. 3, Paris 1955, 631. 69 Vgl. Gustav Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: Gustaf C. Hernmarck (Hg.), Festschrift für Rudolf Laun, Hamburg 1948, 157–176, hier 168; vgl. zur Auswirkung des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffs auf den positiven Gesetzesbegriff ab dem 17. Jahrhundert: Rolf Grawert, Artikel „Gesetz“, in: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, 863–922, hier 894 ff. 70 Vgl. Louis Desgraves, Catherine Volpilhac-Auger, Catalogue de la bibliothèque de Montesquieu à La Brède, Neapel u.a. 1999: unter anderen Werke von Domat, Pufendorf und Grotius. 71 Dies betonen auch, wenngleich unterschiedlich intensiv: Sten Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Stockholm u.a. 1960, 81 f.; Dilcher, Gesetzgebungswissenschaft (wie Anm. 4), 3 ff. 72 Anderer Ansicht trotz eindeutiger Quellenlage: Waddicor, Montesquieu (wie Anm. 16), 76 ff. 73 Siehe oben unter 3. 66 67
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qui me paroît ridicule“.74 Montesquieu also analysierte die Normen, die die staatlich verfaßte Gesellschaft und ihr Alltagsleben organisieren, und bemühte sich um die rationale, wissenschaftlich fundierte Auffindung der Prinzipien der menschlichen Normgebung.75 Auf den ersten Blick diente diese rationale Vorgehensweise der Verwirklichung eines aufklärerischen Anspruchs: „Le peuple soit éclairé“.76
II. Rechtsbildung und Gesetzgebung Montesquieu untersucht also – wie gezeigt – die Bezüge des positiven Rechts zu einer Vielzahl von Faktoren. Deren Bedeutung für die Rechtsbildung soll an zwei ausgewählten Beispielen dargestellt werden: dem Einfluß der Regierungsform speziell auf die Zivilgesetze77 (1.) und, als Beispiel für physische Determinanten, dem Klima (2.). Danach ist zu fragen, wie sich diese Determinanten auf die menschliche Normgebung und den Nationalgeist des jeweiligen Volkes auswirken (3.). Aus der dargestellten Rechtsentstehungstheorie ergeben sich Schlußfolgerungen für Montesquieus gesetzgebungstheoretische Überlegungen (4.).
LP XCIV, 187. Er fährt fort: „Si les hommes n’en formoient point, s’ils se quittoient & se fuyoient les uns les autres, il faudroit en demander la raison, & chercher pourquoi ils se tiennent séparés: mais ils naissent tous liés les uns aux autres; un fils est né auprès de son père, & il s’y tient: voilà la société, & la cause de la société“. 75 Insofern sind die verbreiteten Versuche, Montesquieu – in welcher Weise auch immer – als Naturrechtler zu qualifizieren (vgl. Anm. 16, 17), unzutreffend; vgl. dazu auch Radbruch, Die Natur der Sache (wie Anm. 69), 168 f. Dies bedeutet allerdings nicht, daß Montesquieu ein Gegner des Naturrechts war; auch er untersuchte, wenngleich nur sehr bruchstückhaft (vgl. Brèthe de la Gressaye, La Philosophie du Droit [wie Anm. 19], 205 ff.), die Bezüge des positiven Rechts zum Naturrecht: So begründet er naturrechtlich die Ehe und die Notwendigkeit, die Kinder zu ernähren (vgl. EdL XXIII 10, 49 bzw. XXIII 2, 43 f.), ebenso wie die väterliche Gewalt (EdL VI 20, 125). Das Erbrecht ist dagegen bei Montesquieu schon nicht mehr Sache des Naturrechts: „La loi naturelle ordonne aux pères de nourrir leurs enfants; mais elle n’oblige pas de les faire héritiers“. Das zu regeln sei Sache der „loix politiques ou civiles“. Das gleiche gelte für die Thronfolge: Die Erbmonarchie ist also nicht durch das Naturrecht, sondern nur durch das positive Recht abgesichert (EdL XXVI 6, 132 ff.). 76 EdL Préface, S lx. 77 Montesquieu untersuchte freilich die menschliche Normgebung im weitesten Sinne, d.h. er erörtert die Wirkung aphysischer und physischer Determinanten auch z.B. auf Erziehungsrichtlinien (vgl. EdL IV, 39 ff.), Gesetzmäßigkeiten des Luxus (EdL VII, 128 ff.) oder des Sexualverhaltens (EdL XXIII 16, 54 f.). 74
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1. Der Bezug der Gesetze zur Regierungsform Den Bezügen des positiven Rechts zu der jeweiligen Regierungsform räumte Montesquieu größte Bedeutung ein: „J’examinerai [...] les rapports que les loix ont avec la nature & avec le principe de chaque gouvernement: &, comme ce principe a sur les lois une suprême influence, je m’attacherai à le bien connoître“.78 Daher stellte er neben die überlieferte Analyse des Wesens der Regierungsformen eine Erörterung von deren jeweiligen Antriebskräften und leitete daraus in einem zweiten Schritt bestimmte Strukturprinzipien im Zivilrecht – ebenso im Strafrecht – ab. Zunächst differenzierte Montesquieu zwischen der Natur der Regierung und ihrem jeweiligen Antriebsprinzip.79 Während erstere die Struktur der jeweiligen Regierungsform beschreibe, bestimme letzteres deren Handeln: „Il y a cette différence entre la nature du gouvernement & son principe, que sa nature est ce qui le fait être tel; & son principe, ce qui le fait agir“.80 Die Begriffe für die einzelnen Regierungsformen übernahm Montesquieu nahezu unverändert aus dem Bestand der Tradition des politischen Denkens:81 Auch er unterschied zwischen Monarchie, Republik, Demokratie, Aristokratie und Despotie. Die Monarchie definierte er als Herrschaft eines Einzelnen nach festliegenden und anerkannten Gesetzen: „Le monarchique, celui où un seul gouverne, mais par des loix fixes & établies“.82 Wenngleich der Fürst die „source de tout pouvoir politique et civil“ darstellte, werde die Struktur dieser Regierungsform aber durch abhängige und untergeordnete „pouvoirs intermédiaires“ bestimmt, deren natürlichste der Adel sei83 und die als „canaux moyens par où coule la puissance“ fungieren. Der Monarchie stellte Montesquieu die Despotie als regellose Willkürherrschaft gegenüber, in der „un seul, sans loi & sans règle, entraîne tout par sa volonté & par ses caprices“.84 In der Demokratie übe dagegen das Volk als Ganzes die Staatsgewalt aus,85 während in der Aristokratie deren Träger nur ein Teil des Volkes sei.86 EdL I 3, 9; das wird zudem noch an der Behandlung gleich am Anfang von De l’esprit des loix deutlich (Bücher II ff.). 79 Vgl. EdL II, 10 ff. bzw. III, 25 ff. 80 EdL III 1, 25. 81 Vgl. Hans Maier, Montesquieu und die Tradition, in: Franz Wiedmann (Hg.), Epimeleia. Die Sorge der Philosophie um den Menschen, München 1964, 267–282, hier 275. 82 EdL II 1, 10. 83 EdL II 4, 20 ff.; zu den „lois fondamentales“ in der Monarchie vgl. unten IV. 84 EdL II 1, 10. 85 EdL II 2, 11: „Lorsque, dans la république, le peuple en corps a la souveraine puissance, c’est une démocratie“. 86 Ebd.: „Lorsque la souveraine puissance est entre les mains d’une partie du peuple, cela s’appelle une aristocratie“. 78
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Den einzelnen Regierungsformen ordnete Montesquieu verschiedene Antriebskräfte zu, die deren Bestand gewährleisten.87 Das Prinzip der Republik stelle die „vertu“ dar.88 In der Demokratie sei es die Liebe zur Gleichheit aller Bürger.89 In der aristokratischen Regierungsform bezieht er die „vertu“ demgegenüber auf den Adel und versteht sie im Sinne von Selbstzucht und Mäßigung der Herrschenden.90 Die monarchische Regierungsform sei geprägt durch das Prinzip der „honneur“, die Standesbewußtsein, Rangunterschiede und insbesondere die Existenz des Adels voraussetze und ein Streben nach Beförderung und Auszeichnung bewirke.91 Das Prinzip der Despotie sei hingegen die Furcht („la crainte“).92 Den einzelnen Regierungsformen und den ihnen zugeordneten Prinzipien schrieb Montesquieu maßgeblichen Einfluß auf die Ausgestaltung der jeweiligen Rechtsordnung zu: „les loix que le législateur donne doivent être relatives au principe du gouvernement“.93 In der Demokratie müsse mit Hilfe der Gesetze Gleichheit eingeführt und aufrechterhalten werden.94 Hierfür sei Voraussetzung, daß bei der Staatsgründung der Boden in gleiche Teile aufgeteilt wird. Gleichwohl sah Montesquieu die bloße Bodenaufteilung nicht als ausreichend an. Vielmehr bestehe die Aufgabe der Gesetzgebung darin, die Gleichheit unter den Bürgern zu bewahren: „Si, lorsque le législateur fait un pareil partage, il ne donne pas des loix pour le maintenir, il ne fait qu’une constitution passagère; l’inégalité entrera par le côté que les loix n’auront pas défendu, & la république sera perdue“.95 Daher müsse jede private Verfügung über das Eigentum an Boden in der Demokratie reglementiert sein. Der zivilrechtlichen Regelung sollen „les dots des femmes, les donations, les successions, les testaments, [...] toutes les manières de contracter“ unterworfen sein.96 Montesquieu erwähnte in diesem Zusammenhang auch das Familienerbrecht und das Verbot der Doppelerbschaft.97 Die bloße Gleichheit der Bodenanteile genüge allerdings nicht; Montesquieu hält in der Demokratie vielmehr auch die Gleichheit der Vermögen für notwendig.98 Dies gelte um so mehr für Republiken, in denen ein reger Handel zu großen partiellen Vermögensanhäufungen führe: Diese Handelsre87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98
EdL III 1, 25. EdL III 3 f., 26 ff. EdL III 3, 26 ff.; V 3, 55 f. EdL III 4, 29 f.; V 8, 67 ff. EdL III 6 f., 33 f. EdL III 9, 35 f. So der Titel des V. Buches des EdL. EdL V 5, 58 ff. EdL V 5, 58. Ebd. Ebd. Vgl. EdL V 6, 63.
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publiken bedürften zwar der Gesetze, die den Handelsgeist begünstigten und dennoch die Vermögen in dem Maße zersplitterten, in dem der Handel sie vergrößere.99 Zur Erreichung dieses Zwecks diene ein – von Montesquieu beschriebenes – Gesetz, das den Nachkommen gleiche Anteile am Erbe gewährt.100 Die Funktion des Zivilrechts in der Demokratie liegt nach Montesquieu also vor allem in der Aufrechterhaltung der Gleichheit der bürgerlichen Vermögen. In den aristokratischen Staaten dagegen diagnostizierte Montesquieu zwei andere Hauptprobleme, namentlich eine zu große Ungleichheit zwischen Regierenden und Regierten bzw. unter den Regierenden selbst, die es durch die Zivilgesetzgebung zu bekämpfen gelte: „Il y a deux sources principales de désordres [...]: l’inégalité extrême entre ceux qui gouvernent & ceux qui sont gouvernés; & la même inégalité entre les différents membres du corps qui gouverne“.101 In der Aristrokratie liegt daher nach Montesquieu die Funktion der zivilrechtlichen Gesetzgebung in der Beschränkung des Reichtums des Adels: „Les loix doivent ôter le droit d’aînesse entre les nobles; afin que, par le partage continuel des successions, les fortunes se remettent toujours dans l’égalité. Il ne faut point de substitutions, de retraits lignagers, de majorats, d’adoptions“.102 In der Monarchie definierte er die Aufgabe des Zivilrechts hingegen in dem Schutz des Adels: „Il faut qu’elles [die Gesetze] y travaillent à soutenir cette noblesse“.103 Nur so könne die Funktion des Adels als „le lien“ zwischen König und Volk gewährleistet sein. Dazu sei vor allem eine überkommene Privilegien und feudale Rechte bewahrende Zivilgesetzgebung erforderlich, die insbesondere folgende gesetzliche Regelungen enthalten müsse: „Les substitutions, qui conservent les biens dans les familles“; „le retrait lignager“, das Adelsfamilien den Rückerwerb der Ländereien ermögliche, die ein Anverwandter veräußert habe; und im allgemeinen die Absicherung der „prérogatives attachées à des fiefs“.104 Die Unterschiede im Stand, Abstammung und Stellung bedingten in der Monarchie daher relativ komplizierte Zivilgesetze: „La différence de rang, d’origine, de condition; qui est établie dans le gouvernement monarchique, entraîne souvent des distinctions dans la nature des biens; [...] Ainsi, parmi nous, les biens sont propres, acquêts, ou conquêts; dotaux, paraphernaux; paternels, & maternels; meubles de plusieurs espèces; libres, substitués; du lignage, ou non; nobles, en franc-aleu, ou roturiers; rentes foncières, ou constituées à prix 99 100 101 102 103 104
Ebd. Ebd. EdL V 8, 68. EdL V 8, 72. EdL V 9, 73. Zum Ganzen: EdL V 9, 73 f.
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d’argent. Chaque sorte de biens est soumise à des règles particulières; il faut les suivre, pour en disposer: ce qui ôte encore de la simplicité“.105 Die Despotien erforderten im Gegensatz dazu nur eine geringe Zahl an Gesetzen. Eigentum könne nur der Fürst besitzen; Gelegenheit zum Streit gebe es nicht. Einfache und wenige Zivilgesetze seien die Folge: „Il suit, de ce que les terres appartiennent au prince, qu’il n’y a presque point de loix civiles sur la propriété des terres. Il suit, du droit que le souverain a de succéder, qu’il n’y en a pas non plus sur les successions. Le négoce exclusif qu’il fait, dans quelques pays, rend inutiles toutes sortes de loix sur le commerce“.106
2. Physische Bezüge Umfangreiche Aussagen enthält Montesquieus De l’esprit des loix zu Umwelteinflüssen auf die Rechtsbildung.107 Vor allem dem Einfluß des Klimas auf das positive Recht wird breiter Raum gewidmet.108 Den Einfluß des Klimas auf die menschliche Physis und Psyche erklärte Montesquieu mittels physikalischer Eigenschaften des menschlichen Körpers: Kühle Temperaturen zögen einerseits das Gewebe zusammen, was die Spannkraft vermehre und den Kreislauf anrege, andererseits schrumpften die Nerven durch die Kälte und würden dadurch weniger aufnahmebereit. Er ordnete aufgrund dieser Wirkungen des Klimas den Bewohnern kühler Klimazonen Kraft, Selbstvertrauen, Mut, Schmerzunempfindlichkeit und Tugend, den Einwohnern wärmerer Gegenden Rachsucht, Argwohn, Verschlagenheit, Feigheit, Leidenschaftlichkeit, Kraftlosigkeit und Faulheit zu.109 Freilich ging die Theorie vom Einfluß des Klimas auf den Volkscharakter und die Verfassung eines Gemeinwesens keineswegs auf Montesquieu zurück.110 Er bezog jedoch die klimatisch EdL VI 1, 97. EdL VI 1, 98. 107 Vgl. vor allem die Bücher XIV bis XIX des De l’esprit des loix. 108 Davon handeln nämlich das XIV.–XVII. Buch des De l’esprit des loix. – Zur Entwicklung der Klimatheorie in Montesquieus Gesamtwerk: Robert Shackleton, The Evolution of Montesquieu’s Theory of Climate, in: Revue Internationale de Philosophie 9 (1955), 317–327. 109 Vgl. dazu: EdL XIV 2, 305 ff. 110 Vgl. Mohnhaupt, Montesquieu und die legislatorische Milieu-Theorie (wie Anm. 7), 180 ff.; Jan Schröder, Zur Vorgeschichte der Volksgeistlehre. Gesetzgebungs- und Rechtsquellentheorie im 17. und 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 109 (1992), 1–47, hier 2 ff.: Bereits Aristoteles hatte in seiner Politik das Klima als Erklärungsprinzip für die unterschiedlichen Freiheitsgrade der Völker und ihre staatliche Organisation angewandt. Von diesem war wohl gerade Montesquieu beeinflußt (so zumindest: Gagnér, Studien [wie Anm. 71], 82). In der frühen Neuzeit entwickelte Jean Bodin in seinen Les six livres de la republique (1576) eine Klimalehre, deren Ausgangspunkt die Feststellung von Eigen105 106
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bedingte Verschiedenheit der physischen und psychischen Beschaffenheit des Menschen dezidiert auf das positive Recht:111 „S’il est vrai que le caractère de l’esprit & les passions du coeur soient extrêmement différentes dans les divers climats, les loix doivent être relatives & à la différence de ces passions, & à la différence de ces caractères“.112 Montesquieu behauptete vor allem einen engen Zusammenhang zwischen der Sklaverei, der politischen Freiheit und den natürlichen Gegebenheiten eines Landes. Das Recht der Sklaverei sei, so betont er, weder aus dem Naturrecht noch aus privatrechtlichen Normen abzuleiten: „L’esclavage est d’ailleurs aussi opposé au droit civil qu’au droit naturel“.113 Vielmehr liege „la vraie origine du droit de l’esclavage“ begründet in der „nature des choses“.114 Er führte das Recht der Sklaverei auf eine klimatisch bedingte und damit vernünftige Notwendigkeit zurück: „Il y a des pays où la chaleur énerve le corps, & affoiblit si fort le courage, que les hommes ne sont portés à un devoir pénible que par la crainte du châtiment: l’esclavage y choque donc moins la raison“.115 Gleichwohl, das sei an dieser Stelle hervorgehoben, hielt Montesquieu die Sklaverei für naturrechtswidrig und lehnte sie ab. Dennoch sah er – im Sinne seiner Ausgangsabsicht, die Determinanten der Rechtsbildung darzustellen – das existierende Recht der Sklaverei als Resultat der natürlichen, hier klimatischen Verhältnisse eines Landes an. Deutlich wird dies vor allem an folgender resümierender Aussage Montesquieus über die Sklaverei: „Mais, comme tous les hommes naissent égaux, il faut dire que l’esclavage est contre la nature, quoique, dans certains pays, il soit fondé sur une raison naturelle; & il faut bien distinguer ces pays d’avec ceux où les raisons naturelles même les rejettent, comme les pays d’Europe où il a été si heureusement aboli“.116 heiten der einzelnen Staaten war (vgl. Jean Bodin, Les six livres de la république, 6 Bände, Bd. 5, 1583 [Nachdruck Fayard 1986], 5. Buch, 1. Kapitel, 7 ff.). So wurde es wohl gerade unter dem Einfluß Bodins üblich, eine gewisse Abhängigkeit des Rechts von der Volksnatur und dem Klima zu behaupten. Dies läßt sich als gesamteuropäisches Phänomen nachweisen, vgl. Gonthier-Louis Fink, Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive, in: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744–1803, Hamburg 1987, 156–176; über die große Verbreitung von Klimatheorien während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts speziell in Frankreich: Roger Mercier, La théorie des climats des „Réflexions critiques“ à „L’Esprit des Lois“, in: Revue d’histoire littéraire de la France 53 (1953), 17–37, 159–174. 111 Ebenso: Fink (wie Anm. 110), 162. 112 EdL XIV 1, 305. 113 EdL XV 2, 328. 114 Vgl. EdL XV 6, 331. Hier wird wieder der schon im ersten Teil dieser Untersuchung erwiesene Gegensatz zwischen Naturrecht und Montesquieus „nature des choses“ deutlich; unzutreffend hier Clostermeyer, Zwei Gesichter (wie Anm. 42), 200, der Montesquieu eine naturrechtliche Begründung der Sklaverei unterstellt. 115 EdL XV 7, 332. 116 Ebd.
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Ebenso erklärte Montesquieu die freiheitliche Ordnung eines Gemeinwesens als Ergebnis der klimatischen Bedingungen der in Frage stehenden Regionen. Freiheit sei in nördlichen Ländern beheimatet, Knechtschaft am Äquator: „Il ne faut donc pas être étonné que la lâcheté des peuples des climats chauds les ait presque toujours rendus esclaves, & que le courage des peuples des climats froids les ait maintenus libres. C’est un effet qui dérive de sa cause naturelle. Ceci s’est encore trouvé vrai dans l’Amérique; les empires despotiques du Mexique & du Pérou étoient vers la ligne, & presque tous les petits peuples libres étoient & sont encore vers les pôles“.117
3. Auswirkungen auf den „esprit général d’une nation“ und den Gesetzgeber Die bisherigen Ausführungen hatten den Einfluß aphysischer und physischer Determinanten auf die Rechtsbildung zum Gegenstand. Zu untersuchen bleibt jedoch noch deren Bedeutung für den jeweiligen „esprit général d’une nation“ und die Rolle des Gesetzgebers. Die erörterten Faktoren sind nicht nur – wie gesehen – wesentliche Parameter der Rechtsbildung, sondern auch konstituierende Elemente für den jeweiligen „esprit général d’un nation“.118 So stellte Montesquieu fest: „Plusieurs choses gouvernent les hommes, le climat, la religion, les loix, les maximes du gouvernement, les exemples des choses passées, les moeurs, les manières, d’où il se forme un esprit général qui en résulte“.119 Zudem stünden die verschiedenen Komponenten auch in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander; je mehr einer dieser Faktoren wirke, desto mehr träten die anderen in den Hintergrund: „La nature & le climat dominent presque seuls sur les sauvages; [...] les maximes du gouvernement & les moeurs anciennes le donnoient dans Rome“.120 Demnach findet sich auch in Montesquieus Begriff des Nationalgeists die Trennung zwischen aphysischen und physischen Determinanten. Dabei traf er aber keine Entscheidung über ein notwendiges Vorherrschen einer der beiden. Obwohl er durchaus eine Rangfolge des Einflusses annahm,121 betonte er nämlich die Möglichkeit des Menschen und insbesondere des Gesetzgebers, sich den physischen Einflüssen entgegenzustellen.122 EdL XVII 2, 369. Vgl. die Überschrift des V. Kapitels des XIX. Buches des EdL. 119 EdL XIX 4, 412. 120 Ebd. 121 EdL XIX 14, 421: „L’empire du climat est le premier de tous les empires“. 122 So zu Recht: Böhlke, „Esprit de nation“ (wie Anm. 16), 78 ff.; Clostermeyer, Zwei Gesichter (wie Anm. 42), 141; Fink, Klimatheorie (wie Anm. 110), 161 f.; Kondylis, Naturrecht und Ge117 118
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Montesquieu unterschied dabei gute und schlechte Gesetzgeber und wies darauf hin, die Rolle des Gesetzgebers werde um so wichtiger, je ungünstiger das Klima sei.123 Als Gegenbeispiel führt er die nordeuropäischen Völker an, die nach seiner Auffassung fast ohne Gesetze lebten, Erziehung und Kunst nicht kannten und gleichwohl aufgrund ihres – klimatisch bedingten – „bon sens“ sich erfolgreich der Römer erwehren konnten.124 Neben der Möglichkeit, die Natur zu gestalten, betonte Montesquieu aber auch die Rückwirkung dieser gestalteten Natur auf die menschlichen Verhältnisse: „Les hommes, par leurs soins & par de bonnes loix, ont rendu la terre plus propre à être leur demeure“.125 So führe das Klima Chinas eher zum Despotismus, die gemeinsame Anstrengung zur Errichtung und zum Unterhalt von Deichanlagen und Kanälen habe jedoch in einigen Provinzen eine gemäßigte Regierung hervorgebracht.126 Montesquieu hob zudem hervor, daß eine freiheitliche Ordnung des Gemeinwesens den Menschen nicht ohne weiteres anheimfalle. Die meisten Völker seien trotz ihrer Liebe zur Freiheit dem Despotismus unterworfen, denn durch Zufall entstehe eine gemäßigte Regierung selten; sie sei vielmehr ein „chef-d’oeuvre de législation“.127 Dieses Gesetzgebungswerk bilde eine Einheit mit allen seinen Bezugsgrößen,128 also sowohl mit den aphysischen und physischen Einflußfaktoren als auch mit dem „esprit général d’un nation“. Die Auffassung Montesquieus hat vor allem zwei Konsequenzen: Zum einen sind Gesetze nur schwer von einem Volk auf das andere zu übertragen. Montesquieu weist daher in vielen Werkabschnitten auf die Schwierigkeiten beim Vergleich von Gesetzen verschiedener Völker hin: So haben z.B. Gesetze, die sich zu gleichen scheinen, bei verschiedenen Völkern ganz unterschiedliche Wirkungen; vermeintlich gleiche Gesetze verfolgten oft ganz verschiedene Ziele, unterschiedliche Gesetze dagegen manchmal identische Ziele.129 Letztlich gilt der von Montesquieu einleitend im De l’esprit des loix formulierte Grundsatz: „Elles [die loix positives] doivent être tellement propres au peuple pour lequel elles sont faites, que c’est un très-grand hazard si celles d’une nation peuvent convenir à une autre“.130 Zum zweiten erlaubt diese Erkenntnis Monsetz (wie Anm. 16), 360. Dies übersieht Pierre Gourou, Le déterminisme physique dans „l’Esprit des lois“, in: L’Homme. Revue française d’anthropologie 3 (Sept.–Dez. 1963), 5–11, der einen physischen Determinismus annimmt. 123 EdL XIV 3 u. 5, 310 ff. 124 Ebd. 125 EdL XVIII 7, 383. 126 EdL XVIII 6, 382 f. 127 EdL V 14, 84. 128 Vgl. auch Clostermeyer, Zwei Gesichter (wie Anm. 42), 142. 129 Vgl. EdL XXIX 6 ff., 272 ff. 130 EdL I 3, 8 f.
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tesquieu, mehrmals den Gesetzgeber davor zu warnen, den „esprit de la nation“ zu ändern.131 Vielmehr richtete er die Forderung an den Gesetzgeber, bei seiner Tätigkeit den Nationalgeist stets zu beachten: „C’est au législateur à suivre l’esprit de la nation“.132
4. Die Auswirkungen der rechtstheoretischen Überlegungen Montesquieus auf die Gesetzgebung Mit seinen Vorstellungen zu Recht, Gesetz und Gesetzgebung bejahte Montesquieu nicht einfach das vorgefundene, historisch gewordene positive Recht, sondern begründete dessen Normen rational als notwendiges Resultat aus der Natur der Dinge. Montesquieu erkannte bestimmte Determinanten der Gesetze an, die sich nach Zeit und Ort verändern, unterschiedliche Wirkungsgrade entfalten können und das Handeln des Gesetzgebers bei gleichzeitiger Belassung eines Gestaltungsspielraumes bestimmen.133 Montesquieus Rechtsbildungsmodell bildete auf den ersten Blick den theoretischen Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Wissenschaft der Gesetzgebung. Für eine solche Sicht spricht, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ganz Europa im Zuge der Kodifikationsbewegung auch und gerade unter dem Eindruck von Montesquieus Oeuvre zahlreiche Werke entstanden, die sich mit Gesetzen und Gesetzgebung eingehend beschäftigen.134 So erschienen unter anderem in Deutschland 1761 Johann Heumann von Teutschenbrunns Der Geist der Gesetze der Teutschen,135 in Italien Gaetano Filangieris mehrbändige La Scienza della legislazione136 und auch in Frankreich beherrschte eine Vielzahl von Beiträgen zu Fragen der Gesetzgebung die zweite
EdL XIX 5 ff., 413 ff. EdL XIX 5, 413; Montesquieu begründet diese Forderung wie folgt: „car nous ne faisons rien de mieux que ce que nous faisons librement, & en suivant notre génie naturel“. 133 Der Gesetzgeber ist in Montesquieus Rechtstheorie nicht entmündigt: vgl. Mohnhaupt, Montesquieu und die legislatorische Milieutheorie (wie Anm. 7), 191. 134 Zur Rezeption Montesquieus vgl. Anm. 7. – Im übrigen vgl. Klippel, Rolin, Französische und deutsche Rechtsphilosophie (wie Anm. 7), 239; Diethelm Klippel, Die Philosophie der Gesetzgebung. Naturrecht und Rechtsphilosophie als Gesetzgebungswissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert, in: Barbara Dölemeyer, Diethelm Klippel (Hg.), Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, Berlin 1998, 225–247. 135 Johann Heumann von Teutschenbrunn, Der Geist der Gesetze der Teutschen, Nürnberg 1761. 136 Gaetano Filangieri, La scienza della legislazione, deutsche Übersetzung, 1–7, Anspach 1784–1791. 131 132
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Hälfte des 18. Jahrhunderts.137 Da Montesquieu sich, wie gezeigt, eingehend mit dem positiven Recht, dessen Entstehung und den Einflußfaktoren darauf beschäftigt hatte, kann es nicht verwundern, daß der De l’esprit des loix als in hohem Maße anregend für ähnliche Werke und Entwürfe zum positiven Recht wirkte.138 Der Advokat aus Chartres Jérôme Pétion de Villeneuve schrieb: „Montesquieu & Linguet; sont de nos Philosophes François ceux qui ont plus particulièrement fixé leur attention sur les Loix Civiles“.139 Von der Verbindung der späteren Literatur mit der sogenannten Kodifikationsbewegung sollte jedoch nicht auf Montesquieus Theorie zurückgeschlossen werden: In der Tat wäre es unzutreffend, aus der umfassenden rationalen Begründung des bestehenden positiven Rechts auf eine gesetzgebungsfreundliche Haltung Montesquieus zu schließen.140 Vielmehr ist nicht zu übersehen, daß sich schon in Montesquieus rechtstheoretischen Überlegungen Distanz gegenüber der menschlichen Gesetzgebung andeutet:141 Montesquieus Rechtstheorie verbindet nämlich Gesetz und „rapport“ bzw. „raison“; Recht und Gesetz stellten sich bei ihm also primär als rationales, notwendiges Resultat aphysischer So z.B.: Simon Nicolas Henri Linguet, Théorie des lois civiles ou principes fondamentaux de la société, London 1767 (Nachdruck: Corpus des Oeuvres de Philosophie en Langue Française, Fayard 1984); ders., Nécessité d’une reforme dans l’administration de la justice et dans les loix civiles en France, Amsterdam 1764; Jérôme Pétion de Villeneuve, Des loix civiles et de l’administration de la justice, London 1783. – Eine Zusammenstellung findet sich bei Wilhelm, Gesetzgebung (wie Anm. 2), 252 ff. 138 So schrieb Heumann von Teutschenbrunn in der Vorrede seiner Abhandlung (wie Anm. 135): „Das französische Werk von Gesetzen erstreckt sich auf alle Staaten insgemein. Wenn nun die Arbeit brauchbar werden solle; so muß man nur einen Staat vornehmen, und die allgemeinen Grundsäze auf ihn allein anwenden. Ich entschloß mich eine Probe in Absicht auf Teutschland zu fertigen“. Auch Linguet setzte sich mit Montesquieus Aussagen über das positive Recht intensiv auseinander: So waren in seiner Théorie des lois civiles (wie Anm. 137) zahlreiche Kapitel Montesquieus rechtstheoretischen Gedanken gewidmet. 139 Pétion de Villeneuve, Des loix civiles (wie Anm. 137), 25. 140 So aber Dilcher, Gesetzgebungswissenschaft (wie Anm. 4), 3 f.; vgl. auch Hans Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts. Eine privatrechtsgeschichtliche Studie, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 56 (1936), 202–263, hier 212 f.; ähnlich auch Hans-Peter Jaeck, Montesquieu als Historiker, in: Rechtshistorisches Journal 12 (1993), 513–559, hier 549, wenn er Montesquieu ein „Bemühen um eine wissenschaftliche Gesetzgebung“ unterstellt; diese Ansicht ist zudem mit der nicht haltbaren Behauptung verknüpft, das Naturrecht habe sich auch unter dem Einfluß von Montesquieus Werk in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von einem absolut und universell verstandenen zu einem relativen und hypothetischen Recht gewandelt, so unter anderen Dilcher, Gesetzgebungswissenschaft; Thieme, Zeit des späten Naturrechts, 230 ff.; dagegen Diethelm Klippel, Die Historisierung des Naturrechts. Rechtsphilosophie und Geschichte im 19. Jahrhundert, in: François Kervégan, Heinz Mohnhaupt (Hg.), Recht zwischen Natur und Geschichte, Frankfurt am Main 1997, 113; Schröder, Volksgeistlehre (wie Anm. 110), 20 f. 141 Vgl. Schröder, Volksgeistlehre (wie Anm. 110), 16 f. 137
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und physischer Bezugsgrößen dar, nicht aber als Willensprodukt eines Souveräns.142 Damit richtete sich die Rechts- und Gesetzeslehre Montesquieus gegen die „voluntas principis“, die in der politischen Theorie des Absolutismus als alleiniger Geltungsgrund des Gesetzes angesehen wurde.143
III. Rechtsreformen und Gesetzesabfassung Da Montesquieus Rechtsbildungstheorie offensichtlich eine Abwehrhaltung gegenüber der Gesetzgebungstheorie des Absolutismus immanent ist, entsteht die Frage nach dessen Verhältnis zur französischen Rechts- und Gesetzgebungswirklichkeit der Zeit – zumal die Zeit um die Mitte des 18. Jahrhunderts durch eine zunehmende, nicht zuletzt auf Vereinheitlichung gerichtete Gesetzgebungstätigkeit der Fürsten in ganz Europa gekennzeichnet ist. Trotz ihrer bereits festgestellten Distanz zur Gesetzgebung werden Montesquieus rechtstheoretische Aussagen oftmals in einen engen Zusammenhang mit der Kodifikationsbewegung des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts gestellt,144 gelegentlich wird der De l’esprit des loix sogar als „Anleitung“ für den aufgeklärten Souverän gelesen.145 In der Tat haben Friedrich der Große und Zarin Katharina II. das Werk dahingehend verstanden.146 Wiederum sollte die Darauf weisen hin: Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt (wie Anm. 60), 35; Clostermeyer, Zwei Gesichter (wie Anm. 42), 197; Maier, Montesquieu (wie Anm. 81), 273. 143 Dazu Heinz Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime, in: Ius Commune 4 (1972), 188–239, hier 199 ff.; unzutreffend hier Köchling, Gesetz und Recht (wie Anm. 67), 12, der die Funktion von Montesquieus Gesetzesbegriff lediglich als „Säkularisierung im radikalsten Sinne“ versteht. 144 So z.B. auch Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, München 42001, § 25 II. 4.; vgl. zu weiteren Nachweisen Anm. 5. 145 Harold T. Parker, The cult of Antiquity and the french Revolutionaries. A Study in the Development of the revolutionary Spirit, New York 1965, 121: „a legislative guidebook“; so auch Köchling, Gesetz und Recht (wie Anm. 67), 78 f.; Mohnhaupt, Montesquieu und die legislatorische Milieutheorie (wie Anm. 7), 191. 146 So schrieb Katharina II. in einer Instruktion an die russische Gesetzgebungskommission: „Plusieurs choses gouvernent les hommes, la Religion, le climat, les Loix, les maximes du Gouvernement, les exemples deschoses passées, les moeurs, les manieres; D’où il se forme un esprit général qui en resulte. La nature & le climat dominent presque seuls les nations sauvages“ (Instruction donnée par Catherine II. [...], A la Commission établie par cette Souveraine, pour travailler à la rédaction d’un nouveau Code de Loix [...], nouv. éd., Lausanne 1769, 12); zur Herkunftstelle im De l’esprit des loix vgl. Anm. 119; zur Rezeption Montesquieus durch Friedrich II.: Herdmann, Montesquieurezeption (wie Anm. 7), 128 ff.; zur Montesquieurezeption während der Kodifikationsdebatte in der französischen Nationalversammlung: vgl. Walter Wilhelm, Bemerkungen zur Rezeption ausländischen Rechts, in: Ius Commune 5 (1975), 122–137, hier 123 ff. 142
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Rezeptionsgeschichte aber nicht die Interpretation aus dem Kontext der Theorie Montesquieus beeinflussen: Der Blick auf die Rezeptionsgeschichte führt dazu, Montesquieu eine kodifikations- bzw. reformfreundliche Haltung zu unterstellen. Demgegenüber ist zu betonen, daß der Autor jede Reform und Vereinheitlichung des französischen Privatrechts ablehnte (1.). Dann jedoch entsteht die Frage, welche Funktion die vielfach rezipierten, im XXIX. Buch des De l’esprit des loix formulierten Grundsätze der Gesetzesabfassung erfüllen (2.).
1. Die französische Rechtswirklichkeit: Montesquieu und die Reform und Vereinheitlichung des Rechts Im XXVIII. Buch des De l’esprit des loix beschäftigt sich Montesquieu mit dem Ursprung des Wandels des droit civil in Frankreich.147 Er beschreibt die Entstehung der Rechtszersplitterung auf dem Gebiet des französischen Zivilrechts und stellt die „distinction des pays de la France coutumière, & de la France régie par le droit écrit“ fest,148 erkennt also die zu seinen Lebzeiten bestehende Teilung Frankreichs in zwei Rechtsgebiete:149 Während das Rechtsleben im Norden des Landes (sogenannte ‘Pays du droit coutumier’) durch lokale Gewohnheitsrechte (Coutumes) geprägt war, übte im Süden Frankreichs (sogenannte ‘Pays du droit écrit’) das römische Recht einen nachhaltigen Einfluß auf die Rechtsentwicklung aus; es galt dort aber nicht als Gesetzesrecht, sondern als gemeines Gewohnheitsrecht (Coutume générale) subsidiär zu lokalen Gewohnheitsrechten (Coutumes locales).150 Seit Mitte des 18. Jahrhunderts erschienen auch in Frankreich eine Reihe von Schriften, in denen die Vereinheitlichung und die Reform des GerichtsverZur rechtshistorischen Bedeutung des XVIII. Buch des De l’esprit des loix: Theodor Bühler, Eine Rechtsgeschichte Frankreichs. Zu Montesquieus „De l’origine et des révolutions des lois civiles chez les Francais“, in: Louis Carlen, Friedrich Ebel (Hg.), Festschrift für Ferdinand Elsener, Sigmaringen 1977, 68–76. 148 EdL XXVIII 4, 185. 149 Montesquieus Bibliothek enthielt auch einige mittelalterlicher Rechtsbücher und eine Vielzahl frühneuzeitlicher amtlicher Redaktionen lokaler Gewohnheitsrechte und Kommentare, vgl. Desgraves, Volpilhac-Auger, Catalogue (wie Anm. 70), N°883–913: unter anderen Beaumanoirs Aufzeichnung der Coutumes de Beauvaisis (N°884) oder die Coutumes générales et particulières de France annotées et augmentées [...] par Charles Du Moulin (N°891). Auch Antoine Loisels Institutes coûtumières finden sich in Montesquieus Literaturbestand (N°905); vgl. zur Quellenkritik Montesquieus: Bühler, Rechtsgeschichte Frankreichs (wie Anm. 147), 71 f. 150 Vgl. zur Lage auf dem Gebiet des französischen Privatrechts: Conrad, Rechtsgeschichte (wie Anm. 5), 394 ff.; G. Gudian, Artikel „Coutumes“, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 1971, 641–648. 147
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fahrens- und insbesondere des materiellen Privatrechts durch nationale Gesetzgebung erörtert und zumeist bejaht wurde.151 Montesquieu jedoch lehnte ausdrücklich eine Rechtsreform im Sinne einer Rechtsvereinheitlichung ab. Ausgehend von einer als „code général“ bzw. „corps général de loix civiles“ bezeichneten Rechtssammlung Ludwig IX. schrieb er: „Cette compilation est un code général, qui statue sur toutes les affaires civiles [...] Or, dans un temps où chaque ville, bourg ou village, avoit sa coutume, donner un corps général de loix civiles, c’étoit vouloir renverser, dans un moment, toutes les loix particulières sous lesquelles on vivoit dans chaque lieu du royaume. Faire une coutume générale de toutes les coutumes particulières, seroit une chose inconsidérée, même dans ce temps-ci, où les princes ne trouvent par-tout que de l’obéissance“.152 Die veränderungsfeindliche Haltung Montesquieus zeigt sich auch in seiner Kritik daran, daß schon ohne Notwendigkeit vorhandene Gesetze abgeschafft worden seien.153 Dies habe nämlich das Volk in einen Zustand der Unordnung versetzt, der mit Veränderungen einhergehe („désordres inséparables des changements“).154 Für die seltenen Fälle155 einer notwendigen Gesetzesänderung empfiehlt er daher: „On y doit observer tant de solemnités, & apporter tant de précautions, que le peuple en conclue naturellement que les loix sont bien saintes, puisqu’il faut tant de formalités pour les abroger“.156 Diese reformfeindliche Haltung hat bei Montesquieu im wesentlichen zwei Gründe: Zum einen betrachtete er die Rechtsvereinheitlichung als Teil des Nivellierungsprozesses, der aus einer Monarchie mit ihren „pouvoirs intermédiaires“ einen despotischen Staat mache, denn „le monarque, qui connoît chacune de ses provinces, peut établir diverses loix, ou souffrir différentes coutumes. Mais le despote [...], il lui faut une allure générale; il gouverne par une volonté rigide, qui est par-tout la même; tout s’applanit sous ses pieds“.157 Zum anderen ermögliche gerade die Rechtszersplitterung die Aufrechterhaltung der Funktion des Privatrechts in der Monarchie, nämlich den Schutz des Adels.158 Das Privatrecht diene der Manifestierung der ständischen Ungleichheit und der AbsiSo forderte z.B. Bernardi „un Code de Loix simples & uniformes“ (Joseph Elzéar Dominique de Bernardi, Essai sur les révolutions du droit françois, Paris 1785, 326); Petion de Villeneuve verlangte „une réforme générale“, die er für „absolument indispensable“ hielt und aus der ein „édifice des Loix“ hervorgehen sollte (Petion de Villeneuve, Des loix civiles [wie Anm. 137], 19; diese Schrift liefert einen Entwurf für ein solches édifice). Vgl. dazu ausführlich mit weiteren Nachweisen: Wilhelm, Gesetzgebung (wie Anm. 2), 252 ff. 152 EdL XXVIII 37, 250. 153 LP CXXIX, 257. 154 Ebd. 155 Ebd.: „le cas est rare“. 156 Ebd. 157 EdL VI 1, 97. 158 Dazu siehe oben II. 1. 151
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cherung des Feudalsystems generell159 und speziell in dessen historisch gewachsener Verschiedenheit: „Dans nos gouvernemens, les fiefs sont devenus héréditaires. Il a fallu que la noblesse eût une certaine consistance, afin que le propriétaire du fief fût en état de servir le prince. Cela a dû produire bien des variétés: par exemple, il y a des pays où l’on n’a pu partager les fiefs entre les frères; dans d’autres, les cadets ont pu avoir leur subsistance avec plus d’étendue“.160 Es verwundert daher nicht – und auch daran wird die veränderungsfeindliche Grundhaltung Montesquieus deutlich –, wenn er schwärmerisch das Lehensrecht überhöht: „C’est un beau spectacle que celui des loix féodales. Un chêne antique s’élève; l’oeil en voit de loin les feuillages; il approche, il en voit la tige; [...]“.161
2. Die Grundsätze der Gesetzesabfassung In dem XXIX. Buch mit dem Titel De la manière de composer les loix erhob Montesquieu zur Abfassung der Gesetze bestimmte Forderungen, die später von der Kodifikationsbewegung aufgegriffen wurden:162 „Le style des loix doit être simple“,163 „le style en doit être concis“164 und „les loix [...] ne sont point un art de logique, mais la raison simple d’un père de famille“.165 Gleichwohl betonte er an anderer Stelle die Gefahren der Simplifikation, denn „lorsqu’un homme se rend plus absolu, songet-il d’abord à simplifier les loix“.166 Clausdieter Schott schließt daraus, daß das Thema der Simplicitas bei Montesquieu nie grundsätzliche Schärfe erhalte.167 Schott ist insoweit zuzustimmen, EdL VI 1, 97: „La différence de rang, d’origine, de condition; qui est établie dans le gouvernement monarchique, entraîne souvent des distinctions dans la nature des biens; [...] Ainsi, parmi nous, les biens sont propres, acquêts ou conquêts; dotaux, paraphernaux; paternels, & maternels; meubles de plusieurs espèces; libres, substitués; du lignage, ou non; nobles, en franc-aleu, ou roturiers; rentes foncières, ou constituées à prix d’argent“. 160 EdL VI 1, 97. 161 EdL XXX 1, 292 f. 162 So z.B. die Instruction donné par Catherine II. (wie Anm. 146), 134 f.: „Les Loix ne doivent pas être subtiles; [...] elles ne sont point un art de Logique, mais la raison simple d’un pere de famille. Le stile des Loix doit être simple“. – Vgl. dazu Eisenhardt, Rechtsgeschichte (wie Anm. 5), Rn. 278, 283, der die Bedeutung gerade dieser Forderungen für die Kodifikationsbewegung betont. 163 EdL XXIX 16, 283. 164 Ebd. 165 EdL XXIX 16, 285. 166 EdL VI 2, 100. 167 Vgl. dessen Untersuchungen zur Geschichte der Simplifikation: Clausdieter Schott, Einfachheit als Leitbild des Rechts und der Gesetzgebung, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschich159
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als Montesquieu eine zu starke Vereinfachung des Rechts als Voraussetzung für den oben beschriebenen, von ihm bekämpften Nivellierungsprozeß betrachtete. Allerdings thematisierte Montesquieu sehr wohl – ebenfalls im XXIX. Buch des De l’esprit des loix – die Simplifikation des Rechts in Bezug auf die Regelung des gerichtlichen Verfahrens. So gab er zu bedenken: „Les formalités de la justice sont nécessaires à la liberté. Mais le nombre en pourroit être si grand, qu’il choqueroit le but des loix mêmes qui les auroient établies: les affaires n’auroient point de fin; la propriété des biens resteroit incertaine; on donneroit à l’une des parties le bien de l’autre sans examen, ou on les ruineroit toutes les deux à force d’examiner. Les citoyens perdroient leur liberté & leur sureté“.168 Diesen negativen Zustand sah Montesquieu im französischen Rechtssystem schon als verwirklicht an. So spottete er, man könne sich nicht sicher sein, ob die Zahl der Formalitäten im Gerichtsverfahren mehr Parteien ruiniere als in der Medizin eines natürlichen Todes gestorben seien:169 Denn vor Gericht zu klagen werde zum Beruf und zur Lebensaufgabe, weil ein Prozeß kein Ende mehr finde.170 Die Ursache für diese Entwicklung sah Montesquieu in der Rezeption des römischen Rechts: „Cette abondance de loix adoptées, &, pour ainsi dire, naturalisées, est si grande, qu’elle accable également la justice & les juges. [...] Ces loix étrangères ont introduit des formalités dont l’excès est la honte de la raison humaine“;171 denn die Franzosen „ont retenu, des loix romaines, un nombre infini de choses inutiles [...]“.172 Die von Montesquieu aufgestellten Grundsätze zur Gesetzesabfassung sind daher als Angriff auf das gemeine Recht und das davon beeinflußte Recht des Gerichtsverfahrens zu verstehen. Sie können jedoch nicht als Begründung einer reform- und rechtsvereinheitlichungsfreundlichen Haltung und schon gar nicht einer gesetzgebungsfreundlichen Auffassung Montesquieus dienen.173
te 5 (1983), 137; ders., Kritik an der „Simplifikation“, in: Robert Hauser u.a. (Hg.), Gedächtnisschrift für Peter Noll, Zürich 1984, 127–139, hier 133. 168 EdL XXIX 1, 269. 169 LP C, 200 f. 170 Montesquieu, Discours sur l’équité, in: André Masson (Hg.), Oeuvres complètes de Montesquieu, Bd. 3, Paris 1955, 212 f. 171 LP C, 200. 172 LP CXXIX, 258. 173 Montesquieus Ansichten zur Gesetzgebung trafen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deswegen auch auf Kritik. So entgegnete Linguet, Théorie (wie Anm. 137), 12, Montesquieu: „Il ne faudrait, ue cesser de respecter des usages beaucoup plus absurdes qu’anciens [...]“, und Pétion de Villeneuve, Des loix civiles (wie Anm. 137), 98, bemerkte: „N’en déplaise à Montesquieu, il serait à souhaiter, que le chêne féodal [...] fût entièrement abattu. Le jour où il tomberoit sous les coups du Législateur, serait un jour de joie & d’allégresse pour la nation“.
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IV. Montesquieus Auffassung zur potestas legislatoria Zum Schluß stellt sich die Frage, welche Vorstellungen Montesquieu zur Gesetzgebungskompetenz und zum Gesetzgebungsverfahren entwickelte. Weit verbreitet ist die Ansicht, die im XI. Buch des De l’esprit des loix beschriebene englische Verfassung einschließlich deren Regelung der Gesetzgebung sei zugleich als von Montesquieu für Frankreich herbeigesehnter Idealzustand zu interpretieren (1.). Demgegenüber soll gezeigt werden, daß sich Montesquieus Idealvorstellung auf eine gemäßigte französische Monarchie richtet, die nur dem Adel, nicht aber dem Bürger eine Beteiligung an der Gesetzgebung einräumt. Montesquieus Gesetzgebungstheorie wendete sich also gegen die durch Jean Bodin theoretisch begründeten174 und die Frühe Neuzeit kennzeichnenden Bestrebungen des absoluten Herrschers, die unbeschränkte und ungeteilte Gesetzgebungsmacht zu erlangen (2.).
1. Die Gesetzgebung in der Verfassung Englands Das Sechste Kapitel des XI. Buch des De l’esprit des loix widmete Montesquieu der Verfassung Englands, die er durch das Vorhandensein von drei Gewalten gekennzeichnet sieht, nämlich – zuerst genannt – die „puissance législative“, sodann die „puissance exécutrice des choses qui dépendent du droit des gens“ und die „puissance exécutrice de celles qui dépendent du droit civil“.175 In unserem Zusammenhang ist nicht nach der Gewaltenlehre, sondern nach der Stellung und Bedeutung der Legislative zu fragen. Die institutionelle Ausgestaltung der englischen Gesetzgebung schilderte Montesquieu wie folgt: Neben der Körperschaft der gewählten Volksvertreter bestehe eine Adelskammer („corps des nobles“), deren Mitgliedschaft erblich sei.176 Aufgabe der Legislative sei neben der Kontrolle der Exekutive (mit Ausnahme des Königs177) vor allem die Gesetzgebung in Form eines Befehls- oder Beschlußrechts („faculté de statuer“178) und eines Vetorechts („faculté 174 Bodin definierte die Souveränität als absolute, unbegrenzte und ungeteilte staatliche Macht, deren Kern und zugleich Mittel ihrer Ausübung die Gesetzgebungskompetenz sei, Bodin, Les six livres (wie Anm. 110), 1, I. Buch, 8. Kapitel, 179 ff. – Zu Bodins Souveränitätsbegriff im einzelnen: Diethelm Klippel, Artikel „Staat und Souveränität VI–VIII“, in: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990, 98–128, hier 107 ff. 175 EdL XI 6, 207. 176 Zur Adelskörperschaft EdL XI 6, 213 f. 177 EdL XI 6, 216: „Sa personne doit être sacrée“. 178 EdL XI 6, 214: „J’appelle faculté de statuer, le droit d’ordonner par soimême, ou de corriger ce qui a été ordonné par un autre“.
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d’empêcher“ bzw. „le droit d’approuver“179). Beiden Körperschaften komme ein je eigenständiges Beschluß- und Vetorecht zu.180 Montesquieus Vorstellungen zur Gesetzgebung werden häufig lediglich im Zusammenhang mit dem XI. Buch des De l’esprit des loix erörtert:181 Die Behauptung, Montesquieu habe ein an dem Beispiel Englands entwickeltes Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung gefordert,182 impliziert, daß Montesquieu dieses auf französische Verhältnisse übertragen und inhaltsgleich ausgestalten wollte. Andere wiederum betonen ohne Umschweife, Montesquieu habe die Schilderung der englischen Verfassung als Grundlage für die Verfassung einer freiheitlichen, gemäßigten französischen Monarchie betrachtet.183 Es geht also um die Frage, ob Montesquieu das englische Repräsentativsystem als vorbildlich ansah und daher dessen Übernahme forderte. Welche Bedeutung also maß Montesquieu selbst diesem Werkabschnitt bei? Die Grundlage der im XI. Buch angestellten Überlegungen bildet die Erörterung der „liberté politique“184 in ihrem Bezug zur Verfassung.185 Demnach finde sich Freiheit in Bezug auf die Verfassung nur in „gouvernemens modérés“,186 in denen eine bestimmte Aufteilung der drei Staatsgewalten den Mißbrauch der Macht verhindere. Denn eine freiheitliche Verfassung sei „formée par une certaine distribution des trois pouvoirs“.187 Die englische Verfassung stellte für Montesquieu jedoch nur eine mögliche Auf- oder Verteilung –
Ebd.: „J’appelle faculté d’empêcher, le droit de rendre nulle une résolution prise par quelqu’ autre“; aus diesem Recht ergibt sich „le droit d’approuver“, denn „cette approbation n’est autre chose qu’une déclaration qu’il ne fait point d’usage de sa faculté d’empêcher“. 180 Mit Ausnahme der Steuergesetzgebung, bei der der Adelskörperschaft lediglich das Vetorecht, aber nicht das Beschlußrecht zustehen sollte, EdL XI 6, 213 f. 181 Vgl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt (wie Anm. 60), 30 ff.; Eiselin, Grundgedanken Montesquieus (wie Anm. 64), 23 ff.; Günther Krauss, Die Gewaltengliederung bei Montesquieu, in: Barion u.a., Festschrift für Carl Schmitt (wie Anm. 9), 103–121, hier 108 f., 113 ff.; Menger, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 10), Rn. 166, der Montesquieu zudem als „Anhänger des Repräsentativsystems“ bezeichnet; Georg-Christoph von Unruh, Grundlagen und Probleme der Verteilung der Staatsgewalt, in: Juristische Arbeitsblätter 1990, 290–295, hier 293. 182 So Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart 1980, 308; Weber, Die Teilung (wie Anm. 9), 254 ff. 183 So Groethuysen, Philosophie (wie Anm. 9), 50; Martin Drath, Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht, in: Heinz Rausch (Hg.), Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, Darmstadt 1969, 21–77, hier 29, 33; Max Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung, Berlin 1959, 21; Menger, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 10), Rn. 162. 184 Freiheit in diesem Sinne ist „le droit de faire tout ce que les loix permettent“: EdL XI 3, 206. 185 EdL XI 1, 204. 186 EdL XI 4, 206. 187 EdL XII 1, 250. 179
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jedoch nicht Trennung188 – der Staatsgewalten dar, um die Freiheit des Bürgers zu sichern. Demgemäß enthält das XI. Buch ebenfalls umfangreiche Aussagen über politische Freiheit und Verteilung der Staatsgewalt im antiken Rom.189 Die Wahl des Ausgangspunktes, der sich aus der Bill of Rights von 1689 und anderen Gesetzen konstituierenden englischen Verfassung, lag für Montesquieu jedoch nahe, da er die englischen Verhältnisse anläßlich eines anderthalbjährigen Englandaufenthalts (1729 bis 1731) studieren konnte.190 So entstand eine erste Fassung des späteren 6. Kapitels des XI. Buch noch unter dem Eindruck des Auslandsaufenthaltes schon 1733 kurz nach seiner Rückkehr nach La Brède,191 während das gesamte Werk in seinen großen Linien erst 1742 feststand.192 Die englische Verfassung diente also nur als Beispiel für die Beschreibung einer gemäßigten Staatsordnung, die aufgrund ihrer staatsrechtlichen Organisation die „liberté politique“ zu sichern vermöge. Montesquieu wollte jedoch nicht untersuchen, ob in der Verfassungswirklichkeit Englands diese Freiheit auch bestand: „Ce n’est point à moi à examiner si les Anglois jouissent actuellement de cette liberté, ou non. Il me suffit de dire qu’elle est établie par leurs loix, & je n’en cherche pas davantage“.193 Zudem betonte er die Existenz weiterer gemäßigter Regierungen, die durch eine andere Aufteilung der drei Gewalten ebenso in der Lage seien, die politische Freiheit zu sichern.194 Dem XI. Buch des De l’esprit des loix kann also nicht entnommen werden, daß Montesquieu die inhaltsgleiche Übertragung des englischen Repräsentativsystems auf französische Verhältnisse gefordert habe. Darüber hinaus relativiert sich auch der normative Anspruch der Gewaltenlehre generell.
Montesquieu spricht hier von „distribution“, nicht von ‘séparation’; so zutreffend Lange, Teilung und Trennung (wie Anm. 14), 221; Schmidt, Demokratietheorien (wie Anm. 10), 84; Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn u.a., 2001, 120; Korioth, „Monarchisches Prinzip“ (wie Anm. 7), 33. 189 EdL XI 12–18, 227 ff. 190 Zu Montesquieus Englandaufenthalt vgl. Desgraves, Montesquieu (wie Anm. 6), 222 ff.; Shackleton, Biography (wie Anm. 6), 117 ff. 191 Desgraves, Montesquieu (wie Anm. 6), 312. 192 Shackleton, Biograpy (wie Anm. 6), 239, 285. 193 EdL XI 6, 221. 194 EdL XI 20, 249. – Daß er diese nicht im einzelnen erörtert, begründet er wie folgt: „Mais il ne faut pas toujours tellement épuiser un sujet, qu’on ne laisse rien à faire au lecteur. Il ne s’agit pas de faire lire, mais de faire penser“. 188
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2. Die Gesetzgebung in einer gemäßigten französischen Monarchie Demnach wird die Bedeutung des 6. Kapitels des IX. Buches meist erheblich überschätzt. Das geht auch daraus hervor, daß die Erörterung der englischen Verfassung nur zwei Kapitel umfaßt, während die Behandlung der französischen Monarchie mehr als ein Viertel des gesamten De l’esprit des loix einnimmt.195 Dem entspricht es, daß die Ausführungen Montesquieus zur Regierungsformenlehre196 eine deutliche Präferenz für die Monarchie zeigen.197 Daher liegt auch der Gesetzgebungstheorie Montesquieus nicht die englische Verfassung, sondern die Vorstellung einer gemäßigten französischen Monarchie zugrunde,198 ein Idealbild, das er aber im Frankreich des 18. Jahrhunderts nicht verwirklicht fand. Vielmehr sah er die französische Monarchie durch das Wirken der bourbonischen Herrscher des 17. und 18. Jahrhundert als depraviert an.199 Diese Überzeugung läßt sich vor allem in den bereits 1721 erschienenen Lettres persanes nachweisen: So kritisierte Montesquieu den unkontrollierbaren Einfluß von Mätressen und Beichtvätern auf die königlichen Entscheidungen,200 sowie die höfische Günstlingswirtschaft,201 infolge derer der König seine natürlichen Berater, die durch Adel und Leistung ausgezeichnet seien, verloren habe, da sie aus ihren Funktionen verdrängt worden seien.202 Besonders aufschlußreich ist Montesquieus Bewertung der zeitgenössischen französischen Verfassungsrealität. Er wandte sich deutlich gegen die absolutistischen Ambitionen der französischen Könige: „La monarchie se perd, lorsque le prince, rapportant tout uniquement à lui, appelle l’état à sa capitale, la capitale à sa cour, & la cour à sa seule personne“.203 Einen wichtigen Platz in seinen Überlegungen nahmen die Parlements ein,204 die, ursprünglich als GeDarauf weist schon hin: Hansjörg Frommer, Das Ideal der französischen Monarchie bei Montesquieu, Tübingen 1968, 116. 196 Siehe dazu oben II. 1. 197 Vgl. Chaimowicz, Freiheit und Gleichgewicht (wie Anm. 14), 17 ff.; Frommer, Das Ideal (wie Anm. 195), 99 ff.; Schalk, Montesquieu (wie Anm. 60), 233. 198 Die Annahme, daß Montesquieu von dem Idealbild einer gemäßigten französischen Monarchie bestimmt war, liegt ebenso folgenden Arbeiten zugrunde: Frommer, Das Ideal (wie Anm. 195); Lange, Teilung und Trennung (wie Anm. 14), 213 ff. 199 Noch schärfer: Schlosser, Montesquieu (wie Anm. 14), 9, 23. 200 Vgl. LP CVII, 214 ff. 201 Vgl. LP CXXIV, 247 ff.; EdL III 5, 31 f. 202 Vgl. LP CXLVI, 307 ff.; zu anderen Kritikpunkten Montesquieus: Frommer, Das Ideal (wie Anm. 195), 44 ff. 203 EdL VIII 6, 156. 204 Das läßt sich insbesondere für die Lettres persanes belegen, in denen Montesquieu den Parlements eine besondere Stellung beimißt: vgl. Frommer, Das Ideal (wie Anm. 195), 51; ebenso: Jaeck, Montesquieu (wie Anm. 140), 551. 195
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richtshöfe eingerichtet, im Laufe der Zeit zudem politische Funktionen an sich gezogen hatten.205 Gerade deren Rechte versuchten die französischen Könige im Zuge ihres Versuches, eine absolutistische Monarchie zu errichten, im 17. und 18. Jahrhundert zu beschneiden oder ganz zu beseitigen.206 Die Auseinandersetzung zwischen König und Parlements hatte bereits Eingang in die Lettres persanes gefunden. So geht Montesquieu im CXL. Brief auf die Verbannung des Pariser Parlements nach Pontoise im Juli 1720 ein und nimmt Stellung zugunsten des Parlements.207 In diesem Zusammenhang richtete Montesquieu scharfe Angriffe gegen Kardinal Richelieu: „Quand cet homme n’auroit pas eu le despotisme dans le coeur, il l’auroit eu dans la tête“.208 Gerade diesem warf er nämlich vor, die als „dépôt des lois“ bezeichneten „pouvoirs intermédiaires“, zu denen er insbesondere die Parlements zählte, umgehen und abschaffen gewollt zu haben.209 Allerdings zog Montesquieu aus seiner Kritik an der französischen Verfassungsrealität keineswegs, wie häufig angenommen wird, Schlußfolgerungen revolutionären Inhalts, die den Gedanken der Revolution von 1789 entsprachen.210 Vielmehr forderte er, wie schon am Ansatzpunkt seiner Kritik deutlich wird, die Wiederherstellung und Festigung der politischen Beteiligungsrechte der Parlements – nicht zuletzt hinsichtlich der Gesetzgebung.211 Die Parlements setzten sich aus dem Premier Président, mehreren Présidents à mortier und einer größeren Zahl Conseillers zusammen; vgl. zum Parlement von Bordeaux, in dem Montesquieu Mitglied gewesen ist: Desgraves, Montesquieu (wie Anm. 6), 51 f. – Zur Geschichte der Parlements vgl. Michael Wagner, Art. „Parlements“, in: Rolf Reichardt, Eberhard Schmitt (Hg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, Bd. 10, München 1988, 55– 106. 206 Wie in Deutschland, kann auch in Frankreich nur von dem Versuch oder Streben nach absolutistischer Herrschaft gesprochen werden, denn die französischen Könige waren, wenngleich erfolgreicher als in Deutschland, niemals in der Lage die ständischen Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte der Stände, der Kirche, Städte und vor allem der Parlements vollständig zu beseitigen; einen Höhepunkt dieses bis 1789 latent schwelenden Konflikts zwischen König und vor allem dem Pariser Parlement markierte die sogenannte ‘Parlementsfronde’ (1648/49): vgl. zum ganzen Günter Barudio, Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung 1648–1779, Frankfurt am Main 1981, 87 ff. und zum letzteren 102 ff. 207 LP CXL, 280 f.: „Ces compagnies sont toujours odieuses: Elles n’approchent des rois que pour leur dire de tristes vérités: &, pendant qu’une foule de courtisans leur représentent sans cesse un peuple heureux sous leur gouvernement, elles viennent démentir la flatterie, & apporter aux pieds du trône les gémissemens & les larmes dont elles sont dépositaires“. 208 EdL V 10, 75. 209 EdL V 10, 74 f.; dieser Gedanke klingt auch an in EdL V 11, 75 ff. 210 So aber Leroy, Histoire (wie Anm. 11), 109 f.; Parker, The cult (wie Anm. 145), 62 ff., 125 f.; Walter, Policies of Violence (wie Anm. 11), 121 ff. 211 Wie hier, aber ohne die Bedeutung der Parlements im Konzept der „pouvoirs intermédiaires“ hervorzuheben: Chaimowicz, Freiheit und Gleichgewicht (wie Anm. 14), 14; Schlosser, Montesquieu (wie Anm. 14), 23; entschieden gegen diese Interpretation: Ernst Vollrath, Die Staatsfor205
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Zu diesem Zweck entwickelte er das Idealbild einer gemäßigten französischen Monarchie, in der auf den ersten Blick Exekutive und Legislative beim König liegen,212 also der Maxime widersprechen, daß beide Gewalten nicht in einer Hand vereint sein dürfen.213 Voraussetzung für eine gemäßigte Regierung ist nach Montesquieu, hier abstrakter formuliert als im XI. Buch: „combiner les puissances, les régler, les tempérer, les faire agir; donner, pour ainsi dire, un lest à l’une, pour la mettre en état de résister à une autre“.214 Für die Monarchie bedeutet dies, daß der Herrscher (im Gegensatz zur Despotie) seine Macht nicht selbst unmittelbar ausübt, sondern durch Verleihung an andere mäßigt: „Dans le gouvernement monarchique, le pouvoir s’applique moins immédiatement; le monarque, en le donnant, le tempère. Il fait une telle distribution de son autorité, qu’il n’en donne jamais une partie, qu’il n’en retienne un plus grande“.215 Grundlage (die „loix fondamentales“) einer solchen monarchischen Regierungsform sei die Existenz untergeordneter und abhängiger Zwischengewalten („pouvoirs intermédiaires subordonnés & dépendans“).216 Untergeordnet und abhängig sind diese Zwischengewalten nach Montesquieu deswegen, weil der Monarch stets die „source de tout pouvoir politique & civil“217 bleibt. Montesquieu zählt zu diesen „pouvoirs intermédiaires“ die privilegierten (lokalen) Obrigkeiten, nämlich die kirchlichen wie die adligen, die Lehnsherren und die Städte.218 Die Funktion dieser Zwischengewalten liegt politisch in der Mäßigung der Allmacht des Monarchen; Montesquieu beschrieb diese Funktion mit folgendem Bild: „Comme la mer, qui semble vouloir couvrir toute la terre, est arrêtée par les herbes & les moindres graviers qui se trouvent sur le rivage; ainsi les monarques, dont le pouvoir paroît sans bornes, s’arrêtent par les plus petits obstacles, & soumettent leur fierté naturelle à la
menlehre Montesquieus, in: Peter Haungs (Hg.), Res Publica. Studien zum Verfassungswesen. Festschrift für Dolf Sternberger, München 1977, 392–414, hier 407 f., der die Lehre von den Zwischengewalten bei Montesquieu keineswegs als gegen das absolute Königtum gerichtet ansieht, sondern im Anschluß an Tocqueville als Gegenbewegung zur „Entleerung des politischen Bereiches von handelnden Menschen“ versteht. 212 So ist der Monarch bei Montesquieu auch Träger der Legislative, denn das Gesetz besteht nur in dessen Willen: „c’est que la loi n’étant que ce que le prince veut“, EdL V 16, 88. 213 Gerade gegen die Verbindung von Legislative und Exekutive wendet sich Montesquieu bei der Behandlung der englischen Verfassung: „Lorsque, dans la même personne ou dans le même corps de magistrature, la puissance législative est réunie à la puissance exécutrice, il n’y a point de liberté“, EdL XI 6, 208. 214 EdL V 14, 84. 215 EdL V 16, 87. 216 EdL II 4, 20. 217 Ebd. 218 EdL II 4, 21; vgl. für die Städte auch EdL VIII 6, 155.
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plainte & à la prière“.219 Die politisch-mäßigende Funktion der Geistlichkeit, des Adels,220 der Lehnsherren und der Städte wird jedoch in Montesquieus monarchischem Verfassungsideal nicht weiter präzisiert. Ebenso auffällig ist, daß keine Aussagen über den Dritten Stand und die Generalstände getroffen werden.221 Vielmehr betonte Montesquieu die Bedeutung einer weiteren Zwischengewalt: „Il ne suffit pas qu’il y ait, dans une monarchie, des rangs intermédiaires; il faut encore un dépôt de loix. Ce dépôt ne peut être que dans les corps politiques, qui annocent les loix lorsqu’elles sont faites, & les rappellent lorsqu’on les oublie“.222 Mit den „corps politiques“ sind die Parlements gemeint. Neben der rechtsprechenden Tätigkeit223 kommen ihnen, so Montesquieu, vor allem Beteiligungsrechte hinsichtlich der königlichen Gesetzgebung zu: Ihnen stand das Recht zu, königliche Gesetze zu protokollieren („droit d’enregistrement“),224 damit sie rechtskräftig wurden, ferner das Recht, vor der Einregistrierung Einwände gegen den Wortlaut des in Frage stehenden Gesetzes zu erheben („droit de remonstrances“).225 Die französischen Parlements zählen als „corps politiques“ damit zu den pouvoirs intermédiaires, zumal sie durch ihre Beteiligungsrechte die königliche Gesetzgebungsmacht begrenzten226 und damit bei Montesquieu als „dépôt de loix“,227 inbesondere auch als Hüter der Fundamentalgesetze auftreten.228 Die Hervorhebung der politischen Bedeutung der Parlements als Gegengewicht zur königlichen Allmacht findet sich im gesamten Werk Montesquieus: Sie stellten den „trésor sacré de la Nation“ dar, bildeten somit „le seul dont le souverain
EdL II 4, 22, wo dieses Bild im Bezug auf alle Zwischengewalten verwendet wird. In den Pensées findet sich diese Metapher nur für die Parlements, vgl. Montesquieu, Mes Pensées, in: André Masson (Hg.), Oeuvres complètes de Montesquieu, Bd. 2, Paris 1955, 194. 220 Den Adel nannte Montesquieu gleichwohl die natürlichste dieser Zwischengewalten („Le pouvoir intermédiaire subordonné le plus naturel“), ohne ihn könne die Monarchie nicht bestehen: „point de monarque, point de noblesse; point de noblesse, point de monarque“, vgl. EdL II 4, 20 f. 221 Vgl. dazu Frommer, Das Ideal (wie Anm. 195), 108. 222 EdL II 4, 22. 223 Die von Montesquieu übrigens negativ bewertet wurde, Frommer, Das Ideal (wie Anm. 195), 50. 224 Vgl. Anm. 222. 225 Dieses Recht findet bei Montesquieu nur indirekt Erwähnung: vgl. EdL III 10, 37. 226 Als solche beschreibt Montesquieu in den Pensées die Parlements mit der gleichen Metapher (vgl. Anm. 219) wie die übrigen „pouvoirs intermédiaires“. 227 EdL II 4, 22. 228 Dieser Gedanke zeigt sich insbesondere in Montesquieus Stellungnahme zu einem Konflikt des Pariser Parlements mit dem König aus dem Jahre 1753, als er an einen Conseiller die Forderung richtete: „Vous [gemeint ist hier auch das ganze Parlement] nous devez la conservation de notre Constitution“, Montesquieu, Correspondance N°681, in: André Masson (Hg.), Oeuvres complètes de Montesquieu, Bd. 3, Paris 1955, 1465. 219
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n’est pas le maître“.229 Er bezeichnete sie auch als „image de la liberté publique“.230 Gleichwohl rückte Montesquieu die Parlements nicht in die Rolle eines Gegners der monarchischen Herrschaft, denn sie fungieren letztlich als „l’appui de la monarchie, & le fondement de toute autorité légitime“.231 Montesquieus Idealvorstellung entsprach also eine französische Monarchie, in der dem Adel, insbesondere der Noblesse de robe in den Parlements, maßgeblichen Anteil an der Gesetzgebung zukam. Montesquieu hat also kein Verfassungsmodell entwickelt, das die Theorie einer institutionellen Gewaltentrennung enthält. Auch die Auffassung, es handele sich um eine Theorie der Gewaltenbalance zwischen staatlichen Institutionen oder sozialen Kräften, führt dann in die Irre, wenn sie Montesquieu damit ein wie auch immer geartetes progressives Denken unterstellt232 und so die politische Stoßrichtung seiner Argumentation verkennt. Vielmehr läßt sich den Ideen Montesquieus zu Recht, Gesetz und Gesetzgebung ein Monarchieideal entnehmen, das sich am französischen Feudalstaat des Mittelalters orientiert233 und das der absolutistischen Politik der französischen Könige entgegengesetzt wird.
V. Fazit 1. Der „loi“-Begriff Montesquieus umfaßt die Naturgesetze im naturwissenschaftlichen Sinne, eine darauf bezogene naturrechtliche Komponente und das positive Recht, d.h. Normen, deren Ursprung in der menschlichen Vernunft liegt. Montesquieu verfolgte in De l’esprit des loix jedoch nur die Absicht, die Gesetzmäßigkeit der Rechtsbildung im Hinblick auf das positive Recht darzustellen. Zu diesem Zweck verknüpfte er den naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff eng mit dem Gesetzesbegriff des menschlichen Normgebers. 2. Die Rechtsbildung wird determiniert durch aphysische und physische Faktoren, die allerdings mit dem jeweiligen Nationalgeist und dem Gesetzgeber in einer Wechselbeziehung stehen. Wenngleich dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum, insbesondere den physischen Determinanten entgegenzuwirken, Vgl. LP LXXXIX, 180. LP XCII, 185. 231 Ebd. 232 So z.B. Schmidt, Demokratietheorien (wie Anm. 10), 84 ff.; Böhlke, „Esprit de nation“ (wie Anm. 16), 219 ff.; Korioth, „Monarchisches Prinzip“ (wie Anm. 7), 35; Alois Riklin, Montesquieus freiheitliches Staatsmodell. Die Identität von Machtteilung und Mischverfassung, in: Politische Vierteljahresschrift 30 (1989), 420–442. 233 Ebenso: Lange, Teilung und Trennung (wie Anm. 14), 227; ähnlich: Schröder, Volksgeistlehre (wie Anm. 110), 17. 229 230
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verbleibt, begreift Montesquieu den Prozeß der Rechtsentstehung in erster Linie nicht als Willensäußerung des Souveräns, sondern als notwendiges Resultat der in dem jeweiligen Staat vorherrschenden Bezugsgrößen der Rechtsbildung (z.B. Regierungsform oder Klima). 3. Aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive hatten Montesquieus rechtstheoretische Überlegungen zwar erheblichen Einfluß auf die entstehende Kodifikationsbewegung, da die Theorie Montesquieus sich auf das positive Recht bezog. Gerade deshalb konnten sie später – obwohl sie nur bruchstückhaft verarbeitet wurden – als brauchbare Handlungsanleitung angesehen werden. Montesquieu selbst beabsichtigte aber keineswegs, eine veränderungsfreundliche Gesetzgebungswissenschaft zu entwickeln. Vielmehr sollten seine Überlegungen die bestehende Rechtszersplitterung insbesondere auf dem Gebiet des französischen Privatrechts als historisch gewachsen und der Regierungsform der Monarchie angemessen begründen. 4. Montesquieus gesetzgebungstheoretische Überlegungen gehen nicht von dem englischen Repräsentativsystems als Idealbild aus, sondern richteten sich gegen die – von ihm als despotisch empfundenen – absolutistischen Ambitionen der französischen Könige, die auf die Beseitigung oder Einschränkung vor allem der politischen und legislatorischen Beteiligungsrechte der als autonom betrachteten Zwischengewalten, vornehmlich der französischen Parlements, zielten. 5. Montesquieus Vorstellungen zu Gesetz und Gesetzgebung richten sich daher auf die Erhaltung der feudalen Verfassungsstrukturen mit ihren privilegierten Zwischengewalten.
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Montesquieu, der heute vielfach als Protagonist progressiven, namentlich demokratischen oder liberalen Staatsdenkens in der Aufklärung gilt, verfolgte ganz andere Interessen: Nimmt man insbesondere die von ihm entwickelten Ideen zu Recht, Gesetz und Gesetzgebung in den Blick, zeigt sich, daß er vielmehr Stellung auf Seiten der politischen Gegner und Gegenspieler des Monarchen und dessen absolutistischen Ambitionen – also der intermediären, historisch gewachsenen und als autonom betrachteten Gewalten – bezog. Montesquieu verstand den Prozeß der Rechts- und Gesetzesbildung zwar als rationales Produkt der natürlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes, gleichwohl enthalten seine rechts- und gesetzgebungstheoretischen Überlegungen einen antiabsolutistischen feudalen Kern. Dieser äußert sich insbesondere in der Ablehnung vereinheitlichender und erneuernder Gesetzgebung und präzisiert die politisch rückwärtsgewandte Stoßrichtung des Denkens Montesquieus: Der französische Staatsphilosoph wandte sich gegen das Streben des absolutistischen Herrschers nach unbeschränkter Gesetzgebungsgewalt und zielte damit zugleich auf die theoretische Fundierung und Erhaltung der überkommenen feudalen Rechts- und Verfassungsstrukturen. Even though in our days, Montesquieu is predominantly seen as the protagonist of a progressive, namely democratic or liberal concept of the state within the period of enlightenment, the interests he pursued were rather of another kind: considering in particular the ideas he developed for the fields of justice, law and legislation, one can see that he rather took the stand of the political enemies and antagonists of the monarch and his absolutist ambitions, i.e. of the intermediate, historically grown powers, regarded as autonomous. It is true that Montesquieu understood the formation process of the juridical and legal field as a rational product of the natural and social circumstances of a country, but his considerations on legal and legislative theories nevertheless included an anti-absolutist and feudal core, which can be made out in his rejection of standardizing and renewing legislation methods and which underlines the politically retrograded thrust of Montesquieu’s thinking: the French philosopher was against the monarch’s thriving for an unrestricted power of legislation and aimed, at the same time, at the theoretical foundation and preservation of outmoded feudal structures of law and constitution. Jan Rolin, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universitätsstr. 30, D-95440 Bayreuth, E-Mail: [email protected]
L O U I S PAH LO W Zur Theorie der Gewaltenteilung im 18. Jahrhundert
I. Forschungsstand und Fragestellung Die historische und rechtshistorische Forschung geht vereinzelt davon aus, daß die deutsche Staatsphilosophie bereits vor 1789 liberale Verfassungsmodelle entwickelte.1 Solche Thesen werden vielfach auf die Gewaltenteilungsidee gestützt, die bereits in der deutschen Staatstheorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu finden sei. Barbara Stollberg-Rilinger etwa sieht in den Staatsidealen der aufgeklärt-absolutistischen Theorie „ein Verfassungsmodell, das Gewaltenteilung und eine numerisch-proportional gewählte Volksvertretung“ zuließ.2 Thomas Würtenberger meint ebenfalls, daß um 1770 Vordenker „einer gewaltenteilenden und die bürgerliche Freiheit sichernden Verfassungsordnung“ in Deutschland vorhanden seien.3 Sieht man das GewaltenteilungsVgl. Uwe Wilhelm, Der deutsche Frühliberalismus. Von den Anfängen bis 1789, Frankfurt am Main u.a. 1995, 119 ff., 155 ff., 185 ff.; ders., Das Staats- und Gesellschaftsverständnis von J.H.G. von Justi. Ein Beitrag zur Entwicklung des Frühliberalismus in Deutschland, in: Der Staat 30 (1991), 415–441, 424, 426 ff., 440; ansatzweise bereits bei Ursula A.J. Becher, Politische Gesellschaft. Studien zur Genese bürgerlicher Öffentlichkeit in Deutschland, Göttingen 1978, 78 ff.; später weiter ausgeführt von Horst Dreitzel, Justis Beitrag zur Politisierung der deutschen Aufklärung, in: Erich Bödeker u.a. (Hg.), Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung, Hamburg 1987, 158 ff.; ders., Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland, Mainz 1992, 100 ff.; ders., Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz, Bd. 2: Theorie der Monarchie, Köln u.a. 1991, 792 f. 2 Barbara Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches, Berlin 1999, 200 ff., 211; dies., Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absolutistischen Fürstenstaates, Berlin 1986, 166 f. 3 Thomas Würtenberger, An der Schwelle zum Verfassungsstaat, in: Aufklärung 3/2 (1988), 53–88, 80. – Ähnlich auch Ulrich Eisenhardt, der im 18. Jahrhundert ein Verlangen nach „Teilung der Gewalten“ sieht: Deutsche Rechtsgeschichte, München 31999; ferner Marcus Obert, Die naturrechtliche „politische Metaphysik“ des Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771), Frankfurt am Main u.a.. 1992; Hanns-Martin Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, Berlin 1977, 74 f.; Georg Christoph von Unruh, Die „Schule der Rechts-Staats-Lehrer“ 1
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prinzip als entscheidenden staatsorganisatorischen Bestandteil des modernen Rechtsstaatsbegriffs an,4 dann stehen solche Auffassungen im Einklang mit der rechtshistorischen Forschung, die die Anfänge des Rechtsstaatsgedankens bereits in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts datiert.5 Die Frage nach den ideengeschichtlichen Wurzeln der Gewaltenteilung in Deutschland kann sich einer näheren Betrachtung dieses staatsorganisatorischen Prinzips nicht entziehen. Denn der Ausdruck ‘Gewaltenteilung’ ist im Grunde schon, wie es Klaus Stern formuliert hat, „eine nicht unerhebliche Verkürzung des mit diesem Prinzip Gemeinten“.6 Eine Untersuchung über die Gewaltenteilung im 18. Jahrhundert muß also zunächst die notwendigen Bestandteile dieses Verfassungsprinzips klären, ohne dadurch einer anachronistischen Betrachtungsweise zu unterliegen. Der Begriff setzt zunächst die Teilung einer als unbeschränkt gedachten Staatsgewalt voraus. Aus dieser Teilung resultieren unterschiedliche Gewalten, die entweder bloß additiv eine Unterscheidung divergierender Gewalten darstellen oder zugleich funktionell gegliederte und spezifisch definierte Hoheitsaufgaben übernehmen. Diese Herrschaftsgewalten dürfen aber nicht nur auf verschiedene Träger aufgeteilt werden, da insoweit nicht ausgeschlossen werden kann, daß ähnliche oder identische Staatsfunktionen von verschiedenen Trägern ausgeübt werden. Vielmehr müssen die verschiedenen Gewalten und ihre jeweiligen Träger so voneinander getrennt werden, daß eine unabhängige Ausübung unterschiedlicher Herrschaftsfunktionen gewährleistet ist. Nur dadurch kann ein vielfach in den Hintergrund tretender zusätzlicher Bestandteil der Gewaltenteilungsidee seine Wirkung entfalten, nämlich die gegenseitige Hemmung und Kontrolle der einzelnen Gewalten. Die soeben skizzierten Grundvoraussetzungen der Gewaltenteilung bilden gewissermaßen den Maßstab, an dem die folgende Untersuchung die Quellen des 18. Jahrhunderts mißt. Im einzelnen soll also der Frage nachgegangen werden, ob in den theoretischen Konzeptionen im Deutschland des 18. Jahrhunderts von einer Aufteilung staatlicher Gewalt in dem soeben erläuterten Sinne und ihre Vorläufer in vorkonstitutioneller Zeit. Anfang und Entwicklung von rechtsstaatlichen Grundsätzen im deutschen Schrifttum, in: ders. (Hg.), Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für Hans Ulrich Scupin, Berlin 1983, 251–281. – Weitere Nachweise liefert Diethelm Klippel, Politische Theorien im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: Aufklärung 2/2 (1987), 57– 88, 71, Fn. 85. 4 So die überwiegende Auffassung in der heutigen staatsrechtlichen Literatur, vgl. etwa Friedrich E. Schnapp, in: Ingo von Münch u.a. (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, München 52001, Art. 20, Rn. 27, 39 ff.; weitere Nachweise bei Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, München 1980, § 36, 511 ff. 5 Etwa Hermann Conrad, Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts, Köln, Opladen 1961. 6 Stern, Staatsrecht (wie Anm. 4), § 20 IV 3, 792.
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gesprochen werden kann. Zu diesem Zweck ist insbesondere ein Blick in die Lehrbücher des Allgemeinen Staatsrechts (ius publicum universale) aufschlußreich. Als Teil des Naturrechts war es methodisch in der Lage, gedankliche Entwürfe und Modelle der Staatsorganisation unabhängig von den traditionalen Verfassungsstrukturen zu entwickeln. Anders ausgedrückt: Das Allgemeine Staatsrecht war die politische und juristische Legitimationsdisziplin der Zeit, die sich mit dem Gedanken einer wie auch immer verstandenen Gewaltenteilung ungehindert auseinandersetzen konnte. Insoweit ist zu vermuten, daß sich gerade durch einen Blick in das naturrechtliche Staatsrecht Aussagen über die Rezeptionsgeschichte der Gewaltenteilungsidee und deren qualitativer Ausgestaltung im Deutschland des 18. Jahrhunderts treffen lassen. Zur Vorsicht gegenüber den eingangs zitierten Auffassungen mahnt bereits das zeitgenössische Verständnis staatlicher Gewalt, das eine nach Souveränität strebende Landesherrschaft im absolutistischen Sinne zu legitimieren und dadurch den Staatsbildungsprozeß zu fördern versuchte (II.). Dieses Modell staatlicher Herrschaft wurde durch die vereinzelt aufkommende Diskussion um eine Aufteilung staatlicher Gewalt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht erschüttert. Gleichwohl führte ein wachsendes Gefährdungsbewußtsein gegenüber staatlicher Herrschaft zu einer Ausbildung von Alternativmodellen, die aber die monarchische Allgewalt theoretisch nicht ernsthaft in Frage stellten (III.). Erst am Ende des 18. Jahrhunderts läßt sich ein durchgreifender Wandel feststellen, der eng mit dem Aufkommen liberaler politischer Ideen verbunden ist (IV.).
II. Einheitliche Staatsgewalt und monarchische Souveränität 1. Die Theorie staatlicher Gewalt in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts steht ganz im Zeichen der von Jean Bodin und später von Thomas Hobbes fortgeführten Souveränitätslehre.7 Die ‘oberste’ oder ‘höchste Gewalt’ im Staat, die sogenannte maiestas, wurde im Sinne des politischen Konzepts eines ‘princeps legibus solutus’ mit einer umfassenden Herrschaftsbefugnis ausgestattet. Bei Christian Wolff lesen wir 1721, daß eine „ganz uneingeschränkte Gewalt [...] die höchste Gewalt, oder Souvraineté genennet [wird] und, wer diese besitzet, ein Souvrainer Herr [...] über den niemand als Gott zu gebieten
Dazu ausführlich Diethelm Klippel, Art. „Staat und Souveränität VI.–VIII.“, in: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, 98 ff., 107 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, 171 f. 7
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hat. Derowegen [...] in der Monarchie ein Monarche eine unumschränckte Gewalt hat [...]“.8 Die souveräne Majestät kann auf eine ganze Reihe von Rechten zurückgreifen; sie konkretisieren die Machtvollkommenheit ihres Trägers und dokumentieren so den Herrschaftsanspruch des frühneuzeitlichen Territorialstaats. Unter diese Hoheits- oder Majestätsrechte fielen diejenigen Bereiche, die nach Auffassung der Autoren zur Erreichung des gemeinen Wohls von Staat und Untertanen erforderlich waren. Johann Stephan Pütter und Gottfried Achenwall kennen 1750 so viele Majestätsrechte, wie es Arten von Handlungen der Untertanen gibt, die auf Bewahrung und Förderung oder auf Störung und Behinderung des gemeinen Wohls gerichtet sein können.9 In den Lehrbüchern des Allgemeinen Staatsrechts der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden sich jedoch keine systematischen Darstellungen der einzelnen Hoheitsrechte. Die Autoren begnügen sich damit, einzelne Majestätsrechte geradezu willkürlich aneinanderzureihen.10 Eine Systematisierung schien wohl wegen der engen Verbundenheit von Herrschaftswillen und -rechten auch nicht erforderlich zu sein, denn die einzelnen Majestätsrechte sind nur das vom Souverän gewählte Mittel zur Umsetzung staatlicher Ziele. Zwar wurde bereits zwischen inner- und außerstaatlichen Hoheitsrechten unterschieden; eine systematische Ordnung ist aber innerhalb dieser beiden Rechtsgruppen nicht erkennbar. Zu den inneren Hoheitsrechten gehörten nach Johann Gottlieb Heinneccius 1738 etwa das Recht, Gesetze zu erlassen und sie praktisch anzuwenden, was als Rechtsprechung verstanden wird, ferner das Recht, Strafen anzudrohen oder aufzuerlegen, Abgaben und Steuern zu erheben, Beamte und Behörden einzusetzen, schließlich Fragen der Religion und des Handels zu regeln.11 Die Aufzählung der einzelnen Hoheitsrechte liest sich vielfach wie ein politisches Programm für die Um- und Durchsetzung territorialstaatlicher Ziele. Der Prozeß moderner Staatsbildung, der im 18. Jahrhundert auch in Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen, Frankfurt, Leipzig 41736, §§ 441, 473; Wiguläus Xaver Aloys Kreittmayr, Grundriß des Allgemeinen, Deutsch- und Bayrischen Staatsrechtes, Erster Theil, München 21789, §§ 5, 10. – Nahezu identische Aussagen finden sich auch in der lexikalischen Literatur, vgl. die Nachweise bei Klippel, Art. „Souveränität“ (wie Anm. 7), 111 f. 9 Gottfried Achenwall, Johann Stephan Pütter, Anfangsgründe des Naturrechts (Elementa iuris naturae) [1750], hg. und übersetzt von Jan Schröder, Frankfurt am Main, Leipzig 1995, 223: „So viele Arten von Handlungen der Untertanen es also gibt, die auf Bewahrung und Förderung oder auf Störung und Behinderung des gemeinen Wohls gerichtet sein können, in so viele Arten wird auch die bürgerliche Herrschaft passend eingeteilt.“ 10 Wolff, Gedancken (wie Anm. 8), §§ 442, 474 ff.; Johann Gottlieb Heineccius, Elementa iuris naturae et gentium, Halle 1738, § 136. 11 Heineccius, Elementa iuris (wie Anm. 10), § 136; Wolff, Gedancken (wie Anm. 8), §§ 442 ff., 474 ff.; Kreittmayr, Grundriß (wie Anm. 8), §§ 8 ff., 19 ff. 8
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der politischen Praxis mehr oder weniger intensiv vorangetrieben wurde, erhält hier seine theoretische Legitimation, der zugleich Planqualität für die angestrebte politische Realisierung zukommt. 2. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts läßt sich eine zunehmende Systematisierung der einzelnen Hoheitsrechte nachweisen. Insbesondere im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts versuchten die Autoren, alle Hoheitsrechte des Staates systematisch zu ordnen und gleichzeitig in ein Gewaltenmodell zu integrieren. Bereits 1749 findet sich bei Daniel Nettelbladt die richtungsweisende Unterteilung in eine regierende Gewalt („potestas rectoria“), durch die der Herrscher festsetzt, „quid salutis publicae causa fieri, vel non fieri debeat“; zudem konstruiert er eine ausführende („potestas executoria“) und eine aufsehende Gewalt („potestas inspectoria“).12 Eine Aufteilung in verschiedene Gruppen von Hoheitsrechten, die wiederum in spezielle unterteilt werden können, setzte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch. Georg Friedrich Lamprecht etwa differenzierte weiter und unterteilte 1784 die Majestätsrechte in allgemeine und besondere. Die allgemeinen Hoheitsrechte gliedert er, ähnlich wie zuvor Nettelbladt, in die „einrichtende, ausübende, und aufsehende Gewalt“.13 Diese Grundgewalten betreffen dabei keinen „besonderen Gegenstand des allgemeinen Besten“,14 sondern „erstrekken sich auf alle Gegenstände, in so weit sie Mittel zur Staatsabsicht sind“.15 Neben den allgemeinen Hoheitsrechten kann sich die oberste Gewalt auf besondere Majestätsrechte berufen, die „ihren bestimmten Gegenstand vorzüglich zu behandeln haben“.16 Sie konkretisieren die allgemeinen Hoheitsrechte, ohne sie aber einer bestimmten Grundgewalt zuzuordnen. Zu den besonderen HoDaniel Nettelbaldt, Systema elementare universae iurisprudentiae naturalis, Halle 41777, 435 (§ 1220); auch ebd., §§ 1079 ff., 1227 ff. 13 Georg Friedrich Lamprecht, Versuch eines vollständigen Systems der Staatslehre mit Inbegriff ihrer beiden wichtigsten Haupttheile der Polizei- und Kameral- oder Finanzwissenschaft zum Gebrauch academischer Vorlesungen, Bd. 1, Berlin 1784, 87 ff., 88; vgl. Karl Anton Freiherr von Martini, Allgemeines Recht der Staaten, Wien 21788, 30; Heinrich Gottfried Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht überhaupt und nach der Regierungsform, Jena 1775 (Nachdruck Königsstein/Taunus 1979), 57: Zu den allgemeinen Majestätsrechten gehören das „Anordnungsrecht (potestas rectoria)“, die „Oberaufsicht (potestas inspectoria suprema)“ und das „höchste Vollstrekkungsrecht (potestas executoria)“. 14 Lamprecht, Versuch (wie Anm. 13), 87. 15 Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht (wie Anm. 13), 57; vgl. Johann Christian Christoph Rüdiger, Anfangsgründe der allgemeinen Staatslehre mit einem kurzen Lehrbegriff der ökonomischen Policey, Halle 1795, 180. 16 Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht (wie Anm. 13), 57; vgl. Lamprecht, Versuch (wie Anm. 13), 87. 12
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heitsrechten gehörten beispielsweise die Policey- und die Justizgewalt des Regenten; darüber hinaus Cameralsachen oder – freilich beschränkt auf protestantisch orientierte Territorien – die weltliche Kirchenhoheit.17 Karl Anton von Martini systematisierte 1788 bereits weiter und ordnete das Hoheitsrecht der „Policey“ der aufsehenden Gewalt, die Justiz dagegen der Exekutivgewalt des Regenten zu.18 Trotz der zunehmenden Systematisierung der Hoheitsrechte blieben sie sämtlich unselbständige Teile einer einheitlich gedachten Staatsgewalt, der ‘maiestas’. Letztere war für die Autoren der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Koordinations- und Zentralisationspunkt hoheitlicher Rechte, eben die ‘summa potestas’. Da die Hoheitsrechte sich aus der obersten Gewalt ableiten, können sie 1738 für Johann Gottlieb Heineccius von dieser nicht getrennt werden, ohne daß die Einheit des Staates aufgehoben wird und ein Staat im Staate entsteht.19 3. Diese Theorie der absoluten Monarchie war in der staatlichen Praxis im Deutschland des 18. Jahrhunderts keineswegs ungehindert realisierbar.20 Denn nach den Grundgesetzen des Alten Reiches, den ‘leges fundamentales’, waren die Reichsfürsten keineswegs souverän, sondern blieben – trotz vieler Zugeständnisse – in den Reichsverband integriert.21 Die Verfassungsstrukturen des Reiches und die Wissenschaft des geltenden Staatsrechts standen juristisch der Verwirklichung der absolutistischen Ambitionen der Landesfürsten entgegen; allerdings verhinderten sie nicht das politische Streben nach Souveränität. Zudem waren der Landesherrschaft im Innern immanente Grenzen gesetzt. Denn Vgl. Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht (wie Anm. 13), 95 ff., 145 ff.; ders., Das Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten der vornehmsten Völker betrachtet, Bd. 1, Jena 1770, 152; Lamprecht, Versuch (wie Anm. 13), 91; Gottfried Achenwall, Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen, Göttingen 31774, 26. 18 Martini, Allgemeines Recht (wie Anm. 13), 30. – Näher zur „Policey“- und Justizgewalt in der Theorie des Ancien Régime Louis Pahlow, Justiz und Verwaltung. Zur Theorie der Gewaltenteilung im 18. und 19. Jahrhundert, Goldbach 2000, 51 ff. 19 Heineccius, Elementa iuris (wie Anm. 10), § 138: „Haec vero jura majestatis, quum ex summi imperii indole manifesto fluant, ab illo divelli nequeunt, ut non statim unitas voluntatis tollatur, & nascatur respublica in republica“. 20 Zur Problematik der Absolutismusforschung näher Rudolf Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648–1763), Göttingen 1978, 9 ff.; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, München 31997, § 23 I, 157; Ernst Hinrichs, Abschied vom Absolutismus? Eine Antwort auf Nicholas Henshall, in: Ronald G. Asch u.a. (Hg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550–1700), Köln u.a. 1996, 353–376. 21 Zum Folgenden Rudolf Vierhaus, Staaten und Stände. Vom Westfälischen Frieden bis zum Hubertusburger Frieden 1648 bis 1763, Berlin 1984; Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999. 17
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in den Territorialstaaten des 18. Jahrhunderts konnte von einer einheitlich und zentral organisierten, hierarchisch durchgegliederten Staatsgewalt noch keine Rede sein. Eine Fülle seit alters her bestehender individueller und kollektiver Rechtspositionen, die auf Gewohnheit, Privileg oder Vertrag beruhten, hinderte den Ausbau einer zentralen und hierarchisch gegliederten Verwaltung und moderner staatlicher Strukturen. Der Landesherr selbst mußte im Zweifelsfalle seine Rechte durch konkrete ‘Gerechtsame’ nachweisen können. Den absolutistischen Ambitionen eines deutschen Landesfürsten um die Mitte des 18. Jahrhunderts konnten die soeben skizzierten Verhältnisse nicht entsprechen. Wollte er die seinen Plänen entgegenstehenden Hindernisse überwinden, so mußte er versuchen, seine politisch anvisierte Souveränität auch juristisch nach innen und außen zu legitimieren. Nur auf diesem Weg konnte es gelingen, die althergebrachten reichsverfassungsrechtlichen Bindungen weiter zu lockern; vor allem aber konnte die vielfach ständisch partikularisierte Herrschaft innerhalb des Territoriums vereinheitlicht und alle nicht vom Landesherrn als Souverän abzuleitenden Rechte beseitigt oder neu auf ihn bezogen werden. Die politische Theorie legitimierte diese absolutistisch orientierte Politik vor allem mit Hilfe des Allgemeinen, d.h. naturrechtlichen Staatsrechts (ius publicum universale). Dem zeitgenössischen Ideal einer souveränen Landesherrschaft entsprachen auch die grundlegenden Denkmuster des ‘ius publicum universale’. Zu Recht ist es in seiner aufgeklärt-absolutistischen Ausrichtung als Legitimation fürstlicher Landesherrschaft definiert worden.22 Das deutsche Naturrecht des beginnenden 18. Jahrhunderts versuchte den Ursprung und den Zweck der Staaten durch die Staatsvertrags- und Staatszwecklehre zu erklären. Da die Individuen im vorstaatlichen Naturzustand ihre vereinigten Kräfte nicht selbst gebrauchen können, übertragen sie ihre Rechte durch einen oder mehrere Verträge, unter anderem Gesellschafts-, Unterwerfungs- und Herrschaftsvertrag, auf eine oberste Gewalt, die zur Leitung der Gesellschaft berufen wird.23 Während die Staatsvertragslehre in diesem absolutistischen Staatsmodell die monarchische Staatsgewalt legitimiert, liefert der Staatszweck der ‘salus publica’ den dazugehörigen, nahezu unbegrenzten Kompetenzbereich.24 Die Staatszwecklehre bis ca. 1790 definiert sich durch Begriffe wie ‘Glückseligkeit’,
Grundlegend zum folgenden Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, 50. 23 Vgl. die Nachweise bei Pahlow, Justiz und Verwaltung (wie Anm. 18), 67 ff. 24 Charakteristisch Gottfried Achenwall, Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen, Göttingen 31774, 22 f.: „Der Staat entstehet durch einen Vertrag, kraft dessen die zusammentretende Familien sich einander versprechen, ihre gemeinsame Glückseeligkeit gemeinschaftlich zu befördern, und deßwegen sich einer gemeinschaftlichen Oberherrschaft zu untergeben“. 22
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‘gemeine Wohlfahrt’ oder ‘Sicherheit’.25 Durch eine extensive Interpretation dieser Staatszielbestimmungen konnte der Fürst selbst die Mittel zur Erreichung der ‘Glückseligkeit’ bestimmen, die er notfalls zwangsweise durchzusetzen befugt war.26 Das war keine Anmaßung monarchischer Macht, sondern folgte aus dem geschlossenen Staatsvertrag. Der Herrschaftsvertrag verpflichtete den Regenten, das allgemeine Beste zu befördern. Die Untertanen hingegen hatten die Pflicht, allen herrschaftlichen Anordnungen Folge zu leisten.27 Der Staatszweck bildete damit den Maßstab der – zumindest in der Theorie – alle Lebensbereiche durchdringenden staatlichen Tätigkeit. Notwendiges Mittel zur Umsetzung der ‘salus publica’ waren die einzelnen Hoheitsrechte. Deren Art und Umfang richteten sich dementsprechend nach dem Staatszweck: „Die Rechte des Regenten sind [...] aus dem Wesen und dem Endzweck der Staaten überhaupt“ zu bestimmen.28 Daraus folgte umgekehrt, daß alles, „was durch die Absicht des Staats nicht erfordert wird, [...] auch kein Majestätsrecht“ ist.29
III. Die Majestät als höchste und ungeteilte politische Gewalt In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts läßt sich eine verstärkte Auseinandersetzung der naturrechtlichen Autoren mit der Organisation der obersten Gewalt beobachten.30 Dies hängt zumindest auch mit der zunehmenden RezepVgl. insbesondere Diethelm Klippel, Der liberale Interventionsstaat – Staatszweck und Staatstätigkeit in der deutschen politischen Theorie des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Heiner Lück (Hg.), Recht und Rechtswissenschaft im mitteldeutschen Raum. Symposium für Rudolf Lieberwirth, Köln u.a. 1998, 77–103, 82 ff.; Klaus Wohlrab, Armut und Staatszweck im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, Goldbach 1997, 14 ff. mit weiteren Nachweisen. 26 Vgl. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte (wie Anm. 22), 53 mit Nachweisen. 27 Vgl. Wolff, Gedancken (wie Anm. 8), §§ 232, 433: „Derowegen hat die Obrigkeit Freyheit denen Unterthanen zu befehlen, was sie thun und lassen sollen, und die Unterthanen müssen der Obrigkeit gehorchen“. 28 [Georg Wilhelm von Eggers], Versuch eines systematischen Lehrbuchs des natürlichen Staatsrechts, Altona 1790, 43; [Anonym], Ueber die politische Staatskunst. Belehrung und Beruhigung für alle die geschrieben, welche bei der jetzigen Kannegiesserey über Staatsglückseligkeit, Staatsverfassung, Regierung, Regenten und Unterthanen eigentlich nicht wissen, woran sie sind, 1. Teil, Halle, Leipzig 1795, 38: Die Majestätsrechte „müssen einzig und allein aus dem Staatszwecke abgeleitet werden“; vgl. Martini, Allgemeines Recht (wie Anm. 13), 27: „Die Majestätsrechte sind theils nach dem gemeinen Begriff der Oberherrschaft, theils nach dem Endzweck der bürgerlichen Gesellschaft abzumessen“; siehe auch Achenwall, Staatsklugheit (wie Anm. 24), 24. 29 Scheidemantel, Das Staatsrecht nach der Vernunft (wie Anm. 17), Bd. 1, 150. 30 Es entstehen Einzelabhandlungen unter anderem von Jacob Friedrich Döhler, Abhandlung von den Rechten der obersten Gewalt, oder Majestätsrechten und Regalien, Nürnberg 21785; 25
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tion westeuropäischer Staatstheorien zusammen. Bereits am Ende des 17. Jahrhunderts formulierte John Locke die Idee einer Trennung staatlicher Gewalten. Vor allem aber das 1749 erschienene Werk De l’esprit des loix von Charles de Secondat Baron de la Brède et de Montesquieu beeinflußte die deutsche politische Theorie des 18. Jahrhunderts und führte dazu, daß eine verstärkte Diskussion um die Organisation staatlicher Herrschaft einsetzte.31 Die Lehre Montesquieus wird vielfach als Wurzel unserer heutigen Gewaltenteilungstheorie angesehen oder als frühliberales Verfassungsmodell betrachtet.32 Folglich könnte man annehmen, daß auch einige Autoren des naturrechtlichen Staatsrechts unter dem Einfluß von Locke und Montesquieu frühliberale Ideen übernahmen oder entwickelten.33 Dagegen sprechen aber schon die vorherrschende Vielfalt und die allgemeine Sorglosigkeit bei der Einordnung einzelner Herrscherrechte. Die Teilungsidee wird zwar vereinzelt diskutiert, mancherorts sogar vielversprechend formuliert; die Autoren scheuen aber davor zurück, eine weitere politische Gewalt neben dem Regenten zu legitimieren. Die Ergebnisse lassen vielmehr den Schluß zu, daß die ‘Majestät’ bzw. ‘oberste Gewalt’ in der politischen Theorie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine ungeteilte Herrschaftsbefugnis ausüben sollte. Die ‘maiestas’ erscheint zwar nicht mehr zwangsläufig als Inhaber unterschiedlichster Herrschaftsfunktionen, aber dennoch als Verkörperung einer souveränen und ungeteilten politischen Gewalt. 1. Bevor der spezifisch deutschen Diskussion um eine ‘Teilung der Herrscherrechte’ nachgegangen wird, soll der Blick auf die westeuropäische Ideengeschichte der Gewaltenteilung gelenkt werden.34 Bereits John Locke hatte 1690 Friedrich Georg von Hertlein, Juridisch politischer Versuch über die wesentlichen Rechte der Majestät, nach den Grundsätzen des allgemeinen Staatsrechts, Würzburg 1787; ferner läßt sich eine breitere Aufmerksamkeit in den Lehrbüchern beobachten, vgl. die folgenden Nachweise. 31 Vgl. dazu näher Rudolf Vierhaus, Montesquieu in Deutschland. Zur Geschichte seiner Wirkung als politischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde u.a. (Hg.), Collegium philosophicum. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel u.a. 1965, 403–437; Detlef Merten, Friedrich der Große und Montesquieu. Zu den Anfängen des Rechtsstaats im 18. Jahrhundert, in: Willi Blümel (Hg.), Verwaltung im Rechtsstaat. Festschrift für Carl Hermann Ule, Köln u.a. 1987, 187 ff.; zuletzt Horst Möller, Montesquieu im Deutschland des 18. Jahrhunderts Bemerkungen zur Rezeptionsgeschichte, in: Sven Externbrink u.a. (Hg.), Formen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Klaus Malettke, Berlin 2001, 69 ff. 32 Zuletzt Gerhard Köbler, Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte, München 1997, 379 f.; Reinhold Zippelius, Geschichte der Staatsideen, München 91994, 124 ff. 33 Vgl. oben die in Fn. 1–3 zitierten Autoren. 34 Freilich reichen die ideengeschichtlichen Wurzeln der Gewaltenteilung bis in die Antike zurück. Das Folgende wird sich aber auf die englische und französische Ideengeschichte beschränken.
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in seinen Two Treatises of Government die Aufteilung staatlicher Gewalt gefordert. Er suchte nach „Methods of restraining any Exorbitances of those, to whom they had given the Authority over them, and of ballancing the Power of Government, by placing several parts of it in different hands”.35 Zur Verhinderung von Machtmißbrauch unterschied Locke deutlich gesetzgebende und vollziehende Gewalt; der Legislative als der ‘höchsten Gewalt’ räumte er den Vorrang ein. Der König blieb zwar Inhaber der ‘Supreme Executive Power’, aber es konnte nur eine höchste Gewalt geben, „which is the Legislative, to which all the rest are and must be subordinate“.36 Montesquieu ging in seinem Staatsideal von drei politischen Kräften, sogenannten ‘pouvoirs’, aus, der gesetzgebenden, der vollziehenden und der richterlichen Gewalt.37 Im Gegensatz zu Locke38 trennte Montesquieu diese Staatsfunktionen aber nicht, und er wies sie auch nicht selbständigen Staatsorganen zu. Entgegen dem Eindruck vieler Autoren39 formulierte Montesquieu nicht die Grundlagen der modernen Gewaltenteilungsidee.40 Seine zugegebenermaßen modern klingende Unterscheidung zwischen den drei ‘klassischen’ Funktionen der Staatsgewalt bedeutete nicht, daß jede dieser Funktionen einem unabhängigen Staatsorgan zugeordnet wurde. Aus der Einteilung der Gewalten bei Montesquieu folgt nur, daß in allen Verfassungen, unabhängig von der Regierungsform, eine legislative, eine exekutive und eine richterliche Gewalt erforderlich sind. Keiner der von Montesquieu vorgesehenen Träger der einzelnen Gewalten erfüllt aber seine Funktion exklusiv. Das Motiv seines Gewaltenmodells liegt vielmehr in einer Verbesserung der Stellung des Adels, insbesondere des französischen Amtsadels als vermittelnder Gewalt zwischen König und Untertanen.41 Der Adel sollte sowohl an der Gesetzgebung beteiligt als auch Träger der richterlichen Gewalt sein. Die aristokratischen Inhaber der richterlichen Gewalt sollten von Zeit zu Zeit ernannt werden und hatten die Aufgabe, streng
John Locke, Two Treatises of Government [1690], hg. von Peter Laslett, Cambridge 1964, The second Treatise, §§ 107, 356. 36 Locke, Two Treatises, The second Treatise (wie Anm. 35), §§ 152, 149, 387, 384 f. 37 Montesquieu, De l’esprit des lois, Tome I [1749] (Nachdruck Paris 1961), Livre XI., Chapitre VI., 163: „Il y a dans chaque État trois sortes de pouvoirs: la puissance législative, la puissance exécutrice des choses qui dépendent du droit des gens, et la puissance exécutrice de celles qui dépendent du droit civil.“ 38 Locke, Two Treatises, The second Treatise (wie Anm. 35), §§ 152 ff., 382 ff., 392. 39 Vgl. die Nachweise in Anm. 32. 40 Vgl. statt vieler Paul-Ludwig Weinacht (Hg.), Montesqieu – 250 Jahre Geist der Gesetze. Beiträge aus Politischer Wissenschaft, Jurisprudenz und Romanistik, Baden-Baden 1999. 41 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, 121. 35
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nach dem Gesetz zu verfahren, ohne Kontrollbefugnisse gegenüber den übrigen politischen Kräften ausüben zu können.42 Montesquieus Modell war also nicht dazu bestimmt, die funktionelle Selbständigkeit der ‘pouvoirs’ zu gewährleisten. Es zielte eher darauf ab, deren bestmögliches Zusammenwirken so abzusichern, daß nicht die monarchische Zentralgewalt die feudalständischen Kräfte, insbesondere den französischen Amtsadel, bis zur politischen Bedeutungslosigkeit unterdrücken konnte. Bezeichnenderweise spricht Montesquieu auch regelmäßig von einer „Verteilung“ der Gewalten,43 die ein Gleichgewicht zwischen Krone und den übrigen politischen Kräften herstellen sollte.44 Nur dann konnte für Montesquieu eine Despotie verhindert werden.45 Entsprechend den feudalständischen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts sollte die monarchische Gewalt selbstverständlich durch ständische Bindungen begrenzt werden, ebenso selbstverständlich aber auch sämtliche Staatsfunktionen in sich vereinen. Der Regent blieb bei Montesquieu trotz der erklärten ‘Verteilung’ Inhaber der unterschiedlichen Hoheitsrechte, wenn auch einzelne ständische Gruppierungen am politischen Entscheidungsprozeß teilnehmen sollten. Die Zusicherung einer unabhängigen Ausübung politischer Gewalt und damit ein ernstzunehmendes politisches Gegengewicht gegenüber der monarchischen Allgewalt bedeutete das freilich nicht. Montesquieus Verdienst liegt damit eher in einer Gewaltenverteilung mit ständischer Ausgleichsfunktion innerhalb einer unumschränkten Monarchie als in einer Weiterentwicklung oder gar Begründung des modernen Gewaltenteilungsprinzips. 2. Die deutsche politische Theorie, insbesondere das naturrechtliche Staatsrecht, nahm die Ideen Montesquieus zum Anlaß, über eine ‘Teilung der MajeMontesquieu, De l’esprit (wie Anm. 37), Livre XI., Chapitre VI., 165: „La puissance de juger ne doit pas être donnée à un sénat permanent, mais exercée par des personnes trirées du corps du peuple, dans certains temps de l’année, de la manière prescrite par la loi, pour former un tribunal qui ne dure qu’autant que la nécessité le requiert“. – Zum Richterbild im 18. Jahrhundert vgl. Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomaut? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1986, 13 ff. 43 Montesquieu, De l’esprit (wie Anm. 37), Livre XII., Chapitre I.: „[...] une certaine distribution des trois pouvoirs [...]”. – Vgl. Max Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung, Berlin 1959, 8 f.; ausführlich zur sprachlichen Analyse neuerdings Ulrike Seif, Der mißverstandene Montesquieu. Gewaltenbalance, nicht Gewaltentrennung, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 22 (2000), 149–166, 157 ff. 44 Vgl. Panajotis Kondylis, Montesquieu und der Geist der Gesetze, Berlin 1996, 75 ff.; ihm folgend Seif, Der mißverstandene Montesquieu (wie Anm. 43), 157; zu Recht wird Montesquieu als „Vertreter landständischer Rechte“ beschrieben, so Möller, Montesquieu (wie Anm. 31), 72. 45 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (wie Anm. 41), 121 mit Nachweisen; Kondylis, Montesquieu (wie Anm. 44), 75 ff. 42
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stätsrechte’ nachzudenken. Bereits vor 1789 wurde in Deutschland die Frage diskutiert, ob die gesetzgebende von der vollziehenden Gewalt getrennt werden könne.46 Hauptargument für eine Gewaltenteilung war die Gefahr des Mißbrauchs staatlicher Herrschaft, die uneingeschränkt in der Hand des Regenten vereint war. Der Schweizer Physiokrat Isaak Iselin warb schon 1760 dafür, daß „die Gewalt unter denjenigen, denen die Beherrschung des Volkes anvertrauet wird, so viel möglich und so viel es ohne Verwirrung geschehen kan, zu vertheilen und zu mässigen, daß auch der Wille dieselbe zu mißbrauchen, von dem Vermögen dazu entblösset sey“.47 Eine herausragende Rolle in der deutschen Diskussion spielte Johann Heinrich Gottlob von Justi, der sich schon früh mit Montesquieu auseinandersetzte und daher maßgeblich zur Popularität des französischen Schriftstellers in Deutschland beitrug.48 Anders als Montesquieu ging Justi nicht von drei staatlichen Herrschaftsfunktionen aus, sondern befürwortete die Unterscheidung lediglich von gesetzgebender und vollziehender „Macht“.49 Er konstruierte das Ideal einer gemischten Regierungsform, in der beide Funktionen unterschiedlichen Trägern überantwortet waren. Die vollziehende Macht sollte „am besten durch einen König oder Fürsten ausgeübet“50 werden, während die Gesetzgebung einer „Versammlung des Volks“ zukommen sollte.51 Das Verhältnis beider „Mächte“ zueinander sollte durch die „allergewissesten Gränzen“ bestimmt52 und „die verschiedenen Theile der obersten Gewalt in ein gerechtes Verhältniß und Gleichgewicht mit einander gesetzet werden“.53 Justi bemerkte unter Verweis auf Montesquieu, daß es für die Völker „allemal rathsamer und sicherer ist, wenn sie Niemand eine uneingeschränkte oberste Einen Überblick der zeitgenössischen Ansichten gibt Scheidemantel, Das Staatsrecht nach der Vernunft (wie Anm. 17), Bd. 1, 156 ff. 47 Isaak Iselin, Versuch über die Gesetzgebung, Zürich 1760 (Nachdruck Hildesheim, New York 1978), 25 f. 48 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Der Grundriß einer Guten Regierung in Fünf Büchern verfasset, Frankfurt, Leipzig 1759, 154 ff.; ders., Die Natur und das Wesen der Staaten, als die Grundwissenschaft der Staatskunst, der Policey, und aller Regierungswissenschaften, desgleichen als die Quelle aller Gesetze, Berlin, Stettin, Leipzig 1760, 149 ff., 210 ff. 49 Justi, Natur und Wesen (wie Anm. 48), 85; vgl. ders., Grundriß (wie Anm. 48), 155. – Das Recht der Oberaufsicht ging dann in diesen Gewalten auf. Das „Recht der Oberaufsicht, kann man nicht ein Stück oder einen Theil der Majestät nennen. Denn auch diese besteht im Anordnen und Vollziehen“, [Eggers], Versuch (wie Anm. 28), 47 Anm. 50 Justi, Grundriß (wie Anm. 48), 165. 51 Justi, Grundriß (wie Anm. 48), 159 f. 52 Justi, Grundriß (wie Anm. 48), 161: „Die Repräsentanten des Volkes müssen demnach alles ausüben, was zur Gesetzgebung gehöret, nicht das geringste aber, was unter der Vollziehung begriffen ist. Bey diesen natürlichen Gränzen wird einer jeden Macht alle Gelegenheit und Vorwand zu Eingriffen in die Gerechtsame der andern benommen“. 53 Justi, Grundriß (wie Anm. 48), 154. 46
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Gewalt anvertrauen, das ist, wenn sie nicht alle Zweige und Theile der obersten Gewalt in einerley Hände geben“.54 Auf den ersten Blick lassen sich solche Aussagen als konstitutionell oder liberal einordnen.55 Bei genauerem Hinsehen verblassen die vielversprechenden Bekenntnisse Justis jedoch zunehmend. Eine Teilung oder gar Trennung staatlicher Gewalten in der Weise, daß sie mit gegenseitigen Kontrollrechten ausgestattet sind und unabhängig voneinander in ihrer Existenz gewährleistet werden, läßt sich nicht erkennen. Zwar sollte es die Aufgabe von „Worthalter[n] des Volkes“ sein, „über alles, was sie denen Grundverfassungen des Staats entgegen und der Wohlfahrt des Staats und ihrer Provinz vor nachtheilig hielten, dem Monarchen in Person Vorstellungen“ zu tun.56 Eine ernstzunehmende politische Kontrolle lag darin aber gewiß nicht. Denn Justi vermied es, den Vertretern des Volkes ein politisches Gegengewicht gegenüber der Regierung zu verleihen. Vielmehr besitze der König als Wunschträger der vollziehenden Gewalt „alles [...], was zur vollziehenden Macht gehöret, ohne daß die gesetzgebende Macht den geringsten Antheil daran hat“.57 Zudem wurde die vollziehende Macht mit einem umfassenden Vetorecht ausgestattet. So sei „die Einwilligung der vollziehenden Macht bey allen neuen Gesetzen nothwendig [...], welche die Repräsentanten des Volkes beschlossen haben, und daß ohne diese Einwilligung die neuen Gesetze keine Gültigkeit haben“.58 Der Monarch sollte in diesem Mischverfassungsideal aber nicht nur über ein Vetorecht verfügen; er selbst sollte die gesetzgebende Gewalt überhaupt erst gewähren können: „Das zweyte Vorrecht, welches die vollziehende Macht [...] haben muß, bestehet darinnen, daß sie den gesetzgebenden Körper zusammen zu berufen und demselben eine Zeitlang, oder gänzlich wieder zu trennen befugt ist“.59 Nicht die ‘Versammlung des Volkes’, sondern der Monarch entscheidet damit über die Notwendigkeit einer von der gesetzgebenden ‘Macht’ ausgeübten Gesetzgebung. Fast beiläufig wies Justi darauf hin, daß Gesetzgebung auch „nicht unaufhörlich und zu allen Zeiten nöthig“ sei.60 Die Legislative ist in Justis Modell also keine konsequent von der Exekutive getrennte eigenständige und unabhängige Staatsgewalt, sondern allenfalls ein Partizipationsinstrument ohne ernstzunehmendes politisches Gewicht, das in seiner Existenz und Bedeutung vom Willen des Herrschers abhängt. Selbst wenn eine Justi, Natur und Wesen (wie Anm. 48), 97; vgl. ebd.: „Diese Austheilung der obersten Gewalt soll dem Heil der Völker dienen“; siehe auch ders., Grundriß (wie Anm. 48), 154 ff. 55 Würtenberger, Verfassungsstaat (wie Anm. 3), 58 ff., 80; Obert, Justi (wie Anm. 3), 177 ff. 56 Justi, Natur und Wesen (wie Anm. 48), 158. 57 Justi, Grundriß (wie Anm. 48), 165. 58 Justi, Grundriß (wie Anm. 48), 163. 59 Justi, Grundriß (wie Anm. 48), 164. 60 Ebd. 54
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solche Versammlung tätig werden konnte, so durfte sie ihre Legislativbefugnis „niemals über die Grundgesetze und Grundverfassungen des Staats“ ausüben, sondern sie nur auf die „zeitigen Angelegenheiten“ erstrecken.61 Justis Bekenntnis zum ‘Gleichgewicht der Gewalten’ bedeutet damit keine politische Kontrolle fürstlicher Souveränität. Anders als Montesquieu liegt das Motiv seines Staatsideals aber nicht in einer Einbeziehung, sondern in einer Zurückdrängung ständischer Herrschaftsträger, denn „weder der Adel, noch die Minister des Monarchen [sind] zu dieser Gesetzverwahrung geschickt und zureichend“.62 Vielmehr sollte ‘am besten’ in der Einbeziehung des Volkes oder seiner Repräsentanten durch Repräsentativkörperschaften die Gesetzgebung ausgeübt werden. Zwar klingt das Konzept einer Volksrepräsentation durchaus demokratisch, eine Teilhabe an staatlicher Gewalt ist damit jedoch nicht verbunden. Denn die fürstliche „Gewalt selbst wird dadurch nicht im geringsten geschwächet; und sollte wohl ein billiger Monarch seinen Unterthanen das Recht, demüthige Vorstellungen zu thun, verweigern können? Ein Recht, welches das allergeringste ist, was Unterthanen haben können, und das ein Herr, wenn er nicht sehr grausam ist, nicht einmal seinen Sklaven verweigert. Ein weiser Monarch sollte sich dieses vielmehr lieb seyn lassen, weil er dadurch einen der sichersten Wege erlangen würde, die Wahrheit einer Sache und den eigentlichen Zustand seiner Provinzen einzusehen, die ihn seine Ministers öfters ganz anders vorstellen.“63 Justis ‘Versammlung des Volkes’ läßt sich also vielmehr auf eine Beschneidung ständischer und höfischer Zwischengewalten zurückführen. Seine ‘Worthalter des Volkes’ sollten die ständischen Herrschaftsträger zwar ersetzen; ihr Einfluß auf Staat und Regierung reichte aber über ein bloßes Petitionsrecht nicht hinaus. Justi ist damit kein Vordenker liberal-konstitutioneller Verfassungsmodelle, sondern vielmehr Teil eines gerade um 1770 formulierten reformabsolutistischen Staatsdenkens.64 Wie andere
Justi, Grundriß (wie Anm. 48), 161. Justi, Natur und Wesen (wie Anm. 48), 157. 63 Justi, Natur und Wesen (wie Anm. 48), 159. – Zum wohlfahrtsstaatlichen Konzept bei Justi vgl. Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, München 21980, 181 ff.; Becher, Politische Gesellschaft (wie Anm. 1), 78 ff.; Ulrich Engelhardt, Zum Begriff der Glückseligkeit in der kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts (J.H.G. von Justi), in: Zeitschrift für Historische Forschung 8 (1981), 37–79. 64 Zu Begriff und Bedeutung des ‘Reformabsolutismus’ näher Günter Birtsch, Aufgeklärter Absolutismus oder Reformabsolutismus?, in: Günter Birtsch (Hg.), Reformabsolutismus im Vergleich. Staatswirklichkeit – Modernisierungsaspekte – Verfassungsstaatliche Positionen, Hamburg 1996, 101–109; ders., Der preußische Staat unter dem Reformabsolutismus Friedrichs II., seine Verwaltung und Rechtsverfassung, in: Karl Otmar von Aretin (Hg.), Friedrich der Große. Herrscher zwischen Tradition und Fortschritt, Gütersloh 1985, 131–138; ders., Friedrich Wilhelm I. und die Anfänge der Aufklärung in Brandenburg-Preußen, in: Oswald Hauser (Hg.), Preußen, Eu61 62
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Autoren innerhalb dieser Strömung zweifelte er das absolute Monarchiekonzept keineswegs an, sondern trat ihm lediglich mit einem größeren Gefährdungsbewußtsein entgegen,65 ohne aber das politische und rechtliche Gewaltmonopol des Souveräns ernsthaft anzutasten. Justi hat unter seinen aufgeklärt-absolutistischen Zeitgenossen breite Zustimmung für sein Staatsmodell erfahren.66 Allen Autoren waren die Gefahren bewußt, die von monarchischer Willkür und Mißbrauch staatlicher Gewalt ausgehen konnten. Die aufgeklärt-absolutistische Staatsphilosophie sah es aber als ausreichend an, dem aufgeklärten Herrscher ‘Abgeordnete des Volkes’ als aufmerksame Wächter beiseite zu stellen, ohne ihnen eine wirkungsvolle Kompetenz gegenüber der Regierung einzuräumen. Das läßt sich auch an anderen Staatsmodellen nachweisen. Ernst Ferdinand Klein etwa wollte 1797 die Möglichkeit einer Kontrolle der Staatsgewalt nicht der Legislative, sondern vielmehr der aufsehenden Gewalt überlassen, stattete diese aber ebenfalls nicht mit der nötigen Sanktionskompetenz gegen die Staatsgewalt aus: „Es läßt sich aber auch eine aufsehende Gewalt denken, welche zu Bewachung der übrigen Zweige der Staatsgewalt bestimmt ist. [...] Es folgt aber aus dieser Unabhängigkeit nicht, daß sie auch die Befugniß haben müßten, die oberste Staatsgewalt aufzuheben“.67 Nach damaligem Verständnis hatten eben die „Regierungsformen [...] auf die bürgerliche Freiheit [noch] keinen nothwendigen und unmittelbaren Einfluß“.68 Es verwundert daher nicht, wenn Heinrich Gottfried ropa und das Reich. Neue Forschungen zur brandenburgisch-preußischen Geschichte 7, Köln u.a. 1987, 87–102. 65 Dazu etwa Klippel, Politische Theorien (wie Anm. 3), 71 f.; ders., Interventionsstaat (wie Anm. 25), 89 ff. mit weiteren Nachweisen. 66 Eine ganze Reihe von Autoren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts adaptierten sein Mischverfassungsideal, z.T. in wörtlicher Anlehnung: z.B. Johann Friedrich von Pfeiffer, Grundsätze der Universal-Cameral-Wissenschaft, 2 Bde., Frankfurt am Main 1783 (Nachdruck Aalen 1970), Bd. 1, 58, 60 ff.; ähnlich Achenwall, Staatsklugheit (wie Anm. 24), 43 ff.; ansatzweise auch Johann Jakob Reinhard, Ein Traum, in: ders., Vermischte Schriften, 7. Theil, Frankfurt, Leipzig 1767, 929 ff. 67 Ernst Ferdinand Klein, Grundsätze der natürlichen Rechtswissenschaft, Halle 1797, 258. – Das schloß freilich Sanktionsmechanismen gegenüber Regierungsorganen nicht aus: „Mich dünkt daher, ein aufgeklärtes und patriotisches Volk würde am sichersten die Früchte der gesellschaftlichen Vereinigung erndten und die Dauer dieser Vortheile befestigen, wenn es den Fürsten, als seinem Repräsentanten, zwar die dreyfache Gewalt der Ertheilung, Anwendung und Vollziehung der Gesetze übergäbe; sich aber die öffentliche Rechenschaft der Minister und die Macht, sie zu strafen, vorbehielte, im Fall sie, durch Leidenschaft verblendet, die Vortheile des Herrschers in den Vortheilen der Gesellschaft verkannt und seine Schritte mißleitet hätten“, so Christian Friedrich Freiherr von Ungern-Sternberg, Blick auf die moralische und politische Welt; Was sie war, was sie ist, was sie seyn wird, Bremen 1785, 207 f. 68 Johann August Eberhard, Ueber die Freyheit des Bürgers und die Principien der Regierungsformen, in: ders., Vermischte Schriften, Bd. 1, Halle 1784, 9.
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Scheidemantel 1770 zu dem Schluß kommt, daß eine Teilung der Majestät unmöglich sei, „weil die Majestät ein einiges, höchstes, vollkommenes und unabhängiges Wesen ist, und sich in einem Staat keine andere Personen denken lassen als Regent und Untertanen“.69 3. Wie weit die deutsche Staatsphilosophie um 1770 noch von einer liberalkonstitutionellen Gewaltenteilungstheorie entfernt war, belegt auch ein Blick auf die Stellung der Justiz. Im Unterschied zu Montesquieu70 wurde in der deutschen Staatstheorie die Anerkennung einer eigenständigen richterlichen Gewalt durchweg abgelehnt. Die Justiz war vielmehr Teil der vollziehenden Gewalt: „Allein, die richterliche Macht kann niemals eine souveräne Gewalt ausmachen. Sie muß [...] in Ansehung der Vollziehung der bürgerlichen Gesetze auch der höchsten vollziehenden Macht des Staates unterworfen seyn“.71 Gleichwohl wurden die Gefahren des Mißbrauchs der Justiz erkannt, die sich gerade durch die enge Verbindung mit der vollziehenden Gewalt ergaben: „Wenn demnach die richterliche Macht mit einem von denen zween Hauptzweigen der obersten Gewalt vereinigt ist; so kann schwerlich ein wahres Gleichgewicht unter ihnen statt finden“.72 Friedrich Georg von Hertlein befürchtete 1787 sogar von der Justiz größeren Machtmißbrauch als von dem Regenten.73 Um dieser Gefahr vorzubeugen, sollte die Justiz auch bei Justi aristokratisch besetzt werden. Der Adel war für die Gerichtsbarkeit vorgesehen, weil dieser „gleichsam einen mittlern Körper zwischen der gesetzgebenden und vollziehenden Macht“ ausmache, „der [...] keine Ursache hat; weder auf die eine, noch auf die andre Seite zu neigen“.74 Gerade angesichts dieses aristokratischständischen Monopols auf Besetzung und Ausübung der Gerichtsbarkeit kann Scheidemantel, Das Staatsrecht nach der Vernunft (wie Anm. 17), Bd. 1, 160; vgl. ebd., 162: „Die Maiestät kan also in den mehresten und vernünftigsten Fällen unteilbar genennt werden“. – Vgl. Hans Fenske, Art. „Gewaltenteilung“, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 7), Bd. 1, 936 f. mit weiteren Nachweisen. 70 Montesquieu wollte die Richter von der vollziehenden Gewalt trennen, vgl. ders., De l’esprit (wie Anm. 37), Livre XI., Chapitre VI., 164: „Si elle était jointe à la puissance exécutrice, le juge pourrait avoir la force d’un oppresseur“. 71 Justi, Grundriß (wie Anm. 48), 156; vgl. ders., Natur und Wesen (wie Anm. 48), 86 f.; [Johann Friedrich von Pfeiffer], Grundriß der wahren und falschen Staatskunst, Bd. 2, Berlin 1779, 24; Klein, Grundsätze (wie Anm. 67), 258. 72 Justi, Grundriß (wie Anm. 48), 158. 73 Friedrich Georg von Hertlein, Juridisch-Politischer Versuch über die Wesentlichen Rechte der Majestät, nach den Grundsätzen des allgemeinen Staatsrechts, Würzburg 1787, 11: „Willkürliche Behandlung und Unterdrückung der Gesetze läßt sich von einem souverainen Gerichtshofe weit eher, also von dem Gesetzgeber selbst befürchten“. 74 Justi, Grundriß (wie Anm. 48), 168. 69
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von einem „hochdifferenzierten konstitutionellen Modell“ oder einem „liberalen Kernstück“ des Verfassungsverständnisses bei Justi keine Rede sein.75 Von einer Theorie der Gewaltenteilung liberaler Prägung war Justi jedenfalls weit entfernt. Aus der nicht vorhandenen Trennung staatlicher Gewalten ergibt sich ein weiteres staatsrechtliches Problem des 18. Jahrhunderts: das Verhältnis von „Policey“- und Justizsachen.76 Bei Streitigkeiten zwischen Untertanen und Polizeibehörden, aber auch zwischen Untertanen untereinander ergab sich häufig die Frage, ob die Polizeikollegien oder die Gerichte entscheiden sollten. Der ‘Policey’, die als staatliches Instrument zur Förderung der Wohlfahrt und Glückseligkeit der Untertanen vorgesehen war, sollte eine eigene Entscheidungskompetenz zukommen. Daneben konnten aber ebenso die herkömmlichen Justizstellen entscheiden, sofern der Schutz der Rechte des einzelnen, das Mein und Dein, betroffen war. Beide, sowohl die Justiz als auch die Polizei hatten, so faßte Heinrich Gottfried Scheidemantel 1773 treffend zusammen, die „Handhabung der Gerechtigkeit im Staat zur Absicht“.77 Es liegt auf der Hand, daß sich daraus Kompetenzkonflikte ergaben.78 Eine Abgrenzung beider Zuständigkeitsbereiche konnte aber nicht gelingen, solange man die Justiz nicht als eigenständige Staatsgewalt anerkannte, sondern sie lediglich als Teil der vollziehenden Gewalt begriff. Legte man etwa die Zwecke der Justiz und der Polizei als maßgebliches Abgrenzungskriterium zugrunde, dann konnte daraus kein taugliches Differenzierungskriterium entnommen werden. Beispielhaft und bezeichnend für die Abgrenzungsschwierigkeiten ist der Versuch von Heinrich Gottfried Scheidemantel. Er bestimmte „die Gränzen der Polizei und Justizsachen nach dem öffentlichen Wohlseyn und privat Nuzzen“.79 Sache der Justiz sei die Verwirklichung des Rechts, während „Polizeisachen [...] unmittelbar das Wolseyn des Staates zur Absicht [haben] und wenn sie [...] den Privatnuzzen einzelner Unterthanen vorzüglich befördern, so geschiehet es doch nur, um die gemeinschaftlichen Vorteile dadurch zu bewirken“.80 Allerdings konnte bei einem derart weiten Aufgabenbereich der ‘PoliSo aber Wilhelm, Frühliberalismus (wie Anm. 1), 119 ff., 139; ders., Staats- und Gesellschaftsverständnis (wie Anm. 1), 427, 440. 76 Dazu näher Pahlow, Justiz und Verwaltung (wie Anm. 18), 21 ff., 37 ff. 77 Scheidemantel, Das Staatsrecht nach der Vernunft (wie Anm. 17), Bd. 3, 8 Anm. 78 In Preußen entschied darüber eine 1756 eigens dafür eingerichtete Jurisdiktionskommission. Näheres zu den Ressortkämpfen zwischen Justiz- und Polizeikollegien bei Pahlow, Justiz und Verwaltung (wie Anm. 18), 90 ff. 79 Scheidemantel, Das Staatsrecht nach der Vernunft (wie Anm. 17), Bd. 2, 63. 80 Ebd., 65; ähnlich auch Carl Gottlob Rössig, Lehrbuch der Polizeywissenschaft, Jena 1786, 11: „Die Polizey sorgt zuerst für das Ganze und dann für Einzelne. Die Justiz zuvörderst für die Rechte der Einzelnen und dann erst für das Ganze“. 75
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cey’ eine verläßliche Abgrenzung zur Justiz kaum gelingen. Scheidemantel muß daher eingestehen, daß „beide [...] sich mit Anwendung der Mittel, wodurch der Wolstand der Untertanen erhalten wird“, beschäftigen.81 Denn „man darf nicht glauben, daß der Endzweck von einer Art die andere völlig ausschließe“.82 Abgrenzungsprobleme ergaben sich auch dann, wenn die Justiz dem Vollstreckungsrecht, die ‘Policey’ aber dem Oberaufsichtsrecht der ‘Majestät’ zugeordnet wurde.83 Beide Herrschaftsrechte blieben unangefochten Teil der ‘Majestät’. Die Möglichkeit der Differenzierung hing demzufolge allein von der präzisen Definition der beiderseitigen Aufgabenbereiche ab; sie mußte aber an einer ‘Policey’ scheitern, die „Bürger und ganze Völker glückselig zu machen“ hatte.84 Berücksichtigt man die inhaltliche Weite des zeitgenössischen Polizeibegriffs, dann ließen sich darunter auch Aufgaben des Rechtsschutzes und damit klassische Justizkompetenzen fassen. Auch die zeitgenössischen gesetzgeberischen Versuche waren um eine vordergründig artikulierte Trennung von Justiz und Polizei bemüht, ließen aber im Detail genügend Spielraum zugunsten der Polizeibehörden.85 Es dürfte daher der allgemeinen Einschätzung entsprochen haben, wenn Scheidemantel 1770 feststellte, daß „Staats- und Privatinteresse[n ...] allemal mit einander verknüpft [sind], einerlei Sache kan unter verschiedenen Umständen für die Justiz oder Polizei gehören“.86
IV. Die Trennung der Gewalten in der liberalen Staatstheorie am Ende des 18. Jahrhunderts Am Ende des 18. Jahrhunderts kam es im naturrechtlichen Staatsrecht zu einem tiefgreifenden Umbruch im Verständnis staatlicher Herrschaft. Die Ursache für diese Entwicklung liegt in der zunehmend liberalen Ausrichtung des Naturrechts und des Allgemeinen Staatsrechts.87 Das zeigt sich unter anderem in der Neuformulierung der Staatszwecklehre und der damit verbundenen AnScheidemantel, Das Staatsrecht nach der Vernunft (wie Anm. 17), Bd. 2, 65. – Auch andere Versuche einer Abgrenzung von ‘Policey’- und Justizkompetenzen blieben letztlich aus diesem Grunde erfolglos, vgl. Pahlow, Justiz und Verwaltung (wie Anm. 18), 35 ff. 82 Scheidemantel, Das Staatsrecht nach der Vernunft (wie Anm. 17), Bd. 3, 10 f. 83 Etwa Martini, Allgemeines Recht (wie Anm. 13), 41, 49. 84 Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht (wie Anm. 13), 95; Carl Gottlob Rössig, Die Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, des allgemeinen Staats- und allgemeinen bürgerlichen Rechts, 2. Teil, Leipzig 1794, 54. 85 Dazu näher Pahlow, Justiz und Verwaltung (wie Anm. 18), 38 f., 90 ff. 86 Scheidemantel, Das Staatsrecht nach der Vernunft (wie Anm. 17), Bd. 2, 63. 87 Näher zu diesem Prozeß Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte (wie Anm. 22), 120 ff. mit weiteren Nachweisen; ders., Interventionsstaat (wie Anm. 25), 93 ff.; Wohlrab, Armut und Staatszweck (wie Anm. 25), 72 ff. 81
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erkennung der Gewaltenteilungsidee: Die neue Staatszwecklehre verengte die staatliche Daseinsberechtigung auf den Schutz und die Sicherung von Freiheit und Eigentum. Das mußte die Akzeptanz der Gewaltenteilung begünstigen, denn auch die Aufteilung staatlicher Gewalt sollte dem Schutz und der Sicherung individueller Rechte im Staat dienen. 1. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam es im Allgemeinen Staatsrecht zu einer Abkehr vom herkömmlichen Verständnis staatlicher Oberherrschaft.88 Hatten die Autoren bisher die oberste Gewalt als Zentralisationspunkt der Hoheitsrechte aufgefaßt, die somit als überragende, eigenständige und unteilbare Staatsgewalt fungierte, so wandelte sich dieses Bild seit etwa 1790. Nunmehr forderten die Naturrechtler in großer Zahl die Teilung der Herrscherrechte. August Ludwig Schlözer etwa schrieb 1793: „Man teile also die Herrscherrechte [...]: man mische die RegierungsFormen, wie der Arzt ArzneiMittel zusammensetzt, um die zu heftige Wirkung des einen durch das andere zu mildern“.89 Ohne bereits eine konkrete Ausgestaltung des Gewaltenteilungsprinzips zu formulieren, war sich die naturrechtliche Theorie doch darin einig, daß die „EinHerrschaft [...] die gefährlichste [ist], wenn sie unumschränkt“ sei.90 Eine herausragende Rolle in diesem Umdenkungsprozeß spielte die Philosophie Immanuel Kants.91 Er befürwortete 1795 eine Aufteilung der staatlichen Gewalt.92 Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Trennung der gesetzgebenden von der vollziehenden Gewalt; 1797 nahm er eine unabhängige Justiz in die Gewaltentrias auf. Sein Gewaltenmodell entspricht den Maßstäben einer konstitutionellen Gewaltenteilungslehre im Sinne einer Gewaltentrennung.93 Ausführlich zu diesem Prozeß Pahlow, Justiz und Verwaltung (wie Anm. 18), 299 ff. August Ludwig Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, Göttingen 1793, §§ 23, 144; vgl. Johann Heinrich Abicht, Neues System eines aus der Menschheit entwikelten Naturrechts, Bayreuth 1792, 506: „Die gesetzgebende Gewalt muß einem andern Collegio anvertraut werden als die Regierungsgewalt“; Johann Benjamin Erhard, Prüfung der Alleinherrschaft nach moralischen Prinzipien, in: Der neue Teutsche Merkur 3 (1793), 362: „Die [...] Gewalten müssen getrennt seyn“. 90 Schlözer, Allgemeines StatsRecht (wie Anm. 88), §§ 23, 144. 91 Zur Bedeutung Kants für das deutsche Naturrecht Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte (wie Anm. 22), 120; ders., Naturrecht als politische Theorie. Zur politischen Bedeutung des deutschen Naturrechts im 18. und 19. Jahrhundert, in: Erich Bödeker (Hg.), Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung, Hamburg 1987, 267–293, 273. 92 Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: ders., Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 6, Darmstadt 1983, 206 f.: „[...] Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden [...]“; vgl. ebd., Bd. 4, 436: „Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) kann also nicht zu gleich der Regent sein“. 93 Kant, Rechtslehre, in: Werke (wie Anm. 92), Bd. 4, 431: „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich [...] (trias politica): die Herrschergewalt [...] in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt, in der des Regierers [...] und die rechtsprechende Gewalt [...] in der Person des Richters“. 88 89
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Zahlreiche Autoren der jüngeren Naturrechtsschule setzten sich mit seinen Ideen auseinander und übernahmen seine Gewaltenteilungstheorie, wenn auch in unterschiedlichen Variationen.94 Das Ideal einer aufgeteilten Staatsgewalt wurde jedem Staat zum Ziel gesetzt.95 Im Unterschied zur aufgeklärt-absolutistischen Staatsdoktrin wurden den unterschiedlichen Hoheitsträgern erstmals Kompetenzen zugebilligt, die über die bisherigen Modelle weit hinausgingen. So sollte der Gesetzgebung die Möglichkeit eingeräumt werden, die vollziehende Gewalt zu kontrollieren, sie notfalls auch abzusetzen. Nach Konrad Stang etwa konnte der Gesetzgeber „dem Regenten seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung umändern“.96 Der Regent war dann nur noch bloßer „Agent des Staates“, eine „moralische Person“, der der „gesetzgebenden Gewalt untergeordnet“ sei.97 Einer politischen Aufwertung der Gesetzgebung stand also eine Abwertung der monarchischen Exekutive gegenüber. Im Unterschied zur aufgeklärt-absolutistischen Staatstheorie waren damit erstmals mehrere Hoheitsträger denkbar, die unabhängig voneinander politischen Einfluß ausüben und demzufolge auch eine wirkungsvolle gegenseitige Kontrolle ihrer Macht gewährleisten konnten. Eine Aufwertung läßt sich auch bei der Justiz beobachten. Entscheidendes Motiv der Berücksichtigung einer eigenständigen richterlichen Gewalt um 1800 war die Abwehr staatlicher Einflußnahme – entweder durch Kabinettsjustiz oder durch sogenannte Machtsprüche – auf gerichtliche Entscheidungen.98 Die rechtsprechende Gewalt könne weder von der gesetzgebenden noch von Für eine Dreiteilung der Staatsgewalt in gesetzgebende, exekutive und richterliche Gewalt um 1800 etwa Christian Friedrich Michaelis, Allgemeines Staatsrecht nach Fichtischen Principien erläutert, Leipzig 1802, 128 ff., 141 f.; Konrad Stang, Darstellung der reinen Rechtslehre von Kant zur Berichtigung der vorzüglichsten Mißverständnisse derselben, Frankfurt, Leipzig 1798, 96 ff.; Johann Heinrich Tieftrunk, Philosophische Untersuchungen über die Tugendlehre, 2. T., Halle 1798, 114, 163, 171; einen Dualismus von gesetzgebender und vollziehender Gewalt befürwortet Leonhard von Dresch, Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundprinzipien des gesammten Privatrechts, der Staatslehre und des Völkerrechtes, Heidelberg 1817, 217. 95 Kant, Zum ewigen Frieden (wie Anm. 92), 204. 96 Stang, Darstellung (wie Anm. 94), 99; zuvor bereits Kant, Rechtslehre, (wie Anm. 93), 436: Der Gesetzgeber „kann diesem [dem Regenten] seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung reformieren“; Michaelis, Allgemeines Staatsrecht (wie Anm. 94), 142. 97 Vgl. Kant, Rechtslehre, (wie Anm. 93), 435; Georg Samuel Albert Mellin, Grundlegung zur Methaphysik der Rechte oder der positiven Gesetzgebung. Ein Versuch über die ersten Gründe des Naturrechts, Züllichau 1796 (Nachdruck Brüssel 1969), 108; Michaelis, Allgemeines Staatsrecht (wie Anm. 94), 141 f.; Stang, Darstellung (wie Anm. 94), 99. 98 Bereits 1790 trennte etwa der Braunschweiger Oberpolizeikommissar Leopold Friedrich Fredersdorff die „Verwaltung der Gerechtigkeit [...] von denen Personen, welche an der obersten Gewalt Theil haben“, Fredersdorff, System des Rechts der Natur auf bürgerliche Gesellschaften, Gesetzgebung und das Völkerrecht angewandt, Braunschweig 1790, 395; ebd.: „Noch weniger muß der Regent selbst sich in diese Geschäfte mischen“. 94
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der vollziehenden Gewalt ausgeübt werden, da „jede jener beiden Gewalten in dem, was sie über den Untertan [...] beschließen, ihm unrecht tun“ kann.99 Die Anerkennung einer eigenständigen richterlichen Staatsgewalt begünstigte die vor allem im 19. Jahrhundert stattfindende theoretische Trennung von Verwaltung und Justiz.100 Die Autoren des Allgemeinen Staatsrechts um 1800 wiesen wiederholt auf den grundlegenden Zweck der Gewaltenteilung hin: Sie diene dem Schutz vor Mißbrauch staatlicher Herrschaft. Sobald nämlich die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt in einer Person oder in einer Gruppe von Personen zusammenfielen, bestand nach Auffassung der Staatsphilosophen durch die damit einhergehende Machtkonzentration die Gefahr von Willkür. Wenn „derjenige, welcher die Gesetze giebt, sie auch vollstreckt, so kann er sie nach seinen Naturtrieben und nach dem Freiheits- und Rechtsbegriff geben, die Gesetze können also Werkzeuge seiner rechtswidrigen Begehrungen seyn, und sein Privatwille wird statt des Willens aller herrschen“.101 Eine solche Verfassung wurde als „despotisch“ verworfen. Sei dagegen in einem Staat „die Gesetzgebende Gewalt von der Regierung abgesondert“, dann herrsche „Republikanismus“.102 Die Gewaltenteilungslehre konnte aber nur Erfolg haben und überzeugen, wenn der Staat durch eine Aufteilung einzelner Staatsgewalten nicht in seiner gedanklichen Einheit beeinträchtigt wurde. Gewaltenteilung, dessen waren sich die Autoren bewußt, durfte nicht zu einer Beeinträchtigung oder gar Behinderung bei der Bewältigung der Staatsaufgaben führen. Nur die gegenseitige Koordination und das harmonische Zusammenwirken der verschiedenen Gewalten konnten für Staat und Bürger von Nutzen sein.103 Für Johann Adam Bergk „müssen die verschiedenen Gewalten, welche zu einer durchgehenden Rechtsherrschaft notwendig sind, voneinander getrennt, aber doch in ihren Wirkungen Kant, Rechtslehre, (wie Anm. 93), 436; siehe auch Stang, Darstellung (wie Anm. 94), 100; Michaelis, Allgemeines Staatsrecht (wie Anm. 94), 142; Ignaz Paul Vitalis Troxler, Philosophische Rechtslehre der Natur und des Gesetzes mit Rücksicht auf die Irrlehren der Liberalität und Legitimität, Zürich 1820, 162. 100 Dazu ausführlich Pahlow, Justiz und Verwaltung (wie Anm. 18), 114 ff., 228 ff., 273 ff., 324 ff. 101 Mellin, Grundlegung (wie Anm. 97), 111; Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatslehre für denkende Geschäftsmänner, Kammeralisten und gebildete Leser, Bd. 1, Leipzig 1808, 95: „[...] so würde, wenn die legislative und executive Gewalt in Eins zusammenflössen, [...] der Zwang [...] nicht mehr von dem Gesetze, sondern von der Willkühr des Zwingenden abhängen“; Stang, Darstellung (wie Anm. 94), 103; Friedrich Ancillon, Ueber Souveränität und Staats-Verfassungen. Ein Versuch zur Berichtigung einiger politischer Grundbegriffe, Berlin 1815, 32. 102 Mellin, Grundlegung (wie Anm. 97), 110; Kant, Zum ewigen Frieden, (wie Anm. 92), 206 f.; Stang, Darstellung (wie Anm. 94), 103; Johann Adam Bergk, Die Theorie der Gesetzgebung, Meißen 1802, 165, 170; Erhard, Prüfung der Alleinherrschaft (wie Anm. 89), 363 f., 366. 103 Kant, Rechtslehre, (wie Anm. 93), 434 f.; vgl. Stang, Darstellung (wie Anm. 94), 97. 99
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ineinander eingreifend sein, damit das Recht stets das notwendige Resultat derselben sei“.104 Den Autoren waren also die beiden grundlegenden Ziele einer Gewaltenteilung bekannt. Durch die funktionelle Trennung der politischen Kräfte sollte einerseits verhindert werden, daß es zu einer Konzentration staatlicher Herrschaftsmacht kam, andererseits sollte ein politisches Gleichgewicht der Gewalten deren gegenseitige Kontrolle ermöglichen.105 2. Ein wesentlicher Grund für die zunehmende Anerkennung der Gewaltenteilungsidee lag in der liberalen Staatszwecklehre um 1800. Die um 1800 in der deutschen politischen Theorie formulierten Menschenrechte, deren Sicherung zum Zweck des Staates erklärt worden war, sollten auch durch die Theorie der Gewaltenteilung vor staatlichen Eingriffen geschützt werden.106 Denn die Verhinderung des Mißbrauchs staatlicher Gewalt durch deren Aufteilung sollte, wenn auch nur mittelbar, der Sicherung individueller Rechte dienen. Ein wichtiger Grund für die Aufnahme der Gewaltenteilung als Organisationsprinzip staatlicher Gewalt lag also in der Neuorientierung der Zielfunktionen der naturrechtlichen Staatslehre. Während die Staatszwecklehre der politischen Theorie des aufgeklärten Absolutismus das rechtfertigende Prinzip zur Konzentration der Hoheitsrechte in der Person des Monarchen enthielt, so zielte die liberale Staatszwecklehre auf deren Dekonzentration. Das Prinzip der Gewaltenteilung bildet also einen frühen Bestandteil der liberalen politischen Theorie. Die Befürworter der Gewaltenteilung sahen die Gefahren für Freiheit und Sicherheit, die von einer unbeschränkten und ungeteilten Staatsgewalt ausgingen: „Es versteht sich darum von selbst, daß, wenn alle drei Gewalten in einer Person [...] vereinigt wären, dieß alle Freiheit untergraben würde“.107 Eine Aufteilung staatlicher Gewalt konnte dieser Gefahr vorbeugen. Erst aus der „Wechselwirkung mehrerer Kräfte, deren jede dem gemeinen Wesen gefährlich
Johann Adam Bergk, Die Theorie der Gesetzgebung, Meissen 1802, 165; vgl. Ancillon, Ueber Souveränität (wie Anm. 101), 31 f.: Eine „Gewalt kann freilich auch in Despotismus ausarten, allein sie wird von der andern beschränkt, so wie sie selbst dieselbe in Schranken hält“; Maximilian Carl Friedrich Wilhelm Grävell, Der Bürger. Eine weitere Untersuchung über den Menschen, für gebildete Leser, Berlin 1822, 241 f. 105 Karl Theodor Welcker schrieb noch 1839: Es sei klar, daß ein „inneres politisches organisches Gleichgewicht, [...] eine Mehrheit, eine Theilung und ein Gegengewicht oder ein Gleichgewicht der Gewalten“ herrschen müsse, vgl. Karl Theodor Welcker, Art. „Gleichgewicht der Gewalten“, in: Karl von Rotteck (Hg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, Bd. 7, Altona 1839, 61. 106 Vgl. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte (wie Anm. 22), 153 f. 107 Johann Joseph Roßbach, Die Lebens-Elemente der Staaten, Würzburg 1844, 96; siehe auch Carl Adolf zum Bach, Ideen über Recht, Staat, Staatsgewalt, Staats-Verfassung und Volksvertretung, Köln 1817, 52. 104
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werden kann, entstehen Freiheit und Sicherheit“.108 Für Karl Heinrich Ludwig Pölitz war klar, daß nur diese „Trennung [...] das sicherste Princip des Rechts im Staate“ sei.109 Der liberale Staatszweck brachte demnach eine theoretische Aufteilung der Staatsgewalten an unterschiedliche Träger mit sich, verlangte also „die Trennung dieser beiden Gewalten in Hinsicht auf das Personale, dem sie anvertraut sind“.110 Die liberale Staatszwecklehre führte demnach auch zu einem neuen Verständnis in der Organisation staatlicher Herrschaft. Letztere wurde nicht mehr als eine umfassende und einheitliche Herrschaftsgewalt aufgefaßt, sondern sollte in verschiedene Gewalten aufgeteilt werden. Der politische Sinn dieser Gewaltenteilung war den Autoren um 1800 bewußt: Er bestand darin, eine Hypertrophie einzelner Gewalten zu vermeiden, die zu politischen Zwecken angestrebt oder mißbraucht werden konnte. Gleichzeitig sollte die gegenseitige Kontrolle der einzelnen Gewalten Gewähr dafür bieten, daß der einzelne nicht der Willkür staatlicher Organe ausgeliefert, sondern seine personale Freiheit gesichert war. Die Idee einer Gewaltenteilung ist in Deutschland damit nicht auf aufgeklärt-absolutistische Reformkonzepte zurückzuführen, sondern das Produkt der liberalen politischen Theorie um 1800. Erst die Anerkennung liberaler Freiheitsrechte warf die Frage nach einer auch staatsorganisatorischen Sicherstellung dieser Rechte auf. Das war das Motiv für eine Anerkennung der Gewaltenteilung. Und erst dieses Motiv sorgte dafür, daß das Prinzip der Gewaltenteilung mit einer den Machtmißbrauch hindernden Trennung der politischen Kräfte ausgestattet wurde.
V. Fazit Die Gewaltenteilung hat in ihrer modernen, liberal-rechtsstaatlichen Bedeutung in Deutschland entgegen der eingangs zitierten Forschungsliteratur ihre Wurzeln nicht im Allgemeinen Staatsrecht der älteren deutschen Naturrechtslehre. Die aufgeklärt-absolutistische Staatsphilosophie in Deutschland systematisierte 108
Ancillon, Ueber Souveränität (wie Anm. 101), 32; vgl. Pölitz, Staatslehre (wie Anm. 101),
96. Ebd.; vgl. Michaelis, Allgemeines Staatsrecht (wie Anm. 94), 130: „[...] diese Einrichtung [... ist] das einzig vernünftige Mittel [...], die allgemeine Sicherheit zu erhalten und einem Jeden, was Recht ist, zu Theil werden zu lassen“. 110 Pölitz, Staatslehre (wie Anm. 101), 95; Friedrich Wilhelm Emmermann, Die Staats-Polizei in Beziehung auf den Zweck des Staats und seine Behörden, Wiesbaden 1819, 32: „Die Trennung dieser Gewalten ist daher in konstitutionellen Staaten zur Erreichung seiner Zwecke unbedingt nöthig“. 109
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zwar zunehmend die Rechte der obersten Gewalt und faßte sie zu bestimmten Herrschaftsfunktionen zusammen; eine Teilung oder gar Trennung dieser Herrschaftsfunktionen und ihre Übertragung auf unterschiedliche Träger würde jedoch nach Auffassung der Autoren eine „Irregularität“ bedeuten und zu „unzehliche[n] Schwierigkeiten“ führen.111 Das Mißverständnis bei der Interpretation Justis und seiner Zeitgenossen ist auch und vor allem darauf zurückzuführen, daß auch Montesquieu in seinen Äußerungen über politische Verfassungsmodelle mißverstanden wurde. Sieht man nämlich Montesquieu paradoxerweise als Begründer der modernen Gewaltenteilungstheorie an, dann erscheint Justis Anlehnung leicht als liberales Verfassungsmodell. Die Abkehr von der landständischen Partizipation zugunsten einer ‘Versammlung des Volks’ liest sich vordergründig wie ein Plädoyer für eine demokratisch legitimierte Gewalt, die der monarchischen Gewalt entgegengesetzt werden sollte. Bei allem Reformwillen, den Justi gerade in seinem betont antiständischen Partizipationskonzept offenlegt, liegt darin jedoch – ebenso wie in Montesquieus feudalständischem Modell – keine Gewaltenteilung. Denn wenn auch einzelne Autoren unterschiedliche Träger für bestimmte Hoheitsaufgaben der Gesetzgebung vorsehen, so sollten sie nicht mit einer politischen Gewalt ausgestattet werden.112 Die Hoheitsrechte blieben vielmehr im Souverän konzentriert. Für Ernst Ferdinand Klein waren deshalb noch 1797 die Hoheitsrechte „mit der obersten Gewalt unzertrennlich verbundene Rechte“.113 Eine ernstzunehmende Verteilung der politischen Gewalten im Sinne einer Gewaltenteilung entstand erst mit dem Aufkommen liberaler politischer Ideen um 1800. Erst die Verengung des Staatszwecks auf den Schutz und die Sicherung der Rechte des einzelnen erforderte auch staatsorganisatorische Vorkehrungen zum Schutz dieser Rechte und enthielt damit die Erkenntnis, daß ohne die Teilung der Gewalten „die Willkür nicht ausgeschlossen, das Recht nicht gesichert werden“ konnte.114 Diese Zielfunktion der Gewaltenteilungsidee blieb auch im 19. Jahrhundert wesentlicher Bestandteil der liberalen politischen Theorie. So schrieb 1839 Theodor Welcker: „Da, wo wahre rechtliche Freiheit, Freiheit und Würde und 111 Nikolaus Hieronymus Gundling, Einleitung zur wahren Staatsklugheit. Aus desselben mündlichen Vortrag, Frankfurt, Leipzig 1751, 247. 112 Vgl. die Übersicht der Gründe bei Scheidemantel, Das Staatsrecht nach der Vernunft (wie Anm. 17), Bd. 1, 157 mit weiteren Nachweisen. 113 Klein, Grundsätze (wie Anm. 67), 255; siehe auch Hertlein, Rechte der Majestät (wie Anm. 73), 12; Döhler, Abhandlung (wie Anm. 30), 20; vgl. Achenwall, Staatsklugheit (wie Anm. 24), 25: „Die oberste Gewalt ist ein Inbegriff vieler Gerechtsame, welche man die Majestätsrechte nennt“. 114 Heinrich Moritz Chalybäus, System der speculativen Ethik, oder Philosophie der Familie, des Staates und der religiösen Sitte, Leipzig 1850, Bd. 2, 271.
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Recht selbständiger Bürger, [...] wo solchergestalt die wahre bürgerliche Freiheit und Ehre blühen sollen: da darf nicht irgend eine einzige Auctorität und Gewalt schwacher sterblicher Menschen absolut und unbeschränkt alleinherrschen“.115 Das Prinzip der Gewaltenteilung gehört zu den elementaren Strukturgrundsätzen der Verfassung des modernen Rechtsstaats. Folgt man Teilen der jüngeren historischen und rechtshistorischen Forschung, dann können die ideengeschichtlichen Wurzeln des modernen Gewaltenteilungsprinzips auch in der deutschen Staatstheorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausfindig gemacht werden. Der Beitrag will anhand einer breiten Quellengrundlage zum Allgemeinen Staatsrecht des 18. Jahrhunderts diese Auffassung kritischüberprüfen und dabei auch der Frage nach einer Rezeption westeuropäischer Staatsideen in der deutschen politischen Theorie nachgehen. The idea of the separation of powers is one of the elemental structural principles of the constitution of a modern constitutional state. Considering the late historical and juridical research results, the initial historical ideas of the modern principle of the separation of powers can also be discovered in the German theory of state from the second half of the eighteenth-century. In this article, this assumption is examined by means of a profound sources research of the general constitutional law in the eighteenth-century. Besides, the author discusses the question of an adoption of Western European state systems into the German theories of policy. Dr. Louis Pahlow, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universitätsstraße 30 /B9, 955440 Bayreuth, E-Mail: [email protected]
Welcker, Art. „Gleichgewicht der Gewalten“ (wie Anm. 105), 61. – Näher zur Gewaltenteilungstheorie im 19. Jahrhundert Pahlow, Justiz und Verwaltung (wie Anm. 18), 297 ff. 115
K U R ZB IO G R A P H IE
CHRISTIAN WILHELM VON DOHM (1751–1820)
Nach Berlin wollte der in Leipzig und Göttingen ausgebildete Theologe, Rechtsund Staatswissenschaftler Christian Wilhelm von Dohm um jeden Preis. Dafür schlägt der am 11. Dezember 1751 im lippeschen Lemgo geborene Aufklärer selbst attraktive berufliche Angebote immer wieder aus. Der Reformpädagoge Basedow vermag ihn nicht lange als Sekretär und Mitarbeiter am philanthropischen Elementarwerk in Altona und Dessau zu halten. Dohm bedankt sich für das Interesse aber mit einem Lebensbild Basedows (1772). Der Dichter Gleim lockt ihn mit einem Vikariat und einem Haus in Halberstadt, wo noch heute sein Porträt (von Karl Christian Kehrer, 1795) in Gleims „Freundschaftstempel“ hängt. Und selbst das Collegium Carolinum in Kassel bindet ihn nur kurz als Finanz- und Statistikprofessor (17761779). Denn Dohm sehnt sich nach einem politisch aktiven Leben. Das akademische mißfalle ihm, gesteht er seinem Freund Gleim, „wegen seiner Einförmigkeit, Cabalen und dergleichen“. Überhaupt will er sich durch nichts „von dem Land abziehen lassen, das für die unterjochte Menschheit das beste“ sei, nämlich Preußen. Doch der Preis dafür ist hoch. Schon der erste Versuch als Pagenhofmeister beim Prinzen Ferdinand, dem Bruder Friedrichs des Großen, ist ernüchternd. Dohm findet sich 1773 als einer unter vielen Lakaien, seine Stube ist „eine elende Dachkammer
über dem Stall“. Als sich Jahre später die Aussicht ergibt, Erzieher des Thronfolgers Friedrich Wilhelm zu werden, eilt er sofort nach Berlin, geht aber leer aus. Zu diesem Zeitpunkt ist Dohm längst kein Unbekannter mehr: Er gibt das Encyclopädische Journal (1774/75) heraus und steckt mitten in den umfangreichen Materialien zur Statistik und neuesten Staatengeschichte (1775-85). Obgleich bestens ausgewiesen, kann er erst 1779 – mit dem Erscheinen seiner Geschichte des Bayerischen Erbfolgestreits – als schlecht bezahlter Archivar in der preußischen Metropole antreten und sich allmählich ins auswärtige Amt hocharbeiten. Da mag es helfen, gleich noch das Buch des Königs Über die deutsche Literatur (1780) aus dem Französischen zu übersetzen. Doch der weitere politische Aufstieg kostet viel Zeit. Dohm hat dafür inzwischen Professuren in Halle und Erfurt ausgeschlagen, den Lehrstuhl in Kassel aufgegeben und sich schon nach gut zwei Jahren aus der mit Boie gegründeten Zeitschrift Deutsches Museum (17761788) als Herausgeber zurückgezogen. Zudem muß er begreifen, daß Politik einen harten Kampf erfordert. Dem badischen Amtmann und Goethe-Schwager Johann Georg Schlosser bekennt er, daß er in seinem erwählten Vaterland politisch „wenig Erhebliches wirken“ könne, weil selbst die preußische Bürokratie bloß „eine wohlaufgezogene, unaufhörlich fortspielende Ma-
Aufklärung 15 · © Felix Meiner Verlag 2003 · ISSN 0178-7128
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schine ist, die nur Hände, Ordnung und Aufmerksamkeit, aber nicht des Kopfes bedarf“. Doch dann gelingt Dohm der große Wurf in der Berliner Aufklärungsrepublik, deren Zirkeln (Mittwochsgesellschaft) und Institutionen (Rezensent für Nicolais Allgemeine deutsche Bibliothek) er als allseits respektiertes Mitglied angehört. Die auf Veranlassung von Moses Mendelssohn vorgelegte Streitschrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781/83, Nachdr. 1973) wird 1791 in Frankreich und 1812 in Preußen zu einer wichtigen Grundlage der Emanzipationsgesetze. Dohm unterbreitet darin den aufgeklärten Absolutisten seine Vorschläge zur Aufhebung geltender Edikte. Nicht mit der Toleranz religiöser Nächstenliebe argumentiert er, sondern pragmatisch. Daß die bestehende „drückende Verfassung“ für die Juden „nur ein Überbleibsel der unpolitischen und unmenschlichen Vorurtheile der finsteren Jahrhunderte“ sein kann, hält er gleich in der Vorrede fest. Statt auf die absurde antisemitische Hetze der Vergangenheit einzugehen, konzentriert Dohm sich auf die modernen Vorbehalte gegenüber der jüdischen Handels- und Lebenswelt. Schritt für Schritt erklärt er Abweichungen von den Normen des christlichen Bürgertums als notwendige Folgen von Unterdrückung und Ausgrenzung. Preußen gehörte da längst zu den tolerantesten Staaten. Doch die gnadenlose Steuerpolitik und die strikte Hierarchie vom privilegierten Hofjuden über die Schutzjuden bis hinab zur lediglich geduldeten Masse zeugt eher von einer strengen, wirtschaftlich motivierten Zulassungspolitik als von wirklicher Anerkennung. Kant kann vorerst nur davon träumen, daß der „hochmütige Name der Toleranz“ bald überflüssig werde. Denn erst mit völliger Gleichstellung und Freiheit könnte jenes Machtgefälle verschwinden, das dem Be-
griff der Toleranz zugrunde liegt. Auch Dohms Titel enthält noch ein Gran sprachlichen Vorbehalts: „Verbesserung“ setzt bereits einen richtigen Standpunkt voraus, weshalb Mendelssohn in seiner Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) lieber von „Aufnahme“ spricht. Beide Abhandlungen bilden gleichsam die Magna Charta gegenseitiger Anerkennung. Erst eine Generation später wird zögerlich aufgegriffen, was hier ein Christ und ein Jude fordern: Völlige Religionsfreiheit, uneingeschränkte Berufswahl, gleiche Wettbewerbschancen, Aufhebung aller Sonderabgaben und Zugang zu bürgerlichen Ehrenämtern. Die neuen Rechte verlangen indes die Aufgabe bestimmter Traditionen. Die Gerichtsautonomie und das Bannrecht der Gemeinde, die Dohm noch einräumt, hält Mendelssohn für nicht mehr vereinbar mit dem modernen Staat. Dem christlichen Verdikt vom jüdischen Staat im Staate sollte kein Vorschub geleistet werden. Weiteren Antisemitismus vermochten die Vorstöße von Dohm und Mendelssohn freilich nicht zu verhindern. Beide fundierten aber erstmals Gesetze und ein Bewußtsein zum Abbau der Feindschaft. Die rhetorische Frage von Lessings weisem Nathan: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude / Als Mensch“, beantwortete die Wirklichkeit da noch lange mit Ja. Dohm befaßt sich mit diesem Problem eher aus kulturanthropologischer denn religiöser Perspektive. Das demonstriert er schon 1774 in den Lippischen Intelligenzblättern durch die „Probe einer kurzen Charakteristick einiger der berühmtesten Völker Asiens“, die sich mit den Hebräern, Türken und Indern befaßt. Seine Bilanz: „So hassen und fürchten sich die Völker, weil sie sich nicht kennen.“ Wenig später gibt Dohm die Geschichte und Beschreibung von Japan (1777-79, Nachdr. 1964 u. 1980) von Engelbert Kämpfer her-
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aus. In der Vorrede rühmt er diesen Forschungsreisenden aus der Barockzeit für seinen „scharfen Blik“, mit dem er „Alles bis ins kleinste Detail beäugte“. Diesen Sinn für Genauigkeit und historischen Perspektivismus hat Dohm sich in seiner politischen Karriere bewahrt. Den Auftakt bildet die Schrift Über den deutschen Fürstenbund (1785), eine Bestätigung der Koalition gegen Österreich unter Friedrich dem Großen, dessen Schriften Dohm später herausgeben wollte. 1786 wird er geadelt und geht als preußischer Gesandter an den Kurfürstlichen Hof zu Köln. Gleims Versicherung, er werde in der katholischen Fremde das „Licht der Blinden sein“, begleitet ihn. Dohm zeichnet sich durch viele diplomatische Missionen aus, 1787 schafft er eine neue Konstitution für Aachen, schlichtet 1789 im revolutionären Lüttich, kämpft 1795-97 für die Neutralität Norddeutschlands, verhandelt 1798 auf dem Friedenskongreß in Rastatt. Sein besonderes Engagement für Reformen des Schul- und Kirchenwesens prägt auch Dohms politische Arbeit seit 1802 – als Regierungsbeauftragter in den neu gewonnenen preußischen Provinzen zwischen Goslar und Erfurt. Nach der Niederlage Preußens 1806 holt ihn Napoleons Bruder Jérôme Bonaparte ins neu gegründete Königreich Westfalen. Von dort wechselt er ein letztes Mal als Gesandter nach Dresden (1808-10), bevor er sich auf sein Gut Pustleben bei Nordhausen zurückzieht. Als Dohm im Schicksalsjahr 1807 von einem Treffen mit Napoleon in Warschau
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durch Weimar kommt, hält Goethe erfreut fest: „obgleich das, worüber man sprach, sehr unerfreulich war, so erquickte man sich doch, einen so tüchtigen, standhaften und unter allem Wechsel seinem Geschäft treu bleibenden Mann zu sehen“. Wie stark Dohm an seinen aufklärerischen Toleranzgedanken selbst in Zeiten spitzelnder Geheimdienste und fanatischer Patrioten festhielt, zeigen seine abschließenden Denkwürdigkeiten meiner Zeit von 1778-1806 (5 Bde., 1814-1819). In Goethes Augen ist es „ein unschätzbares Werk“, über das im Weimarer „Kreise mit wahrem schönen Enthusiasmus gesprochen wird“. Goethe gefiel besonders, wie Dohm in diesem Buch die gemeinsam „verlebte aber, durch neue Zeitereignisse, nur allzusehr in den Hintergrund gedrängte Epoche so lebhaft wieder hervor rufen und uns dadurch ganz eigentlich verjüngen“ konnte. Literatur: Klaus L. Berghahn, Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung, Köln u.a. 2000, 127149; Heinrich Detering, „jüdischer Händler, türkischer Bluthund, christliches Schwein“: Zur Verteidigung religiöser Differenz in C. W. D.s Toleranzprogramm, in: Lichtenberg-Jb. (1997), 116-137; Wilhelm Gronau, C. W. v. D. nach seinem Wollen und Handeln. Ein biographischer Versuch, Lemgo 1824; Rudolf Vierhaus, C. W. D. Ein politischer Schriftsteller der deutschen Aufklärung, in: Jakob Katz u.a. (Hg.), Begegnung von Deutschen und Juden in der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts, Tübingen 1994, 107-123. Alexander Košenina (Berlin)