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German Pages 316 [320] Year 1983
Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft
Herausgegeben von Klaus Baumgärtner
Sprache im politischen Kontext
Ergebnisse aus Bielefelder Forschungsprojekten zur Anwendung linguistischer Theorien Herausgegeben von Peter Finke
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sprache im politischen Kontext : Ergebnisse aus Bielefelder Forschungsprojekten zur Anwendung linguist. Theorien / hrsg. von Peter Finke. Tübingen : Niemeyer, 1983. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 29) NE: Finke, Peter [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-22029-5
ISSN 0344-6735
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Ruoff, Neustetten. Druck: Becht-Druck, Ammerbuch-Pfäffingen. Einband: Hei nr. Koch, Tübingen.
Inhalt
Vorwort
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Einleitung Teil I:
Sprache im politischen Kontext theoretischer Forschung: Ein Beispiel aus der Wissenschaftstheorie der Linguistik Peter Finke Politizität. Zum Verhältnis von theoretischer Härte und praktischer Relevanz in der Sprachwissenschaft... 15
Teil II: Sprache im politischen Kontext empirischer Forschung: Vier Beispiele aus Sprachplanung, Gesprächstherapie, Sprachdidaktik und Medienforschung Werner Kummer Probleme des Sprachausbaus in Entwicklungsländern: Terminologieprägung in Swahili
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Reinhard Meyer-Hermann Indikatoren des Therapie-Effekts in der Gesprächstherapie aus linguistischer Sicht. Probleme und Perspektiven
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Gert Henrici Initiativhandlungen im Fremdsprachenunterricht.... 143 Gert Rickheit/Hans
Strohner
Medienspezifische Textverarbeitung
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Inhaltsverzeichnis
Teil III: Sprache im politischen Kontext der Anwendungsforschung: Ein Beispiel aus der Berufsfeldanalyse für Linguisten Projektgruppe
Berufsfelder
Linguistik
Warum Untersuchungen zur Berufsfeldproblematik der Linguistik notwendig sind
209
Personen- und Autorenregister
305
Begriffs- und Sachregister
307
Vorwort
Mit der vorliegenden Publikation hat die vor einigen Jahren von meinem Kollegen Reinhard Meyer-Hermann als Band 26 dieser Reihe herausgegebene erste Sammlung von Bielefelder linguistischen Forschungsarbeiten („Sprechen-Handeln-Interaktion") eine Schwester bekommen. Während dort im weitesten Sinne pragmalinguistische Untersuchungen zusammengefaßt waren, sind es diesmal in einem mindestens ebenso weiten Sinne Arbeiten, die aus der linguistischen Anwendungsforschung stammen. Es ist dies zugleich auch der Problemkreis, der Wissenschaftler aus dem Elfenbeinturm hinausführen und auf den sozialen und politischen Zusammenhang ihres Tuns aufmerksam machen kann. Leider ist das Erscheinen des Bandes durch verschiedene technische Pannen um erheblich mehr als ein Jahr verzögert worden; hierauf muß in einer schnellebigen Disziplin hingewiesen werden, weil alle Beiträge zwischen Oktober 1980 und Mai 1981 fertiggestellt worden sind. Ich danke allen an dieser Gemeinschaftsarbeit beteiligten Kollegen für die wie immer freundschaftliche und engagierte Zusammenarbeit und dem linguistischen Herausgeber der „Konzepte", Klaus Baumgärtner, für die ermutigende, spontane Zustimmung zur Idee des Bandes. Der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft haben alle Beteiligten zu danken, daß sie ihre hier dokumentierten Arbeiten aus Haushaltsmitteln der Universität Bielefeld gefördert hat. Darüber schließlich, daß der arg strapazierte Geduldsfaden weder bei uns, noch beim Verleger, Herrn Robert Harsch-Niemeyer, jemals gerissen ist, können wir uns alle miteinander freuen.
Bielefeld, im Juli 1982
Peter Finke
Peter Finke Einleitung
0 Übersicht Der vorliegende Sammelband enthält Beiträge sehr unterschiedlicher Art aus sehr verschiedenen Forschungsbereichen der Linguistik. Daß alle von ihnen an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld entstanden sind, ist nur eine Äußerlichkeit, wenn auch keineswegs zugleich eine Banalität. Es ist nicht selbstverständlich, daß an der gleichen Institution tätige Sprachwissenschaftler bei aller Verschiedenheit ihrer Arbeitsgebiete und -methoden dennoch — zumindest bis zu einem gewissen Grade — ähnliche Rahmenvorstellungen hinsichtlich der Zielsetzung ihres wissenschaftlichen Handelns besitzen, und es ist nicht selbstverständlich, daß sie über den gegenseitigen Respekt hinaus immer wieder Möglichkeiten sehen, ihre unterschiedlichen Tätigkeitsfelder und -formen miteinander zu koordinieren. Für denjenigen, der die in diesem Band versammelten Arbeiten studieren möchte, dürfte etwas anderes freilich wichtiger sein: ihr inhaltlicher Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist, obwohl er auf eine gemeinsame Verabredung zur Schaffung dieses Bandes zurückgeht, für den unvorbereiteten Leser sicher nicht leicht zu erkennen; zu verschieden sind die aus (in der Reihenfolge ihrer hier gewählten Anordnung) Wissenschaftstheorie, Sprachplanung, Gesprächstherapie, Sprachdidaktik, Medien- und Berufsfeldforschung stammenden Einzelbeiträge. Ebenso sehr, wie diese inhaltliche Verschiedenheit der Einzelbeiträge gewollt war, reihen sie sich nichtsdestoweniger entlang des verabredeten roten Fadens, den der Titel unseres Buches aufspannt. Klären wir zunächst, um Mißverständnisse zu vermeiden, worum es nicht geht. Wir gebrauchen den Titel des Bandes absichtlich in einem weiten und nicht in einem engen Sinne. „Sprache im politischen Kontext"
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heißt nicht „Sprache in der Politik" oder gar „Sprache der Politiker". Um politische Sprache geht es im vorliegenden Band nicht. Zwar wäre auch sie Sprache in einem politischen Kontext, aber dies wäre zugleich trivial. (Im übrigen sind gerade hierzu nicht wenige Untersuchungen vorgelegt worden). Wichtiger und perspektivenreicher erscheint uns demgegenüber jener weitere Begriff eines politischen Kontextes, mit dem wir in diesem Sammelband, im einzelnen in unterschiedlicher Weise, auf den Zusammenhang zwischen Inhalt und Nutzen linguistischer Forschung hinweisen wollen. Der Untertitel des Bandes soll dabei deutlich machen, was die spezifische Antwort einer Wissenschaft auf die Situation sein muß, die sich für sie aus ihrem Bewußtsein vom politischen Kontext ihrer Fragestellungen ergibt: das Streben nach Anwendbarkeit, genauer: die Nutzung des in ihr verarbeiteten Wissens für die Lösung konkreter Probleme der kommunikativen Praxis in einer Gesellschaft. Der Beitrag von Werner Kummer über Terminologieprägung in Swahili mag paradigmatisch hierfür einstehen. Nicht erst die politische Rede macht Linguistik politisch, sondern die Nicht-Privatheit unserer Sprachen, ebenso wie die Öffentlichkeit der Verantwortung der sprachwissenschaftlichen Experten. Wenn Reinhard Meyer-Hermann auf die Enquete der Bundesregierung zur Lage der Psychiatrie anspielt, weist dies zwar auf einen politischen Kontext hin. Die eigentliche politische Qualität aber liegt — wie wir dann sehen — im Einfluß des linguistischen Wissens oder Unwissens, das in der Gesprächspsychotherapie benützt wird. Keine der hier vorgestellten Untersuchungen begnügt sich bloß mit der Befriedigung von Erkenntnisinteressen; hinter jeder stehen, nur mehr oder weniger explizit, auch kritische Interessen an Konsequenzen, Möglichkeiten der Einflußnahme, Veränderung oder Gestaltung. Während Peter Finke in seiner die Sammlung eröffnenden Studie über „Politizität" die hierbei für die Sprachwissenschaft geltenden Zusammenhänge in einer generellen theoretischen Weise thematisiert, und die Projektgruppe Berufsfelder Linguistik den Band mit einer Messung des Nutzens beschließt, den unsere Gesellschaft den Sprachwissenschaftlern heute außerhalb von Schule und Hochschule in Gestalt von Stellen und Beschäftigungsmöglichkeiten zuerkennt, stellen die dazwischen angeordneten Beiträge verschiedene Anwendungssituationen und Anwendungsprobleme verschiedener öffentlicher Institutionen vor: Gert Henrici die Schule bzw. den Fremdsprachenunterricht, wo der Lernerfolg offensichtlich optimiert wer-
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den könnte, wenn es gelänge, die in sog. Initiativhandlungen liegenden Möglichkeiten besser als bisher in den Griff zu bekommen; Gert Rickheit und Hans Strohner die Medien, genauer: einen Vergleich des Einflusses optischer und akustischer Medien auf die Verarbeitung von Texten; außerdem, wie bereits erwähnt Werner Kummer und Reinhard Meyer-Hermann Beispiele aus dem Aufgabengebiet der linguistisch kontrollierten Sprachplanung in der Dritten Welt und der notwendigen linguistischen Kontrolle von sozial hochrelevanten Prozessen, wie sie in manchen Formen öffentlich institutionalisierter psychischer Therapie vorkommen. Mehr als die Analyse von Politikerreden erlaubt uns die Beschäftigung mit den Anwendungssituationen für linguistisches Wissen, den Begriff des politischen Kontextes der Sprache mit Sinn zu füllen.
1 Zu den Begriffen „Politischer Kontext" und „Sprache" „Sprache im politischen Kontext" ist nun sicherlich eine ebenso anspruchsvolle wie vage Formulierung. Sie ist anspruchsvoll, weil sie die Herstellung eines Zusammenhanges verspricht, der wohl von vielen empfunden, aber nur selten aufklare Begriffe gebracht wird; sie verspricht auch, die Sprachwissenschaft nicht nur als eine Tätigkeit im stillen Kämmerlein, sondern als eine Disziplin vorzuführen, die in den Bereich öffentlich übernommener Verantwortung und gesellschaftsgestaltenden Handelns eindringt. Die Formulierung bleibt aber auch vage: sie benutzt einen hinsichtlich seiner Bedeutung nicht scharfumrissenen Begriff, Politischer Kontext, und stellt eine nicht näher erläuterte Beziehung zum Gegenstand der linguistischen Forschung, Sprache, her. Obwohl zu hoffen steht, daß diese Vagheit für denjenigen, der die in diesem Band vereinten Abhandlungen studiert, wenigstens an einigen exemplarischen Stellen schärferen Konturen Platz macht, können die Autoren ihre vollständige Beseitigung wohl kaum erwarten. Die Vagheit im Begriff Politischer Kontext dürfte grundsätzlicher Art sein, ihre Eliminierung auf ein grundsätzliches Hindernis stoßen. Es ist das Hindernis, daß diese Vagheit zu einem erheblichen Teil gewollt ist und nicht nur gefürchtet. Wie wir aus der semantischen Vagheitsforschung mittlerweile wissen, ist Vagheit nicht immer und grundsätzlich von Übel. Es gibt Situationen, in denen es wünschenswert ist, den semantischen Raum
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eines Begriffes gleichsam an den Rändern offenzuhalten, nicht durch vorschnelle Definitionen zu beschneiden. Im Gegensatz zu eindeutigen oder mehrdeutigen Begriffen, die diese Offenheit nicht kennen, können manche vagen Begriffe den wissenschaftlichen Vorteil haben, eine im Gange befindliche Diskussion adäquater zu kennzeichnen, eben weil sie ihrem Ergebnis nicht vorgreifen. Garantiert wird dieser Vorteil freilich nicht; er ändert auch nichts daran, daß theoretische Begriffe letzten Endes stets einer semantischen Präzisierung bedürfen. Wir sollten nur die Offenheit der Frage: Was bedeutet eigentlich politischer Kontext'? so lange auch als Vorteil sehen, wie die Erkundung dieses Kontextes selber noch andauert. Im Grunde ist es das gleiche mit dem Begriff der Sprache. Der zentrale Begriff der Linguistik ist keineswegs endgültig zur allseitigen Zufriedenheit geklärt. Ob Sprache eine Menge von Sätzen ist, ein Kommunikationsinstrument für Handlungen bestimmten Typs, eine charakteristische genetische Disposition der Art Homo sapiens, dies alles zusammen oder etwas noch anders zu Erklärendes: im Zusammenhang der Thematik dieses Bandes braucht uns die noch immer vorhandene Unschärfe des linguistischen Grundbegriffes nicht zu stören. Alle Beiträge thematisieren Sprachen — und zwar die sogenannten natürlichen Sprachen — nicht als Selbstzweck;um Sprachtheorie geht es nicht. Worum geht es dann? Vielleicht ist ein Detail mitteilenswert. Ein großes Industrieunternehmen in der privaten Wirtschaft in der Bundesrepublik, das von der Bielefelder Projektgruppe Berufsfelder Linguistik danach befragt worden war, in welchem Umfange und für welche Aufgabe bei ihm Beschäftigungsmöglichkeiten für Linguisten bestünden, ließ später brieflich wissen, daß es der — für diesen Band geplanten - Veröffentlichung nicht zustimmen wird: „Ich hatte Ihnen ohne jegliche Vorbereitung — Sie kamen ja praktisch ohne Vorwarnung in mein Büro geschneit — das Interview zu Ihrer Information gegeben", heißt es in dem Brief. Weiter: „Der von Ihnen übersandte Text müßte gründlich überarbeitet, auf den neuesten Stand gebracht und auf dem hierarchischen Weg zur Veröffentlichung freigegeben werden. Ich halte die Darstellung in der jetzigen Form nicht für veröffentlichungsreif und sehe mich außerstande, das Manuskript zu überarbeiten. Ich bitte Sie deswegen, von einer Veröffentlichung abzusehen. Trotzdem danke ich Ihnen für das gezeigte Interesse." Um den zu erwartenden rechtlichen Auseinandersetzungen mit einem zweifellos stärkeren Kontrahenten aus dem Wege zu gehen, nennen wir die so um
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ihre Interessen fürchtende Firma hier nicht; die Projektgruppe hat, aus dem gleichen Grunde und nach einer entsprechenden Diskussion, auf die Darstellung des anscheinend anstößigen Interviews verzichten müssen, (vgl. den Beitrag der Projektgruppe, Abs. 3.9.1, wo es heißt: „Dabei mußte er (der Interviewte, P. F.) auf die Frage, was denn an unserer Darstellung so falsch sei, bestätigen, daß die Angaben im wesentlichen stimmten"). Das Beispiel kann demonstrieren, daß der Druck, der auf linguistische Anwendungsforschung ausgeübt werden kann, wenn entsprechende Interessen tangiert sind, erheblich sein kann. Die Öffentlichkeit sprachlicher Information, so zeigt sich, ist für diese Interessen noch stets ein Vehikel und noch stets eine Gefahr. Natürliche Sprachen, als Handlungs- und Kommunikationssysteme, sind zweifellos Gegenstände mit einigen politischen Aspekten. Sie strukturieren, begrenzen und erweitern das Denken der Individuen und Gruppen von Individuen. Sie sind für ihre persönliche und soziale Existenz unverzichtbar und determinieren diese in einem nicht unerheblichen Umfange mit. Sie können Freiheitsräume eröffnen, sie ebenso auch beschränken, und sie können Macht und Herrschaft teils gefährden, teils stabilisieren. Was wissen wir beispielsweise darüber, wie die mediale Informationsübertragung im optischen oder akustischen Kanal die Rezipientenleistung mitbeeinflußt (vgl. hierzu den Beitrag von Rickheit/Strohner)1 Medien aber repräsentieren Macht und üben sie aus. Je mehr Sprache in diesem Kontext gesehen und erklärt wird, um so weiter entfernt man sich von der reinen Lehre des Strukturalismus. Wenn man Sprachen als komplexe Systeme bestimmter Strukturen analysiert, kommt man heute nicht mehr umhin, auch die Umgebung dieser Systeme in die Analyse miteinzubeziehen, einerseits, weil sie die spezifische Ausformung der Sprachsysteme mitbeeinflußt, andererseits, weil die Benutzung dieser Systeme im alltäglichen Handeln vielfach zurückwirkt auf ihre Umgebung. In unserem Band verdeutlicht dies in exemplarischer Weise besonders der Beitrag von Meyer-Hermann. Der hier vorgelegte Sammelband soll durch die exemplarische Demonstration von Problemen und Resultaten aus diversen linguistischen Forschungskontexten deutlich machen, daß diese Umgebung einer Sprache kein esoterischer, abstrakter Forschungskontext ist, sondern ein öffentlicher Raum, der für die Sprecher-Hörer, die verschiedenen sozialen Gruppen, Medien und Institutionen, aber auch für die Linguisten, Verantwortungsbezüge enthält oder schafft. Die-
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ser öffentliche Raum — obzwar nicht scharf abgrenzbar — ist für den primären Untersuchungsgegenstand der Linguistik ein politischer Kontext, denn er führt sie, mehr oder weniger, letztlich aber unabweisbar, von einem ausschließlichen Interesse an Erkenntnis zu einem Interesse auch an Einflußnahme und Gestaltung hin (hierzu vgl. insbesondere den Beitrag von Finke). Mag auch letzteres in den meisten Beiträgen dieses Bandes (wie der linguistischen Forschung insgesamt) eher implizit bleiben : als Motivation und Ziel ist es fast durchweg vorhanden und erkennbar. Das Bewußtsein vom politischen Kontext von Sprache ist für das Gesicht der linguistischen Forschung nicht folgenlos geblieben.
2 Zum Begriff „Anwendung einer linguistischen Theorie" Vage Begriffe, so auch der des politischen Kontextes von Sprache, können einen vergleichsweise präzisen semantischen Kern besitzen und gleichwohl die Abhandlung verschiedener Aspekte der von ihnen gemeinten Sache ermöglichen. Nach einer verbreiteten Gliederung wissenschaftlicher Forschung, die sich sinnvoll auch auf die Linguistik beziehen läßt, können wir theoretische Forschung von empirischer und von Anwendungsforschung unterscheiden. Im Bereich ersterer geht es um die Bereitstellung der konzeptuellen Strategien, mit deren Hilfe ein Problembereich erschlossen werden soll; ihre Verfügbarkeit ist die Voraussetzung für jegliche empirischen Untersuchungen, die uns Tatsachenwissen über den Problembereich der Disziplin gewinnen lassen sollen; schüeßlich aber, im letzten Bereich, müssen Möglichkeiten gefunden werden, dieses Tatsachenwissen in Handlungswissen umzusetzen, mit dem dann nicht mehr theoretische, sondern praktische Probleme gelöst werden sollen. Alle diese drei Bereiche werden im vorliegenden Band berührt. Es gibt sowohl einen politischen Kontext theoretischer Forschung in der Linguistik, als auch einen politischen Kontext empirischer Forschung, und schließlich den politischen Kontext der Anwendungsforschung. Dabei sind die Grenzlinien zwischen diesen Bereichen keineswegs in jeder Hinsicht so säuberlich zu ziehen, wie die Gliederung des Bandes es suggeriert. Die meisten hier versammelten Studien enthalten Beiträge zu mehr als einem Bereich (besonders deutlich wird dies etwa an der Arbeit von Henrici, die sowohl theoretische, wie empirische und anwendungsorientierte Teile enthält).
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Wenn sie dennoch in der genannten Bereichsgliederung an einer bestimmten Stelle erscheinen, so deshalb, weil sie in jedem Falle Schwerpunkte in der theoretischen, empirischen oder anwendungsbezogenen Forschung setzen. Obwohl der eine oder andere Leser des Buches für dessen Gliederung - mit einem gewissen Recht — den Systematisierungswunsch seines Herausgebers mitverantwortlich machen und — ebenfalls mit einem gewissen Recht — für die Einordnung des einen oder anderen empirischen Beitrags in diese Gliederung Alternativen sehen könnte, ist doch zu hoffen, daß die Strukturierung des Bandinhalts nach Schwerpunktgesichtspunkten der drei erwähnten Forschungsgebiete auch einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringt. Er sollte in zweierlei bestehen: einmal in einer Desambiguierung des auch in der Linguistik sehr verschieden gebrauchten Anwendungsbegriffes, zum anderen im Nachweis der Tatsache, daß ihr politischer Kontext die Sprache in allen drei Forschungsfeldern der Sprachwissenschaft begleitet. Von „Anwendung" wird in sehr unterschiedlichem Sinne gesprochen; diesen Unterschieden entsprechen die vielen Gebrauchsweisen des Ausdrucks „Angewandte Linguistik". Die einen verstehen darunter schlicht die linguistische Komponente einer Philologie, sei es die Germanistik oder die Sinologie, insofern dort die allgemeine Linguistik auf jeweils eine bestimmte Sprache oder Sprachengruppe „angewandt" werde. Andere verstehen unter „Angewandter Linguistik" die Durchführung von empirischen Untersuchungen der sprachlichen Performanz, insofern dort allgemeine sozialwissenschaftliche Untersuchungsverfahren „angewandt" werden. Wieder andere Linguisten gebrauchen den gleichen Ausdruck, um ganz allgemein die sog. Feldforschung (im Unterschied zur Schreibtischforschung) mit ihm zu bezeichnen; dort werden nämlich ebenfalls zuvor in abstracto gelernte Methoden, linguistische Deskriptions- und Analysemethoden, „angewandt". Es gibt Linguisten, für die ist Literaturwissenschaft - verstanden als Text- und Interpretationswissenschaft — nichts anderes als „angewandte Linguistik": hier werden die in der Linguistik erworbenen Kenntnisse vor allem der Semantik von Sprachen „angewandt". Für nicht wenige Linguisten scheint der Bereich der angewandten Linguistik mit den sog. „Bindestrichlinguistiken" zusammenzufallen, also insbesondere der Psycho-, Sozio- und Ethnolinguistik. Hier scheint oft die auf de Saussure zurückgehende klassisch-strukturalistische Vorstellung von einem inneren und einem äußeren Bezirk der Sprachwissenschaft Pate zu stehen, derart,
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daß der innere nun auf den äußeren Bezirk „angewandt" werde. Bisweilen verengt sich die Bedeutung von „Angewandte Linguistik" auch bloß auf einen didaktischen Kontext und fällt mit der von „Sprachdidaktik" zusammen. Es gibt noch viele weitere Spielarten der Verwendung jenes Begriffs. Wir müssen wohl auch hier konstatieren: er ist vage, nicht etwa bloß mehr- oder gar eindeutig. Die Abgrenzung der Bedeutungen gegeneinander sind oft nicht scharf. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist dies nur zum Teil interessant: wir vermeiden im Titel bewußt den Ausdruck „Angewandte Linguistik", sprechen stattdessen bewußt von der „Anwendung linguistischer Theorien". Nur indirekt steht also ein Abgrenzungsproblem linguistischer Disziplinen zur Debatte, wohl aber der Anwendungsbegriff in der Linguistik.
3 Nutzen Als für diesen Band augenfälligste Rahmenbedingung ist hier festzuhalten, daß er die Begriffe Anwendung und Politischer Kontext im Zusammenhang sieht. Dieser Zusammenhang ist mitnichten zufällig, sondern bewußt gewählt : der politische Kontext von Sprache erfordert die Entwicklung nicht nur empirisch adäquater, sondern darüber hinaus auch in bestimmten Praxisfeldern brauchbarer linguistischer Theorien; die Anwendung einer linguistischen Theorie ist mithin letztlich eine Folge des politischen Kontextes von Sprache. Finke führt dies in seiner metatheoretischen Studie unter dem Begriff einer Politizität der Linguistik näher aus. Der Anwendungsbegriff wird damit ausschließlich auf Theorien bezogen und als deren Applikabilität für die Lösung praktischer, nicht nur theoretischer oder empirischer Probleme verstanden. Dahinter steht jenes Interesse an Einflußnahme und Veränderung gewisser Modalitäten der sprachlichen Praxis, das von konkreten, praktischen Problemen der Kommunikanden, die auch nach praktischen Lösungen verlangen, instigiert wird; als bloßes Erkenntnisinteresse kann man ein solches legitimes wissenschaftliches Interesse an der Herbeiführung von Veränderungen nicht mehr begreifen. Ohne Bemühung eines Nutzenbegriffs wird man einen so verstandenen Anwendungsbegriff wohl kaum explizieren können. Obwohl diese Perspektive in unserem Band fast durchweg implizit bleibt, zieht sie sich doch durch alle Beiträge hindurch. Sie stellen mithin
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anhand sehr verschiedenner Forschungskontexte Sprache insoweit in ihren politischen Kontext, als sie Nutzanwendungen linguistischer Theorien für eine Verbesserung der kommunikativen sozialen Praxis in den Blick rücken können, und sie stellen solche Anwendungsperspektiven insoweit vor, als sie der politische Kontext von Sprache dazu herausfordert. Betrachten wir die vier im engeren Sinne empirischen Beiträge näher, so ist festzustellen: am weitesten geht in diesem Zusammenhang Kummer, am zurückhaltendsten formulieren Rickheit/Strohner. Wer dies auf Temperamentsunterschiede reduzieren wollte, läge mit Sicherheit falsch: es sind die unterschiedliche Schärfe sowohl des praktischen Problems, um das es geht, als auch die unterschiedliche Voraussetzungslage für die beteiligten Linguisten, die solche Unterschiede erzwingen. Der Einfluß der Medien, insbesondere der öffentlichen Medien auf die Qualität unserer politischen und sozialen Kommunikation ist ebenso unbestritten, wie immer noch weithin unklar. Ebenso unbestreitbar aber ist, daß solche Kommunikation erst gar nicht zustande kommen kann, wo eine ausreichende gemeinsame Sprachbasis fehlt. Insofern ist Kummers Problem im Vergleich zu dem von Rickheit!Strohner von einer ungleich höheren praktisch-politischen Brisanz, die Linguistik dort in einer sehr viel direkteren Weise zur Übernahme unmittelbarer Beantwortung verpflichtet. Terminologieprägung wird dort, wo es ein Interesse an ihr gibt, stattfinden, ob mit linguistischem Segen oder nicht. Dort, wo Linguisten eine Chance erhalten, sie zu beeinflussen, müssen sie diese — selbst auf die Gefahr von Irrtümern hin — ergreifen; die Gefahren einer praktischen Abstinenz der zuständigen Fachwissenschaft wären ungleich größer. Ungleich größer ist immerhin auch die Risikodimension solcher Teildisziplinen der angewandten Linguistik, wie es die Sprachplanung ist. Doch wird etwa das Risiko, sich vielleicht vor den falschen Karren spannen zu lassen, nur der angemessen beurteilen können, der die Dimension des so — oder so — zu lösenden praktischen Problems vor Ort kennengelernt hat, und diese Kenntnis dürfte politisch bewußte Linguisten wie Kummer wohl meist zu Recht zu einem Engagement in einem konkreten Planungsvorhaben motivieren, insbesondere dann, wenn es — wie im vorliegenden Falle — mehr um eine empirische Kontrolle des Erfolgs einer solchen Unternehmung geht. Im Vergleich hierzu ist zweifellos die Medienalternative der Kommunikation mit Texten ein eher mildes Praxisproblem. Wir müssen
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aber zugeben, daß dies bisher mehr eine Vermutung als gesichertes Wissen ist. Insofern stellt sich das Problem für Rickheit/Strohner anders: zu allererst nämlich als die Aufgabe, dieses Wissen über das Ausmaß medienspezifischer Textverarbeitungsprozesse zu erweitern, zu erhärten. Ihre Ergebnisse scheinen die Vermutung zwar zu bestätigen, erlauben aber, sie in einer für die relative Beurteilung optischer und akustischer Textmedien durchaus signifikanten Weise zu differenzieren. Hier kann exemplarisch deutlich werden, wie wichtig es ist, vorschnelle Anwendungsrezepte zu vermeiden, wo die Sachlage mehr durch Unwissenheit oder Halbwissen, als durch Tatsachenwissen gekennzeichnet ist. Damit ähnelt ihr Beitrag in seiner methodischen Vorsicht dem Henricis, der ebenfalls in der empirischen Prüfung einiger Hypothesen - und dies ist oft nur ein Euphemismus für „Vorurteil" — seine Hauptaufgabe sieht. Wenn der politische Einfluß von Medien außer Frage steht und damit auch der politische Kontext der durch sie vermittelten Information, so gilt das gleiche für die Schule und die Qualität des in ihr stattfindenden Unterrichts. Fremdsprachenunterricht (ein Thema, das bisweilen sogar internationale Aufregungen verursachen und dann auch Außen- und Wirtschaftsminister beschäftigen kann) stellt sowohl Lehrer als auch Lerner vor Effektivitäts- und Ökonomieprobleme: uns dauert der Zweit- und Drittsprachenerwerb heute in den meisten Fällen zu lange. Die sprachdidaktische Forschung steht hier unter einem permanenten Optimierungszwang. Henrici demonstriert aber an einem Beispiel, ähnlich wie Rickheit/Strohner, daß die Effektivierung der Anwendungsstrategien die Konsolidierung unserer entsprechenden Sachkenntnisse voraussetzt; seine abschließende Diskussion der Anwendungsproblematik ergibt ein differenziertes Bild — Zurückhaltung beim unmittelbaren Umsetzungswunsch für die Sprachunterrichtspraxis, konkrete Vorschläge hingegen für die Verbesserung der Ausbildung der Lehrer - und zeigt, daß die Umsetzung von Tatsachenwissen in Handlungswissen nicht umstandslos möglich ist. Immerhin kann Henrici hier bereits weiter gehen als Rickheit ¡Strohner, die Anwendungskonsequenzen noch weitgehend offen lassen müssen. Der Beitrag von Meyer-Hermann schließlich, der nicht zufällig zwischen dem von Kummer und Henrici piaziert worden ist, repräsentiert einen Typ empirischen Arbeitens in der Linguistik, der besonders anwendungsnah und damit für das Bild einer sich ihrer praktisch-politischen Implikate bewußten Disziplin von nicht zu unter-
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schätzender Wichtigkeit ist. Die kritische Analyse der in bestimmte Therapieformen der psychotherapeutischen Praxis einfließenden Linguistik ist im ganzen gesehen desillusionierend. Wer weiß, welche ständig wachsende Bedeutung solche Methoden für die persönliche und soziale Rehabilitierung psychisch Kranker besitzen, muß dringend wünschen, daß sie hinsichtlich der in ihnen verwendeten hilfswissenschaftlichen, hier: sprachwissenschaftlichen Kategorien und Theoreme jedenfalls auf der Höhe der Zeit sind. Hier sind nach der Analyse Meyer-Hermanns erhebliche Zweifel anzumelden, ebenso aber - und dies ist hier vor allem wichtig - auch Vorschläge zur Verbesserung. Sinnvolle Perspektiven einer diesbezüglich konkreten Anwendungsforschung werden umrissen. Wir dürfen dies aber wohl verallgemeinern: eine ihrer Politizität bewußte Wissenschaft von der sprachlichen Kommunikation in konkreten Sozialzusammenhängen wird keine Schwierigkeiten haben, aus der Fülle der überhaupt möglichen linguistischen Problemstellungen vordringlich solche auszuwählen, die durch den kritischen Einsatz aktueller, leistungsfähiger linguistischer Theorien einen konstruktiven Beitrag zur wissenschaftlichen Bewertung und Optimierung von einflußreichen und auch politisch relevanten Praxisfeldern ermöglichen. Der Ansatz, den Meyer-Hermann vorstellt, ist jedenfalls ein Beispiel für eine solchermaßen anwendungsnah verstandene Linguistik. Es wäre nicht die fernliegendste Konsequenz aus solchen Arbeiten, für die Ausbildung von Therapeuten auch den Erwerb linguistischer Fachkenntnisse obligatorisch zu machen. In ähnlichem Sinne hatte ja auch Henrici konkrete Vorschläge für eine Ausbildungsverbesserung von Fremdsprachenlehrern gemacht. Es ist sicherlich nicht abwegig, sondern aus linguistischer Perspektive überaus naheliegend, ähnliches für die vielfältigen Berufsqualifikationen zu wünschen, die in den von Kummer und Rickheit/Strohner untersuchten Bereichen anzutreffen sind. Hier ergibt sich eine direkte Verbindung zu der am Schluß des Bandes abgedruckten Studie der Projektgruppe Berufsfelder Linguistik.
4 Praxis und Theorie Obwohl nach dem Gesagten deutlich sein dürfte, daß der politische Kontext von Sprache die Ausbildung und ständig weitere Fortentwicklung einer linguistischen Anwendungsforschung erforderlich
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macht, sollte zugleich verständlich geworden sein, daß auch die theoretische und die empirische Komponente der Sprachwissenschaft in diesem Zusammenhange Aufgaben zu lösen haben; die Gliederung unseres Bandes spiegelt dies wider. Gerade den empirischen Untersuchungen kommt hierbei große Bedeutung zu: sie haben jenes Tatsachenwissen beizubringen, ohne daß jeder Versuch, veränderungsintendierendes Handlungswissen zu erwerben, ohne Basis wäre. Insbesondere Kummers Beitrag kann darüber hinaus deutlich machen, daß der empirischen Forschung auch eine Kontrollfunktion in Bezug auf die Wirksamkeit konkreten Anwendungshandelns zukommt. Unser Band hat deshalb seinen Schwerpunkt in diesem, dem empirischen Bereich. Noch einmal sei aber daraufhingewiesen, daß sich Anwendungsorientiertheit als Konsequenz der hier gewählten Perspektive auf Sprache und Sprachwissenschaft, in mehr oder weniger expliziter Form, durch alle Beiträge hindurchzieht. Die Gliederung sagt nur zusätzlich etwas über den Schwerpunkt aus, der in diesem Kontext jeweils gesetzt wird. Die Konzeption dieses Bandes vertraut auf die Methode exemplarischer Demonstration; Repräsentativität oder „Ausgewogenheit" waren kein Ziel. Eher ging es darum, den Band so zu verabreden und zu planen, daß die verfügbaren Ergebnisse in einem sinnvollen Zusammenhang vorgestellt werden konnten. Wie weit dies gelungen ist, wird sich zeigen. So ist, beispielsweise, die Anwendungsforschung im engeren Sinne in diesem Band durch eine Arbeit vertreten, die für diesen Bereich ebenso wenig repräsentativ ist, wie sie exemplarisch demonstrieren kann, welcher Zusammenhang zwischen dem politischen Kontext von Sprache und der Anwendung sprachwissenschaftlicher Theorien besteht. Die Untersuchung der Projektgruppe Berufsfelder Linguistik, die sich nicht nur auf die Anwendbarkeit einer einzelnen linguistischen Theorie, sondern der Linguistik insgesamt bezieht, mißt diese Anwendbarkeit mit einem ebenso einfachen, wie aussagekräftigen Maßstab: nach dem Umfang der beruflichen Beschäftigungsmöglichkeiten für Linguisten außerhalb von Schule und Hochschule. (Diesem Beispiel folgend, hat sich übrigens vor kurzem unter der Leitung von P. Finke und J. Wirrer eine entsprechende „Projektgruppe Berufsfelder Literaturwissenschaft" in Bielefeld konstituiert). Da es nicht nur um tatsächlich vorhandene Stellen geht, sondern auch um die Erkundung möglicher Praxisfelder, wird auf diese Weise über den vermeintlichen Nutzen dieser Disziplin für die Gesell-
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schaft hinaus wohl ihr tatsächlicher Nutzen nicht schlecht approximiert (freilich mit Ausnahme des zweifellos zentralen Schulbereichs). Wir erhalten durch die Arbeit der Projektgruppe empirische Daten über die Größenordnung, in der in der Bundesrepublik Deutschland sprachliche Kommunikation für so wichtig gehalten wird, daß betroffene Institutionen hierfür eigene Stellen schaffen: offenbar in sehr geringem Umfange; eine Zahl, die die Linguistik mitzuverantworten hat. Solche Stellen außerhalb des Schulbereichs werden natürlich kaum zur Befriedigung von reinen Erkenntnisinteressen eingerichtet, sondern nur dann, wenn eine berechtigte Hoffnung besteht, daß ihre Inhaber die für die Institution wichtigen, sie womöglich behindernden Sprach- und Interaktionsprobleme lösen können. Hier muß sicher zugegeben werden, daß — obwohl zweifellos auch das öffentliche Bewußtsein vom möglichen Nutzen der Sprachwissenschaft für die Planung und Koordination interaktionaler Prozesse hinter ihren Möglichkeiten herhinkt — auch das Interesse vieler Linguisten an einer Stärkung gerade dieser praktischen Fähigkeiten und einer gezielten Erforschung entsprechender Anwendungsstrategien zu wünschen übrig läßt. Auch die Linguistik hinkt, natürlich, noch hinter ihren eigenen Möglichkeiten her. Das damit angerissene Problem des sprachwissenschaftlichen Fortschritts wird im Beitrag von Finke angesprochen, ebenfalls einem Beitrag, der für die Forschungskomponente, für die er steht, keineswegs repräsentativ ist: theoretische Forschung in der Linguistik nur zu einem ganz geringen Teil und am Rande wissenschaftstheoretische Forschung. Diese Außenseiterrolle ist vom üblichen rekonstruktiven Wissenschaftstheorieverständnis her gesehen auch ganz plausibel, doch ist — wie Finke zu zeigen versucht — dieses Wissenschaftstheorieverständnis fragwürdig. Fragwürdig gerade aus der Sicht der Linguistik als einer auf substantielle Fortschritte in Theorie und Praxis angewiesenen Disziplin. Die Wissenschaftstheorie, auch der Linguistik, hat bislang nahezu ausschließlich die — kantisch gesprochen — Ebene der theoretischen Vernunft von Wissenschaft thematisiert, ihre Theoretizität. Wissenschaft aber besitzt auch eine Ebene praktischer Vernunft — sollte sie jedenfalls besitzen — und dies ist (in Finkes Terminologie) die Ebene ihrer Politizität. Die Politizität einer Linguistikkonzeption hängt u. a. von der Klarheit des in dieser Konzeption erreichbaren Bewußtseins über den politischen Kontext von Sprache ab und kann, ja sollte mit der Einsicht in die Notwendigkeit, Linguistik gerade auch als Hilfsmittel
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zur Optimierung der kommunikativen sozialen Praxis zu betreiben (und nicht nur als Erkenntnisinstrument), wachsen. Die Anwendbarkeit von linguistischen Theorien für praktische Nutzungen, ihre Relevanz, darf nichts sein, was ihnen äußerlich bleibt; sie muß vielmehr das konstruktive Handeln der Linguisten als ein wichtiger metatheoretischer Wert leiten. Andererseits stellt dieses Ziel auch keinen absoluten Wert dar, ebenso wenig, wie es beliebig erreichbar ist: praktische Relevanz, brauchbares Handlungswissen, kann — dies zumindest werden die Beiträge dieses Bandes zeigen können — kaum unter Verzicht auf eine hinreichende theoretische Härte, ein hinreichendes Tatsachenwissen, erlangt werden. Dieser Zusammenhang legitimiert daher, bis zu einem gewissen Grade, sogar theoretische und empirische Forschung als selber nutzenorientierte Forschung im Sinne praktischer Vernunft. Der politische Kontext von Sprache erstreckt sich, natürlich, auch auf die Sprachwissenschaft.
Peter Finke Politizität. Zum Verhältnis von theoretischer Härte und praktischer Relevanz in der Sprachwissenschaft*
Teil I: Wissenschaftstheoretische Rahmenbedingungen konstruktiver Linguistik
1. Theoretische und praktische Vernunft Wenn Sprache einen politischen Kontext besitzt, dann besitzt ihn auch die Sprachwissenschaft. Wenn es wichtig ist, ihn im einen Falle zu kennen, so gilt das gleiche für den anderen. Ebenso, wie der politische Kontext von Sprache mehr ist als der semantisch-pragmatische Raum eines möglichen Redens über politische Inhalte, ist der politische Kontext der Wissenschaft von der Sprache, der Linguistik, nicht identisch mit dem staats- oder gesellschaftspolitischen Raum, in dem sich diese Disziplin so oder so entwickelt. Eine Wissenschaft entwickelt „sich" überhaupt nicht, vielmehr wird sie entwickelt, weiterentwickelt. Mit dem gewöhnlichen Begriff des wissenschaftlichen Fortschritts, dessen Erklärung den Wissenschaftsphilosophen bis heute große Mühe macht, kommen wir dem Thema dieser theoretischen Überlegungen zur Linguistik näher. Eine Schwachstelle der meisten Theorien über den wissenschaftlichen Fortschritt liegt darin, daß sie das System Wissenschaft oft in einer merkwürdigen Weise freischwebend und abstrakt darstellen. Die Träger oder Akteure des Wissenschaftsprozesses werden im Blick auf seine generellen Ziele, konzeptuellen Bedingungen und Strukturen nahezu fortidealisiert, und mit ihnen dann auch ihre Verantwortung für die Richtung, die der Prozeß nimmt. Dies führt uns wieder auf den politischen Kontext zurück. Politiker stecken *
Diese Studie ist im Rahmen des aus Mitteln der Universität Bielefeld geförderten Forschungsprojektes „Funktionale Spracherklärung" (OZ 2370) entstanden.
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wohl Rahmenbedingungen des Wissenschaftsprozesses ab und tragen insofern eine Mitverantwortung für ihn, aber sie sind nicht seine Akteure. Diese aber, die Fachwissenschaftler in den einzelnen Disziplinen, tragen nicht nur deshalb die Hauptverantwortung für die Verläufe der jeweiligen Wissenschaftsprozesse, weil sie ihre Richtung bestimmen, sondern auch deshalb, weil ein Wissenschaftsprozeß selbst unerachtet seiner Thematik Verantwortung schafft. Nicht nur der Inhalt der wissenschaftlichen Arbeit - so können wir diesen Gedanken auch paraphrasieren — muß verantwortet werden; vielmehr gibt es auch formale Charakteristika des wissenschaftlichen Handelns, die Verbindlichkeiten und damit Verantwortung zur Folge haben. Mehr als die Inhalte sind es solche Strukturen der Verantwortlichkeit, welche der Wissenschaft allgemein und jeder Disziplin im besonderen einen Kontext verleihen, der ihnen eine politische Dimension gibt. Ich möchte diese Dimension die „Politizität" der Wissenschaft nennen und sie ein Stück weit hinsichtlich ihrer besonderen Konsequenzen für die Linguistik untersuchen. 1 Zum Beispiel sind soziolinguistische Untersuchungen gegenwärtig von allgemeinerem Interesse. Dieses Interesse erwächst nur zum Teil aus einem theoretisch-wissenschaftlichen Kontext; zum überwiegenden Teil dürfte es ein praktisch-politischer Kontext sein, der es begründet. Es sind also die Inhalte der soziolinguistischen Fragestellungen und Theorien, ihre Bezogenheit auf wichtige gesellschaftspolitische Voraussetzungen und Konsequenzen, die auf den ersten Blick die politische Qualität dieses Teils des sprachwissenschaftlichen Handelns ausmachen: der Zusammenhang von Sprache und Herrschaft, sprachlicher Ausbildung und sozialem Status, Dialekt und Diskriminierung, Arbeit und Kommunikationsbedürfnissen u.a.m. Die theoretischen und empirischen Untersuchungen dieser Fragen durch Linguisten (und andere Sozialwissenschaftler) erhalten durch ihre Thematik und das auf diese bezogene allgemeine politische Interesse jene politische Qualität, die keineswegs beliebige wissenschaftliche Untersuchungen, geschweige denn beliebige sprachwissenschaftliche Untersuchungen, in gleichem Maße kennzeichnet. Je stärker freilich die Lösung eines Problems die Klärung verschiedenartiger Voraussetzungen nötig macht, diese in einen 1
Cf. auch „Linguistik, Ethik, Politik", in Finke 1979:198-214.
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komplexen intra-, womöglich interdisziplinären Kontext einbinden muß, um so schwieriger ist oft jene politische Qualität, die es in inhaltlicher Hinsicht besitzen mag, zu erkennen. So macht beispielsweise die Erforschung der vielleicht unterschiedlichen Kommunikationsbedürfnisse verschiedener Dialektgemeinschaften in Abhängigkeit von psychischen, sozialen und regionalpolitischen Voraussetzungen u.a. die Verfügbarkeit eines brauchbaren Dialektbegriffs nötig und wandert damit vorübergehend leicht auf ein theoretisches Problemfeld aus, dessen inhaltlich zu begründende politische Qualität wesentlich weniger direkt sichtbar ist. Es ist unbestreitbar, daß sich der zunehmende Grad der Komplexität insbesondere theoretischer Kontexte ungefähr reziprok zur gewöhnlichen Einschätzung der politischen Qualität eines Problems verhält, aber ebenso unbestreitbar ist es, daß diese Einschätzung der tatsächlichen politischen Dimension wissenschaftlichen, speziell sprachwissenschaftlichen Handelns nicht gerecht wird. Diese ist offenbar nur zum Teil direkt themenabhängig, zum erheblichen Teil aber von indirekten und komplexen Mittel-Zweck-Zusammenhängen bestimmt. Einen dieser Zusammenhänge, keineswegs den einzigen, möchte ich nachfolgend am Beispiel der Linguistik näher untersuchen. Es ist der Zusammenhang zwischen den theoretischen und den praktischen Qualitäten der Sprachwissenschaftsprozesse, oder — wie ich mich auch ausdrücken möchte - zwischen ihrer Theoretizität und ihrer Politizität. Dabei wird es u.a. darum gehen, den Begriff der Anwendung einer linguistischen Theorie einer Klärung näher zu bringen. Die Politizität der Linguistik, so ist die These, bemißt sich nach dem Grade, zu dem sie nicht nur empirisch gehaltvolle („ wahre "), sondern auch für die Lösung von Problemen der sprachlichen Praxis geeignete („nützliche") Theorien entwickelt. Um den Zusammenhang zwischen beidem soll es gehen und dabei um einen Begriff von Politizität, der weniger an bestimmten Probleminhalten einer freischwebend gedachten Disziplin orientiert ist, als vielmehr an Zielsetzungen und Normen der Forscher, die mit ihren Interessen die Entwicklung der Disziplin prägen. Ich plädiere damit in einem bestimmten, formalen Sinne für eine „politische Linguistik", nämlich eine Vertiefung des Bewußtseins und der auf dieses gegründeten Praxis der Linguisten von der politischen Dimension ihrer Disziplin. Ich werde mitnichten diese politische Dimension voll-
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ständig zu beschreiben auch nur versuchen, sondern — wie angedeutet - mich auf bestimmte theoretische, insbesondere metatheoretische Aspekte konzentrieren. Allerdings werde ich im zweiten Teil dieser Studie mit der Skizze einer ökologischen Linguistik einige objekttheoretische Konsequenzen dieser — konstruktiven — Metatheorie beschreiben. Während die Ebene der Sprachtheorie in der Linguistik von zentraler und permanenter Bedeutung ist, stößt die Theorie der Linguistik auf ein wechselndes Interesse. Für unser Thema aber, bei dem es um eine Selbstthematisierung der Sprachwissenschaft geht, ist Wissenschaftstheorie unverzichtbar. Wichtig ist freilich, daß wir wissenschaftstheoretischen Überlegungen auch und gerade eine konstruktive, für die Entwicklung einer Disziplin prinzipiell belangvolle Funktion zubilligen; es wird noch zu erörtern sein, worin diese bestehen kann. Wissenschaften entwickeln sich nicht in einem quasi-natürlichen Wildwuchs. Auch wenn jede von ihnen Phasen erlebt, in denen der Widerstreit oft sehr grundlegender Meinungsunterschiede ihr Erscheinungsbild beherrscht (und die heutige Linguistik entspricht nicht zu unerheblichen Teilen diesem Bild), entwickeln ihre Protagonisten und Schüler eine Disziplin doch mehr oder weniger getreu einer jeweils für eine Überzeugungsgemeinschaft verbindlichen Systematik. Für solche Systeme forschungsleitender Rahmenbedingungen hat der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn den inzwischen inflationär gebrauchten Begriff eines wissenschaftlichen Paradigmas gefunden und später durch den genauer differenzierten Begriff einer Disziplinären Matrix ersetzt. 2 Die Matrizen einer wissenschaftlichen Disziplin W sind nach Kuhn jene Systeme von Rahmenbedingungen, an die sich bestimmte, im Prinzip wohlunterscheidbare Teile der Wissenschaftlergemeinschaft von W im Verfolg ihrer Forschungspraxis offenbar halten, was dazu führt, daß in W in der Regel verschiedene, mehr oder weniger gut unterscheidbare Konzeptionen von W entstehen. Die Geschichte der jüngeren Linguistik ist voll von Beispielen: die Chomsky-Linguistik, die Montague-Linguistik, die Fillmore-Linguistik, die Searle-Linguistik, die Labov-Linguistik, um nur einige 2
Kuhn 1970.
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der bekanntesten Linguistikkonzeptionen durch Nennung ihrer Protagonisten aufzuzählen. Die Disziplinären Matrizen dieser Konzeptionen sind mehr oder weniger explizit formuliert worden, mehr oder weniger miteinander verwandt, aber in keinem Falle vollständig miteinander identisch und in jedem Falle für die Ausprägung einer Linguistikkonzeption entscheidend. Sie umfassen jeweils das gesamte, die jeweilige Linguistengemeinschaft einende System metatheoretischer Werte („empirische Adäquatheit", „Überprüfbarkeit", etc.), Normen („Linguistik muß als deskriptive Wissenschaft betrieben werden", etc.), symbolischer Verallgemeinerungen („S NP Π VP", „(S/N)/N M , etc.), 3 Modellvorstellungen („Abstrakte Automaten als Modelle (der grammatischen Kompetenz) von SprecherHörern", etc.), Musterbeispiele („Flying planes can be dangerous", Labovs empirische Untersuchungen, etc.). Diese Systembestandteile behandelt Kuhn selbst, aber er stellt zugleich klar, daß es sich hierbei nur um eine Auswahl handelt. Auch ganze (philosophische) Hintergrundstheorien, spezielle Fachsprachenpostulate, typische Erkenntnisinteressen u.a.m. müssen wir wohl zum System einer Disziplinären Matrix hinzurechnen. Es ist aber nicht zu übersehen, daß der Kuhnsche Matrixbegriff eine Reihe von Schwächen behält. Wir erfahren z.B. nichts über die systeminternen Relationen, über den Rang seiner Bestandteile, über ihre prinzipielle Vollständigkeit. Was aber gravierender ist: an keiner Stelle tritt Kuhn dem Eindruck entgegen, daß er stets nur an die Ebene denkt, die Kant einmal die Ebene der „theoretischen Vernunft" genannt hat. Wissenschaft aber ist ein Bereich menschlichen Handelns, in dem es zwar ganz dezidiert um den Erwerb von Sachkenntnis und neuen Wissensinhalten geht, aber doch keinesfalls ausschließlich und als Selbstzweck. Es scheint aber lediglich die theoretische Vernunft einer Wissenschaft zu sein, die gleichsam von solchen Disziplinären Matrizen aufgespannt wird, eine bestimmte Bandbreite von Spielarten umfassend, die miteinander zumeist um Adäquatheit und Leistungsfähigkeit konkurrieren, seltener einander auch ergänzen. Doch es bleiben Systematisierungen von methodischen Rahmenbedingungen, Explikationen des „Wie" einer 3 Symbolische Verallgemeinerungen assoziiert Kuhn, seinen naturwissenschaftlichen Beispieldisziplinen entsprechend, stets mit Gesetzen. Die Übertragung auf Regeln und formale Operationen dürfte unproblematisch sein.
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Wissenschaft. Die „Wozu"-Frage bleibt ausgeklammert, oder besser: sie ist vorentschieden; es geht um Wissenserwerb und Erkenntnisgewinn, nichts sonst. Die Disziplinären Matrizen Kuhns scheinen dazu ausersehen, systematisch zu dokumentieren, welche theoretischen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit dieses Ziel erreicht werden kann. Sie sind Bestandteil einer auf die theoretische Vernunft von Wissenschaft restringierten Wissenschaftstheorie. Daß es — um nun auch den entsprechenden kantischen Begriff einzuführen auch eine praktische Vernunft von Wissenschaft gibt, die festlegt, wozu wir das so oder anders zu erwerbende Wissen über das globale Ziel des Erkenntnisgewinns hinaus eigentlich brauchen oder einsetzen wollen, ist eine im Kuhnschen Begriff einer Disziplinären Matrix nicht erkennbare - freilich auch nicht explizit ausgeschlossene — Differenzierung unseres metatheoretischen Blicks auf die Wissenschaften. Wir dürfen wohl getrost den Objektbereich unserer Kritik erweitern und nahezu die gesamte sog. Analytische Wissenschaftstheorie 4 in sie miteinbeziehen, die fast durchweg für die ungeheuer wichtige Ebene der praktischen Vernunft wissenschaftlichen Handelns blind ist. - Nur zur Vorsicht sei angefügt, daß damit der Wert vieler in diesem Rahmen gewonnen Einsichten über die Struktur seiner theoretischen Vernunft keineswegs in Zweifel gezogen ist.5 Betrachten wir die Linguistik: Die Wissenschaftstheoretiker dieser Disziplin sind ganz überwiegend damit beschäftigt zu untersuchen, welchen forschungsleitenden Rahmenbedingungen die Sprachwissenschaftler in methodologischer Hinsicht folgen oder folgen sollten. Sie untersuchen den Anspruch, Grammatiken als Theorien zu begreifen, diskutieren die Möglichkeiten, diesen einen empirischen Gehalt zu sichern, ihre relative empirische Adäquatheit, Chancen für Spracherklärungen und -Prognosen, den Erkenntniswert empirischer Erhebungs- und Kontrollverfahren, sie fertigen 4 Cf. hierzu insbesondere Stegmüller 1969ff. - Zur Kritik cf. Finke 1977. 5 Ich bediene mich ihrer selbst ausgiebig, auch in dieser Studie. Etwas mag eine Insel des Wissens in einem Meer bloßer Spekulation und Ungewißheit sein; eine Kritik an den Kartographen (vielleicht auch einigen Seeleuten) ist vielleicht dennoch nötig. Viele Wissenschaftstheoretiker scheuen sich offenbar aus nicht überzeugenden Gründen, sich für neue Entdeckungsfahrten zu interessieren. Sie erklären nicht nur die Kreativität der Wissenschaft nicht (und sparen damit ein zentrales Problem aus), sondern werden selbst nichtkreativ.
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logische Rekonstruktionen linguistischer Theorien an. Diese Untersuchungen mögen im Einzelfalle von Bedeutung sein oder nicht: es sind nahezu durchweg Untersuchungen zum „Wie" der Sprachwissenschaft. Die Ebene der theoretischen Vernunft füllt auch in dieser Disziplin das Blickfeld der auf sie spezialisierten Wissenschaftstheoretiker - zumindest derer analytischer Provenienz, doch das sind die meisten — fast vollständig aus. Daß die Wie-Frage auch für die Linguistik nur dann überzeugend beantwortet werden kann, wenn man sich zugleich um eine überzeugende Antwort auf die WozuFrage bemüht, hat die Diskussion vieler Wissenschaftstheoretiker der Linguistik wohl noch nicht erreicht. Daß es überhaupt sinnvoll ist, wenn nicht gar notwendig, eine Dimension der sich in der Linguistik artikulierenden praktischen wissenschaftlichen Vernunft anzuerkennen und zu entwickeln, auf der es um die theoretisch gesteuerte Beeinflussung von Teilen der sprachlichen Praxis geht, scheint vielen Metatheoretikern bisher entgangen, zumindest als sie mitbetreffende Problemstellung entgangen zu sein. Angesichts der praktischen Probleme von Sprecher-Hörern in unseren realen Kommunikationsgemeinschaften, Problemen der Planung, Medialisierung, Didaktisierung, Therapierung u.v.a.m. von Sprache und Kommunikation, ist weder die Existenz einer Ebene der praktischen Vernunft von Linguistik, noch auch die Notwendigkeit der Entwicklung von ernstzunehmenden Ansätzen für praktisch einsetzbare Lösungsstrategien irgendwie zweifelhaft. Zweifelhaft ist hauptsächlich die partielle Blindheit der gewöhnlichen Wissenschaftstheorie für diese Ebene, die dazu geführt hat, daß wir die Redeweise von der praktischen Vernunft der Wissenschaft wie ein Fremdwort hören. Hieraus folgt: eine wirklich umfassende, jedenfalls hinreichende Theoretisierung 6 der forschungsleitenden Rahmenbedingungen in einer Disziplin darf sich nicht auf die Struktur ihrer theoretischen wissenschaftlichen Vernunft beschränken, sondern muß genauso die Struktur ihrer praktischen Vernunft berücksichtigen. Statt von der theoretischen Vernunft einer Wissenschaft möchte ich kurz von deren „Theoretizität" sprechen, statt von ihrer praktischen Vernunft von ihrer „Politizität". Die Dimension praktischer wissen6
Zum Begriff der Theoretisierung cf. Sneed 1976; Finke 1982. Eine knappe Erläuterung folgt in Paragraph 3 dieser Studie.
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schaftlicher Vernunft erstreckt sich nämlich genau auf jenen Kontext einer Disziplin, der für das Handeln ihrer Akteure weit über den internen Kreis der Disziplin hinaus Bezüge einer umfassenderen, gesellschaftlichen Verantwortung schafft und ihnen fachspezifische Beiträge zur Lösung dringlicher persönlicher, sozialer und internationaler Schwierigkeiten abverlangt. Jede Wissenschaftstheorie, auch jede disziplinspezifische Wissenschaftstheorie, und sicher jede Metatheorie der Linguistik, ist in einem entscheidenden Punkte defizient, wenn sie nicht neben der Erklärung der Theoretizität auch die Politizität von Wissenschaft, in unserem Beispielfalle von Sprachwissenschaft, erklärt. Dies bedeutet, daß an die Stelle des methodologisch verkürzten Kuhnschen Begriffes einer Disziplinären Matrix ein anderer, zugleich erweiterter wie präzisierter, Matrixbegriff treten muß, der intendiert, das System der die linguistische Forschung leitenden Rahmenbedingungen vollständiger als jener vor Augen zu stellen, eben ein den gesamten Problembereich der linguistischen Metatheorie erfassender Matrixbegriff. Er muß geeignet sein die Tatsache abzubilden, daß die Sprachwissenschaft in Gestalt alternativer bzw. zum Teil auch komplementärer Linguistikkonzeptionen entwickelt wird und daß die Gestalt dieser Konzeptionen das Produkt der Beachtung eben jener formalen Rahmenbedingungen ist. Er muß selbstverständlich die Theoretizität einer Konzeption spezifizieren, also beispielsweise die Gründe dafür aufzählen, warum Turingmaschinen als Modell für das Regelsystem der Grammatik einer natürlichen Sprache nicht in Frage kommen (z.B. wegen forschungsleitender Werte einer deskriptiven und einer explanativen Adäquatheit); er muß aber auch die Politizität der Konzeption erklären, das Ausmaß und die Struktur der ihr inhärenten praktischen sprachwissenschaftlichen Vernunft, und dort beispielsweise die Werte und Handlungsnormen spezifizieren, die Linguisten zu Sprachplanern oder Sprachtherapeuten werden lassen (oder sie zumindest veranlassen, theoretische oder empirische Beiträge zu leisten, die Sprachplanern oder Sprachtherapeuten ein Stück weiterhelfen sollen). Ich nenne einen solchen Begriff der linguistischen Metatheorie, sowohl in Anlehnung an, wie in Ablehnung von Kuhns Begriff einer Disziplinären Matrix, „Konzeptions-Matrix" oder kurz „K-Matrix. "
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Der Begriff einer K-Matrix soll also das komplette System der Rahmenbedingungen bedeuten, unter denen eine bestimmte wissenschaftliche Disziplin — hier die Linguistik — in Gestalt einer bestimmten Konzeption Kj entwickelt wird; zwei Linguistikkonzeptionen Kj und Kj ( i f j ) unterscheiden und ähneln sich also nach Maßgabe von Ähnlichkeit oder Unterschied der das wissenschaftliche Handeln ihrer Akteure leitenden K-Matrizen. Der Spielraum für die mögliche theoretische und praktische Vernunft einer Konzeption wird durch ihre Κ Matrix gleichsam vorgezeichnet. Vielleicht wird er durch die konkreten Wissenschaftsprozesse nicht ausgefüllt, aber größer als der für ihn gesetzte Rahmen kann er nicht sein. Zum Beispiel ist nicht selten die Politizität sprachwissenschaftlichen Handelns kaum zu erkennen. Nach den Überlegungen, die ich zu Beginn dieser Studie angestellt habe, ist dies ohnehin an einer Themen- oder Inhaltsangabe für eine konkrete Untersuchung oft nicht direkt ablesbar; eine Untersuchung der Sprache von Politikern kann beispielsweise weniger politisch sein, als die Erforschung von Textverarbeitungsprozessen in Medien und Institutionen. Kriterium der Politizität linguistischer Arbeit ist ihre Einbettung in die konkreten Probleme der sprachlichen Praxis, sowie ihr im einzelnen gewiß schwer abschätzbarer Anteil an deren Lösung. Nun gilt aber sicherlich, daß diese Dimension nicht wenigen Forschungskontexten weitgehend fehlt; dies kann zwei Gründe haben. Entweder sind die hierfür verantwortlichen Linguisten so stark von ihren Erkenntnisinteressen und den diese strukturierenden methodologischen Konzepten beherrscht, daß sie tatsächlich keine oder nur wenige Überlegungen zur Einbettung dieser Forschung in einen Mittel-ZweckKontext hinsichtlich von Sprachpraxisproblemen anstellen; in diesem Falle kennt offensichtlich die ihre Forschung leitende K-Matrix entsprechende Praxis werte nicht oder kaum. Oder aber der Bedeutung der Dimension sprachlicher Praxis entspricht durchaus auch das forschungsleitende Bewußtsein, nur hinkt gleichsam seine Realisierung in der wissenschaftlichen Praxis ungewollt hinterher; angesichts der erheblichen Schwierigkeiten einer tatsächlich auch praktisch nutzbaren und wirksamen linguistischen Forschung wäre dies nicht verwunderlich. Bevor ich den Begriff einer K-Matrix in struktureller Hinsicht und den möglichen Spielraum der linguistischen Politizität genauer erläu-
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tere, möchte ich auf eine weitere nicht-selbstverständliche Konsequenz für die Wissenschaftstheorie der Linguistik hinweisen. Daß überhaupt mit der Erörterung der Politizität einer Konzeption die Dimension der praktischen wissenschaftlichen Vernunft in die Problemsicht der Wissenschaftstheorie Eingang findet, war als eine nichttriviale Kritik der üblichen Wissenschaftstheorie analytischer Provenienz bereits zur Sprache gekommen. Sehr viel grundsätzlicher noch tangiert eine andere notwendige Kritik das Selbstverständnis der Wissenschaftstheoretiker und vieler Linguisten von ihrem wechselseitigen Verhältnis. Ich werde dieses Thema hier aber nur in aller Kürze soweit streifen, wie dies für eine Vertiefung des Verständnisses von Struktur und Rolle der sprachwissenschaftlichen Politizität notwendig ist. 7 Bereits der Kuhnsche Begriff einer Disziplinären Matrix, ja sein Paradigmabegriff, sind in einem ganz entscheidenden Aspekt inkonsistent mit einer weithin herrschenden Ideologie der Wissenschaftstheorie: dem ausschließlichen Rekonstruktivismus. Danach ist die einzig rationale Funktion wissenschaftstheoretischer Überlegungen, wenn sie nicht bloß deskriptiv oder unbegründbar normativ verfahren soll, die der Rekonstruktion der logischen Struktur wissenschaftlicher Prozesse und ihrer Ergebnisse. Daß die Scylla bloßer Deskriptivität und die Charybdis unbegründbarer Normativität als Funktionen der Wissenschaftstheorie nicht in Frage kommen, steht wohl außer Zweifel. Daß aber Rekonstruktivität den einzigen erfolgreichen Weg in dieser Meerenge verheiße: dies ist nichts als ein Dogma. Es ist aufgrund des verständlichen Irrtums zustandegekommen, nur die Analyse nachweisbar ausgereifter, erfolgreicher Wissenschaft könne unsere Einsicht in die Natur von Wissenschaft wirklich voranbringen; damit wurde die Physik zum Haupttummelplatz der Wissenschaftstheoretiker. Entsprechend vernachlässigt wurden die „weicheren" Disziplinen, wurden aber zugleich auch alle frühen Phasen vor der Entdeckung eines Gesetzes oder der endgültigen Etablierung eines Paradigmas. Diese vorparadigmatische Phase der Forschung aber ist ein wichtiger, unverzichtbarer Bestandteil des Wissenschaftsprozesses; dieser beginnt nicht erst, wenn sie abgeschlossen ist. Erst dann aber, und nicht bereits vorher, ist die 7 Für eine weitergehende Wissenschaftstheoriekritik cf. Finke 1977. Ausführlich wird das Thema in Finke 1982 behandelt.
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logische Rekonstruktion von Theorien möglich und zugleich ein wissenschaftstheoretischer Beitrag zu ihrer Konstruktion unmöglich: diese ist ja bereits abgeschlossen. Wie diese Konstruktion zustandekam, wie also der vorparadigmatische Prozeß ablief, dies wird von den Rekonstruktivisten folgerichtig ausgeblendet und ungerechtfertigterweise irrationalisiert. Entsprechend kommt noch ein anderes Dogma hinzu: das der Autonomie der Wissenschaften. Aus Angst vor den beiden erwähnten Klippen der Deskriptivität und der Normativität und infolge der Blickverengung auf die wohletablierten Rahmenbedingungen des paradigmatischen Wissenschàftsprozesses wird der Wissenschaftstheorie jeder mitentscheidende Einfluß auf die Entwicklung einer Konzeption abgesprochen und zugleich den mit vorparadigmatischen Prozessen beschäftigten Wissenschaftlern jede Beratung durch die Wissenschaftstheorie verboten. Ich möchte dese Kritik der Wissenschaftstheorie auf einen kurzen Nenner bringen. Ebenso, wie die Kreativität der Sprache eine ihrer hervorragendsten Eigenschaften ist, gleichwohl aber von vielen Linguisten schlicht ignoriert wurde, ignoriert die herkömmliche Wissenschaftstheorie fast durchweg die Kreativität der Wissenschaft. Eine Theorie, die diese Kreativität nicht erklärt, ist ziemlich inadäquat, denn sie versagt gegenüber dem entscheidenden Strukturkriterium wissenschaftlichen Fortschritts. Wenn es richtig ist, daß es mehr kreative Wissenschaft geben soll oder muß, dann ist die Nichterklärung dieser Kreativität in der rekonstruktiven Wissenschaftstheorie ein grundsätzlicher und folgenschwerer Mangel. In der Konsequenz zeigen sich die Nachteile eines solchen herrschenden rekonstruktiven Wissenschaftstheorieverständnisses den auf die Analyse von Paradigmata fixierten Metatheoretikern kaum, wohl aber denen, die in angeblicher Autonomie objekttheoretische Arbeit leisten müssen: den Einzelwissenschaftlern. Da sich die vorparadigmatische Phase dieser Arbeit nicht einfach überspringen läßt, scheren sie sich wenig um jene „reine Lehre", die leider nicht viel mehr als eine Ideologie ist. Anstatt metatheoretischen Rat peinlich zu vermeiden, stellen sie ganz konsequent und völlig zu Recht selbst solche Überlegungen an, die geeignet sind, sich der im Wissenschaftsprozeß anzuwendenden Kriterien und wünschenswerten metatheoretischen Rahmenbedingungen zu versichern, und dies
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umso konsequenter und expliziter, als sie sich der Rolle dieser Rahmenbedingungen bewußt sind. Diese Rolle wird von Kuhn folgerichtig als die von „forschungsleitenden Rahmenbedingungen" beschrieben, und das bedeutet, daß sie faktisch — entgegen der Rekonstruktivismusideologie — eine für den objekttheoretischen Prozeß konstruktive Funktion besitzen. Ganz entsprechend beschreibt er auch seine Disziplinären Matrizen als Wissenschaftsermöglichende, paradigmakonstituierende Systeme. P.Weingart nennt sie zu Recht „Orientierungskomplexe", 8 also methodologische Systeme, die den betreffenden Forschern sagen, wo es langgehen soll: gleichsam ein Verkehrs'regelsystem für den Weg einer Disziplin. Daß eine konstruktive Wissenschaftstheorie nicht weniger möglich ist als eine rekonstruktive, hatte ich schon gesagt; daß sie wesentlich wichtiger, weil der tatsächlichen Problemlage der großenteils noch mit ihren Grundlagen beschäftigten Wissenschaften wesentlich adäquater ist, folgt aus den zuletzt angestellten Überlegungen. Jene tatsächliche Problemlage ist nämlich viel mehr durch vorparadigmatische, als durch paradigmatische Prozesse bestimmt, zumindest und jedenfalls in Wissenschaften wie der Linguistik. Eine schlechthin befriedigende linguistische Theorie gibt es bislang kaum; die „klassische Mechanik" der Linguistik besitzen wir bislang höchstens in Ansätzen. Viel mehr Fragen sind offen — und zwar in ziemlich grundsätzlicher Weise offen — als gelöst, und das, was wir als linguistische Theorien kennen, ist in der Regel der berechtigten, mehr oder weniger fundamentalen Kritik ausgesetzt. Vieles spricht dafür, daß die Probleme der Linguistik komplexer und damit schwieriger sind als die der Physik. Was besagt diese — hier etwas hurtig vorgetragene — Kritik des gängigen wissenschaftstheoretischen Rekonstruktivismus und das mit ihr verbundene Plädoyer für eine konstruktive, an der Basis der einzelnen Disziplinen ansetzende Wissenschaftstheorie für unser Thema in dieser Studie? Unser Thema ist die Politizität der Sprachwissenschaft, die Frage, in welcher Form sich die Verantwortung der Linguisten, die ihr wissenschaftliches Handeln in seinen politischen Kontext stellen, äußern kann. 8 Weingait 1976:40ff.
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Die Antwort ist, grob gesprochen, daß dies — innerhalb gewisser Grenzen - im Belieben der Linguisten steht. Eine wissenschaftliche Disziplin - insonderheit eine, die in großem Umfange auf vorparadigmatische Prozesse angewiesen ist - hat das Gesicht, das ihre Akteure ihr geben wollen. Der jeweils aktuelle Zustand einer Disziplin ist kein durch Zufall oder Naturgesetz verursachtes Schicksal, sondern ein von den Akteuren großenteils absichtlich produziertes Zwischenstadium. Für eine konstruktive Wissenschaftstheorie stellt sich daher weniger die Frage, wie eine Disziplin ist, als vielmehr, wie sie sein kann und wozu sie werden soll. Theoretische Vernunft muß Formen ausbilden, die praktisch werden können; linguistische Theorien können zur Grundlage von Strategien werden, mit deren Hilfe man Probleme der sprachlichen Praxis angehen kann. Eine konstruktive Wissenschaftstheorie der Linguistik wird daher diesen Zusammenhang fordern und erklären, vor allem aber einen Beitrag zu seiner Herstellung liefern müssen. Der Erklärung dieses Zusammenhanges wird der nächste Abschnitt gewidmet sein. Seine Herstellung aber ist die eigentliche konstruktive Aufgabe. Die Gestaltbarkeit unserer Disziplin erfordert Entscheidungen über die Richtung, die sie nehmen soll, über die K-Matrix, die dabei eine forschungsleitende, eine konstruktive Funktion übernehmen soll. Daß diese in der wichtigen Kategorie der forschungsleitenden Werte nicht nur Werte der Theoretizität, sondern auch und gerade solche der Politizität enthalten soll, ist keine Trivialität, sondern ein durchaus nichttriviales, konstruktives Postulat. Die linguistische Praxis scheint den Schluß nahezulegen, daß zwar viele der faktisch forschungsleitenden K-Matrizen von Konzeptionen der heutigen Linguistik auch praktisch-politische Werte kennen, aber nur selten explizit und fast nie bezogen auf den methodologischen Kontext der theoretischen Werte, mit dem sie im Zusammenhang stehen. Konstruktive wissenschaftstheoretische Überlegungen zu den Grundlagen der Linguistik können hierbei die nützliche Funktion haben, sowohl eine solche Explizierung, als auch die notwendige Theoretisierung so zu leisten, daß sich hieraus ein Orientierungskomplex für die sprachwissenschaftliche Praxis ergibt.
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2. Theorie, Empirie, Anwendung Das Ausmaß an praktischer Vernunft, zu dem eine Linguistikkonzeption fähig ist, zeigt sich in dem Grade, in dem die durch sie ermöglichte theoretische und empirische Sprachforschung, zumindest im Prinzip, Nutzanwendungen ermöglicht. Die Forderung nach sog. praktischer Relevanz auch der Linguistik, die vollkommen berechtigt ist, kann wohl nur so, als Forderung von möglichen Nutzanwendungen, präzisiert werden: die Relevanz einer Linguistikkonzeption bemißt sich nach dem Anwendungsfeld, das sie erschließt. Nun wird das Verhältnis theoretischer zu empirischer und Anwendungsforschung in der Linguistik (aber auch anderswo) häufig in wenig angemessener Weise beschrieben. Die allfällige Floskel einer Forderung nach Anwendungsbezug signalisiert wohl häufig nur eine verbale Übereinstimmung, keineswegs stets auch eine Übereinstimmung in der Sache. So werden Lehrstühle für „Angewandte Linguistik" ausgeschrieben, deren Inhaber die allgemeinen linguistischen Theorien und Methoden auf eine bestimmte Sprache, das Deutsche vielleicht, „anwenden" sollen. Entsprechend meinen offenbar nicht wenige, die sich konkreten empirischen Untersuchungen eines Rollenkomplexes widmen (wie der Aufstellung einer Beobachtungsreihe zum Spracherwerb eines bestimmten Kindes oder der Erhebung des Materials für eine Untersuchung der Kommunikationsverläufe in einem bestimmten Betrieb), daß sie so eo ipso bereits angewandte Sprachforschung betrieben. Dabei geschieht in all diesen Fällen zunächst einmal nichts anderes als empirische Forschung: ein uns unbekannter Ausschnitt unserer Realität, unserer Sprachrealität, wird empirisch erforscht, Tatsachenwissen wird erworben; oberflächlich vielleicht, verzerrt, zu stark oder ungeeignet idealisiert, sicherlich nur approximativ, aber gleichwohl in der einzig möglichen Weise: durch die Anwendung der für brauchbar geltenden Methoden empirischer Forschung. Letztlich werden Beobachtungsdaten gesammelt und in methodisch kontrollierter Form interpretiert. Angewandt im strengen Sinne werden hier also nur die empirischen Methoden; ihr Nutzen liegt in der instrumentalen Funktion, eine bestimmte zugrundegelegte Theorie, die ja allgemein ist und nicht den konkreten Einzelfall im Auge hat, tatsächlich auch zur Grundlage jeder Einzelfallanalyse machen zu können. Eine
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Theorie und ein Arsenal von Methoden verhalten sich wie ein Mikroskop und eine Gebrauchsanweisung; ob das, was man beim rechten Gebrauch des Mikroskopes sieht, dann auch selbst noch für bestimmte Zwecke anwendbar ist, steht dahin. Die Benutzungsmöglichkeiten des Mikroskops jedenfalls, die von seiner Gebrauchsanweisung eröffnet werden, garantieren diese Anwendbarkeit noch nicht ; andererseits aber sind sie Voraussetzungen von ihr. Sie ermöglichen empirische Forschung mit dem Mikroskop, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Das Mikroskop entspricht einer Theorie und beide können für empirische Forschung geeignet oder ungeeignet sein. Das für sie geeignete Mikroskop entspricht dem, was wir eine „empirische Theorie" nennen und das ist nicht etwa eine Theorie, welche durch empirische Untersuchungen falsifiziert, bestätigt oder gar verifiziert werden könnte, sondern eine Theorie, die solche Untersuchungen schlicht ermöglicht. Nichts anderes bedeutet der Sinn des Redens von empirischen Theorien. Wir können alle - bisher ohnehin gescheiterten — Versuche, Theorien als etwas zu beschreiben, was man widerlegen oder bestätigen sollte, aufgeben und brauchen dennoch nicht den Einbruch völlig haltloser Spekulation zu befürchten. Denn keineswegs an alle möglichen oder denkbaren Theorien wird man empirische Untersuchungen anschließen können, keinesfalls jede Theorie kann zur Basis empirischen Wissenserwerbs genutzt werden. Solche Theorien aber, welche Strukturen aufspannen (und mögen sie noch so abstrakt sein), die für unsere Beobachtungen der (Sprach-) Realität 9 konstitutiv sind, weil sie nämlich offenbar hinreichend geeignete begriffliche Mittel bereitstellen, um die durch sie ermöglichte Sicht der Dinge auch zum Ausgangspunkt der Detaillierung und Konkretisierung unserer Erfahrung durch empirische Datenerhebung und -interpretation machen zu können: solche Theorie dürfen wir selbst auch als empirische Theorien verstehen. Die Theoretisierung eine Wirklichkeitsausschnittes ist stets eine empirische Theoretisierung, auch wenn sie grob oder krude oder wenig adäquat erfolgt. Sie steht am Anfang des Forschungsprozesses und leitet, ob wir das wahrnehmen oder nicht, unsere Sicht der Dinge, die Art sie 9
Der Realitäts- oder Wirklichkeitsbegriff wird hier nicht seinerseits problematisiert, gleichwohl sollte nicht unterstellt werden, daß er naiv verwendet wird. Cf. Finke 1979:67ff. und Finke 1982:108ff.
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zu problematisieren, bei jeder Erhebung und Interpretation empirischer Daten mit. Die Theoretizität der Linguistik erweist sich an der erklärenden Kraft, die ihre empirischen Theoretisierungen von Sprache und Kommunikation besitzen. Von „Anwendungen" kann insoweit noch keine Rede sein. Sie kommen erst dann ins Spiel (und müssen auch ins Spiel kommen), wenn die Forschungsinteressen den Rahmen potentieller Erklärung verlassen und in den Bereich der Beeinflussung, Gestaltung und Veränderung vorstoßen. Linguistik, entsprechend, wird erst dann praktisch, wenn sie die sprachliche Kommunikation und Sprachpraxis nicht mehr bloß erklären, sondern beeinflussen, verändern will. Erst eine in diesem Sinne anwendungsbezogene Linguistik sieht ihren Forschungsgegenstand in seinem tatsächlichen politischen Kontext, kann selber zu einer Linguistik mit einer politischen Qualität werden. Die „Sprache in ihrem politischen Kontext sehen" bedeutet also, sie im Kontext der Probleme zu thematisieren, die ihre Benutzer in ihrer täglichen Sprachpraxis haben. Diese Praxis schafft insofern einen politischen Kontext, als sie eine für die Handlungs-, Entfaltungsund generellen Lebensmöglichkeiten in einer Gesellschaft keinesfalls periphere, sondern eher zentrale, integrative Funktion besitzt; nur ein Sprachwissenschaftler aus Elfenbein könnte dies übersehen. Sprachsysteme sind — wie weiter unten noch zu zeigen ist — stets Teile von Sprache-Welt-Systemen. Nicht alle Praxis ist von gleicher politischer Qualität; bei der Sprachpraxis aber liegt diese — und mit ihr ihre erhebliche Bedeutung - auf der Hand. Die „Sprachwissenschaft in ihrem politischen Kontext sehen" bedeutet mithin, den politischen Kontext der Sprache in das Geschäft der empirischen Theoretisierung von Sprache einzubeziehen, und dies bedeutet ganz schlicht: an der Lösung der praktischen Sprachund Kommunikationsprobleme der Sprachbenutzer mitwirken wollen. Konkret wird sich diese Mitwirkung in der Erforschung der Nutzbarkeit des erworbenen linguistischen Wissens für die Lösung der Sprachpraxisprobleme äußern. Es ist diese Ebene, die ihrer Anwendbarkeit, nicht bloß ihres empirischen Gehalts, die letztlich über die Qualität einer linguistischen Theorie entscheidet. Nun ist freilich Anwendbarkeit nur über das Bemühen um empirischen Gehalt zu erreichen, ebenso wie dieser die Erfüllung theoretischer Voraussetzun-
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gen zur Vorbedingung hat. Aber ebenso wenig, wie die logische Form einer Theorie bereits einen empirischen Gehalt versprechen könnte, vermag dieser, wenn er vorliegt, seine Verwendung für Zwecke praktischen Nutzens zu garantieren. Es muß jeweils noch etwas hinzukommen, das die vorhergehende Stufe sprachwissenschaftlicher Arbeit auf die jeweils nachfolgende erhebt: die Theorie zur empirischen Theorie, die empirische Theorie zur anwendbaren empirischen Theorie. Diese Rangfolge ist zunächst einmal und vor allem anderen logisch, denn sie ist eine Abfolge zunehmender Restriktionen: erfüllt nicht schon alles, was gesagt oder geschrieben wird, die elementarsten Rahmenbedingungen einer wissenschaftlichen Theorie (ein Zeitungsartikel zum Beispiel nicht, eine politische Rede, ein Gedicht oder unser Alltagsgeschwätz, normalerweise), so kann ersichtlich nicht jede Theorie auch schon qua Theorie Anspruch auf einen empirischen Gehalt erheben (wie die Theorien der Mathematiker zeigen). Auf dieser - der empirischen - Ebene aber ist die Sachlage komplizierter, denn die Intention auf einen empirischen Gehalt allein genügt nicht, um die nächste Ebene zu erreichen. Hier ist es nicht nur notwendig, diesen empirischen Gehalt so umfangreich wie möglich zu machen, sondern zugleich auch, den Grad seiner Anpassung an das, was erklärt werden soll, möglichst hoch zu schrauben. Empirische Adäquatheit ist nicht dasselbe wie empirischer Gehalt.10 Beides sind relative, nicht absolute Begriffe, deren Sinn eine kontinuierliche und nicht eine feste Größe ist. Eine Theorie, die einen vergleichsweise umfangreichen empirischen Gehalt besitzt, kann diesen gleichwohl mit einer viel zu geringen Adäquatheit (und damit unzureichend) erklären, wie beispielsweise — nach allem, was wir bislang wissen — die behaviouristische Spracherwerbstheorie. Ihr empirischer Gehalt ist hoch, denn es gibt praktisch keine Spracherwerbssituation (sei es im Erstsprachenerwerb oder im Erwerb weiterer Sprachen), die sie nicht erklärte. Nur die Qualität dieser Erklärung ist offenbar - jedenfalls in wichtigen Teilen — sachunangemessen: zumindest den Erstsprachenerwerb dürfte sie ganz inadäquat erklären. Ebenso kann eine Theorie mit einem vergleichsweise geringen empirischen Gehalt zugleich 10 Beides wird häufig verwechselt, so z.B. in vielen Beiträgen in Wunderlich 1976.
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in einem hohen Grade empirisch adäquat sein, so, wie es beispielsweise der theoretische Kern des linguistischen Strukturalismus zu sein scheint: wenn die Sprachwissenschaft auf ihrem bisherigen Wege irgendeine sachangemessene und damit auch konsensfáhige Basis erarbeitet hat, dann ist es - abgesehen von einigen überzogenen methodologischen Schlußfolgerungen, die hieran gelegentlich geknüpft worden sind — die prinzipielle Art und Weise, wie man einen wichtigen Aspekt von Sprache (sogar auf den verschiedensten ihrer Analyseebenen) erklären kann, nämlich als ein System bestimmter Strukturen. Nur, wer den Strukturalismus als Glaubensbekenntnis vor sich herträgt und meint, damit allen wichtigen oder sogar möglichen Aspekten und Teilfeldern des Gegenstands Sprache beikommen zu können, der irrt sich sehr. Der Umfang des Einzugsbereichs, innerhalb dessen der Strukturalismus an Sprache überhaupt etwas erklärt, der empirische Gehalt dieser Theorie, ist - gemessen am Erklärungsbedarf — verhältnismäßig gering, auch wenn sie das, was sie erklärt, allem Anschein nach ziemlich adäquat erklärt. Ich nenne das Maß, zu dem eine Theorie tatsächlich ein Erklärungsbedürfnis empirisch gehaltvoll und empirisch adäquat befriedigt — eine angemessene Lösungsstrategie für das ihr zugrundeliegende Problem ist — kurz den „Härtegrad" der Theorie. Das Maß, zu dem eine empirische Theorie ein Gestaltungs- oder Veränderungsbedürfnis befriedigt, ist ein Maß ihrer Anwendbarkeit. Ich nenne es den „ Relevanzgrad " der Theorie. Nur dann, wenn ein Minimum theoretischer Härte vorliegt, hat das auf der Basis einer empirischen Theorie erworbene empirische Wissen eine reelle Chance auf Anwendbarkeit und damit auf praktische Relevanz. Es ist also keinesfalls umstandslos möglich, diese dritte Stufe des wissenschaftlich Wünschenswerten auch zu erreichen, aber überall dort, wo sie erreicht wird, darf man auch schließen, die früheren erklommen zu haben. Diese abgestufte Restriktivität der Theoretisierung, die ja nicht nur für die Linguistik gilt, ist es, was das wissenschaftliche Geschäft erst wirklich schwierig macht. Sie erklärt zugleich, warum die Politizität der Linguistik hinter den Möglichkeiten, die sie zweifellos hat, heute noch erheblich zurückbleibt. Worin liegt also die Schwierigkeit begründet? Sie hegt darin be-
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gründet, daß es offenbar notwendig ist, die zunehmenden Restriktionen aller drei Ebenen in ihrem Zusammenhang zu beachten und nicht etwa als voneinander unabhängige Größen anzusehen oder gar völlig unbeachtet zu lassen. Es ist zumindest unökonomisch, ins Blaue hinein zu theoretisieren; vielmehr müssen ein relativ hoher empirischer Gehalt und eine relativ große empirische Adäquatheit schon im Prozeß der Theoretisierung angestrebt werden. Aber ebenso unökonomisch ist es, ausschließlich dem Wissensdrang freien Lauf zu lassen und gleichsam ins Blaue hinein empirisch zu arbeiten. Vielmehr muß der Wunsch nach Nutzung des erworbenen Wissens auch den empirischen Forschungsprozeß leiten. So gesehen handelt es sich freilich in beiden Fällen um Postulate, die auch unbeachtet bleiben können. Ihre Nichtbeachtung mindert aber zweifellos die Relevanz des (sprach)wissenschaftlichen Handelns. Betrachten wir nun diesen Zusammenhang aus der umgekehrten Perspektive, der Perspektive dessen, der Anwendungen vornehmen will. Er steht weniger vor einem Problem der wissenschaftlichen Ökonomie, als vor einem experimentellen Problem. Praktikable Anwendungen setzen ein hinreichend empirisch gehaltvolles und adäquates - also hartes — Wissen voraus; alles andere - wenn es denn überhaupt möglich wäre - käme einem völlig unkontrollierten Versuch gleich. Ein theoretisch und empirisch ungenügend fundiertes Wissen wird man nämlich in den meisten Fällen schon deshalb, weil die Voraussetzung entsprechenden Tatsachenwissens fehlt, gar nicht in ein vielleicht wünschenswertes Handlungswissen umformen können. Dort aber, wo dies trotz der ungewissen Grundlage dennoch geschieht, wird experimentiert, und zwar ziemlich unfundiert experimentiert. 11 Dies ist in eindeutigen Experimentalwissenschaften nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig und üblich, und insoweit die Linguistik solche Experimentalsituationen zuläßt, auch hier (experimentelle Linguistik). Ein großer, vielleicht der wesentliche Bereich von Sprachpraxisproblemen dürfte sich jedoch der experimentellen Linguistik entziehen, weil es sich aus moralischen Gründen verbietet, Experimente einer gewissen Tragweite mit Menschen zu machen. So berührt es beispielsweise durchaus die Ebene der 11 Zur Funktion experimenteller Verfahren in der frühen Wissenschaft cf. die anregenden Studien in Böhme et al. 1977.
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Verantwortung, ob man - was geschieht - Kinder eine Kunstsprache wie Esperanto oder Ido als „Muttersprache" lernen läßt oder ausprobiert, wieviele natürliche Sprachen Kinder gleichzeitig erlernen können (es gibt mehrere viersprachige, wohl auch einige fünfsprachige Kinder; gibt es hier Grenzen oder nicht? Wie sinnvoll sind solche Experimente? Solange unser lerntheoretisches und entwicklungspsychologisches Wissen nicht härter ist, sind solche Experimente zumindest anrüchig). Ähnliches gilt für politisch motivierte Sprachplanungsexperimente, in deren Verlauf der Verlust ganzer Dialekte zugunsten der Förderung einer Einheitssprache in Kauf genommen wird oder für die Einbringung offensichtlich mangelhafter linguistischer Theorien in Schulbücher und andere didaktische Kontexte. Der Makel solcher Beispiele — wenn es denn ein Makel ist — liegt nicht schon im Begriff angewandter Linguistik; wer dies behauptete, würde auch jede positive Nutzanwendung ausschließen. Nicht nur die Tatsache, daß zweifellos im konkreten Falle zu prüfen ist, wessen Interessen ein angeblicher oder tatsächlicher Nutzen dient, macht Beispiele wie die genannten bedenklich. Vielmehr ist es die Gewißheit, daß es sich hier um Anwendungsexperimente von Theorien handelt, deren Härte ziemlich spekulativ ist. Die Angewandte Linguistik ist zweifellos ein Bereich, dessen Ausbau notwendig ist und die Politizität der Linguistik steigern kann. Allerdings ist es ein besonders sensibler Bereich, weil man hier mehr und konsequenzenreicher falsch machen kann, als im vergleichsweise harmlosen Spielraum der Theoretizität. Gleichwohl: die Linguistik hat keine Alternative zu dem Risiko ihrer Anwendung. Sie muß mehr als bisher versuchen, das Getto bloßer Erkenntnisinteressen in Richtung auf begründbare Interessen an Gestaltung und praktischer Hilfe zu durchbrechen, wenn sie ihre Relevanz überzeugend begründen will. Sie muß aber auch alles daransetzen, die Voraussetzungen der Relevanz zu schaffen, und diese liegen in ihrer theoretisch-empirischen Qualität. Die weiter oben erwähnte Schwierigkeit des sprachwissenschaftlichen Geschäfts liegt also auch darin, daß Anwendungen eine hinreichende empirische Basis und diese wiederum eine hinreichende theoretische Basis besitzen müssen. Der Zusammenhang zunehmender Restriktivität, von der Ebene der Theorie über die der Empirie bis hin zur Anwendung, ist insofern auch umgekehrt wirksam, als
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bereits — beispielsweise - in die Planung eines empirischen Projekts Relevanzgesichtspunkte eingehen können und in der Regel auch müssen. Da sehr viel mehr untersucht werden könnte als untersuchenswert und, von den Mitteln her gesehen, untersuchbar ist, ist es richtig, wenn die Perspektive auf den Relevanzaspekt auch auf die logisch fundamentalen Komponenten des Wissenschaftsprozesses durchschlägt. Auch die theoretische Linguistik kann insofern nicht umhin, nicht nur die Ermöglichung empirischen Forschens als Kriterium für die formale Auszeichnung möglicher linguistischer Theorien anzuerkennen (empirische Theorien), sondern auch bereits die Ermöglichung von Anwendungen (potentiell anwendbare empirische Theorien). Damit ist nicht gefordert, daß nur solche empirischen Untersuchungen durchgeführt werden sollten, bei denen schon im vorhinein klar ist, daß das in ihnen zu Tage geförderte empirische Wissen praktische Nutzanwendungen erlaubt oder gar, daß diese bereits feststehen. Ebenso ist erst recht nicht gefordert, daß nur solche Theorien entwickelt werden sollten, für die das gleiche gilt. Solche Forderungen wären einfach zu restriktiv, weil sie mit der Guillotine der Relevanz theoretische und empirische Untersuchungen abschneiden würden, deren Konsequenzen noch nicht überblickbar sind (und dies ist sicher die überwiegende Mehrzahl aller theoretischen und empirischen Forschungen). Wohl aber ist gefordert, daß die Erfordernisse, die sich aus den Problemen der kommunikativen Praxis ergeben, bei der Entwicklung der Theorien und ihrer Benutzung als Basis empirischer Untersuchungen nicht vollständig unberücksichtigt bleiben, um dann erst — gewissermaßen ex post — entdeckt zu werden oder auch nicht. Nicht Anwendbarkeit, wohl aber intendierte Anwendbarkeit muß ein Thema auch bereits der theoretischen Linguistik sein, von der empirischen ganz zu schweigen. Wir können diese intendierte Anwendbarkeit kurz als , Applikabilität" einer Theorie bezeichnen. Dann gilt: Die Theoretizität muß die Reflexion auf Politizität und damit auf Applikabilität bereits einschließen. Die die Restriktion der Empirizität noch erheblich verschärfende zusätzliche Restriktion der Applikabilität verschärft den formalen Selektionsdruck auf Theorien erheblich und kann gleichsam als pragmatischer „Ersatz" für jene nicht zur Verfügung stehenden semantischen Verifikations- oder Bestätigungsverfahren dienen, von denen die Wissenschaftsphilosophen Zug um Zug
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abgerückt sind. Wie kann sich nun diese Restriktivität in der theoretischen Forschung konkret äußern? (Die empirische Forschung behandle ich hier nicht explizit; für sie gilt Entsprechendes). Hier kommt eine ebenso simple, wie entscheidende Tatsache ins Spiel. Dort, wo in der Linguistik noch Chancen für neue empirische Theoretisierungen offenstehen (und das ist in ihren meisten Teildisziplinen der Fall), ist es notwendig, kreativ zu arbeiten, d.h. theoretische Konstrukte, denen man eine angemessene Härte zutraut, neu zu entwickeln. Ich will dies, im Vorgriff auf eine Redeweise, die im nächsten Paragraphen genauer begründet werden soll, ein „konstruktives" linguistisches Vorgehen oder kurz eine „konstruktive Linguistik" nennen. 12 Ihr konstruktives Instrument nenne ich das einer „kreativen empirischen Theoretisierung". Die kreative empirische Theoretisierung von Sprache beginnt in der konstruktiven Linguistik mit Modellen, von denen man vermutet, daß sie strukturale und funktionale Homologien zu ihr besitzen und in einem gewissen Umfange gegenüber dem wissenschaftlichen status quo innovativ sind. Hier wird eine Vorentscheidung über die Härte, insonderheit die empirische Adäquatheit, zu der eine über dem Modell zu errichtende Theorie fähig ist, getroffen. Diese Modelle enthalten zugleich bereits wichtige inhaltliche Aspekte der intendierten Theorie und fügen den erwähnten formalen Restriktionen damit vorentscheidende inhaltliche Restriktionen hinzu. Die aus der Ebene der Politizität auf die der Theoretizität projizierten formalen Restriktionen äußern sich nun einfach darin, daß bereits bei der Auswahl eines für empirisch adäquat gehaltenen Modells (und entsprechend bei der Ausformulierung der Theorie auf seiner Basis) der Gesichtspunkt der Applikabilität eine Rolle spielt. Die elementaren Vorentscheidungen im Prozeß der kreativen empirischen Theoretisierung sollen bereits - das ist die Forderung — mit Blick auf Applikabilität als einem methodologischen Wert getroffen werden; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Äußerlich kann dies bedeuten, daß die Darstellung der Theorie von einer expliziten Reflexion auf den Raum ihrer möglichen Anwendungen begleitet wird. 12 Der Begriff .Konstruktive Linguistik' wird erstmals in Finke 1980 verwendet und erläutert.
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Dies wäre jedenfalls wünschenswert, weil es transparent machen würde, welchen Anwendungskontext sich ein Theoretiker überhaupt vorstellt. Die Regel ist dies nicht, und so bleibt bei den meisten (linguistischen) Theorien offen, ob sich ihre Erfinder oder Bearbeiter überhaupt irgendeinen Anwendungskontext vorstellen oder nicht. Ob tatsächliche Anwendungen innerhalb oder außerhalb dieses konstruktiven Kontextes einmal möglich werden, wird sich zeigen. Sicherlich aber werden sie leichter erreichbar sein, wenn das Bewußtsein von der Dimension der Politizität wissenschaftlichen Handelns bereits im Bewußtsein einer nicht nur harten, sondern auch relevanten Theoretizität verankert ist.
3. Formale Rahmenbedingungen der Konstruktivität In diesem Paragraphen will ich, in gedrängter Form, den Begriff einer konstruktiven Linguistik näher erläutern. Er soll zugleich die Rolle der Wissenschaftstheorie, wie ich sie einleitend diskutiert habe, deutlicher werden lassen.13 Auch kreative Forschung wird, selbst wenn sie größere Freiheitsräume besitzt als andere, nicht voraussetzungslos betrieben. Ein Wissenschaftler, der nach einer neuen Lösung für ein neues (oder auch altes) Problem sucht, ist nicht vollkommen frei. Es ist zwar sinnvoll, daß er auch die Rahmenbedingungen, unter denen er forschen will, im Prinzip zur Disposition stellt ; doch es ist sicherlich nicht sinnvoll anzunehmen, es solle überhaupt keine geben. Ich möchte mich zunächst auf formale Rahmenbedingungen konzentrieren; dabei wird deutlich werden, daß sie im Falle jeden konkreten Forschungsprozesses inhaltlich ausgefüllt werden müssen. Eine spezifische inhaltliche Füllung für eine Variante konstruktiver Linguistik, die ihre theoretische Härte auch mit der Perspektive auf praktische Relevanz zu erreichen sucht, will ich dann im nächsten Paragraphen unter dem Etikett einer „Ökologischen konstruktiven Linguistik" oder kurz einer „Ökologischen Linguistik' vorstellen. 13 Das Thema einer konstruktiv-funktionalen Wissenschaftstheorie vorparadigmatischer Disziplinen wird ausführlich in Finke 1982 abgehandelt, allerdings dort bezogen auf die teils ähnliche, teils andersartige Problematik der sog. Empirischen Literaturwissenschaft.
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Kreative Forschung beginnt mit kreativer theoretischer Forschung. Ihr Beginn ebenso wie ihr anfänglicher Verlauf sind wahre Stiefkinder der Wissenschaftstheoretiker, die sich — aus nur teilweise verständlichen Motiven heraus — auf die Endverläufe, ja oft sogar nur auf die Resultate von Forschungsprozessen konzentrieren und dabei die Natur der wissenschaftlichen Kreativität überhaupt aus dem Blick verlieren. Es ist aber nichts als ein unbegründetes Dogma, daß Wissenschaftstheorie den Beginn von Wissenschaft oder gar ihre spezifische Kreativität nicht erklären müsse, ebenso wie es ein Dogma ist, daß sie nur ex post, nach in einer Disziplin bereits getaner Arbeit, diese thematisieren könne. Kreative theoretische Forschung, wenn sie denn untersucht würde, zeigt, in welchem Umfange inhaltliche, aber auch formale Grundsatzüberlegungen z.T. sehr genereller Art am Beginn dieser Forschung stehen und wohl stehen müssen, denn eine substantielle Abweichung von der gewohnten Bahn der Disziplin in konstruktiver Absicht, wie sie in der Linguistik keinesfalls selten und etwa im Werk Chomskys relativ explizit erkennbar ist, steht am Beginn solcher Forschung, die substantielle Innovationen anstrebt. Metatheorie erhält hier notwendigerweise die Funktion eines — selbst aus empirischen Hypothesen erbauten — Fundaments für den weiteren Bau der Disziplin. Eine scharfe Grenze seines Übergangs in diesen Bau ist kaum zu ziehen und auch unnötig; vielleicht liegt sie im Prinzip dort, wo formale Rahmenbedingungen von inhaltlichen Überlegungen ausgefüllt werden. Die Metatheorie erhält somit eine konstruktive Funktion und die auf ihrer Basis zu erbauende Disziplin (oder Konzeption der Disziplin) wird konstruktiv entwickelt,14 Diese konstruktive — auf einer allgemeinen und dann disziplinspezifisch konkretisierten, intradisziplinären metatheoretischen Basis errichtete - Einheit der Disziplin (oder Konzeption der Disziplin) legt es nahe, eine solche Vorgehensweise als die einer „konstruktiven Wissenschaft" zu bezeichnen. In diesem Sinne spreche ich von einer „konstruktiven Linguistik" hinter der insbesondere die Absicht steht, die Theoretizität und die Politizität der Sprachwissenschaft in Einklang zu bringen und, womöglich, zu steigern. 14 Dieser Begriff der Konstruktivität ist nicht zu verwechseln mit dem vom mathematischen Intuitionismus entlehnten Konstruktivitätsbegriff der Erlanger Schule (Lorenzen u.a.). Auch dort ist die Rede von einer „Konstruktiven" Wissenschaftstheorie üblich.
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Die formalen Rahmenbedingungen hierfür nenne ich — wie bereits erörtert - die „Konzeptions"- oder kurz "K-Matrix" der Linguistik. Es handelt sich mithin um jenes formale System der forschungsleitenden, innovationsermöglichenden Prinzipien und Kriterien, in dessen Rahmen die weitere kreative empirische Theoretisierung ablaufen kann. Der Idee nach ist es der globale Orientierungskomplex konstruktiven wissenschaftlichen Handelns, ähnlich demjenigen, was Kuhn die „Disziplinare Matrix" nennt. Ohne auf die verschiedenen Mängel des Kuhnschen Begriffs im Einzelnen eingehen zu können, sei hier nur noch einmal daran erinnert, daß in der Darstellung Kuhns nicht deutlich wird, daß Wissenschaft nicht nur eine Ebene theoretischer, sondern auch eine Ebene praktischer Vernunft besitzt, daß beide Ebenen nicht unabhängig voneinander bestehen und wie sie korreliert sind. Ich will kurz erläutern, wie eine konstruktiv-funktionale K-Matrix diese Probleme löst. Es geschieht in Konsequenz der im voraufgegangenen Paragraphen angestellten Überlegungen. Die K-Matrix muß als komplexes System verstanden werden, das selbst in Matrixkomponenten zerfällt, und zwar mindestens eine Theorie- und eine Praxis-Matrix (ich werde später noch andeuten, daß die Theorie-Matrix selbst noch einmal eine Subdifferenzierung erfahren muß); ich kürze sie als „T-" bzw. „P-Matrix" ab. Letztere ist also das System aller forschungsleitenden Rahmenbedingungen, die auf die Nutzbarkeit des auf der Basis der T-Matrix erwerbbaren empirischen Wissens abzielen; sie erfaßt mithin die Dimension der Politizität der Konzeption und damit die Applikabilität der in ihrem Rahmen entwickelten Theorien. Man könnte also sagen: die P-Matrix spannt den potentiellen Anwendungsraum einer Theorie auf. Dies ist nicht das Gleiche wie eine Garantie tatsächlicher Anwendbarkeit; diese kann niemand geben. Sie ist vielmehr eine Art Versicherung gegen eine zu späte Entdeckung des Wunsches nach Relevanz. Während die T-Matrix sicherzustellen sucht, daß die kreativen empirischen Theoretisierungen eine ausreichende Härte besitzen, sichert die P-Matrix die Perspektive auf deren praktische Relevanz. Mehr, als die Gewißheit dieser Perspektive, kann sie nicht geben, doch ist dies angesichts der Forschungsrealität - nicht nur in der Linguistik — auch nicht wenig. Aus unseren Vorüberlegungen zum Verhältnis von Theorie, Empi-
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rie und Anwendung ergibt sich nun nicht nur die Abhängigkeit beider Matrizen voneinander, sondern auch ein Schema für die Art der Abhängigkeit. Die P-Matrix muß der T-Matrix in dem Sinne vorgeordnet werden, als praktischer Nutzen gleichsam das engste Nadelöhr ist, das Wissen auf seinem mit zunehmenden Engpässen versehenen Weg zur Relevanz passieren muß. Dies aber macht es bei kreativen empirischen Theoretisierungen rational, den potentiellen Anwendungsraum einer Theorie schon bei ihrer Konzeption zu berücksichtigen. Die Priorität der P-Matrix vor der T-Matrix garantiert ebensowenig tatsächliche Relevanz wie sie theoretische Entwicklungen ausschließt, die einstweilen kaum eine Aussage darüber ermöglichen, ob sie später einmal eine konkrete Relevanz erlangen können. Sie garantiert aber — und dies ist ihre einzige Funktion - das Ernstnehmen der grundsätzlichen Relevanzforderung, eine grundsätzliche Relevanzperspektive. Das Verhältnis von theoretischer Härte und praktischer Relevanz ist also, diesem für eine konstruktive wissenschaftliche Situation rational erscheinenden Schema zufolge, so vorstellbar, daß erst ein gewisser, auch praktische wissenschaftliche Bedürfnisse befriedigender Umfang von Applikabilität das Bestreben nach hinreichender theoretischer Härte legitimiert; anders gesagt: praktische Relevanz ohne theoretische Härte ist unmöglich, aber theoretische Härte ohne praktische Relevanz, die sehr wohl möglich ist, bleibt wissenschaftlich unbefriedigend. Technisch gesprochen reduziert die T-Matrix auf die P-Matrix (und diese auf die K-Matrix); das heißt: die Abfolge der formalen Systeme forschungsleitender Rahmenbedingungen ist eine Abfolge zunehmender Komplettierung der Forschungsperspektive. Die theoretischen Rahmenbedingungen kreativer empirischer Theoretisierungen, die die konstruktive Aufgabe schon in einer vergleichsweise restriktiven Perspektive sehen, können übrigens noch weiter spezifiziert werden hinsichtlich der Frage, ob sie nur die Struktur, oder auch die Funktion des Forschungsgegenstandes in den Blick nehmen („Struktur"- oder „S-Matrix" und „Funktions"- oder „F-Matrix"). 15 Ebenso, wie in der Sprachwissenschaft die strukturalistische Analyseperspektive grundlegend, aber bereits hinsichtlich ihrer Erklärungsreichweite (zu) beschränkt ist und unter Erhalt ihrer 15 Diese Matrizen sind detailliert behandelt in Finke 1982: 104-184.
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grundsätzlichen Leistungsfähigkeit in eine funktionalistische Analyseperspektive eingebettet werden kann, kann man theoretische Forschung allgemein in Strukturforschung und auf dieser aufbauende und sie erweiternde Funktionsforschung einteilen. Auch diese Matrizen bilden eine reduktive Kette. 16 Freilich soll uns diese spezielle Struktur des „theoretischen Endes" dieser Kette, sollen uns die Submatrizen der T-Matrix, in dieser Studie nicht weiter interessieren. Die Konzeptions-Matrix ist somit das umfassende System aller forschungsleitenden Rahmenbedingungen und es dürfte nunmehr einleuchten, daß es eine Praxis-Matrix einschließen muß, die erst im vollen Umfange legitimieren kann, warum man eigentlich einen oft nicht unbeträchtlichen Aufwand zur Gewinnung hinreichender theoretischer Härte treiben muß. Zur internen Matrixstruktur sei an dieser Stelle nur erwähnt, daß sie Koordinaten zweierlei Art umfaßt, bewertende und bewertete. Erstere, die Wertekoordinate, spezifiziert die metatheoretischen und methodologischen Werte, die zu befolgen die jeweilige Matrix postuliert, wobei der Basiswert der P-Matrix der der generellen Applikabilität und der Basiswert der T-Matrix der der generellen empirischen Theoretizität ist. „Basiswert" bedeutet, daß aus ihm weitere, speziellere Werte abgeleitet werden. Einer der allgemeinsten Werte des gesamten Matrizensystems ist übrigens der der Fruchtbarkeit, zweifellos ein Wert auf der Wertekoordinate bereits der K-Matrix, vielleicht deren Basiswert. Die bewertenden Koordinaten, zu denen — ich nenne bereits Beispiele von Bewertungen — theoretische Prädikate, empirische Methoden, fruchtbare Problemstellungen oder adäquate Modelle gehören, komplettieren eine Matrix zu einem System, das in formaler Weise die Konstruktivität kreativer empirischer Theoretisierung steuert. Diese Konstruktivität selbst kann als dasjenige gedeutet werden, was bei der Erfindung oder Innovation einer Theorie Τ geschieht: die Auffindung und Bereitstellung einer gewissen — meist kleinen — Zahl von Begriffen, die die spezielle Leistung dieser Theorie ermöglichen, ihre Individualität herstellen, indem sie unsere nicht- oder vortheoretischen Konzepte um neue, eben T-theoretische Konzepte 16 Zum Begriff der Reduktion cf. Sneed 1976 und Finke 1982:164ff. - Die erwähnte reduktive Kette ist dort näher erläutert (226ff.).
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ergänzen. Handelt es sich um die Notwendigkeit einer neuen Theorie, so bedarf es zu ihrer Formulierung entsprechender, neuer theoretischer Begriffe; handelt es sich um die substantielle Erweiterung einer bereits bestehenden Theorie, wird dies ebenfalls nötig sein. Beide Prozesse sind, im Grundsätzlichen, identisch; der zweite ist die Fortsetzung des ersten, über die dort gezogene Theoriegrenze hinaus, unter Benutzung des gleichen Mittels der sog. Theoretisierung (interne vs. externe Theoretisierung). In empirischen Disziplinen wie der Linguistik kommen nur empirische Theoretisierungen infrage, d.h. theoretische Strukturen, die eine intendierte empirische Interpretation besitzen. In innovativèn Forschungskontexten müssen sie darüberhinaus kreativ sein, d.h. eine neue Problemsicht bzw. Erklärung intendieren. Der Sinn wissenschaftlicher Konstruktivität, auch in der Linguistik, ist nichts anderes als diese Operation der Theoretisierung einer (relativ gesehen) nicht- oder vortheoretischen Basis durch T-theoretische Konzepte. Sie erklärt — im Prinzip — die formale Seite der wissenschaftlichen Kreativität. 17 Dabei müssen wir davon ausgehen, daß in den meisten interessanten Fällen eine einzelne elementare Theorie, ein Theorieelement, nur eine sehr pauschale und grobe Fruchtbarkeit für Erklärungen oder auch Anwendungen aufweisen kann und darum durch ein sog. Netz von spezialisierenden und komplementierenden Theorieelementen mehr oder weniger erheblich differenziert werden muß. Eine Linguistikkonzeption jedenfalls, die uns einigermaßen zufriedenstellen soll, muß zweifellos ein Theorienetz von einiger Komplexität entwickeln. Nun führen die formalen Rahmenbedingungen der Konstruktivität allein noch nicht zu linguistischen (oder auch anderen) Theorien. Sie laufen gleichsam leer, bilden ein Konstruktionsgerüst, aber kein fertiges Bauwerk. Es müssen Baumaterialien beschafft werden, um dies zu ermöglichen. Inhaltliche Überlegungen sind notwendig. Auch diese werden von der K-Matrix gleichsam vorbereitet, insofern die zunächst formalen Matrixkoordinaten inhaltlich konkretisiert werden müssen. Ich will hier ausschließlich jene Koordinate besprechen, die für den Beginn jeder kreativen empirischen Theoretisierung von kaum zu überschätzender Bedeutung ist, die Koordinate 17 Zum Begriff der internen und externen Theoretisierung cf. Finke 1982:158ff. - Die Deutung der Konstruktivität als Theoretisierung findet sich dort auf S.228f.
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der Modelle-, bestimmte inhaltliche Vorstellungen - o f t abstrakt, aber ebenso oft anschaulich, oft zunächst abwegig erscheinend, ohne Zusammenhang mit dem zu erklärenden Gegenstand, metaphorisch und vage — stehen am Anfang innovativer Forschungsprozesse. Es ist die Phase, in der nach einer Analogie zu bereits Bekannterem gesucht wird, um das noch nicht ausreichend Bekannte besser zu verstehen. Das Herz als eine Pumpe, das Atom als eine Art Planetensystem, der Geist des Neugeborenen als eine tabula rasa: dies sind Beispiele solcher Modellvorstellungen, die jeweils am Beginn einer entsprechenden kreativen empirischen Theoretisierung gestanden haben. Das zunächst schwer abzuschätzende Maß ihrer tatsächlichen Fruchtbarkeit bestimmte, in welchem Grade sie gleichsam ausgebeutet werden konnten. Es ist vor allem die Rolle dieser Matrixkoordinate, der produktiven Analogien, Metaphern und Modelle, welche uns einer Erklärung der wissenschaftlichen Kreativität (die die herkömmliche Wissenschaftstheorie uns schuldig bleibt) auch in inhaltlicher Hinsicht näher bringt. In der Linguistik haben wir Grund zu der Annahme, daß die bekannten Sprachmodelle ihr Erklärungspotential, vor allem aber ihr Veränderungspotential mehr oder weniger verausgabt haben. Ein wesentliches Indiz dafür ist, daß die Politizität der Disziplin zu wünschen übrig läßt. Gerade, wer der praktischen Relevanz wegen die Härte ihrer Theorien, insbesondere den Grad ihrer empirischen Adäquatheit, wichtig nimmt, m u ß nach Modellen suchen, die hinreichend adäquat sind, um dieser Relevanz noch eine Chance zu lassen.
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Teil II: ökologische konstruktive Linguistik
4. Spiele und Ökosysteme: die Idee einer ökologischen Linguistik Im zweiten Teil dieser Studie möchte ich, informell, die Grundzüge einer Linguistikkonzeption skizzieren, die - wie es scheint — Chancen hat, die Politizität der Sprachwissenschaft stärker als bisher zur Geltung zu bringen. Ich nenne sie „ökologische konstruktive Linguistik" oder kurz „ökologische Linguistik"18. Diese Skizze soll als Beispiel und zur Veranschaulichung dessen dienen, was ich in den voraufgegangenen Paragraphen in abstracto dargelegt habe. Dabei beschränke ich mich auf die wesentlichen Aspekte, insbesondere solche, welche die Auswirkungen der P-Matrix auf K- und T-Matrix verdeutlichen können. Außerdem beschränke ich mich weitgehend auf die Sprachtheorie als das Basiselement des Theorienetzes dieser Konzeption. Ich nenne — um das zuvor Gesagte kurz zusammenzufassen — diese Konzeption „konstruktiv", weil sie ein Beispiel für konstruktive Linguistik ist, und dies bedeutet, daß die ihr zugrundeliegenden Theorien Ergebnisse von Prozessen kreativer empirischer Theoretisierung sind. Wir nennen eine Handlung „Theoretisierung", wenn sie durch Bereitstellung einer endlichen Anzahl von spezifischen Funktionen, den sog. „theoretischen Begriffen", die Konstruktion eines speziellen Erklärungsinstruments (einer „Theorie") ermöglicht. Es ist eine empirische Theoretisierung, wenn die Theorie einen gewissen empirischen Gehalt besitzt. Und es ist eine kreative empirische Theoretisierung, wenn die Problemsicht, die ihr und damit auch der Theorie und der von dieser ermöglichten Erklärung zugrundeliegt, gegenüber der bekannten oder üblichen Problemsicht innovativ ist. Es ist mithin vor allem der Raum der noch ungelösten linguistischen Probleme, der die Innovativität konstruktiver Linguistik erfordert. Die meisten Rahmenbedingungen dieser Konstruktivität sind formal, sie machen zusammengenommen die K-Matrix der Konzeption 18 Eine erste Skizze enthält Finke 1979, insbesondere in .Talking in the new paradigm' (193-197), wo bereits einige weitergehende theoretische Hypothesen formuliert werden. Die für diese Konzeption zentrale Theorie der Sprache - Welt - Systeme habe ich erstmals in Finke 1974 dargestellt. - Zu semiotischen Aspekten cf. Sommerfeld 1980.
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aus. Freilich, ein solcher formaler Rahmen allein ist noch nicht innovativ, allenfalls scheinbar innovativ. Erst inhaltlich neue Ideen, denen wir eine größere Fruchtbarkeit zutrauen als den bereits bekannten, können eine tatsächliche Innovation zunächst unserer Problemsicht und damit dann auch unser Lösungsinstrumentarien, Theorien genannt, bewirken. Erst die inhaltlich kreative Idee kann die neuen theoretischen Begriffe, die wir im Zuge der neuen Theoretisierung einführen müssen, rechtfertigen. Sie rechtfertigt diese mit einem höheren empirischen Gehalt oder einer Steigerung der empirischen Adäquatheit bei der neuen Konzeption, kurz: einer größeren theoretischen Härte. Ich nenne die zu skizzierende Beispielkonzeption „ökologisch", weil die inhaltlich neue Idee, welche ihrer Problemsicht zugrundeliegt, die einer ökologischen Sprachwissenschaft ist. Die allgemeine Ökologie ist eine Theorie des Zusammenhangs zwischen Lebewesen und der für sie lebenswichtigen Umwelten; der Fachbegriff für diesen Zusammenhang ist der eines Ökosystems. Die konstruktive Übertragung der mit diesem Begriff verbundenen Konsequenzen auf die Problemsituation in der Linguistik erweist sich, wie ich zeigen werde, als äußerst fruchtbar. Diese Fruchtbarkeit erstreckt sich nicht nur auf die Dimension der linguistischen Erkenntnisinteressen, ermöglicht nicht nur härtere Theorien. Sie erstreckt sich vielmehr auch — und das ist das im gegenwärtigen Kontext wichtige - auf jene Interessendimension, die die Veränderung der gegebenen Sprachpraxis zum Gegenstand hat, weil sie zur Lösung der mit dieser Praxis verbundenen Sprachprobleme beitragen will. Die im Rahmen der ökologischen Konzeption möglichen linguistischen Theorien haben daher, wie zu zeigen ist, eine gute, eine bessere Chance auf praktische Relevanz als andere. Jede Linguistikkonzeption besitzt einen ihr inhärenten Sprachbegriff. Die Explizierung eines hinreichend empirisch adäquaten Sprachbegriffs ist zwar, wie die Linguistikgeschichte zeigt, schwierig, aber sie ist notwendig. Einer Sprachwissenschaft, die nicht sagen könnte, was Sprache ist, fehlte die Basis ihres Tuns. Es ist aussichtslos erwarten zu wollen, daß ein befriedigender Sprachbegriff im Zuge der empirischen Forschungen irgendwie auftauchen müßte; 19 19 Einige neuere Ansätze in der Sprachwissenschaft scheinen von solchen Hoffnungen be-
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wenn dies der Fall ist, dann ist es der Zufall. Die Konstruktive Linguistik muß den umgekehrten Weg einschlagen, denn die Sprachtheorie ist das Basiselement ihres Theorienetzes. Für sie beginnt die Linguistik mit theoretischer Linguistik und diese beginnt mit der Suche nach einem fruchtbaren Sprachbegriff. Chomsky beispielsweise, ein konstruktiver Linguist, verfährt genau so. Wie fruchtbar ein solcher Sprachbegriff dann wirklich ist, kann man natürlich im Vorhinein nicht sicher wissen. Er kann sich auch als relativ unfruchtbar herausstellen. Deshalb ist zweierlei wichtig: die Schwächen der bekannten Sprachbegriffe genau zu analysieren und die Restriktionen und Postulate zu berücksichtigen, welche von der empirischen und der Anwendungsebene bereits auf die auf der theoretischen Ebene ausgewählten Konstrukte durchschlagen. Wie erhält man einen fruchtbaren Sprachbegriff? Die hierfür in der konstruktiven Linguistik übliche Methode — die auch in anderen Konzeptionstypen mit z.T. anderer Funktion benützt wird — ist, wie schon angedeutet, die Auffindung eines Modells. Im abstrakten Sinne muß das Modell den Charakter einer produktiven metaphorischen Strukturanalogie besitzen, seine Konkretisationen in anschaulichen Modellen müssen die wirklich wichtigen Analogstrukturen in reicherer Fülle aufweisen als die bekannten Sprachmodelle. Im Verlauf der Theoretisierung wird der metaphorische Charakter der Analogie des Modells zum Verschwinden gebracht, indem die Analogstrukturen für die Formulierung der neuen theoretischen Begriffe konstruktiv genützt und somit für die Linguistik fruchbar gemacht werden. Um die Darstellung abzukürzen, beschränke ich mich auf eine kurze Erörterung zweier in der Linguistik einflußreich gewordener seelt, insbesondere Ansätze ethnomethodologischer und kommunikationsanalytischer Provenienz. Ohne den z.T. erheblichen Zuwachs an empirisch fundiertem Wissen über den tatsächlichen Sprachgebrauch schmälern zu wollen, sei hier doch kritisch angemerkt, dafi die Nichtbefassung mit dem Grundbegriff der Disziplin dazu führen kann, daß die empirische Basis, die gesucht wird, tatsächlich verloren werden kann. Die Gefahr, im Gefolge einer überzogenen Chomskykritik nurmehr eine reine Performanzlinguistik zu treiben und noch einmal einen induktiven Pyrrhussieg über die deduktive Methodologie zu erringen, ist wohl nicht von der Hand zu weisen. Auch die Verwechslung von Empirie mit Empirismus liegt hier wieder nahe. So berechtigt die Forderung nach Mehrung unseres empirischen Wissens in der Linguistik auch ist: ein praktizierter induktiver Empirismus dürfte sie kaum in der Weise zu erfüllen erlauben, daß sie unser Verständnis des Phänomens Sprache wesentlich über den status quo hinaus erweiterte.
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konkreter Modelle. Ich will dabei insbesondere fragen, welche Perspektive auf die Politizität der Linguistik sie eröffnet haben. Die sicherlich einflußreichste und bisher fruchtbarste Modellvorstellung der Linguistikgeschichte ist de Saussures Schachspielmodell 20 der Sprache . Die Innovation, die es brachte, war die Idee eines Systems von abstrakten Strukturen und Regeln für ihre Herstellung, die Idee des Strukturalismus. Sie hat inzwischen ihre Fruchtbarkeit weit über die Grenzen der Linguistik hinaus bewiesen. Freilich: ein Schachspiel ist ein geschlossenes System und es ist zudem eines, das trotz aller Ingeniosität der Schachspieler nur endlich viele Zustände kennt. Es ist ein System, das keine Dynamik besitzt, ein statisches System; Regeländerungen sind praktisch ausgeschlossen. All dies schränkt seine Fruchtbarkeit für die Sprachtheorie und Linguistik ein, und dies zeigt sich auch darin, daß der Strukturalismus nur eine sehr beschränkte Perspektive auf die Politizität der Sprachwissenschaft eröffnet hat. Vor allem sind es technologische Anwendungen, Ansätze zur maschinellen Ubersetzung und Computersimulationen, die als Ausweis der praktischen Relevanz des Strukturalismus gelten können. Dies ist nicht wenig, aber es ist zu wenig, verglichen mit dem Lösungsbedarf, den die praktischen Sprachprobleme der Menschen erzeugen. Auf Wittgenstein geht eine entscheidende Liberalisierung des Schachspielmodells zurück. Wenn er sagt, daß er neben den unzählig vielen „Sprachspielen" der gewöhnlichen Kommunikation auch ,,das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist" „das Sprachspiel" nennen wolle, 21 so steht dahinter nichts anderes als ein ganz allgemeines, unspezifisches Spielmodell für Sprache. Nicht nur das Schachspiel als ein einziger Spieletyp unter sehr vielen verschiedenen, sondern die in vielen Beziehungen liberalere, ganz allgemeine Idee eines Spiels wird hier fruchtbar gemacht: es gibt Spiele allein und zu mehreren, Spiele nach festen Regeln und nach solchen, die im Verlauf des Spiels abgeändert werden können, geschlossene und offene Spiele, Spiele, die unterschiedlichen Zwekken dienen. Wittgensteins allgemeines Spielmodell der Sprache, das vor allem der Pragmatiktheorie und dem neueren Funktionalismus 20 Die beste mir bekannte Saussure-Darstellung, sowohl aus linguistischer, wie philosophischer Perspektive, ist Raggiunti 1982. 21 Wittgenstein 1953:5.
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Impulse gegeben hat und womöglich auch noch geben wird, steht nun freilich — das muß man deutlich sehen - nicht auf der gleichen Stufe wie Saussures Schachmodell. Es ist nämlich ein parole-Modell, während Saussure ein langue-Modell gesucht hatte. Deshalb ist es auch für die Linguistik, die die Errungenschaften des Strukturalismus nicht komplett zur Disposition stellen darf und kann, kein verbesserter Ersatz für das teilweise inadäquate Schachspielmodell. Worin besteht dessen Inadäquatheit? Ersichtlich nicht in dem ihm inhärenten Strukturbegriff, ebensowenig in der mit ihm verbundenen Idee einer grundsätzlichen Systematizität. Wohl aber in vier sehr wichtigen anderen Punkten. Ich nenne zunächst drei: erstens die NichtVeränderlichkeit des Schachspiels, zweitens seine Nichtabhängigkeit von der Umgebung und drittens die Nichtanalogisierbarkeit seines Zwecks. Erstens: ein Schachspiel ist kein dynamisches System, die Sprache ist es. Die Schachregeln bleiben gleich, die Sprachregeln nicht. Zwar meinte Saussure Gründe zu haben, den Sprachwandel aus der Sprachwissenschaft auszuschließen; de facto hat er ihn aber nur aus dem Strukturalismus ausgeschlossen. In diesem Punkte war Saussure revolutionärer und restriktiver als notwendig; mit ihm sein Modell. Zweitens', ein Schachspiel ist kein offenes System, die Sprache ist es. Die Zustände des Schachspiels sind nicht umgebungsabhängig, die Sprachzustände aber sehr wohl. Die Beschränkung des Strukturalismus auf ausschließlich immanente (innerhalb des Systems argumentierende) Spracherklärungen ist ungerechtfertigt; der Einfluß von Weltstrukturen, Interessen und Bedarfslagen auf die Sprachstruktur ist nicht zu übersehen. Drittens: der Zweck eines Schachspiels, den feindlichen König zu schlagen (zumindest ist dies sein Hauptzweck; es mag Nebenzwecke, Nebenfunktionen geben), erlaubt keine Parallele zur Sprache. Ihr Zweck ist nicht der Triumph über den Kommunikationspartner. Eher ist es ihr Zweck, spezielle Instrumentarien für die Ermöglichung und Erhaltung menschlichen Lebens und Zusammenlebens bereitzustellen; das konsequente „sprachlose" Überleben wäre nicht möglich. Das allgemeine Spielmodell Wittgensteins kommt als Ausweg, als langue-Modell, nicht infrage, da es zu viel zur Disposition stellt. Zwar gibt es Spiele, die zumindest die beiden erstgenannten Bedingungen erfüllen und vielleicht auch eine lockere Analogie zur dritten
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besitzen (z.B. manche Gemeinschaftsspiele, deren Spielweise im Verlaufe der Zeit einem gewissen Wandel unterliegt und die auch den jeweiligen Kontext der Umgebung, in der sie stattfinden, in den Spielverlauf einbeziehen: etwa viele Kinderspiele, besonders Rollenspiele). Dennoch bleibt der Spielcharakter als solcher bestehen; die dritte genannte Bedingung aber hatte mit Spiel nicht das Geringste zu tun. Wer nicht spielt, mag zu bedauern sein; wer nicht spricht, gefährdet seine Existenz. Der vierte bislang nicht genannte Unterschied der Sprache zum Schachspiel, der mit dem bereits genannten Bedingungen eng zusammenhängt und von ganz besonderer Bedeutung ist, ist die Kreativität der Sprache. Daß auch Schach — jedenfalls von Menschen — kreativ gespielt werden kann, liegt an der enormen Zahl möglicher Konstellationen auf dem Brett, doch diese ist gleichwohl endlich. Die Zahl der möglichen Konstellationen einer Sprache aber ist unendlich und auch wenn die Beschränktheit des Lebens eines Sprecher-Hörers ihm nur die Produktion bzw. Rezeption eines endlichen Ausschnitts aus dieser Unendlichkeit gestattet, macht er gleichwohl auch ohne große Mühe und Begabung von Sprache einen kreativen Gebrauch. Wir wissen inzwischen, daß, obwohl die eigentliche Wurzel dieser Kreativität sicherlich tiefer liegt, das Sprachsystem formale Eigenschaften besitzt, welche es auch selbst zu einem kreativen System machen. Wenn es erst einmal Computer gibt, die alle zulässigen Zustände des Schachspiels speichern können (und es ist nicht plausibel, daß solche Computer nicht möglich sein sollten), ist das Schachspiel zweier solcher Computer gegeneinander total unkreativ, auch wenn es von menschlichen Gegnern weiterhin als kreativ empfundene Leistungen abverlangen würde. Gibt es ein Spiel, das alle diese Bedingungen, einschließlich wirklicher Kreativität, erfüllte? 22 Man könnte an sog. „kreative Spiele" denken, vielleicht auch an Formen freieren Theaterspielens. Doch es bleiben Spiele. Wir dürfen überhaupt nicht nach einem Spiel suchen, wenn wir ein adäquates Modell für Sprache finden wollen. Insofern ist übrigens Wittgensteins allgemeines Spielmodell, das auch dem Aspekt der Kreativität sicherlich Rechnung trägt, selbst als parole22 Die Entwicklungspsychologie Schenk - Danzinger 1971.
hat hier Grundlagenforschung betrieben; cf. etwa
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Modell in einem entscheidenden Aspekt inadäquat: Sprachverwendung ist meistens Ernst und nicht Spiel. Nichtsprachliches Handeln, in seiner vielfältigen Form, ist hier die richtige Parallele ; die Pragmatik hat sie auch genutzt. Derselbe Wittgenstein aber, sogar im gleichen Buch, gibt uns auch den Hinweis auf ein adäquates langue-Modell, wenn er sagt, eine Sprache sei „ eine Lebensform " 23 . Ohne in eine Wittgenstein-Exegese einzutreten, will ich gleich darauf hinweisen, daß es zwei biologische Präzisierungen des Begriffs „Lebensform" gibt. Zum einen wird von den im Verlaufe der Evolution entstandenen Gattungen und Arten der Pflanzen und Tiere als von verschiedenen Formen des Lebens gesprochen. Zum anderen wird der Begriff „ Lebensform" auch in einem ökologischen Sinne verstanden, nämlich als ein spezifischer Strukturkontext, der ganz spezifisches Leben ermöglicht. „Lebensform" im Sinne der Evolutionstheorie also bedeutet (grob gesprochen) „Lebewesen", im Sinne der Ökologie „Ökosystem".24 Diese biologische Ambiguität ist nicht zufällig. Nicht nur sind auch ganze Ökosysteme, also Symbiosekonstellationen verschiedener Lebewesen (Lebensgemeinschaften) im natürlichen Kontext der sie ermöglichenden Umwelt, Produkte der Evolution. Was für uns wichtiger ist, ist die Tatsache, daß beide, die Lebewesen und die Ökosysteme, auf einer hinreichend abstrakten Analyseebene die gleiche Struktur aufweisen. Es ist diese Analyseebene, welche die biologischen Präzisierungen des Wittgensteinschen Gedankens zu nicht nur geeigneten, sondern zu linguistisch kreativen, also für die Innovation der sprachwissenschaftlichen Theoretizität und — wie noch zu zeigen ist — besonders auch Politizität geeigneten, fruchtbaren Modellen für Sprache macht. Sie erhalten dasjenigen, was am Strukturalismus erhaltensbedürftig ist, sie ergänzen dasjenige, was er nicht sieht (und was z.T., z.T. aber auch nicht, in der Tradition des Funktionalismus gesehen worden ist): Lebewesen und Ökosysteme, ebenso wie Sprachen, sind kreative, homöostatische Systeme. Neu für die Linguistik ist hieran die Idee einer Homöostase der Sprache25. Ein homöostatisches System ist nicht wirklich ein stati23 Wittgenstein 1953: passim, etwa 11, 88, 226. 24 α . Ellenberg 1973. 25 Zu weitergehenden Erläuterungen cf. Finke/Kanngießer 1976, Finke 1978, 1979. Maturana 1982, ein Prophet der Homöostase und Autopoiese, übersieht in seiner
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sches System, sondern die spezielle Form eines offenen dynamischen Systems. Typisch für ein homöostatisches System ist, daß es einen besonders ausgezeichneten Zustand kennt, der zwar nicht der einzige Zustand des Systems ist, aber durch systemspezifische Strukturen, sog. Rückkopplungsprozesse, stets wieder eingestellt wird. Technische Beispiele hierfür sind alle Regler (Thermostaten etc.), doch gibt es in vielen Bereichen Beispiele für solche selbstregulierenden Systeme. Der Zustand, welcher beständig einreguliert wird, wird häufig als sog. „Fließgleichgewicht" bezeichnet, und die Erhaltung entsprechender biologischer Gleichgewichte ist sowohl für Lebewesen wie für Ökosysteme entscheidend. Was berechtigt uns, Homöostase-Modelle als adäquat für Sprache anzunehmen? Da es hier nicht um Sprachtheorie als Selbstzweck geht, muß ich mit der Begründung sehr kurz fassen. Searle hat als einer der ersten Sprachtheoretiker das sog. „Ausdrückbarkeitsprinzip" formuliert, nach dem es in einer beliebigen natürlichen Sprache im Prinzip möglich ist, alles auszudrücken, was man ausdrücken möchte. Wenn dieses Prinzip richtig ist (und hierfür spricht vieles) 26 , dann sind Sprachen homöostatische Systeme. Denn nur unter den Bedingungen der Homöostase, also der Möglichkeit, auf Ausdrucksbedürfnisse so zu reagieren, daß wir mit den Mitteln des sprachlichen Systems dieses Systems den Ausdruckbedürfnissen anpassen, ist das Prinzip überhaupt sinnvoll. Dies aber bedeutet nichts anderes, als daß es prinzipiell möglich ist, die sprachlichen Mittel des Ausdrucks mit den außersprachlichen Erfordernissen in ein Gleichgewicht zu bringen. Sprachen, als homöostatische Systeme, erlauben es ihren Sprecher-Hörern prinzipiell, jederzeit in angemessener Form auf dasjenige zu reagieren, was diese mit ihnen ausdrücken wollen. Wie Lebewesen, die ebenfalls homöostatische Systeme sind, erhalten Sprachen durch bzw. vermittels der Dynamik ihrer spezifischen Struktur trotz ihres Wandels wichtige Eigenschaften, nämlich Gleichgewichtseigenschaften. Neben der Ausdrucksadäquatheit sind es die Eigenschaften funktionaler Vollständigkeit, potentieller vollständiger Übersetzbarkeit und einige andere, welche sämtlich auf ihren homöostatischen Charakter, den CharakAnalyse der Sprache den homöostatischen Charakter der Sprachsysteme. 26 Eine eingehende Diskussion und Begründung enthält Kanngießer 1976:359ff.
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ter eines Erhaltungssystems, zurückgehen. Er ist daher in der funktionalen Linguistik, die diese Perspektive eröffnet hat, möglich geworden, Erhaltungssätze für Sprachen zu formulieren, ähnlich denen, die wir von anderen homöostatischen Systemen kennen 2 7 . Am berühmtesten sind hierbei wohl die physikalischen Erhaltungssätze für thermodynamische Systeme. Die Modellvorstellung Lebewesen für Sprache ist nun auch zweifellos für die Linguistik nicht neu. Ihre Wirkung zeigt sie in Teilen der linguistischen Terminologie, mit der wir über Sprache sprechen: wir sprechen von der Evolution der Sprache wie von der Evolution des Lebens, unterscheiden „lebende" von.„toten" Sprachen, sprechen von „Sprachfamilien", „generativen" Grammatiken, nennen eine bestimmte Art des Sprachgebrauchs „lebendig" u.v.a.m.. Einige dieser Redeweisen aber bleiben solange bloße Metaphern, wie das Lebewesenmodell für Sprache insgesamt bloße Metapher bleibt. Um nicht mißverstanden zu werden: Sprachen sind keine Lebewesen; ein Modell bleibt stets Metapher. Es hat aber den Anschein, als ob wir heute imstande wären, die Theoretisierung entlang der Strukturanalogie dieses Modells noch ein Stück weiter zu treiben als bisher. Anders ausgedrückt: die Fruchtbarkeit dieses Modells in Bezug auf die mögliche Theoretizität der Linguistik ist bisher nicht ausgeschöpft worden. Umso erstaunlicher ist es, wenn Sprachwissenschaftler schon früher die Analogisierung von Sprachen mit Lebewesen als adäquat empfinden konnten. Sie hatten ein Gespür für eine Adäquatheit, das wir heute ein Stück weiter rechtfertigen können. Es mag sein, daß die theoretische Fruchtbarkeit des Modells damit erschöpft ist, aber auch das Gegenteil ist möglich. Die Modellvorstellung Ökosystem hingegen ist für die Linguistik neu und auf den ersten Blick ist nicht einzusehen, worin sie sich von der eben behandelten Modellvorstellung unterscheiden sollte. Es gibt aber einen solchen wesentlichen Unterschied. Zwar sind auch Ökosysteme, wie Lebewesen, kreative homöostatische Systeme, doch sind sie erheblich komplexer als Lebewesen, die sie als Teil einschließen. Es gibt aber für die Linguistik gute Gründe, ihren Theoretisierungen eine solche komplexere Modellvorstellung zugrundezulegen. Wie ich später noch zeigen werde, gehören zu diesen 27 Kanngießer 1976, Finke 1978.
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Gründen auch fruchtbare Perspektiven für Verständnis und Verstärkung der Politizität dieser Wissenschaft. Vorher aber will ich die besondere theoretische Fruchtbarkeit des Ökosystemmodells begründen. Im Gegensatz zur einen Natur der Physiker haben Linguisten nicht nur die Sprache, sondern auch die Sprachen zu beschreiben und zu erklären. Die reale Sprachenvielfalt und -differenzierung kennzeichnet ihren Untersuchungsbereich. O b w o h l die biologische Systematik der Lebewesen durchaus fruchtbare Analogisierungen hierzu ermöglicht, bleibt d o c h ein Aspekt von größter Wichtigkeit dabei völlig außer acht, nämlich die Bedeutung der Sprachumgebungen für Verständnis und Gebrauch von Sprachen. Häufig ist es bei homöostatischen Systemen nicht nötig, eine genaue Analyse der Struktur ihrer Umgebungen vorzunehmen. Diese sind zwar für diese Systeme insofern von prinzipiellem Belang, als die A b w e i c h u n g e n vom Gleichgewichtszustand des Systems, die es dann wieder selbsttätig auskorrigiert, auf sie, die Systemumgebungen, zurückgehen. D o c h darüberhinaus ist die Beschaffenheit der Systemumgebungen unwichtig. Allerdings gilt dies nur mit der Einschränkung, daß man unter „ S y s t e m u m g e b u n g " alles versteht, was sich außerhalb des Systems befindet. Dies ist aber im Grunde unnötig, denn kein homöostatisches System ist so k o m p l e x , daß es durch alles mögliche, was in seiner Umgebung passiert, zu Erhaltungsprozessen veranlaßt würde. Vielmehr sind es stets ganz spezifische Auswahlen aus dem G a n z e n der Welt, meist nur wenige, o f t nur ein einziger Faktor, auf den das System eingestellt ist. Deshalb ist es möglich, aus dem Ganzen der Systemumgebung einen vergleichsweise speziellen, für das System typischen Ausschnitt auszusondern, die Umwelt des Systems, dem das System in seiner besonderen Weise angepaßt, adäquat ist. Der A u s d r u c k „ S y s t e m u m g e b u n g " wird daher zweckmäßigerweise o f t bereits in diesem auf die spezifische Welt des Systems eingeschränkten Sinne gebraucht. Die genaue Analyse dieser spezifischen Systemwelt ist nun freilich für das Verständnis des Systems unerläßlich. Der Slogan „eine neue Sprache - eine neue Welt" kennzeichnet genau diese Perspektive. Tatsächlich werden Begriffe wie Welt oder Weltansicht, vor allem in semantischen K o n t e x t e n , o f t v o n Linguisten schon so benutzt, daß sie die spezifische Umwelt bedeuten, der eine Sprache oder ein Teil von ihr ange-
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paßt ist. Eine Sprache ist damit selbst ein Teil eines noch komplexeren Systems, nämlich eines Systems, das auch noch eine spezifische Welt als die ihr adäquate Umwelt mitumfaßt. Ich nenne diese komplexeren Systeme deshalb „Sprache-Welt-Systeme". Insofern Sprachen Welterfahrung ermöglichen und verschiedene Sprachen verschiedene Weisen der Welterfahrung, sind Sprache-Welt-Systeme nichts anderes als Erfahrungssysteme28. Die Konsequenz für die Linguistik ist einschneidend. Es ist nichts anderes als die Einsicht in prinzipielle, zu enge Grenzen, die der Strukturalismus für die Erklärung von Sprache zieht. Für ihn existiert ein Begriff wie der der Umwelt einer Sprache nicht, er sieht nur die Sprachen. Folgerichtig versucht er alles, was er an ihnen erklären kann, sprachimmanent zu erklären, alles andere als „der Wissenschaft unzugänglich" abzutun. Entsprechend unerklärt blieb vor allem die Sprachdynamik, sie sich tatsächlich nur als Reaktion auf Weltdynamik erklären läßt. Unentdeckt blieb insofern auch der Charakter einer Sprache als homöostatisches System; erst der Funktionalismus, der im Prinzip Sprachen in ihrer Abhängigkeit von Sprachbedarfslagen thematisiert, hat hier die entscheidende Perspektivenerweiterung vollzogen. Aber erst dann, wenn wir konsequent Sprachen als (freilich selber systematische) Komponenten von Sprache-Welt-Systemen verstehen, kann ganz einsichtig werden, worin das Ökosystemmodell dem Lebewesenmodell (und erst recht anderen Homöostasemodellen) linguistisch überlegen ist: erst Ökosysteme sind in ihrer Funktion und der Komplexität ihrer Struktur Sprache-Welt-Systemen vergleichbar. Und wenn wir Sprachen in ihrer Abhängigkeit von einer ihnen adäquaten Welt thematisieren, sehen wir sie ökologisch: wie Lebewesen, die infolge langwährender Evolutionsprozesse einer ihren Lebensbedürfnissen adäquaten Umwelt optimal angepaßt sind. Ökosysteme sind Lebenssysteme, komplexe Lebensformen, und die verschiedenen Typen von Ökosystemen sind verschiedenartige Lebenssysteme. Sprache-Welt-Systeme sind Erfahrungssysteme, ebenfalls in reicher Verschiedenheit realisiert. Ohne Erfahrung aber gibt es kein Leben, ebensowenig wie Erfahrung ohne Leben. Erfahrungssysteme sind deshalb, auf einem 28 Eine erste Version der Theorie der Sprache - Welt - Systeme enthält Finke 1974; eine Spezialisierung auf eine Theorie spezieller Sprache - Welt - Systeme, nämlich Sprache - Welt - Paare, enthält Finke 1978a.
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hinreichend abstrakten Analyseniveau betrachtet, auch selbst Lebenssysteme; bei einer konkreten Analyse bleiben sie immerhin Teile von Lebenssystemen. Diese allgemeine ökologische Perspektive auf Sprachen als Teile von Sprache-Welt-Systemen kann in einer wichtigen und interessanten Hinsicht noch weitergeführt werden. Die Ökologie unterscheidet eine Autökologie und eine Synökologie29, je nachdem, ob sie das einzelne Lebewesen (bzw. die einzelne Art) im Kontext seiner (bzw. ihrer) Umwelt betrachtet oder eine ganze Lebensgemeinschaft, eine Biozönose, in ihrer Umwelt. Linguistische Analogien liegen auch hier nahe. Wir können Sprachen auf mehreren verschiedenen Bezugsebenen der sie sprechenden und verstehenden Menschen betrachten: der des Individuums, der einer minimalen Gruppe, der einer mittleren Gruppe, der einer maximalen Gruppe. Auf Idiolektebene betrachten wir die Sprache eines einzelnen Individuums in ihrer Besonderheit, genauer: die Sprachkomponente eines individuellen Sprache-WeltSystems. Aber auch, wenn wir ganz allgemein den Sprecher-Hörer als Träger und Benutzer von Sprache thematisieren, haben wir diese Perspektive auf die Lebensform Mensch und das ihr zugehörige Erfahrungssystem. Es ist eine Perspektive, die für die Problemstellung der Psycholinguistik charakteristisch ist; eine typisch autökologische Perspektive. Sie sieht ein Ökosystem nur in bezug auf ein Lebewesen bzw. eine Art und hat hierfür den Begriff der sog. „ökologischen Nische" entwickelt. Ökologische Nischen sind gleichsam ideale elementare Ökosysteme. Die realen Ökosysteme sind stets Komplexe aus solchen ökologischen Nischen. Die kommunikative Funktion von Sprache gibt Veranlassung, Gruppen von Sprecher-Hörern zu betrachten, Sprache aus soziolinguistischer Perspektive zu sehen. Es ist dies die Perspektive der Synökologie, welche Lebensgemeinschaften in ihrem Zusammenhang thematisiert. Hier sind drei Komplexitätsstufen von besonderer Bedeutung: die minimal, die normal und die maximal komplexe Lebensgemeinschaft; entsprechend gibt es eine wachsende Komplexität der Ökosysteme. Lebensgemeinschaften in linguistischer Perspek29 Einige Theoretiker der Ökologie trennen von der Synökologie noch eine Demökologie (Populationsökologie) ab; ich vernachlässige mit einigen neueren Autoren (etwa Tischler 1976) diese Differenzierung, die sich ebenfalls nahelegen würde.
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tive, also Sprache-Welt-Gemeinschaften, sind in analoger Weise nach der Komplexität der Sprache-Welt-Systeme unterscheidbar, die sie jeweils zu Erfahrungsgemeinschaften machen oder nicht. Die minimale solche Gemeinschaft ist eine Dialekt- (oder Soziolekt-) Gemeinschaft, deren Sprache vollständig homogen ist und ihnen eine gemeinsame Erfahrung ermöglicht. Normale Ökosysteme sind mittelkomplex und entsprechend sind es die normalerweise interessierenden linguistischen Analyseeinheiten, die einzelnen natürlichen Sprachen. Ihrer grammatischen Inhomogenität entspricht ein zwar inhomogenes, aber noch in einem synökologischen Zusammenhang stehendes SpracheWelt-System, das zwar inhomogene, aber noch zureichend gemeinsame Erfahrungen ermöglicht, um eine gemeinsame Sprache-Welt-Gemeinschaft zu bilden. Die Verschiedenheit freilich der natürlichen Sprachen insgesamt ist eine Verschiedenheit ganzer Sprache-WeltSysteme und damit eine Verschiedenheit anderer Dimension: die Verschiedenheit ganzer Erfahrungs- und Lebenssysteme. Wir können sie mit den verschiedenen Typen von Ökosystemen vergleichen, die als Produkt der Evolution entstanden sind. Diese — ethnolinguistische — Perspektive bringt aber zugleich auch wieder dasjenige in den Blick, was den Sprache-Welt-Systemen trotz ihrer Unterschiedlichkeit gemeinsam ist: allgemeine und abstrakte Organisationsprinzipien sprachlicher Erfahrung (linguistische Universalien). Die maximale Lebensgemeinschaft ist, in dieser Perspektive, doch auch wieder eine einzige, maximal komplexe Erfahrungsgemeinschaft, ebenso, wie das System aller Ökosysteme selbst das maximale Ökosystem ist. Das Lebewesenmodell ist keine Konkurrenz zum Ökosystemmodell, sondern Teil von ihm, ebenso, wie Lebewesen Teile von Ökosystemen sind. Erst das Ökosystemmodell ist in theoretischer Hinsicht reich genug, um wesentliche Bestandteile der linguistischen Problematisierung von Sprachen, nämlich vor allem ihren Zusammenhang mit den sie umgebenden Welten, überhaupt zu erfassen. Indem das Modell aber diese Dimension auf eine Weise in den Blick bringt, die zugleich eine durch Struktur und Funktion von Ökosystemen angeregte inhaltliche Innovation verspricht, dürfte es nicht ungerechtfertigt sein, die auf der Basis dieses Modells errichtete Konzeption der Sprachwissenschaft als „Ökologische Linguistik" zu bezeichnen. 30 30 Zum Ökologiebegriff cf. neben Ellenberg 1973 auch Odum 1967, Kühnelt 1970, Osche 1975.
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5. Die Politizität der ökologischen Linguistik Mehr als die theoretischen interessieren in dieser Studie die praktischen Konsequenzen des Ökosystemmodells. Nun sollte deutlich geworden sein, daß beide Ebenen keineswegs zusammenhangslos nebeneinander existieren, sondern die Realisierung praktischer wissenschaftlicher Perspektiven an einen gewissen Grad der Realisierung theoretischer Voraussetzungen logisch gebunden ist. Dieser Grad der Realisierung des auf der Basis des Ökosystemmodells möglichen Theorienetzes ist heute mitnichten erreicht. Es wird vielmehr noch erheblicher Arbeit bedürfen, die vermutete theoretische Fruchtbarkeit des Modells auch zu erweisen, insonderheit empirisch zu erweisen. Freilich sollte ebenso deutlich geworden sein, daß die Adäquatheit von Theoretisierungen durch den Erweis ihrer Fruchtbarkeit für den Erwerb empirischen Wissens nicht zureichend bestimmt ist, sondern eine praktische, eine Anwendungsadäquatheit einschließen muß. Doch um die Realisierung von Anwendungen geht es im gegenwärtigen Zusammenhang nicht, es kann nicht darum gehen. Vielmehr steht zur Debatte, was überhaupt als praktische Perspektive der ökologischen Linguistik vorhanden ist. Deshalb ist es keineswegs voreilig, sondern rechtzeitig, wenn wir über die dem Ökosystemmodell inhärente Politizität nicht erst beim Abschluß, sondern zu Beginn des auf seiner Basis möglichen konstruktiven Theorieprozesses nachdenken. Da dieser Prozeß mit der Wahl des Modells beginnt, muß bereits diese Wahl auch unter praktischen Gesichtspunkten erfolgen. Eine noch so harte Theorie-Matrix wird in praktischer Hinsicht nur so nützlich sein, wie es die Praxis-Matrix, die ihren potentiellen Anwendungsraum aufspannt, ermöglicht. Dieser Anwendungsraum war — das wird jetzt deutlich — bei Saussures Schachspielmodell von vornherein begrenzt, zu stark begrenzt angesichts der praktischen Probleme, für deren Lösung eine Mitwirkung der Linguisten zu recht erwartet werden kann. Wenn ich im folgenden versuche, in informeller und bruchstückhafter Weise den potentiellen Anwendungsraum der ökologischen Linguistik aufzuspannen, und die Applikabilität der möglichen Theorien dieser Konzeption zu erörtern, dann darf diese „Embryonalsituation" einer Konzeption nicht vergessen werden. Die Vorgehensweise kann aber exemplarisch demonstrieren, wie in der kon-
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struktiven Linguistik ein Fehler vermieden werden kann, der sonst allzu häufig begangen wird, nämlich bei Unterlassung vorgängiger Reflexion auf die Dimension der Politizität einer Konzeption später, im Verlauf oder nach dem Abschluß theoretischen oder empirischen Arbeitens, das Auftauchen von Praxisperspektiven und Anwendungsmöglichkeiten zu erwarten. Wenn diese dann noch auftauchen, hat man Glück gehabt, ansonsten aber ist es mehr als ein Mißgeschick passiert: wer die Relevanz von Wissenschaft als Forderung an ihre Adäquatheit ernst nimmt und nicht bloß als wünschenswerten, aber nicht wirklich notwendigen Zusatz betrachtet oder gar nur als Floskel im Munde führt, muß ihr Ausbleiben als·Niederlage wissenschaftlicher Rationalität empfinden. Eine nicht durch die rechtzeitige Wahl geeignet erscheinender forschungsleitender Rahmenbedingungen vorbereitete bloße Hoffnung auf das Auftauchen von Relevanzperspektiven ist ersichtlich eine ziemlich irrationale Methodologie. Wer aber dies nicht will, muß eine gewisse Vorläufigkeit und Spekulativität bei Skizzierung eines potentiellen Anwendungsraumes wohl in Kauf nehmen. Die Perspektive auf Anwendbarkeit, die eine Nutzenperspektive ist, setzt das Bestehen praktischer Probleme voraus. Praktische Probleme sind im Gegensatz zu theoretischen (und empirischen) nicht nur Probleme von Wissenschaftlern, sondern Lebensprobleme vieler Menschen. Im Falle der Linguistik sind praktische Probleme zuallererst, noch bevor sie in das Bewußtsein der Sprachwissenschaftler Einzug halten (oder auch nicht), Sprach- und Sprachverwendungsprobleme, also Probleme der Sprachbenutzer. Häufig können es Umstände sein, welche die sprachliche Kommunikation in einer Sprachgemeinschaft erschweren oder behindern, doch können auch andere Funktionen der Sprache zu konkreten Problemen der Sprachpraxis führen. Die wichtigste Aufgabe bei jeder Thematisierung der Sprachpraxis ist es, deren Probleme zunächst überhaupt zu entdecken. Obwohl dies im Wesentlichen ein empirisches Geschäft ist und ein gutes Kriterium für die Auswahl empirischer Forschungsaufgaben darstellt, beginnt die Entdeckung auch in diesem Falle wieder mit der Wahl einer adäquaten theoretischen Perspektive. Die ökologische Perspektive auf Sprache und Sprachpraxis bietet sich hierfür insofern an, als ihre Theorie in einer sehr offensichtlichen Weise an einen praktischen
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Bezugsrahmen gekoppelt ist. Wenige Wissenschaften haben so wenig Last mit dem Relevanzproblem wie die Ökologie und noch weniger sind in der beneidenswerten Situation, d a ß die Politizität ihrer Forschungen so vielen Menschen unmittelbar einleuchtet 3 1 . Zwar ist es sicher richtig, daß auch hier die Basis für die gewonnenen Einsichten noch erheblich verbreitert werden muß, wenn ihre Umsetzung in politische Realität eine wirkliche Chance bekommen soll, doch ist es unbestreitbar, daß die theoretischen Strategien der Ökologie heute auf praktische Probleme aufmerksam machen, die nichts weniger als eine Überlebensdimension besitzen. Und es ist wohl ebenso unbestreitbar, daß die Einsicht in diese Überlebensprobleme in dem Maße wächst, wie ökologische Kenntnisse Eingang in das Alltagshandeln der Menschen finden. Nur so aber kann zugleich die Chance der Lösung dieser Probleme durch die Entwicklung praktischer ökologischer Strategien vergrößert werden. Fragen wir uns, bevor wir das Modell für die Linguistik auch praktisch nutzbar zu machen suchen, in knapper Weise, worin das zentrale Praxisproblem der Ökologie besteht. In allgemeinster Hinsicht handelt es sich bei diesem Problem darum, daß aus einer Reihe von Gründen das Überleben des Lebens selbst in Gefahr geraten ist; damit steht auch das Überleben der natürlichen Gegenstände des ökologischen Forschungsinteresses selbst infrage. Dieses fundamentale Überlebensproblem zeigt sich rein äußerlich in der wachsenden Länge der sog. „Roten Listen" der vom Aussterben bedrohten Lebensformen, in der Tatsache, daß wahrscheinlich erstmals in der Geschichte der Evolution die sonst stets positive Artenbilanz infolge nicht-natürlicher Ursachen ins Negative umgekehrt ist. Dieser aus Dummheit und Ignoranz produzierte Arten31 Gegenwärtig ist der Ökologiebegriff zweifellos in Gefahr, zu einem Schlagwort zu verkommen, ähnlich dem Schicksal von „Strukturalismus" oder „Dialektik". Es sollte aber deutlich geworden sein, daß die Rede von einer „ökologischen Linguistik" in der Sache begründet und keine bloße Referenz an die Mode eines Zeitgeistes ist. Wenn Sprachen in wesentlichen ihrer Aspekte den Strukturen und Funktionen von Ökosystemen (in einem strengen Sinne) analogisierbar sind, dürfte der Rekurs auf die (wissenschaftliche) Ökologie allemal gerechtfertigt sein. Ähnlich wie die strukturalistischen Ideen Saussures kreative Entwicklungen in einer ganzen Reihe von Wissenschaften ermöglicht haben, scheinen die ökologischen Ideen Haeckels und ihre systemtheoretischen Differenzierungen heute für eine ganze Anzahl von Disziplinen neben der Biologie fruchtbar zu werden. Anregend hierfür, auch in linguistischer Perspektive, ist Bateson 1981.
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schwund aber bedeutet zugleich auch einen qualitativen Rückgang der Ökosysteme, die die Lebensgrundlagen der verschiedenen Lebensformen bereitstellen müssen. Der allenthalben festzustellende Schwund und die Verarmung der Ökosysteme sind es, die die Überlebensmöglichkeiten der einzelnen Formen verringern. Die Ursachen liegen inzwischen auf der Hand: eine bedenken-, rücksichts- und voraussichtslose Ausplünderung und Verschmutzung von Natur und Umwelt. Im Kern ist die Umweltkrise also keine Naturkrise in dem Sinne, daß sie naturbedingte Ursachen hätte, wohl aber der Beginn einer Naturkrise in dem Sinne, daß die natürliche Kreativität des Lebens erstmals in der Evolutionsgeschichte in einem Ausmaß geschwächt werden könnte, das für den Fortbestand dieser Kreativität gravierend ist. Die „ökologische Krise", wie man sie zu recht auch nennt, bedroht nichts weniger als die Kreativität der Natur insgesamt. Und wo diese Kreativität zur Disposition steht, steht das gesamte Ökosystem des Lebens und damit auch das Überleben des Menschen als dessen empfindlicher Teil zur Disposition. Unser Umgang mit der Natur bedarf einer gründlichen Revision, bedarf prinzipieller Rücksichtnahme auf das Netzwerk ihrer Interessen, denn es sind zugleich — auch wenn dies in einigen Fällen noch nicht so offensichtlich ist wie in anderen — unsere ureigensten Interessen. Wir können mit der Notwendigkeit, Frieden mit der Natur insgesamt (und nicht nur mit uns angenehmen Teilen von ihr) zu schließen, aber nicht warten, bis sie uns bei jeder einzelnen Lebensform, jedem Ökosystem unmittelbar einleuchtet, denn die Destabilisierung des Gesamtsystems durch die fortgeschrittene Schwächung der natürlichen Kreativität könnte dann bereits einen Grad erreicht haben, bei dem die Änderung unserer Praxis zu spät kommt, um den Tod der Natur insgesamt noch verhindern zu können. — Diese knappe und allgemeine Darstellung mag etwas dramatisch erscheinen und vielleicht ist sie es auch. Tatsache ist freilich, daß wir zwar nicht wissen, wie gefährlich die Situation zur Zeit wirklich schon ist, erstmals aber durch die ökologische Perspektive auf die Natur ziemlich sicher ihre prinzipielle Gefährlichkeit kennen. 32
32 Die Zahl dei Publikationen zu diesem Thema ist mittlerweile Legion. Ich weise pauschal auf „Global 2000. Der Bericht an den Präsidenten" hin.
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Wenn ich nun versuche, unseren Umgang mit der Sprache, unsere Sprachpraxis, auf dem Hintergrund einer theoretischen Rechtfertigung durch das im vorigen Paragraphen nahegelegte Ökosystemmodell mit unserem Umgang mit der Natur in einigen wichtigen Aspekten zu analogisieren, muß zweierlei stets bedacht werden. Erstens ist die Dramatik der Probleme insofern mit Sicherheit geringer, als unsere heutigen Sprachen nicht nur zu unserem natürlichen, sondern auch zum Erbe unserer kulturellen Evolution gehören. Dessen Zerstörung hat, bei aller Nichtwünschbarkeit und Lebensgefahr, die sie mitbringen könnte, vielleicht oder wahrscheinlich nicht die Dimension einer Zerstörung der Natur. Ich formuliere dies aber bewußt vorsichtig, denn unsere Sprache ist auch ein Teil unserer Natur und wir wissen nicht wirklich den Grad ihrer potentiellen Gefährdung einzuschätzen. Zweitens kann die Analogie keine vollkommene sein, sonst wären Sprache und Natur identisch. Mir scheint allerdings, daß sie recht weit getrieben werden kann, weit genug jedenfalls, um sehen zu können, daß die Politizität der ökologischen Linguistik nicht, wie in manch anderer Konzeption, gleichsam an den Haaren herbeigezogen werden muß. Der potentielle Anwendungsraum für ein auf der Basis des Ökosystemmodells errichtetes ausreichend hartes linguistisches Theorienetz, dies zumindest dürfte deutlich werden, eröffnet der Sprachwissenschaft eine gute Perspektive auf praktische Relevanz. Es wäre wirklichkeitsfremd zu behaupten, unsere Sprachpraxis sei so, wie sie ist, grundsätzlich und in jeglicher Hinsicht nicht zu beanstanden. Auch die wissenschaftliche Sprachdeskription (und -explanation) erübrigt nicht Sprachkritik. Vielmehr kann und soll sie das empirische Wissen über die Wirklichkeit unserer Sprachpraxis bereitstellen, das zur Grundlage berechtigter Sprachkritik gehört. Solche Sprachkritik aber ist in erster Linie nichts anderes als Sprachpraxiskritik. Die vielleicht entscheidende kritische Beobachtung, welche die ökologische Linguistik an der Realität unserer Sprachpraxis machen kann, ist, daß diese die sprachliche Kreativität in ähnlicher Weise gefährden kann wie die bisherige Praxis unseres Umgangs mit der Natur die Kreativität des Lebens. Wo ein Sprachgebrauch um sich greift, der von vorgestanzten Wendungen, Schlagworten, Phrasen, konstanten Denkschablonen, Jargons und anderen erstarrten Sprachformen
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beherrscht wird, ist die prinzipielle Kreativität der Sprache nurmehr in reduzierter Form wirksam. Die Kreativität der Sprache, die ein formales Merkmal ihres Systems ist, muß benützt werden, wenn sie nicht selbst in Gefahr geraten soll. Die Aufrechterhaltung, vielleicht sogar Weiterentwicklung dieser Kreativität ist ohne eine kreative Sprachpraxis auf Dauer nicht möglich. Dabei sind es nicht nur die Erstarrungsformen des Sprachgebrauchs, von denen ich soeben Beispiele genannt habe, welche die Kreativität des Systems bedrohen und es möglich erscheinen lassen, quasi eine „Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Teilformen der sprachlichen Kreativität" aufzustellen (im heutigen Deutsch etwa der Konjunktiv, der Genitiv, die zusammengesetzten Tempora und vieles andere); es sind vielmehr sprachliche Wiederholungen vieler Art, feststehende Ausdrucksweisen, die in der Alltagssprache kaum vermeidbar sind, gleichwohl aber einen Bezirk abstecken, in dem unsere Sprachpraxis nicht kreativ ist, die selber mithin nicht mehr zum lebenden Sprachsystem gehören. Der sprachliche Alltag, beim Einkaufen, Arbeiten, im Haushalt etc., ist kein Demonstrationsfeld einer kreativen, sondern einer weitgehend unkreativen Sprachpraxis. Er wird nicht von Sätzen beherrscht, die zuvor noch nie formuliert und darum neu sind, sondern von bedeutungsgleichen Wiederholungen, von stereotypen Formeln sehr vieler verschiedener Arten. Es nimmt angesichts dieser Realität der Sprachpraxis überhaupt nicht wunder, daß eine patternLinguistik und eine Spracherwerbstheorie nach Art der Pawlowschen Hunde entstehen und zeitweise zur herrschenden Lehre werden konnten. Nicht wenige Studenten der Linguistik haben angesichts der Dimension der Erstarrung, welche unsere Sprachpraxis auf vielen Feldern durchzieht, anfänglich erhebliche und verständliche Schwierigkeiten, Chomskys Lobpreisungen der sprachlichen Kreativität nicht als das Geschwätz eines Idealisten, der die Sprachrealität nicht kennt, mißzuverstehen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß ein Teil dieser Wiederholungen stereotyper Strukturen und Prozesse sicherlich unvermeidlich ist. Auch ein Ökosystem ist natürlich nicht in jeder Beziehung und andauernd kreativ. Es ist vielmehr die Vermutung, daß der notwendige unkreative Teil einer Sprache viele Menschen offenbar über diesen Anteil hinaus zu einem Umgang mit ihr verleitet, der auch die noch verbliebenen Möglichkeiten kreativer Sprachpraxis und mit
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ihr kreativer Sprache weiter einschränkt. (Dies wäre jedenfalls eine empirische Hypothese ökologischer Linguistik.) — Es fällt übrigens besonders auf, daß die überzogene und wahrscheinlich zunehmende Einschränkung der Sprachkreativität gerade auch auf Kommunikationsfeldern stattfindet, welche — auch nach eigenem Selbstverständnis — kreativen Handelns in besonderem Maße bedürfen. Ich nenne hier als Beispiele Wissenschaft und Politik. Wo Wissenschaft großenteils aus Zitaten besteht oder sich eines Jargons bedient, der sich einer eigentlich notwendigen offenen Grundlagendiskussion verschließt, dort wird jedenfalls auch aus sprachlichen Gründen keine kreative Wissenschaft betrieben. Ähnliches gilt für die Politik, wobei es hier besonders erschreckend ist, in welchem Maße die sprachliche Kommunikation derer, die nicht nur über Marginalien, sondern zunehmend auch über Fragen des Überlebens zu entscheiden haben, zu einem Schlagwort- und Formelabtausch parteigebundener Redeund Denkstereotype degeneriert. Mit den Redeweisen erstarren auch die Ideen, kreative Politik wird zur Ausnahme. Dabei würden Aufgaben von einer Dimension, wie es die dauerhafte Sicherung des Friedens im Atomzeitalter oder die Beendigung der erbärmlichen und kurzsichtigen Umwelt- und Naturzerstörung sind, es zweifellos erfordern, sich etwas Neues einfallen zu lassen, und dieses müßte notwendigerweise auch die Innovation der politischen Sprache einschließen. Die übermäßige Erstarrung unserer Sprachpraxis in Floskeln und Stereotypen beutet die Sprache in ähnlicher Weise aus wie es bei der übermäßigen Ausbeutung der Natur geschieht. Beider Kreativität ist hiervon bedroht. Zu den Gefahren für die sprachliche Kreativität gehört aber auch dasjenige, was man bereits die „semantische Umweltverschmutzung" 33 genannt hat, also der nachlässige bis fahrlässige Umgang mit den Bedeutungen. Die Klarheit der Rede kann ebenso getrübt werden wie die Klarheit des Wassers, und ebenso, wie man in dieses unsichtbare, ja vielleicht sogar mit den vorhandenen Meßistrumenten noch nicht einmal nachweisbare Abfälle einleiten kann, ist die erzeugte Bedeutungskonfusion oft schwer zu erkennen. Wieder bietet sich die politische Rede als besonders deutlicher Demonstrationsraum für die Gefahr an, die aus der Störung des 33 z.B. Stegmüller 1975.
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semantischen Gleichgewichts zwischen den eigentlichen Ausdrucksbedürfnissen und den tatsächlich produzierten Bedeutungen für die sprachliche Kreativität erwachsen können; das „Wörterbuch des Unmenschen" mit Beispielen wie „Menschenbehandlung" oder „Kulturschaffende" 34 sagt hier genug. Auch die beschönigenden Redeweisen unseres bisherigen skandalösen Umgangs mit Natur und Landschaft gehören hierher. „Ersatzlebensraum", „Ausgleichsmaßnahmen", „Regulierung", oder gar „Pflanzenschutzmittel" sprechen für sich. Im Prinzip aber ist jede semantische Nachlässigkeit und Laxheit schon in unserem Alltagsleben ein Beitrag zur Sprachverunklärung, denn sie emittiert gleichsam falsche oder vage Bedeutungen, die damit ein historischer Bestandteil unseres sprachlichen Handelns werden und — zumindest im Prinzip — das Lexikon einer Sprache unnötig belasten. Wo dies fortgeschleppt wird, belastet es die Kommunikation und kann zu einem Ideologem werden, das zur Verarmung der Kreativität des Systems genauso beitragen kann wie die gewöhnliche Stereotype. Es gibt offenbar nicht nur eine Gefahr durch die Eutrophierung der Ökosysteme, sondern auch eine analoge Gefahr für Sprachen. Obwohl Betrachtungen wie diese nicht grundsätzlich neu sind, können sie uns doch den Bereich dessen, was linguistisch untersuchenswert ist, in einer neuen Weise zu Gesicht bringen, indem sie vor allem die kritischen Perspektiven auf den status quo, welche in einer ökologischen Betrachtungsweise liegen, für die Erschließung des Bereichs der linguistischen Politizität fruchtbar machen. „Sprachausbeutung" und „Sprachverschmutzung", „Spracheutrophierung" und „Sprachverarmung", auch „Sprachentod", „gestörte Sprache", „Sprachverfälschung" „Labilität einer Sprache" und „Umkippen einer Sprache": dies sind nur wenige Beispiele für Begriffe, die in der ökologischen Linguistik möglich und zu theoretischen Begriffen werden, die ihre anfängliche Metaphorik verlieren. Es sind zugleich Begriffe, die direkter als jene des Strukturalismus oder des unökologischen Funktionalismus einen Zugang zum politischen Kontext von Sprache und Linguistik ermöglichen. Sie sind damit zugleich Teile des Netzes potentieller Anwendungen; sie strukturieren die potentielle Nutzendimension der Linguistik. 34 Steinberger/Stoiz/Süskind 1957.
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Viele dieser Begriffe sind nicht in ihrem Kern neu, sondern eher in der speziellen Perspektive, in der er jetzt erscheint. Alle Zusammenhänge freilich, die sich aus dem Homöostase-Prinzip des Ökosystem-Modells ergeben, kann die ökologische Linguistik wirklich neu eröffnen. Es sind Zusammenhänge, die die Erhaltung von Spracheigenschaften betreffen, wie sie in allgemeinen und speziellen linguistischen Erhaltungsgesetzen ausgedrückt werden können. Sprachen werden in diesen Erhaltungsgesetzen als Komponenten in Systemen gesehen, die in struktureller und funktionaler Analogie zu Ökosystemen stehen, nämlich Sprache-Welt-Systemen. Ein wichtiger Grundsatz ist hierbei die Erhaltung der sprachlichen Kreativität. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, ihre Erhaltung sei von Natur gesichert, unser Umgang mit der Sprache habe hierauf keinen Einfluß. Ebenso, wie die Natur viele Formen des Übergangs mit ihr verkraften kann, solange sie die homöostatische Stabilität ihrer Ökosysteme nicht gefährden, hält Sprache vieles aus. Doch können wir auch die Sprache in einer Weise strapazieren, die sie in Gefahr bringen kann.
6. Gefährdungen und Schonung der Sprachkreativität Zu den praktischen Konsequenzen, die sich aus einer solchen Analyse — wenn sie im Prinzip richtig ist — ergeben, gehört vor allem eine allgemeine praktische Hypothese über unseren Umgang mit der Sprache: Wenn ein schonender Umgang mit der Natur in unserem Überlebensinteresse liegt, dann ein schonenderer Umgang mit der Sprache ebenfalls. Wir können die ihr innewohnende Kreativität genauso verhunzen wie die Kreativität des Lebens. Es gibt aber auch eine linguistische Voraussetzung für das Überleben: Zur Entwicklung kreativer Überlebensstrategien, die wir benötigen, benötigen wir auch die Kreativität der Sprache. Diese Kreativität zu schonen und womöglich zur weiteren Entfaltung zu bringen, sichert nicht nur die homöostatische Stabilität unserer Sprachsysteme, sondern auch die der Sprache-Welt-Systeme, in die sie eingebettet sind. Und die Funktionsfähigkeit dieser Homöostasen zu erhalten, liegt in unserem vitalen Interesse. 35 35 Ein homöostatisches System ist kein perpetuum mobile. Seine Erhaltung benötigt
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Wenn diese allgemeine praktische Hypothese ökologischer Linguistik den inhaltlichen Rahmen notwendiger praktischer Konsequenzen andeutet, so ist nun zu fragen, wie er ausgefüllt werden kann. Mit anderen Worten: wie kann die Angewandte Linguistik aussehen, welche innerhalb des formalen Rahmens der P-Matrix und innerhalb des inhaltlichen Rahmens der zuvor erwähnten Hypothese möglich ist? Das praktische Interesse als ein Interesse an Veränderungen und Einfluß suchender Gestaltung hat Kritik an dem, was besteht, zur Voraussetzung. Angewandte Linguistik, als relevante Linguistik, muß daher zunächst eine kritische Linguistik sein. Als solche muß sie sich auch mit der Kritik der Sprache, vor allem aber der des Sprachgebrauchs befassen. Der Begriff „Sprachkritik" wird daher bisweilen doppeldeutig verwendet. Für eine Sprachkritik im strengen Sinne, eine Kritik auf langue-Ebene, bleibt wenig Raum. Sie wäre vergleichbar einer Kritik der Natur und diese ist — weitgehend — absurd. Immerhin möchte ich zwei Aspekte erwähnen, unter denen die Dinge der Sprache etwas anders liegen. Erstens ist es möglich, nichtnatürliche Sprachen zu erfinden, zweitens schafft die Vielheit der Sprachen ein Kommunikationsproblem. Was das erstere anbetrifft, so ist eine Form der Sprachkritik schon lange üblich, die darauf hinweist, daß dasjenige, was natürliche Sprachen für die gewöhnliche Vielzahl funktionaler Zwecke so geeignet macht — nämlich ihre grammatische und pragmatische Nichtabgeschlossenheit, insonderheit ihre semantische Offenheit — sie als Spezialinstrument für ganz bestimmte Zwecke wenig geeignet sein läßt. In der Konsequenz solcher — meist logischer — Sprachkritik werden spezielle Kunstsprachen (formale Sprachen, Computersprachen) entwickelt. In dieser Form sind Sprachkritik und die aus ihr gezogenen praktischen Konsequenzen möglich und nützlich. Probleme ergeben sich daraus insofern kaum, als solche Sprachen, konstruktionsbedingt, nicht als Ersatz natürlicher Sprachen taugen. Die offene Vielheit Energie. Die Erhaltung der Sprachkreativität macht hier keine Ausnahme. Leider hat Chomskys ausschließliche Konzentration auf die Kompetenzdimension diese schlichte Tatsache aus dem Blickfeld gedrängt. Die Kreativität der Sprache betrifft insofern aber auch die Ebene der Performanz, als ohne eine kreative sprachliche und kommunikative Praxis die Kreativität des sprachlichen Systems vollständig bedeutungslos würde. Die Kreativität der Sprache ist nur vermöge und nach Maßgabe einer kreativen Sprachpraxis eine der bedeutendsten Eigenschaften der Sprache.
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von deren Strukturen und Funktionen können und sollen sie nicht ersetzen, wohl aber sinnvoll ergänzen. Die Vielheit der (natürlichen) Sprachen selbst schafft demgegenüber insofern ein Problem anderer Art, als es auch Bestrebungen nach einer Reduzierung dieser Vielfalt gibt. Dahinter steht das im Grundsatz verständliche Bestreben, die Kommunikationsschwierigkeiten der Menschen untereinander zu verringern. Die traditionellen Strategien, die es hierfür gibt, nämlich der Erwerb zusätzlicher Sprachkenntnisse und die Übersetzung, erscheinen unter den Lebensbedingungen einer ökonomisch-technisch ausgerichteten Zivilisation zu umständlich, aufwendig und unökonomisch. Sprachplaner versuchen daher entweder, die Zahl der Dialekte zu verringern oder eine ideale „Welthilfssprache" zu entwickeln. Beide Strategien sind sehr ambivalent, ihre Rationalität kann zumindest im Einzelfalle angezweifelt werden. Was die zumeist politisch motivierte Sprachplanung angeht, so ist sie nur dort rechtfertigbar, wo sie die Vielfalt sprachlicher Kreativität nicht beschneidet, sondern fördert. Häufig aber vernichtet sie - zumindest der Intention nach — nicht nur gewachsene Sprachstrukturen, sondern ganze Sprache-Welt-Systeme, also Erfahrungssysteme, oder Teile solcher Systeme. Hier wird es vom Einzelfall abhängen, ob eine solche Flurbereinigung, die sehr leicht das Rationale mit dem Rationellen verwechselt, tatsächlich unumgänglich ist. Dort, wo sie Dialekte ausrottet, vernichtet sie gewachsene Spielarten unserer Kreativität und damit Teile von deren umfassender Stabilität. - Die Erfinder von Welthilfssprachen dagegen täuschen sich zumeist bereits im Ansatz über die volle Realisierbarkeit ihrer anspruchsvollen Prinzipien. Gleichwohl gibt es solche Kunstsprachen, von denen zumindest Esperanto sogar einige Bedeutung erlangt hat. Obwohl man den Eurozentrismus dieser Sprache und einiges andere, was ihre Strukturen als Ideologien konservieren, kritisieren kann, sind ihre Lernvorteile wohl nicht zu bestreiten; die ökonomische Kultur feiert hier einen bescheidenen Triumpf. Sicherlich ist die Interlinguistik, die Plansprachenlinguistik, eine interessante und wichtige Disziplin der Linguistik, aber es dürfte auf der Hand liegen, daß die Gefahren der Plansprachen größer sind als ihr Nutzen. Wenn jeder Esperanto lernte, könnte zwar die ganze Welt miteinander kommunizieren, aber dies wäre gegenüber dem status quo nur ein Zeitgewinn; er ginge aber
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auf Kosten der Vielfalt möglicher sprachlicher Erfahrung. Denn man täusche sich nicht: wenn die Plansprache nicht die natürlichen Sprachen ersetzen soll, so wird sie sie zumindest bedrängen: jeder, der zusätzlich eine Plansprache lernt, lernt eine natürliche Sprache weniger. Abgesehen davon, daß Kommunikation nicht die einzige Sprachfunktion ist, ist die Propagierung einer — wenn auch nur zusätzlichen - Unilingualität ein potentieller Angriff auf die Vielfalt der sprachlichen Kreativität, dem keinen Erfolg wünschen kann, wer über den ökologischen (und damit letztlich auch ökonomischen) Sinn dieser Vielfalt nachdenkt. Auch in der Angewandten Linguistik (wie in ähnlicher Weise in der Angewandten Ökologie) sollte man daher die Rationalität alter Kulturtechniken wie - in diesem Falle — Übersetzung und Sprachenlernen nicht unterschätzen. Es gilt, sie zu verbessern und zu erleichtern, auch unter ökonomischen Gesichtspunkten, nicht, sie überflüssig zu machen. 36 Mehr als eine Kritik der Sprache (oder der Sprachen) aber ist Sprachkritik eine Kritik unseres Umgangs mit der Sprache. Wenn es mehr Grund dafür gibt, mit der kreativen Vielfalt unserer Sprache schonender umzugehen als sie zu beschränken und zu beschneiden, wie sollte dieser schonendere Umgang aussehen? Vor allem: was kann die Linguistik zu ihm beitragen? Ähnlich, wie es in unserem Überlebensinteresse liegt, die im Verlaufe langdauernden Evolution entstandenen Lebensformen und Ökosysteme in ihrer reichsten möglichen Diversität und Komplexität zu erhalten und ein entsprechend schonender Umgang mit der Natur notwendig ist, muß die linguistische Kritik der Sprachpraxis sowohl die Erhaltung der Sprachenvielfalt, als auch die der Sprachkomplexität als Postulat verfolgen. Hierfür gibt es den traditionellen Begriff der Sprachpflege. Ähnlich wie im Falle der Sprachplanung sind mit diesem Begriff sehr ambivalente Strategien verbunden (gleiches gilt übrigens für die parallele Problematik bei Ökosystemen). Die ökologische Linguistik ermöglicht hier eine interessante und wichtige Kritik an einem verbreiteten und gefährlichen Konzept von Sprachpflege. Alles, was unter dem Deckmantel einer angeblichen Sprachpflege im Effekt zu einer Verarmung von Sprachen und Spra36 Ich danke A.Sakaguchi für einige interessante und erhellende Diskussionen zur Problematik der Interlinguistik; gleichwohl kann ich mich ihrer positiven Einschätzung der Plansprachen im allgemeinen und des Esperanto im besonderen nicht anschließen.
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che-Welt-Systemen beiträgt, dient nicht der Erhaltung ihrer Kreativität, sondern schwächt sie. Hier sind insbesondere solche Varianten angeblicher Sprachpflege zu nennen, die mehr oder weniger direkt oder bewußt gegen die Dynamik der Sprache gerichtet sind. Der Sprachdynamik aber entspricht auch eine Dynamik unseres Sprachgebrauchs; wenn dieser erstarrt, erstarrt über kurz oder lang auch die Sprachdynamik. Wer keine Toleranz sprachlichen Innovationen gegenüber aufbringt (auf welcher Strukturebene auch immer), richtet de facto Sprachzustandsreservate ein, deren Grenzen von Verbotstafeln umstellt sind. Er betreibt einen konservativen Sprachenschutz, dessen Motiv einer angeblichen „Sorge um die Sprache" offenbart, wie unverstanden hierbei die Rolle der Sprachkreativität und der Sinn der Sprachdynamik als kreativitätserhaltende Größe bleibt. Eine solche Art der Sprachpflege erreicht das Gegenteil von dem, was sie erreichen will: sie bringt die Sprache ihrem Tode näher. Als Sprachkonservierung mißverstandene Sprachpflege ist nun nicht deshalb wissenschaftlich anrüchig, weil sie normative Elemente in eine deskriptive Disziplin eintrüge, sondern deshalb weil diejenigen Normen, die sie explizit oder implizit propagiert, einem tiefergehenden Verständnis von Sprache nicht standhalten. Völlig wertfreie Wissenschaft gibt es nicht, erst recht nicht, wenn sie nicht nur Erkenntnisinteressen verfolgt, sondern für diese auch noch eine Relevanz beansprucht. Angewandte Wissenschaft ist immer eine partiell normative Fortsetzung der deskriptiven empirischen Forschung, weil sie versucht, das dortige Wissen nutzbar zu machen. Insofern ist diese Normativität auch nur partiell, denn bei der Rechtfertigung der Wahl ihrer Normen — die ihr natürlich nicht erlassen werden kann — braucht sie eine deskriptiv-empirische Basis, die sie zu ihrer Kritik allererst herausfordert. Die Grundlage aller Sprachpflege ist Sprachkritik und deren normative Komponente ist mit einer deskriptiven Basis ebenso verträglich, wie es eine künstliche Teilung der Rationalität wäre, wollte man in einer Wissenschaft auf dasjenige verzichten, was man außerhalb ihrer ohnehin fiktiven Grenzen für richtig hielte. Die Schonung der Sprache erfordert Sprachpflege, aber richtig verstandene Sprachpflege, nicht eine solche, die sich nur so tarnt. Einer vergleichbaren Ambivalenz sind ähnliche oder verwandte Begriffe ausgesetzt: Sprachkultur, Sprachtechnologie und andere. Sie
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werden durch die Propagierung einer Praxis, die die von ihnen gemeinten oder betroffenen Sprachen dem Kreativitätstod näher bringt als dem Gegenteil, zwar diskreditiert, sind aber, mit besserem Sinn angefüllt, wohl unverzichtbar. Ich möchte abschließend versuchen, Beispiele für diesen Sinn zugeben. Sie sollen zugleich weitere mögliche Differenzierungen der hier global aufgespannten applikativen Struktur andeuten. Wenn, auf der grammatischen Ebene, beispielsweise die syntaktische Struktur A im Sprachgebrauch Konkurrenz durch die syntaktische Struktur Β bekommt („das Haus meines Vaters" — „das Haus von meinem Vater"), liegt zunächst einmal überhaupt keine Sprachverarmung, sondern eine Bereicherung vor. Auch wenn Β A vollständig verdrängte, wäre damit noch keine semantische, sondern nur eine syntaktische Verarmung verbunden. Doch ebensowenig, wie es sinnvoll wäre, A auf Kosten von Β zu konservieren, weil man damit eine kreative syntaktische Entwicklung verhinderte, wäre es sinnvoll, gleichsam „kampflos" auf A zu verzichten. Es macht Sinn zu versuchen, A am Leben zu erhalten, weil eine grammatisch komplexere Sprache ihre Kreativität nachhaltiger sichert als eine weniger komplexe. Ähnliches gilt im Grundsatz gleichermaßen für lexikalische, semantische und pragmatische Innovationen („umfunktionieren", „ökologische Linguistik"; Dialektgebrauch in Situationen, in denen dies zuvor unüblich war), wo die neue Struktur zumeist nicht direkt eine alte ablösen soll, gleichwohl aber ständig ältere Strukturen verloren gehen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum es nicht rational sein sollte, Worte, Bedeutungen und Formen des sprachlichen Handelns zu erhalten, wo immer dies sinnvoll ist. Oft wird es nicht möglich sein, so überall dort, wo der Bedarf für die Weiterbenutzung einer semantischen oder pragmatischen Struktur nicht mehr gegeben ist, weil die Welt des Sprache-Welt-Systems sich geändert hat. Auch in der Evolution des Lebens starben vor der menschengemachten, noch ziemlich jungen Umkehrung der Artenbilanz ins Negative sehr viele Arten aus natürlicher Ursache aus bei gleichwohl insgesamt tendentiell positiver Differenzierung der Kreativität. Auch heute ist die Erhaltung der in den Roten Listen ganz oben stehenden Arten wenig chancenreich. Semantische und pragmatische Sprachpflege wird absurd, wo sie Wörter, Bedeutungen und Formen des sprachlichen Handelns gleichsam blind, aus Prinzip, erhalten will, ohne Per-
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spektive auf die Funktionalität der Sprache-Welt-Systeme. Doch wir gehen in unserer Sprachpraxis andererseits auch oft ohne Not mit solchen Sprachstrukturen ähnlich rücksichtslos um wie mit Teilen der Natur, wenn wir Wörter aussterben lassen, die wir noch gebrauchen könnten, Bedeutungen nicht vor Verflachung und Ausbeutung zu bewahren versuchen oder unser sprachliches Handeln zu einer Abfolge von Jargons und Stereotypen verkommen lassen. Der Begriff einer Reinhaltung unseres Sprachgebrauchs ist in diesem Zusammenhang sicherlich ebenso am Platze, wie er zweifelsohne heikel ist. Allzu schnell bemächtigen sich sprachkonservative Puristen und Fremdwörtergegner seiner und richten, im Effekt, wieder das Gegenteil dessen an, was sinnvoll ist: Beschränkungen für die Freiheit der Kreativität, anstelle ihrer Erhaltung, ja womöglich Erweiterung. Eine ökologische Sprachpflege hat damit nichts im Sinn, gleichwohl ist einfaches Laufenlassen wie bei den bedrängten Ökosystemen nicht die Methode der Wahl. Die Sprachverhunzer, die unser Sprachbiotop mit semantischen Monstern wie „Straßenbegleitgrün" oder „Entsorgung" bevölkern, verdienen berechtigte Kritik; dagegen wäre es ebenso lächerlich wie dumm, etwas gegen eingewanderte oder einwandernde (Sprach-) Arten haben zu wollen, die die Kreativität eines Systems nicht gefährden, sondern zumindest erhalten. Man kann eine sinnvolle Sprachpflege mit der sorgfältigen, kritischen Beobachtung von naturnahen Ökosystemen und den in diesem Zusammenhang zweifellos gelegentlich notwendigen Pflegemaßnahmen vergleichen, die der Erhaltung ihrer fortdauernden Kreativität dienen. Sinnlose und schlechte Sprachpflege gliche eher einem konservierenden Reservatdenken oder der Einrichtung zoologischer oder botanischer Gärten, vielleicht sogar Museen. Tatsächlich aber ist die präparierte und ausgestopfte Sprache, die in große Teile unseres Alltagsredens eindringt, ein Anlaß, die noch lebende Sprache gegen sie zu verteidigen. Sinnvolle Sprachpflege muß eine nichtkonservative Sprachpflege sein. Die Verteidigung ganzer einzelner lebender Sprachen gegen Gefahren der Ausrottung ist ebenso notwendig. Sprachpolitik kann sich beides zum Ziel setzen; die Sprachpolitik der ökologischen Linguistik nur das erstere. Sprachen sterben nicht in abstracto aus; erst stirbt der Mensch, zumindest sein Erfahrungssystem, mit ihm seine Sprache. Neben Formen des direkten versuchten oder erfolgreichen
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Genozids durch erklärte oder unerklärte Kriege gibt es mannigfache Weisen, wie die biologische und damit letztlich auch linguistische Kreativität einer Sprachgemeinschaft indirekt geschwächt und sogar zum Erlöschen gebracht werden kann. Eine kritische Sprachpolitik muß sich aber insbesondere mit der Einflußnahme beschäftigen, die direkt oder indirekt auf die sprachliche Kreativität abzielen. Ich habe bereits erwähnt, daß sich Formen von Sprachplanung, die politische Ziele durch Abschaffung oder Schwächung ganzer Dialekte oder Sprachen erreichen wollen, nicht rechtfertigen lassen, denn sie liquidieren oder schwächen mit den Sprachen Erfahrungssysteme, deren Verlust ebenso unersetzlich sein kann wie der Verlust ganzer Lebensformen oder Ökosystemtypen 3 7 . Demgegenüber muß es das Ziel ökologischer Sprachpolitik sein, diese Systeme dann, wenn sie - aus welchen Gründen auch immer — in Bedrängnis geraten, zu unterstützen, um sie zu retten. Dies kann nur über die Unterstützung der Menschen, der Sprachgemeinschaften geschehen, die ja in Wahrheit Sprache-Welt-Gemeinschaften sind. Die Sprachsysteme einen diese Sprache-Welt-Gemeinschaften nur äußerlich; in Wirklichkeit sind es Sprache-Welt-Systeme, die ihnen ihre Identität geben. Insofern muß das Ziel kritischer Sprachpolitik auch die Bekämpfung jenes „linguistischen Imperialismus" sein, mit dem in mannigfacher und häufig höchst indirekter Weise die ökonomisch Stärkeren die Welten der Schwächeren besetzen. Doch es bleibt nicht bei der touristischen oder wirtschaftspolitischen Besetzung von Welten. Mit ihnen werden schematisierte Erfahrungsschablonen exportiert, die spezifische, weniger durchsetzungskräftige Spielarten auch sprachlicher Kreativität destabilisieren können: Ubiquisten verdrängen konkurrenzschwächere Formen. Verantwortliche Wirtschafts-, Außenund Entwicklungspolitik haben insofern auch eine linguistische Perspektive, auch wenn diese weniger die der Sprachplanung, als die der Sprachrettung ist. Im Prinzip gleichbedeutend mit den sich aus den Gefahren für die Sprachenverschiedenheit ergebenden Gegenstrategien sind ihre innenpolitischen Äquivalente, nämlich die Stützung und Erhaltung der internen Variation einer Sprache. Obwohl die Neuentdeckung und Rehabilitierung der Dialekte im vollen Gange ist, ist die Be37 Cf. hierzu die Arbeiten in McCormack/Wurm 1977.
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drängnis, in die sie durch die eher künstlichen „Hochsprachen" gebracht werden, kaum vermindert. Gegen viele der Ursachen, die in bildungs- und wirtschaftspolitischen Zusammenhängen zu suchen sind, können Linguisten nichts ausrichten, aber sie können durch eine vertiefte theoretische und empirische Analyse der sprachinternen Variation noch immer vorhandene Reste inadäquater Bewertungen, die Schulen, Medien und Institutionen nach wie vor weitertransportieren, abzubauen versuchen. Damit ist vor allem die Rolle der Sprachdidaktik angesprochen 38 , der im Schulunterricht die vielleicht wichtigste Funktion für eine wirksame kritische, nichtkonservative Sprachpflege zukommt. Wo im Unterricht auf Sprache reflektiert wird, wird er all das, was im Schlußteil dieser Studie skizziert wurde, in didaktisch angemessener Weise thematisieren müssen. Wo es um das sprachliche Handeln der Schüler selbst geht, muß mehr als bisher die Stärkung und Befreiung ihrer persönlichen Sprachkreativität das Ziel sein. Weniger die modische Phrase, als vielmehr die Freisetzung der natürlichen Sprachkreativität von Stereotypen und Beschränkungen anderer Art wäre zu erreichen. Die erste Sprache kann ohnehin nicht gelehrt werden; wohl aber kann die Entfaltung ihrer Praxis von den Behinderungen befreit werden, die eine verarmte und durch mannigfache Restriktionen der Kreativität gestörte Welt einem Sprache-Welt-System auferlegen. Der Beitrag der Linguistik zu einem schonenderen Umgang mit der Sprache hat mithin einen theoretischen und einen praktischen Teil. Der theoretische Beitrag besteht darin, die theoretischen Rahmenbedingungen der Politizität der Sprachwissenschaft zu erforschen, in entsprechenden Hypothesen zu formulieren und in empirischen Untersuchungen zu detaillieren und zu konkretisieren. Es erfordert also Arbeit in der theoretischen wie in der empirischen Linguistik. Vor allem ist seine Aufgabe, die Linguistik durch Prozesse kreativer empirischer Theoretisierung instand zu setzen, ihre theoretische Härte und ihre praktische Relevanz im Zusammenhang, in dem sie stehen, zu erhöhen. Die Idee einer ökologischen konstruktiven Linguistik ist, wie mir scheint, ein brauchbarer Ansatz für die Erfüllung dieser Aufgabe. 38 Cf. hierzu Henrici/Meyer-Hermann 1976.
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Der praktische Beitrag der Linguistik zu einem schonenden Umgang mit der Sprache besteht darin, die Anwendungsperspektiven einer solchen Konzeption im Einzelnen zu erforschen und praktikable Strategien zur Umsetzung des gewonnenen Wissens in die Praxis des Sprachgebrauchs zu entwickeln, kurzum, im Rahmen der konstruktiv-ökologischen Konzeption eine angewandte Linguistik zu entwikkeln. Hier ist es vor allem die Ausfüllung eines nichtkonservativen Begriffs der Sprachpflege durch die Entwicklung geeigneter didaktischer, aber auch technologischer und politischer Strategien, was not tut. Der politische Kontext von Sprache ist' der Raum, der durch die realen Probleme des sprachlichen Handelns für die Sprache-Welt-Systeme der Menschen aufgespannt wird. Dieser Raum ist zugleich der Kontext potentieller Anwendungen linguistischer Theorien. Jede Untersuchung eines tatsächlichen oder auch nur potentiellen Anwendungskontextes stellt Sprache in einen politischen Kontext. Und ebenso tut dies jede Untersuchung, die Probleme der sprachlichen Praxis mit dem Ziel erforscht, einen Beitrag — auch wenn er selbst noch den Charakter einer Vorstudie hat, zu deren Lösung zu leisten. Nur eine Linguistik, deren Theorien bereits den politischen Kontext von Sprache reflektieren, kann in zureichender und fundierter Weise selbst ebenfalls eine politische Qualität beanspruchen. Im kritischen theoretischen Bewußtsein von der Existenz eines Sprachpraxisproblems äußert sich ein praktisches Bewußtsein von der Politizität der Linguistik.
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Werner Kummer Probleme des Sprachausbaus in Entwicklungsländern Terminologieprägung im Swahili*
Im folgenden Artikel werden Ergebnisse eines von der Universität Bielefeld finanzierten Projekts berichtet, das in Zusammenarbeit mit Hubertus Opalka und Ingrid Kummer in den Jahren 1975 und 1976 in Tansania durchgeführt wurde. Gegenstand des Projekts waren Probleme des Ausbaus von Swahili zu einer multifunktionalen Sprache, speziell im Bereich der Terminologieprägung. Trägerorganisation des Projekts in Tansania war das „Institute of Kiswahili Research", dem seit der Unabhängigkeit die Aufgaben der Sprachplanung und des Sprachausbaus obliegen. Untersucht wurden die institutionellen Entscheidungsprozesse, die zur Einführung neuer Terminologien führen, die linguistischen Merkmale der neugeprägten Termini und ihr Einfluß auf den Grad ihres Verstanden- und Akzeptiertwerdens in den Zielgruppen der Bevölkerung. Wegen der begrenzten Zeit und Mittel, die für das Projekt zur Verfügung standen, konnten alle diese Fragen nur teilweise untersucht werden; eine umfangreiche Analyse des Ausbaus von Swahili zur Nationalsprache steht noch aus.
1 Entscheidungsstruktur bei der Einführung neuer Terminologien Als Hauptaufgabe der Standardisierung des Swahili wird momentan vom „Institute of Kiswahili Research" (IKR) die Bereitstellung von wissenschaftilichen Terminologien für die Umstellung des Sekundarstufenunterrichts von Englisch auf Swahili als Unterrichtssprache angesehen.1 Die Umstellung ist politisch bereits vorent* Gefördert von der Universität Bielefeld (OZ 2318). 1 In dem Artikel „Matumizi ya Kiswahili katika Sekondari" gibt I.K. Kiimbila (Swahili 39, 1 und 2, 1969) einen kurzen Überblick über die Planungen, die im Jahr 1969
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schieden, 2 doch wird die Implementierung von der Bereitstellung der entsprechend qualifizierten Lehrer, der nötigen Lehrmaterialien und der notwendigen wissenschaftlichen Terminologien abhängig gemacht. Obwohl im Rahmen der Afrikanisierungspolitik der letzten Jahre3 verstärkt im Sekundarschulbereich „expatriates" durch an der Universität Dar es Salaam ausgebildete Lehrer abgelöst wurden, dominieren sie dennoch noch immer zahlenmäßig und im Hinblick auf die von ihnen vertretenen, stark europäisch geprägten (speziell englischen) Lehrinhalte. Dabei zeichnet sich ein deutlicher Bruch zwischen den gesellschaftswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Curriculumanteilen ab: während der gesellschaftswissenschaftliche Unterricht meist von Afrikanern auf Swahili erteilt wird, wird in allen Schulen der naturwissenschaftvom „Ministry for National Education" für die Transposition des Sekundarunterrichts vom Englisch auf Swahili prospektiert wurden. Nach diesen Planungen sollte der Sekundarunterricht umgestellt sein in folgender Staffelung: 1. Geschichte 1971 2. Geografie 1971 3. Politik 1969/71 4. Mathematik 1971 5. Agronomie 1971 6. Biologie 1971 In einem Artikel „Uanzishaji wa Kufundisha Masomo kwa Lugha ya Kiswahili katika Shule za Sekondari, Tanzania" spezifiziert E.N. Mwakabonga die notwendigen Voraussetzungen, die für einen solchen Transpositionsvorgang geschaffen werden müssen. Dr. Mhina, bis 1975 Direktor des „Institute of Kiswahili Research", berichtete auf einer UNESCO-Tagung 1975, daß im Bereich der Politik und Geschichte der Übergang erfolgt sei, daß aber in den anderen Bereichen die Transposition wegen Mangel an adäquaten Lehrbüchern noch nicht in Gang gesetzt sei. Prof. Abdulaziz spezifizierte 1977 auf dem „Workshop for Language Planning" des Linguistic Institute in Manoa, Hawai, daß speziell die Terminologiebildung für den Transpositionsprozeß eine zentrale Bedeutung hat. Daraus ergibt sich auch die praktische Relevanz von Studien über die Terminologieprägung für die Weiterentwicklung von Swahili zu einer multifunktionalen und multidimensionalen Nationalsprache. 2
Die Entscheidung wurde von Vizepräsident Kawawa 1967 vorbereitet, als er auf einem politischen Meeting ausführte: „Kiswahili is recognised all over the world as an important language. It is our national language and the language of millions of our people in Tanzania. It is important that our own experts should know it thoroughly and feel proud of their language. Our own experts must form part of the nation and must not therefore feel divorced from it and form a special class by reason of a foreign language or other elitist tendencies." (Rede vom Juni 1967) Seit 1969 ist die Entscheidung gesetzeskräftig. 3 Ein guter Überblick über die Tendenzen der Afrikanisierungspolitik findet sich in dem Kapitel „Language and Politics in Tanzanian Governmental Institutions" von Jean F. OUarr, in: „Language and Politics", ed. William M. O'Barr and Jean F. O'Bärr, Mouton 1976.
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liehe Unterricht in englischer Sprache, meist von „expatriates", erteilt. Die geplante Umstellung der Unterrichtssprache soll diesen Bruch in Richtung auf eine allgemeine Afrikanisierung der Lehrerschaft und der Unterrichtsinhalte abbauen: Englisch soll nicht mehr Unterrichtssprache, sondern obligatorische Fremdsprache werden. Die Aufgabe der Bereitstellung der Unterrichtsmaterialien auf Swahili liegt in den Händen des „Department of Education" der Universität von Dar es Salaam, das dabei bei der Prägung von Terminologien direkt oder indirekt mit dem IKR zusammenarbeitet und der Aufsicht der Baraza unterliegt. Zusätzlich beschäftigt sich das IKR unabhängig vom „Department of Education" mit der Prägung wissenschaftlicher Terminologien. Der momentane vorgesehene Entscheidungsweg sieht so aus: 4 1. Sichtung der bisherigen englischen Unterrichtsmaterialien auf neueinzuführende Termini (Department of Education) 2. Erstellen einer alphabetischen Liste der gefundenen Termini (Department of Education) 3. Angabe von Prägungsvorschlägen in Kooperation mit den an den einzelnen Instituten für Fachwissenschaften der Universität Dar es Salaam einzurichtenden Stellen für Terminologieprägung (Department of Education mit Universitätsinstituten) 4. Weitergabe der Liste der Termini mit Übersetzungsvorschlägen an das IKR und Verbesserung der Liste durch das IKR (Department of Education mit IKR) 5. Weitergabe der Liste zur Entscheidung durch die Baraza 6. Entscheidung und Autorisierung der Liste durch die Baraza 7. Beginn der Übersetzungsarbeit am Lehrmaterial anhand der verabschiedeten und autorisierten Terminologie Dieser Entscheidungsprozeß soll eine optimale Zusammenarbeit zwischen Fachwissenschaftlern und Didaktikern/Linguisten und dadurch einen hohen Grad von Akzeptabilität der neuen Terminologie garantieren. Die Entscheidung durch die Baraza (National Swahili Council) soll diesen Effekt noch dadurch absichern, daß in der Baraza Vertreter aus allen Distrikten von Tansania vertreten 4
Diese Information wurde aus den Ergebnissen von Interviews mit Mitgliedern der ,Baraza" und des „Institute of Kiswahili Research" zusammengestellt. Eine Kopie der Aufzeichnungen der Interviews ist vom Autor erhältlich.
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sind, die beruflich stark mit Sprachproblemen konfrontiert sind (Lehrer, Richter, Verwaltungsbeamte). Die Baraza-Vertreter werden von den Distriktsparlamenten gewählt und ernennen aus ihrer Mitte einen permanenten Sekretär. Die Baraza veröffentlicht eine Monatsschrift „Lugha Yetu", in der alle von ihr verabschiedeten Terminologien abgedruckt werden. Zusätzlich finden sich in dieser Zeitschrift Artikel, die die Auswahl von Termini im einzelnen begründen oder allgemeinere Probleme der Sprachstandardisierung aufgreifen. Das IKR hat einen permanenten Vertreter in der Baraza und arbeitet auch außerhalb dieser personellen Verflechtung eng mit ihr zusammen. Weil aus den Distrikten als BarazaVertreter auch Angehörige von nicht-Swahili-sprechenden ethnischen Einheiten kommen, soll garantiert werden, daß der fur Terminologieprägung vorgesehene Gesichtspunkt, daß bei Nichtvorhandensein von adäquaten Swahiliwörtern Wörter aus verwandten Bantusprachen verwendet werden, auch institutionell abgesichert ist. Momentan sitzen in der Baraza verhältnismäßig viele Repräsentanten der arabisch geprägten Intelligenz (sheiks), die in den Traditionen arabischer Gelehrsamkeit geschult ist und daher eine zur europäischen Wissenschaftsterminologie alternative Tradition zur Verfügung hat. Auch am IKR sind außeruniversitär geschulte, arabische Gelehrte speziell im Bereich der Terminologieprägung stark vertreten. Dadurch wird dem Grundsatz Rechnung getragen, daß bei Entlehnungen dem Arabischen vor dem Englischen der Vorzug gegeben werden soll. Widersprüche, die dadurch in der Einschätzung neugeprägter Wörter entstehen, sollen noch besprochen werden. 5 Zur Bewertung der Effizienz dieses Entscheidungsverfahrens zur Einführung neuer Terminologien müßte paradigmatisch eine Liste von Termini beim Durchlauf durch alle vorgesehenen Instanzen beobachtet werden; daraufhin müßte der Implementierungsprozeß ebenso wie der Grad des Akzeptierens der Termini in der Zielgruppe empirisch festgestellt werden. Diese beiden Aufgaben konnten im Rahmen der pilot-study nicht gelöst werden; stattdessen konnten einige verstreute Beobachtungen zu diesem Komplex anhand der Interviews mit Mitgliedern von Baraza und IKR und anhand von Befragungen von Fachwissenschaftlern gemacht werden. 5
Vgl. unten, S. 33f.
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Zunächst muß festgestellt werden, daß nicht in allen Fällen der Erstellung einer Liste von Termini eine Kooperation zwischen fachwissenschaftlichen Instituten der Universität und dem „Department of Education" zustande kommt. Eine Umfrage in den verschiedenen fachwissenschaftlichen Universitätsinstituten ergab, daß viele von ihnen nicht über die Aufgaben der Prägung von Termini informiert worden waren oder keine Kräfte für diese Aufgaben delegiert hatten. De facto wurden daher viele Listen von Termini allein vom „Department of Education" verfaßt und weitergegeben. Koordinationsschwierigkeiten traten auch zwischen dem „Department of Education" und dem IKR auf; z.B. wird am IKR ein umfangreiches Projekt zur Erstellung einer biologischen Terminologie durchgeführt, 6 das bei der Erstellung der Termliste „Biology" des „Department of Education" nicht konsultiert wurde. Erst durch den Vertreter des IKR in der Baraza wurde das IKR auf die Liste aufmerksam. Generelle Schwierigkeiten treten auch beim Einbau der verabschiedeten Terminologien in die Arbeit der Übersetzung oder des Verfassens von Lehrmaterialien auf; die Termini allein reichen, worüber die Übersetzer speziell klagen, nicht für die Transposition von Texten ins Swahili aus. Versucht man, den Entscheidungsprozeß für die Einführung von wissenschaftlichen Terminologien mit möglichen Alternativen zu konfrontieren, so fällt zunächst der geringe Ausnützungsgrad von außerinstitutionellen Informationskanälen auf. Zur Prägung von Termini ziehen die Didaktiker/Linguisten ebenso wie die Mitglieder der Baraza außer ihrer eigenen muttersprachlichen und fremdsprachlichen Kompetenz hauptsächlich innerinstitutionelle Daten heran; der außerinstitutionelle Sprachgebrauch wird nicht systematisch untersucht. Potentielle Quellen von Informationen aus dem außerinstitutionellen Raum sind : die Analyse der verbalen Kommunikation von Fachwissenschaftlern, Studenten und Lehrern und die systematische empirische Erhebung von informell existierenden Termini anhand einer weit streuenden Befragung dieser 6 Das vorläufige Ergebnis der Arbeit am Biologieprojekt wurde unter folgendem Titel veröffentlicht: „Kamusi ya Maneno ya Sayansi ya Elimuviumbe (Bayolojia). Imetungwa na H. Akida. Taasisi ya Uchunguzi wa Kiswahili Chuo Kikuu cha Dar es Salaam. Mwaka 1975". Der Autor des Wörterbuchs, H. Akida, hat die Zielstellung seines Projekts in dem Aufsatz „Language for the Coming Generation of the Scientific Age in Tanzania" (Swahili 45/1, 1975) erläutert, und Teile seines Wörterbuchs in folgenden Nummern der Zeitschrift „Swahili" veröffentlicht.
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Gruppen. Für den Sprachgebrauch von Fachwissenschaftlern und Studenten an der Universität Dar es Salaam ist es charakteristisch, daß alle informellen Diskussionen, soweit an ihnen nicht ein Swahili-unkundiger „expatriate" beteiligt ist, auf Swahili durchgeführt werden: Gespräche am Arbeitsplatz über fachliche Fragen ebenso wie die Gespräche zwischen Studenten über Inhalte ihres Studiums finden in einem sprachlichen Register statt, das durch einen systematischen Codewechsel gekennzeichnet ist. Aufnahmen solcher Gespräche zusammen mit nachfolgenden Erkundungen bei den Sprechern weisen auf folgenden Tatbestand hin: die Grundsprache ist Swahili; englische Termini werden nur dann verwendet, wenn keine entsprechenden Swahili-Termini in der betreffenden Gruppe im Gebrauch sind oder wenn solche Termini bedeutend umständlicher zu verwenden sind als die englischen Äquivalente. Dieser Befund konnte dadurch festgestellt werden, daß die Sprecher eines auf Band aufgenommenen Gesprächs bezüglich jedes von ihnen verwendeten englischen Terminus befragt wurden, ob sie für ihn ein Swahili-Äquivalent wüßten. In den meisten Fällen existierte kein solches Äquivalent für den Sprecher oder er nannte ein Äquivalent und gab an, daß er es nicht gerne verwendet, da es zu lang, zu kompliziert oder gegenüber dem englischen Terminus nicht „in" sei. Umgekehrt zeigt eine Auswertung solcher Gespräche, daß für viele der Termini, für die auf dem offiziellen Weg Swahili-Äquivalente geschaffen werden, bereits Swahili-Termini im Umlauf sind, die von der Zielgruppe des Prägungsprozesses akzeptiert werden. In einem solchen Fall ist anzunehmen, daß ein alternativer neugeprägter Terminus eine nur geringe Durchsetzungschance hat. In einigen Fällen wurde festgestellt, daß in verschiedenen Teilgruppen oder aber auch innerhalb derselben Teilgruppe mehrere alternative Swahili-Äquivalente für einen englischen Terminus existieren; in einem solchen Fall sollte ein rationales Verfahren der Standardisierung in einer begründeten Auswahl aus den existierenden Termini eher als in einer Neuprägung bestehen. Ein solches Verfahren ist aber wegen der mangelnden empirischen Basis fur die offiziellen Entscheidungsprozesse nicht vorgesehen. Ein Rückchecken bei den Prägern der Termini ergab in den meisten Fällen, in denen aus aufgezeichneten Gesprächen einer oder mehrere Termini aufgefunden wurden, daß ihnen diese im Gebrauch befindlichen Varianten nicht bekannt waren. Es herrschte darüber hinaus ein nur geringes Verständnis dafür, daß
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solche empirisch vorfindbaren Prägungen für den Standardisierungsprozeß von Nutzen sein könnten. Interviews mit afrikanischen, aber auch „expatriate", Sekundarstufenlehrern ergaben, daß im Unterricht der Naturwissenschaften Swahili eine wesentlich größere Rolle einnimmt als aus den offiziellen Curricula hervorgeht. Lehrer sehen sich häufig gezwungen, schwer verständliche Inhalte zunächst auf Englisch zu erklären und dann auf Swahili zu paraphrasieren. Häufig ergibt sich daraus eine Zweiteilung im Unterrichtsprozeß: neue Lehrinhalte werden auf Englisch eingeführt und dann auf Swahili erklärt. Für die Erklärungen auf Swahili ergibt sich ein ähnliches Muster wie im Fall der universitären Diskussionen: für viele Termini sind im Schulbereich Swahili-Äquivalente vorhanden, die in mündlicher Tradition weitergegeben werden. Diese Termini variieren von Region zu Region, häufig von Schule zu Schule, und müßten daher einem Standardisierungsprozeß unterzogen werden, der in einer motivierten Auswahl besteht. Soweit Lehrer aber nicht im offiziellen Entscheidungsweg für die Neuprägung von Terminologien einbezogen sind, gelangt das Wissen um die informell existierenden Terminologien nicht zur Repräsentanz. Wenn in Lehrmaterialien offizielle Neuprägungen eingeführt werden, die im Widerspruch zu den an den Schulen verfügbaren Terminologien stehen, ist zu erwarten, daß sich die Neuprägungen nur schwer durchsetzen werden. Die offiziellen Richtlinien für die Neuprägung von Termini 7 sehen folgende Reihenfolge in der Priorität der Verwendung von Sprachmaterial vor: 1. Ableitung aus existierenden Swahiliwörtern 2. Verwendung von Wörtern aus mit Swahili eng zusammenhängenden Bantusprachen 7
Die Richtlinien gehen auf die Traditionen des „Institute of Kiswahili Research" zurück und wurden von der „Baraza" akzeptiert. Sie sind im Wortlaut abgedruckt in: W. Whiteley, „Swahili: The Rise of a National Language", London 1969. Punkt 2. der Prioritätenliste ist bislang in die Prägungspolitik kaum eingegangen, was der allgemeinen Bevorzugung des Swahili vor den anderen Bantusprachen in Tansania entspricht. Die immer wieder zitierten Beispiele für die Übernahme von Termini aus verwandten Bantusprachen sind: bunge = parliament (Ursprungssprache : Ha) ikulu = state house ( : Nyamwezi) mmatumbi = indigenous citizen (- - : Matumbi) kabwela = common man ( : Nyamwezi) vgl. C.W. Temu, The Development of Political Vocabulary in Swahili, Swahili 45/2, 1975.
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3. Verwendung und Swahilisierung von arabischen Termini 4. Verwendung und Swahilisierung von englischen oder anderssprachigen Termini Die Hauptargumente, die für diese Reihenfolge angegeben werden sind: Der Charakter von Swahili als einer Bantusprache soll gewahrt werden, daher ist 2. vor 3. der Vorzug zu geben; außerdem fördert die Verwendung von Wörtern aus anderen in Tansania gesprochenen Bantusprachen die Integration und nationale Einigung der über einhundert verschiedenen Ethnien auf dem Boden der staatlichen Einheit. Die Präferenz von 3. gegenüber 4. wird mit dem starken arabischen Erbe im Wortgut des Swahili motivert, das eine Swahilisierung von weiterem arabischen Vokabular erleichtert. Dazu kommt eine partielle Abneigung gegenüber einer starken Anglisierung des Swahili, die als ein Relikt des kolonialen Erbes abgelehnt wird. Vorbild ist die Swahilisierung des politischen und administrativen Vokabulars, das einen wichtigen Beitrag bei der kulturellen Dekolonialisierung darstellte. Bekanntermaßen führte die TANU ihre gesamte Agitation für die Unabhängigkeit auf Swahili durch; Julius K. Nyerere übersetzte seine politischen Artikel, in denen er den tansanianischen Weg des „African Socialism" definierte, aus dem Englischen in Swahili und schuf dadurch ein politisches Vokabular, das noch heute die Grundlage der politischen Diskussion in Tansania bildet. Die Übertragung dieses Transpositionsmusters auf den Bereich der wissenschaftlichen Terminologie erklärt teilweise die unterste Stelle der Verwendung von englischem Vokabular in der Hierarchie der Präferenzen. Es ist zu fragen, wie weit die angegebene Hierarchie in der praktischen Politik der Prägung von Termini angewandt wird und welche Bedingungen sie für das Akzeptieren neuer Termini schafft. Im allgemeinen richtet sich die Prägung neuer Termini im IKR und im „Department of Education" nach der Präferenzhierarchie; Ausnahmen betreffen hauptsächlich die Reihung von 2. und 3. Die Überrepräsentanz von arabisch sprechenden Gelehrten in den offiziellen Institutionen, die meist außer Swahili keine anderen Bantusprachen beherrschen, führt dazu, daß den anderen Bantusprachen geringeres Gewicht beigelegt wird als arabischen Termini. Da andererseits außerhalb der kleinen Gruppe arabischsprechender Gelehrter Kenntnisse in arabischer Sprache kaum anzufinden sind (eine Ausnahme bildet dabei Sansibar), sind aus dem Arabi-
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sehen stammende Neuprägungen für die Mehrzahl der Bevölkerung sehr schwer zu verstehen und werden daher weitgehend abgelehnt. Eine Ausnahme bilden dabei solche Neuprägungen, die Wortmaterial verwenden, das bereits seit langer Zeit als swahilisiertes Erbe ins Lexikon eingegangen ist. Ein konkretes Beispiel für die Schwierigkeiten der Durchsetzung arabischer Termini bietet die Umstellung der Bezeichnungen für alle Ämter und Amtstätigkeiten in Tansania vom Englischen ins Swahili im Jahr 1976. Die neuen Termini wurden von der Baraza verabschiedet und in einer Sondernummer von „Lugha Yetu" abgedruckt. Als daraufhin von allen Ämtern die alten englischsprachigen Namenstafeln abgenommen und durch solche ersetzt wurden, die die neuen Termini verwendeten, kam aus der Bevölkerung starker Protest. Man fand sich anfangs in den Ämtern nicht zurecht, kritisierte die umständlichen und völlig unverständlichen Termini, und machte seinen Unmut in Leserbriefen an die Zeitung „Uhuru" Luft. In den Ämtern werden die neuen swahilisierten Amtsbezeichnungen zwar in der offiziellen Korrespondenz verwendet, doch bedienen sich Beamte und Klienten im normalen Amtsverkehr nach wie vor der swahilisierten englischen Termini, die bisher im Umlauf waren. Im Bereich der wissenschaftlichen Terminologie verursacht die Verwendung von swahilisierten arabischen Termini noch größere Schwierigkeiten als im Bereich der Administration. Termini aus der traditionellen arabischen Wissenschaft betreffen speziell die sog. „Geisteswissenschaften", weniger den Bereich der Naturwissenschaften. Da die traditionelle arabische Wissenschaft jedoch außerhalb eines kleinen Kreises von regional eng umschränkten Spezialisten kaum bekannt ist, sind ihre Termini weitgehend außer Gebrauch. Die Zielgruppen für die Neuprägung von Swahili-Termini sind in diesen Wissenschaftsbereichen hauptsächlich mit englischen Termini konfrontiert worden, die sie entweder in der ursprünglichen Form oder in swahilisierter Form übernommen haben. Der spontane Prägungsprozeß folgte also in diesem Bereich haptsächlich der mit der geringsten offiziellen Präferenz versehenen Strategie 4. Dazu kommt, daß die informell etablierten Terminologien verhältnismäßig stark standardisiert, d.h. quer durch alle Verwendergruppen genormt sind. Es läßt sich also voraussagen, daß eine starke Arabisierung dieser Terminologie starken Widerspruch bei den betreffenden Zielgruppen hervorrufen wird. Bereits Umfragen über die Verständlichkeit der von der Baraza in diesem Bereich
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vorgeschlagenen Termini ergaben hier den höchsten Prozentsatz an unverstandenen Prägungen. 9 Insgesamt läßt sich für die Entscheidungsstruktur bei der Prägung neuer Termini feststellen, daß sie unter einem Mangel an empirischen Untersuchungen über die spontane Sprachverwendung in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen leidet. Der Entscheidungsprozeß ist stark bürokratisiert und vertraut auf den Erfindungsreichtum des Didaktikers/Linguisten, der neue Termini prägt. Weder werden Untersuchungsverfahren entwickelt, durch die informell bereits existierende Termini gefunden werden können, noch wird die Durchsetzung geprägter Termini in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen empirisch überprüft. Da der Entscheidungsapparat an das staatliche Monopol über Lehrmaterialien für Schulen angeschlossen ist, verläßt er sich anscheinend auf die Durchsetzungskraft seiner Prägungen kraft Verordnung. Es ist fraglich, ob diese Strategie selbst in dem zentral gut planbaren Bereich schulischer Kommunikation zum Erfolg führt; es ist auf jeden Fall klar, daß eine solche Strategie in allen nicht zentral planbaren Kommunikationsbereichen wenig Erfolgschancen hat. Als Alternative empfiehlt sich eine starke Entbürokratisierung des Entscheidungsprozesses durch Einbeziehung der Zielgruppen in die Erfassung bereits existierender Termini und die Auswahl zwischen Termini. Auf Neuprägung sollte nur dann zurückgegriffen werden, wenn keine informellen Termini im Umlauf sind. Aufgabe der Linguisten wäre in dieser Alternative die empirische Untersuchung der Sprachverwendung in den Zielgruppen eher als die Schreibtischarbeit der Wortprägung.
2 Katalogisierung und Analyse der laufenden des IKR zur Einführung von Terminologien
Arbeitsprojekte
Das Schwerpunktprojekt des IKR zur Terminologieprägung ist momentan die Erstellung eines biologischen Fachwörterbuches, dessen größter Teil abgeschlossen vorliegt. 10 Vorangegangen ist diesem Projekt die Fertigstellung eines wesentlich weniger anspruchsvollen Wörterbuchs nautischer Ausdrücke. 11 Das Biolo9 Vgl. die Zahlen auf S. 33. 10 Neben diesem bereits erwähnten Wörterbuch wird momentan ein Wörterbuch fiir medizinische Termini vorbereitet.
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gieprojekt ist deshalb von besonderem Interesse, weil es als prägendes Paradigma für weitere geplante Arbeit an Terminologien dienen soll (z.B. als Vorbild für das nachfolgende Projekt eines medizinischen Wörterbuchs) und weil in der Zeitschrift des IKR „Swahili" anhand dieses Wörterbuchs entscheidende theoretische Fragen der Prägung von wissenschaftlicher Terminologie behandelt wurden und werden. Im Gegensatz zu den vom „Department of Education" der Baraza vorgelegten Wortlisten zu einzelnen Schulfächern der Sekundarstufe 2 handelt es sich bei dem Biologieprojekt um den Teil eines längerfristigen Plans zum Ausbau der Sprache für den Bereich der Wissenschaften. Es soll der Beweis angetreten werden, daß Swahili als Wissenschaftssprache ebenso brauchbar ist wie die traditionellen europäischen Wissenschaftssprachen. Daher dienen als Grundlage der Arbeit an der Prägung von Termini nicht die Terminologien aus englischen Schulbüchern, sondern englische Fachlexika zur Biologie, die von A bis Ζ ins Swahili übertragen werden. Der Lexikoneintrag besteht dabei aus folgenden Spalten: a) englischer Terminus (häufig mit lateinischem Äquivalent) b) Ubersetzungsvorschlag c) Definition of Swahili d) Begründung und Erläuterung des Übersetzungsvorschlags (auf Swahili) Der Übersetzungsvorgang geschieht nach Aussage der Übersetzer durch Analyse des mit dem englischen Wort verbundenen Begriffs und durch Neuprägung entsprechend dem Inhalt des Begriffs. Diese Strategie wird von „Wort" zu „Wort"- Übersetzungen unterschieden, in denen sich die Neuprägung nach der vorgegebenen semantischen Formung des Begriffs in der Ursprungssprache richtet. Im folgenden sollen die Prägungsstrategien, die für das Biologielexikon charakteristisch sind, anhand einzelner Beispiele genauer untersucht werden.
11 Das Wörterbuch wurde 1966 vom Institute of Kiswahili Research herausgegeben.
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2.1 Phonologische Angleichung und morphologische Swahilisierung englischer Termini Beispiele: nerve anemia anthropology artery vein chemistry rennin vitamin stigma
Nerv neva Anämie anemia anthropologia Anthropologie ateri Arterie Vene vena kikimia Chemie renini Rennin vitamini Vitamin stegema Stigma
pyramid quarentine sugar nitrogen fauna myglobin oogamous nitrification pepsin peptidae peet insect morphology
paramidi karentini sukari nitrojeni fauna miglobini ogamusi nitrifika pepesini pepetido peti insekita morfologie
Diese Prägungsform ist im Wörterbuch bemerkenswert selten.
2.2
Quasidefinition13
Diese Form der Prägung ist dadurch gekennzeichnet, daß sie begriffliche Merkmale des zu bezeichnenden Phänomens durch bereits in der Sprache verfügbare Bezeichnungen ausdrückt und diese Merkmalsbezeichnungen durch die morphologischen Mittel der Komposition und der Ableitung zu Bezeichnungen für das neue Phänomen kombiniert. Schwierigkeiten dieser Prägungsart, die im Biologiewörterbuch zentral ist, ergeben sich a) in der Auswahl der begrifflichen Merkmale, b) in der Bedeutungsmodifikation der Bezeichnungen für die begrifflichen Merkmale, c) in der übermäßigen Bedeutungstransparenz der Bezeichnung, 13 Im Gegensatz zum Terminus „Kompositabildung" kennzeichnet „Quasidefinition" einen semantischen Prägungstyp, der in verschiedenen morphologischen Varianten verwirklicht werden kann.
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d)in den notwendigen Formen metaphorischer Übertragung bei der Komposition der Bezeichnung aus ihren Definitionsteilen.
Beispiele: wörtl.: Wissenschaft vom Körper elimu - mwili Wissenschaft-Körper atom tono - radi wörtl.: Donnertropfen Tropfen - Donner kleiner Teil bud ki - zizi wörtl.: Sameneinzäunung Agentiv - Einzäunung Samen wörtl.: dicker Teigbrei carbohydrate hami - rojo Teig - dicker Brei cell plate kigae - chembe wörtl.: Scherbe des kleinen Teils Scherbe - kleiner Teil cellulose chembe - uzi wörtl.: Faden des kleinen Teils kleiner Teil - Faden Chlorophyll umbi - jani wörtl.: Blattmacher machen Blatt conditioned reaction u-lipi-zo wa m-wig-o wörtl.: Rückzahlung Rückzahlung Nachahmung durch Nachahmung gene ki-sadifu wörtl.: Richtigmacher Agens richtig species u-za-o-safu wörtl.: das, was aneinanderreiht das, was aneinanderreihen abdomen fumbatio wörtl.: das, was einschließt einschließen nucleus ki-ini-chembe wörtl.: innerster Teil eines kleiInnerster Teil kleiner Teil nen Teils nucleoplasm maji-mnuto wörtl.: klebrige Flüssigkeit Flüssigkeit klebrig parthenogenesis mimba-pweke wörtl.: Alleingeburt Geburt allein m-boni ya jicho wörtl. : das Sehende der Augen das Sehende der Augen pupil radiation m-nururisho u-pelea-nguvu wörtl.: das Scheinenmachen Scheinen-machen übertragen Kraft von Kraftübertragung anatomy
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radioactive ki-pelea-nguvu wörtl.: das, was Kraft überträgt Agens übertragen Kraft genus -safu wörtl.: Familienreihe Familie-Reihe medulla kiunga-bongo wörtl.: Verbindungsgehirn Verbindung - Gehirn pancreas kilindi-siha wörtl.: Gesundheitskanal Kanal Gesundheit prostate gland ki - chimo - tezi manii wörtl.: Samenauswuchshöhle Dim. Vertiefung Auswuchs Samen repellent u - lisho - u - chungo wörtl.: Bitterfutter füttern bitter testa ki - ziba - mbegu wörtl.: Samenverschluß Verschluß Samen vaccination wikiza - ngao- mwili wörtl.: Körperschutzüberdeküberdecken Schild Körper kung Anhand dieser Beispiele sollen die durch a) - d) markierten Probleme von Quasidefinitionen behandelt werden. a) Auswahl der begrifflichen Merkmale Da in vielen Fällen für die wesentlichen Merkmale eines biologischen Begriffs keine Bezeichnungen in der Sprache zur Verfügung stehen, werden unwesentliche Oberflächenmerkmale für die Prägung ausgewählt, z.B. carbohydrate: Teig, dicker Brei nucleoplasm: Flüssigkeit, klebrig In diesen Prägungen wird im ersten Fall nicht auf die chemische Zusammensetzung und im zweiten Fall nicht auf die Lokalisierung im Nukleus referiert. Es ist zu erwarten, daß die Verwendung unwesentlicher Merkmale die Terminologisierung der Prägungen erschwert, da die vorterminologische Referentialisierbarkeit der ausgewählten Merkmale zu weit ist. In anderen Fällen geht bereits in die Bezeichnung der ausgewählten Merkmale eine starke Bedeutungsverschiebung gegenüber den vorterminologischen Bezeichnungen ein, die bis zu einer Spannung zwischen bezeichnetem Merkmal und Merkmalsbezeichnung führen kann, die für Metaphern charakteristisch ist. Z.B.: tono: bezeichnetes Merkmal = Teilchen Bedeutung der Bezeichnung = Tropfen
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chembe: bezeichnetes Merkmal = Zelle Bedeutung der Bezeichnung = kleiner Teil nguvu: bezeichnetes Merkmal = Energie Bedeutung der Bezeichnung = Kraft kigae : bezeichnetes Merkmal = Platte Bedeutung der Bezeichnung = Scherbe Die Spannung zwischen bezeichnetem Begriffsmerkmal und Bedeutung der Bezeichnung haben in diesen Beispielen die Struktur von: Metaphorischer Beziehung (Teilchen = Tropfen) Bedeutungseinengung (kleiner Teil = Zelle) Bedeutungsverschiebung (Kraft = Energie) Bedeutungserweiterung (Scherbe = Platte) Es ist zu erwarten, daß starke Bedeutungsverschiebungen in der Merkmalsbezeichnung, wie sie z.B. im Fall der metaphorischen Bedeutung vorliegen, den Prozeß der Terminologisierung erschweren. b) Bedeutungsmodifikation der Bezeichnungen für die begrifflichen Merkmale Dieses Problem wurde unter a) bereits angesprochen; generell bleibt es eine Aufgabe für empirische Untersuchungen zur Terminologisierung, festzustellen, in welchem Ausmaß Bedeutungsmodifikationen dieser Art das Lernen von Neuprägungen erleichtern, bzw. erschweren. c) Bedeutungstransparenz der Gesamtbedeutung Im Gegensatz zur Undurchsichtigkeit von Komposita im wissenschaftlichen Vokabular von etablierten Literatursprachen, die entweder durch den Gebrauch (vgl. „Sauerstoff") oder durch die Verwendung von Ableitungen aus toten Wissenschaftsprachen (vgl. „Atom") begründet ist, sind Quasidefinitionen als Form der Neuprägung beim Ausbau von Literatursprachen in einem hohen Maße transparent. Es ist eine empirische Aufgabe, festzustellen, wieweit eine solche Transparenz das Lernen der neuen Prägungen erleichtert (mnemotechnische Hilfe) oder wie weit sie die terminologische Anwendung der Neuprägungen erschwert, weil die Quasidefinition, die in der Wortformung enthalten ist, an die Stelle der begrifflichen Definition tritt. Z.B. suggeriert
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„Donnertropfen" für „Atom" eine Definition von Atomen als tropfenförmigen, elektrisch geladenen Elementen. Speziell das Merkmal der Tropfenförmigkeit in der Quasidefinition steht jedoch im Widerspruch zu den entsprechenden Merkmalen der in der modernen Physik gültigen Realdefinition von Atomen. Ähnlich suggeriert die Bezeichnung der Pankreasdrüse als „Gesundheitskanal" in der Quasidefinition eine über das normale Maß für Organe hinausgehende Beziehung zwischen diesem Organ und dem Gesundheitszustand des Organismus; ebenso widerspricht die Kennzeichnung als „Kanal" der physiologischen Struktur des Organs. Im Fall der Quasidefinition fur „Chlorophyll" suggeriert „Blattmacher" eine Funktion des Stoffes als Wachstumsinitiator für Blätter, die seiner realen Funktion (als „Blattgrünmacher") widerspricht. In der Bezeichnung der Testes als „Samenverschließer" wird die Zentralfunktion dieser Organe als Samenerzeuger nicht angesprochen. Ähnlich ist die Bezeichnung von Genen als „Richtigmacher" zu vage, um ihre Funktion zu kennzeichnen; Quasidefinition und Realdefinition klaffen weit auseinander. Es ist nicht a priori auszumachen, welchen Einfluß Widersprüche zwischen Quasidefinition und Realdefinition auf das Akzeptieren und Erlernen von Neuprägungen haben. Für die Fortführung des Projektes ist vorgesehen, empirische Untersuchungen über den Einfluß verschiedener Grade von Abweichungen auf den Terminologisierungsprozeß durchzuführen. d) Metaphorische Übertragung im Bereich der Gesamtbezeichnung Die Probleme der metaphorischen Übertragung im Bereich der Gesamtbezeichnung entsprechen teilweise den bereits behandelten Problemen metaphorischer Übertragung im Bereich der Merkmalsbezeichnung. Zusätzlich entstehen für die Gesamtbezeichnung Probleme aus der Rollenstruktur (im Sinne der „case roles"), die in der Verknüpfung von Merkmalsbezeichnungen zur Gesamtbezeichnung definiert ist. Z.B.: „Sameneinzäunung" für „Knospe" suggeriert, daß das Bezeichnete als Agens den Samen der Pflanze als Objekt einschließt. Eine solche Rollenstruktur entspricht nur über sehr vermittelte metaphorische Beziehungen der Funktion, die eine Knospe im Wachstumszyklus einer Pflanze hat. Ebenso problematisch ist die Rollenstruktur in der Bezeichnung von „vaccination" als „Körperschutzüberdeckung" d.h. als etwas, was als
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Agens den Körper als Objekt mit einem Schild als Instrument überdeckt. Die spezifischen Auswirkungen metaphorischer Übertragung auf den Terminologisierungsprozeß müssen ebenfalls im Verlauf des weiteren Projekts empirisch untersucht werden.
2.3 Ableitung aus verfügbaren
Sprachwurzeln
Während im Fall der Quasidefinition mehrere begriffliche Merkmale bezeichnet und durch Komposition und Ableitung zu komplexen Bezeichnungen zusammengefaßt werden, wird bei Ableitungen nur ein begriffliches Merkmal durch eine Bezeichnung repräsentiert, die meist einer einfachen Sprachwurzel des Swahili entspricht. Die Gesamtbezeichnung ergibt sich durch Anwendung der verfügbaren Ableitungsformen auf die Sprachwurzeln. Probleme, die bei dieser Prägungsform zur berücksichtigen sind, können eingeteilt werden in: a) Auswahl des zu bezeichnenden begrifflichen Merkmals b) Spannung zwischen ausgewähltem Merkmal und Bedeutung der Sprachwurzel, die zu seiner Bezeichnung verwendet wird c) Verwendung der im Swahili verfügbaren Ableitungsmittel. Im folgenden sollen einige Beispiele für diese Prägungsform angegeben werden: auricle ki-buli wörtl.: kleiner Teetopf Dim. Teetopf arteriosclerosis m - k a k a m a - o wörtl.: Anstrengung Nominalklasse sich anstrengen Nominalisierungssuffix aorta m-kole wörtl.: Palmenzweig Nominalklasse Zweig einer Palme hibernation u - fufuma - zi wörtl.: das Wiederaufleben Abstraktklasse - Wiederaufleben Nominalisierungssuffix parasite ki-nyonya-ti wörtl.: kleiner Sauger Diminutiv saugen Agentivsuffix nicotinic acid ki - onge - ζ - e - a wörtl.: Verstärker von etwas Nominalklasse - verstärken - kausativ - applikativ palpus ki - ungi - o wörtl.: Verbinder Nominalklasse - verbinden - Nominalisierungssuffix
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ossification u - p e a - j i wörtl.: Reifung Abstraktklasse - reifen - Nominalsuffix für Ereignisse organ ki - ung - o wörtl.: Verbindung Nominalklasse - verbinden - Nominalisierungssuffix gene ki - sadifu wörtl.: das Richtige Nominalklasse richtig diaphragm ki-tanga wörtl.: kleines Segel Diminutiv Segel bulb m-ganda-mo wörtl.: Zusammenziehung Nominalklasse - zusammenziehen - Nominalisierung sternum ki-dari wörtl.: kleines Dach Diminutiv Dach symbiosis u - papa - chi wörtl.: Zusammensein Abstraktklasse - zusammen - Nominalisierungssuffix symmetrical u - fanano wörtl.: Ähnlichkeit Abstraktklasse ähnlich salve u - ki - mea wörtl.: Wachstum Abstraktklasse Nominalklasse wachsen motor kanzi-o wörtl.: Aufwärmen aufwärmen Agentivsuffix migration mu - ham - o wörtl. : Wanderung Nominalklasse wandern Nominalisierungssuffix mitosis u - gawany - ish - o wörtl.: Teilung Abstraktklasse teilen kausativ Nominalisierungssuffix mimicry u - fanano wörtl.: Ähnlichmachen Abstraktklasse ähnlich lysis u - pung - o wörtl.: Schwingung Abstraktklasse schwingen Nominalisierungssuffix incubation u - tami - o wörtl.: Beendigung Abstraktklasse beenden Nominalisierungssuffix Anhand dieser Beispiele lassen sich die Probleme der Prägung durch Ableitung aus verfügbaren Sprach wurzeln aufzeigen: a) Auswahl des zu bezeichnenden Merkmals Ebenso wie bei der Quasidefinition werden häufig unwesentliche begriffliche Merkmale zur Bezeichnung ausgewählt, so z.B. für „Arteriosklerose" das Merkmal der Anstrengung des Gewebes, das den Befund nur ungenau erfaßt. Ebenso teilt „nicotinic acid" seine „Verstärker" - Funktion mit vielen anderen Stoffen. Im
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Fall von „ossification" generalisiert das Merkmal „reifen" den zu bezeichnenden Prozeß des „Knochenreifens" so sehr, daß das Merkmal für viele andere physiologische Prozesse gilt. Ebenso wird „Symmetrie" durch das Merkmal der „Ähnlichkeit" nur ungenau eingegrenzt. In einigen Fällen wird ein Prozeß gegenüber der englischen terminologischen Prägung aus einer anderen Perspektive charakterisiert, z.B. die „Inkubation" als „Ende (der nicht sichtbaren Phase der Krankheit)" oder „hibernation" als „Wiederaufleben" des im Frühjahr erwachenden Tiers. Wenn das zur Bezeichnung ausgewählte Merkmal der Erscheinung des zu bezeichnenden Phänomens angehört, werden meist Formcharakteristiken zur Bezeichnung ausgewählt, so im Fall von „Teetopf" für „Ohrläppchen" bzw. „Segel" für „Diaphragma". Eine genauere Untersuchung des Terminologisierungsprozesses müßte feststellen, welchen Einfluß die aufgezeigten Probleme der Merkmalsauswahl auf das Akzeptieren und Verwenden der Termini haben. Hypothetisch kann erwartet werden, daß übergeneralisierte Merkmale diesen Prozeß hemmen können. b) Spannung zwischen ausgewähltem Merkmal und der Sprachwurzel, die zu seiner Bezeichnung verwendet wird In vielen Fällen erfordert die Verwendung einer verfügbaren Sprachwurzel für das zu bezeichnende Merkmal eine Verschiebung der Bedeutung der Wurzel. Grundtypen dieser Verschiebung sind: a) Bedeutungsverengung (Spezialisierung) b) Bedeutungserweiterung (Generalisierung) c) Bedeutungsverschiebung d) metaphorische Übertragung Beispiele für Bedeutungsverengung sind die Verengung der Bedeutung von „fanano" von dem Merkmal „ähnlich" auf das Merkmal „symmetrisch" oder die Verengung der Bedeutung von „kiunga", die von dem generellen „Verbindungsglied" in einem System auf „Körperteil" und spezifischer auf „Organ" spezialisiert wird. Bedeutungserweiterung liegt z.B. im Fall von „ganda" vor, dessen Bedeutung von „zusammenziehen" auf „Erweiterung" generalisiert wird. Eine Bedeutungsverschiebung ergibt sich, wenn in der Bezeichnung für „Gen" die Wurzel „sadifu" von „richtig" auf „urbildlich" verschoben wird. Metaphorische Übertragung ist der Grenzfall, in dem das Bezeichnete mit der Bedeutung der ausgewählten Bezeichnung nur einige
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Merkmale teilt, die meist aus der Form des Bezeichneten abgeleitet sind. Z.B. teilt die „Aorta" mit einem „Palmenzweig" die Eigenschaft, daß von einem zentralen Schaft Nebenstränge ausgehen; das „Diaphragma" hat mit einem „Segel" eine ähnliche Form und ein „Ohrläppchen" hat gewisse Ähnlichkeiten mit einem kleinen Teetopf. Es ist in einem ausgearbeiteten Projekt zu untersuchen, welchen Einfluß verschiedene Spannungsgrade zwischen begrifflichem Merkmal und seiner Bezeichnung auf das Akzeptieren und Lernen von Termini haben. Dabei ist bei stärkeren Formen der Spannung festzustellen, ob die Bedeutung der bezeichnenden Sprachwurzel eine mnemotechnische Stütze für das Auffassen des Merkmals ist oder ob sie das Auffassen des bezeichneten Merkmals und damit das Erlernen der Prägung negativ beeinflußt. c) Verwendung der im Swahili verfügbaren Ableitungsmittel Es soll hier nicht versucht werden, die reichhaltigen Ableitungsmittel des Swahili zu beschreiben; diese Arbeit wurde in Grammatiken und Analysen mehrfach geleistet. 14 Die häufigsten bei Neuprägungen verwendeten Ableitungsmittel sind Nominalisierungssuffixe und damit verbunden Nominalklassenpräfixe. Nominalisierungen bilden entweder „fact nomináis" oder „agentive nomináis", beide durch das Suffix „ -o" charakterisiert. Die Einordnung in das System der Nominalklassen des Swahili bevorzugt die Abstrakta mit dem Präfix „u sowie die Dingklasse auf „ki die mit der Klasse der Diminutiva auf „ki -" homonym ist. Komplexere Ableitungsformen beziehen das Kausativsuffix „ -isha" bzw. Das Applikativsuffix „- ia" ein oder verwenden Nominalisierungssuffixe für spezifische semantische Typen, e.g. das Ereignissuffix „-ji" oder das Nominalisierungssuffix für das Verbum substantivum „- chi". Eine genauere morphologische Untersuchung der Prägungstypen sollte speziell die Gründe für die Zuordnung von Neuprägungen zu einzelnen Nominalklassen analysieren.
14 Die brauchbarste Übersicht über die morphologischen Ableitungsmittel des Swahili findet sich in E. Polomé: „Handbook of Swahili".
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2.4 A bleitung durch Bedeu tungsmodifikation Dieser Prägungstyp liegt vor, wenn ein im Swahili bereits vorhandenes Wort durch Bedeutungsmodifikation terminologisiert wird, ohne aus ihm durch Ableitung oder Komposition eine neue Bezeichnung zu bilden. Die Probleme, die sich für diesen Prägungstyp ergeben, beruhen auf dem Einfluß der Typen der Bedeutungsverschiebung auf den Terminologisierungsprozeß. Zunächst einige Beispiele für diesen Prägungstyp: action spectrum anus aseptic bark belly bile blood brain stem caecum canine capsule carapace
peteo mkundu muma gomo umbo nyongo damu kihero kiwi chonge kitasa gamba
cell cementum conifer
chembe fusi mkade
cork fang fibre fin hair heart hormone horn imago
gome bombo ugwe pezi nywele moyo chocheo pembe matu
wörtl.: wörtl.: wörtl.: wörtl.: wörtl.: wörtl.: wörtl.: wörtl.: wörtl.: wörtl.: wörtl.: wörtl.:
Kreis Anus sauber bark Bauch Galle Blut kleiner Tisch geblendet Schneidezahn Schachtel Außenbedeckung eines Tieres wörtl.: kleiner Teil wörtl.: Lehm wörtl.: afrikanische Föhre (Pandanus kii) wörtl.: Rinde wörtl.:: Injektionsnadel wörtl.: Faden wörtl.:: Flosse wörtl.: Haar wörtl.: Herz wörtl.: Anreizer wörtl.:: Horn wörtl.:: verstört gehen
In vielen der angegebenen Beispiele ist die Bedeutungsmodifikation gegenüber der Ausgangsbedeutung gleich Null, speziell in den Fällen, in denen Alltagstermini auch als wissenschaftliche Termini
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verwendet werden (z.B. die Termini für „Herz", „Anus", „Haar" etc.). In anderen Fällen bewirkt die Prägung eine Bedeutungsverengung, z.B. die Verengung von „muma" von „sauber" zu „aseptisch" oder von „kitasa", das von der generellen Bedeutung „Schachtel, Behälter" auf die Bedeutung „Kapsel" eingeengt wird. Ähnlich liegt eine Bedeutungsverengung im Fall von „gamba", das als Terminus nicht mehr jede Außenbedeckung eines Tiers, sondern nur den Panzer einer Schildkröte bedeuten soll, vor. Bedeutungserweiterungen sind seltener, z.B. im Fall der Erweiterung von „bombo" von der speziellen Bedeutung „Injektionsnadel" auf „Fangzahn". Bedeutungsverschiebungen reichen bis zu metaphorischen Übertragungen, etwa, wenn die Metapher des englischen Terminus „action spectrum" übernommen und „peteo" dafür gesetzt wird. Eine Bedeutungsverschiebung ist auch die Übertragung von „fusi" (= „Lehm") auf Zement oder die Übertragung von „chocheo" auf „Hormon". Eine eindeutige Metapher ist „kihero" für „Gehirnstamm", wobei die Übertragung durch die morphologische Form des Gehirnstammes bedingt ist. Wie weit Bedeutungsmodifikationen den Terminologisierungsprozeß beeinflussen, dürfte davon abhängen, wie weitgehend die Bedeutungsverschiebung ist. Im Fall von „chocheo" für „Hormon" ist die Verschiebung sicherlich irreführend, da nicht alle Hormone „Anreizer" sind. In den angegebenen Beispielen wird nicht sichtbar, wann ein verfügbares Swahiliwort bewußt nicht bei der Prägung eines wissenschaftlichen Terminus verwendet wurde. Ein illustratives Beispiel für diesen Prozeß ist die Prägung für das Wort „albino", die dem Muster der Ableitung aus verfügbaren Sprachwurzeln folgt: albino
m - gwagwajuk - o wörtl.: einer, der sich kratzt Nominalklasse sich kratzen Nominalisierungssuffix
Das ausgewählte Merkmal entstammt einem Nebensymptom, der blätterigen Haut von Albinos, die Juckreiz verursacht. Im Swahili existierte vor dieser Neuprägung ein Wort für „albino", nämlich: zeru - zeru weiß - weiß
wörtl.: Weißer
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Dieses Wort wurde auch für geistig Behinderte gebraucht, wobei für beide Klassen von Menschen der Bezeichnung die Ansicht zugrunde lag, daß sie durch Unterschieben eines Wechselbalgs durch böse Geister oder durch Empfängnis während der Menstruationszeit einer Frau entstanden seien. Albinos wurden in der präkolonialen Zeit in speziellen Wäldern ausgesetzt. Es ist offensichtlich, daß dieser stark vorbelastete Terminus nicht fur die Prägung eines neutralen wissenschaftlichen Terminus in Frage kam. Bei einer Fortführung des Projekts soll berücksichtigt werden, ob vor der Prägung eines neuen Terminus alternative Wörter im Swahili vorhanden waren und warum sie nicht berücksichtigt wurden.
3 Vorläufige Untersuchung zum domänenspezifischen Grad des Akzeptierens neugeprägter Termini Zur Untersuchung domänenspezifischer Formen der Terminologisierung wurden aus dem verfügbaren Material aller seit 1934 neugeprägten Termini die vom „Department of Swahili" im Jahr 1976 herausgegebenen für Schulbücher der Sekundarstufe verbindlichen Wortlisten für die Fächer „National Assembly/Parliament", „Commerce and Economics", „Science", „Library and Bindery", „Geography" und „Language Science" fünf Studenten und Dozenten der Universität Dar es Salaam aus den jeweiligen Fächern vorgelegt. Sie wurden für jeden Terminus gefragt: 1. Kennen Sie dieses Wort? 2. Können Sie das Wort auf Englisch übersetzen? 3. Verwenden Sie das Wort? Die Ergebnisse waren für die einzelnen Domänen: „National Assembly /Parliament " 1 Befragte Personen: 2 270 269 bekannt übersetzt 268 267 264 verwendet 266 Zahl der Wörter in der Liste: 274
3 271 270 268
4 270 270 269
5 271 269 267
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Prozentzahlen: bekannt übersetzt verwendet Mittelwerte: bekannt: übersetzt: verwendet:
1 98,52 98,51 96,35
2 98,17 97,44 97,07
3 98,87 98,52 98,51
4 98,52 98,52 98,17
5 98,87 98,17 97,44
(in Prozenten) χ = 98,19; Ζ = 98,87, Modalwerte = 98,52, 98,87 χ = 96,63; Ζ = 97,44, Modalwert = 98,52 χ = 95,90; Ζ = 96,35;
Durchschnittliche Abweichung: (in Prozenten) bekannt: e = 0,40 übersetzt: e =1,60 verwendet: e =1,60 „ Commerce and Economics " Befragte Personen: bekannt übersetzt verwendet
1 419 417 411
2 417 413 409
3 420 418 413
4 416 411 410
5 421 414 411
Zahl der Wörter in der Liste: 438 Prozentzahlen: bekannt übersetzt verwendet Mittelwerte: bekannt: übersetzt: verwendet:
1 95,66 95,20 93,83
2 95,20 94,29 93,37
3 95,89 95,43 94,29
(in Prozenten) χ = 95,56, Ζ = 95,66 χ = 94,65, Ζ = 94,29 χ = 93,78, Ζ = 93,60
Durchschnittliche Abweichung: (in Prozenten) bekannt: e = 0,38 übersetzt: e = 0,52 verwendet: e = 0,24
4 94,97 93,83 93,60
5 96,11 94,52 93,83
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Probleme des Sprachausbaus in Entwicklungsländern
„Science"
Befragte Personen: bekannt: übersetzt: verwendet:
1
2 78 75 75
80 78 77
3 81 78 73
4 79 76 75
5 83 79 77
4 82,29 79,16 78,12
5 86,45 82,29 80,20
4 113 110 108
5 115 112 110
4 92,62 90,16 88,52
5 94,26 91,80 90,16
Zahl der Wörter in der Liste:: 96 Prozentzahlen: bekannt: übersetzt: verwendet:
1 83,33 81,25 80,20
2 81,25 78,12 78,12
3 84,37 81,25 76,04
Mittelwerte: (in Prozenten) bekannt: χ = 83,53, Ζ = 82,29 übersetzt: χ = 80,41, Ζ = 81,25 verwendet: χ = 78,53, Ζ = 76,04 Durchschnittliche Abweichung: (in Prozenten) bekannt: e =1,49 übersetzt: e =1,45 verwendet: e = 0,99 „Library and Bindery "
Befragte Personen: bekannt: übersetzt: verwendet :
1 115 112 110
2 113 111 111
3 116 114 112
Zahl der Wörter in der Liste:: 122 Prozentzahlen: bekannt: übersetzt: verwendet:
1 94,26 91,80 90,16
2 92,62 90,98 90,98
3 95,08 93,44 91,80
102 Mittelwerte: bekannt: übersetzt : verwendet:
Werner Kummer
(in Prozentzahlen) χ = 93,76, Ζ = 92,62 χ = 91,63, Ζ = 91,80 χ = 90,32, Ζ = 90,16
Durchschnittliche Abweichung: (in Prozenten) bekannt: e = 0,92 übersetzt: e = 0,85 verwendet: e = 0,82 „ Geography "
Befragte Personen: bekannt: übersetzt : verwendet:
1 154 152 150
2 152 151 149
3 155 153 152
4 151 148 142
5 156 152 149
4 84,35 82,68 79,32
5 87,15 84,91 83,24
4 101 73 52
5 107 68 48
Zahl der Wörter in der Liste: 179 Prozentzahlen: bekannt: übersetzt: verwendet: Mittelwerte: bekannt: übersetzt: verwendet:
1 86,03 84,91 83,79
2 84,91 84,35 83,24
3 86,59 85,47 84,91
(in Prozenten) χ = 85,90, Ζ = 84,35 χ = 84,46, Ζ = 84,91 χ = 82,90, Ζ = 83,79
Durchschnittliche Abweichung: (in Prozenten) bekannt: e = 0,94 übersetzt: e = 0,76 verwendet: e =1,43 „Language
Science"
Befragte Personen: bekannt: übersetzt: verwendet:
1 107 87 56
2 105 79 63
3 106 82 75
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Probleme des Sprachausbaus in Entwicklungsländern
Zahl der Wörter in der Liste: 184 Prozentzahlen: bekannt: übersetzt: verwendet: Mittelwerte: bekannt: übersetzt: verwendet:
1 58,15 47,28 30,43
2 57,06 42,93 34,23
3 57,60 44,56 40,76
4 54,89 39,67 28,26
5 58,15 36,95 26,08
(in Prozenten) χ = 57,17, Ζ = 57,06 χ = 42,27, Ζ = 42,93 χ = 31,95, Ζ = 28,26
Durchschnittliche Abweichung: (in Prozenten) bekannt: e = 0,95 übersetzt : e = 3,17 verwendet: e = 4,43
Auswertung der Ergebnisse: Die Untersuchung zum domänenspezifischen Grad des Akzeptierens neugeprägter Termini hat einen vorläufigen Charakter speziell deshalb, weil das untersuchte sample von fünf Informanten pro Domäne für eine endgültige Bewertung des domänenspezifischen Terminologisierungsprozesses zu klein ist. Dennoch ist das sample repräsentativ, da es die hauptsächlichsten Verwender der domänenspezifischen Termini, Wissenschaftler und zukünftige Lehrer, erfaßt. Eine größere Personengruppe konnte während der „pilot study" wegen des knappen Zeitbudgets nicht untersucht werden. Die Ergebnisse zeigen, daß sich die Domänen im Akzeptierungsgrad neuer Termini signifikant unterscheiden; der höchste Akzeptierungsgrad findet sich für das politische Vokabular aus dem Bereich „National Assembly/Parliament", für den durchschnittlich 98,19% bekannt sind, 96,63% von den Informanten übersetzt werden können und 95,90% nach ihren Angaben von ihnen auch verwendet werden. Dabei sind die Maße für die Bekanntheit und die Ubersetzbarkeit Fähigkeitsmaße, während das Maß für die Verwendung eine subjektive Einschätzung der Informanten ist, die sich von ihrer wirklichen Verwendung der Termini signifikant unterscheiden kann. Während der ausführlichen Projektphase
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Werner Kummer
sollen Tests entwickelt werden, die die Überprüfung der konkreten Verwendung von Termini erlauben und dadurch eine Korrektur der subjektiven Einschätzungen der Informanten möglich machen. Zur Erklärung des ausnehmend hohen Akzeptierungsgrades für politisches Vokabular, der auch interpersonell nicht stark variiert, (die durchschnittlichen Abweichungen liegen alle unter zwei Prozent) kann man verschiedene Faktoren heranziehen. Zunächst gilt, daß das politische Vokabular seit dem Kampf um die Unabhängigkeit den Zentralbereich der von der TANU geleisteten Standardisierung von Swahili zur Nationalsprache bildet. Es wurde durch politische Reden, Medien und Kampagnen fest im Volk verankert. Zusätzlich werden an „secondary schools" alle Fächer, die sich mit der sozialen und politischen Struktur von Tansania beschäftigen, bereits jetzt auf Swahili unterrichtet. Ein weiterer Faktor, der den hohen Akzeptierungsgrad erklären kann, ist die besondere politische Interessiertheit von Dozenten und Studenten, zu denen die Informanten zu zählen sind. Etwas weniger hoch sind die Prozentzahlen im Bereich „Commerce and Economics", doch liegen sie noch immer signifikant über den Zahlen für die übrigen Domänen. Die Mittelwerte für die Bekanntheit mit den Termini sind 95,56%, für die Übersetzbarkeit 94,65% und für die Verwendung 93,78%. Dabei ist der Akzeptierungsgrad interpersonell noch homogener als im Berich „National Assembly/Parliament". Wiederum können für dieses Ergebnis mehrere Gründe angegeben werden. Wie das politische Vokabular wurde das ökonomische Vokabular weitgehend mit dem Unabhängigkeitskampf und dem ökonomischen Aufbau des Landes geprägt und auf informellen Kanälen über die Medien, ökonomische Broschüren und andere Informationskanäle in der Bevölkerung verbreitet. Generell gilt für Tansania, daß der Grad der Bewußtheit für ökonomische Planungsprozesse in der Bevölkerung sehr hoch ist; das gilt wiederum speziell für die untersuchte Menschengruppe von Studenten und Dozenten. Das naturwissenschaftliche Vokabular der „science" Liste wird wesentlich weniger akzeptiert als das Vokabular von Politik und Wirtschaft. Die Durchschnittswerte liegen bei 85,90% für Bekanntheit, 84,91% für Übersetzbarkeit und 82,9% für Verwendung. Allerdings ist die interpersonelle Übereinstimmung wiederum sehr hoch (alle e - Werte liegen unter zwei Prozent). Die Werte zeigen den momentanen Stand der Entwicklung naturwissenschaft-
Probleme des Sprachausbaus in Entwicklungsländern
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liehen Vokabulars für das Swahili deutlich auf: einerseits ist das Vokabular meist ein wissenschaftliches Grundvokabular, das für elementare Schulbücher bestimmt ist und in vielen Punkten am Alltagsvokabular angelehnt ist. Daraus dürfte der verhältnismäßig hohe Prozentsatz des Akzeptierens dieser Termini resultieren. Andererseits ist das wissenschaftliche Vokabular nicht so intensiv durch Kampagnen und Medien verbreitet worden wie das politische und ökonomische Vokabular; daraus dürfte der gegenüber diesen Bereichen geringere Akzeptierungsgrad resultieren. Es ist abzuwarten, welche Akzeptierungswerte ein Unternehmen wie das Wörterbuch biologischer Begriffe nach seinem Abschluß erreichen wird. Die Zahlen über „Library and Bindery", die in allen Indikatoren des Akzeptierungsgrades über denen für das „Science" - Vokabular liegen und interpersonell sehr homogen sind, dürften auf die Vertrautheit der untersuchten Gruppe speziell mit Fragen des Bibliothekswesens zurückgehen. Es ist bezeichnend, daß ebenso wie im Bereich der Naturwissenschaften sich diese Termini gegen die konkurrierenden englischen Termini so weit durchgesetzt haben, daß sie allgemein bekannt sind, übersetzt werden können und nach Aussage der Informanten auch angewandt werden. Auf interessante Weise weichen die Ergebnisse für „Language Science" von den bisher untersuchten Domänen ab. Sie sind deshalb von besonderer Wichtigkeit, weil sie die Schwierigkeiten eines spezialisierten Wissenschaftsvokabulars beim gegenwärtigen Ausbau des Swahili zur Nationalsprache widerspiegeln. Von den in der Liste enthaltenen Termini werden durchschnittlich nur 57,17% von den Informanten gekannt, weniger als die Hälfte (42,27%) können übersetzt werden und nur ein Drittel wird nach Angaben der Informanten von ihnen verwendet. Dabei gibt es signifikante Unterschiede zwischen den Informanten speziell im Bereich der Übersetzbarkeit (e = 3,17) und im Bereich der Verwendung (e = 4,43). Zur Interpretation dieses Befunds muß berücksichtigt werden, daß die Befragten im Bereich der Sprachwissenschaft speziell qualifiziert waren und daher die Zielgruppe für die neugeprägten Termini dieser Domäne darstellen. Für das Ergebnis dürften mehrere Faktoren verantwortlich sein: Erstens handelt es sich bei diesen Termini um echte Neuprägungen, die von Linguisten im „Swahili Department" bzw. im „Institute of Kiswahili Research" erarbeitet
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und dann durch den Weg über die Baraza offiziell eingeführt wurden. Für diese Termini gibt es also keine inoffizielle Verbreitung durch Medien oder andere Kanäle, wie sie für politisches und ökonomisches Vokabular charakteristisch war. Die Verbreitung über den offiziellen Prägungsweg scheint also wesentlich ineffizienter zu sein als die informelle Prägung und Verbreitung von Termini in den Praxisfeldern, in denen sie gebraucht werden. Zweitens ist gerade im Bereich der wissenschaftlichen Terminologie, die über das alltagssprachlich beeinflußte Grundvokabular hinausgeht, die Konkurrenz durch die internationalen Wissenschaftssprachen, speziell das Englisch, am größten. Beinahe die gesamte Ausbildung an der Universität, auch im Bereich der Sprachwissenschaft, geschieht auf Englisch, die Lehrbücher sind Englisch, und dadurch haben neugeprägte wissenschaftliche Termini auf Swahili momentan für Studenten und Dozenten nur einen geringen Gebrauchswert. Das spiegelt sich auch in der signifikanten Abweichung des Bekanntheitsgrads neuer Termini vom angegebenen Verwendungsgrad wider: während über die Hälfte der sprachwissenschaftlichen Termini den Informanten bekannt ist, verwenden sie nach ihren Angaben nur ein Drittel dieser Termini. Ein zusätzlicher Faktor, der die Einführung wissenschaftlicher Termini erschwert, ist die Prägungspräferenz, die arabischen Termini gegenüber englischen Termini zugemessen wird. Beinahe alle der nicht bekannten bzw. nicht verstandenen Termini sind Bezeichnungen aus der arabischen grammatischen und logischen Tradition, die von den Prägungsinstitutionen übernommen wurden. Für die Gruppe der Wissenschaftler ist jedoch der Kontakt mit arabischer Tradition (außer für die kleine Gruppe der arabisch erzogenen sheiks) so gering, daß diese Termini für sie nicht transparent sind. Der Rückgriff auf das Arabische ist allerdings gerade im Bereich der Sprachwissenschaft besonders intensiv, während z.B. das Biologiewörterbuch so gut wie keine arabischen Termini enthält. Insgesamt weist ein Vergleich des domänenspezifischen Akzeptionsgrades auf die Wichtigkeit der Einführung neuer Terminologien im Zuammenhang mit informellen Verbreitungsformen hin, während sich der offiziell institutionalisierte Prägungsweg für wissenschaftliches Vokabular als nicht sehr fruchtbar herausstellt.
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4 Bemerkungen zur Entwicklung der Terminologieprägung seit der Gründung des „Interterritorial Language Committee" Seit der Gründung des „Interterritorial Language Committee" 1934 wurden die vom Komittee vorgeschlagenen Neuprägungen in seinem „Bulletin", das später zur Zeitschrift „Swahili" umgetauft wurde, veröffentlicht, und Probleme der Terminologieprägung wurden in dieser Zeitschrift wissenschaftlich reflektiert. Daneben verlief der außerinstitutionelle Prozeß der Terminologieprägung in Medien, politischen Reden etc., auf den die Linguisten mit Sammlungen solcher Termini reagierten. Es ergibt sich die Frage, ob sich seit der Gründung des Komittees relevante Unterschiede in den Strategien der Terminologieprägung feststellen lassen. Außerdem ergibt sich die Frage nach dem Akzeptierungsgrad älterer vom Komittee vorgeschlagener Prägungen und dem Vergleich dieses Grades mit dem Akzeptierungsgrad informell geprägter Termini. Das umfangreiche Material erlaubte für die „pilot study" keine erschöpfende empirische Untersuchung der offiziellen Strategieformen und ihres Wirkungsgrades, doch konnten einige Ergebnisse aus Teilstudien gewonnen werden. Verhältnismäßig gut untersucht ist die Einführung von neuem politischem Vokabular seit der Unabhängigkeit, die in Aufsätzen wie „The Development of Political Vocabulary in Swahili" von C.W. Temu (Swahili 41/2, September 1971), „Swahili Vocabulary Expansion: A Preliminary Observation" (Swahili 44/1, March 1975) und R. Ohly „The Conception of State through Swahili" (Swahili 45/1, March 1976) behandelt wird. Vergleicht man die von Temu angegebene Liste politischer Termini, die er speziell aus den Zeitschriften „Kiongozi" (1954 - 1971), „Baraza" (1954 - 71) und „Uhuru", ebenso wie aus Übersetzungen der Werke von Mao und Lenin zusammengestellt hat, mit den Terminologievorschlägen des „Bulletins" vor der Unabhängigkeit, dann ergibt sich, daß beinahe alle momentan gültigen politischen Termini erst nach der Unabhängigkeit Tansanias geprägt worden sind. Die Neuprägung geschah dabei entsprechend den untersuchten Typisierungen als „Quasidefinition" (Temu: „Composition"), „Ableitung" (Temu: „Derivation"), „Übernahme" (Temu: „Borrowing") oder „Bedeutungsmodifikation" (Temu: ). Beispiele für verlorengegangene Prägungsvorschläge des „Bulletin" vor der Unabhängigkeit sind:
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independence ujitoshelezo to be independent kujitosheleza petition aridhihadi public jamhuri to address a meeting linganga appeal lingania society mainganio (aus Bulletin Nr. 12 und Nr. 13) Die Termini waren sowohl Informanten an der Universität unbekannt, als auch in den Wörterbüchern von F. Johnson und H. Höftmann nicht aufgenommen. Das Grund Vokabular, das im politischen Bereich während der Unabhängigkeitsbewegung geprägt wurde, verwendet meist ältere Termini des Swahili, deren Bedeutung modifiziert wird. Dieser Prozeß läßt sich anhand eines Vergleichs der gegenwärtigen Bedeutung mit den Einträgen in Steere/Madans „Handbook of the Swahili Language" (6th edition 1903) illustrieren. Beispiele: gegenwärtige Bedeutung Steere/Madan chama baraza
Partei Rat, Komittee
bepari taifa endelea
Kapitalist Staat sich entwickeln
hadhara mpinga kodi kundi
Öffentlichkeit Opponent Steuern Gruppe, Partei
kupe kura makamu maongozi mapinduzi mjumbe mrija
politischer Parasit Wahl Vizepräsident Manifest Revolution Delegierter Ausbeuter
„a club, guild, band of people" „a stone seat or bench table..., where the master sits in public and receives his friends" „tradesman" „a tribe" „to go either backward or forward" „in front of, before" „one, who blocks the way" „rent" „a crowd, a herd, many together" „a tick, a cattle tick" „a lot" „justice", „judge" „conversation", „amusement" „turning upside down" „messenger" „a small kind of reed used for drinking with"
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mseto
Koalition
mtetezi
Politiker
mtoro raia kiwango
Flüchtling Bürger Quorum
kumbukumbu
Protokoll
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„a sort of food, a mixture of mtama and chooko" „a quarrelsome litigious person" „a runaway" „inhabitant" „a number, position in the world" „a memorial, a mention"
Für Termini, die während des Befreiungskampfes oder seither durch Bedeutungsmodifikation aus bestehenden Termini abgeleitet wurden, ist der Terminologisierungsprozeß so weit abgeschlossen, daß ihre vorterminologische Bedeutung meist nicht mehr bekannt ist. Eine andere Gruppe politischer Termini wurde aus dem vorrevolutionären Wortschatz übernommen; dabei handelt es sich nur in wenigen Fällen um Übernahmen aus der englischen Kolonialverwaltung, nie um Übernahmen aus der deutschen Kolonialzeit. Einige Beispiele für Übernahmen aus dem Englischen sind : ajenda Agenda kamati Komittee dikteta Diktatur hedikwota „headquarter" kada Kader leba „labour" spika „speaker" voti „vote" digrii „degree" pasenti Prozent bonasi Bonus data Data cheki Scheck kadi za leja „ledger cards" kamishna „commissioner kampuni „company" katalogi Katalog In den meisten Fällen stammt übernommenes politisches und ökonomisches Vokabular jedoch aus dem Arabischen, entsprechend der Tradition, daß die ersten Staatsbildungen und die ersten Fern-
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handelsverbindungen im swahilisprechenden Raum von den arabischen Sultanaten auf Sansibar und an der Küste von Kenia und Tansania gebildet wurden. Speziell nach der Unabhängigkeit Tansanias galt das Englische als Kolonialsprache, während das Arabische als Teil der eigenen Tradition betrachtet wurde. Daraus ergab und ergibt sich eine Bevorzugung des Arabischen selbst dort, wo es eingeführte und akzeptierte englische Lehnwörter gibt. Ein typisches Beispiel für die Bevorzugung des Arabischen ist die im Jahr 1975 erfolgte Umbenennung aller Ämter, in der englische Lehntermini durch arabisierte Termini ersetzt wurden. 15 Ein anderes Beispiel dafür, das noch genauer untersucht werden soll, ist die Übernahme der arabischen grammatischen, rhetorischen und logischen Terminologie in den offiziellen Sprachgebrauch, obwohl diese Terminologie den mit englischen Schulbüchern erzogenen Studenten fremd ist. Wie zentral der arabische Einfluß auf das politische und ökonomische Vokabular ist, zeigen folgende Beispiele: serikali mamlaka mahakama haki hotuba fedha karatasi kitabu baraza taarifa askari dunia shughuli tabia amana ankra baki biashara bidhaa
Regierung Macht, Autorität Gericht Recht Rede Finanzen Papier Buch Staat Bericht Soldat Welt Beschäftigung Verhalten Geldeinlage Rechnung Kontostand Handel Ware
15 Für den Bereich der Universität ist dieser Prozeß dokumentiert in: M.M. 'R. Alidina, The Switch-over to Swahili, Swahili 45/1,1975.
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Versicherung Kasse Kredit Bürgschaft Schulden Profit Zoll Kosten Verlust Dokument Rechnung Konto Monopol Staat Öffentlichkeit Bargeld
bima taslimu dai dhamana dhima faida forodha gharama hasara hati hawala hesabu hodhi taifa umma taslimu
Die Bevorzugung arabischer Terminologie im Bereich von Politik und Wirtschaft zeigt sich auch darin, daß beim Vorhandensein von Dubletten der arabische Term offiziell eingeführt wurde und wird. Beispiele: engl. arab. cheki hundi Scheck ovataimu ajari Überstunden pasenti asilimia Prozent stoo bohari Kaufhaus (Gujarati) ajenti wakala Agent Ein weiteres Indiz für den gegenwärtigen Kurs, das politische und ökonomische Vokabular zu arabisieren, sind die Aussagen der fünf Informanten, die bezüglich der neuen Termini in diesen beiden Bereichen befragt wurden. Die Frage, die ihnen bezüglich der arabischen Termini gestellt wurde, war: Haben Sie dieses Wort schon einmal in dieser Verwendung gesehen? Die „Nein"-Antworten geben einen guten Überblick über den Grad an Arabisierung von politischem und ökonomischem Vokabular: Nein-Antworten I II
2 13
im Bereich „National Assembly 3 13
4 12
¡Parliament": 5 13
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Gesamtzahl der Wörter in der Liste : 214 Nein-Antworten 1 28
2 31
im Bereich „Commerce and Economics": 3 32
4 29
5 28
Gesamtzahl der Wörter in der Liste: 438 Die meisten der arabischen Termini, die die Informanten zum ersten Mal im politischen oder ökonomischen Kontext sahen, waren ihnen ohne Erklärung generell unbekannt, andere hatten sie in anderen Zusammenhängen schon gehört. Als Beleg für die Arabisierungstendenz soll noch eine andere Domäne, die des sprachwissenschaftlichen Vokabulars, wie es in der Wortliste „Sayansi ya Lugha" niedergelegt ist, angeführt werden. Die fünf Informanten aus diesem Gebiet kannten von den 184 Wörtern dieser Liste jeweils nicht: 1 77
2 79
3 78
4 83
5 77
(vgl. Tabelle auf S. xxx) Von diesen Termini waren arabischer Prägung: 1 65
2 71
3 68
4 79
5 74
4 95,18
5 96,10
In Prozentzahlen angegeben: 1 84,41
2 89,87
3 87,17
Mittelwerte: χ = 90,54, Ζ = 89,87 Durchschnittliche Abweichung: (in Prozent) e = 4,07 Die arabischen Termini sind also bei einer durchschnittlichen Abweichung von etwa 4% für mehr als 90% der unbekannten Termini in dieser Domäne verantwortlich.
Probleme des Sprachausbaus in Entwicklungsländern
113
Ein Informant wurde über die Frage nach der Bekanntheit hinaus gebeten, ihm bekannte alternative Termini für die in der Liste vorgeschlagenen Termini anzugeben, falls er sicher sei, daß diese von ihm angegebenen Termini auch von anderen für die Domäne qualifizierten Leuten verwendet werden. Das Ergebnis war: Listenterm dondoa dondoo fasaha heba hekaya hurafa ibara intonesheni irabu isimu ya lugha kariri kawaida ya lugha kipokeo 1 ahaja lugha mshabaha mahubiri mandhari mashara maudhui methali mlango muswada mzungu wa mila pembezoni nathari riwaya shadda sira tabaini tahijia tanbihi tarihi tarijama
Informantenalternative(n) kwoti kwoteshan fasihi personaliti mifano hadithi paragrafi sauti vokali sayansi ya lugha kwoti sistemi ya lugha kiitikio lugha lugha mfanano hotuba kitenda mzaha yaliomo fumbo sura mfumo ibada nafasi prozi hadithi mkuza wa sauti maisha kinyume kuendeleza futnot historia maisha yangu
Bedeutung to quote quotation literature personality parable fable paragraph intonation vowel linguistics quote system of language refrain dialect allied languages sermon act (drama) pun content proverb chapter draft ritual margin prose novel stress biography antithesis spelling footnote chronicle autobiography
114
Werner Kummer
Listenterm
Informantenalternative
Bedeutung
tashibihi sherehe waadhi
mfano ufafanuzi hotuba
simile exposition homily
Insgesamt gab der Informant 36 alternative Termini an, die aufgegliedert werden können in: Ersetzung eines arabischen Terms durch einen Swahiliterm : 20 (55,55%) Ersetzung eines arabischen Terms durch einen Englischen: 10(27,77%) Ersetzung eines arabischen Terms durch einen deutschen: 1 (2,77%) Ersetzung eines arabischen Terms durch einen arabischen:2 (5,55%) Ersetzung eines englischen Terms durch einen Swahiliterm: 1 (2,77%) Ersetzung eines Swahiliterms durch einen Swahiliterm: 2 (5,55%) Die Daten zeigen, daß in über fünfzig Prozent der Fälle ein alternativer Swahiliterm zumindest für den Informanten vorhanden ist, und daß es in über 25% der Fälle zum unbekannten arabischen Terminus einen bekannten englischen Term gibt. Umgekehrt kommt kein Fall vor, in dem ein Swahiliterm durch einen arabischen Term ersetzt wird und nur einmal wird ein englischer Term durch einen Swahiliterm ersetzt. Diese Zahlen sind ein deutlicher Hinweis auf die Arabisierungspolitik zumindest in der Domäne der Sprachwissenschaft. Es sollen noch kurz einige spezielle Probleme der Prägung von politischen Termini seit der Unabhängigkeit angeschnitten werden. Eine ausführliche Diskussion des Terminologisierungsprozesses für den politischen Bereich findet sich in der ausgezeichneten und umfangreichen Arbeit von R. Ohly: „The Development of Swahili Political Terminology", (manuscript, Dar es Salaam 1976). Spezielle Probleme der politischen Termprägung schaffen die Quasidefinitionen und Ableitungen aus Swahiliwurzeln, da sie häufig metaphorisch sind oder in den ausgewählten begrifflichen Merkmalen von den wesentlichen Merkmanien, die in die wissenschaftliche Definition des Terms eingehen, abweichen. Umgekehrt haben sie wegen ihrer Eindringlichkeit und Nähe zur Erfahrung
115
Probleme des Sprachausbaus in Entwicklungsländern
einen großen mobilisierenden Effekt während und nach dem Befreiungskampf gehabt. Momentan gibt es einen lebhaften Disput zwischen den „Anhängern" der eingeführten Termini und den Vertretern, die eine Neuordnung und wissenschaftliche Fundierung des politischen Vokabulars, das die Grundlagen des tansanianischen „African Socialism" adäquat ausdrücken soll, fordern. Um die Probleme, die diesem Disput zugrundeliegen, aufzuzeigen, sollen einige Beispiele für Quasidefinitionen und Ableitungen im politischen Vokabular angegeben werden: u -jamaa Abstraktklasse
wörtl. Großfamilienartigkeit Großfamilie
Sozialismus
ki - bepari Nominalklasse
wörtl. Ziegenbockartigkeit Ziegenbock
Imperialismus
Kapitalist
tajiri reicher Händler wörtl. Reichtum Reichtum
Kapital
m - taji Nominalklasse u - nyonya -ji Abstrakt
wörtl. das Saugen saugen Nominalklassensuffix
Ausbeutung
m - zao Nominalklasse
Kind, Produkt
Ware
kiasi Maß
wörtl. Maß
Wert
mashindano Nominalklasse
wörtl. Besiegung besiegen
Konkurrenz
kujilimbikiza wachsen lassen
wörtl. wachsenlassen
akkumulieren
ku - shirikiana Inf. teilen
wörtl. Teilen
kooperieren
116 ki - wanda Nominalklasse
Werner Kummer
wörtl. Arbeitsstelle Arbeitsboden
Fabrik
kabaila wörtl. hochgeborener Mensch hochgeborener Mensch
Ausbeuter
mali Reichtum
Eigentum
wörtl. Reichtum
ku - to - fungamana wörtl. Sich nicht verwickeln Inf. Neg. sich verwickeln
Blockfreiheit
m - badilisha - ji Nominalklasse
Revisionist
wörtl. Veränderer verändern Nominalsuffix
Die meisten dieser Termini sind transparent, doch längere empirische Untersuchungen wären nötig, um festzustellen, wie weit der Terminologisierungsprozeß für sie fortgeschritten ist. Auf jeden Fall gibt z.B. das Merkmal „to bully", das in der Metapher „Ziegenbock" für „Imperialismus" steckt, kein unbedingt wesentliches Merkmal des Imperialismus an. Ebenso ist nicht jeder reiche Händler ein Kapitalist und nicht jeder Kapitalist ein reicher Händler, wie die Bezeichnung „tajiri" glauben macht. Auch nicht jedes „Produkt" ist eine „Ware" etc. Es bleibt jedoch der Diskussion in Tansania überlassen, wie weit durch den Terminologisierungsprozeß die Metaphern abgeschliffen sind, oder wie weit alternative Termini eingeführt werden sollen. In einigen Fällen wurden vom „Committee" bereits vor der Unabhängigkeit zentrale ökonomische Termini eingeführt, die jedoch nach der Unabhängigkeit durch neue ersetzt wurden. Beispiele: Kapital: vorgeschlagen: rasilmali heute: mtaji Dividende kipato cha shrika faida Im folgenden sollen noch einige Anmerkungen zur Terminologieprägung in anderen Domänen gemacht werden. Um den Akzeptierungsgrad von Prägungen des „Committee" zu testen, wurden einige Informanten über ihre Bekanntheit mit den Wörtern einer Liste von pädagogischen Termini aus dem „Bulletin" Nr. 16 befragt. Da ihre An Worten interpersonell gleich waren, brauchen sie nicht getrennt angeführt zu werden. Von insgesamt 33 Termini wurden
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Probleme des Sprachausbaus in Entwicklungsländern
nur 15 akzeptiert. Für die anderen Termini wurden alternative Varianten, die heute im Gebrauch sind, angegeben. Im einzelnen wurden vorgeschlagen: Informanten Committee ufundi wa kufundisha maarifa ya ustadiwa hamu nia ya kusikiliza kuwa msikilinze tabia maelekeo ya moyo uhusiano mahusiano kisomo cha lazima kusoma kwa sharti upimaji ukosowaji kupima kukosoa namna nidhamu maono simanzi hisia kujizuia (maono yake) kuficha hisia zake kutumia maarifa mawazo ya ubora kuwazia
maarifa mawazo bora kuwaza
Bedeutung art of teaching interest habits of thought relationship compulsory education criticism to criticize discipline emotions to control one's emotions experience high ideals imagine
Die Abweichungen der vom „Committee" vorgeschlagenen Liste von den Intuitionen des Informanten sind signifikant (mehr als 50%), doch wäre zu ihrer Überprüfung selbstverständlich eine umfangreichere empirische Untersuchung notwendig, die im Rahmen der „pilot study" nicht geleistet werden konnte. Die Arbeit in der „pilot study" konzentrierte sich auf gegenwärtige Projekte des „Institute of Swahili Research" und berücksichtigte die früheren großen Projekte zur Entwicklung spezialisierter Terminologien nicht. Die zentralen Projekte waren der Versuch eines wissenschaftlichen Lehrbuchs der politischen Ökonomie in: Peter Temu, Uchumi Bora, Nairobi, Oxford UP 1966 und ein großes Wörterbuch des „legal Swahili", das im Zusammenhang mit der Transposition des Justizapparats von Englisch auf Swahili entstand: Weston, A.B., Swahili Legal Terms, Dar es Salaam, Government Printing Office, 1969 Law in Swahili: problems in developing a national language, Swahili 35/2, 1965
118
Werner Kummer
Im Rahmen eines ausführlichen Projekts über die Entwicklung von Terminologien im Swahili müssen auch diese Werke behandelt werden.
Auswahlbibliographie Akida, H. (1975): Language for the coming Generation of the Scientific Age in Tanzania. In: Kiswahili 45/2,1975. Abdulaziz, M.H. (1971): Tanzania's national language policy and the Rise of Swahili political culture. In: W.H. Whiteley (ed.), Language Use and Social Change. London 1971. OUarr, William and Jean F. O'Bair (1976): Tanzania. In: Language and Politics. Mouton 1976. Ohly, R. (1976): The development of Swahili political terminology. Manuscript, Dar es Salaam 1976. Ohly, R. (1975): The conception of State through Swahili. In: Kiswahili 45 12,1975. Temu, W.C. (1973): The development of Political Vocabulary in Swahili. In: Kiswahili 43/1,1973. Temu, W.C. (1974): Swahili Vocabulary Expansion: A Preliminary Observation. In: Kiswahili 44/2,1974. Whiteley, W. (1969): Swahili: The Rise of a National Language. London 1969. Whiteley, W. (1971): Some factors influencing language policies in eastern Africa. In: J. Rubin and B. Jernudd (ed.), Can Language be Planned? Honolulu 1971. Whiteley, W. (ed.) (1976): Language in Kenia. Oxford UP 1976. Zeitschriften: Bulletin of the Interterritorial Language Committee, Nr. Iff, 1934ff Kiswahili, Journal of the Institute of Swahili Research Lugha Yetu, Zeitschrift der Baraza la Kiswahili la Taifa
Reinhard
Meyer-Hermann
Indikatoren des Therapie-Effekts in der Gesprächstherapie aus linguistischer Sicht Probleme und Perspektiven*
1 Motivationen Durch die im Auftrag des Deutschen Bundestages unternommene Enquête zur „Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland im November 1975 publiziert -, ist auch für die Allgemeinheit das (sicherlich nicht einmal ganze) Ausmaß einer katastrophalen Unterversorgung psychisch Kranker in der Bundesrepublik sichtbar geworden. Wieviele Personen von diesen Zuständen unmittelbar betroffen sind, soll durch wenige Zahlen verdeutlicht werden. Der Enquête zufolge war zum Zeitpunkt der Erhebungen jeder dritte Bundesbürger schon einmal psychisch erkrankt gewesen oder noch in psychiatrischer/psychotherapeutischer Behandlung. Die Zahl der psychischen Ersterkrankungen innerhalb eines Jahres liegt bei mindestens 600000 Personen. Angesichts der Tatsache, daß nahezu jeder Bundesbürger unmittelbar oder mittelbar (qua Eigenerkrankung oder Erkrankung bei Verwandten oder Bekannten) zum Betroffenenkreis gehört, erweist sich das Problem adäquater Therapie psychischer Erkrankungen/Beeinträchtigungen schon rein quantitativ als Frage, welche die Gesellschaft in der Bundesrepublik als ganze betrifft, d.h. als Frage von politischer Dimension. Qualitativ (inhaltlich) handelt es sich um eine politisch relevante Frage insofern, als das So-Sein der in der Bundesrepublik herrschenden sozio-ökonomischen Bedingungen zu den Ursachen für psychische Erkrankungen/Beeinträchtigungen zu zählen ist, wie selbst zurückhaltend argumentierende Forscher feststellen (vgl. Bommert 1977, 10). Von politischer Relevanz ist das Problem einer adäquaten psy*
Dies ist eine Uberarbeitete Version meines am 13.2.1980 vor der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld gehaltenen Habilitations-Vortrages. Mittel der Universität Bielefeld (O.Z.2369) ermöglichten mir den für eine Longitudinal-Studie nötigen Aufenthalt am Hospital de Sta. Maria (Lissabon).
120
Reinhard Meyer-Hermann
chiatrischen/psychotherapeutischen Versorgung der Bundesbürger schließlich auch in der Hinsicht, daß sich Adäquatheit der Therapie (Methoden) auch auf die letztlich durch die Gesellschaft zu bestimmenden normativen Therapi&-Ziele bezieht (vgl. dazu Greif 1976, Perrez 1976). Nach diesen kurzen Hinweisen auf die quantitativen und qualitativen politischen Dimensionen des Problems der psychiatrischen/ psychotherapeutischen Versorgung der Bundesbürger, dürfte ohne weitere Begründung klar sein, daß alle wissenschaftlichen Bemühungen um Verbesserung der Therapien, einschließlich der darauf bezogenen Effektivitätskontrolle, - in dem in diesem Band zugrundegelegten Sinne von „politisch" (vgl. das Vorwort des Herausgebers) - politisch relevant sind. Die nachfolgenden Darlegungen sind dem Bereich angewandter Linguistik zuzuordnen, insofern es - programmatisch - um die Frage geht, ob und in welcher Weise die Berücksichtigung bzw. Anwendung linguistischer Erkenntnisse zu einer Verbesserung von Gesprächspsychotherapie-Theorien und der (idealiter) daraus resultierenden Therapie-Praxis beitragen kann. Es soll die Frage erörtert werden, ob es sprachliche Indikatoren des Effekts von Gesprächspsychotherapie gibt und welche dies sind. Ich greife damit einen Teilaspekt der umfassenden Fragestellung auf, woran denn abgelesen werden kann, - durch die Involvierten und/oder durch Außenstehende -, ob die Aktivitäten, welche den Gesprächspsychotherapie-Prozeß als solchen konstituieren, eine Wirkung auf die Klienten der Therapie zeitigen, und von welcher Art diese Wirkungen sind. Um einen 7W/aspekt einer umfassenden Fragestellung geht es u.a. insofern, als die Interaktanten der Gesprächspsychotherapie im Rahmen derselben natürlich auch non-verbal interagieren, und der gesamte Bereich der damit zusammenhängenden Wirkungen und Effekte hier nicht berücksichtigt wird usw. Zweifelsohne handelt es sich jedoch um einen bedeutenden Teilaspekt, denn einerseits erfolgt Gesprächspsychotherapie weitgehend durch verbal-kommunikative Interaktionen; andererseits zielt Gesprächspsychotherapie - soweit überhaupt Therapiezielbestimmungen vorgenommen werden (können) - u.a. auch auf Modifikationen des verbal-kommunikativen Handelns der Klienten ab. Ein wesentlicher erster Schritt der konkreten Bearbeitung der Frage nach sprachlichen Indikatoren des Therapie-Effekts besteht
Indikatoren des Therapie-Effekts
121
in der Präzisierung der Fragestellung und damit verbunden einer Klärung einer Reihe von Begriffen, wie z.B. „Gesprächspsychotherapie", „sprachlicher Indikator", „Therapie-Effekt" usw. Doch bevor ich mich diesen Fragen zuwende, möchte ich einen kurzen Überblick über den Aufbau der nachfolgenden Ausführungen geben: — Wesentliches Ziel ist nicht die Darstellung von Ergebnissen aus einer empirischen Untersuchung, sondern die Darstellung der Komplexität der Probleme, welche es zur Beantwortung der Frage nach den sprachlichen Indikatoren des TherapieEffekts zu lösen gilt; diese Präzisierung der Fragestellung erfolgt in einer Auseinandersetzung mit repräsentativen Untersuchungen zu diesem Thema. — Weiterhin geht es darum zu zeigen, daß die Praxis der Gesprächspsychotherapie nicht unwesentlich durch teilweise abwegige linguistische Konzeptionen über die Funktionen sprachlicher Elemente determiniert ist, insofern Therapeuten dazu ausgebildet werden, sich nach Vorstellungen zu richten wie etwa der, daß die Verwendung von Substantiva als abzulehnendes „abstraktes" Reden, die Verwendung von Verba und Adjektiva dagegen als zu förderndes „konkretes" Reden gilt usw. Hier eröffnet sich ein Anwendungsfeld für linguistische Kenntnisse. — Im letzten Abschnitt möchte ich einige Argumente für eine Beschreibung des gesprächspsychotherapeutischen Prozesses in Interaktionsbegriffen, sowie für solche Therapiezielbestimmungen vorbringen, welche die einseitige Konzentration auf das „metaphysische Konstrukt" (vgl. Kröpf 1976, 83) „Selbstverwirklichung" überwinden und die gesellschaftliche Determiniertheit des als „gestört" empfundenen Handelns des Klienten berücksichtigen. Hieraus ergeben sich Konsequenzen für ein Forschungs-Design bzw. eine Versuchsanordnung, in deren Rahmen die Frage nach der Effektivität von Gesprächspsychotherapie und damit nach den sprachlichen Indikatoren von Therapie-Effekten sinnvoll gestellt werden kann.
2 Bestimmungen des Therapie-Effekts Als Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen soll die Definition von „Gesprächspsychotherapie" dienen, welche Tausch (1973, 15) gegeben hat: „Gesprächspsychotherapie ist eine bestimmte Art sprachlicher Kommunikation und sozialer Interaktion zwischen zwei oder mehreren Personen, meist Psychotherapeut (Psychologe, Psychiater, Helfer) und Klient genannt. Die sprachliche Kommunikation und soziale Interaktion wird wesentlich und zum Teil planmäßig gestaltet durch gewisse Verhaltensformen der Psychotherapeuten. Ziel der Kommunikation und Interaktion ist die Förderung-Änderung psychischer Prozesse des Erlebens und Verhaltens bei Personen (Klienten), die eine Verminderung ihrer seelischen Beeinträchtigungen durch bestimmte Änderungen ihrer seelischen Vorgänge wünschen. Die Änderungen treten ein auf Grund bestimmter Erfahrungen, Tätigkeiten und Prozesse der Klienten, ausgelöst durch die sprachliche Kommunikation und Interaktion mit dem Psychotherapeuten (Helfer). Art und Ausmaß der erstrebten Änderungen werden weitgehend von dem Klienten bestimmt." In der Definition Bommerts (1977, 11), welche offenkundig auf der von Tausch aufbaut, wird zusätzlich präzisiert, wodurch die angestrebte „Verminderung der vom Klienten erlebten psychischen Beeinträchtigungen" erreicht wird, nämlich durch eine „Neuorientierung des (der) Klienten im Erleben und Verhalten", welche nach Bommert eine „Folge differenzierter Selbst- und Umweltwahrnehmung" ist, die ihrerseits durch die „systematische, selektive und qualifizierte Form" der Kommunikation im Therapieprozeß eintritt. Aus diesen Definitionen, die im übrigen weniger Deskriptionen der Praxis als Postulate dessen, wie es sein sollte, darstellen, - man denke allein an die Aussage, daß es sich um „planmäßige" (Tausch) bzw. „systematische" (Bommert) Kommunikation handelt -, können die folgenden Variablen des gesprächspsychotherapeutischen Prozesses herauskristallisiert werden: (i) Ausgangsdisposition des Klienten Κ (z.B. als „psychische Beeinträchtigung" charakterisierbar) vor der ersten gesprächspsychotherapeutischen Sitzung. Diese Ausgangsdisposition manifestiert sich u.a. im Vollzug bzw. Nicht-Vollzug bestimmter verbalkommunikativer Interaktionstypen. Die Struktur des verbal-
Indikatoren des
Therapie-Effekts
123
kommunikativen Interagierens des Klienten Κ ist im Vergleich zu einer wie auch immer zu fixierenden Norm durch bestimmte Überrepräsentationen gekennzeichnet. Diese Variable ist eng mit dem Problem der „Indikation" der Gesprächspsychotherapie verknüpft, d.h. mit dem „Geeignetsein einer Maßnahme für einen bestimmten, zu verändernden Sachverhalt" (Clauß 1976, 242). Die Bestimmung der Ausgangsdisposition des Klienten Κ u.a. in Termini des verbal-kommunikativen Handelns ist die Bedingung der Möglichkeit von Aussagen über den Therapie-Effekt in Termini des verbal-kommunikativen Handelns. Diesò Notwendigkeit einer Diagnose hat bereits Tausch (1973) betont, im Gegensatz zum Begründer der sogenannten klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie, Rogers, der betont, daß eine psychologische Diagnose für die Therapie überflüssig sei und dem therapeutischen Prozeß eher abträglich sein könne (vgl. Rogers 1973, 208). Da indes Aussagen über das, was dem therapeutischen Prozeß nützt oder schadet, logisch nur auf der Basis einer Diagnose, d.h. Bestimmung der Ausgangsdisposition des Klienten K, möglich sind, ist derartigen Äußerungen Rogers keine Bedeutung beizumessen. Dennoch befindet sich die Indikationsforschung in einem Stadium, das Bommert (1977) zusammenfassend folgendermaßen charakterisieren muß: „Derzeit ist es nicht möglich, auf Grund psychologisch-diagnostischer Daten zu entscheiden, welche Art der Behandlung (z.B. Gesprächstherapie oder Verhaltenstherapie) für einen Klienten mit einer bestimmten Datenkonstellation indiziert wäre, da die zu derartigen Aussagen nötigen empirischen Grundlagen bisher fehlen" (Bommert 1977, 59). Dementsprechend gilt noch heute weitgehend, daß, wie Minsel (1975) feststellte, „bisher eigentlich keine Untersuchung wirklich den Nachweis psychotherapeutischer Behandlungswirksamkeit erbracht hat." (88) (ii) Therapieziel(e). In Tauschs Definition von Gesprächspsychotherapie wird diese Variable als „Förderung-Änderung psychischer Prozesse des Erlebens und Verhaltens" sowie der „Verminderung der seelischen Beeinträchtigung" des Klienten beschrieben. Klassisches Therapieziel der Rogers-Schule ist die dem Menschen vermeintlich angeborene Tendenz zur „Selbstverwirklichung". Operationalisierungen dieser und aller übrigen Therapiezielbestimmungen derart, daß aus ihnen das Handeln deduziert werden könnte, das zur Erlangung der Therapieziele dient, stehen noch
124
Reinhard Meyer-Hermann
aus. Das bedeutet in der Praxis der Gesprächspsychotherapie, daß z.B. das verbal-kommunikative Handeln des Therapeuten zwar bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt, auf die ich noch eingehe, jedoch in keinem erkennbaren Zusammenhang zum Therapieziel steht. Es sei, ohne daß ich hier näher darauf eingehen kann, angemerkt, daß anders, als es Konzepte wie „ Selbstverwirklichung" glauben machen wollen, keine psychologische Basis für Therapiezielbestimmungen existiert, sondern daß es letztlich um in einem Gesellschaftssystem gültige Normen, auch des verbal-kommunikativen Agierens, geht (vgl. dazu Perrez 1976, Zielke 1979). (iii) Das (verbal-kommunikative)
Handeln
des Klienten
Κ in der
Gesprächspsychotherapie (GT). Das (verbal-kommunikative) Handeln des Klienten ist weitgehend von der 4. Variablen, dem Handeln des Therapeuten in der Gesprächspsychotherapie abhängig, bzw. sollte dies sein, damit zutrifft, daß, wie Tausch (1973, 15) in der Definition von Gesprächspsychotherapie sagt, „die sprachliche Kommunikation ( . . . ) wesentlich und zum Teil planmäßig gestaltet [wird] durch gewisse Verhaltensformen des Psychotherapeuten." Die Planmäßigkeit des Handelns des Psychotherapeuten ist Voraussetzung dafür, daß danach gefragt werden kann, ob ein bestimmtes verbal-kommunikatives Handeln h^ des Klienten Κ zu einem Zeitpunkt t^ verschieden von einem bestimmten verbal-kommunikativen Handeln h¡ des Klienten Κ zu einem Zeitpunkt tj vor tjj ein Effekt der Therapie ist, d.h. ob es sich z.B. nicht um eine sogenannte „spontane Remission" handelt, oder ob andere Einflüsse als das Therapeutenhandeln die festgestellte Veränderung bewirkt haben. Planmäßiges verbal-kommunikatives Handeln des Psychotherapeuten sollte nach meinem Verständnis bedeuten, daß dieser bei Vorliegen einer Klientenäußerung a in der Situation s¡ im Hinblick auf unmittelbare und übergreifende Therapieziele auf Grund reliabler Kriterien, etwa Erkenntnisse der Lerntheorie, oder empirisch festgestellter Zusammenhänge, verbal-kommunikativ handelt. In der Psychotherapie-Theorie von Rogers wird angegeben, worüber der Klient sprechen sollte bzw. worüber zu sprechen, falls der Klient dies nicht oder unzureichend tut, der Psychotherapeut den Klienten bewegen sollte, nämlich — über seine augenblicklichen psychischen Prozesse, — über sich selbst,
Indikatoren des
Therapie-Effekts
125
— über seine Gefühle und Einstellungen zu den ihn belastenden Objekten/Personen, — über seinen psychischen Zustand im allgemeinen usw. All dies beispielsweise wird unter dem Stichwort „Selbstexploration des Klienten" zusammengefaßt. Es gilt die Hypothese, daß eine erfolgreich verlaufende Therapie daran zu erkennen ist, - hier haben wir die Indikator-Problematik —, daß die Klienten relativ häufiger über ihre augenblicklichen psychischen Zustände sprechen. Die durch die „Selbstexploration" eintretende Verminderung von psychischen Spannungen manifestiert sich im kommunikativen Handeln des Klienten etwa darin, daß die relative Frequenz von Worten, welche, wie es heißt, „Spannungszustände charakterisieren", abnimmt. Dies als Beispiel für die wenigen vorliegenden Versuche der Quantifizierung des Therapie-Effekts über Konzepte des verbal-kommunikativen Handelns der Klienten, die in einem Zusammenhang zur Therapie-Theorie stehen. Außerordentlich fragwürdig erscheinen mir demgegenüber, nicht wegen der Methode des rating als solcher, sondern wegen der darin enthaltenen Konzeptionen, insbesondere was „die Sprache" und ihre Funktionen anbelangt, die in der Praxis der Gesprächspsychotherapie üblichen Skalen zur Beurteilung/Bewertung des Klientenverhaltens und damit auch zur Messung des TherapieVerlaufs bzw. Therapie-Effekts. So wird etwa in Bommerts (1977, 89 ff) nach Schwartz (1975) aufgestellten Skala der „Einzelmerkmale des Klienten" im Merkmalsbereich , Zuwendung des Klienten zu seinem Erleben' von einem Gegensatz „sich differenziert äußern" (positiv bewertet) und „sich pauschal äußern" (negativ bewertet) ausgegangen; diese Unterscheidung wird durch die diffentiae „spezifische Begriffe" (etwa „ängstlich" und nicht „unwohl") vs. „unspezifische Begriffe" (etwa „unwohl" und nicht „ängstlich") näher erläutert. Ich zweifle an der Operationalisierbarkeit dieser und ähnlicher Unterscheidungen. In noch stärkerem Maße treffen diese Zweifel auf eine Skala zur Einschätzung und Bewertung der nächsten Variablen der Gesprächspsychotherapie-Definition zu, nämlich (iv) das (verbal-kommunikative) Handeln des Psychotherapeuten im Merkmalsbereich des sogenannten „einfühlenden Verstehens"
126
Reinhard Meyer-Hermann
(vgl. Bommert 1977, 74-77). Hier geht es um Gegensatzpaare wie „sprachlich inflexibel" vs. „sprachlich flexibel" mit Spezifizierungen wie „mechanisch wiederholend" vs. „vermeiden von Wiederholungen" oder „unbeholfen/ungeschickt" vs. „geschickte Formulierung" oder „stereotype Sprechweise" vs. „abwechslungsreiche Wortwahl". Andere nicht-operationalisierbare Gegensatzpaare dieser Einschätzskala sind weiterhin „abstrakt" vs. „konkret" mit den Unterkategorien „farblos" und „viele Substantive" vs. „plastisch" und „viele Verben und Adjektive", so daß eine TherapeutenÄußerung „das war für Sie eine Frustration" als zu „abstrakt" eingestuft würde, die Therapeuten-Äußerung „Sie fühlen sich da tief enttäuscht" als „konkrete" Formulierung positiv eingeschätzt zu werden hätte (vgl. dazu im einzelnen Schwartz 1975, in Brommert 1977, 74-77). Die Kriterien, welche diesen und ähnlichen Einschätzskalen zum verbal-kommunikativen Handeln des Psychotherapeuten zugrundeliegen, sind im übrigen auch für deren kommunikative Ausbildung maßgeblich. Hieraus ergeben sich fatale Konsequenzen für die Praxis der Gesprächspsychotherapie, worauf ich noch im nächsten Abschnitt eingehen werde. Hier zunächst ein Blick auf zwei Untersuchungen zur „Sprache" in der Gesprächspsychotherapie, nämlich Hiss/Minsel (1976) und Zielke (1979 a), die repräsentativ für die Art sind, wie in der Psychotherapieforschung die Sprache des Psychotherapieprozesses untersucht wird, sowie dafür, wie man nach meiner Auffassung „verbal-kommunikative Interaktion" — und nicht „Sprache" — im Therapieprozeß nicht untersuchen kann. Hiss/Minsel (1976) haben die, wie sie es nennen, „erfaßten Sprachmerkmale" in Haupt- und Unterkategorien unterteilt. Die Hauptkategorien werden zahlenmäßig ausgewertet, die Unterkategorien werden hinsichtlich bestimmter Merkmale beurteilt (vgl. dazu im einzelnen Hiss/Minsel 1976, 172f.). Hauptkategorien sind Wörter (Substantive, Verben, Bekräftigungs- und Empfindungslaute), wobei mit Bekräftigungslauten Elemente wie „gut", „prima", mit Empfindungslauten Rezeptions- und/oder Gliederungssignale wie „ah", „hm", „aha" usw. gemeint sind. Weitere Hauptkategorien sind Sätze und psychotherapeutische Reaktionen. Nach den Beurteilungskategorien zu urteilen (vgl. Absatz „Unterkategorien", Eintrag „psychotherapeutische Verhaltensweisen") scheinen Hiss/ Minsel mit letzterer Hauptkategorie so etwas wie verbal-kommunikative Interaktionstypen vor Augen zu haben, als da sind „Rat-
Indikatoren
des
Therapie-Effekts
127
schlag", „persönliche Stellungnahme", „Bewertung", „Verständnisäußerung" usw. Hier zeichnete sich eine m.E. erfolgversprechende Perspektive ab, welche die Autoren wohl nicht als solche erkannt, jedenfalls nicht weiter verfolgt haben. So ist es beispielsweise unverständlich und bedauerlich, daß sie dieses Sprachmerkmal bei den Klientenäußerungen nicht erhoben haben. Unverständlich ist auch, daß Hiss/Minsel die Tatsache der relativ niedrigen Frequenz der einzelnen Interaktionstypen in den ausgewerteten Stichproben von je 10 bzw. 5 Minuten zum Anlaß nehmen, dieses Merkmal nicht weiter zu berücksichtigen, anstatt die methodologische Konsequenz zu ziehen, die gängige Stichprobenauswertung durch eine lineare, prozessuale Auswertung des integralen verbal-kommunikativen Therapieprozesses zu ersetzen. Stattdessen korrelieren Hiss/Minsel die Frequenzen von tokens, deren kategorialer Status teilweise fragwürdig ist und zudem überwiegend in keinem erkennbaren Zusammenhang zu Therapiezielen steht. Dementsprechend enthalten die Ergebnisse dieser Korrelationsberechnungen unspezifische, für das kommunikative Interagieren im allgemeinen gültige Aussagen in verdächtiger Nähe zu Trivialität; z.B. „viel Sprechen (Wörter) des Klienten geht einher mit zahlreichen Empfindungslauten des Psychotherapeuten wie z.B. ah, hm, aha" (175); oder: „im mittleren Kontakt" [d.h. in der mittleren der drei ausgewerteten Stichproben] besteht die Beziehung „je mehr der Psychotherapeut spricht, um so weniger redet der Klient und umgekehrt" (175) usw. Bei seiner Untersuchung der Sprache von Klient und Psychotherapeut an Hand von 16 je 5-minütigen Stichproben aus erfolgreich abgeschlossenen Gesprächspsychotherapien geht Zielke (1979 a) von einem 13 Wortklassen umfassenden Kategoriensystem aus: Substantiv, Adjektiv, Vollverb, Hilfsverb, unbestimmter Artikel, bestimmter Artikel, Personal-Reflexiv-Possesssivpronomen, Relativ-Interrogativpronomen, Demonstrativpronomen, Indefinitpronomen, Adverbien, Fügewörter (Präpositionen, Konjunktionen), Interjektionen. An einem Beispiel demonstriert Zielke die Zuordnung der Kategorien zu sprachlichen Elementen (vgl. Zielke 1979 a, 4), ohne allerdings die Zuordnungskriterien offenzulegen. Nach Zielke ist die „Zuordnung durch grammatische Gesetze bestimmt (. . .), die kontrolliert und als richtig oder falsch klassifiziert werden kann" (4). Da ist Zielke weiter als die bisherige linguistische Forschung.
128
Reinhard Meyer-Hermann
Einige Beispiele dürften genügen, um zu zeigen, daß mit einem solchen, wie auch immer, jedenfalls nicht funktional definierten Kategoriensystem, für das Zielke auf Schmidt (1973) verweist, nichts anzufangen ist, und daß dementsprechend Zielkes umfängliche Berechnungen weitgehend wertlos sein dürften. Die Beispielsäußerungen sind: Therapeut: Ja, daß Sie das Gefühl haben, das stößt irgendwie ins Leere, was ich da mache. Klient: Ja, er ist einfach nicht mit, mit Argumenten zu fangen. Die Elemente „daß" und „ins" etwa werden von Zielke gleichermaßen in die Kategorie Fügewörter (Präpositionen, Konjunktionen) eingeordnet; „ins" müßte jedoch evidenterweise vor jeder kategorialen Zuordnung in seine Bestandteile „in" und „das" segmentiert werden, was im System Zielkes eine Zuordnung zu den Kategorien Fügewörter und bestimmter Artikel zur Folge hätte. Die Subsumtion von „ja" unter eine Kategorie Adverb zusammen mit Elementen wie „irgenwie", „da" und „nicht" dürfte es statistisch erschweren, wenn nicht unmöglich machen, die Besonderheit der Funktion des in initialer Position besonders der Therapeutenrede vorkommenden „ja" zu erfassen. Wozu dient im Hinblick auf die „seelische Beeinträchtigung des Klienten" die Unterscheidung zwischen Hilfsverb und Vollverb, und wie nimmt Zielke diese Unterscheidung vor, wenn er „ist" und „fangen" gleichermaßen unter die Kategorie Vollverb subsumiert? Dadurch, daß alle Personalpronomina gleichermaßen unter eine Kategorie subsumiert werden, kann die für den Therapieverlauf eventuell relevante Tatsache, ob der Klient z.B. von sich selbst, von seinem bzw. seinen Interaktanten oder von Dritten spricht, statistisch nicht erfaßt werden usw. Die Unzulänglichkeiten von Zielkes Untersuchung beruhen letztlich darauf, daß das verwendete Kategoriensystem zum Teil nicht nur nicht reliabel, sondern insbesondere auch nicht funktional definiert ist. Mit anderen Worten nur ein Kategoriensystem, das in der Lage ist, die kommunikative, interaktionale Funktion von Äußerungen, gleich welcher Segmentgröße, zu erfassen, — die Einheit „Wort" ist eine willkürliche, funktional nicht zu rechtfertigende Vorgabe —, kann als Basis für eine Untersuchung der Merkmale des verbal-kommunikativen Handelns der Interaktanten in der Gesprächspsychotherapie dienen. Abgesehen vielleicht
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von Ansätzen bei Labov/Fanshel (1977) und Goeppert/Goeppert (1979) — letztere sind einem etwas konservativen sprechakttheoretischen Modell verpflichtet —, liegen bisher noch keine Untersuchungen in der angedeuteten Richtung vor. Auf die letzten beiden Variablen des komplexen Prozesses „Gesprächspsychotherapie" möchte ich nur noch ganz kurz eingehen. Es handelt sich um (v) das verbal-kommunikative Handeln der anderen Klienten einer Gruppe«gesprächspsychotherapie, sei es in bezug auf den Therapeuten, sei es in bezug auf den Klienten, dessen verbal-kommunikatives Handeln im focus der linguistischen Analyse steht. Ein Beispiel: in von mir an der Universitätsklinik Lissabon durchgeführten Aufnahmen von Gruppengesprächspsychotherapie fordern Klienten andere Klienten dazu auf, ihre Scheu, sich überhaupt bzw. zu einem bestimmten Thema zu äußern, zu überwinden, mit dem Effekt, daß die Aufgeforderten sich äußern. Es wäre nun die Frage zu stellen, ob die im Sinne des Therapieziels positiv zu bewertende Tatsache, daß der aufgeforderte Klient kommunikativ interagiert usw., als ein Effekt der Therapie zu bewerten ist, da die eingetretene Verhaltensmodifikation des Klienten nicht auf eine planmäßige Intervention des Therapeuten zurückzuführen ist. (vi) Die äußeren Merkmale der Therapiesituation üben auf das verbal-kommunikative Handeln von Therapeut und Klienten einen Einfluß aus, z.B. Dauer und Häufigkeit einzelner Therapiesitzungen, Anwesenheit von Aufzeichnungsgeräten (Video und/oder Tonbandgerät), Ausstattung und Lage des Raums (in Lissabon wurde die Kommunikation durch den Lärm landender Passagierflugzeuge wiederholt minutenlang unterbrochen) usw. Zusammengefaßt kann nun die forschungsleitende Frage nach dem sprachlichen Indikator eines Therapie-Effekts so präzisiert werden: Bei welcher Ausgangsdisposition d^ eines Klienten K j wird im Hinblick auf welche Therapieziele ζ j , . . . , z n in welcher Therapiesituation s durch welche verbal-kommunikativen Handlungen h j , . . . , h des Therapeuten Τ und/oder von Klienten K2,. . . , K n welches verbal-kommunikative Handeln a des Klienten K j bewirkt, das sich von dem die Ausgangsdisposition d^ kennzeichnenden verbal-kommunikativen Handeln h unterscheidet? Daraus kann
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als Definition des Begriffs „sprachlicher Indikator eines TherapieEffekts" abgeleitet werden: Als sprachlichen Indikator eines Therapie-Effekts bezeichne ich ein solches verbal-kommunikatives Handeln bzw. Nicht-Handeln eines Klienten Κ zu einem Zeitpunkt t^ während oder t_ Q nach der Therapie, das sich von dem verbal-kommunikativen Handeln des Klienten Κ zu einem Zeitpunkt t p r vor der Therapie unterscheidet, und das als durch solche Interaktionen bewirkt empirisch nachgewiesen werden kann, welche im Rahmen der Therapiesitzungen vollzogen wurden. Ein solcher Nachweis kann etwa durch Serienbeobachtungen nachstehender Art erfolgen: wenn ein Therapeut Τ den Interaktionstyp a vollzieht, vollzieht ein Klient Κ in der Regel den Interaktionstyp b, usw. Damit verwende ich den Begriff „Indikator" hier in einem von Searle's Begriff des „illocutionary force indicating device" abweichenden Sinne; bei Searle wird duch die Verwendung beispielsweise eines performativen Verbs die kommunikative Funktion einer Äußerung indiziert. Demgegenüber verstehe ich unter Therapieeffekt ein Veränderungsmaß zwischen zwei states of affairs (im Sinne der von Wright'sehen Handlungstheorie), wobei die beiden relationierten states of affairs Beschreibungen der Struktur des verbal-kommunikativen Handelns des Klienten Κ zu den genannten Zeitpunkten t p r und tp Q sind. (Was als relevante Merkmale in eine solche Struktur-Beschreibung einzugehen hat, ist von der Diagnose- und Indikationsforschung, von der Therapieforschung (u.a. auch Lerntheorie) und von den Therapiezielen her, also auch von den für verbal-kommunikatives Handeln in einer Kommunikationsgemeinschaft geltenden Normen, zu bestimmen).
3 Konsequenzen für die Forschung Therapie-Effekt-Forschung kann sich natürlich nicht darauf beschränken zu untersuchen, welche statistischen Zusammenhänge zwischen dem mehr oder weniger planmäßigen verbal-kommunikativen Handeln des Therapeuten und demjenigen des oder der Klienten besteht; die Interpretation derartiger Zusammenhänge muß mit berücksichtigen, von welchen Vorstellungen (psychologischen, lern theoretischen, linguistischen usw.) das verbal-kommunikative Handeln des Therapeuten geleitet ist. Ziel der Therapie-
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Effekt-Forschung ist eine Effektivierung des therapeutischen Prozesses. Ein simples Beispiel: es wird festgestellt, daß zwischen der Verwendung oder NichtVerwendung sogenannter „konkreter" und/oder „abstrakter" Ausdrücke durch den Therapeuten und dem verbal-kommunikativen Handeln des Klienten keinerlei Korrelationen bestehen; außerdem kann gezeigt werden, daß die Unterscheidung „konkrete" vs. „abstrakte" Ausdrücke nicht operationalisierbar ist. Hieraus kann und sollte der Therapeut die Konsequenz ableiten, daß es therapeutisch ineffektiv ist, Interaktionen zu vollziehen, in denen der Versuch unternommen wird, einer nicht näher begründbaren Forderung nach der Verwendung „konkreter" Ausdrücke Folge zu leisten, und daß es inadäquat ist, die Interaktionen des Klienten nach einem Kriterium der (Nicht-)Verwendung „konkreter" Ausdrücke, z.B. bei der Selbstexploration, positiv oder negativ (im Sinne des angestrebten Therapieziels) zu bewerten. Ich habe oben an einigen Beispielen gezeigt, daß die TherapeutenÄußerungen und die Beurteilung von Klienten-Äußerungen auf der Basis meistens nicht nachvollziehbarer linguistischer Konzeptionen erfolgen, welche den Lernprogrammen für das verbal-kommunikative Handeln von Psychotherapeuten zugrundeliegen. In diesen Lernprogrammen findet man teilweise detaillierte Anweisungen zum Umfang, Inhalt, Aufbau usw. der Therapeuten-Äußerungen (vgl. z.B.Minsel 1975, llOff.). Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß in der heutigen Gesprächspsychotherapie-Praxis bestimmte, von den Therapeuten intendierte Effekte nicht erzielt werden, weil Äußerungen, welche sie zwecks Erzielung dieser Effekte vollziehen, nicht die hypostasierten Funktionen haben; oder aber, daß durch Äußerungen von Therapeuten Effekte eintreten, welche nicht intendiert sind, welche sich mangels Wissens des Therapeuten um die Funktion seiner Äußerungen der Kontrolle durch diesen jedoch entziehen. Hier zeigt sich die Bedeutung der Beachtung oder aber Nicht-Beachtung von neuen Erkenntnissen linguistischer Theoriebildung für die Praxis der Gesprächspsychotherapie. Um es pointiert zu formulieren: die GesprächspsychotherapiePraxis kann nicht besser sein als die linguistischen Konzeptionen, von denen sich die Therapeuten bei ihren eigenen Aktivitäten und bei der Bewertung/Beurteilung von Klienten-Aktivitäten leiten lassen. Offenbar ist die Gesprächspsychotherapie-Praxis jedoch noch weit davon entfernt, so gut zu sein, wie es auf Grund
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der Ergebnisse linguistischer Forschungen, besonders auf den Gebieten Textlinguistik, Pragmatik, Konversationsanalyse usw., möglich wäre.
4 Interaktive Ansätze zur Therapie-Effekt-Bestimmung Welche Forderungen lassen sich nun aus den exemplarisch dargestellten Mängeln der Gesprächspsychotherapie-Praxis, den Unzulänglichkeiten der meisten bisherigen Untersuchungen zur Sprache im therapeutischen Gespräch, sowie der Forderung ableiten, den therapeutischen Prozeß als Interaktionsgeschehen bzw. in Interaktionsbegriffen zu beschreiben? (Diese Forderung hat, nebenbei bemerkt, der Holländer van Kessel bereits 1974 auf dem ersten europäischen Kongreß für Gesprächspsychotherapie in Würzburg erhoben, stieß damit allerdings bei seinerzeit tonangebenden Psychotherapie-Theoretikern wie Tausch, Minsel, Bommert und anderen auf Desinteresse bzw. manifeste Ablehnung.) Den therapeutischen Prozeß in Interaktionsbegriffen beschreiben, heißt zunächst, daß Gesprächspsychotherapiesitzungen — ebenso wie das auch für andere Diskurstypen getan wurde und wird — vollständig hinsichtlich der kommunikativen bzw. interaktionalen Funktionen der in ihnen vollzogenen Äußerungen analysiert und damit in funktional definierte Einheiten gegliedert werden müssen. Mit anderen Worten der erste Schritt besteht darin zu klären, welche Interaktionstypen, Interaktionssequenztypen, Interaktionsschemata usw. in Gesprächspsychotherapien vollzogen werden. Darüber hinaus geht es wesentlich um die Feststellung von Gesetzmäßigkeiten der Abfolge von Interaktionstypen, Interaktionsschemata usw. Bei der Bestimmung der interaktionalen Funktionen der Gesprächsbeiträge kann teilweise auf bereits vorliegende Kategoriensysteme aus der interaktionalen Analyse anderer Diskurstypen zurückgegriffen werden, teils wird es nötig sein, Beschreibungsbegriffe für therapiespezifisch vorkommende Interaktionstypen (neu) zu definieren. Die funktionale Bestimmung der Gesprächsbeiträge und/oder ihrer Teile (etwa „ Sprechakte") erfolgt u.a. auf der Basis der Rekurrenz bestimmter sprachlicher Elemente, so z.B. der sogenannten Abtönungs- bzw. Modalpartikeln, Partikeln, welche grob gesprochen
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dazu dienen, die Einstellung des Sprechers zum „Inhalt" seiner Äußerungen zu kennzeichnen (vgl. dazu Wey dt 1969, Bublitz 1978, Weydt 1977, Weydt 1979). Aus meiner obigen Kritik an dem etwa bei Zielke (1979 a) durchgeführten Verfahren, die Frequenz-Modifikationen einzelner Elemente als Indiz für die Modifikation des kommunikativen Verhaltens der Klienten und damit letztlich als Indiz für eine therapeutische Entwicklung zu werten, darf daher nicht geschlossen werden, die Untersuchung der Frequenz bestimmter sprachlicher Elemente sei grundsätzlich methodisch inadäquat. Ausgangspunkt müssen jedoch funktional definierte Konzepte, beispielsweise eben „Abtönung" bzw. „Modalität" usw., sein. Die statistische Frage ist dann die nach der Frequenz von Manifestations- bzw. Realisationsformen funktional definierter Konzepte. Aus der Frequenz-Distribution z.B. der in Gesprächspsychotherapien häufig vorkommenden Partikeln wie etwa, irgendwie,
eigentlich,
mal, wohl,
so, ziemlich,
denn usw. allein k ö n n e n
deshalb solange keinerlei Schlüsse auf das „Abtönungs"-Verhalten der Interaktanten gezogen werden, als die anderen Manifestationsformen von „Abtönung" wie Intonationskontur, Abfolge der sprachlichen Elemente, Verwendung bestimmter Tempora etc. unberücksichtigt bleiben (vgl. dazu Meyer-Hermann/Weingarten 1982). Jede Untersuchung, die das sprachliche Handeln des Therapeuten etwa im Merkmalsbereich „Einfühlendes Verstehen" allein anhand der Frequenz-Distribution der sogenannten Abtönungspartikeln zu beurteilen versuchte, wäre damit vom Ansatz her bereits ohne wesentliche Signifikanz (auch im statistischen Sinne). Der zweite Schritt der interaktionalen Analyse besteht darin zu klären, ob sich die einzelnen Interaktionseinheiten, d.h. Sitzungen von Gesprächstherapien, hinsichtlich des Inventars (types) der in ihnen vollzogenen Interaktionen und/oder hinsichtlich der Abfolgemuster von Interaktionstypen unterscheiden, etwa der Art, daß entsprechend der von Rogers hypostasierten Phasen, welche eine Gesprächspsychotherapie durchläuft, bestimmte Unterschiede hinsichtlich der Abfolge von Interaktionsschemata festgestellt werden könnten, die unter den oben spezifizierten Bedingungen als Indikator eines Therapie-Effekts angesehen werden könnten. Beispielsweise scheint die Fähigkeit zur Meta-Kommunikation und die Praktizierung von Metakommuiiikation — bis zu einem gewissen Grade — als Indiz für funktionierende (Kommunikations-)
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Beziehungen der Interaktanten gelten zu können (vgl. dazu im einzelnen Meyer-Hermann 1979). Angenommen, der Beginn einer Gesprächspsychotherapie wäre durch seltene Verwendung von Metakommunikation gekennzeichnet, so wäre das im Laufe der Therapie in einem zu bestimmenden Maße stetig häufigere Vorkommen von Interaktionsschemata, in welchen Metakommunikation funktional (im Unterschied zu dysfunktional) ist, als Indiz für eine Besserung der kommunikativen Interaktionsfähigkeit des/der Klienten zu werten usw. 1 Die Feststellung von interaktionalen Abfolgemustern ist zugleich ein Beitrag zur Beantwortung der Frage danach, welche Interaktionen des Klienten durch welche des Therapeuten bewirkt werden, also der Frage danach, welche Interaktionen der Therapeut vollzieht, vollziehen kann bzw. muß, um welche Verhaltensmodifikationen des Klienten zu bewirken. Was ich hier in wenigen Worten unter dem Begriff „interaktionale Analyse von Gesprächspsychotherapie" umrissen habe, erweist sich in der Praxis als außerordentlich aufwendig. Als Beispiel für die Aufwendigkeit empirischen Vorgehens sei darauf hingewiesen, daß sich Labov/Fanshel (1977) auf lediglich 15 Minuten eines Therapiegesprächs beziehen; ich selbst habe die etwa 100 metakommunikativen Sprechakte einer 90-minütigen Therapie-Sitzung, die wahrscheinlich lediglich ein Zehntel der insgesamt in diesen 90 Minuten vollzogenen Interaktionstypen repräsentieren, auf rund 150 Seiten interaktional analysiert. Der Hinweis auf die Aufwendigkeit des empirischen Verfahrens soll verdeutlichen, daß es sich um eine Forschungsaufgabe handelt, die sinnvoll nur im Rahmen eines entsprechend ausgestatteten Forschungsprojekts durchgeführt werden kann. 1
Insoweit stimme ich im wesentlichen mit Hoppe (1979), der mir erst nach Fertigstellung des Aufsatzes zugänglich wurde, überein: „Das Trainingsziel [eines Kommunikationstrainings] kann als erreicht gelten, wenn der Lernverlauf des Teilnehmers [. . .] erhöhte Realisationswahrscheinlichkeiten" (451) bestimmter Variablen zeigt. Hoppe, dessen Untersuchung ich in Meyer-Hermann (1982) ausführlich diskutiere, geht es um „Variablen adäquater und inadäquater .Metakommunikation'" (448). Unglücklicherweise orientiert sich Hoppe an dem (den) unhaltbaren Metakommunikations-Begriff(en) Watzlawicks et al. (1969). (Zur Kritik an diesem Metakommunikationsbegiiff vgl. Meyer-Hermann 1978 und 1979). Es scheint überdies sehr fraglich, ob die Kennzeichnung des „direkten verbalen Ausdrucks von Gefühlen" oder von „Verhaltensbeschreibungen" (eines Sprechers Sj über einen Sprecher S2) als „explizite" Metakommunikation in irgendeinem gängigen Sinn von „Kommunikation" legitimierbar ist.
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Die Feststellung einer Veränderung des verbal-kommunikativen Handelns des Klienten ist nicht mit der Feststellung eines TherapieEffekts gleichzusetzen, ebensowenig wie davon ausgegangen werden kann, daß sich das verbal-kommunikative Handeln eines Menschen mit angenommener „seelischer Beeinträchtigung" in jeder Hinsicht von dem eines Menschen ohne angenommene „seelische Beeinträchtigung" unterscheidet. So wie es also verbal-kommunikatives Handeln gibt, das nicht ursächlich durch An- oder Abwesenheit einer „seelischen Beeinträchtigung" determiniert ist, gibt es in der Therapie Modifikationen des verbal-kommunikativen Handelns des Klienten, welche in keinem Zusammenhang stehen mit einer Modifikation hinsichtlich der psychischen Disposition des Klienten. Es bedarf also einer Theorie über die Zuordnung verbal-kommunikativer Manifestationsformen zu psychischen Störungen/Beeinträchtigungen, um entscheiden zu können, ob eine Modifikation des verbal-kommunikativen Handelns des Klienten ein TherapieEffekt ist. Eine solche Theorie enthielte Aussagen darüber, welches verbal-kommunikative Handeln als Indikator für eine „seelische Beeinträchtigung" angesehen werden kann/muß. Schließlich bedarf es zur Bestimmung von Therapie-Effekten in der Gesprächspsychotherapie einer Theorie der „Normalität des verbal-kommunikativen Handelns" der Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft, wobei „Normalität . . ." letztlich wohl wiedergeschrieben werden dürfte als „das die überwiegende Mehrheit der Mitglieder der Kommuniktionsgemeinschaft kennzeichnende verbal-kommunikative Handeln". Zwar scheint es logisch unzulässig bzw. strittig zu sein, aus den deskriptiven Sätzen einer solchen Theorie der „Normalität" normative Sätze, also Therapiezielbestimmungen, herzuleiten, etwa der Art, daß ein potentieller Klient verbal-kommunikativ zu handeln habe, wie in der Theorie der „Normalität" beschrieben. Wie auch immer: es müssen in Interaktionsbegriffen formulierte Therapiezielbestimmungen vorliegen bzw. der Therapie vorgegeben werden (vgl. zu diesem Problemkomplex Greif 1976, Perrez 1976). Einmal um, wie bereits gesagt, hieraus die Interventionen des Therapeuten ableiten zu können, zum anderen, um Modifikationen des verbal-kommunikativen Handelns eines Klienten, welche zwar durch eine Therapeutenintervention bewirkt sind, aber nicht in „Richtung auf" die Erlangung eines Therapieziels weisen, als Nicht-Therapie-Effekt bestimmen zu können, vorausgesetzt es gelingt eine Operationalisierung von „in Rieh-
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tung auf ein Therapieziel". Viele der Fragen und Probleme, die beantwortet bzw. gelöst werden müssen, damit sprachliche Indikatoren im oben erläuterten Sinne (vgl. S. 93f.) bestimmt werden könnten, sind von linguistischer Seite bisher noch nicht einmal angegangen worden. Insofern ist das Sprachtheorie-Defizit der Therapie-Effekt-Forschung erklärbar. Unerklärlich bleibt indes, auch beim gegenwärtigen Stand der linguistischen Theoriebildung, angesichts der offensichtlich unzureichend definierten/definierbaren Kategorien, über welche quantifiziert wird, die nur als Manie zu bezeichnende Praxis umfänglicher Korrelations- und sonstiger KoeffizientenBerechnungen in den meisten psychologischen Arbeiten zur Therapie-Effekt-Forschung (vgl. als Beispiel Zielke 1979 a). Es wäre daher schon viel gewonnen, wenn die Energie, welche Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater auf derartige Berechnungen verwenden, stattdessen dazu benützt würde, zunächst mehr angewandte Linguistik zu betreiben, d.h. psychotherapeutische Diskurse im oben skizzierten Sinne linguistisch zu analysieren.
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Gert Henrici Initiativhandlungen im Fremdsprachenunterricht*
1 Bemerkungen zur fremdsprachendidaktischen Forschung Seit geraumer Zeit ist auch in der Bundesrepublik Deutschland eine zunehmende Bereitschaft der Theoretiker der Fremdsprachendidaktik zu beobachten, mehr als in der Vergangenheit empirisch zu forschen und diese empirische Arbeit so gut wie möglich zu koordinieren (vgl. Koordinierungsgremium 1977). Bausch/Kasper (1979: 3) unterscheiden wie auch andere vor ihnen und mit ihnen zwei „Zugriffsmöglichkeiten" der Analyse und Erklärung des „komplexen Gegenstandsbereichs .Fremdsprachenunterricht' „— zum einen Analysen aus der .Vermittlungsperspektive' heraus, d.h. also Analysen, die sich auf die Steuerung der Fremdsprachenlernprozesse durch Lehrverfahren, insbesondere durch unterschiedliche Vermittlungsmethoden beziehen (teaching perspective), - zum anderen Analysen aus der ,Erwerbsperspektive' heraus, d.h. also Analysen, die die Bedingungen untersuchen, die der Lerner in seinem Lernprozess einbringt, ihre Interaktion mit außerhalb des Lerner liegenden Faktoren und den Einfluß dieses Interaktionszusammenhangs auf die fremdsprachlichen Lern- und Kommunikationsprozesse (learning perspective)." Akzeptiert man einmal diese Unterscheidung, dann läßt sich schnell ein Übergewicht von empirischen Untersuchungen im Bereich der .learning perspective' feststellen, wobei die Mehrzahl der grundlegenden Arbeiten zu den sog. „großen Hypothesen" zum Zweitsprachenerwerb aus dem Ausland stammt, wie der hervorragende Über*
Gefördert aus Mitteln der Universität Bielefeld (OZ 6450).
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Gert Henrici
blick bei Bausch/Kasper zeigt. Offensichtlich hängt das starke Überwiegen empirischer Arbeiten aus diesem Bereich mit der bisher unbestätigten Annahme vorwiegend linguistisch orientierter Forscher zusammen, eine Optimierung des Fremdsprachenunterrichts ließe sich vor allem über Untersuchungen zu Reihenfolgen in „Zwischensprachen" („Übergangs-", „Interimssprachen" usw.) im Vergleich von Muttersprachen, ungesteuert und gesteuert erworbenen Zweitund Drittsprachen erreichen. Versteht man — wie wohl auch Bausch/ Kasper - unter Reaching perspective' empirische Untersuchungen, die die Wirksamkeit von Methoden (z.B. audio-lingual, kognitiv usw.) im Fremdsprachenunterricht ermitteln sollen, dann bleibt in diesem Bereich nicht mehr allzuviel auszurichten. Eine Gegenüberstellung von empirischen Arbeiten zu Methoden im Fremdsprachenunterricht, so wie sie z.B. R. Dietrich (1980: 4) vorgelegt hat, zeigt sehr nachdrücklich, daß „Erfolge" im Fremdsprachenunterricht von einer Vielzahl von Variablen beeinflußt werden: die angewandten Methoden sind zumindest bei heterogenen Lerngruppen von nachgeordneter Bedeutung. Bei einer weitergefaßten Auffassung von ,Vermittlungsperspektive', bei der die kommunikativen Handlungen — darunter verstehe ich sowohl sprachliche als auch nicht-sprachliche Handlungen — die zwischen Lehrern und Lernern ablaufen, Gegenstand von empirischen Untersuchungen werden, bleibt dagegen noch vieles zu tun. Arbeiten zur „Unterrichtskommunikation" beziehen sich bisher fast ausschließlich auf muttersprachlichen, nicht auf fremdsprachlichen Unterricht. 1 Gleichgültig ob zur ,Vermittlungs'- oder ,Erwerbsperspektive' gehörig, könnten genaue Kenntnisse über die kommunikativen Handlungen zwischen Lehrer und Lernern Aufschluß darüber geben, ob nicht die Art und Weise des Handelns zwischen den am Lernprozeß Beteiligten den entscheidenden Einfluß auf Erfolge beim Erlernen einer Fremdsprache hat. Eine Reihe von Autoren vertritt diese Position auf Plausibilitätsebene, z.B. F. Müller (1980: 4) hinsichtlich der Einschätzung der Wirksamkeit von Lehrmaterialien: „[...] , nach der die Form des im Unterricht präsentierten sprachlichen 1
Vgl. u.a. Flanders 1966, Bellack/Kliebard/Hyman/Smith 1974, Sinclair/Coulthard 1977. Eine kritische Darstellung dieser und anderer Arbeiten findet sich z.B. in Ehlich/ Rehbein 1976 und Coulthard 1977.
Initiativhandlungen
im
Fremdsprachenunterricht
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Materials relativ unwichtig ist im Vergleich zur Qualität der im Unterricht möglichen Kommunikation" oder mit Verweis auf Solmecke (1973: 119/120) schreibt I. Dietrich (1979: 192/193): „Denn gerade die Unentscheidbarkeit der Frage, welche Methode oder Methodenkonzeption die effektivste sei, läßt vermuten, daß neben dem Faktor ,Methode' im Lernprozeß personale und affektive Faktoren der Lehrer-Schüler-Beziehung einen großen Einfluß auf den Lernerfolg haben." Eine kürzlich erschienene empirische Arbeit von Dreesmann (1979) über „Zusammenhänge zwischen Unterrichtsklima, kognitiven Prozessen bei Schülern und deren Leistungsvermögen" im Mathematikunterricht, die u.a. ergab, daß „Schüler aus klimapositiven Klassen im Durchschnitt günstigere Ausprägungen der kognitiven Variablen [aufwiesen]" (121), stützt Annahmen zur Abhängigkeit des Lernerfolgs von der Art und Weise, wie die am Unterricht Beteiligten miteinander handeln. Zumindest gibt die Untersuchung weiteren Anlaß, diese Annahmen mit unterschiedlichen Verfahren zu überprüfen. Neben Untersuchungen zum kommunikativen Handeln der am Lernprozeß Beteiligten sind Untersuchungen zur Einschätzung der am Prozeß Beteiligten notwendig. 2
2 Initiativhandlungen als Thema unterrichtsbezogener Diskussionen Eine Durchsicht der pädagogischen Kompendienliteratur ergibt daß in der Tradition unter Initiativhandlungen im wesentlichen Handlungen verstanden werden, die vom Lehrer ausgehen und das Ziel haben, den Unterricht zu steuern. So führt z.B. Bachmair( 1974) unter zahlreichen Interaktionsformen des Lehrers wie Anleiten, Informationen geben, Meinungen und Urteile äußern, Koordination usw. auch „Initiieren" auf. Er versteht darunter: „2. Initiierung von Aktivität: Vorschlagen neuer Ideen, Vorstellung neuer Gesichtspunkte, Vorschläge unterbreiten" (92). Vertreter nicht nur der allgemeinen Didaktik, sondern auch Fremdsprachen didaktiker, die sich von der Mitwirkung aller am Unterrichtsprozeß Beteiligten bei 2 Den Einfluß lautsprachlicher Realisierungen von Fragen des Lehrers auf die Lerner im muttersprachlichen Unterricht untersucht z.B. Haase (1979).
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Gert Henrici
Entscheidungen im Unterricht eine Steigerung des Lernerfolgs auf affektiver, sozialer und kognitiver Ebene erhoffen, fordern, daß Initiativhandlungen nicht nur vom Lehrer, sondern auch von den Lernern ausgehen müßten: „Die positive Wirkung, die von einem Aufgreifen brauchbarer Schülervorschläge auf die Motivation zur weiteren Mitarbeit ausgeht, kann dabei nicht hoch genug veranschlagt werden" (Dietrich 1979: 146). Aber auch Fremdsprachendidaktiker, die diese „Beteiligungsperspektive" nicht betonen, fordern aus pragmatischen Gründen Initiativhandlungen durch die Lerner, um die sog. „kommunikativen Lernziele" — und dazu gehört die Fähigkeit, in der Fremdsprache in Realsituationen sprachlich initiativ werden zu können — zu erreichen. Dazu zwei Beispiele: „Eine nicht minder wichtige Phase [neben der „reaktiven Phase des produktiven Sprechens" G.H.] äußert sich darin, daß der eine oder besser alle (beide) Partner sprachliche Initiative entwickeln, sich also aus eigenem Antrieb äußern. Diese Fähigkeit, die ebenfalls planmäßig vorbereitend entwickelt werden muß, nennen wir initiatives Sprechen'. Sie äußert sich vor allem in Fragen und Aufforderungen sowie Meinungen, Gegenargumenten, Gründen für eine Ansicht" (Hellmich 1967: 42), „At all stages we must give the students the power to initiate, to take the ,offensive', to keep the ball of conversation rolling. After every comprehension piece it is for the students to ask a question, or make a comment, [. . .]" (Hay 1973: 122). Die zitierten Textstellen, die beispielhaft zeigen sollen, wie in pädagogisch-didaktisch orientierten Arbeiten „Initiativen" behandelt werden, verweisen in verschiedener Hinsicht auf offene Probleme, die einer genaueren Untersuchung bedürfen: 1. Es bleibt unklar, was eigentlich „Initiativen" sind und wie sie sich von anderen Handlungen unterscheiden lassen. 2. Initiativen werden als „monologische" Handlungen entweder von Seiten des Lehrers oder Lerners betrachtet, nicht als Teile eines „dialogischen" Prozesses. Bei Hellmich wird dieses dialogi-
Initiativhandlungen
im
Fremdsprachenunterricht
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sehe Verständnis zumindest angedeutet. Daß sich aus Initiativen bestimmte Verpflichtungen ergeben bzw. Bedingungen gesetzt werden, bleibt unbeachtet. 3. Es wird nicht unterschieden zwischen Realisierungsformen und Funktionen von Initiativen. 4. Initiativen werden z.B. auf Fragen reduziert (vgl. Textauszug Hay). 5. Die Ausführungen werden ohne Bezug auf empirische Untersuchungen aus dem Unterrichtsfeld gemacht, auf das sich die Ausführungen beziehen. 3 Skizze des Projekts „Initiativhandlungen in fremdsprachlichen Lehr-/Lernprozessen" 3.1.
Fragestellung
Durch den in den beiden ersten Abschnitten gegebenen Problemaufriß sollte die Notwendigkeit der Durchführung des Projekts verdeutlicht werden, das Teil des Universitätsprojekts „Zur Evaluation von fremdsprachlichen Lehr-/Lernprozessen" ist. Da das Projekt am Anfang der Realisierung steht, können hier noch keine „gesicherten" Ergebnisse vorgelegt werden. Aus sprachdidaktischer Sicht soll es vorrangig einen Beitrag zur Lösung folgender Probleme liefern: 1. Wie sieht die Wirklichkeit fremdsprachlichen Unterrichts aus? Hier besonders: Welche kommunikativen Handlungen werden zwischen Lehrer und Lernern ausgetauscht? Wie sind diese Handlungen organisiert? Wie ist das Abhängigkeitsverhältnis zwischen diesen Handlungen? Welche didaktischen Funktionen werden durch bestimmte Handlungen in Gang gesetzt, erfüllt oder verhindert? 2. Wie sind bestimmte Ansprüche an die sog. „fremdsprachliche Kommunikationsfähigkeit" vor dem Hintergrund der Wirklichkeit des Fremdsprachenunterrichts zu beurteilen?
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Gert
Henrici
Mit der Untersuchung dieser Fragestellungen auf der Basis von in natürlichen Situationen gewonnenen Materials werden Fremdsprachenstudenten exemplarisch auf ihre zukünftige Berufspraxis vorbereitet. Die Behandlung der Fragestellungen verdeutlicht einerseits die Notwendigkeit des Erwerbs von Kenntnissen aus den verschiedenen Bezugsdisziplinen des Fremdsprachenunterrichts und andererseits wird das Komplexitätsgefüge der zukünftigen praktischen Tätigkeit aufgezeigt, die ohne theoretische Reflektion auf der Basis von Kenntnissen orientierungslos bleiben muß. Die zunächst vorgenommene Konzentrierung des Projekts auf die Untersuchung von „Initiativhandlungen" im Unterricht geht auf die einfache Überlegung zurück, daß zur Erreichung eines Ziels wie der „Befähigung zur sprachlichen Bewältigung von alltäglichen Situationen in fremdsprachlicher Umgebung", wie sie in allen Richtlinien aller Schulstufen für den Fremdsprachenunterricht so oder ähnlich zu finden ist, Voraussetzung ist, daß Initiativhandlungen — hier zunächst noch verstanden als „auslösende, in-Gang-setzende-Handlungen" im Rahmen von Kommunikationsprozessen — im Unterricht von denjenigen so oft wie möglich vollzogen werden sollten, die die genannte Befähigung erwerben sollen. Das Ausfuhren von Handlungen im Unterricht, die in der Realsituation beherrscht werden sollen, ist eine notwendige Bedingung für den erforderlichen Transfer, dessen Gelingen allerdings noch weiteren Bedingungen unterliegt, wie z.B. personalen, situationeilen, sozialen und institutionellen. 3.2
Materialbasis
und
Materialgewinnung
Das zugrundeliegende Material, das im Augenblick aus 8 Stunden Video-Aufnahmen besteht und sich zur Hälfte aus Deutsch-als-Fremdsprache-Unterrichtsstunden aus dem Erwachsenenbereich und zur anderen Hälfte aus Englischstunden aus dem Schulunterricht zusammensetzt, stammt aus natürlichen Unterrichtssituationen vor Ort. Als Kriterium für die Natürlichkeit der Situation galt eine jeweils an die Aufnahme sich anschließende Befragung der Unterrichtenden nach wesentlichen Verhaltensänderungen der Beteiligten im Vergleich zu anderen Stunden ohne Aufnahmen. Wurden keine wesentlichen Verhaltensänderungen vom Lehrer genannt, wurde die Aufnahme als Analysematerial akzeptiert. Aufnahmetechnisch wur-
Initiativhandlungen im
Fremdsprachenunterricht
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de eine Kamera mit festem Standort in einer Ecke des Klassenzimmers verwendet, die von einem erfahrenen Kameramann bedient wurde, dem es gelang, die meisten Schüler- und Lehreräußerungen einzufangen, was zu einem guten Teil auch an der ziemlich sicher prognostizierbaren Verlaufstruktur des aufgenommenen Unterrichts und den gut einfangbaren räumlichen Verhältnissen lag. Die Entscheidung für den Einsatz nur einer Kamera, die nach einer Reihe von Probeaufnahmen fiel, war in der Maxime begründet, den technischen Aufwand so gering wie möglich zu halten, um die „Natürlichkeit" der Situation so weit wie möglich zu garantieren. Aufgrund dieser Maxime schieden künstliche Situationen wie Laboraufnahmen in nicht gewohnter Umgebung der Schüler oder mit Testsituationen vergleichbare Elizitiermethoden, wie die z.B. von Kasper (1979) verwendeten, von vornherein aus. Die Verschriftlichung des Materials wurde von erfahrenen studentischen Transkribenten durchgeführt, die am Unterricht als Beobachter teilgenommen und bei dieser Beobachtung vor allem die Aufgabe hatten, Situationsdaten und Auffälligkeiten besonders nicht-sprachlicher Art festzuhalten. Hinsichtlich des Ziels, möglichst die Totalität des unterrichtlichen Geschehens zu erfassen — was nicht-sprachliche Handlungen einschließt — und aus Gründen der zuverlässigeren Analyse der sprachlichen Handlungen — und dazu liefern die Non-verbalia einen unverzichtbaren Beitrag — fiel sehr früh die Entscheidung zugunsten von Video-Aufnahmen und der zusätzlichen Notierung auffälliger nicht-sprachlicher Handlungen durch die Beobachter. Dem gegenüber spielte die bessere Verwendbarkeit von Video-Material für Zwecke der Fremdsprachenlehrerausbildung (z.B. größerer Konkretheitsgrad des Materials und dadurch höhere Motivierung der Studenten gegenüber Tonband- bzw. Tonkassettenmaterial) eine sekundäre Rolle. Einige Zeit nach der Aufnahme schauten sich Lehrer, Schüler und Beobachter gemeinsam die Aufnahme noch einmal an und diskutierten darüber. Bei diesen äußerst interessanten Diskussionen, die von Problemen der Fremdsprachenunterrichtsmethoden bis zu Fragen des Lehrer- und Schülerverhaltens reichten, erfuhren die Beobachter zusätzliche wichtige Situationsdaten. Als Verschriftlichungssystem (vgl. Textauszug in Kap. 5) wurde eine stark vereinfachte Form des von Kallmeyer/Schütze (1976) verwendeten Systems gewählt, das je nach Analysebedürfnissen verfei-
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nert werden kann. Bei Analyseschwierigkeiten bzw. -diskrepanzen werden die strittigen Textstellen anderen Personen mit Erläuterungen des Analyseinstrumentariums vorgelegt. Die Version, die von den meisten akzeptiert wird, ist die gültige. Die im Augenblick noch kleine Materialbasis, die im Laufe des Projekts erweitert werden soll, die aber jetzt schon mit einer Reihe von Tonbandaufnahmen konfrontiert wird, reicht für Zwecke der Hypothesenfindung, - Spezifizierung und weiteren -generierung aus, zumal die Analyse vorwiegend qualitativ und nicht quantitativ erfolgen soll.
3 Der Untersuchungsansatz Ausgehend von kognitiven Beständen und Konstrukten, die sich im Rahmen verschiedener Aktivitäten (z.B. durch Lektüre, Praxiserfahrungen) ausgebildet haben, wird versucht, eine Beschreibung von dem zu geben, was ich vorläufig als ,Initiativhandlungen' bezeichnet habe. Über präzisierte Beschreibungen werden erste Definitionen versucht, die offen sind für Modifikationen, die nach verschiedenen Materialstudiendurchgängen und bei Erweiterung des Materials, in denen veränderte Situationsbedingungen gegeben sind, notwendig werden (können). Die so zustandegekommenen Definitionen erlauben erst eine genaue Beschreibung, auf deren Basis Erklärungshypothesen formuliert und überprüft werden können, die die anfänglichein) Arbeitshypothese(n) verändern bzw. ablösen.
4 Zur Beschreibung und Definition von Initiativhandlungen Ich knüpfe an die Kritik an, die ich zu beispielhaft ausgewählten pädagogisch-didaktischen Arbeiten zu „ Initiativhandlungen " formuliert habe und referiere im folgenden zunächst Arbeiten, die eher zu Definitionen führen können. Ein systematischer und empirisch orientierter Ansatz wird von Kasper (1979) gewählt. Mit Verweis auf Untersuchungen der Konversationsanalytiker Schegloff/Sacks ( 1973) zum Problem des Nachbarpaars (adjacency pair) zitiert sie die folgende von Schwitalla stammende Definition, der die beiden Teile eines Nachbarpaares „initi-
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im
Fremdsprachenunterricht
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ierenden" und „respondierenden" Akt nennt: „,Initiierende' Dialogakte sind solche, mit deren Vollzug der Sprecher seine(n) Zuhörer zu einer spezifischen Antwort auffordert. ( . . . ) Das auffordernde Moment initiierender Akte liegt in dem Sprecher und Hörer mitverstandenen Zwang, daß der Angesprochene die so initiierte Dialoghandlung seinerseits fortführt oder zu einem (vorläufigen) Ende bringt, jedenfalls aber auf sie eingeht" (nach Kasper 1979: 371/ Schwitalla 1976: 87f.). Systematisch ist das Vorgehen Kaspers bei ihrer Untersuchung von Antworten von Englischlernern (Studenten) auf normierte Gesprächsangebote deshalb zu nennen, weil sie über einen Definitionsversuch und einen Klassifizierungsversuch der respondierenden Akte unter Heranziehung der Unterscheidungskriterien Proposition und Illokution 3 ihr Material untersucht. Empirisch ist das Vorgehen deshalb, weil sie auf einen Textkorpus von Originaläußerungen zurückgreift, der allerdings durch eine problematische Elizitiertechnik (=„Simultationen", die die Interaktanten auf der Grundlage von Rollenbeschreibungen durchführten" Kasper 1979: 370) gewonnen wurde. Außerdem wird von ihr die weiter oben kritisierte monologische Betrachtungsweise von Initiativen in den zitierten Textstellen vermieden. Ihr Vorgehen ist deduktiv - analytisch, d.h., sie benutzt ein durch andere gewonnenes Kategoriensystem zur Beschreibung empirischer Daten. Kritisch zu fragen ist, ob die Definition der initiierenden Dialogakte „mit deren Vollzug der Sprecher seine(n) Hörer zu einer spezifischen Antwort auffordert" differenziert genug ist, um authentische, d.h. hier in natürlichen Situationen aufgezeichnete fremdsprachliche schulische Kommunikationshandlungen zu beschreiben und zu erklären. Eine Differenzierungsmöglichkeit sehe ich in Wunderlich 1976: 77) gegeben, der über eine dichotome Klassifizierung jeden 3
non-responsiv:
-
teilresponsiv:
-
Hörer geht weder auf Proposition noch auf Illokution ein = „ Entwertung", „transaktionale Disqualifikation" Hörer geht nur auf Proposition bzw. partiell auf Proposition ein. Hörer geht nur auf Illokution bzw. partiell auf Illokution ein.
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Gert Henrici
Sprechakt durch seine Stellung zu Interaktionsbedingungen als initiativ oder reaktiv bestimmt. Initiative Sprechakte „führen neue Interaktionsbedingungen ein und eröffnen damit eine neue Handlungssequenz". Reaktive Sprechakte „erfüllen bereits bestehende Interaktionsbedingungen und schließen damit eine Handlungssequenz ab" (77/78). Wunderlich versucht eine Zuordnung von initiativ und reaktiv zu bestimmten ,illokutiven Typen' von Sprechakten. Immer initiativ: (a) direktiv (Aufforderungen, Bitten, Befehle, Anweisungen, Anordnungen, Instruktionen, Norm Setzungen) (c) erotetisch (Fragen) Immer reaktiv (e) satisfaktiv (Entschuldigungen, Danksagungen, Antworten, Begründungen, Rechtfertigungen) Initiativ oder reaktiv, je nach Stellung im Diskurs: (b) commissiv (Versprechungen, Ankündigungen, Drohungen) (d) repräsentativ (Behauptungen, Feststellungen, Berichte, Beschreibungen, Erklärungen, Versicherungen) Nicht eindeutig bestimmbar sind (f) retraktiv (Zurückziehen eines Versprechens, Korrektur einer Behauptung, Erlaubnisse: [sie] „setzen schon bestehende Interaktionsbedingungen wieder außer Kraft" (g) Deklaration (Benennungen, Definitionen, Ernennungen, Schuldsprüche, Festsetzen einer Tagesordnung, Eröffnung einer Sitzung): „sie führen neue Fakten, entweder sprachliche oder soziale Fakten ein, und (h) Vokativ (Anrufe, Aufrufe, Anreden)". Sie sind zwar grundsätzlich initiativ, aber gleichzeitig völlig unbestimmt. Ihr einziger Zweck besteht darin, die Aufmerksamkeit eines Adressaten zu erlangen oder aufrechtzuerhalten. Den einzelnen illokutiven Typen weist Wunderlich grammatische Modi zu, wobei eindeutig nur (a) und (c) durch die Modi imperativ und interrogativ ausgedrückt werden. Hingegen kann der Modus deklarativ neben der Initiierung des Repräsentativ-Typs auch andere Funktionen übernehmen.
Initiativhandlungen im Fremdsprachenunterricht
153
Ich habe die Klassifizierung und Zuordnungsversuche Wunderlichs deshalb so ausführlich referiert, weil sie deutlich machen, was Systematisierungen an theoretischen Erkenntnissen erbringen können und auch, weil mit Hilfe dieser oder ähnlichen Systematisierungen bessere Erkenntnisse über die schulische Wirklichkeit zu erreichen sind, als dies möglich ist bei nicht differenzierten Beschreibungen, wie ich sie beispielhaft aus der didaktisch-pädagogischen Literatur zitiert habe. Das den Unterrichtserfolg beeinflussende (bestimmende?) „Klima" im Unterricht, das sich auch definieren läßt über die kommunikativen Handlungen der am Unterricht Beteiligten — diese sind wiederum durch Einflußfaktoren wie Situation, Institution, Voraussetzungssituation der Beteiligten usw. bestimmt — läßt sich mit Hilfe differenzierter Kategorien wie z.B. in (a) auf Lehrerseite besser beschreiben, als wenn „Initiativhandlungen" mit Direktiv-Funktion nur als Aufforderungen oder nur als Fragen (c) beschrieben bzw. definiert werden. Ich habe Wunderlich auch deshalb so ausführlich referiert, weil ich seinen Systematisierungs- und Zuordnungsversuch als geeignet ansehe, eine vorläufige Definition von Initiativhandlungen zu versuchen, die es aufgrund konkreter Analysen des Materials zu überprüfen und zu revidieren gilt. Dazu gehören z.B. genauere Unterscheidungskriterien für Aufforderungen, Bitten, Befehle usw.4 Die relative Beschränktheit der sog. „illokutiven Indikatoren" zur genauen Bestimmung dieser Sprechhandlungen lassen es sinnvoll erscheinen, auf zu detaillierte Differenzierungen des Analyseinstrumentariums zunächst zu verzichten. Dazu gehören vor allem auch Präzisierungen dessen, was Wunderlich „Eröffnung einer neuen Handlungssequenz" nennt. Er scheint darunter grundsätzlich kurze Sequenzen des Typs Frage-Antwort (Initiative-Reaktion) mit möglichen Einschüben wie z.B. Nachfragen zu verstehen, die formalinteraktionell definiert sind (vgl. Wunderlich 1973).5 4 Erste Versuche dazu Finden sich z.B. bei Sinclair u.a. 1972, Labov 1970 und 1972. 5 Auf die Schwierigkeiten, Handlungssequenzen und Teilsequenzen zu definieren, weisen z.B. Gülich/Henke (1979) hin. Ich gehe in diesem Zusammenhang nicht weiter darauf ein, möchte jedoch generell für eine ergänzende inhaltlich-thematische Definition von Sequenzen plädieren, wie sie weiter unten angedeutet ist.
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Gert Henrici
Auf der Basis der Überlegungen von Schwitalla (1976) und Wunderlich (1976) können Initiativhandlungen vorläufig folgendermaßen definiert werden: Initiativhandlungen sind Handlungen, (1) die eine neue Handlungssequenz eröffnen (vgl. Wunderlich), die auf verschiedene Thematiken eines Handlungsprozesses referieren kann: (a) Bildung und Erhalt von Beziehung zwischen Handelnden = Initiative gruppenbezogene Handlungen z.B. Ich finde dich komisch . . . (b) Organisaiion/Planung/Steuerung von Handlungen = Initiative prozeßbezogene Handlungen z.B. Als nächsten Termin schlage ich vor . .. (c) Behandlung von Sachproblemen = Initiative sachbezogene Handlungen z.B. Ich gliedere den Text in zwei Hauptteile . . . (2) die zu einer nonresponsiv oder teilresponsiv oder teilresponsiv
Reaktion verpflichten, die entweder eine Verweigerung oder eine Entwertung sein kann, eine Fortführung sein kann, eine Beendigung sein kann (vgl. Schwitalla, Kasper)
(3) die unterschiedliche Funktionen haben (a) direktiv initiative Aufforderungen, Bitten, Befehle, Anweisungen, Anordnungen, Instruktionen, Normsetzungen (b) commissiv initiative Versprechungen, Ankündigung, Drohungen (c) erotetisch initiative Fragen (d) repräsentativ initiative Behauptungen, Feststellungen, Berichte, Beschreibungen, Erklärungen, Versicherungen
Initiativhandlungen im Fremdsprachenunterricht
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(e) deklarativ initiative Benennungen, Definitionen, Ernennungen, Schuldsprüche, Festsetzen einer Tagesordnung, Eröffnung einer Sitzung ( f ) vokativ initiative Anrufe, Aufrufe, Anreden (vgl. Wunderlich) (4) die im Rahmen unterschiedlicher Funktionen unterschiedliche Intensitätsgrade haben können (z.B. sind Befehle stärker als Bitten) (5) die entweder sprachlich, teil-sprachlich oder nichtsprachlich realisiert werden können, (6) die als grammatische Realisierungsmodi den Imperativ, Interrogativ oder Deklarativ haben können (Wunderlich) (7) die auf den sprachlichen Realisierungsebenen unterschiedliche Komplexitätsgrade haben können (z.B. kurz-lang, einfach-kompliziert z.B. hinsichtlich Phonetik, Syntax, Semantik). Die unter ( 1 ) vorgenommene inhaltliche Grobdifferenzierung greift auf handlungstheoretische Überlegungen zur Untersuchung von studentischer Gruppenkommunikation zurück, die in Boueke/Henrici/ Schülein (1979, 1980 a und b) ausführlich dargestellt sind. 6 Ich beschränke mich hier auf eine zusammenfassende Erläuterung der verwendeten Begriffe. Unter „gruppenbezogene Handlungen" verstehe ich die Handlungen, die den Bereich eines Handlungsprozesses betreffen, indem die daran Beteiligten ihre Handlungsregeln im Sinne des sprechakttheoretischen Regelbegriffs oder im Sinne der konversationsanalytischen Basisregeln und Handlungsbedingungen festlegen. Unter Rückgriff auf sozialpsychologische Literatur (Mills 1969, Sader 1976) und eigene vortheoretische Überlegungen beziehen sich gruppenbezogene Handlungen z.B. auf: 6
Diese inhaltlich-thematischen Differenzierungen sind keine Bezeichnungen fur Ausschließlichkeiten. Sie kennzeichnen eher dominante thematische Bezüge von Sprechhandlungen, die jeweils wieder in detailliertere Thematiken differenziert werden können.
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Rangfestlegungen Wer soll einen Handlungsprozeß leiten? Soll es überhaupt einen Leiter geben? Wieviel Dominanz eines Mitglieds einer Gruppe ist verträglich mit den Erwartungen der einzelnen Mitglieder an Selbstregulation und Mitbestimmung? Wieviel Führung wird hinsichtlich der Aufgabenbearbeitung und -lösung toleriert? Usw. Aushandeln von gemeinsamen Interessen und der Beteiligten
Handlungszielen
Ist ein „legitimativer Diskurs" als Voraussetzung für eine gelingende Interaktion und fortgesetzte Handlungsbereitschaft aller Beteiligten notwendig? Wird er von Beteiligten gewünscht, abgelehnt usw.? Aushandeln
von Formen und Standards des Handlungsprozesses
Diese können sich sowohl auf thematische Aspekte beziehen, z.B. welchen Grad von „ Wissenschaftlichkeit " legen wir unserer Arbeit zugrunde? Gehen wir von unseren Erfahrungen aus? usw.; sie können sich auch auf Probleme der Abwicklung des Handlungsprozesses beziehen, z.B. wie gehen wir mit denjenigen um, die Termine nicht einhalten, die Verabredungen mißachten? Klärung der emotionalen Erwartungen der Beteiligten Handlungen dieser Art üben einen erheblichen Einfluß auf die Kooperationsbereitschaft aus und betreffen die wechselseitigen Bewertungen der Mitglieder (Hochschätzung, Geringschätzung) und die Selbstbewertung des Einzelnen in bezug auf die Gruppe, weil Ungleichgewichtigkeiten zwischen Fremdeinschätzung und Selbsteinschätzung sich auf die Interaktionskonstanz auswirken. Handlungen dieser Art betreffen also u.a. die Einstellung der einzelnen Mitglieder der Gruppe zu dieser insgesamt (Sympathie, Antipathie, Aktionsbereitschaft, Solidarität usw.), sie betreffen die Einstellungen der einzelnen Mitglieder zur gestellten Aufgabe. Sollen Aufgaben möglichst schnell erledigt werden, um eine bestimmte Belohnung zu erreichen, welche Normen werden als Gruppennorm definiert, akzeptiert? usw.
Initiativ Handlungen im Fremdsprachenunterricht
„Prozessbezogene
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Handlungen "
Prozessbezogene Handlungen betreffen die schrittweise Planung eines Arbeitsablaufs, also: Fragen wie z.B. Was machen wir zuerst? Was soll darauf folgen? Wie beschaffen wir uns geeignete Materialien? usw. „Sachbezogene
Handlungen "
betreffen die argumentative Abarbeitung von Sachproblemen, die sich an bestimmten Vereinbarungen und Klärungen zu Handlungsregelungen, -bedingungen und -planungen orientieren können. Diese auf Unterrichtsprozesse bezogene Differenzierung und Erläuterung 7 , die sich aber auch auf andere Handlungsprozesse beziehen kann, kann für die Beschreibung des „Klimas" eines Handlungsprozesses, auf die das Projekt langfristig u.a. auch abzielt, hilfreiche Aufschlüsse geben. Stellt sich z.B. heraus, daß der Lehrer gruppenbezogene Initiativhandlungen der Lern er ständig abblockt, könnte dies eine Erklärung für eine geringe Bereitschaft der Lerner sein, sachbezogene Handlungen zu vollziehen — besonders derer, die die gruppenbezogenen Initiativen eingebracht haben. Aufschlüsse über das „Klima" in einer Lerngruppe lassen sich auch über die Differenzierungen (3), (4), und (6) erreichen. Werden z.B. vom Lehrer Initiativhandlungen immer nur als Befehle, Anweisungen, Anordnungen mit Imperativmodus realisiert, ist zu vermuten, daß dadurch das Responsiwerhalten und damit auch das „Klima" in bestimmter Weise beeinflußt wird. Stark wirkende Einflüsse können auch durch (7) hervorgerufen werden. Ein Lehrer, der dominant lange und komplizierte Initiativhandlungen realisiert, wird möglicherweise auf Verständnisschwierigkeiten bei den Lernern stoßen und dadurch passives Verhalten der Lerner hervorrufen. Die letzten Bemerkungen sollten verdeutlichen, daß zur differenzierten Hypothesengenerierung und -Überprüfung ein differenziertes Beschreibungsinstrumentarium notwendig ist. Andererseits sollte verdeutlicht werden, daß Initiativhandlungen sinnvollerweise im Zusammenhang mit Reaktivhandlungen untersucht werden sollten, 7
In Boueke/Henrici/Schülein wird neben einer strukturellfunktionalen Klassifizierung in gruppen /prozeß- und sachbezogene Handlungen der Versuch gemacht, den unterrichtlichen Handlungsprozeß nach gruppenbezogenen, prozeßbezogenen und sachbezogenen Phasen zu unterscheiden.
158
Gert Henrici
weil Handlungsprozesse wie Unterricht keine monologischen, sondern dialogische Prozesse darstellen (sollten). Auf eine weitergehende, differenzierte Behandlung von Responsivhandlungen verzichte ich an dieser Stelle. Die unter (2) gemachten Bemerkungen sollen in diesem Zusammenhang genügen. Die Untersuchung von „Initiativhandlungen" und respektive „Responsivhandlungen" im Fremdsprachenunterricht bringt kommunikative Strategien (Handlungsfiguren, Muster) von Lehrern und Lernern zutage (z.B. „Abblockmanöver", „Vertröstungen"), die Kommunikationsbeziehungen, Kommunikationsklima und das Erreichen bestimmter Lernziele behindern und verhindern können. 8
Die Anwendung Textauszug
des
Beschreibungsinstrumentariums
auf
einen
Bei dem in folgendem wiedergegebenen Textstück handelt es sich um den Anfang einer dreistündigen Unterrichtsstunde zum Thema „Die Frau im Faschismus", die im Mai 1980 an der Universität Bielefeld im Rahmen des Jahreskurses DEUTSCH ALS FREMDSPRACHE stattgefunden hat. Dieser Kurs bereitet ausländische Studenten auf die Deutsche Sprachprüfung vor Aufnahme des Fachstudiums vor. Zum Zeitpunkt der Aufnahme unterrichtete die Lehrerin die Klasse seit einem halben Jahr drei mal drei Stunden pro Woche. Der Kurs bestand aus neun Lernern, davon sieben weibliche und zwei männliche. Die Lerner gehörten unterschiedlichen Nationalitäten an. Zu Beginn des Unterrichts sind nur sechs Lerner anwesend.
8
z.B. Reuter (1982) und Richter (1982) haben solche Handlungsfiguren/Muster sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene des muttersprachlichen Unterrichts herausgefunden und untersucht: Rededuelle, Figuren der Sozialsteuerung (Redegebot/Rederecht, Sprecherauswahl, „hierarchische Individuierung", Inklusions-, Exklusionsfiguren), Leistungsüberprüfungsfiguren, normierende Figuren u.a. Diese „Strategien-Muster" sind nicht mit „ Sequenzierungsmustern" von Sprechhandlungen zu verwechseln, so wie sie z.B. von Gülich/Henke (1979), Wunderlich (1978 und 1980) und Metzing (1980) am Beispiel von „Kontakt aufnehmen", „Wegauskunft einholen", „Rat geben" und „Hilfe erbitten" untersucht worden sind.
Initiativhandlungen
im
Fremdsprachenunterricht
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Transskription
Erläuterungen (1) linke Spalte: Sprachhandlungen rechte Spalte: nicht-sprachliche Handlungen (2) Kennzeichnung der Sprecher durch abgekürzte Vornamen (B.,H„ . . .) (3) Alle Äußerungen sind durchnummeriert (4) Die Äußerungen jedes einzelnen Sprechers sind durchnummeriert (5) Eine kurze Pause wird durch ( . ), eine mittlere Pause wird durch ( . . ) und eine lange Pause durch ( . . . ) gekennzeichnet (6) Besonders deutliche Betonungen werden durch Kursive markiert (z.B. noch einmal) (7) Frageintonation wird durch ('.') kenntlich gemacht (8) Gleichzeitiges Sprechen wird durch Verklammerung der Äußerungen markiert : A: B: C: (9) Unterbrechung eines Sprechers durch einen anderen wird durch Verklammerung und durch Einrücken gekennzeichnet A : Laß ihn doch B: ja ja _C : auch mal zu Wort kommen (10) Unverständliches Sprechen wird durch (XXX) markiert (11) Bei paralinguistischen Besonderheiten, die für das Verständnis der Äußerungen wichtig sein können, erfolgt eine beschreibende bzw. interpretierende Notiz des Transkribenden in Klamm e m z.B. (laut), (erregt) (12) Die Transkription erfolgt standartsprachlich (orthographisch konventionell). In der gesprochenen Sprache übliche Abweichungen wie „nen" oder „nee" werden allerdings nicht normalisiert
160
Gert Henrici
Klassenspiegel
Über-
192
Gert Rickheit¡Hans
Strohner
generalisation > Pseudospezifikation > Wiedergabe (' >' steht für: „hat Vorrang vor"). Es darf nicht übersehen werden, daß die Erstellung einer kohärenten Propositionsliste (Abb. 2) die Konsequenz hat, daß die Kategorie „Wiedergabe" auch gewisse Inferenzen enthält, nämlich diejenigen, die der Konstrukteur der Propositionsliste einsetzen muß, um diese kohärent zu machen. Jede der Bewertungskategorien diente als abhängige Variable in einem 2x2x2-Design mit wiederholten Messungen auf dem dritten Faktor: optische oder akustische Rezeption, optische oder akustische Reproduktion, unmittelbare Reproduktion oder Reproduktion nach einer Woche. Für jede Variable wurde sowohl eine Analyse mit absoluten Kategorienhäufigkeiten als auch eine Analyse mit prozentualen Anteilen der Kategorien an der Gesamtzahl der von jeder Versuchsperson reproduzierten Propositionen gerechnet. Zusätzlich wurde eine Analyse für den Gesamt-Output jeder Vp gerechnet.
4
Ergebnisse
4.1 Gesamtanzahl der reproduzierten
Propositionen
Weder der Faktor der Textrezeption noch der Faktor der Textreproduktion hat einen statistisch bedeutsamen Einfluß auf die Menge der reproduzierten Propositionen. Die in der Varianzanalyse signifikante Interaktion zwischen Rezeption und Reproduktion (F( 1/96)=4,23; ρ < .05) konnte in Newman-Keuls-Tests zwischen den einzelnen Gruppen nicht nachgewiesen werden. Nur der Unterschied zwischen der ersten und zweiten Reproduktion über alle vier Gruppen hinweg ist signifikant ( F ( l / 9 6 ) = 3,96;p