Pegida-Effekte?: Jugend zwischen Polarisierung und politischer Unberührtheit 9783839446058

Pegida has changed the political discourse: this much is clear four years after the protests began. But interpretations

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German Pages 434 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Problemstellung und Vorgehen
2. Pegida als Protestbewegung und Offerte politischer Deutungskultur
3. Konventionell, konform, kompatibilitätsorientiert? Relevanzsysteme, Wer thaltungen und normative Bindungen der jungen Menschen
4. Politikdistanz und Polarisierungsresistenz. Die unpopulären Themen
5. Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster
6. Fatale Verständigung im Zeitalter des »hilflosen Antipopulismus«? Die Aporie des Dialogs am Beispiel eines Dresdner Stadtteils
7. Die Jugend – im Bann von Pegida?
Anhang
Literaturverzeichnis
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Julian Schenke, Christopher Schmitz, Stine Marg, Katharina Trittel PEGIDA-Effekte? In Zusammenarbeit mit Florian Finkbeiner, Pauline Höhlich, Sören Isele, Daniela Kallinich, Michael Thiele.

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft

Julian Schenke (M.A.), geb. 1988, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und an der Bundesfachstelle Linke Militanz. Christopher Schmitz (M.A.), geb. 1988, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Stine Marg (Dr.), geb. 1983, ist geschäftsführende Leiterin des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Katharina Trittel (M.A.), geb. 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung und an der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen (FoDEx).

Julian Schenke, Christopher Schmitz, Stine Marg, Katharina Trittel

PEGIDA-Effekte? Jugend zwischen Polarisierung und politischer Unberührtheit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4605-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4605-8 EPUB-ISBN 978-3-7328-4605-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort  | 9 1. Problemstellung und Vorgehen  | 11 1.1 Pegida und die Jugend: Neue Indikatoren für ein verändertes politisches Klima? | 12 1.2 Untersuchungsobjekt Jugend: Über das Anknüpfen an ein Forschungsfeld | 15 1.3 Fragestellung und Studiendesign | 29 2. P  egida als Protestbewegung und Offerte politischer Deutungskultur  | 49 2.1 Konsolidierte Bewegung, neurechte Vorfeldorganisation, Seismograf einer veränderten politischen Kultur? Der Stand der Forschung zum Protestphänomen Pegida | 49 2.1.1 Empirische Studien zu den Pegida-Demonstrationen | 50 2.1.2 Pegida als Phänomen: Wissenschaftliche Interpretationslinien und Deutungsansätze zu Einstellungsmustern und Ursachen | 57 2.1.3 P  egida als Symptom eines tiefgreifenden Wandels: Wohin steuert das veränderte politische Klima? | 70 2.2 Das Reden von Pegida. Narrative, Topoi und Deutungsmuster | 77 2.2.1 Zwischen Facebook und Face-to-Face | 78 2.2.2  Pegida: Eine Bewegung in drei Jahren und vier Phasen | 82 2.2.3 Pfingst-Phalanx: Die vollendete Annäherung von Pegida und AfD | 96 2.2.4 Sommer in der Stadt – Rechtspopulistische Rhetorik als Blaupause | 101

3. Konventionell, konform, kompatibilitätsorientiert? Relevanzsysteme, Werthaltungen und normative Bindungen der jungen Menschen  | 105 3.1 Die Suche nach dem inneren Kompass | 105 3.2 Das Relevanzsystem der jungen Menschen | 110 3.2.1 »Eigentlich spießig« und »omamäßig« – Der enorme Stellenwert von traditionellen Familienkonzepten | 110 3.2.2 Der größte Konsens und die stärkste Scheidungslinie: Urlaub und Geld | 114 3.2.3 Was hat es auf sich mit »Vielfalt« und »Toleranz«? | 117 3.3 Größerer Raum für Selbstentfaltungswerte? | 120 3.3.1 (Politische) Bildung als Schnittstelle und Scheidelinie zwischen Selbstentfaltungs- und Pflichtwerten | 124 3.3.2 Rückkehr zu »Recht und Ordnung«? Die hohe Bedeutsamkeit von Pflicht- und Akzeptanzwerten | 125 3.3.3 »Weil wir einfach unterschiedlich ticken« – Deutsche Tugenden und die Leitkulturdebatte | 130 3.4 Jugend ohne Wert(e)? | 136 3.4.1 Das gute Miteinander durch »unverbindliche Freundlichkeit« | 137 3.4.2 »Nur das Gute ist willkommen« | 141 3.4.3 Prosoziale Werte | 143 3.4.4 Allgemeinwohl? Mein Wohl! | 147 3.4.5 »Mal ein bisschen Ordnung schaffen«: Der Wunsch nach Konformität und Kontrolle | 151 3.5 Werteprofile und Spezifika – Zwischenfazit | 153

4. Politikdistanz und Polarisierungsresistenz. Die unpopulären Themen  | 161 4.1  Pegida als Bezugssystem: Primäre Distanz und sekundäre Anschlussfähigkeit | 161 4.1.1 Reden über Legida: Ohne NoLegida geht es nicht | 164 4.1.2 Reden über Pegida: Ein strukturelles Problem? | 170 4.1.3 Protest aus Notwehr? Eine Diskreditierungsperspektive | 175 4.1.4 Zwischen Urteil und De-Chiffrierung | 177 4.1.5 Das Leiden der Anderen und die Mitte als Disclaimer | 180 4.1.6 Zwischenfazit | 183 4.2 Deutungsmuster von Politik, Demokratie und Gesellschaft | 185 4.2.1 Junge Menschen und ihr Verhältnis zur Politik: Zwischen Interesse und Abstinenz | 186 4.2.2 Satire und Außenpolitik: Die politischen Themen der jungen Menschen | 192

4.2.3 Das »unsichtbare Politikprogramm« oder: Was bedeutet für sie Politik? | 197 4.2.4 Politikerinnen und Politiker, Parteien – Leerstellen des politischen Deutungsmusters | 201 4.2.5 Konsumbürgerinnen und -bürger | 207 4.2.6 Demokratie – was? | 209 4.2.7 Gesellschaft | 212 4.2.8 Heimat: kein Begriff, aber ein Konzept | 214 4.2.9 Junge Menschen als aktive Stützen der Zivilgesellschaft? | 218

5. Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster  | 223 5.1 »Ego-Shooter«. Über Mittelschichtsideale, internalisierten Meritokratismus und das ökonomische Prisma | 223 5.1.1 Fixpunkt und Lebensziel: Das klassische Mittelschichtsideal | 226 5.1.2 Leistung und Bildung als goldene Prinzipien der Ego-Shooter im Kampf gegen die Abstiegsgefahr | 232 5.1.3 »Kein Mensch muss auf der Straße schlafen« – Über das ökonomische Prisma und den Umgang mit Unsicherheiten | 245 5.2 Der »Fremde« und der Islam | 252 5.2.1 Wie Pegida-Redner/-innen und Anhänger/-innen »die Anderen« wahrnehmen | 252 5.2.2 Allerorten abwertende Ungleichwertigkeitsaussagen | 254 5.2.3 Ablehnung aus ökonomischer Perspektive | 260 5.2.4 Ablehnung aus der Perspektive des Sicherheitsbedürfnisses | 269 5.2.5 Ablehnung aus kultureller Perspektive – der Fokus auf »den Islam« | 270 5.2.6 Der schmale Grat zwischen abwertenden Ungleichwertigkeitsaussagen und harten Ressentiments – Zwischenfazit | 280 5.3 Unglaubwürdig und manipulativ? | 283 5.3.1 Das Medienbild der jungen Menschen | 283 5.3.2 Über Russland und 9/11: Verschwörungskonstrukte der Befragten | 290 5.4 Sicherheit in der Unsicherheit. Die Sicht auf die Zukunft und die Ambivalenz von Ängsten und Sorgen | 300 5.4.1 Sorgen und Sicherheiten: Die persönliche Zukunft | 305 5.4.2 A box full of fears: Gesellschaftliche Probleme und die ungewisse Zukunft | 306 5.4.3 Angstrhetorik versus Angstempfindung? Zwischenfazit – Versuch | 317

6. Fatale Verständigung im Zeitalter des »hilflosen Antipopulismus«? Die Aporie des Dialogs am Beispiel eines Dresdner Stadtteils  | 323 6.1 Genese einer Lokalinspektion | 324 6.2 A rchitektur der Widersprüche | 326 6.3 Klotzsche im Kurzportrait | 327 6.3.1 Soziodemografische Merkmale | 328 6.3.2 Politische Situation vor Ort | 330 6.4 Asylunterkünfte in Klotzsche – eine Chronologie von Plänen und Ereignissen | 332 6.5 Das Ringen um Dialoge, Verständigungen und Lösungen | 337 6.5.1 Echo-Kammer oder diskursives Vakuum? | 338 6.5.2 Klotzsche hört sich zu | 339 6.5.3 Handfestes Misstrauen beim Tag der offenen Tür | 341 6.5.4 Patenschaft und Aperçu – der dritte Bürgerdialog | 344 6.6 Von synchronen Monologen als Nebenfolge des Antipopulismus | 351 6.7 Die Krise der Linken als Krise der Demokratie? | 356

7. Die Jugend – im Bann von P egida?  | 363 7.1 Zusammenfassung der Teilresultate | 363 7.2 Fazit: Bedeutung für Demokratie und Zivilgesellschaft? | 373 7.3 Praktische Anknüpfungspunkte und Handlungsempfehlungen | 377 Anhang  | 379 A) Abschließend: Ein Beispiel | 379 B) Fragebogen | 384 C) Wörterliste | 389 D) Abbildungsverzeichnis | 403

Literaturverzeichnis  | 405

Vorwort

Ein Forschungsprojekt ist mehr als das Buch zum Abschluss. So konnte auch der vorliegende Text als das Produkt von Gedanken, Einwürfen und Widersprüchen nur aufgrund vielfältiger Unterstützung entstehen. Besondere Dankbarkeit möchten wir gegenüber den zahlreichen Forschungspartnerinnen und Forschungspartnern äußern, die sich bereit erklärt haben, mit uns zusammenzuarbeiten und ihre Zeit für uns aufzuwenden, sei es in Interviews, Fokusgruppen o.ä. Ohne diese Bereitschaft auf freiwilliger Basis wäre jede empirische Forschungsarbeit zum Scheitern verurteilt. Ein besonderer Dank gilt darüber hinaus dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dem Bundesamt für zivilgesellschaftliche Aufgaben und dem Bundesprogramm »Demokratie leben« für die Förderung dieses Forschungsprojektes. Es ist anzumerken, dass die Veröffentlichung keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA darstellt. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autoren und Autorinnen die Verantwortung. Mehrere Kolleginnen und Kollegen haben in unermüdlichem Einsatz wesentliche Teile des Forschungsprozesses unterstützt. Ohne die Mitarbeit von Florian Finkbeiner, Pauline Höhlich, Sören Isele, Daniela Kallinich und Michael Thiele wäre diese Studie nicht möglich gewesen. Abschließend möchten wir unsere tiefe Dankbarkeit Prof. Dr. Franz Walter gegenüber zum Ausdruck bringen. Die Pegidaforschungen am Göttinger Institut für Demokratieforschung waren von Beginn an durch ihn initiiert, ermöglicht und getragen. So ist das vorliegende Buch eines von vielen, das es ohne ihn schlichtweg nicht gegeben hätte.

1.  Problemstellung und Vorgehen

Schon das einjährige Bestehen ist für Protestbewegungen eine Wegmarke; ein Ausweis kontinuierlichen Durchhaltevermögens und dadurch  – zumindest aus Sicht der Demonstrierenden sowie Aktivistinnen und Aktivisten  – ein Indikator spürbaren Erfolgs. Tatsächlich: Blickt man auf die Geschichte politischer Unmutsbekundungen und Erhebungen in der Bundesrepublik, sind Protest-Jubiläen nicht einfach nüchterne Maßeinheiten verstreichender Zeit, sondern oft auch frühe, wenngleich deutungsbedürftige Zeichen tieferliegender, handfester kultureller und politischer Veränderungen. Insbesondere dann, wenn Protest einerseits als Ausdruck von Inklusionsbegehren oder andererseits als Reaktion auf Entpolitisierungsprozesse, die in Misstrauen gegenüber den politischen Eliten umschlagen kann, gedacht wird. Ein Protest-Geburtstag ist daher nicht nur von Bedeutung für die Protestierenden selbst, sondern womöglich aussagekräftig in Bezug auf eine ganze Gesellschaft. Im vergangenen Oktober feierten die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«, kurz: Pegida, auf dem Dresdner Theaterplatz ihren dritten Jahrestag. Dies ist auch durchaus ein Hinweis darauf, dass sich der Protest zu Ansätzen einer sozialen Bewegung oder eines Teils davon verstetigt hat. Zu Beginn der meist wöchentlich stattfindenden montäglichen »Spaziergänge« im Spätherbst 2014 war trotz aller medialen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit noch nicht abzusehen, ob es sich hier um ein punktuelles Strohfeuer handeln, oder ob sich Dresden als Seismograf eines schwerer wiegenden und allgemeinen politisch-kulturellen Gärungsprozesses erweisen würde.1 Nun wurde im Zuge der Geschehnisse 2015, als syrische und arabische Flüchtlinge, die über die sogenannte »Balkanroute« nach Europa und Deutschland strebten, und vor allem nach dem damit in Verbindung stehenden elektoralen Siegeszug der aggressiv-populistisch auftretenden AfD unmissverständlich deutlich, dass das seit Jahren schwelende Misstrauen der Bürger/-innen in die politischen Institutionen und ihre Vertreter/-innen erhebliches Konflikt1 | Vgl. Joachim Fischer, Hat Dresden Antennen? Die Funktion der Stadt für gesamtgesellschaftliche Debatten seit 1989, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 795, 2015, S. 16-28.

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potenzial birgt, das sich zum einen situativ in drastische Polarisierungsschübe entladen kann, sich zum anderen auch verstetigen und tief in die Struktur der deutschen Demokratie einzusinken vermag. Es handelt sich hier um Tendenzen, die bereits in den Studien des Instituts für Demokratieforschung zu den Entstehungs- und Konsolidierungsdynamiken von Pegida, zu der durch und durch »mittigen« Sozialstruktur ihrer Demonstrierenden und den Sinnquellen ihres Protests2 antizipierend aufgedeckt werden konnten. Zudem ergab die Analyse der zivilgesellschaftlichen Gegenproteste von NoPegida, dass die gebildeten, weltoffenen und protesterfahrenen Teile der gutsituierten bürgerlichen Mitte sich durchaus konfrontativ herausgefordert fühlten, den Kampf um die kulturelle Deutungshoheit in der Bundesrepublik unerbittlich zu führen.3 Doch ist die Geschichte dieses Protestphänomens und seines Antagonisten keineswegs zu Ende erzählt. Im Gegenteil. Dem Mosaik von Protest und Gegenprotest fehlte bisher ein entscheidendes Stück: das Verhältnis der Proteste zur nichtprotestierenden Mehrheit, der »Normalbevölkerung«.

1.1 P egida und die J ugend : N eue I ndik atoren für   ein   ver ändertes politisches K lima? Zwar mag die vielfach proklamierte Polarisierung des politischen Klimas in der Stadt Dresden eher ein situatives, bereits wieder abgeklungenes Phänomen gewesen sein, und jedenfalls keineswegs eine so elementare Umwälzung bedeuten, wie es die zivilgesellschaftlichen Akteure vor Ort gerne dargestellt haben. Doch lässt sich heute, im Jahr 2018, infolge der kontinuierlichen Beforschung konstatieren: Der Pegida-Protest scheint geholfen zu haben, die Kräfteverhältnisse der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit zu verschieben. Schließlich – so auch die einschlägigen Kommentare, die im Kapitel 2.1. referiert werden – trug er wesentlich dazu bei, den Rekurs auf nationale beziehungsweise kulturelle »Identität« der autochthonen Deutschen zu etablieren, zumindest die Debatte um die »Leitkultur« erneut zu aktualisieren, die Forderung nach protektionistischem Erhalt ihrer Privilegien gegen die als Zumutung für die unteren Mittelschichten gebrandmarkten Projekte von Internationalisierung und Zuwanderung in Stellung zu bringen. Populistische, zuweilen zynische Provokation ist das dieser Haltung entsprechende Stilmittel, seit den Wahlen 2 | Vgl. Lars Geiges u.a., P egida: Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2015; Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora? P egida im Jahr 2016 und die Profanisierung rechtspopulistischer Positionen, Forschungsbericht, Göttingen 2016. 3 | Vgl. Stine Marg u.a., NoPegida: Die helle Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2016.

1.  Problemstellung und Vorgehen

2017 sogar im Plenarsaal des Bundestags. Die kosmopolitisch gesinnte, den freien Verkehr von Waren, Kapital und Menschen befürwortende (links-)liberale Gegenseite der neuen, erfolgreichen Mittelschichten indes reagiert mit defensiver Verhärtung und Unverständnis, beklagt den Diskurswandel sowie die Salonfähigkeit rechter Positionen in Medien und Öffentlichkeit, und beruft sich auf die Maximen von Vielfalt und Toleranz – während eine wohlsituierte, gegenüber nachrückenden Aufsteigern jedoch zunehmend abgeschottete alte Mittelschicht die gesellschaftliche Eintracht zerrinnen sieht. Kurzum: Es gibt gute Gründe dafür, dass Pegida die identitätspolitische Tribalisierung der Mitte, die seit 2014/15 spürbar an Fahrt gewinnt, befeuert hat. Aber: Ist Pegida bloßes Signum von Veränderung, hat der Protest also ratifiziert und an die Oberfläche der Aufmerksamkeit geholt, was sich schon vorher ankündigte – oder ist Pegida gar ein entscheidender Katalysator gewesen, der es vermocht hat, Individuen und Gruppen in seinen Bann zu schlagen? Nachdrücklich stellt sich die Frage, wohin die Bruchlinien einer bundesrepublikanischen Demokratie der dezimierten Volksparteien führen, das heißt, wie die politische Kultur Deutschlands in den kommenden Jahren und Jahrzehnten aussehen wird. Im Falle der Vereinigten Staaten von Amerika, einem Land, das noch immer als Vorreiter gesellschaftlicher Entwicklungen in den westlichen (post-) industriellen Gesellschaften gilt, sind dem Problem der identitätspolitischen Polarisierung der Mitte in den letzten Jahren bereits mehrere Bücher gewidmet worden. So argumentierte jüngst Robert Putnam auf empirischer Grundlage, dass durch sozialstrukturelle Entwicklungen eine neue Klassengesellschaft entstanden sei, deren Lebensrealitäten das alte Aufstiegs- und Chancengleichheitsversprechen des »American Dream« radikal entwertet hätten. Die Kindheit seiner Kinder sei mit seiner eigenen kaum mehr vergleichbar.4 Dass aber gerade diejenigen US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner, die die ökologischen und sozialen Folgen des wirtschaftlichen Wachstums am deutlichsten zu spüren bekommen, ihre Stimme den wirtschaftsfreundlichen Präsidentschaftsbewerbern George W. Bush und Donald Trump gaben, zeigt, dass die Konfliktlinien nicht allein zwischen dem soziologisch feststellbaren »Oben« und »Unten«, sondern eben auch entlang kultureller, teils religiös gefärbter Polarisierungen verlaufen, nah am klassischen Cleavage zwischen ruralen und urbanen Mittelschichten. Diesem Phänomen widmen sich gleich mehrere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mittlerweile Bestsellerautorinnen

4 | Vgl. Robert D. Putnam, Our Kids: The American Dream in Crisis, 2016.

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und -autoren wurden, wie Thomas Frank 5, Chaterine J. Cramer6 oder Arlie Russell Hochschild. Hochschild arbeitete in einer vielbeachteten Milieustudie heraus, wie sich das Gefühl des gesellschaftlichen »Abgehängtseins« frustrierter und wütender Bürger, die den bisher etablierten politischen und kulturellen Eliten mit zynischem Misstrauen gegenüberstehen, in Zustimmung zur neurechten Tea-Party-Bewegung ummünze.7 Die Verweigerungshaltung gegenüber dem sogenannten »Establishment« findet seinen Ausdruck demnach auch in epistemologischer Hinsicht: Die auf das prüf bare Faktum verwiesene Distinktion »richtig« vs. »falsch« werde aufgelöst zugunsten einer unversöhnlichen Negationshaltung, blockierender »Empathiemauern«, die die gesellschaftlichen Gruppen zwischen sich einziehen. Gleichwohl: Die Spaltung in unversöhnliche Fronten heftet sich im Gegensatz zu Europa mitunter, wie Torben Lütjen gezeigt hat, an die Wählerlager von Demokraten und Republikanern und verschärfte sich hier in den letzten Jahren insofern eher ideologisch-dualistisch als tribalistisch.8 Bezeichnenderweise stießen viele dieser Autoren auf das Problem einer sozial desillusionierten und politisch heimatlosen Jugend. Nicht nur habe, so James David Vance, die politisch-kulturelle Umwälzung, die sich etwa in der Entfremdung der »white working class« von der eigenen Gesellschaft andeute, unter ebenjenen Jugendlichen begonnen.9 Auch bei Putnam sind es die mageren Berufsaussichten und prekären strukturellen Ressourcen der jungen Generationen, hier allerdings des Nachwuchses der unteren und mittleren Mitte, die den sozialen Konfliktstoff der näheren Zukunft lieferten. Solche Erwägungen rücken die Jugend ins Zentrum auch des Interesses am bundesrepublikanischen politischen Klima. Denn unter Jugendlichen und jungen Menschen schälen sich diejenigen Orientierungsmuster, Denkweisen, Deutungsschemata und Wertordnungen, sozialen und kulturellen Problemwahrnehmungen, Erwartungen und Hoffnungen, auch Auffassungen von persönlicher und kollektiver Zugehörigkeit heraus, die künftige Modi des gesellschaftlichen Zusammenlebens maßgeblich prägen werden. Insofern geraten insbesondere jene Regionen in den Aufmerksamkeitsfokus, die ohnehin 5 | Vgl. Thomas Frank, What’s the Matter with Kansas? How Conservatives Won the Heart of America, 2005. 6 | Catherine J. Cramer, The Politics of Resentment. Rural Conciousness and the Rise of Scott Walker, Chicago 2016. 7 | Arlie Russell Hochschild, Strangers in Their Own Land: Anger and Mourning on the American Right, New York 2016. 8 | Torben Lütjen, Die Politik der Echokammer: Wisconsin und die ideologische Polarisierung der USA, Bielefeld 2016. 9 | James David Vance, Hillbilly Elegy: A Memoir of a Family and Culture in Crisis, London 2017.

1.  Problemstellung und Vorgehen

durch Eruptionen der politischen Kultur auffällig geworden sind, oder Ereignisse und Formationen, die eine bundesweite Ausstrahlung erreichen konnten. Hat Pegida die junge Generation in Dresden, Sachsen beziehungsweise der Bundesrepublik insgesamt politisch beeinflusst? Konnten die Demonstrationen und ihre Organisatorinnen und Organisatoren Stereotype prägen, Pauschalisierungen etablieren oder Aggressionen schüren, die bei Jugendlichen eine sichtbare Wirkung zeitigen? Ob Pegida in diesem Sinne »wirkt«, ist angesichts von zunehmenden fremdenfeindlichen Übergriffen und Anschlägen eine drängende Frage.10 Haben sich Haltungen und Diskurse, vornehmlich in Dresden und Sachsen verändert, während in anderen Regionen Deutschlands abweichende Muster erkennbar sind? Inwiefern dringen Phänomene wie die breit diskutierte sogenannte Neue Rechte im Allgemeinen und Pegida im Besonderen in die Lebens- und Gedankenwelt von Jugendlichen ein? Inwieweit werden junge Menschen in diesem Prozess und von den beschriebenen Phänomenen geprägt und wie reagieren sie auf diese? Denn: Ließe sich unter der jungen Generation ein Einfluss von Pegida messen, so wäre auch das Indikator eines veränderten politischen Klimas.

1.2 U ntersuchungsobjek t J ugend : Ü ber das A nknüpfen an   ein F orschungsfeld Jugendliche und junge Menschen sind Bezugspunkt der vorliegenden Studie. Sie stellten sich uns als Gesprächspartner zur Verfügung, gaben uns Auskunft über ihre Lebensverhältnisse, über ihre Ängste und Zukunftserwartungen, über ihre Sicht auf sich selbst und ihre Umwelt sowie auf Gesellschaft und Politik. Damit stießen wir in ein ausgesprochen lebendiges Forschungsfeld vor, denn politische, wissenschaftliche und mediale Debatten über die »Lage der Jugend« sind ein periodisch wiederkehrendes Phänomen. Das Erkenntnisinteresse am Thema ist von Wünschen und Hoffnungen (etwa auf eine progressive, aufgeschlossene und politische Jugend, den »Hoffnungsträger im Zukunftsloch«11), aber auch von Sorgen und Ängsten (etwa vor einer apathischen und »entpolitisierten« Jugend einerseits, vor einer möglicherweise politisch radikalisierten, gewaltbereiten Jugend andererseits) geprägt. Nicht 10 |  So etwa der versuchte Anschlag auf die Dresdner Fatih-Camii-Moschee 2016, vgl. Bernhard Honnigfort, P egida -Attentäter ist geständig, in: Frankfurter Rundschau, 05.02.2018, online einsehbar unter www.fr.de/politik/dresden-pegida-attentaeterist-gestaendig-a-1441416 (eingesehen am 21.02.2018). 11 |  Vgl. Roland Roth und Dieter Rucht (Hg.), Jugendliche heute, Hoffnungsträger im Zukunftsloch?, in: Roland Roth und Dieter Rucht, Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz?, Opladen 2000, S. 9-34, hier S. 9.

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selten werden aktuelle gesellschaftliche Konfliktlagen und Problemstellungen »stellvertretend als Jugendprobleme diskutiert«12, sind einschlägige Studien zumeist in diesem Sinne praxis- und bedarfsorientiert ausgerichtet.13 Dass das Verhältnis der Jugendlichen und jungen Menschen zur Politik von großem Gewicht ist, ja einem Lackmustest für die Stabilität der demokratischen Institutionen und der sozialen Integrität der Gesellschaft gleichkommt,14 ist – ob explizit oder implizit  – Prämisse der meisten Studien, auch wenn kritische Stimmen vor einer Überschätzung der Jugendphase als Einflussgröße der Entwicklung politischer Werte und Kompetenzen in der Gesellschaft warnen.15 Der Blick auf die Jugend verspricht oftmals prognostischen Gewinn, hofft er doch, zukünftige Entwicklungen beziehungsweise Kontinuitäten von Gesellschaft und Politik – ob diese nun zum »Guten« oder zum »Schlechten« ausfallen  – frühzeitig erkennen zu können.16 Gerade angesichts der seit Jahren geführten Debatte über den Zustand beziehungsweise eine eventuelle »Krise« der Demokratie und angesichts des Aufstiegs (rechts-)populistischer Parteien

12 | Vgl. Bernhard Schäfers und Albert Scherr, Jugendsoziologie. Einführung in Grundlagen und Theorien, Wiesbaden 2005, S. 21. Vgl. ferner Hartmut M. Griese und Jürgen Mansel, Jugendtheoretische Diskurse, in: Hartmut Griese u.a. (Hg.), Theoriedefizite der Jugendforschung. Standortbestimmung und Perspektiven, Weinheim/München 2003, S. 11-30, hier S. 22. 13 | Vgl. Schäfers und Scherr, Jugendsoziologie, S. 21 und 41 sowie Jutta Ecarius und Marcel Eulenbach (Hg.), Jugend und Differenz. Aktuelle Debatten der Jugendforschung, Wiesbaden 2012, S. 9. Das gesellschaftspolitische Interesse an der deutschen Jugend tritt anschaulich aus den Geleitworten der aktuellen Shell Jugendstudien hervor, vgl. Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch. 17. Shell Jugendstudie, Bonn 2016; Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2010. 16. Shell Jugendstudie, Frankfurt a.M. 2010; Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2006. 15. Shell Jugendstudie, Frankfurt a.M. 2006; Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2002. 14. Shell-Jugendstudie, Frankfurt a.M. 2004. 14 | Vgl. Ursula Hoffmann-Lange, Was kann die Jugendforschung zur politischen Kulturforschung beitragen?, in: Edeltraud Roller u.a., (Hg.), Jugend und Politik: »Voll normal!« Der Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforschung, Wiesbaden 2006, S. 55-74, hier S. 55. Vgl. außerdem Gert Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit. Zwei politische Kulturen in Deutschland nach der Vereinigung?, Opladen 2002, S. 11. 15 | Vgl. Heinz Reinders, Politische Sozialisation Jugendlicher. Entwicklungsprozesse und Handlungsfelder, in: Aydin Gürlevik u.a. (Hg.), Jugend und Politik. Politische Bildung und Beteiligung von Jugendlichen, Wiesbaden 2016, S. 85-101, hier S. 85. 16 |  Vgl. Jürgen Gerdes und Uwe H. Bittlingmayer, Jugend und Politik. Soziologische Aspekte, in: Aydin Gürlevik u.a. (Hg.), Jugend und Politik. Politische Bildung und Beteiligung von Jugendlichen, Wiesbaden 2016, S. 45-67, hier S. 45.

1.  Problemstellung und Vorgehen

in Europa erscheint eine solche Perspektivnahme besonders attraktiv.17 Auch deswegen ist die soziologische oder politikwissenschaftliche Jugendforschung selten an Grundlagenforschung und Theoriebildung interessiert. Vorherrschend sind in diesem Feld vielmehr repräsentativ angelegte und an aktuellen Entwicklungen interessierte Studien, wie etwa die »Shell Jugendstudien« oder der Längsschnittsurvey des Deutschen Jugendinstituts (DJI)18, ferner auf die Rekonstruktion von Lebenswelten konzentrierte Methodenmixturen, wie sie vom SINUS-Institut verfolgt werden.19 Qualitative Forschungsdesigns  – wie das hier umgesetzte – hingegen sind rar. Ein gebräuchliches Vorgehen der sogenannten Jugendforschung ist bereits seit Jahrzehnten, für die je ausgewählte Kohorte Mannheim’sche Generationengestalten auszurufen: Nannte man die Geburtsjahrgänge 1940-1955 die 68er-Generation, waren diejenigen von 1955-1970 die saturierten Babyboomer, bekamen die zwischen 1970 und 1985 Geborenen den Titel der ökonomisch wie ökologisch krisengeprägten Generation X verliehen (um die Jahrtausendwende ergänzt durch das Schlagwort der vermeintlich konsumorientierten und egoistischen »Generation Golf«20). Als jüngste Generationenkategorie firmiert seit einigen Jahren  – in ironisierter alphabetischer Fortführung  – die reflexionsbedürftige und erstmals mit digitalen Medien aufgewachsene Generation Y (auch Millennials genannt) für die Jahrgänge 1985 bis 2000.21 (Für die Kohorte von 2000 bis heute ist, obwohl das SINUS-Institut die Jugendlichen von 2016 Generation Mainstream nennt, noch keine mehrheitsfähige Generationenkategorie vorhanden.) Es gilt zu beachten, dass solche Kategorien oftmals zuerst von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Journalistinnen und Journalisten ins Gespräch gebracht und erst später vom wissenschaftlichen Diskurs adaptiert werden. Es sind mithin Slogans, deren analytisches Potenzial zwar diskutabel ist, die aber dennoch zweifellos als »gesellschaftliche

17 |  Vgl. exemplarisch Johanna Dürrholz, Europas Jugend hält nicht viel von Demokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.05.2017. URL, www.faz.net/aktuell/politik/ ausland/europas-jugend-ist-laut-yougov-studie-eu-skeptisch-14999691.html (eingesehen am 20.09.2017). 18 | Martina Gille u.a., Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland. Lebensverhältnisse, Werte und gesellschaftliche Beteiligung 12- bis 29-Jähriger, Wiesbaden 2006. 19 |  Vgl. Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Wiesbaden 2016. 20 | Vgl. Florian Illies, Generation Golf. Eine Inspektion, Frankfurt a.M. 2001. 21 | Vgl. Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht, Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert, Weinheim/Basel 2014, S. 17.

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Orientierungskategorien«22 fungieren, welche die Komplexität sozialer Entwicklungen zu strukturieren helfen. Aber die Diskussionen um Jugend drehen sich immer auch um Signalbegriffe, die zeitgenössische Entwicklungen problematisieren sollen. Abgesehen von der Frage, ob man solche Versuche als veranschaulichende Vereinfachungen begrüßt oder als »überpointierte Generalisierungen auf der Basis weniger Indikatoren«23 kritisiert, geben sie doch fraglos Aufschluss über die Struktur einschlägiger Debattenverläufe. Daher lohnt sich ein kurzer Überblick: Sprach der konservative Soziologe Helmut Schelsky in den 1950er Jahren noch von einer politikfremden und pragmatischen »skeptischen Generation«24, so ist spätestens seit den Studentenprotesten der späten 1960er und frühen 70er Jahre das Begriffspaar Konformismus/Nonkonformismus ein Evergreen der Diskussion um die Abfolge von Jugendgenerationen, seit der 9. Shell-Jugendstudie 1981 auch immer wieder im Zusammenhang mit der Frage selbstständiger »Jugendkultur(en)«.25 Gefragt wurde und wird hier nach Kräftereservoirs politisch-rebellischen Verhaltens, häufig (wenn auch nicht immer) mit dem Ergebnis abnehmender subversiver Tendenzen und zunehmender Sehnsucht der Jugendlichen nach einem saturierten Mittelstandsleben.26 Die Frage, wie aufmüpfig respektive angepasst »die Jugend« sei, ist seither kaum zu umgehen. Auch Erik Hurrelmann und Klaus Albrecht knüpfen in ihren zuweilen staunenden Ausführungen an dieses Vokabular an und nennen die Genera22 | Vgl. Ursula Dallinger, Das ›Problem der Generationen‹, Theorieentwicklung zu intergenerationellen Beziehungen, in: Ursula Dallinger und Klaus R. Schroeter, Theoretische Beiträge zur Alternssoziologie. Reihe Alter(n) und Gesellschaft, Wiesbaden 2002, S. 203-234, hier S. 203. 23 | Vgl. Ursula Hoffmann-Lange, Was kann die Jugendforschung zur politischen Kulturforschung beitragen, S. 59. 24 | Vgl. Helmut Schelsky, Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957, insbesondere S. 451ff. 25 | Vgl. Thomas Köhler, Jugendgenerationen im Vergleich. Konjunkturen des (Non-) Konformismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) H. 5/2002, S. 7-13. 26 | Vgl. Roland Roth und Dieter Rucht, Weder Rebellion noch Anpassung, Jugendproteste in der Bundesrepublik 1950-1994, in: Roland Roth und Dieter Rucht (Hg.), Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz?, Opladen 2000, S. 283-304. Vgl. außerdem Gerdes und Bittlingmayer, Jugend und Politik sowie Cornelia Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität? Wandel der Mentalitäten – Wandel der Generationen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 49/2014, S. 37-43, insbesondere S. 41: »Ging es für die älteren Generationen um den Ausbruch aus der beklemmenden Provinzialität und biederen Mittelmäßigkeit bürgerlicher Lebensentwürfe, so scheinen die Jüngeren genau dahin wieder zurückkehren zu wollen – allerdings unter den Vorzeichen von Digitalisierung und Kosmopolitismus.«

1.  Problemstellung und Vorgehen

tion Y in einem erweiterten Sinne »revolutionär«. Damit meinen sie, dass die »Ypsiloner« im Gegensatz zur früheren lautstarken Außerparlamentarischen Opposition sämtliche Sektoren der Gesellschaft im Stillen umkrempeln würden – trotz äußerlicher Angepasstheit.27 Nach 1989 und vor allem um die Jahrtausendwende herum trat zunächst das Verhältnis der politischen Mentalitäten von Jugendlichen in Ost- und Westdeutschland in den Vordergrund 28; zudem zeigte sich die Jugendforschung für einige Jahre aufgeschreckt durch Wellen rechtsextremer Gewalt und begab sich im Rahmen zahlreicher Studien, Symposien und Sammelbände auf die Suche nach den Ursachen des jugendlichen Rechtsextremismus. Als zentraler Erklärungsfaktor wurde vor allem (nicht immer ohne herablassenden Unterton) die der Wende folgende Orientierungslosigkeit der tendenziell konformistisch-autoritätsfixierten, »modernisierungsrückständigen«, das heißt sozial und ökonomisch deprivierten Menschen nach dem staatlich »verordneten Antifaschismus«29 diskutiert, die Rechtsextremismus als Bewältigungsmodus neuartiger Konfliktlagen durch Rückgriff auf vermeintlich Vergangenes beziehungsweise Tradiertes attraktiv werden lasse.30 Bald jedoch verwarf man monokausale Erklärungsversuche für die vornehmlich von Jugendgruppen ausgehende rechte Gewalt, gerade angesichts des auch in Westdeutschland präsenten Phänomens. Dringend notwendig und aufgrund der dahinter stehenden Komplexität sozialer Verwerfungen zugleich doch unerreichbar, scheint vielen seitdem ein 27 |  Vgl. Hurrelmann und Albrecht, Die heimlichen Revolutionäre, S. 7, »Offen revolutionär sind sie nun wirklich nicht, die jungen Leute. Sie erscheinen schon in ihrer Jugend angepasster, als es die 68er als Rentner sind. Doch der Schein trügt. Die heute 15- bis 30-Jährigen verändern unsere Welt radikal. Sie haben in kurzer Zeit den strukturellen Wandel in Politik, Wirtschaft, Arbeitsleben, Familie, Technik und Freizeit eingeleitet.« 28 | Vgl. etwa Uta Schlegel und Peter Förster (Hg.), Ostdeutsche Jugendliche. Vom DDR-Bürger zum Bundesbürger, Opladen 1997; ferner Sabine Andresen u.a. (Hg.), Vereintes Deutschland – geteilte Jugend. Ein politisches Handbuch, Opladen 2003, und – als aufschlussreiche und besonders systematische Arbeit – Gert Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit. 29 | Vgl. Karl-Heinz Heinemann und Wilfried Schubarth (Hg.), Der antifaschistische Staat entläßt seine Kinder. Jugend und Rechtsextremismus, Köln 1992, insbesondere S. 28. 30 | Dieser Zusammenhang wird auch mehrfach diskutiert in: Hans-Uwe Otto und Roland Merten (Hg.), Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland. Jugend im gesellschaftlichen Umbruch, Opladen 1993, insbesondere S. 237-309; außerdem in Siegfried Lamnek (Hg.), Jugend und Gewalt. Devianz und Kriminalität in Ost und West, Opladen 1995; eine ausführliche Studie zu Brandenburger Jugendlichen findet sich in Dietmar Sturzbecher (Hg.), Jugend in Ostdeutschland. Lebenssituationen und Delinquenz, Opladen 2001.

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»integrierender« Erklärungsansatz, der alle Trägergruppen der Gewalt, nämlich »Modernisierungsverlierer«, »Konkurrenten« auf dem Arbeitsmarkt, »Wochenendextremisten« und »ideologische Überzeugungstäter« berücksichtigt.31 Zu einem konsensfähigen Ergebnis ist diese Diskussion bisher nicht gelangt, obwohl man die tragende Relevanz der Jugend für das Phänomen des Rechtsextremismus fortwährend herausstreicht.32 Zwar ist das Verhältnis von Ost und West im Allgemeinen auch weiterhin Thema der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung, tritt jedoch zugunsten eines bundesrepublikanischen Gesamtblicks mittlerweile in den Hintergrund. Die Gründe dafür liegen, so der Politikwissenschaftler Gert Pickel, in einer wachsenden Angleichung der Lebensverhältnisse ost- und westdeutscher Jugendlicher (im Sinne der Installation demokratischer Institutionen und persönlicher Freiheiten als neue »Selbstverständlichkeiten«), die schon 2002 zu einer Angleichung der »politischen Überzeugungen der Legitimitätsebene bereits in großem Umfang«33 – kurzum: zu einer wachsenden Übereinstimmung der politischen Orientierungen – geführt habe. Zwar dürften noch bestehende Differenzen nicht geleugnet, aber eben auch nicht überbetont werden. Pickel jedenfalls schließt sozusagen mit einer Residualdifferenz zwischen Ost und West: Zählebige Unterschiede bestünden demnach nur mehr in unterschiedlichen Ausprägungsformen von Politikverdrossenheit.34 Diese strukturell ambivalente Situation wird auch in der vorliegenden Studie oft eine Rolle spielen, verkompliziert sie doch die Analyse des Materials. Politikverdrossenheit ist denn auch das eigentliche Grundthema der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung seit den 1990er Jahren, wenn auch nicht durchweg mit diesem Signalwort benannt. Denn die Gefahren von Xenophobie und Rechtsextremismus wurden immer auch als drohende Konsequenz politisch apathischer und desorientierter Jugendlicher und junger Menschen diskutiert.35 Seit nahezu dreißig Jahren drehen sich einschlägige Debatten um 31 | Vgl. Rainer Erb, Action. Über Jugendgruppen und rechte Gewalt, in: Siegfried Lamnek (Hg.), Jugend und Gewalt. Devianz und Kriminalität in Ost und West, Opladen 2000, S. 39-56. 32 | Vgl. exemplarisch Martin Langebach: Rechtsextremismus und Jugend, in: Fabian Virchow Fabian u.a. (Hg.), Handbuch Rechtsextremismus, Wiesbaden 2016, S. 375439, insbesondere S. 418: »Und trotzdem, um die Auseinandersetzung mit ›Jugend‹ führt in der Forschung über Rechtsextremismus heute kein Weg mehr vorbei.« 33 | Vgl. Gert Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit, S. 410. 34 | Vgl. ebd. sowie S. 406f. und S. 262, »Mit steigendem politischen Wissen erkennt man, egal ob in West- oder Ostdeutschland, eher seine Chancen, politische Prozesse beeinflussen zu können, beziehungsweise besitzt ein größeres Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, etwas in der Politik zu bewirken.« 35 | Vgl. ebd., S. 320-339.

1.  Problemstellung und Vorgehen

die Situation einer zunehmend politikverdrossenen Jugend und flankieren die Diagnose, dass Jugendliche, wenn auch nicht mit der Demokratie als politischem System, so doch mit den demokratischen Institutionen und politischen Parteien der Bundesrepublik, fremdeln. So konstatieren verschiedene Forscher­ innen und Forscher ein überdurchschnittlich geringes Vertrauen in Parteien und politisches Personal36, beklagen die geringe politische Partizipationsbereitschaft der Jugendlichen, die nicht einmal zentrale Themen ihrer eigenen Lebenswelt als Gegenstand politischer Auseinandersetzung wahrnehme.37 Eine weitere Feststellung ist, dass das Unbehagen an den Verhältnissen nicht etwa zu gesellschaftspolitischem Engagement und/oder extremistischen Orientierungen führe – all dies benötige vor allem entsprechende Gelegenheitsstrukturen –, sondern zur Abwendung vom politischen Prozess.38 Gleichwohl gibt es auch kontrastive beziehungsweise relativierende Stimmen: Pickel verglich 2002 anhand zahlreicher Daten die Jugend mit der Gesamtbevölkerung und kam zu dem Schluss, dass diese keinesfalls politikverdrossener beziehungsweise »politikfeindlicher« sei als die Erwachsenen.39 Jedoch: Politikverdrossenheit ist nicht gleichbedeutend mit politischem Desinteresse. Das Interesse an Politik habe, so die Autoren der aktuellen Shell-Jugendstudie, jüngst sogar zugenommen.40 Die Konfusion betreffend politischer Verdrossenheit und politischem Desinteresse ist dabei zweifellos auch durch die Unbestimmtheit des Begriffes der Verdrossenheit bedingt.41 36 | Vgl. Ulrich Schneekloth, Jugend und Politik: Zwischen positivem Gesellschaftsbild und anhaltender Politikverdrossenheit, in: Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch. 17. Shell Jugendstudie, Bonn 2016, S. 153-200, hier S. 176 und 180. 37 |  Vgl. Benedikt Sturzenhecker, Den Kids eine Stimme geben! Das und mehr kann politische Bildung mit benachteiligten Jugendlichen von der Milieuforschung lernen, in: Peter Martin Thomas und Marc Calmbach (Hg.), Wie ticken Jugendliche?, Jugendliche Lebenswelten. Perspektiven für Politik, Pädagogik und Gesellschaft. Heidelberg 2013, S. 151-173, hier S. 162. 38 | Vgl. Roland Roth und Dieter Rucht, Jugendliche heute, S. 28-30; ferner Dirk Lange u.a., Politisches Interesse und politische Bildung. Zum Stand des Bürgerbewusstseins Jugendlicher und junger Erwachsener, Wiesbaden 2013, S. 29-37. 39 | Vgl. Gert Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit, S. 166 und 403. 40 | Vgl. Ulrich Schneekloth, Jugend und Politik, S. 200. 41 | Vgl. ebd., S. 36: »Er [der Begriff] lässt sich nicht präzise einengen und besitzt auch kein klar definiertes Objekt der Verdrossenheit. Es besteht keine Eineindeutigkeit des Begriffs, wie er üblicherweise in der wissenschaftlichen Diskussion eingefordert wird.« Deutlich kritischer, ja geradezu abschätzig wird »Politikverdrossenheit« in einem politikwissenschaftlichen Handbuch eingeordnet, »Politikverdrossenheit […] ist ein Modewort der Massenkommunikation. Unter anderem aus diesem Grunde wird es auch

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Manche Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler, darunter Kai Arzheimer, verwerfen ihn daher als analytisch und empirisch untaugliches Modewort.42 Um dem zu begegnen und begriffliche Schärfe herzustellen, schlägt wiederum Pickel unter Rückgriff auf das Konzept politischer Unterstützung nach David Easton eine Differenzierung in fünf Dimensionen politischer Verdrossenheit vor: Er unterscheidet »Staatsverdrossenheit« (die Ablehnung der politischen Gemeinschaft), »Demokratieverdrossenheit« (die Ablehnung des politischen Systems), »diffuse Politikverdrossenheit« (fehlendes politisches Interesse und geringe politische Kompetenz), »Involvierungsverdrossenheit« (fehlende politische Aktivitätsbereitschaft) und »Politikerverdrossenheit« (Ablehnung bestimmter Autoritäten und Institutionen).43 Die Pointe lautet: Nur eine Form, nämlich die im öffentlichen Diskurs in der Regel gemeinte »diffuse Politikverdrossenheit« vereint fehlendes politisches Interesse mit geringer politischer »Kompetenz« (das heißt politischem Fachwissen und der Fähigkeit zu politischer Urteilsbildung). Vor diesem Hintergrund wird rasch ersichtlich, warum Jugendliche und junge Menschen, die politische Eliten ablehnen oder auf die Teilnahme an Parlamentswahlen verzichten, sich durchaus von bestimmten politischen Themen elektrisieren lassen oder sich anderweitig engagieren können. Soweit die Diskussionskonjunkturen der letzten Jahre. Folgen wir den Interpretinnen und Interpreten der im bundesrepublikanischen Forschungsfeld nahezu hegemonialen Shell-, Sinus- und DJI-Studien, so haben wir gegenwärtig eine pragmatische Generation von Jugendlichen vor uns, die sich mit Hilfe einer »egotaktischen Grundeinstellung« und einem »Schuss Opportunismus« auf das eigene Fortkommen konzentriert, wenn auch durchzogen mit Spuren einer »zupackenden«, situativen Engagementbereitschaft.44 Mit Jugendlichen und jungen Menschen, die erfolgreich das Aufwachsen mit  – im Vergleich zu ihren Eltern  – unsicherer gewordenen Karrierechancen bewältigen, sich in einem »Lebensgefühl« der »Statusinkonsistenz« durch eine komplexe und herausfordernde Leistungsgesellschaft navigieren.45 Die wenig von Wissenschaftlern verwendet, die publikumswirksam agieren wollen.« Dieter Fuchs, Politikverdrossenheit, in: Martin Greiffenhagen und Sylvia Greiffenhagen (Hg.), Handwörterbuch zur Politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2002, S. 338-343, hier S. 339. 42 |  Vgl. Kai Arzheimer, Politikverdrossenheit. Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffs, Wiesbaden 2002. 43 |  Vgl. Gert Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit, S. 90-92. 44 | Vgl. Gudrun Quenzel, Jugend 2015, Eine pragmatische Generation im Aufbruch, in: Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch. 17. Shell Jugendstudie, Bonn 2016, S. 375-387, hier S. 377 und S. 376. 45 |  Vgl. ebd., S. 376-379 sowie Hurrelmann/Albrecht 2014, S. 29f.

1.  Problemstellung und Vorgehen

Interesse an selbstständigen Subkulturen oder rebellischem Distinktionsverhalten zeigen, sich stattdessen vielmehr als Teil des Mainstreams präsentieren und »neo-konventionalistische« Werthaltungen (Leistungsbereitschaft, Anpassungsfähigkeit und die Suche nach einem »Platz« in der Gesellschaft, das heißt, nach Akzeptanz und Geborgenheit inmitten stabiler Beziehungen) demonstrieren.46 Und die mit der Partizipation in traditionellen zivilgesellschaftlichen Organisationsformen wie Parteien, Kirchen und Vereinen eher fremdeln, dafür aber steigendes Interesse an flexiblen und temporären Partizipationsmodi bekunden.47 In gewissem Sinne, nämlich hinsichtlich der hier durchscheinenden pragmatisch-individualistischen Lebenshaltung, die nur vordergründig apolitisch erscheint, nähert sich die sogenannte Generation Y wieder der von Schelsky durchleuchteten skeptischen Generation der 1950er Jahre an. Denn Schelsky schrieb seinerzeit: »Unter der pseudo-erwachsenen Skepsis und Politikfeindlichkeit steckt ein durchaus reges Sachinteresse an den Vorgängen der Welt, insbesondere wenn sie irgendeinen Bezug auf die eigene Lage haben.«48 Eine Frage blieb bis hierhin jedoch unbeantwortet: Was genau ist mit Jugend gemeint, wie lässt sich diese Sozialgruppe konzeptuell eingrenzen? Unseren eigenen Ergebnissen vorangestellt – um diese korrekt einordnen zu können – soll daher folgend erläutert werden, was in dieser Studie unter Jugend vor dem Hintergrund der einschlägigen soziologischen beziehungsweise politikwissenschaftlichen Konzeptualisierungspraxis verstanden wird. Unternimmt man eine wissenschaftliche Begriffsbestimmung von Jugend, so gibt es zwei naheliegende Ansatzpunkte: Jugend kann sowohl als psychodynamische Entwicklungsphase als auch als soziales Phänomen verstanden werden.49 Das Entwicklungsphasenmodell mit seinem Fokus auf emotionale und kognitive Prozesse des Lernens und Erziehens, der Herausbildung einer Ich-Identität im Netz von charakterlichen, geschlechtlichen, politischen und anderen Selbstfindungsprozessen ist hauptsächlich für Erziehungswissenschaften und Entwicklungspsychologie von Interesse. Gefragt wird dort danach, welche »Entwicklungsaufgaben« Jugendliche und junge Menschen im Verlauf der Pubertät und danach zu erfüllen haben, über welche Wege sie sich in das gesellschaftliche System integrieren und wie sich diese Integration fördern und verbessern lässt. 46 | Vgl. Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016? , S. 475-477. 47 | Vgl. Wolfgang Gaiser und Johann de Rijke, Partizipation im Wandel? Veränderungen seit Beginn der 1990er Jahre, in: Martina Gille (Hg.), Jugend in Ost und West seit der Wiedervereinigung. Ergebnisse aus dem replikativen Längsschnitt des DJI-Jugendsurvey, Wiesbaden 2008, S. 237-268, hier S. 261-263. 48 | Schelsky, Die Skeptische Generation, S. 451 und 457. 49 | Vgl. hier und im Folgenden Schäfers und Scherr, Jugendsoziologie, S. 17-24.

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Dagegen knüpft die vorliegende Studie, die sich als Teil der politischen Kulturforschung versteht, an das soziologische Verständnis von Jugend als sozialem Phänomen an: Jugendliche und junge Menschen bilden demnach eine gesellschaftliche Gruppe mit untereinander vergleichbaren, durch Generationen- beziehungsweise Altersgruppenzugehörigkeit konstituierten Lebenslagen und Erfahrungsräumen. Diese Perspektive fragt also »stärker nach den sozialen Strukturmerkmalen, durch die die Meinungen, Einstellungen oder Handlungen von Jugendlichen präformiert (nicht determiniert!) werden«.50 Die Emphase auf Strukturmerkmale (also Alters- beziehungsweise Lebenszykluseffekte, Gesellschaftseffekte und Kohorten- oder Generationseffekte51) sollte gleichwohl nicht zur Suche nach monokausalen Erklärungsmustern verleiten, sondern vielmehr mögliche Einflussgrößen untersuchen. Denn die jugendliche Sicht auf Politik und Interessenaushandlung, auf politische Praxis, ist angesichts historisch wandelbarer Lebensbedingungen und sich ausdifferenzierender Lebenswelten divers und denkbar offen.52 In dieser Hinsicht unterscheidet sie nichts von den Erwachsenen. Bewusst bemühten wir uns daher, die verschiedenen Sichtweisen zutage zu fördern, die Diversität verschiedener Weltsichten, Lebensentwürfe und Präferenzmuster zu reproduzieren, wie sie für Konfliktstrukturen in demokratischen Gesellschaften so charakteristisch ist  – gerade bei einem wahrscheinlich polarisierenden Thema wie Pegida. Insbesondere hier galt es, die Vorzüge der Fokusgruppen-Methode auszuschöpfen.53 Allerdings: Ein Blick auf die einschlägige Forschung zeigt, dass eine bündige Definition von Jugend nicht zu haben ist, ja, dass die Schwierigkeit, den eigenen Gegenstand klar zu definieren, als grundlegendes Dilemma der Jugendforschung gilt.54 Besondere Schwierigkeiten tun sich beim Einziehen von Altersgrenzen auf, da die Phasen von Adoleszenz und Postadoleszenz sowohl historisch-empirisch als auch in wissenschaftlichen Konzepten stark variieren. Jugendliche und junge Menschen, so wird daher nachdrücklich festgehalten, bilden keine eindeutig festlegbare Altersgruppe, keine »Naturtatsache«, sondern sind ein intern differenzierter, durch historisch sich wandelnde sozioökonomische und institutionelle Einflüsse geprägter Teil 50 | Gerdes und Bittlingmayer, Jugend und Politik, S. 46. 51 |  Vgl. ebd., S. 48f. 52 | Vgl. Mathias Albert u.a., Jugend 2015, Eine neue Generationsgestalt?, in: Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch. 17. Shell Jugendstudie, Bonn 2016, S. 33-46. 53 | Näheres zur methodischen Herangehensweise in Kapitel 1.3. 54 |  Vgl. Hans Merkens, Jugendforschung. Auf der Suche nach dem Gegenstand?, in: Angela Ittel (Hg.), Jahrbuch Jugendforschung, 7. Ausgabe 2007, Wiesbaden 2008, S. 349-380.

1.  Problemstellung und Vorgehen

der Gesellschaft.55 Zudem ist hier gegenwärtig einiges in Bewegung: Lebensläufe werden unstrukturierter und offener, Bildungs- und Qualifikationsanforderungen komplexer, und dies alles affiziert auch die Pflege sozialer Kontakte, die Freizeitorganisation, nicht zuletzt die Möglichkeiten und Attraktivität zivilgesellschaftlicher und politischer Beteiligung.56 Die Übergangsprozesse weg vom Kindes- und hin zum Erwachsenenalter verlaufen zunehmend weniger parallel, sondern intern heterogen und ungleichzeitig; insgesamt dehnt sich die Jugendphase aus.57 Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Unterschiedlichkeit jugendlicher Lebenswelten, sondern auch hinsichtlich der verschiedenen Bildungs- und Erwerbsbiografien und der Verschiedenartigkeit jugendlicher »Selbstfindung« sowie politischer Suchbewegungen: Was früher zeitlich zusammenfiel (Pubertät und biologische Reife, rechtliche Mündigkeit, Bildungs- und Ausbildungsabschluss, ökonomische Selbstständigkeit), driftet infolge jüngerer gesellschaftlicher Entwicklungen zunehmend auseinander.58 Als veraltet gelten daher Modelle von Jugend als einem psychosozialen »Moratorium«59 beziehungsweise als »Transition« auf der »Lebenstreppe« 60 hin zum Erwachsenenalter, in welcher die für die Erwerbsarbeit erforderlichen Fähigkeiten, eine persönliche Identität sowie ökonomische Selbstständigkeit, erworben werden, bevor das Individuum ein vollwertiges Glied der Gesellschaft wird.61 Zur terminologischen Bewältigung dieser Verschiebungen existieren verschiedene Vorschläge; so ist etwa von »Entstrukturierung« beziehungsweise »Destandardisierung« 62 oder »Patchwork«-Struktur der Jugendphase die Rede.63 Gemeint ist, dass sich zentrale Merkmale dessen, was in vorigen Jahrzehnten als charakteristisch für die Jugend galt, seit relativ kurzer Zeit, aber mit einer beachtlichen Dynamik, verflüssigen. Jugend verliert demnach den Charakter einer einheitlichen Generationsschicht, die sich durch einen distinkten Erfahrungsraum 55 | Vgl. Schäfers und Scherr, Jugendsoziologie, S. 23. 56 | Vgl. Albert u.a. 2016, S. 41-45. 57 | Vgl. Gert Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit, S. 26. 58 | Vgl. Angelika Vetter, Jugend: Ein Konzept und seine Messung, in: Edeltraud Roller u.a. (Hg.), Jugend und Politik: »Voll normal!« Der Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforschung, Wiesbaden 2006, S. 25-53, hier S. 25-33. 59 | Vgl. ebd., S. 27. 60 | Vgl. Hans Bertram, Kindheit/Jugend. 61 |  Vgl. Dirk Lange u.a., Politisches Interesse und politische Bildung. 62 | Vgl. Thomas Olk, Jugend und Gesellschaft. Entwurf für einen Perspektivenwechsel in der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Interdisziplinäre Jugendforschung, Fragestellungen, Problemlagen, Neuorientierungen, Weinheim/München 1986, S. 41-62. 63 | Vgl. Hans Bertram, Kindheit/Jugend.

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auszeichnet. Zwar weist man die vorübergehend zirkulierende Formel von der »Auflösung der Jugendphase« 64 größtenteils als überspitzt zurück; konsensuale Zustimmung aber findet die wachsende Bedeutung von Strukturen sozialer Ungleichheit, der Statusposition der Herkunftsfamilie und ähnlicher Stratifikationsmuster, die die Biografieverläufe, Selbstverständnisse und Handlungsmuster der Jugendlichen zerfurchen.65 Das Ergebnis ist widersprüchlich: Der fortschreitende Anstieg jugendlicher Privilegien und Freiheiten (Konsummöglichkeiten, Sexualleben, politische und rechtliche Mündigkeit etc.) läuft zu einer ungebrochen konstitutiven Bedeutung ökonomischer Abhängigkeit parallel.66 Für viele Jugendliche haben diese Entwicklungen strukturell bedingte Orientierungsschwierigkeiten zur Folge: Zwar ist etwa die Erwartung, sich durch Disziplin und Bildung ein zufriedenstellendes Auskommen zu schaffen, ungebrochen67; die Härten der Arbeitsmarktsituation infolge des Wandels der Erwerbsarbeit (etwa durch zunehmend instabile Beschäftigungsformen wie Zeitverträge, ein allgemein ansteigendes Bildungsniveau im Zuge der sogenannten »Akademisierung« etc.) stellen aber die meritokratische Formel von Wohlstand durch Leistung infrage. Mit Nachdruck betont daher die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, dass es die Jugend im monolithischen Sinne gar nicht gebe68 und fordert die Adaption ungleichheitssensibler Forschungskonzepte.69 Weil Jugend also keine homogene Sozialgruppe ist, sondern die Komplexität der deutschen Gesamtgesellschaft abbildet, sind allgemeine Aussagen über diesen Untersuchungsgegenstand – auch bei quantitativ-repräsentativen Forschungsdesigns – notwendig begrenzt.70 64 | Vgl. Jutta Ecarius, ›Generationenordnung‹ der Jugendphase, Zum Wandel von Jugendkonzeptionen und gegenwärtigen Sozialisationskontexten, in: Jutta Ecarius und Marcel Eulenbach (Hg.), Jugend und Differenz. Aktuelle Debatten der Jugendforschung, Wiesbaden 2012, S. 27-50, hier S. 31. 65 | Vgl. Schäfers und Scherr, Jugendsoziologie, S. 49. 66 | Vgl. Ecarius, ›Generationenordnung‹ der Jugendphase, S. 28-32. 67 | Vgl. ebd., S. 27. 68 | Ecarius und Eulenbach, Jugend und Differenz, S. 10. 69 | »Der Geselle, der ökonomisch selbständig mit 23 Jahren heiratet, ist nach den klassischen Kriterien erwachsen, während der 33jährige Doktorand, der bei seinen Eltern wohnt, noch ein Jugendlicher ist. Da zudem heute viele junge Menschen nach einer ersten Ausbildung und Tätigkeit wiederum anfangen zu lernen und von den Eltern ökonomisch abhängig sind, ist eine eindeutige Abgrenzung der Jugendphase heute nicht mehr möglich.« Zit.n. Hans Bertram, Kindheit/Jugend, in: Martin Greiffenhagen und Sylvia Greiffenhagen (Hg.), Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2002, S. 221-224, hier S. 222. Vgl. auch Merkens 2008. 70 | Vgl. Edeltraud Roller u.a., Jugend und Politik, S. 8-10.

1.  Problemstellung und Vorgehen

Abb. 1: Altersspanne der Samples ausgewählter Jugendstudien

Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Pickel 2002, BDK J u.a. 200871, de Rijke 200872 Calmbach u.a. 201273 , und Calmbach u.a. 2016

Eine altersbezogene Eingrenzung, die das Sample der vorliegenden Studie strukturiert, war indes unvermeidlich. Wir haben sowohl die Phase der Adoleszenz als auch die der modernen Postadoleszenz einbezogen. Hier einen verbindlichen Richtwert aus den einschlägigen Studien zu destillieren, war angesichts der Vielfältigkeit der Forschungsdesigns kaum möglich. Wir verfolgten die Absicht, politische und gesellschaftliche Deutungsmuster der Jugendlichen möglichst umfassend in ihrer realen Heterogenität abzubilden, gerade weil die Übergänge zum klassischen Erwachsenenalter nur schwer pauschal zu ziehen sind und weil »politische Sozialisation erst relativ spät in der Biografie stattfindet und oft erst in der Postadoleszenzphase Kontur gewinnt« 74, das politische Interesse oft noch bis über das 30. Lebensjahr hinaus ansteigt.75 Demnach haben wir unser Vorgehen an den theoretischen Grundlagen der Jugendforschung ausgerichtet: Entsprechend dehnt sich die Lebensphase der (Post-)Adoleszenz in beide Richtungen (unter das 15. und über das 24. Lebens71 | Vgl. BDJK u.a., Wie ticken Jugendliche? Sinus-Milieustudie U27, Düsseldorf 2008. 72 | Vgl. Johann de Rijke, Methodisches zu den 3 Wellen des DJI-Jugendsurvey, in: Martina Gille (Hg.), Jugend in Ost und West seit der Wiedervereinigung, S. 306-309. 73 | Vgl. Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2012? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Düsseldorf 2012. 74 |  Gert Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit, S. 27. 75 | Vgl. Ursula Hoffmann-Lange, Was kann die Jugendforschung zur politischen Kulturforschung beitragen, S. 59.

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jahr) zunehmend aus. Ein zentraler Grund für die Ausweitung bis ins vierte Lebensjahrzehnt (30+) hinein76, welches auf den ersten Blick nicht mehr viel mit Jugend zu tun zu haben scheint, aber tatsächlich zunehmend durch die Jugendphase geprägt ist, liegt im sogenannten »erweiterten Bildungsmoratorium« 77, auch »Bildungsexpansion« 78 genannt: Junge Menschen verfolgen immer längere (Aus-)Bildungswege und sind dadurch über einen größeren Zeitraum hinweg von den Anforderungen der Erwerbsarbeit dispensiert, wodurch die ökonomische Selbstständigkeit immer später eintritt. Gleichzeitig verkürzt sich die Kindheitsphase, so etwa die Autoren des DJI-Längsschnittsurveys, aufgrund gesellschaftlicher und kultureller Einflüsse zunehmend auf das erste Lebensjahrzehnt.79 Um der Erweiterung der Jugendphase bis ins vormalige Erwachsenenalter hinein gerecht zu werden, entschieden wir uns für eine möglichst umfängliche Altersspanne, setzten aber zugleich  – auch aus forschungspragmatischen Gründen  – das Mindestalter höher als üblich an. Während wir der jugendsoziologischen Diskussion seit der Jahrtausendwende darin folgten, das Ende der Jugendphase im 30. bis 35. Lebensjahr zu lokalisieren80, erschien uns die gängige Schwelle von zehn bis zwölf Jahren, die den Übergang von Kindheit in Jugend (als biologischen Eintritt der Pubertät) markiert, für unseren Untersuchungszweck als zu früh: Jugendliche unter 16 Jahren ließen wir keine Einladung zu den Diskussionen zukommen, zum einen weil dies das Alter der ersten Wahlberechtigungen (Kommunalund Landesebene) markiert, zum anderen weil wir die angesichts des Studiendesigns für uns zielführendere politische Artikulationsfähigkeit vor allem bei älteren Jugendlichen erwarteten. Kurzum: Die Vielgestaltigkeit jugendlicher Einstellungsmuster, wie sie uns entgegengetreten ist und auch den Auswertungsprozess geprägt hat, soll in den hier vorgestellten Resultaten stets zur Geltung kommen. Sprechen wir also in dieser Studie von Jugend beziehungsweise jungen Menschen, so meinen wir damit stets Personen im Alter von 16 bis 35. Insgesamt konzentriert sich das Gros unserer Daten rekrutierungsbedingt auf junge Menschen in den Zwanzigern: Zwei Drittel unserer Diskutanten sind zwischen 19 und 30 Jahre alt.

76 |  Vgl. Gert Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit, S. 26. Demnach endete die Jugend »traditionell« bereits mit dem Lebensalter von 24 Jahren. 77 |  Vgl. Martina Gille, Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland, S. 10, zit.n. Zinnecker 1991. 78 | Vgl. Ursula Hoffmann-Lange, Was kann die Jugendforschung zur politischen Kulturforschung beitragen, S. 58. 79 | Vgl. ebd. 80 | Vgl. Hans Bertram, Kindheit/Jugend, S. 222.

1.  Problemstellung und Vorgehen

1.3 F r agestellung und S tudiendesign Die Fragestellung, inwiefern die Jugend im Bann von Pegida steht, zielt auf verschiedene Ebenen und erfordert dementsprechend ein Studiendesign, das diesen Anforderungen Rechnung tragen kann. Die vorliegende Untersuchung steht in einer Reihe von Vorarbeiten und bildet den letzten Flügel eines Triptychons zur Frage von Auswirkungen Pegidas auf die politische Kultur und die bundesrepublikanische Zivilgesellschaft. Nachdem zunächst die Dresdner Proteste und die Gegeninitiativen im Interesse von Forschungsvorhaben des Instituts für Demokratieforschung standen, sind es nunmehr die Befindlichkeiten der nicht Beteiligten, der nicht primär involvierten Jugendlichen und jungen Menschen, die in den Blick genommen werden. Hierbei geht es letztlich auch um die Frage nach der Wirkung von Protest, die gemeinhin den Einfluss auf die nichtbeteiligte Bevölkerung, die Gegenstrategien des Staates sowie die nicht intendierten Folgen umfassen kann. Es geht also um die schweigende Mehrheit, genauer: die »schweigenden« jungen Menschen, darum, wie sie zu Pegida als Protestformation stehen, und inwiefern ihre politischen Maßstäbe und Deutungsrahmen mit Pegida als Bezugssystem verwoben sind. Wie verhandeln die jungen Menschen die Bewegung und ihre Themen wie »Deutsche Identität«, Geflüchtete und Asylpolitik, die Kritik an den Medien (»Lügenpresse«) und Politiker/-innen? Wie stehen sie zu Handlungsformen und Aktionen der Protestbewegung selbst? Diese Fragen sollen hier mit Ansätzen der politischen Kulturforschung bearbeitet werden, jedoch nicht in ihrer klassischen behavioralistischen Provenienz als vergleichende empirische Kulturforschung, sondern mit dem Fokus auf die »Ausdrucksseite« der politischen Kultur. Es geht dann – in der Tradition von Karl Rohe – stärker um tieferliegende Vorstellungs- und Deutungsmuster als um quantitativ registrierbare Einstellungen, mithin um ein politisches Weltbild, also im Sinne Karl Rohes sowohl um »politische Deutungskultur« als auch um die »politische Soziokultur«, als »unbewusste, Denk-, Rede- und Handlungsgewohnheiten«.81 Doch ist bereits die Erforschung von Protest kein einfaches oder selbstläufiges Anliegen, weil Proteststrukturen fluide und die Sympathien von Teilnehmenden äußerst wandelbar sind.82 Vermutlich gilt dies umso mehr für jene, die ihrer politischen Präferenz zunächst keinerlei Ausdruck verleihen und somit politisch inaktiv in der Gesellschaft verharren.83 Dennoch werden gerade aus den zuvor ermittelten Deutungsmustern und Motivationen der 81 | Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift, 132 (1990) 250, S. 321-346. 82 | Vgl. Stine Marg u.a., NoPegida, S. 12f. 83 | Vgl. hierzu: Klaudia Hanisch und Sören Messinger-Zimmer, »Also ich trau da überhaupt gar keinem.« Die Konflikte aus Perspektive der Unbeteiligten, in: Christoph Hoeft

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Anhänger der Pegida- und NoPegida-Bewegung die möglichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten offenbar. Daher wurde auf Basis der gesammelten Forschungserfahrung die unbeteiligte jüngere Kohorte in einem ersten Untersuchungsschritt in Dresden und Leipzig, den wesentlichen Schauplätzen beider vorheriger Forschungsschwerpunkte (der Dominanz von Pegida in Dresden und der Übermacht von NoPegida in Leipzig) in den Blick genommen. Um im Anschluss klären zu können, inwiefern die dort identifizierten Narrative spezifisch ostdeutsch oder gar sächsisch sind, wurden in einem zweiten Untersuchungsschritt vier weitere Fokusgruppen in Westdeutschland, genauer je zwei in Nürnberg und Duisburg, durchgeführt.84 Die Frage, ob und inwieweit die Jugend im Bann von Pegida steht oder nicht, erforderte ein Vorgehen über unterschiedliche Zugänge, das Feld wurde entsprechend mit Hilfe eines mehrteiligen Studiendesigns sondiert. Zunächst bedeutete die Frage nach dem Einfluss von Pegida die Notwendigkeit, die Entwicklung der Dresdner Protestbewegung kontinuierlich weiter zu begleiten, um den Kontakt zum Gegenstand und das Gespür für das Feld nicht einzubüßen, mithin Narrative und Symbole der Bewegung festzuhalten. Dies wurde für den vorliegenden Fall durch eine Auswertung von Pegida-Veranstaltungen, sowohl durch die Beobachtung vor Ort als auch via Live-Stream, ermöglicht (vgl. Kapitel 2.2.). Diese Beobachtungen und intensiven Vorarbeiten haben schließlich den Gang ins Feld vorstrukturiert. Um einen Einblick in die Lebensbedingungen junger Erwachsener in den primären Erhebungsorten zu gewinnen, wurden zunächst Expertinnen und Experten aus Politik und Zivilgesellschaft sowie aus der Jugend- und Sozialarbeit befragt. Es ging um ihre Einschätzung der Auswirkungen der Pegida-Demonstrationen seit über drei Jahren auf das Umfeld, ihre Beobachtungen zur Reaktion der Stadtgesellschaft im Allgemeinen und der Jugend im Besonderen und schließlich um konkrete Orte der Vergemeinschaftung der jungen Menschen in Leipzig und Dresden. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse halfen, das Feld zu systematisieren und Zugangswege zu identifizieren, die für die Erschließung des konkreten Forschungsgegenstandes vor Ort genutzt wurden. u.a., Bürgerproteste in Zeiten der Energiewende. Lokale Konflikte um Windkraft, Stromtrassen und Fracking, Bielefeld 2017, S. 169-181. 84 | Diese Städte sind, im Gegensatz zu vielen anderen Metropolen, in denen Ableger der Patriotischen Europäer versuchten Fuß zu fassen, noch immer geprägt durch regelmäßige (kleinere) Demonstrationen unter dem Label P egida . Daher – so eine Ausgangsvermutung – hat der eine oder die andere Befragte die Protestgruppe möglicherweise im öffentlichen Raum wahrgenommen und sich eine Meinung darüber gebildet. Aufgrund der Nichtexistenz von P egida in der Stadtkultur von Frankfurt und Karlsruhe in den Jahren 2016/2017, den westdeutschen Erhebungsorten der N o P egida -Untersuchung, eigneten sich diese Räume nicht für Erhebungen im Rahmen der vorliegenden Studie.

1.  Problemstellung und Vorgehen

Ob Pegida der »Stadt Dresden schadet« 85 oder ob die Bewegung »wichtige Probleme, die von der Politik vertuscht werden«, benennt 86, wurde bereits in quantitativen Umfragen untersucht. Doch wenn es um bisher unbekannte, »neue« Deutungsrahmen gehen soll, um Zuschreibungen oder unkonkrete Vorstellungen, lassen sich diese nicht so einfach mit einem quantitativen Verfahren ermitteln. Für die Untersuchung der jüngeren Alterskohorten und die Frage nach den Resonanzeffekten von Topoi, Narrativen und Deutungsmustern von Pegida brauchte es ein qualitatives Studiendesign, das in der Lage ist, intersubjektive Sinngehalte der befragten Jugendlichen und jungen Menschen hervorzulocken. In diesem Sinne wurden insgesamt zwölf Fokusgruppen in Dresden, Leipzig, Duisburg und Nürnberg durchgeführt. Solche Gruppendiskussionen sind in unserem Verständnis Abbildungen eines alltäglichen Meinungsbildungsprozesses, in dem die Teilnehmenden zwar durch die Moderation thematisch angeleitet werden, aber phasenweise ohne Einflussnahme der Moderation ins Gespräch kommen. Dabei werden Ansichten und Einstellungen ausgetauscht und idealerweise an Beispielen alltäglicher Praktiken verdeutlicht, wodurch die Diskussionsteilnehmerinnen und Diskussionsteilnehmer einen Einblick in (potenzielle) Deutungsmuster, die ihre Handlungen strukturieren, gewähren. 87 Insbesondere junge Menschen haben vordergründig ein begrenztes Interesse an Politik und sehen sich selbst oftmals als wenig kompetent an, um über politische Themen zu sprechen. Vorstellungen und Meinungen artikulieren sie daher eher in undeutlichen Stimmungen statt in abfragbarem Wissen. Dieses Alltagsbewusstsein entsteht vor allem durch Interaktions- und Kommunikationsprozesse und ist daher in einer Gruppendiskussion für die Sozialforschung 85 | O. V., Die Tücken einer P egida -Umfrage, in: sz-online, online einsehbar unter www. sz-online.de/nachrichten/kultur/die-tuecken-einer-pegida-umfrage-3010109.html (eingesehen am 08.02.2018). 86 | Vgl. Susanne Rippl u.a., P egida und Co. – Erste Ergebnisse einer Telefonumfrage in Chemnitz, Erklärungsansätze und erste Befunde, S. 8, online einsehbar unter https://www.researchgate.net/publication/303944340_Pegida_und_Co_-_ Erste_Ergebnisse_einer_Telefonumfrage_in_Chemnit z _Erklarungsansat ze_und_ erste_Befunde_Forschungbericht_TU_Chemnitz_Institut_fur_Soziologie (eingesehen am 08.02.2018). DOI: 10.1314/RG.2.1.2077.6564 87 | Vgl. grundsätzlich zur Methode der Fokusgruppe: Helmut Bremer, Von der Gruppendiskussion zur Gruppenwerkstatt. Ein Beitrag zur Methodenentwicklung in der typenbildenden Mentalitäts-, Habitus- und Milieuanalyse, Münster 2004; Aglaja Przyborski u.a., Gruppendiskussion und Fokusgruppe, in: Günter Mey (Hg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, Wiesbaden 2010, S. 436-448; Gruppendiskussion speziell als Mittel um politische Narrationen, Symbole und Deutungen einzufangen: Stine Marg, Mitte in Deutschland. Zur Vermessung eines politischen Ortes, Bielefeld 2014, S. 71-83.

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besser einzufangen als beispielsweise in einem Einzelinterview oder einer standardisierten Befragung88, insbesondere wenn der Gegenstand für die Befragten eher »schwierig« und diffus ist. Die Idee ist, dass die befragten jungen Menschen in Fokusgruppen »oftmals besser in der Lage sind, ihre Meinung zur Sprache zu bringen. Wenn sie auf Stichwortgeber reagieren können oder durch vorangegangene ähnliche Aussagen Mut gefasst haben« 89, können die Aussagen oftmals präziser und prägnanter ausfallen. Für die Teilnahme an Fokusgruppen ist eine gewisse Verbalisierungskompetenz unerlässliche Voraussetzung. Vor allem Jüngere wären möglicherweise  – wie insbesondere auch ältere Probandinnen und Probanden – schwer »zum Sprechen zu bringen«. Die Eingrenzung unseres Samples zwischen 16 und 35 Jahren ist demzufolge sowohl theoretischen Erwägungen in Ableitung der Forschungsliteratur als auch forschungspraktischen Erwägungen geschuldet. Fokusgruppen sind keine spontanen Unterhaltungsrunden, sondern eine geplante, strukturierte und moderierend gelenkte Methode zur Erfassung von Vorstellungs- und Deutungsmustern. Damit dies gelingt, wird die Gruppendiskussion durch einen Themenkatalog strukturiert, der den Inhalt und Ablauf der Gesprächsrunde vorgibt, und damit eine gewisse Vergleichbarkeit zwischen den Gruppen herzustellen vermag. Der Themenkatalog unterstützt die Moderation auch dahingehend, Topoi und Schlüsselwörter längst möglich zu vermeiden, weil es nicht darum gehen soll, die Befragten mit Forschungskonzepten zu konfrontieren, sondern deren Semantiken einzufangen. »Geht es doch in Fokusgruppen gerade darum, Sprache, Formulierungen und Ausdrucksweisen der Gesprächsteilnehmer aufzunehmen, um nachzuvollziehen, was diese sehen und als Realität erfahren.« 90 Die Gruppendiskussion folgt meist einer Grundstruktur: Aufwärmphase, »Phase der Vertrautheit«, am Ende Ausklang der Debatte mit der »Phase der Konformität«.91 Insbesondere, wenn alle Teilnehmenden einander unbekannt sind, und sich nicht, wie in einer Realgruppe, bereits kennen, ist die erste Stufe eher durch vorsichtige und zurückhaltende Aussagen geprägt. Zu Beginn werden auch eher Antworten und Aussagen formuliert, von denen die Teilnehmenden annehmen, dass sie auf gruppeninterne Zustimmung oder Erwartungshaltungen treffen. Erst im zweiten Abschnitt ist mit offenen, spontanen und 88 | Thomas Kühn und Kay-Volker Koschel, Gruppendiskussionen. Ein Praxis-Handbuch, Wiesbaden 2011, S. 105. 89 | Stine Marg, Mitte in Deutschland, S. 72. 90 | Stine Marg, Mitte in Deutschland, S. 96. 91 | Vgl. hierzu und im Folgenden: Ralf Bohnsack, Gruppendiskussionsverfahren und Milieuforschung, in: Barbara Friebertshäuser u.a. (Hg.), Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim 1997, S. 492-502, hier S. 499.

1.  Problemstellung und Vorgehen

auch unkontrollierten Reaktionen zu rechnen, die Einblick in persönliche Ansichten ermöglichen, bevor sich am Ende einer Fokusgruppe oftmals eine Art Gruppenkonsens herausbildet, in welchem unterschiedliche Meinungen eingeebnet werden. Auf diese Phasen ist sowohl bei der Erstellung des Themenkataloges als auch bei der Auswertung zu achten. Um die Aufwärmphase kurz zu halten und dennoch Informationen gewinnen zu können, haben wir nach einer kurzen Vorstellungsrunde, bei der wir Alter, Hobbies und »Status« (Schule, Ausbildung, Studium oder Erwerbstätigkeit) erfragt haben, den Befragten insgesamt 64 Bilder präsentiert, die sowohl ein Repertoire an Jugend- und Alltagskultur abbildeten als auch mit Blick auf unsere Fragestellung ebenso politische Themen sowie Pegida-Bezüge visualisierten.92 Die Befragten sollten sich nun drei bis maximal fünf Bilder aussuchen, die »Dinge zeigen, die für sie wichtig sind«. Sollte jemand eine Abbildung vermissen, diente ein grünes Feld als Platzhalter, das mit eigenen Bildern, quasi als »Joker« befüllt werden konnte. Bei der Vorstellung der jeweils ausgewählten Bilder waren die Befragten sogleich aufgefordert, der Gruppe vorzustellen, was konkret sie mit den Abbildungen verbinden, um möglichst auch schon an dieser Stelle alltagsweltliche Erfahrungen und Handlungsparadigmen einfangen zu können. Überdies war die Moderation angehalten, bei Themen wie Heimat, Politik oder Engagement, wie auch dem vermehrten Zustrom an Geflüchteten seit 2015, der im Folgenden vereinfacht als »Flüchtlingskrise« bezeichnet werden soll, vertiefender nachzufragen. Im weiteren Verlauf sollten die Befragten – nun unabhängig von den Bildern – erzählen, was sie mit Deutschland im Allgemeinen verbinden und wie sie zu dem Satz »Ich bin stolz, Deutscher zu sein« stehen. In einem nächsten großen Block wurden die jungen Menschen aufgefordert, über politische Fragen zu sprechen – idealerweise wurde an dieser Stelle durch die Moderation auf bereits Gesagtes zurückgegriffen und weitere Erzählimpulse gesetzt. Sollte bis zu diesem Zeitpunkt durch die Teilnehmer/-innen die Flüchtlingskrise noch nicht debattiert worden sein, wäre sie nun gezielt von der Moderation angesteuert worden. Überhaupt wird in den Fokusgruppen jedes Thema zunächst durch eine offene, allgemeine und neutral gehaltene Fragestellung eingeführt, um anschließend in die einzelnen Themenblöcke spezifischer hineinzuzoomen. Abschließend wurden die Befragten gebeten, an einem kleinen Gedankenexperiment mit folgender Initialisierungsfrage teilzunehmen: »Bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit und stellen sich 92 | Um den Bezug zur »Heimat« zum symbolisieren, haben wir die Stadtansicht von Dresden und das Leipziger Völkerschlachtdenkmal in den Gruppen in Ostdeutschland präsentiert, während wir diese Bilder durch die Ansicht der Nürnberger Burg und den Duisburger Hafen in den Gruppen in Westdeutschland ausgetauscht haben.

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Abb. 2a)-j): Fokusgruppenbilder mit Variationen für die West-Gruppen

Quelle: Eigene Zusammenstellung lizenzfreier Bilder

1.  Problemstellung und Vorgehen

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1.  Problemstellung und Vorgehen

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1.  Problemstellung und Vorgehen

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1.  Problemstellung und Vorgehen

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1.  Problemstellung und Vorgehen

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Folgendes vor: Sie sind 67 Jahre (in Variation: 70 Jahre) alt, es ist ein warmer Sommerabend, Sie sitzen im Freien und blicken auf Ihr Leben zurück. In Ruhe lassen Sie die entscheidenden Situationen und Momente Ihres Lebens Revue passieren.« Anhand notierter Stichworte wurde dann auch darüber gesprochen, welche Wünsche die Befragten für die Zukunft haben, ob sie überwiegend optimistisch sind oder sich eher Sorgen machen. Der ursprüngliche Untersuchungsfokus lag auf jungen Menschen in Dresden und Leipzig. Während in der einen Stadt Pegida enorm erfolgreich war und noch immer ist, dominierte in der benachbarten Metropole der Gegenprotest. In beiden Städten haben wir durch Kontaktaufnahme mit Sportvereinen und Jugendinitiativen, Schulen und anderen Begegnungsorten von jungen Menschen über ein Schneeballsystem per E-Mail frei rekrutiert. Die in den so zusammengesetzten Gruppen gewonnenen Erkenntnisse waren den Vorstellungen und Denkmustern der NoPegida-Protestierenden sehr ähnlich, was vermutlich der Rekrutierungsform geschuldet ist, meldeten sich doch eher diejenigen mit einem Interesse an politischen Themen und hohem Bildungsniveau. Somit war eine Modifikation des Feldzugangs im Sinne der ergebnisoffenen Forschung erforderlich.93 Deshalb wurden über Markt- und Meinungsforschungsstudios Gruppen hinsichtlich ihrer Erwartungen einer möglichen »Islamisierung in Deutschland« und ihres Bildungsniveaus in variierender Zusammensetzung rekrutiert.94 Insgesamt ergeben sich drei verschiedene Gruppentypen, nämlich die bezüglich ihrer Merkmalsausprägung und Selbsteinschätzung »Unbekümmerten«, die angaben, keine Angst vor einer Ausbreitung des Islams zu haben, die »Beunruhigten«, die zu Protokoll gaben, solche Ängste zu haben, oder die »Freien«, die ohne Auswahlfrage rekrutiert wurden. Daher werden die Teilnehmenden der verschiedenen Gruppen auch im Folgenden mit diesen Begriffen bezeichnet, wenn die Art der Rekrutierung von Interesse ist. Zusammen mit dem nachträglich durchgeführten »Westvergleich« mittels vier Fokusgruppen – um etwaige »typisch ostdeutsche« Sozialisations- und Einstellungsmuster ermitteln zu können – wurden so insgesamt zwölf Fokusgruppen mit insgesamt 88 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zwischen 16 und 35 Jahren durchgeführt. Die Erhebungen hatten zwei zeitliche Schwerpunkte: Zunächst den Sommer 2016 in Dresden und Leipzig sowie den Frühling und den Frühsommer 2017 in Nürnberg und Duisburg.

93 | Vgl. Barney Glaser und Anselm Strauss, Grounded theory. Strategien qualitativer Forschung, Göttingen 1998. 94 | »Ich habe Angst vor einer Ausbreitung des Islam in Deutschland und Europa«; 1 = keine Angst, 2 = wenig Angst, 3 = weiß nicht, 4 = Angst, 5 = große Angst.

1.  Problemstellung und Vorgehen

Abb. 3: Struktur des Untersuchungssamples mit Erhebungszeiträumen

Quelle: Eigene Zusammenstellung

Die derart rekrutierten Befragten sind keineswegs repräsentativ für die Bevölkerung, ebenso wenig ist das Sample ein genuines Abbild der entsprechenden Altersgruppe. Allerdings stehen im Zuge von qualitativer Grundlagen- und Ursachenforschung auch weniger die Wiedergabe repräsentativer Zustände als vielmehr die Aufdeckung und Beschreibung grundlegender Zusammenhänge im Vordergrund. Es geht darum, die Relevanz und Wirkungsweise einzelner, spezifischer Aspekte in den lebensweltlichen Strukturen Jugendlicher und junger Erwachsener aufzudecken, zu beschreiben, zu rekonstruieren und schließlich zu interpretieren. In diesem Sinne werden die Gruppen hinsichtlich der Forschungsfrage, aber im Laufe der Erhebung offen für Modifikationen, ausgewählt, um die Entwicklung, Überprüfung oder Falsifizierung von Thesen zu ermöglichen. Arnd-Michael Nohl spricht in diesem Zusammenhang von der Möglichkeit der Erkenntnisgenerierung und Erkenntniskontrolle.95 Die Fokusgruppen wurden alle per Ton und Bild aufgezeichnet und anschließend nach einfachen Regeln (Verzicht auf nonverbale Äußerungen, kleine Pausen, o.Ä.) transkribiert. Überdies waren zwei bis vier Forschende als Beobachterinnen und Beobachter vor Ort, um  – von den Diskutierenden unbemerkt – Stimmungen, Mimik und Gestik zu registrieren, die für die Auswertung des gesprochenen Wortes essenziell sind. Jede Fokusgruppe hatte einen Umfang von 120-150 Minuten mit vier bis acht Teilnehmenden. Überdies wurde jede und jeder am Ende der Gesprächsrunde gebeten, einen durch uns vorbereiten Fragebogen auszufüllen, der die soziodemografischen Merkmale sowie das Wahlverhalten erhebt.96 Dies dient auch dazu, das untersuchte 95 | Arnd-Michael Nohl, Relationale Typenbildung und Mehrebenenvergleich. Neue Wege der dokumentarischen Methode, Wiesbaden 2013, S. 15. 96 | Im Verlauf der Erhebung haben wir festgestellt, dass die Einordnung in eine gesellschaftliche Schicht bei Schülerinnen und Schülern, Studierenden, Auszubildenden beziehungsweise bei Menschen, die am Beginn ihres Berufslebens stehen, äußerst schwer ist. Daher wurde die Berufstätigkeit der Eltern in den letzten vier Fokusgruppen in Westdeutschland mit erfasst. Der Fragebogen findet sich im Anhang.

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Abb. 4: Alter der Befragten n=88

30%

26,1% 25% 21,6% 20,5% 20% 17,0%

15%

14,8%

10%

5%

0%

16 bis 18 Jahre

19 bis 21 Jahre

22 bis 25 Jahre

26 bis 30 Jahre

31 bis 35 Jahre

Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten der fragebogengestützten Erhebung im Anschluss an die Fokusgruppen

­ evölkerungssegment näher beschreiben und einordnen zu können, wenn B auch keinesfalls dazu, Aussagen über Signifikanzen oder Korrelationen treffen zu können. Die rund 720 transkribierten Seiten von allen Gesprächsgruppen wurden praktisch hermeneutisch ausgewertet und einzelne Passagen und Schwerpunkte einer Feinanalyse unterzogen. Neben die sinnverstehende Erschließung des Gesagten als erstem Analyseschritt trat die Auswertung der Gruppenstruktur: Wer sagt wann was und mit welchen Begriffen; wie werden diese von anderen aufgenommen und verhandelt? Zunächst wurde jede Gruppe für sich analysiert, bevor die Ergebnisse mit den anderen Gruppen in Beziehung gesetzt wurden. Die tiefergehende Erschließung und intensive Auswertung einzelner Passagen erfolgte mit Hilfe der Codierungsmöglichkeiten im Computerprogramm MaxQDA. Dabei waren einige Codes (wie Heimat, Identität und Nationalstolz, Politik oder Pegida) bereits deduktiv durch die Forschungsfrage vorgegeben, während sich andere Codes (beispielsweise politische Satire, Kriegsangst, das Verhältnis zur Erwerbsarbeit oder Verschwörungskonstrukte) induktiv aus dem Material ergaben. Um eine intersubjektive Nachprüfbarkeit zu gewährleisten, arbeiteten wir in einem Forscherteam zusammen, das das Material gemeinsam auswertete. Darüber hinaus wurden Thesen mit anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Demokratieforschung diskutiert, die über Ursachen von Fremdenfeindlichkeit in Sachsen geforscht haben, über Rechtsextremismus, die AfD und (Rechts-)Populismus beziehungsweise soziale Bewegungen arbeiten. Die Ergebnisse wurden über-

1.  Problemstellung und Vorgehen

Abb. 5: Höchster erreichter Bildungsabschluss der Befragten Universitätsabschluss/Fachhochschulabschluss; 6,8%

n=88 noch Schüler/-in; 18,2% Volks- bzw. Hauptschule, POS mit Abschluss 8. oder 9. Klasse; 3,4%

noch Student/-in; 12,5%

Mittlere Reife, Realschulabschluss bzw. POS mit Abschluss 10. Klasse; 23,9%

Fachhochschulreife/Abitur; 25,0%

abgeschlossene Berufsausbildung; 30,7%

Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten der fragebogengestützten Erhebung im Anschluss an die Fokusgruppen

Abb. 6: Persönliches Nettoeinkommen der Befragten n=88 keine Angaben

5,7%

über 2500 €

8,0%

2000 € bis 2500 €

4,5%

1500 € bis 2000 €

5,7%

1000 € bis 1500 €

18,2%

750 € bis 1000 €

17,0%

500 € bis 750 €

14,8%

300 € bis 500 €

10,2%

unter 300 €

10,2% 0%

2%

4%

6%

8%

10%

12%

14%

16%

18%

20%

Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten der fragebogengestützten Erhebung im Anschluss an die Fokusgruppen

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dies mit früheren Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung abgeglichen, in denen in Fokusgruppen mit unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus Politikwahrnehmungen und Gesellschaftsbilder erforscht wurden. Dies gilt nicht nur für die bereits erwähnten Anhängerinnen und Anhänger der Pegida-Bewegung und ihrer Gegnerinnen und Gegner, sondern umfasst auch Protestakteure und -akteurinnen gegen Stromtrassen, Windkraftanlagen oder Stadtentwicklungsprojekte, die Occupy-Bewegung, Erhebungen mit Grünen-Wählerinnen und -Wählern, mit Unternehmerinnen und Unternehmern, mit Personen, die soziologisch betrachtet aus der gesellschaftlichen Mitte, der Unter- oder der Oberschicht kommen. Gerade auf Basis dieses umfangreichen und kontrastierenden Materials lassen sich Deutungsmuster und Werthaltungen der in der vorliegenden Studie untersuchten jungen Menschen gezielt auf Narrationen von Pegida hin untersuchen. Doch dafür bedarf es zunächst eines Schrittes zurück, denn: Was macht die Bewegung selbst aus, was sind ihre Symbole und Narrative, die möglicherweise anschlussfähig für die jungen Menschen sind?

2.  P egida als Protestbewegung und Offerte politischer Deutungskultur

2.1 K onsolidierte B e wegung , neurechte V orfeldorganisation , S eismogr af einer ver änderten politischen K ultur ? D er S tand der F orschung zum  P rotestphänomen P egida Pegida wurde zwischen Herbst 2014 und Winter 2016/17 intensiv beforscht. Mit dem Aufstieg der Demonstrationen zu einem massenmedial begleiteten Ereignis, das – gemessen an Teilnehmerzahl und öffentlicher Aufmerksamkeit – seinen Höhepunkt im Januar 2015 erreichte, gingen eine Reihe empirischer Erhebungen sowie wissenschaftlicher Einordnungs- und Deutungsversuche einher, die seitdem regelmäßig durch weitere Publikationen ergänzt wurden. Gerade in der Frühphase (Herbst 2014 bis Frühjahr 2015) konzentrierten sich die Forschungsbemühungen vornehmlich auf die empirische Erfassung der soziodemografischen Zusammensetzung, politischen Einstellungsmuster und Protestmotive der Pegida-Demonstrant/-innen. Interpretationsversuche der Proteste als politkulturelles Phänomen folgten ebenfalls früh, mündeten aber zunächst in eine wissenschaftlich geführte, teils politisch gefärbte Kontroverse zwischen verschiedenen Forscherteams. Von der Jahresmitte 2015 bis zum Herbst 2016 erschienen umfangreichere Sammelbände, die verschiedene Aspekte der Thematik – wie den zeitlichen Verlauf der Pegida-Proteste, deren inhaltliche wie personelle Entwicklung, den Prozess der öffentlichen Diskussion zum Thema, aber auch einschlägige Studien und wissenschaftliche Erklärungsmodelle – in der Zusammenschau referierten. Infolge der persistenten Stagnation der Teilnehmerzahlen seit der Jahreswende 2015/2016 verlagerte sich der Forschungsschwerpunkt auf die Frage nach den Folgen von Pegida für das politische Klima, seit 2017 wird zunehmend auch die Rolle des Protestphänomens für die Festigung neurechter Strukturen diskutiert. So gilt Pegida nach dem vorläufigen Abschluss der wissenschaftlichen Debatte als Symptom beziehungsweise Katalysator von Großveränderungen der politischen Kultur der Bundesrepublik.

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2.1.1  Empirische Studien zu den P egida -Demonstrationen Um den Jahreswechsel 2014/2015 herum, als die Pegida-Demonstrationen ihren vorläufigen Zenit von etwa 15.000 (am 15.12.2014) beziehungsweise 25.000 Teilnehmenden (am 12.01.2015) erreichten1, wurden von parallel arbeitenden Forscherteams aus Dresden (einerseits um Hans Vorländer, Maik Herold und Steven Schäller u.a.2, andererseits um Werner J. Patzelt u.a.3 sowie um Wolfgang Donsbach4), Berlin (um Dieter Rucht u.a.5) und Göttingen (um Lars Geiges, Stine Marg und Franz Walter6), später auch aus Düsseldorf (um Karl-Heinz Reuband 7) mehrere Umfragen unter den Pegida-Demonstranten durchgeführt.8 Viele der beteiligten Forscher bemerkten Hindernisse bei der Befragung, konstatierten etwa eine mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der Demonstrant/-innen und ein unangenehmes, teils aggressiv aufgela-

1 | Vgl. Blog der Forschungsgruppe Durchgezählt, Statistik zu P egida in Dresden, 2016, online einsehbar unter https://durchgezaehlt.org/pegida-dresden-statistik/ (eingesehen am 16.01.2018). 2 | Vgl. Hans Vorländer u.a., Wer geht zu P egida und warum? Eine empirische Umfrage unter P egida -Demonstranten in Dresden, Dresden 2015, online einsehbar unter http:// tu-dresden.de/die_tu_dresden/fakultaeten/philosophische_fakultaet/ifpw/poltheo/ news/studie_vorlaender_herold_schaeller/ (eingesehen am 16.01.2018). 3 |  Vgl. Werner J. Patzelt, Was und wie denken P egida Demonstranten? Analyse der P egida Demonstranten am 25. Januar 2015, 2015a, online einsehbar unter https:// tu-dresden.de/gsw/phil/powi/polsys/ressourcen/dateien/forschung/pegida/patzelt-analyse-pegida-2015-01.pdf?lang=de (eingesehen am 16.01.2018) sowie Werner J. Patzelt und Christian Eichhardt, Drei Monate nach dem Knall, Was wurde aus P egida?, 2015b, online einsehbar unter https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/polsys/ forschung/pegida/studie3-januar2016 (eingesehen am 16.01.2018). 4 | Vgl. Wolfgang Donsbach, Pressemitteilung, Welche Einstellungen führen zu P egida?, TU Dresden, 23.01.2015, online einsehbar unter http://tu-dresden.de/ die _tu _dr e sden/fakult aeten/philosophische _fakult aet /ik w/news/2015/PM _ Pegida_2015_01_23.pdf (eingesehen am 16.01.2018). 5 | Vgl. Dieter Rucht u.a., Protestforschung am Limit. Eine soziologische Annäherung an P egida , Berlin 2015, online einsehbar unter https://www.wzb.eu/sites/default/files/ u6/pegida-report_berlin_2015.pdf (eingesehen am 16.01.2018). 6 | Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? 7 | Vgl. Karl-Heinz Reuband, Wer demonstriert in Dresden für P egida? Ergebnisse empirischer Studien, methodische Grundlagen und offene Fragen, in: MIP 2015, S. 133-143. 8 | Eine detaillierte Dokumentation der ersten Erhebungswellen findet sich in Hans Vorländer u.a., P egida . Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden 2016, S. 53-136.

2.  P egida als Protestbewegung und Offer te

denes Klima vor Ort9, sprachen gar von »Protestforschung am Limit«10. Kennzeichnend ist in diesem Sinne auch die Schwankung der Ausschöpfungsquote zwischen den mit Hilfe verschiedener Erhebungsmethoden (Online-Befragung, E-Mail-Befragung, Face-to-Face-Gespräche) durchgeführten Studien.11 Insgesamt aber konnte ein umfangreiches Datenmaterial erhoben werden, das die vorherige »black box« Pegida aufzuhellen verhalf. Die verschiedenen, teils mit Wechselbezügen angereicherten Studien, konvergieren weitgehend in ihren Ergebnissen. Als gesichertes Resultat der anfänglichen Erhebungskaskade gilt, dass die Demonstrant/-innen von Pegida überwiegend männlich sind, eher der unteren bis wohlsituierten »Mitte« entstammen, das heißt, sich einer guten Ausbildung, einer Vollzeit-Erwerbstätigkeit und einem (über-)durchschnittlichen Netto-Haushaltseinkommen erfreuen, größtenteils (zu annähernd drei Vierteln) konfessionslos sind und mehrheitlich den Altersgruppen über 45 Jahre angehören. Von öffentlicher Seite wurde Kritik an der methodischen Anlage der per (Online-)Umfragen und Face-to-Face-Befragungen erhobenen Daten geübt, ihr vermeintlicher Repräsentativitätsanspruch in Zweifel gezogen.12 Einige der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gaben allerdings früh zu bedenken, dass Verzerrungseffekte hin zu gebildeteren und gesprächsbereiteren Demonstrant/-innen (»Mittelschichtsbias«), zu sozial erwünschteren Aussagen durch die Umfrageteilnehmenden in der empirischen Umfrageforschung wiederkehrende, ja kaum vermeidbare Probleme darstellen13 und, gemessen an der jeweiligen Ausschöpfungsquote, nicht überschätzt werden sollten.14 Gegen eine mangelnde Verlässlichkeit der Daten spricht außerdem, dass die in Fülle durchgeführten Umfragen weitestgehend übereinstimmende Ergebnisse zutage förderten.15 So wurde das Bild des mittelalten, männlichen und mürrischen Pegida-Demonstranten zur greif baren, schnell aber auch abgenutzten Formel,

9 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 27f. 10 |  Vgl. Dieter Rucht u.a., Protestforschung am Limit. 11 |  Die Unterschiede werden in der Zusammenschau deutlich, Rucht u.a. (2015) erzielten hier 6,8 Prozent, Geiges u.a. (2015) 13,8 Prozent, Vorländer u.a. (2015) und Patzelt (2015) hingegen 35,9 Prozent beziehungsweise 49,2 Prozent. Zusammenstellung in Hans Vorländer u.a., P egida , S. 56. 12 | Vgl. Tino Heim, P egida als leerer Signifikant, Spiegel und Projektionsfläche – eine Einleitung, in: Tino Heim (Hg.), P egida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen P egida , Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2016, S. 1-31, hier S. 13-15. 13 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 57, Fn. 94. 14 |  Vgl. Karl-Heinz Reuband, Wer demonstriert in Dresden für P egida?, S. 136. 15 |  Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 65.

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die einigen Kommentatoren zur Denunziation des Dresdner Phänomens als Ausdruck eines zurückgebliebenen »Dunkeldeutschlands« diente.16 Spätere Erhebungen von November17 beziehungsweise Dezember 201518, die von den Teams um Franz Walter und Karl-Heinz Reuband durchgeführt wurden, bestätigten diese soziodemografische Zusammensetzung. Mehr noch: In beiden Studien zeigte sich sogar eine noch klarere Altersverteilung; die Mehrheit der Demonstrationsteilnehmer befand sich hier bereits in ihren 50ern. Unklar blieb indes, ob diese Verschiebung auf übliche Schwankungen in der Teilnehmendenzusammensetzung zurückzuführen ist, ob sich im Zuge der stagnierenden Teilnehmerzahlen nun ein »harter Kern« älterer Demonstranten herausgeschält habe, Pegida nun sozialstrukturell gewissermaßen zu sich selbst gekommen sei, oder ob es der Methodenwechsel des erstgenannten Forscherteams weg von internetbasierten und hin zu postalischen Umfragebögen war, der den älteren Teil der Demonstranten erstmals angemessen hat abbilden können.19 Angesichts des starken Regens, der zumindest über die Demonstration von Pegida am 30. November 2016, des Befragungstages des erstgenannten Forscherteams, niederging, ist dies keineswegs nebensächlich. Spätere Studien hoben auch die Bedeutung des sozialen Netzwerks »Facebook« für die Vernetzung und die rituelle Einübung gemeinschaftsstiftender Diskursstränge hervor, untersuchten sowohl Nutzerstatistiken als auch Diskurse sowie Selbst- und Fremdwahrnehmungen.20 Es zeigte sich, dass Pegida im Netz weitaus zahlreicher und umfassender vertreten war (im Februar 2016 mit über 200.000 Anhängern) als die Zahl der Teilnehmenden bei den montäglichen Demonstrationen vermuten ließ. Es wurde mithin vorgeschlagen, 16 |   Vgl. exemplarisch Edo Reents, Präsident von Dunkeldeutschland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.08.2015, online einsehbar unter www.faz.net/aktuell/feuilleton/ debat ten/bundespr aesident-gauck-psychologisier t-mit- einem-bild-vondunkeldeutschland-13772026.html (eingesehen am 16.01.2018). 17 | Vgl. Florian Finkbeiner u.a., P egida , Aktuelle Forschungsergebnisse, 31.01.2016, online einsehbar unter www.demokratie-goettingen.de/blog/PEGIDA-2016-studie (eingesehen am 16.01.2018). 18 | Vgl. Karl-Heinz Reuband, P egida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen der Kundgebungsteilnehmer, in: MIP 2016, S. 52-69. 19 | Diesen Schwierigkeiten, den Wandel der soziodemografischen Merkmale ursächlich zu erklären, tritt der Hinweis von Patzelt und Klose hinzu, dass besonders bei schlechtem Wetter vor allem ältere Teilnehmer kämen, weil ihnen die Bekundung friedlichen Protests mehr am Herzen liege als jüngeren Teilnehmern, vgl. Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida . Warnsignale aus Dresden, Dresden 2016, S. 159. 20 | Vgl. Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora? sowie Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 369-479.

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diese beiden Sphären der digitalen Gemeinschaft und des Protests auf der Straße als parallele, sich wechselseitig beeinflussende, jedoch nicht identische Kanäle zu deuten  – erstere als Sammelbecken für ein diffuses politisches Spektrum und bedeutsame Vernetzungsinstanz, letztere als »harten Kern« von Protestaktivist/-innen.21 Auch hinsichtlich der politischen Einstellungsmuster kommen die Studien trotz unterschiedlicher Erhebungs- und Auswertungsschemata zu weitgehend übereinstimmenden Kernergebnissen. Die Mehrheit der Pegida-Demonstrant/-innen nahm über den gesamten Erhebungszeitraum hinweg eine große Distanz zu den etablierten politischen Parteien der Bundesrepublik ein. Nur etwa ein Viertel (rund 25 Prozent) der Befragten gab an, bei der letzten Bundestagswahl der CDU ihre Stimme gegeben zu haben, zwischen 30 und 40 Prozent sprachen hingegen der AfD ihr Vertrauen aus. Die NPD rangierte demgegenüber bei fünf bis acht Prozent, die SPD gerade einmal bei vier bis sechs Prozent.22 Ursprünglich gab die Mehrheit (knapp 5423 beziehungsweise 62 Prozent 24) der Demonstrant/-innen an, sich überhaupt keiner Partei verbunden zu fühlen. Hier ist eine der größten Verschiebungen zu beobachten: In späteren Befragungen kletterte der Anteil derjenigen, die die AfD wählen würden, bis Anfang 2016 gar auf 77 bis 82 Prozent.25 Der Großteil verfügte vor Pegida zudem über kaum bis gar keine Erfahrung mit politischem Engagement. Zwar verorteten sich fast alle Befragten genau in der gesellschaftlichen Mitte oder mitte-rechts26, artikulierten aber mehrheitlich ein heftiges Misstrauen gegenüber bestimmten öffentlichen Personen, Institutionen und Interessengruppen27: Den höchsten politischen Instanzen – Bundeskanzlerin, Bundespräsident, Parlamenten, sprach fast niemand (selten mehr als ein Prozent) sein Vertrauen aus, dicht gefolgt von Banken, Großkonzernen und Parteien. Das Vertrauen der Demonstranten genießen hingegen die sogenannten alternativen Medien (ca. 23 Prozent), mittelständische Unternehmen, die Polizei sowie Wissenschaft und Forschung (jeweils zwischen 40 und knapp 59 Prozent). Hier tritt der Ruf nach Recht und Ordnung besonders plastisch zutage. Neben den repräsentativen Entscheidungsprozessen der Demokratie – über 21 | Vgl. Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora?, S. 80. 22 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 63; ferner Florian Finkbeiner u.a., P egida , Aktuelle Forschungsergebnisse. 23 | Vgl. Werner J. Patzelt, Was und wie denken P egida -Demonstranten?, S. 8. 24 |  Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 52. 25 | Vgl. Florian Finkbeiner u.a., P egida , Aktuelle Forschungsergebnisse, Karl-Heinz Reuband, P egida im Wandel?, S. 63 sowie Werner J. Patzelt, Edel sei der Volkswille. 26 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 65 sowie Karl-Heinz Reuband, P egida im Wandel?, S. 61. 27 |  Vgl. Florian Finkbeiner u.a., P egida , Aktuelle Forschungsergebnisse.

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90 Prozent sind unzufrieden mit der Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik funktioniert – bündelt insbesondere der Sektor der öffentlich-rechtlichen Medien, der nicht selten mit der Parole der »Lügenpresse« bedacht wird, Aggressionen und Wut der Pegida-Demonstrant/-innen.28 Überrascht waren die Forscherinnen und Forscher von der überdurchschnittlich starken Neigung jüngerer Pegida-Teilnehmer/-innen zur Billigung von Gewalt im Dienste politischer Zwecke und zur Selbstverortung im politisch rechten Spektrum, wohingegen ältere Demonstrant/-innen zu größeren Teilen fremden- und islamfeindliche Positionen einzunehmen schienen, obwohl sie sich selbst eher als Angehörige der politischen Mitte verstanden.29 Insbesondere im Lichte dieser Befunde erschien es vielversprechend, das Verhältnis der jungen Menschen zu Pegida näher zu erforschen. Strittig blieb, ob sich die Pegida-Demonstrationen zwischen Ende 2014 und Anfang 2016 »radikalisiert« haben – eine Frage, der sich mehrere jüngere Erhebungen widmeten.30 Verzeichnet wurde eine Verschärfung des Tons auf den Veranstaltungen31, eine Zunahme antidemokratischer Einstellungsmuster und eine gestiegene Sympathie für autoritäre Krisenlösungen.32 Somit ließ sich ein allgemeiner »Rechtsruck« zwar empirisch belegen, dieser sei jedoch kein Ausdruck einer Zunahme rechtsextremistischer Einstellungsmuster oder gar einer stärkeren Präsenz von Rechtsextremist/-innen bei den Demonstrationen, sondern das Ergebnis stark gesunkener Teilnehmendenzahlen während der Krise des Organisationsteams nach dem Höhepunkt im Januar 2015. Demnach hätten sich – so Patzelt und Reuband – die eher gemäßigten Demonstrationsteilnehmer/-innen mehr und mehr resigniert zurückgezogen und dem ohnehin radikaler gesinnten Teil Platz gemacht.33 Insbesondere im Vergleich mit den weniger erfolgreichen Pegida-Ablegern, die in vielen anderen Städten Deutschlands erkennbar von bereits zuvor bekannten rechtsgerichteten Organisationen, Hooligan- und Neonazigruppen, dominiert wurden, werde deutlich, dass Pegida in Dresden insgesamt eher ein bürgerliches Klientel mo28 | Vgl. dazu auch Hans Vorländer u.a., P egida , S. 111-114. 29 | Vgl. Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 163. Gleichwohl sollte hier angemerkt werden, dass einschlägige Studien der Rechtsextremismusforschung in den letzten Jahren wiederholt über ganz ähnlich strukturierte lebensphasenspezifische politische Einstellungsmuster berichteten. 30 | Vgl. Florian Finkbeiner u.a., P egida , Aktuelle Forschungsergebnisse; Karl-Heinz Reuband, P egida im Wandel?; Patzelt 2016. 31 |  Vgl. Werner J. Patzelt, Drei Monate nach dem Knall sowie Karl-Heinz Reuband, P egida im Wandel?, S. 66. 32 | Vgl. Florian Finkbeiner u.a., P egida , Aktuelle Forschungsergebnisse. 33 | Vgl. Werner J. Patzelt, ›Rassisten, Extremisten, Vulgärdemokraten.‹ sowie KarlHeinz Reuband, P egida im Wandel?, S. 67.

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bilisieren konnte.34 Der schrillere und aggressivere Ton, so eine weitere Einschätzung, sei auch als Ausdruck eines nachlassenden Interesses der Teilnehmenden an den Veranstaltungen zu verstehen, welche immer auch auf einen gewissen Event-Charakter angewiesen seien.35 Reuband hielt fest, dass die mittlerweile jahrelange Persistenz der Pegida-Demonstrationen ohne Vergleich unter Protestbewegungen der letzten Jahre ist 36  – hier wären unter Umständen nur die weiterhin kontinuierlich stattfindenden Stuttgart-21-Proteste zu nennen.37 Dennoch habe sich der Charakter der Demonstrationen erheblich gewandelt, wie auch Stine Marg und Katharina Trittel bemerken: Kennzeichnend sei ein Charakterwandel der Demonstrationen hin zu einem bewegungsspezifischen Ritual und »sozialen Akt«, der in erster Linie kollektive Identitäten und Zugehörigkeiten pflege; zudem die zahlenmäßige Reduktion auf ein Stammpublikum und eine Verschiebung nach rechts in der Selbsteinstufung.38 Eine übereinstimmende Kerndiagnose sämtlicher Studien ist, dass die Demonstrantinnen und Demonstranten von Pegida zwar durchaus gegen die von ihnen wahrgenommene »Islamisierung« beziehungsweise eine als verfehlt betrachtete Asylpolitik protestieren wollen, also auch von Fremdenfeindlichkeit und Xenophobie angetrieben werden; das zentrale Motiv sei aber eine grundlegende, allgemeine – und daher gerade nicht auf konkrete Anliegen und Einzelthemen konzentrierte – Unzufriedenheit mit dem politischen System der Bundesrepublik, mit seinen Institutionen und Eliten, die in dieser Form erstmals öffentlich und in populistischer Manier artikuliert werden konnte.39 Die 34 |  Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 69f. 35 | Vgl. Karl-Heinz Reuband, P egida im Wandel?, S. 66. 36 | Vgl. Karl-Heinz Reuband, Die Dynamik des P egida Protests. Der Einfluss von Ereignissen und bewegungsspezifischer Mobilisierung auf Teilnehmerzahlen und Teilnehmerzusammensetzung, in: MIP 2017, S. 112-130, hier S. 127, »P egida nimmt unter den Protestbewegungen eine Sonderstellung ein. Es gibt keine andere Bewegung, die es vermocht hat, über einen so langen Zeitraum nahezu jede Woche derart viele Menschen zu öffentlichem Protest zu mobilisieren.« 37 |  Vgl. o. V., Forscherin, Stuttgart 21 verändert Umgang mit Großprojekten, in: Welt Online, 15.01.2018. online einsehbar unter https://www.welt.de/regionales/ baden-wuer t tember g /ar t icle172475931/For s cher in-Stut t gar t-21-ver aender tUmgang-mit-Grossprojekten.html (eingesehen am 05.02.2018). 38 |  Vgl. ebd. sowie Stine Marg und Katharina Trittel, P egida , Vom »Schmuddelkind zum professionalisierten Protestformat, 11.10.2016. online einsehbar unter www.demokratiegoettingen.de/blog/zwei_ jahre_pegida (eingesehen am 16.01.2018). 39 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 140; ferner Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 65 sowie Werner J. Patzelt, Was und wie denken P egida -Demonstranten?, S. 30.

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Kritik an der konkreten Funktionsweise der herrschenden Demokratie wird von den Demonstranten flankiert mit einem diffusen Konzept eines homogenen Volkswillens, der der Bändigung und Bündelung durch Instanzen der Interessenrepräsentation ledig ist. Der Verdacht einer rechtsextremistischen Motivationsstruktur aber konnte für die Mehrheit der Pegida-Demonstranten trotz deutlich hervortretender ethnozentristischer und chauvinistischer Einstellungsmuster mit einem Anteil von etwa 30 bis 40 Prozent40 nicht erhärtet werden.41 Auch Versuche, die anhand von Pegida erhobenen Daten mit repräsentativen Zahlen zur Gesamtbevölkerung Sachsens zu kontrastieren, traten hinzu. Ein Team um Susanne Rippl und Friederike Wittenburg untersuchte im Rahmen einer empirischen Querschnittstudie in Chemnitz die Potenziale rechtspopulistischer Einstellungen in der sächsischen Bevölkerung. Als Anlässe der Untersuchung wurden sowohl das Erklärungsbedürfnis zum Aufschwung rechtspopulistischer Bewegungen im Allgemeinen als auch die Prüfung des Erklärungsangebotes zu Pegida genannt; beleuchtet wurde der Zusammenhang hinsichtlich der Dimensionen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Desintegration, insbesondere des Motivs des »Wendeverlierers«.42 Aus den Ergebnissen ging unter anderem hervor, dass sich über 80 Prozent der Befragten persönlich nicht materiell schlechter gestellt sehen als vor der Wende, demgegenüber jedoch ungefähr 85 Prozent den Osten insgesamt als noch immer schlechter gestellt empfinden.43 Insgesamt sei das Gefühl des »Wendeverlierers« vornehmlich geleitet von sozialer Desintegration, nicht von wirtschaftlichen Faktoren; es handle sich hier um eine »in hohem Maße […] kollektive Selbstzuschreibung«.44 Die Studie ergab auch, dass hohe Zustimmungswerte 40 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida sowie Werner J. Patzelt, ›Rassisten, Extremisten, Vulgärdemokraten.‹ 41 | Vgl. Karl-Heinz Reuband, Wer demonstriert in Dresden für P egida?, S. 141f., ferner Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? und Werner J. Patzelt, Was und wie denken P egida -Demonstranten?, S. 30. Mit Bezug auf die Kundgebungen und Reden von P egida vgl. jüngst Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 139-143 sowie S. 283-291. 42 | Vgl. Susanne Rippl und Friederike Wittenburg, P egida und Co. – Erste Ergebnisse einer Telefonumfrage in Chemnitz. Erklärungsansätze und erste Befunde. Forschungsbericht, TU Chemnitz, Institut für Soziologie, 2016, online einsehbar unter https://www. researchgate.net/publication/303944340_Pegida_und_Co_-_Erste_Ergebnisse_ einer_Telefonumfr age_ in_Chemnit z _ Er klar ungsansat ze_und _er ste_ Befunde_ Forschungbericht_TU_Chemnitz_Institut_fur_Soziologie (eingesehen am 16.01.2018), S. 1-4. 43 | Vgl. ebd., S. 19f. 44 | Vgl. ebd., S. 21 und 23.

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zu Pegida und zur AfD mit starken Neigungen zu Rechtsextremismus-Items korrelieren, das Bild der »Protestwahl« also keine zureichende Erklärungsgrundlage für den Zulauf zu rechtspopulistischen Parteien oder Bewegungen sein könne.45

2.1.2  P  egida als Phänomen: Wissenschaftliche Interpretationslinien und Deutungsansätze zu Einstellungsmustern und Ursachen Die Erklärungsversuche von Pegida richteten sich insgesamt zunächst auf den »Brandherd« in Dresden, der so unerwartet in die tagespolitische Agenda drang. Die Stoßrichtung der Fragestellungen, ihr semantischer und politischer Deutungshorizont, verrät die allgemein geteilte Befürchtung, die Dresdner Demonstrationen könnten eine Gefährdung der Demokratie und einer »gesunden« Zivilgesellschaft bedeuten, eine empfindliche Störung des politischen Klimas und eine Schädigung der deutschen Reputation zur Folge haben. Einige Monate hindurch war es  – insbesondere unter Medienvertreter/-innen – Gewohnheit, den Pegida-Demonstrant/-innen einen Platz am sozialen Rand der Gesellschaft zuzuschreiben.46 Ein geradezu reflexhaftes Urteil war inmitten einer sichtlich unruhigen Öffentlichkeit besonders oft zu hören: Pegida, das sind die »Abgehängten« beziehungsweise »Ahnungslosen«, in der Mehrheit Trägerinnen und Träger rechten – wenn auch nicht unbedingt rechtsextremistischen – Gedankenguts, eine Allianz der Antidemokratinnen und Antidemokraten.47 So blieb die Formel von den ost- beziehungsweise »dunkeldeutschen« Pegidist/-innen zunächst das dominante Interpretationsschema in der bundesdeutschen Öffentlichkeit  – auch, weil das Motiv des »sächsischen Exzeptionalismus« lange Zeit hindurch als eines der zentralen Erklärungsmuster firmierte. Diese Betrachtung wurde durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung und empirische Forschung erheblich differenziert. Tatsächlich beansprucht keine der vorgeschlagenen, singulär auf Pegida gerichteten Perspektiven, eine monokausale oder vollumfassende Ursachenexplikation zu leisten. Stets werden verschiedene im Folgenden umrissene Faktoren berücksichtigt, wenn auch unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt; Eindeutigkeit im Urteil 45 | Vgl. ebd., S. 24. 46 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 53 sowie Karl-Heinz Reuband, Wer demonstriert in Dresden für P egida?, S. 133. 47 | Vgl. exemplarisch Konrad Litschko und Andreas Speit, Die Anheizer, in: die tageszeitung, 30.10.2015, online einsehbar unter www.taz.de/!5242665/ (eingesehen am 16.01.2018), jüngst in impliziter Weise Samuel Salzborn, Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten, Weinheim 2017.

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suggerieren dagegen die seit Ende 2016 erscheinenden (populär-)wissenschaftlichen Monografien, in denen Pegida zumeist als Evolutionsstufe oder Ausprägungsform einer aufsteigenden »Neuen Rechten« beziehungsweise »neuen rechten Mitte« vorgestellt wird.

Fremdenfeindlichkeit, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Rechtsextremismus, Autoritarismus? Durch Inbezugsetzung des reichhaltigen, im Zuge der Demonstrationen erhobenen, Datenmaterials zu Quer- und Längsschnittstudien wie der ALLBUS-Bevölkerungsumfrage, den Leipziger Mitte-Studien, den Deutschen Zuständen, dem Thüringen Monitor oder dem Sachsen Monitor wurde zunächst versucht, das rechtsextremistische Potenzial von Pegida im Kontext der neuen und alten Bundesländer einzuschätzen.48 Vorländer u.a. und Fehser weisen darauf hin, dass sich unter den Demonstrant/-innen Muster abbilden würden, die für Ostdeutschland insgesamt charakteristisch seien, in Bezug auf die gesamte Bundesrepublik jedoch keineswegs überraschten; demnach seien nationalchauvinistische und fremdenfeindliche Einstellungen, insbesondere in Bezug auf den islamisch-arabischen Kulturkreis und verbunden mit einer »Überfremdungsangst« beziehungsweise der Furcht des Verlustes von ökonomischen und kulturellen »Etabliertenvorrechten«, hier wie dort weit verbreitet, während sich aber für ein darüber hinausgehendes neo-nationalsozialistisches Gedankengut kaum Hinweise fänden. Das Personenpotenzial jenseits des demokratischen »Wertekonsenses« (Menschen, die im Rahmen fremdenfeindlicher, rassistischer, antisemitischer und anderer Einstellungsmuster gemäß den Komponenten der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit nach Heitmeyer u.a. dem Verfassungsideal der Gleichwertigkeit aller Menschen widersprechen49) wird verschieden hoch eingeschätzt, rangiert aber derzeit stets bei mindestens 9-10 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung; vermutet wird darüber hinaus ein weit größerer Anteil schweigender Personen, die dennoch dazu gezählt werden müssen.50 Die Dresdner Demonstrant/-innen erscheinen somit nicht nur sozialstrukturell, sondern auch angesichts der Verteilung 48 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 71-136 sowie Stefan Fehser, Demaskierung und Kontinuitäten. P egida als Offenlegung und Entfesselung bestehender Dispositionen, in: Tino Heim (Hg.), P egida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen P egida , Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2017, S. 55-78 und Karl-Heinz Reuband, P egida , Sachsen und die Fremdenfeindlichkeit. Warum es komplexerer und regionalspezifischer Analysen bedarf, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 1/2017, Berlin 2017, S. 101-107. 49 | Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Deutsch-deutsche Zustände. 20 Jahre nach dem Mauerfall, Bonn 2009. 50 | Vgl. Stefan Fehser, Demaskierung und Kontinuitäten, S. 65.

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dieser Einstellungen als veritable Repräsentantinnen und Repräsentanten der (ost-)deutschen gesellschaftlichen »Mitte«.51 Deswegen wurde Pegida von vielen Seiten retrospektiv als »erwartbar« eingestuft, geradezu als gesellschaftspolitische Unvermeidbarkeit; Armin Pfahl-Traughber spitzt diese Einschätzung zu der Behauptung zu, die Ende 2014 weit verbreitete »Überraschung« über Pegida sei angesichts einschlägiger Studien vielmehr selbst überraschend.52 Jüngere Entwicklungen der Normalisierung und Enttabuisierung rechtspopulistischer Positionen im politischen Klima der Bundesrepublik bilden demnach das Gelegenheitsfenster beziehungsweise den »Kairos«-Moment für in Deutschland bisher unbekannten politischen Protest von rechts53, wie ihn Pegida und die AfD ausdrücken.54 Dennoch: Insgesamt erscheint der Begriff des (Rechts-)Extremismus für das Phänomen Pegida wenig passend55 – auch angesichts grundsätzlicher Kritik an diesem Zugriff, da ethnozentristische Einstellungsmuster zu Randphänomenen deklariert werden, während sie den Autoren der – wiederum ebenfalls nicht unumstrittenen – Mitte-Studien Decker und Brähler zufolge hohe Zustimmungswerte in sämtlichen gesellschaftlichen Gruppen der Bundesrepublik erzielen würden.56 Als sozialpsychologischer Erklärungsversuch von antidemokratischen Einstellungen im Allgemeinen, aber auch in Bezug auf Pegida, firmiert das auf Theodor W. Adorno zurückgeführte Konzept des autoritären Syndroms. Durch eine Reihe sozialisationsbedingter zusammenhängender Merkmale wie Konventionalität, Fixierung auf Machthierarchien, Anti-Intrazeption, Straf bedürfnis, sexuelle Obsession und die Projektion innerpsychischer Konflikte auf außenstehende Gruppen griffen Individuen und Kollektive demnach auf Sortierungs- und Lösungsangebote zur Reduktion der gesellschaftlichen Komplexität zurück, die zugleich auch teils gewalttätig sich entladene Aggressionen

51 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 102-105. Demgegenüber äußerten sich Westdeutsche häufiger antisemitisch und neigten stärker zur Verharmlosung des Nationalsozialismus. 52 | Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Die P egida -Demonstrationen als neues Phänomen für Fremdenfeindlichkeit, in: Humanistischer Pressedienst, 24.12.2014, online einsehbar unter http://hpd.de/artikel/10860 (eingesehen am 16.01.2018). 53 | Vgl. René Cuperus, Wie die Volksparteien (fast) das Volk einbüßten – Warum wir den Weckruf des Populismus erhören sollten, in: Ernst Hillebrand (Hg.), Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie?, Berlin 2015, S. 149-158. 54 | Vgl. Stefan Fehser, Demaskierung und Kontinuitäten, S. 69. 55 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 102f. 56 | Vgl. Oliver Decker und Elmar Brähler, Bewegung in der Mitte. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2008, Berlin 2008, S. 5-8.

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gegen Andere provozieren könnten.57 Oliver Nachtwey deutet Pegida dementsprechend als Signal dafür, dass das Ressentiment im Zuge wachsender Unsicherheiten mehr und mehr in eine sich fragmentierende bürgerliche Mitte diffundiert, das autoritäre Syndrom wieder virulent wird.58 In den Dresdner Demonstrationen sieht er das Potenzial einer neuen »regressiven Massenbewegung«.59 Zur Plausibilisierung des Arguments für den Kontext Ostdeutschlands führen Vorländer u.a. zudem auch das Erbe der DDR-Vergangenheit an: Die dort jahrzehntelang üblichen Erziehungs- und Sozialisationsformen könnten demnach eine Katalysefunktion für die an sich allgemein verbreitete Disposition zu antidemokratischen und rechtsextremen Einstellungen einnehmen.60 Der »autoritäre Charakter« beziehungsweise »Autoritarismus« ist somit ein in der politischen Kulturforschung (etwa in den Mitte-Studien von Decker u.a.61) gehandeltes Erklärungskonzept für Rechtsextremismus auch und gerade in Ostdeutschland. Als Problem dieses Ansatzes führt Vorländer allerdings neuere empirische Untersuchungen zum Mentalitätswandel in Ost und West an: Das behauptete sozialisatorische DDR-Erbe sei heute kaum noch nachweisbar, also die Mentalitätsdifferenzen weitgehend nivelliert, die Bedeutung der nunmehr weitgehend vollzogenen Transformation hin zur Demokratie unter postsozialistischen Verhältnissen insgesamt unklar.62 Eine weitere Schwierigkeit liegt im theoretischen Anspruch des Konzepts: Vermag dieses zwar über die psychologischen Mechanismen und Dispositionen antisemitischer, fremdenfeindlicher und anderer Ressentiments im Allgemeinen

57 |  Vgl. unter revisionistischem Rückgriff auf Adorno und gleichzeitiger Applikation auf ausgewählte Motive von P egida Oliver Nachtwey, Rechte Wutbürger. P egida oder das autoritäre Syndrom, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015, S. 81-90. 58 | Vgl. ebd., S. 85f. 59 | Vgl. Oliver Nachtwey, P egida , politische Gelegenheitsstrukturen und der neue Autoritarismus, in: Karl-Siegbert Rehberg u.a. (Hg.), P egida  – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und ›Wende‹-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld 2016, S. 301-314, hier S. 312. Unklar bleibt allerdings, ob Nachtwey hier den psychologischen Begriff der Regression erweiternd auf Gruppen bezieht, oder ob es sich um eine normative politische Bewertung handelt. 60 | Hans Vorländer u.a., P egida , S. 122. 61 |  Vgl. Oliver Decker und Elmar Brähler, Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, Berlin 2006, S. 11. Einschränkend ist zu erwähnen, dass das Konzept gegenüber den ursprünglichen Studien zur »autoritären Persönlichkeit« von Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik u.a. mehrfach abgewandelt worden ist. 62 | Hans Vorländer u.a., P egida , S. 122-124.

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aufzuklären,63 so erscheint es doch zur Erklärung eines so spezifischen und komplexen Phänomens wie Pegida unzureichend. Patzelt und Reuband sprachen bezüglich Pegida schon früh von einem »harten Kern der Extremisten«64 und meinen damit ca. fünf bis 20 Prozent der Demonstrant/-innen. Insbesondere Patzelt und Klose bemühten sich um eine – recht willkürliche – Typisierung der Demonstrant/-innen: Danach »spazieren« bei Pegida im Januar 2016 acht Prozent »bundesdeutscher Mainstream«, 23 Prozent »gutwillige Zuwanderungskritiker«, 31 Prozent »kulturkonservative Xenophobe«, 19 Prozent »islamophobe Zuwanderungsgegner« und 19 Prozent »Rechtsradikale« (darunter etwa fünf Prozent »Rechtsextremisten«). Im Zeitverlauf hätte sich dann nicht nur sozialstrukturell, sondern auch hinsichtlich der politischen Einstellungsmuster ein »harter Kern« herausgeschält: Zuvor, im Januar 2015, seien nämlich noch 60 Prozent »besorgte gutwillige« und sehr viel weniger »kulturkonservative xenophobe« Bürger dabei gewesen.65 Quer zu diesen Untersuchungsdimensionen liegt die an der Protestforschung geschulte Vermutung, dass die anhaltende Motivation zur Teilnahme an den zwar stagnierten, doch keineswegs beendeten Pegida-Demonstrationen ähnlich wie bei anderen Formen des politischen Aktivismus durch den Event-Charakter der Veranstaltungen bedingt sein könnte.66 Pegida stifte demnach über Rhetorik, Rituale und Symboliken eine Form von Gemeinschaft beziehungsweise kollektiver Zugehörigkeit, die auch nach der mittlerweile fortgeschrittenen »Profanisierung rechtspopulistischer Positionen« im politischen Klima weiterhin (nahezu) wöchentlich eingeübt werde.67 Infolge der Schwierigkeiten einer eindeutigen Zuordnung der Pegida-Proteste in bestehende Kategorisierungen wurden verschiedene terminologische Vorschläge unterbreitet. Vorländer u.a. sprechen 2016 von einer »Empörungsbewegung«68. Ähnlich und aus der Perspektive der Bewegungsforschung ordnet Peter Ullrich Pegida neben den »Mahnwachen für den Frieden« und »Occupy« in die Kategorie »Empörten-Bewegungen« ein, die sämtlich die 63 | Vgl. Hans-Thomas Spohrer, Die »autoritäre Persönlichkeit« als Erklärungsansatz für Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus – ein aktuelles Konzept? in: Martin H. W. Möllers und Robert Christian van Ooyen (Hg.), Politischer Extremismus 1, Formen und aktuelle Entwicklungen, Frankfurt a.M. 2007, S. 297-309. 64 |  Vgl. Karl-Heinz Reuband, Wer demonstriert in Dresden für P egida?, S. 135 sowie Werner J. Patzelt, Edel sei der Volkswille. 65 | Vgl. Werner J. Patzelt, Edel sei der Volkswille sowie Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 278ff. sowie S. 283. 66 | Vgl. Karl-Heinz Reuband, P egida im Wandel?, S. 66. 67 |  Vgl. Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora?, insbesondere S. 83. Vgl. außerdem Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 36ff. und 576f. 68 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 140.

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»postdemokratischen« Merkmale der generellen Ablehnung des politischen Systems und seiner Repräsentanten, ein erhebliches Misstrauen gegenüber politischen und sonstigen Institutionen, geringe Organisationskompetenzen, spontane Protest-Eruptionen und internetgeprägte Mobilisationskanäle teilten.69 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Nachtwey: Pegida sei »gewissermaßen die regressive Variante« neuerer politischer Proteste in den letzten Jahren. Im Gegensatz zu anderen Wutbürgern, wie die Protestierenden um Stuttgart 21 oft genannt wurden, sei der rechte Wutbürger von Pegida nicht mehr links oder ökologisch motiviert, und gebe daher ungehemmt der autoritären Versuchung nach, die bei bisherigem »postdemokratischem« Protest bereits implizit angelegt gewesen sei.70 Patzelt und Klose sprechen hingegen zurückhaltend von einem populistisch agierenden »periodischen Demonstrationsgeschehen«, streiten jedoch den Charakter einer Bewegung ab, welche man stets anhand ihrer Anführer/-innen, Mitglieder und Strategien politisch erkennen beziehungsweise bekämpfen könnte.71

Postsozialistische Transformationsgesellschaft, sächsischer beziehungsweise Dresdner E xzeptionalismus? Angesichts der sozialstrukturellen und durchaus auch weltanschaulichen Nähe von Pegida zur gesellschaftlichen »Mitte« wurde vielfach die Frage aufgeworfen, warum der Protest sich ausgerechnet in Dresden so mobilisierungskräftig hat entzünden können. Als auslösendes Moment gelten zwar die tagespolitische Gemengelage der Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik sowie die weltweiten Gewalttaten des sogenannten Islamischen Staats.72 Doch provozieren gerade diese Annahmen die Anschlussfrage, warum die mehreren tausend Menschen nicht anderswo, sondern gerade auf der »Bühne Dresden«, ihren Unmut artikulieren. Zum Gefüge der Bedingungen, die Pegida ermöglicht haben könnten, wurden verschiedene Deutungsansätze und Interpretationslinien zusammengetragen. Insgesamt werden oftmals grundlegende Unterschiede zwischen der politischen Kultur in Ost- und Westdeutschland angeführt. So wird etwa auf die

69 | Vgl. Peter Ullrich, Postdemokratische Empörung. Ein Versuch über Demokratie, soziale Bewegungen und gegenwärtige Protestforschung, in: Tino Heim (Hg.), P egida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen P egida , Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2017, S. 217251, hier S. 232-240. 70 | Vgl. Oliver Nachtwey, Rechte Wutbürger, S. 84. 71 | Vgl. Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 39. 72 | Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 11f. sowie Hans Vorländer u.a., P egida , S. 138.

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Unterschiede bezüglich des Stils politischer Debatten Bezug genommen 73, der sich im Osten und speziell in Sachsen stärker durch konservative Motive und deutlich geringere Redehemmnisse auszeichne. Demnach leide man hier vor allem unter der langjährigen öffentlichen Dethematisierung des Nationalsozialismus, fremdenfeindliche Motive seien besser artikulierbar, im Westen gewohnte »politisch-kulturelle Benimmregeln« absent.74 Für Sachsen wird gar das völlige Fehlen einer Streitkultur in einem von Ingenieuren und Technikern geprägten Bundesland, ja eine grundlegende Unfähigkeit, demokratische Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, konstatiert.75 Die »Dysfunktionalität« (zivil-)gesellschaftlicher Organisationsformen in Vergangenheit und Gegenwart treibe die Menschen zusätzlich in den »kultischen Akt« der gemeinschaftsstiftenden Pegida-Demonstrationen.76 Früh wies Michael Lühmann darauf hin, dass die Pegida-Demonstrationen nicht  – wie behauptet  – in der Tradition der friedlichen Revolution von 1989 stünden, sondern als Resultat einer in der politischen Kultur Sachsens tief verankerten Ablehnung alles Anderen und Fremden und des Scheiterns der Pegida gleichwohl nahestehenden sächsischen CDU, das »ultrakonservative, radikal-evangelikal überformte Milieu des sächsischen Bibelgürtels« einzuhegen, zu verstehen seien. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (wie von Heitmeyer u.a. beschrieben) gehöre demnach bereits seit den 1990er Jahren zum Spektrum der »normalen und relevanten« politischen Positionen in der öffentlichen Debatte, politischer Extremismus hingegen werde, so der Autor, gemäß der Totalitarismustheorie von Uwe Backes und Eckhard Jesse, an offene Neonazis und deren linke Gegenspieler/-innen delegiert.77 Vorländer und Patzelt sprechen von einem »Kulturkampf« zwischen Traditionalist/-innen und Modernisierer/-innen in einer Stadt, die in den Jahren nach der Wende mit einer plötzlichen Erosion eines vormaligen »homogenen Kosmos« zu kämpfen gehabt habe (sozialer und demografischer Wandel, Zuzug von Fremden, Austausch der Eliten, Entwertung von Weltbildern), deren Konfliktpotenzial sich periodisch entlade, infolge der Pegida-Demonstrationen verschärfe und die nun der Herausforderung gegenüberstehe, sich in eine kosmopolitische 73 | Vgl. Maria Steinhaus u.a., »So geht sächsisch!« P egida und die Paradoxien der ›sächsischen Demokratie‹, in: Tino Heim (Hg.), P egida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen P egida , Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2017, S. 143-196. 74 |  Hans Vorländer u.a., P egida , S. 105. 75 | Vgl. Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 577f., S. 544-546. 76 | Vgl. Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 576f. 77 |  Michael Lühmann, P egida passt nach Sachsen, in: Die Zeit, 16.12.2014, online einsehbar unter www.zeit.de/politik/deutschland/2014-12/pegida-dresden-politischetradition (eingesehen am 16.01.2018).

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Metropole zu verwandeln.78 Patzelt und Klose nennen als katalysierende, wenngleich nicht ursächliche »speziell ostdeutsche Tiefenschichten« ein politisches Ohnmachtsempfinden, Veränderungsängste angesichts von Deutschlands Weg in eine multikulturelle Einwanderungsgesellschaft, eine postsozialistisch-atheistisch motivierte Islamfeindlichkeit sowie einen starken Sozialneid unter verschärften Konkurrenzbedingungen.79 Materialreich unterfüttert und ergänzt wurde die Diagnose eines »Sachsenchauvinismus« und gescheiterter Versuche der parteipolitischen Einbindung des rechtskonservativen Spektrums jüngst durch Maria Steinhaus u.a., die unter Bezugnahme auf das Vokabular von Jacques Rancière, Slavoj Žižek und Colin Crouch auf eine durch bürokratische, Konflikte unterbindende, »postpolitische neoliberale Regierungspraxis« gekennzeichnete »sächsische Demokratie« hinweisen. Erst diese spezifische Verbindung von Politikstil und ethnozentristischen Denk- und Sprechweisen habe Pegida ermöglicht.80 Besonders betont wird hier auch die zentrale Bedeutung eines sächsischen wie Dresden-bezogenen Exzeptionalismus (Dresden als besonders außergewöhnliche, von einem unvergleichlichen Miteinander geprägte Stadt, der »Glanz« höfischer Kulturtraditionen und eine besondere Wachsamkeit beziehungsweise Gescheitheit der Sächsinnen und Sachsen) für die identitätsstiftenden politischen Deutungsmuster sowohl der Demonstrant/-innen als auch der Mehrheit der Bevölkerung vor Ort.81 Überhaupt wurden Spezifika der Stadt Dresden als Austragungsort der Pegida-Demonstrationen angesichts des Scheiterns der zahlreichen Pegida-Ableger in anderen Städten mehrfach diskutiert. Dresden wird zugeschrieben, in den letzten Jahren schon mehrfach Seismograf beziehungsweise Initiativpunkt für gesamtgesellschaftliche Debatten mit gesamtdeutscher, ja europäischer Reichweite gewesen zu sein – wie etwa im Falle des begeisterten Empfangs Helmut Kohls 1989 oder in Gestalt der Initiative zum Wiederauf bau der Frauenkirche. Oder in Form der Auseinandersetzungen um das kollektive Erinnern mit Bezug auf das Bombardement der Stadt im Zwei78 | Vgl. Hans Vorländer, Zerrissene Stadt: Kulturkampf in Dresden, in: APuZ 5-7/2016, S. 22-28 sowie Hans Vorländer u.a., P egida , S. 134, ferner Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 579f. 79 | Werner J. Patzelt und Joachim Klose, Die Ursachen des P egida -Phänomens, in: wjpatzelt.de, 13.05.2015, online einsehbar unter http://wjpatzelt.de/?p=375 (eingesehen am 16.01.2018). 80 | Vgl. Maria Steinhaus u.a., »So geht sächsisch!« P egida und die Paradoxien der ›sächsischen Demokratie‹, in: Tino Heim (Hg.), P egida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen P egida , Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2017, S. 143-196. 81 | Vgl. ebd., S. 176-185. Vgl. außerdem Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 92 sowie Hans Vorländer u.a., P egida , S. 143-145.

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ten Weltkrieg, eines Streits um die in Dresden nicht selten instrumentalisierte Erinnerungskultur82, der dort schon 1998 begann, sich bundesweit aber erst in den 2000er Jahren entlud.83 Patzelt hält den Ort Dresden als Kristallisationspunkt für einen allgemeinen Unmut in der Bevölkerung angesichts der politischen Kräfteverhältnisse für prädestiniert.84 Des Weiteren machen mehrere Autoren darauf aufmerksam, dass die politische, mediale und kulturelle Elite in den 1990er Jahren größtenteils von zugezogenen Westdeutschen gestellt worden sei. Dies sei ein wesentlicher Faktor für die heftige Medienkritik und Opposition gegenüber einem teils als aufoktroyiert verstandenen demokratischen System. Vergangene Irritationen dieser Art kehren demnach angesichts neuer Unsicherheiten und globaler Migrationsbewegungen wieder: Es grassiert insbesondere in den von Lars Geiges u.a. durchgeführten Diskussionsgruppen mit Pegida-Anhänger/-innen die Empfindung, man werde nun wiederum »als Menschen abgekanzelt, die nichts von Demokratie, Weltoffenheit, kosmopolitischer Toleranz, global-kultureller Integrationsfreude verstünden«.85 Und auch sonst wird westdeutschen Eliten von den Pegida-Aktivist/-innen ein diskursiver Hegemonieanspruch sowie die Verantwortung von »Sprechverboten« gegenüber Ostdeutschen zugeschrieben,86 der mediale Konsens der Bundesrepublik nicht als adäquates Abbild des politischen Meinungsspektrums gesehen. Geiges u.a., aber auch Patzelt und Klose weisen darauf hin, dass eine solche Dominanz liberaler beziehungsweise linker Positionen tatsächlich in gewisser Weise existiere, die Beschuldigungen also auf ein fundamentum in re verweisen können.87 82 | Vgl. Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 557. 83 | Vgl. Joachim Fischer, Hat Dresden Antennen?, S. 21-24. 84 |  »Es ist die Sorge um Zuwanderungspolitik in der deutschen öffentlichen Diskussion als ein rechtes Thema kartiert. […] Wenn man eine Massenbewegung hinbekommen will oder wenn eine bestimmte Chance dafür bestehen soll, dass eine Massenbewegung entsteht, braucht man eine größere Stadt, die überwiegend nicht links oder grün, sondern überwiegend konservativ geprägt ist. Und unter all den ostdeutschen Städten wird man kaum eine finden, die diese Kriterien so gut erfüllt wie Dresden.« Mario Dobovisek im Gespräch mit Werner J. Patzelt, »P egida hat den Nerv der Bevölkerung getroffen«, in: Deutschlandfunk, 22.12.2014, online einsehbar unter www.deutschlandfunk.de/pegidademonstrationen-pegida-hat-den-nerv-der-bevoelkerung.694.de.html?dram,ar ticle _id=306934 (eingesehen am 16.01.2018). 85 | Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 187f. 86 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 132 f sowie Karl-Heinz Reuband, Wer demonstriert in Dresden für P egida?, S. 136-138. 87 |  Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 202 sowie Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 23, 29f., 570 und 575f. Gleichwohl wecken Patzelt und Klose durch die Wahl von nah an der P egida -Diktion orientier-

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Viele Forschende bezweifeln indes, dass die konstatierte politkulturelle Besonderheit Sachsens beziehungsweise Dresdens inklusive verschiedener nostalgischer Idealisierungen als Erklärungsgrundlage für Pegida zureichend sei, da rechtsextremistische, fremdenfeindliche und nationalistische Einstellungsmuster aktuellen Erhebungen zufolge in Sachsen nur durchschnittlich, verglichen mit den anderen ostdeutschen Bundesländern sogar unterdurchschnittlich stark vertreten seien.88 Auch insofern ist nach der Attraktivität der Pegida-Bewegung auch außerhalb Dresdens, Sachsens und der ostdeutschen Bundesländer zu fragen, was in der vorliegenden Studie durch eine vergleichende Erhebung in Duisburg und Nürnberg umgesetzt wird.

Frühe Auseinandersetzung um die politische Bewertung Dass sich mit der Kontroverse um die wissenschaftliche, feuilletonistische und politische Beurteilung der Pegida-Proteste eine anhaltende öffentliche Aufregung verband, lässt sich nicht zuletzt an dem expliziten Vorsatz Vorländers und seiner Ko-Autoren ablesen, die bisherigen Fakten, Erkenntnisse und Streitpunkte in einer Gesamtdarstellung, »sine ira et studio«, also nüchtern und distanziert, darzulegen.89 Demgegenüber führt der lange Zeit als Kontrahent Vorländers wahrgenommene Patzelt an den Gegenstand seines Sammelbandes qua eines subjektiven Zugangs heran und geriert sich dadurch eher als ein um das Gemeinwohl der Bundesrepublik ernsthaft besorgter Intellektueller.90 Früh kritisierte Patzelt die Reaktionen von Politikerinnen und Politikern auf die Demonstrationen. Die dort vorgetragene »Sorge um Zuwanderungspolitik« werde zu Unrecht »als rechtes Thema karikiert«; daher sei es Aufgabe von Pegida, das widerständige »allgemeine Volksempfinden« zur Sprache zu bringen. Notwendig sei nicht, mit den Organisatoren von Pegida zu sprechen, sondern »eine große bundesweite Diskussion« über »Grundzüge« und »Leitgedanken« der deutschen Einwanderungs- und Integrationspolitik zu führen und dabei eben auch die sich in unangenehmer Weise ein Sprachrohr ver-

tem Vokabular wie der »politisch-medialen Klasse«, die den Meinungsmarkt beherrsche (S. 26 und 526) und eine westdeutsch geprägte »Konsensdiktatur« (S. 539) errichtet habe, durchaus Zweifel an der Distanz der Autoren zu ihrem Forschungsgegenstand. 88 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 104 unter Bezugnahme auf Oliver Decker u.a., Rechtsextremismus der Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose, Gießen 2015. Vgl. außerdem Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Dresden-Szenen. Eine einleitende Situationsbeschreibung, in: Karl-Siegbert Rehberg u.a. (Hg.), P egida  – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und ›Wende‹-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld 2016, S. 17-50, hier S. 25. 89 | Vgl. Hans Vorländer, Zerrissene Stadt, S. 3. 90 | Vgl. Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 19-21.

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schaffenden »besorgten« Bürgerinnen und Bürger zu erreichen.91 Unter den kleineren »Geysiren« und schließlich dem »Vulkan«, der in Dresden ausbräche, brodele der vormals ruhende Volkswille, der sich anschicke, gegenüber mehrheitlich links-liberal besetzten Medien die pluralistischen Prinzipien der Demokratie für die Stimmen der Repräsentationslücke »rechts von der Mitte« einzuklagen.92 Später fügte er hinzu, die Unzufriedenheit mit der Einwanderungspolitik sei nur der Auslöser von Pegida gewesen, »tiefster Grund« hingegen sei die generelle Unzufriedenheit mit dem deutschen Regierungssystem und seiner Politik.93 Aus der Diagnose eines Politikversagens leitete er Strategievorschläge ab, insbesondere eine »sachliche und redliche Kommunikation mit den Gutwilligen« unter den Unterstützer/-innen von Pegida: Deren Forderungen seien ernst zu nehmen und zu diskutieren.94 Seine mehrfach wiederholte Aufforderung zum Dialog wurde in der Folge heftig kritisiert. Man attestierte Patzelt politische Voreingenommenheit und ein Sympathisieren mit den Pegida-Protesten, welche er »salonfähig« mache;95 Student/-innen und Kolleg/-innen, darunter auch sein Dresdner Kollege Vorländer, distanzierten sich von ihm.96 Sie warfen ihm – neben formalen Unstimmigkeiten in seinen Studien  – eine fahrlässige Verharmlosung des rechtsextremistischen

91 | Mario Dobovisek im Gespräch mit Werner J. Patzelt, »P egida hat den Nerv der Bevölkerung getroffen«, in: Deutschlandfunk, 22.12.2014, online einsehbar unter www. deutschlandfunk.de/pegida-demonstrationen-pegida-hat-den-nerv-der-bevoelkerung. 694.de.html?dram,article_id=306934 (eingesehen am 16.01.2018). 92 | Werner J. Patzelt, Edel sei der Volkswille, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.01.2015, online einsehbar unter www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/dieverortung-von-pegida-edel-sei-der-volkswille-13381221.html (eingesehen am 16.01. 2018). 93 | Vgl. Werner J. Patzelt und Joachim Klose, Die Ursachen des P egida -Phänomens, in: wjpatzelt.de, 13.05.2015, online einsehbar unter http://wjpatzelt.de/?p=375 (eingesehen am 16.01.2018) sowie Werner J. Patzelt, Neun Thesen zum P egida /AfD-Komplex, in: wjpatzelt.de, 29.09.2015, online einsehbar unter http://wjpatzelt.de/?p=1007 (eingesehen am 16.01.2018). 94 | Werner J. Patzelt, Was und wie denken P egida -Demonstranten?, S. 32f. 95 | Vgl. Herbert Lappe, Dieser Professor macht P egida durch seine Aussagen salonfähig. Das ist gefährlich, in: Huffington Post, 11.02.2015, online einsehbar unter www. huf f ing tonpost.de/herber t-lappe/dieser-profes sor-macht-pegida-durch-seineaussagen-salonfaehig-das-ist-gefaehrlich_b_6662552.html (eingesehen am 16.01.2018). 96 |  Vgl. Alexandra Gerlach, Aufstand gegen Professor, in: Deutschlandfunk, 04.02.2015, online einsehbar unter www.deutschlandfunk.de/werner-j-patzelt-aufstand-gegenprofessor.680.de.html?dram,article_id=310707 (eingesehen am 16.01.2018).

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Potenzials der Demonstrant/-innen vor97 und kritisierten ihn dafür, die für Weltoffenheit eintretenden Gegendemonstrationen von NoPegida zu Unrecht als »hysterisch« zu denunzieren.98 Dem teils scharfen Ton begegnete er gereizt und teils ausfallend, stellte sich selbst als Nonkonformist gegenüber der »Akademiker-Einheitsfront« dar, rief aber dennoch alle Kritikerinnen und Kritiker zu einer offenen Diskussion auf.99 Wie sich hier zeigt, diente das Thema Pegida also auch als Plattform politischer Auseinandersetzungen unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern: Die Bewertung des Phänomens hing spürbar von ihrer jeweiligen politischen Einfärbung ab. Auch aufgrund der tagespolitischen Aktualität muss daher jeder Versuch, pure Neutralität zu reklamieren, Misstrauen wecken.100 Es fällt auf, dass sowohl Patzelt und seine Mitarbeiter/-innen als auch seine wissenschaftlichen, feuilletonistischen und politischen Kritiker/-innen sich schnell hinter verhärtete Fronten zurückzogen. Grob bilden sich hier mindestens zwei politische »Lager« ab, die jeweils mit dem Vorwurf der Abkanzelung beziehungsweise der Hofierung der Demonstrantinnen und Demonstranten hantieren. Sehr wahrscheinlich hat die Verschärfung dieser Auseinandersetzung die Diskussion um die Kontextualisierung des Pegida-Phänomens in einen übergeordneten Zusammenhang zunächst blockiert. Dabei haben die genannten Autor/-innen früh darauf hingewiesen, dass Pegida auf bundes- und sogar europaweite Verschiebungen hindeute, selbst eigentlich nur eine Manifestation tieferliegender Mentalitätsströme sei. Dass Hinweise dieser Art mehrere Monate hindurch randständig blieben, ist angesichts tagespolitischer Problemstellungen seit Herbst 2015 nachvollziehbar. Insbesondere nach dem elektoralen Siegeszug der AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Berlin 2016 und nicht zuletzt bei der Bundestagswahl 2017, aus der sie als drittstärkste Kraft hervorging, konnten diese Hinweise jedoch wieder mehr und mehr verfangen und ließen die Auseinandersetzung schließlich abklingen. Allmählich wurden größer angelegte Deutungshorizonte virulent, wie sie Geiges u.a. und, besonders meinungsstark, Patzelt be97 |  Vgl. Miro Jennerjahn, Systematische P egida -Verharmlosung – Die Methode Patzelt, in: publikative.org, 01.06.2015, online einsehbar unter http://publikative. org/2015/06/01/die-methode-pat zelt-anmerkungen-zu-pat zelts-auseinandersetzung-mit-pegida/(eingesehen am 16.01.2018). 98 | Vgl. Peter Nowak, Ist Patzelt P egida-Erklärer oder -versteher?, in: heise.de, 06.02.2015, online einsehbar unter www.heise.de/tp/news/Ist-Patzelt-Pegida-Erklaereroder-versteher-2542334.html (eingesehen am 16.01.2018). 99 | Vgl. ebd. 100 | Vgl. Heim 2017, S. 19 sowie Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 65.

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reits angeführt hatten. Kennzeichnend für den aktuellen Forschungsstand zu Pegida sind der Abschluss der Studien zum »Brandherd« in Dresden und das Bemühen, weitergehend nach dessen tieferliegenden Ursachen, das heißt, den sich andeutenden gesellschaftlichen Konfliktlinien und künftigen politischen Herausforderungen zu fragen. Allerdings ist die Beforschung des Themenfeldes im Verlauf des Jahres 2017 weitgehend zur Ruhe gekommen. Das lokalspezifische Phänomen Pegida bindet mittlerweile weitaus weniger Interesse, nur vereinzelt erscheinen noch resümierende lexikalische Einträge, Literaturberichte, Aufsätze und Sammelband-Kontributionen. Diese Beiträge reichen von einer empirischen Nachlese101 über enzyklopädische Zusammenfassungen102 und stärker soziologisch argumentierende Einordnungen in den Zusammenhang von Trump und Brexit103 bis hin zur rezensierenden Zusammenschau der einschlägigen Forschungsarbeiten.104 Das Thema Pegida ist zu großen Teilen in allgemeinere wissenschaftliche und feuilletonistische Diskussionen eingemündet, die sich mit dem Aufstieg (neu-)rechter, rechtspopulistischer beziehungsweise nationalkonservativer und rechtsextremistischer Organisationen und Parteien – in der Bundesrepublik etwa der »Identitären Bewegung« und der AfD – befassen. Pegida wird mithin in den Jahren 2017 und 2018, auch infolge der als Schulterschluss wahrgenommenen Annäherung an die AfD105, zunehmend auch als Fanal einer politisch-kulturellen Umwälzung, als Evolutionsschritt einer jüngst formierten Neuen Rechten aufgefasst, die, zuvor weitgehend in randständigen Strukturen und kleinen Zirkeln agierend, nun organisations- und artikulationsstark auftrete. Die Rolle, die dem Dresdner Protestbündnis in dieser Entwicklung durch verschiedene (populär-)wissenschaftliche und zumeist deskriptiv-dokumentarisch angelegte Monografien zugerechnet wird, variiert zwischen anfänglichem Zündungsfunken und kontinuierlich tätiger Vorfeldorganisation

101 | Vgl. Karl-Heinz Reuband, Die Dynamik des P egida Protests. 102 | Vgl. etwa Lars Geiges, P egida , in: Klaus Ahlheim und Christoph Kopke (Hg.), Handlexikon rechter Radikalismus, Ulm 2017, S. 109-110. 103 |  Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Ressentiment-»Politik«. P egida zwischen Provinzaufstand und Krisenwelten, in: Zeitschrift für Politik 1/2017, Baden-Baden 2017, S. 39-58. 104 | Vgl. Eckhard Jesse, Phänomen P egida . Literaturbericht, in: Zeitschrift für Politik 1/2017, Baden-Baden 2017, S. 77-88. 105 |  Vgl. zur schrittweise vertieften Zusammenarbeit zwischen P egida und AfD Mounia Meiborg, AfD beschließt offenbar Zusammenarbeit mit P egida , in: Zeit Online, 17.02.2018, online einsehbar unter www.zeit.de/politik/deutschland/2018-02/ mecklenburg-vorpommern-afd-pedida-zusammenarbeit (eingesehen am 22.02.2018).

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für die »Neue Rechte«106 beziehungsweise »neue rechte Mitte«107 – wenngleich eine explizite Zuordnung, wie sie etwa Häusler und Roeser vornehmen, wenn sie schon 2015 von der AfD als »Pegida-Partei« sprechen,108 häufig umgangen wird.

2.1.3  P  egida als Symptom eines tiefgreifenden Wandels: Wohin steuert das veränderte politische Klima? Nach den zahlreichen Versuchen, das Bedingungsgefüge von Pegida zu explizieren und das Gefährdungspotenzial der Demonstrationen für das demokratische Gemeinwesen zu eruieren, kurz: den Schock zu überwinden, bemühen sich die wissenschaftlichen Stimmen nunmehr zunehmend darum, die Ereignisse zu kontextualisieren und in ein Panorama größerer gesellschaftspolitischer Zusammenhänge einzuordnen. Als gegenwärtiger Konsens der wissenschaftlichen Beurteilung ist festzuhalten: Das Protestphänomen Pegida gilt als normalisiert und, je nach Interpretation, als stagniert und ausgebrannt109 beziehungsweise als aufgrund seiner unerwarteten Persistenz als institutionalisiert und professionalisiert.110 Nüchtern wird festgehalten, was auch bei Beobachtungen der Montagsdemonstrationen im Jahr 2018 noch spürbar ist: »Die Proteste von Pegida sind Bestandteil des Lebens in Dresden geworden.«111 Die Zahl der Demonstrierenden pendle sich demnach auf knapp unter 2.000 ein.112 Gleichwohl: Der tiefer reichende und keineswegs auf sächsische Lokalspezifika zu reduzierende gesellschaftliche Gärungsprozess, den Geiges u.a. schon zu Anfang der Proteste als Folge von »Zeiten kultureller Entfremdung

106 |  Vgl. Thomas Wagner, Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten, Berlin 2017, insbesondere S. 177-196; Volker Weiß, Die autoritäre Revolte; Samuel Salzborn, Angriff der Antidemokraten; Alexander Häusler und Rainer Roeser, Zwischen Euro-Kritik und rechtem Populismus. Alexander Häusler und Rainer Roeser, Die rechten ›Mut‹-Bürger, S. 147f. 107 | Vgl. Andreas Speit, Bürgerliche Scharfmacher, S. 183-288. 108 |  Vgl. Alexander Häusler und Rainer Roeser, Zwischen Euro-Kritik und rechtem Populismuslexander Häusler und Rainer Roeser, Die rechten ›Mut‹-Bürger, S. 124-145, hier S. 124 und S. 126. 109 |  Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Dresden-Szenen, S. 17-50. Vgl. außerdem Hans Vorländer u.a., P egida , S. 145. 110 | Vgl. Stine Marg und Katharina Trittel, Vom ›Schmuddelkind‹ zum professionalisierten Protestformat. 111 |  Vgl. Karl-Heinz Reuband, P egida im Wandel?, S. 65. 112 | Vgl. Karl-Heinz Reuband, Die Dynamik des P egida Protests, S. 127.

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und politischer Heimatlosigkeit« beschrieben haben113, beziehungsweise den Patzelt das »Magma, das überall unter Deutschland, ja weithin unter der Oberfläche vieler europäischer Staaten brodelt«114 nannte, dem die Pegida-Demonstrant/-innen ein Sprachrohr verschafft hätten115, zieht – auch infolge der beträchtlichen Erfolge der AfD und der anhaltenden Diskussion um einen erstarkenden Rechtspopulismus in Deutschland  – aus Sicht nunmehr sämtlicher wissenschaftlicher Stimmen weiterhin tiefe Furchen durch die bundesrepublikanische Gesellschaft. Nahezu alle mit dem Themenfeld befassten Autorinnen und Autoren kommen nun darin überein, dass Pegida als Symptom eines Gezeitenwechsels des politischen Klimas zu interpretieren sei, als Ausdruck tiefempfundener Unsicherheiten und Frustrationen, einem generellen Misstrauen gegenüber der Politik. Tiefster Antrieb sei ein Set von Ängsten, unter dem sozialen Druck der Globalisierungs-, Flexibilisierungs- und Digitalisierungsfolgen und den tiefgreifend veränderten Lebenswelten zu ersticken, den durch persönliche Privilegien (noch) geschützten gesellschaftlichen Zusammenhalt angesichts einer multiethnischen und multikulturellen Zukunft Deutschlands zu verlieren.116 Tagesaktuelle politische Konflikte überlagern dabei seit Jahren sich vollziehende gesellschaftliche Wandlungsprozesse, die sich in folgenden Entwicklungen zeigten und zeigen: Die gesellschaftliche Transformation der postsowjetischen Staaten nach 1989, die demografische Überalterung, ein in Ostdeutschland besonders stark empfundener Veränderungs- und Anpassungsdruck, die damit zusammenhängende Entfremdung vom gesellschaftlichen Prozess und insbesondere der Politik; die Projektion von Rationalitäts- und Effizienzerwartungen auf das politische Geschäft – in einer »Postdemokratie«, wie von Colin Crouch beschrieben – und eine daraus folgende grundlegende Krise der politischen Repräsentation.117

| Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgeselschaft?, S. 179113  207. 114 |  Vgl. Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 16. 115 | Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 63. 116 | »Gerade die aktuellen Folgen von Globalisierung, islamistischem Terror und großen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen werden hier als unmittelbare Bedrohungsszenarien interpretiert – als Bedrohungen eines nach den tiefgreifenden erwerbsbiographischen, sozioökonomischen und demographischen Umbrüchen der vergangenen Jahrzehnte gerade erst wieder erreichten Zustandes von Normalität, Stabilität und Sekurität«, vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 145. Vgl. auch Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 16. 117 |  Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 129-135.

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Für die Einordnung und Deutung dieser aktuellen Prozesse, für die das »Symptom Pegida« steht, wurden und werden wiederum verschiedene Vorschläge gemacht.

Aktivierung der »schmutzigen Seite der Zivilgesellschaft«? Unter anderem auch Geiges u.a. wiesen im Rahmen ihrer ersten umfassenden Studie darauf hin, dass vormals links besetzte Protestformen infolge der Vernachlässigung der sozialen Frage durch die sozialdemokratische Parteienfamilie und überhaupt die politische Linke Europas zunehmend auch von der politischen Rechten besetzt werden.118 Es sei stets ein Spezifikum der bundesrepublikanischen Politik gewesen, dass die resignierten Arbeiterinnen und Arbeiter bisher nicht mit Konversion hin zu rechtspopulistischen Parteien, sondern vor allem mit Wahlenthaltung reagierten. Pegida könne als Teil einer – bis dato positiv konnotierten – Zivilgesellschaft, also der freiwilligen Assoziation der Bürgerinnen und Bürger, geradezu als Ausbruch aus der Apathie verstanden werden – nur eben nicht in der demokratisch gewünschten, sondern einer misstrauischen, ganz und gar nicht pluralistischen, »schmutzigen« Form. Die Dresdner Demonstrationen aktivierten demnach die zuvor schweigenden, eher konservativ gesinnten, politisch Enttäuschten, die ihre Anliegen nicht parlamentarisch vertreten sahen: »Bleibt die Debatte […] im parlamentarischen Raum aus, dann transferieren sich die kontroversen Positionen eben in Bewegungen, Demonstrationen, Protesten  – organisiert auch von Milieus (weit) rechts der Mitte.«119 Mehr noch: Gerade mit Blick auf den Umschwung der Pegida-Aktivist/-innen von genereller parteipolitischer Distanz hin zur offenen Unterstützung der AfD im Laufe des Jahres 2015 liegt die Vermutung nahe, dass der deutsche Sonderstatus zu erodieren beginnt: Nicht nur – aber auch – das sozialdemokratische Elektorat wendet sich nun auch hierzulande zunehmend der AfD zu. Pegida erscheint in diesem Zusammenhang als Symptom grundlegender Verschiebungen in den europäischen Demokratien und Parteiensystemen. Daher wird mittlerweile, zumindest sinngemäß, konsensual von einem »Pegida-AfD-Komplex«, oder, im Sinne eines Sammelbegriffs, vom sichtbaren Zusammenwachsen einer »Neuen Rechten« gesprochen120  – auch aufgrund der Kooperationen zwischen den Organisatoren von Pegida, Politiker/-innen der AfD und anderen einschlägigen Personennetzwerken und Publikationsmedien, deren Vertreter/-innen nicht selten bei Pegida-Veranstal118 | Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 201-202. 119 | Vgl. ebd., S. 202. 120 | Vgl. Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida , S. 16 und 23 sowie verschiedene Beiträge in: Karl-Siegbert Rehberg u.a. (Hg.), P egida  – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und ›Wende‹-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld 2016.

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tungen (und vice versa) aufgetreten sind. Häusler betrachtet Pegida und die AfD als »Knotenpunkte für eine rechte Neuformierung im Kontext der Flüchtlingsdebatte«: Insbesondere Pegida habe einen wichtigen Resonanzrahmen geschaffen, vor dessen Hintergrund die sich zuspitzende »rassistische Eskalationsspirale«, also die zeitgleich anwachsenden gewalttätigen Angriffe auf Asylbewerberheime 2015 und 2016, zu betrachten sei.121

Ausbreitung des europäischen Rechtspopulismus auf Deutschland: Ausdruck eines »Neuen Cleavage«? Die Attraktivität rechtspopulistischer Agitation wird auch auf die Genese eines »neuen Cleavage«, das heißt einer in jüngerer Zeit entstandenen gesellschaftlichen Konfliktlinie zwischen Universalist/-innen beziehungsweise Kosmopolit/-innen und Anti-Universalist/-innen beziehungsweise Ethnozentrist/-innen, zurückgeführt, die quer zur bisherigen Bipolarität von »links« und »rechts« verlaufe122 und eine soziokulturelle wie psychologische Kluft mitten durch die Wählerschaften der alten Volksparteien getrieben habe.123 Auf der einen Seite stünden demnach die »neuen Kosmopoliten«, die der Zukunft optimistisch entgegenblickten  – sowohl in Bezug auf ihre eigene Zukunft als auch auf die Entwicklung der Gesellschaft insgesamt. Auf der anderen Seite befänden sich diejenigen, »die ihre eigenen Lebenschancen und Aufstiegsmöglichkeiten  – und die ihrer Kinder  – weit weniger optimistisch beurteilen«.124 Auch die Veränderungen der politischen Landschaft rechts der Mitte habe sich demnach in den letzten Jahren nahezu unbemerkt vollzogen; es sei zu einer »stillen Gegen-Revolution« gekommen, die sich durch »neue neokonservative kulturelle Stimmungen und Polarisierungstendenzen gerade in Fragen von Sicherheit und Migration« auszeichne.125 121 | Vgl. Alexander Häusler, AfD und P egida , Knotenpunkte für eine rechte Neuformierung im Kontext der Flüchtlingsdebatte, in: vielfalt-mediathek.de, 2016, insbesondere S. 1, online einsehbar unter www.vielfalt-mediathek.de/data/afd_und_pegida.pdf (eingesehen am 12.10.16). 122 | Vgl. ebd., S. 198-200 sowie René Cuperus, Wie die Volksparteien (fast) das Volk einbüßten. 123 | René Cuperus, Wie die Volksparteien (fast) das Volk einbüßten. 124 | Vgl. Lars Geiges, Nach dem Hype. Drei Entwicklungen von P egida seit dem Winter 2014/2015, in: Karl-Siegbert Rehberg u.a. (Hg.), P egida  – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und ›Wende‹-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld 2016, S. 133-146, hier S. 141. 125 | Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 200. Vgl. außerdem Piero Ignazi, The silent counter-revolution. Hypotheses on the emergence of extreme right-wing parties in Europe, in: European Journal of Political Research 22/1994, S. 3-34.

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Insbesondere die Aushandlung gesellschaftlicher Verteilungskonflikte könnte sich auf diese Weise künftig neue Arenen und »Frames« suchen, nämlich in wachsende Sympathien für rechtspopulistische, nationalkonservative und rechtsextremistische politisch-kulturelle Deutungsangebote münden. Linke Parteien scheinen kein probater Adressat für soziale Belange mehr zu sein. Die mögliche Formierung einer »Neuen Rechten«, inklusive Pegida und AfD, könnte das brachliegende Themenfeld der Verteilungsgerechtigkeit okkupieren  – die aber eben nicht eine politische Kraft der »besseren Linken«, sondern eine antidemokratische »national-soziale Gefahr« darstelle.126 Pegida und die öffentlichen Reaktionen werden daher von Tino Heim als »Symptome multipler Krisen« gewertet, deren Ursachen politisch anzugehen seien. Angeführt werden insbesondere die ökologischen und sozialen Folgekosten der Globalisierung, die damit zusammenhängenden realen wie befürchteten Veränderungen in der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, und »postdemokratische« Politikreaktionen des »Aussitzens« und der kleinteiligen, große Fragen meidenden Verwaltung bei geringen Möglichkeiten der politischen Teilhabe durch die Bürgerinnen und Bürger. Der Autor empfiehlt, Pegida nicht »durch Abgrenzung zu bekämpfen«, sondern den grundlegenden politischen Diskurs für die »konfliktive Aushandlung globaler Alternativen zu den bestehenden Modi der Vergesellschaftung« zu öffnen.127 Einen Schritt zurück: Das elementare Misstrauen zahlreicher Bürgerinnen und Bürger, das sich (nicht nur) an den Pegida-Demonstrationen veranschaulichen lässt, könnte demnach Ausdruck einer Suchbewegung der Veränderungsunwilligen und »traditionalistisch« Orientierten sein, die zunehmend ihr Austragungsfeld im Konflikt zwischen Globalisierungsbegeisterten und Globalisierungsskeptiker/-innen findet  – und somit auch Vorbote einer anwachsenden gesellschaftlichen Polarisierung seien: »Die Einheitsfront im schwarz-rot-grünen Parteienestablishment, die sich in vielen politischen Fragen nicht weiter erklärt und grundsätzliche Opposition gerne delegitimiert, dürfte den Stoff für die Proteste der Misstrauischen liefern. Denn Probleme, über die mit guten Gründen auch leidenschaftlich zu streiten wäre, sind reich-

126 | Vgl. Klaus Dörre, Die national-soziale Gefahr P egida , Neue Rechte und der Verteilungskonflikt – sechs Thesen, in: Karl-Siegbert Rehberg u.a. (Hg.), P egida  – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und ›Wende‹-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld 2016, S. 261-276. 127 | Vgl. Tino Heim, Politischer Fetischismus und die Dynamik wechselseitiger Projektionen. Das Verhältnis von P egida , Politik und Massenmedien als Symptom multipler Krisen, in: Tino Heim (Hg.), P egida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen P egida , Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2017, S. 341-444.

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lich vorhanden.«128 Daran anschließend wird auch die vorliegende Studie danach fragen, ob sich ein solches Misstrauen möglicherweise auch bei den jungen Menschen in Dresden, Leipzig, Duisburg und Nürnberg findet.

Ausblick: Was folgt aus P egida? Die Einschätzungen zur unmittelbaren Zukunft und den Folgen von Pegida variieren je nach Interpretationslinie. Die konfligierenden Sichtweisen bis zum Anfang des Jahres 2017 lassen sich grob zu zwei Erklärungsmustern zuspitzen:129 Ein Deutungsstrang betont vor allem die Bedingtheit von Pegida durch Regionalspezifika, etwa die postsozialistischen Transformationsprozesse der früheren DDR, und sieht dies als Ausweis einer politkulturellen Rückständigkeit der Demonstrant/-innn an.130 Er verweist auf den gesellschaftlichen Nährboden insbesondere Sachsens für fremdenfeindliche Einstellungsmuster, und äußert sich zumeist pessimistisch. Gleichwohl: Einige Autoren lassen auch einen optimistischen Blick in die Zukunft zu, urteilen gar in paternalistischer Manier, dass die renitenten Feinde eines künftigen weltoffenen und pluralistischen Deutschlands angesichts der Übermacht von Großentwicklungen schließlich verstummen würden.131 Der andere Deutungsstrang zeigt sich deutlich empathischer, verweist auf generelle Problemlagen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik und hält den Protest trotz seiner teils beleidigenden und aggressiven, gar den sozialen Frieden störenden Ausdrucksformen im Kern, also als generelle Unmutsbekundung, für berechtigt.132 In diesem Sinne könnte Pegida zur Schließung einer – wie oben skizzierten – politischen Repräsentationslücke beitragen. Die rechtspopulistische Offensive, die immer auch zur »diskursiven und politischen Enthemmung« beitrage, erscheine vor diesem Hintergrund nicht nur als ungewisse und teils beängstigende 128 |  Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 202. 129 |  Freilich bemühen sich fast alle Autoren um Zwischenpositionen und Abwägungen; die Gegenüberstellung dient der Orientierung über die verschiedenen Interpretationsversuche. 130 | Vgl. stellvertretend den Sammelband Heim 2017 sowie Michael Lühmann, P egida passt nach Dresden. 131 | »Paradigmenwechsel vollziehen sich immer gegen Widerstände und es wird noch eine Weile dauern, bis der Umbruch in der Frage nach Teilhabe und Zugehörigkeit in den Köpfen der Menschen zur Selbstverständlichkeit wird. Aber wir sind auf dem Weg in eine solche Gesellschaft«, vgl. Stefan Fehser, Demaskierung und Kontinuitäten, S. 73. 132 | Vgl. Werner J. Patzelt 2015, Was und wie denken P egida -Demonstranten?; Patzelt und Eichhardt 2015, Drei Monate nach dem Knall; und Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida ; aber auch Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? und Hans Vorländer u.a., P egida , S. 135 und 145f.

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Herausforderung, sondern auch als mögliche »Frischzellenkur« für die Demokratie, als ein Wiedereinfordern des durch »postdemokratische« Zustände beeinträchtigten demokratischen Pluralismus und als Versuch, sich das Grundgesetz im Rahmen einer »spezifisch ostdeutschen« Interpretation anzueignen.133 In letzter Zeit dominiert jedoch ein dritter Deutungsstrang, der die vormaligen Erklärungsversuche zwar nicht obsolet macht, aber doch überlagert. Er wertet Pegida als konstitutiven Bestandteil erstarkender neurechter Milieus, auch infolge organisatorischer Veränderungen und intensivierter Kooperation mit der AfD, welche auf einen elektoralen Siegeszug zurückblicken kann. Unklarheiten bestehen zwar hinsichtlich der Frage, ob Pegida nur eine Initialzündung der »Neuen Rechten« gewesen sei, oder als wesentlicher Brückenkopf beziehungsweise Vorfeldorganisation neurechter Netzwerke fungiere. Einige seit Ende 2016 erscheinenden (populär-)wissenschaftlichen Monografien stellen Pegida zumeist als kausale Evolutionsstufe beziehungsweise Ausprägungsform einer aufsteigenden »Neuen Rechten« oder »neuen rechten Mitte« vor.134 Gerade als Bestandteil neuer rechter Milieus wird Pegida in Zusammenhang mit den Veränderungen öffentlicher rhetorischer Gewohnheiten und Diskursregeln gebracht: Rechtspopulistische, nationalkonservative und rechtsextremistische Topoi, die von einschlägigen Gruppierungen, Politiker/-innen und Aktivist/-innen seit Jahren gegen die vermeintliche Vorherrschaft der »Political Correctness« eingesetzt würden, um eine »kulturelle Gegenhegemonie« von rechts zu schaffen  – wie beispielsweise der positive Bezug auf die Kategorien »Volk« und »nationale Identität«, das Anprangern von »Islamisierung«, vermeintlich bevormundenden »68er«-Eliten und einem deutschen »Schuldkult«, aber auch despektierliche Äußerungen über Mentalität und Verhalten von in Deutschland wohnenden Flüchtlingen –,135 fänden demnach seit 2015 spürbar Verbreitung in der gesellschaftlichen »Mitte«, das heißt in Tages- und 133 | Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida , S. 135 und 145f. 134 | Vgl. Alexander Häusler und Rainer Roeser, Zwischen Euro-Kritik und rechtem Populismus, Merkmale und Dynamik des Rechtsrucks in der AfD, in: Ralf Melzer u.a. (Hg.), Wut, Verachtung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland, Berlin 2015, S. 124-145, hier S. 124 und S. 126; Alexander Häusler und Rainer Roeser, Die rechten ›Mut‹-Bürger. Entstehung, Entwicklung, Personal & Positionen der »Alternative für Deutschland«, Hamburg 2015, S. 147f; Thomas Wagner, Die Angstmacher, insbesondere S. 177-196; Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Bonn 2017; Samuel Salzborn, Angriff der Antidemokraten; Andreas Speit, Bürgerliche Scharfmacher. Deutschlands neue rechte Mitte – von AfD bis P egida , Zürich 2016, S. 183-288. 135 | Vgl. materialreich Bente Gießelmann u.a. (Hg.), Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe, Schwalbach am Taunus 2015.

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Wochenzeitungen, Rundfunk und Fernsehen, ja künftig auch im deutschen Bundestag; dies wird häufig als tendenziell demokratiegefährdende »Verrohung« des politischen Diskurses eingeschätzt.136 Indes: Umfassend empirisch untersucht werden die weiterhin kontinuierlich stattfindenden Demonstrationen schon seit Mitte 2016 nicht mehr. Doch gerade der dritte Geburtstag, den die Bewegung im Herbst 2017 feierte, zeigte einmal mehr, dass die Abgesänge auf Pegida zu früh angestimmt wurden und weiterhin genau hingeschaut werden muss, was sich in Dresden tut. Schließlich wurde vor der Semperoper einmal mehr deutlich, dass die Patriotischen Europäer weiterhin mehrere tausend Dresdner, Sachsen und Bundesbürger mobilisieren konnten, und gleichzeitig, dies bewies die überdeutliche Präsenz der Identitären Bewegung, weit über die AfD hinaus im Umfeld der »Neuen Rechten« vernetzt sind.

2.2 D as R eden von P egida . N arr ative , Topoi und  D eutungsmuster Der präsentierte Forschungsstand zu Pegida legt nahe, die Bewegung selbst vor allem seit 2016 zu betrachten. Welche Themen, Topoi und Muster prägen die Rhetorik der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« insbesondere in den letzten Monaten? Inwiefern  – und inwieweit  – lassen sich diese Themen, Topoi und Deutungsmuster bei den von uns befragten jungen Menschen wieder (auf-)finden? Der relativ eindeutige Tenor des skizzierten Forschungsstandes hat gezeigt: Die Debatte um Pegida verlagert sich weg vom konkreten Phänomen und stellt die Frage nach veränderten Rahmenbedingungen der politischen Mentalitäten in der Bundesrepublik: Pegida wirkt als eine Art Chiffre, aber auch als Spiegel und Brennglas137 – die Gesellschaft durchlebt eine »Profanisierung rechtspopulistischer Positionen«.138 Aus dieser Perspektive ist es zulässig, Pegida in dem Spannungsfeld zwischen Repräsentation, Katalyse und Prägung des rechtspopulistischen Diskurses in der Bundesrepublik zu begreifen und, wenn sich die Frage nach Diffusionsprozessen stellt, Pegida demzufolge beim Wort zu nehmen: Wenn feststehende Begriffe und Redewendungen, die vor allem aus dem Pegida-Kontext stammen, in die Breite der Gesellschaft sickern, sie den »Mainstream

136 | Vgl. Samuel Salzborn, Angriff der Antidemokraten S. 9-19 sowie Andreas Speit, Bürgerliche Scharfmacher, S. 9-22 und S. 287-288. 137 | Tino Heim (Hg.), P egida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen P egida , Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2016. 138 | Göttinger Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora?

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bewegen«139, ist dies ein Anzeichen dafür, dass sich die Grenzen des Sagbaren verschoben haben.

2.2.1  Zwischen Facebook und Face-to-Face Es gilt also, die von Pegida geprägten Redewendungen zu identifizieren, ihren Bedeutungen nachzuspüren, bevor sie auf ihre Projektionsfähigkeit hin überprüft werden können. Doch wie nähert man sich Pegida, wenn man ihre Begriffe und Sprachmuster greifen will? Schließlich ist Pegida ein Protestphänomen, das es ohne die Vermittlung und Unterstützung durch sowie die Interdependenz mit sozialen Netzwerken – und hierbei vor allem Facebook – womöglich nicht gegeben hätte. In dem Maße, in dem sich die wissenschaftliche und mediale Auseinandersetzung auf die Demonstrationen in Dresden gestürzt hat, wurde auch die Bedeutung des sozialen Netzwerkes für die Genese der Bewegung zunächst eher en passant behandelt. Der Anstoß zur Gründung von Pegida geschah zunächst online. Zumindest sammelte sich eine Gruppe von Menschen, die später das ursprüngliche Organisationsteam von Pegida bilden sollten, in einer Facebook-Gruppe, um das soziale Netzwerk zum Austausch zu nutzen. Schließlich avancierte die Facebook-Präsenz sogar zum Sprachrohr und zum Kalender der Bewegung.140 Von Beginn an war das soziale Netzwerk somit eine »zentrale Interaktions- und Organisationsplattform« die dabei geholfen hat, »eine dynamische Verbindung zur Anhängerschaft herzustellen«.141 Dies ist in einer Situation, in der die Organisator/-innen faktisch auf keinerlei gewachsene und etablierte Strukturen zurückgreifen konnten, wenig überraschend. Facebook und andere social network sites werden oft gerade dann zum bevorzugten Mittel der Wahl, Protest jenseits formaler Strukturen zu initiieren und zu organisieren, wenn andere Institutionen und Ressourcen nicht zur Verfügung stehen.142 So 139 | Andreas Önnerfors, Moving the Mainstream: Radicalization of Political Language in the German P egida Movement, in: Kristian Steiner, Andreas Önnerfors (Hg.), Expressions of radicalization: Global politics, processes and practices, Cham 2018, S. 87-119. 140 | Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 11 ff; Hans Vorländer u.a., P egida . Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden 2016, S. 49. 141 |  Stefan Scharf und Clemens Pleul, Im Netz ist jeden Tag Montag, in: Karl-Siegbert Rehberg u.a. (Hg.), P egida  – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung?: Analysen im Überblick, Bielefeld 2016, S. 81-96, hier S. 82. 142 | Vgl. Rodrigo Sandoval-Almazan und J. Ramon Gil-Garcia, Towards cyberactivism 2.0? Understanding the use of social media and other information technologies for political activism and social movements, in: Government Information Quarterly Jg. 31 (2014) H. 3, S. 365-378; Laura Stein, Social movement web use in theory and practice.

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gesehen war Facebook neben den klassischen Kundgebungen in Dresden das zweite – und über lange Zeit vielleicht auch das stärkere und stabilere – Standbein der Bewegung, während die Straßenproteste sichtbarer waren und mehr mediale Aufmerksamkeit erfuhren. Und die Protestformation verlagerte ihr Gewicht immer wieder von dem einen auf das andere Standbein: Mal war die Facebook-Gruppe die wesentliche Stütze des Phänomens, mal der Protest auf der Straße. Diese fortlaufende Wechselhaftigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil der Erfolgsgeschichte von Pegida und der lange währenden Persistenz der Bewegung. Analysen, die die Binnenstruktur von Pegida anhand der Interaktion zwischen Facebook und Face-to-Face tiefgreifend und systematisch erhellen, gibt es auch drei Jahre nach der Gründung der Bewegung nicht, wohl aber diverse Versuche, dies schlaglichtartig zu tun.143 Gerade weil die Netzauftritte der Bewegung Bilder, Frames und Metaphern prägen, sind diese für die vorliegende Untersuchung nicht außer Acht zu lassen. Eine umfassende Bearbeitung der Problematik wird allerdings durch diverse Faktoren, die vor allem die Sammlung und Auswertung der benötigten Daten betreffen, zum Teil erschwert. Weiterhin hat die zwischenzeitliche Sperrung und schließlich unwiderrufliche Löschung der ersten Facebook-Präsenz Pegidas inklusive Einrichtung einer neuen Facebook-Seite zu einem massiven Verlust an Daten geführt, welche, wenn sie nicht bereits gesichert wurden, nicht wiederhergestellt werden können.144 Von den zwischenzeitlich über 200.000 Likes  – laut Scharf und Pleul übermäßig häufig aus Ostdeutschland – 145 unter der alten Präsenz facebook.com/pegidaevdresden sind der neu im Juni 2016 eingerichteten Seite A content analysis of US movement websites, in: New Media & Society Jg. 11 (2009) H. 5, S. 749-771, hier S. 752ff. 143 | Vgl. Werner J. Patzelt, Was und wie denken P egida -Demonstranten?, S. 10f.; Werner J. Patzelt, Drei Monate nach dem Knall, S. 28ff; Vorländer u.a., P egida ; Institut für Demokratieforschung. Büchse der Pandora?; Anatol Stefanowitsch, Susanne Flach, Auswertung von Userkommentaren auf der offiziellen Facebook-Seite von P egida , Januar bis Dezember 2015 im Auftrag der Süddeutschen Zeitung, in: Freie Universität Berlin, Süddeutsche.de online einsehbar unter drive.google.com/file/d/0B9mLol0BxIQ_Z053SXZ6S2NVR3M/view?pref=2&pli=1(eingesehen am 05.02.2015). 144 | Bezüglich der Gründe für die Schwierigkeiten bei diesen systematischen Erhebungen vgl. bspw. Nico Dietrich u.a., Analysemöglichkeiten der Online-Kommunikation auf Social Network Sites am Beispiel P egida und Facebook, in: Wolfgang Frindte, Nico Dietrich (Hg.), Muslime, Flüchtlinge und P egida : Sozialpsychologische und kommunikationswissenschaftliche Studien in Zeiten globaler Bedrohungen, Wiesbaden 2017, S. 235-266, hier S. 248ff. 145 | Vgl. Stefan Scharf und Clemens Pleul, P egida  – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung?, S. 84.

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facebook.com/pegidaevofficial lediglich knapp 50.000 geblieben – respektive im Laufe der Zeit wieder sukzessive hinzugekommen.146 Wo eine systematische Analyse von Interdependenzen und Abhängigkeiten zwischen beiden Pegida-Teilphänomenen nicht möglich ist, muss auf das ausgewichen werden, was technisch möglich und methodologisch machbar und im Hinblick auf das primäre Erkenntnisinteresse angemessen ist. Für den Zweck dieser Untersuchung erschienen Herausarbeitung und Vergleich der homologen und analogen thematischen Entwicklungen aus beiden Teilphänomenen als gewinnbringendes Vorgehen. Ähnlich geht auch die Untersuchung von Stier u.a. vor, die mittels einer großflächigen computergestützten Datenauswertung der Frage nachgegangen ist, inwieweit Parteien den rechtspopulistischen Diskursschwenk durch Pegida und die AfD über einen Zeitraum von fast zwei Jahren (Dezember 2014 bis August 2016) nachvollzogen haben.147 Diese Auswertung umfasst nicht nur die Facebook-Präsenzen der Parteien mit einer Chance auf Einzug in den Bundestag, sondern darüber hinaus auch 25 Accounts im Kontext der Pegida-Bewegung. Auch wenn sich bereits im Jahr 2016 eine gewisse Ablösung von der Pegida-Facebook-Gruppe und den Pegida-Demonstrationen in Dresden in demografischer Hinsicht andeutete, ermöglichen Stiers Daten dennoch eine gute Vergleichsfolie zwischen den beiden Demonstrationsphänomenen. Dies gilt umso mehr, weil es gerade die Narrative, Topoi und Themen sind, die bei Pegida beide Flügel des Phänomens miteinander verbinden.148 Deshalb ist eine kursorische Beleuchtung der Redebeiträge, die auf den Pegida-Demonstrationen gehalten werden, vielversprechend. Diese Herangehensweise eröffnet die Möglichkeit, zentrale Topoi und Narrative zunächst herauszuarbeiten und im weiteren Verlauf schrittweise mit Deutungen und Sinngehalten unserer Befragten zu vergleichen. So kann geprüft werden, inwieweit es hier zu Schnittmengen in den Bewusstseinshaushalten der jungen Menschen mit Pegida gekommen ist. Durch den Fokus auf die Redebeiträge bei Pegida als Schablone ist es möglich, eine Ebene in den Blick zu bekommen, die quantitative Meta-Analysen nur schwerlich fassen können: Die Interpretation von (verdeckten) Sinngehalten, also eine inhaltsanalytische Perspektive, die Themenkonvergenzen differenzieren kann. So stellen Stier u.a. beispielsweise fest, dass die Themen Privatsphäre und Überwachung auf den Facebook-Seiten der Grünen, der Linken, der SPD und Pegida mit nahezu gleicher Häufigkeit vorkommen. Dies lässt jedoch noch keine Rückschlüsse 146 | pegidaevofficial=ca. 49.500 Likes, Stand: 04.12.2017. 147 | Vgl. Sebastian Stier u.a., When populists become popular. Comparing Facebook use by the right-wing movement P egida and German political parties, in: Information, Communication & Society Jg. 20 (2017) H. 9, S. 1365-1388. 148 | Vgl. Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora?, S. 79-84.

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auf die inhaltliche Thematisierung zu149 und ist daher immer noch interpretationsbedürftig. Weiterhin ist davon auszugehen, dass die Einträge auf der Facebookseite pegidaevofficial (mutmaßlich noch immer die größte Pegida-Facebook-Seite) und die Äußerungen auf angemeldeten Kundgebungen von Pegida e. V. von einander nahestehenden Personenkreisen lanciert, platziert oder getätigt werden, ja hier womöglich von personellen Übereinstimmungen ausgegangen werden kann. Gleichzeitig können auf der Grundlage der Möglichkeit, dass Pegida Redebeiträge von Gästen zulässt, und unter Berücksichtigung der einschlägigen Sinnbezüge die Reichweite und der Umfang der vermuteten katalytischen Wirkung der Protestformation abgeschätzt werden. Zu diesem Zweck erfolgte eine Auswertung von Pegida-Veranstaltungen zu zwei Zeitpunkten: Sommer 2016 und Sommer 2017. Diese Zeitpunkte markieren im Wesentlichen den Beginn und das Ende des Untersuchungs- und Erhebungszeitraumes unserer Fokusgruppenbefragungen und bieten sich somit als Vergleichsfolien zu Beginn und zum Ende der Feldphase an. Der Materialzugang zu den Reden ist dank der Verfügbarkeit via Live-Stream niedrigschwellig möglich. Der Fokus der Auswertung liegt auf den Redebeiträgen, wirft zugleich aber auch einen Blick auf die Perspektive des Publikums. Und eine solche hat die Forschung zu Pegida, wie eingangs erwähnt, größtenteils zugunsten politikwissenschaftlicher Großthemen aufgegeben. Damit findet aber die Tatsache, dass sich immer noch regelmäßig mehrere tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu den Pegida-Kundgebungen einfinden und Pegida als Phänomen dadurch eine erstaunliche Persistenz zeigt, keine wissenschaftliche Würdigung. Darüber hinaus muss auch schlichtweg festgehalten werden, dass Pegida nicht bloß Narrationsmuster, Erzählungen und Deutungsschemata etabliert hat, sondern auch, wie die Demonstrationen der AfD-Herbstoffensive 2015 gezeigt haben, manifeste Demonstrationsrituale geschaffen hat. So ist es in diesem Zusammenhang zu einer Etablierung von Protestritualen gekommen, die zunächst auf Pegida-Kundgebungen entwickelt wurden. Hierzu gehören Rufe wie »Lügenpresse«, »Abschieben!«, »Volksverräter«, »Merkel muss weg«, und – in einem neu aufgeladenen Kontext – »Wir sind das Volk«.150 Diese Interaktionsmuster und Rituale lassen sich nur schwierig über einen Livestream einfangen, da sie zum Teil während des nicht aufgezeichneten »Spaziergangs« stattfinden. Deswegen erfolgt zur Beschreibung dieser Rituale ein Rückgriff auf eigene Vor-Ort-Beobachtungen. 149 | Vgl. Sebastian Stier u.a., When populists become popular, S. 1375. 150 | Vgl. Alexander Sarovic, 8000 Menschen protestieren gegen Flüchtlingspolitik, in: Spiegel Online 08.10.2015 online einsehbar unter www.spiegel.de/politik/deutschland/ afd-demo-in-erfurt-tausende-protestieren-gegen-fluechtlingspolitik-a-1056729.html (eingesehen am 08.01.2018).

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2.2.2  P egida : Eine Bewegung in drei Jahren und vier Phasen Die Reden und Wortbeiträge auf den verschiedenen Pegida-Demonstrationen sind von der Forschung längere Zeit eher stiefmütterlich behandelt worden, da der Fokus zunächst auf der unmittelbaren Demonstrationsklientel lag. Vereinzelt gab es zwar Versuche und Ansätze, die Reden, die auf den »Abendspaziergängen« gehalten wurden, zu analysieren151, so wie auch die Kommentare unter den Pegida-Livestreams auf YouTube gesprächsanalytisch ausgewertet wurden.152 Eine umfassende Analyse der gehaltenen Reden und Redebeiträge lieferten jüngst Lukas Del Guidice, Nick Ebner, Lea Knopf und Max Weber auf der Tagung des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung.153 Für sie stand die Frage im Vordergrund, ob sich »bei den bei Pegida-Veranstaltungen gehaltenen Reden (rechts-)populistische und/oder rechtsextremistische Inhalte finden«154 ließen, wobei sie sich an der sogenannten Konsensdefinition des Rechtsextremismusbegriffs orientierten.155 Die Redeinhalte wurden also gemäß der Einstellungsdimensionen der Zustimmung »zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung beziehungsweise Rechtfertigung des Nationalsozialismus« analysiert, ergänzt um die Durchsicht nach »antisemitischen, fremdenfeindlichen und sozialdarwinistischen Einstellungen«.156 Die wesentlichen Ergebnisse der Analyse bestehen darin, dass bei Pegida zum einen im Zeitverlauf zunächst eine Verschiebung weg vom allgemeinen Populismus, hin zu einem genuinen Rechtspopulismus zu erkennen sei. Zum anderen sei ebenfalls eine Radikalisierung 151 | Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora?; Werner J. Patzelt und Joachim Klose, P egida . Warnsignale aus Dresden, Dresden 2016. 152 |  Vgl. Sang-Hui Nam, Spontane Mobilisierung und der Wandel kollektiver Formationen im Internet. Eine Fallstudie zur P egida -Bewegung (66 Absätze). Art. 3, in: Forum: Qualitative Sozialforschung Jg. 18 (2017) H. 1. 153 | Vgl. Lukas Del Giudice u.a., Was sagt P egida? Eine Analyse von bei P egida -Veranstaltungen in Dresden gehaltenen Reden in vier Zeiträumen. Unser Dank gilt den Autorinnen und Autoren des Vortrags für die Bereitstellung der Präsentationsfolien. Die Inhalte und Ergebnisse des Vortrags sollen in einem geplanten Tagungsband publiziert werden, dessen Erscheinungstermin noch nicht feststeht. 154 | Ebd., S. 3. 155 | Vgl. Joachim Kreis, Zur Messung von rechtsextremer Einstellung: Probleme und Kontroversen am Beispiel zweier Studien. Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum Nr. 12, Berlin 2007, S. 11. 156 | Johannes Kiess u.a., Was ist rechtsextreme Einstellung, und woraus besteht sie?, in: bpb.de 13.01.2015 online einsehbar unter www.bpb.de/politik/extremismus/ r echt s ex t r emismus/198945/was -is t-r echt s ex t r eme - eins t ellung-und-wor aus besteht-sie (eingesehen am 08.01.2018).

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der Rhetorik festzustellen, die sich jedoch vor allem in den Beiträgen der Gastrednerinnen und Gastredner vollziehe. Auch wenn einzelne Merkmale des Rechtsextremismus erfüllt seien, sei es nicht möglich, von einer geschlossen rechtsextremen Rhetorik bei Pegida zu sprechen. Eine weitere Kernerkenntnis, die die Tübinger Gruppe formuliert, liegt gewissermaßen im Import der radikaleren Positionen durch Gastrednerinnen und Gastredner, die in ihrem Vokabular krasser und schärfer ausfielen als die des Pegida-Orgateams.157 An dieser Stelle ist keine die Meta-Analysen der Facebook-Beiträge und die Auswertung von Reden durch Del Guidice und andere ergänzende und vollumfassende Analyse der Redebeiträge über die drei Jahre des Bestehenszeitraumes zu leisten und auch nicht erforderlich. Ein solch reichhaltiges Material wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung. Für die Zielsetzung der vorliegenden Studie bedarf es vielmehr der Identifikation wesentlicher Wendepunkte und Dynamiken der Dresdner Proteste, die zu inhaltlichen und rhetorischen Adjustierungen geführt haben. Zur Sortierung und Klassifizierung der Bewegung bieten sich daher vor allem organisatorische und personelle, auch politische und technische Zäsuren an, die hauptsächlich das Kern- und Organisationsteam und damit die Gestalt von Pegida beeinflusst haben; sowohl was die Selbstdarstellung auf der Bühne, wie auch die mediale und lokale Rezeption (beispielsweise in Form von Teilnehmenden an den Demonstrationen) angeht. Die so gezogenen Grenzen zwischen den einzelnen Phasen sind freilich nicht trennscharf und könnten, je nach Forschungsschwerpunkt, auch unterschiedlich platziert werden. Außerdem fällt auf, dass Pegida trotz einer Rhetorik der Fundamentalopposition überraschend oft mit ganz pragmatischer Realpolitik geliebäugelt hat  – beispielsweise den Oberbürgermeisterwahlen in Dresden 2015. Auch dieses Changieren zwischen verschiedenen Strategien hat Auswirkungen auf eine Phasenlogik von Pegida.

Die Hochphase der Bewegung und die rasch einsetzenden Selbstauflösungstendenzen (Phase I und II) Aus diesen Überlegungen heraus ist es sinnvoll, Pegida als Protestphänomen in bis dato vier Phasen einzuteilen, die anhand von prägenden Ereignissen, Persönlichkeiten und Strategien bestimmt werden können (vgl. Abb. 6). Die erste Phase umfasst vor allem die Entstehung und die Hochphase von Pegida und beschreibt damit das Vierteljahr zwischen der ersten Pegida-Demonstration im Oktober 2015 und der zahlenmäßig größten Pegida-Demonstration im Anschluss an das Attentat auf die Autorinnen und Autoren des französischen Satire-Magazins Charlie Hebdo. Aus der strategischen Perspektive der Bewegung handelt es sich hierbei vor allem um eine Art Artikulation des eigenen

157 | Vgl. Del Giudice u.a., Was sagt P egida?, S. 25f.

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Anliegens, dem man öffentlich Geltung verschafft und das in den sogenannten Dresdner Thesen kumuliert. Diesem Hype folgten Abspaltungen sowie Selbstauflösungstendenzen, gefolgt von einem insgesamt langen Sommer der Neuorientierung: Die halbe Führungsriege aus der Anfangszeit verließ nun Pegida, während mit Tatjana Festerling und ihrer Kandidatur bei der OB-Wahl in Dresden, wo sie im ersten Wahlgang mit knapp zehn Prozent der Stimmen – und damit doppelt so viel wie der AfD-Kandidat – ein beachtliches Ergebnis für sich und die Bewegung verbuchen konnte, eine neue zentrale Figur die Pegida-Bühne betritt.158 Die zweite Phase kulminiert im Vorfeld des mit viel Aufwand begangenen ersten Geburtstags der Bewegung  – nebst Präsentation einer eigenen Hymne und der heftig kritisierten Rede Akif Pirinçcis  – und läutet zugleich Phase drei von Pegida ein.159 Auch der berühmte Galgen, den ein Demonstrant laut Beschriftung für die Kanzlerin und den damaligen Vizekanzler Sigmar Gabriel reserviert haben wollte und der mit dem Begriff »Volksverräter« beschriftet war, fällt in das Ende der zweiten Phase.160 Im Winter 2017 waren Miniaturvarianten dieses Galgens als politische Satire käuflich zu erwerben: Da, so die Sächsische Justiz, der Galgen keine Aufforderungen zu Straftaten formuliere, sondern »symbolische Tode« – ergo das Scheitern der politischen Persönlichkeiten im politischen Prozess wünsche, sei er strafrechtlich nicht relevant.161 Auch wenn diese rechtliche Einordnung nicht gänzlich unumstritten ist,162 tragen der Galgen und die intensive Debatte darüber zu einer weiteren Verfes-

158 | Vgl. o. V., Oberbürgermeisterwahl Dresden 2015 – Erster Wahlgang am 07.06.2015, in: Wahlen Dresden online einsehbar unter wahlen.dresden.de/2015/ OBW/uebersicht_direktwahl_gemeinde-612-dresden_gesamt.html (eingesehen am 15.06.2015). 159 | Vgl. Christopher Schmitz und Katharina Trittel, Ein Jahr P egida : Eine Bewegung gefällt sich selbst, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung 20.10.2015 online einsehbar unter www.demokratie-goettingen.de/blog/ein-jahr-pegida (eingesehen am 26.11.2015). 160 | Vgl. o. V., P egida -Anhänger errichten Galgen für Merkel und Gabriel, in: Zeit Online 13.10.2015 online einsehbar unter www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-10/ dresden-pegida-galgen-attrappe-demonstration (eingesehen am 06.12.2017). 161 | Vgl. Ronen Steinke, Sächsische Justiz erlaubt den Verkauf von Galgen für Merkel und Gabriel, in: Süddeutsche Zeitung 05.12.2017 online einsehbar unter www. sueddeut sche.de/polit ik /pegida-saechsische -just iz- er laubt- den-ver kauf-vongalgen-fuer-merkel-und-gabriel-1.3779461 (eingesehen am 06.12.2017). 162 | Vgl. Thomas Fischer, Galgenvögel!, in: Zeit Online 09.12.2017 online einsehbar unter www.zeit.de/gesellschaft/2017-12/pegida-galgen-satire-staatsanwaltschaft-sachsen/ komplettansicht (eingesehen am 18.12.2017).

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tigung der Marke Pegida bei – und das auch noch zwei Jahre nachdem er das erste Mal öffentlich auf der Demonstration gezeigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt ist die thematische Fixierung auf »den Islam«, Flüchtlinge und Masseneinwanderungen endgültig etabliert. Neben einer starken Selbstreferentialität ist der Gedanke der europäischen Vernetzung, maßgeblich durch Festerling unter dem Titel Fortress Europe 163 vorangetrieben, ein weiteres wichtiges Motiv. Fortress Europe, auch Festung Europa, ist ein äußerst schillernder Begriff, der im zeitgenössischen Kontext zumeist kritisch auf die Politik der Abschottung der EU-Außengrenzen referiert hat, bevor er durch ein transnationales Bündnis rechtspopulistischer und ethnopluralistischer Parteien und Bewegungen in der Prager Erklärung eine positive Begriffskonnotation bekam.164 Allerdings, und darauf verweist Cornelia Schmitz-Berning, hat der Begriff eine viel tiefere historische Dimension: So war die Festung Europa ein »Slogan der ersten Kriegsjahre [im Zweiten Weltkrieg], der die Stärke des von der Achse beherrschten Kontinents gegen die Alliierten ausdrücken sollte«.165

»Radikalisierung« und Selbstbezogenheit (Phase III) Wenn von einer Phase der Radikalisierung bei Pegida die Rede ist, dann beziehen sich diese Urteile zumeist auf diese dritte Phase und im Wesentlichen auch auf Äußerungen Festerlings.166 Mit dem Zerwürfnis zwischen Tatjana Festerling und Lutz Bachmann, das mit Festerlings Abschied von Pegida im Juni 2016 seinen Höhepunkt findet,167 geht die Dresdner Bewegung schließlich 163 | Vgl. Christian Jakob, Auf Flüchtlingsjagd, in: taz.de 04.08.2016 online einsehbar unter www.taz.de/!5323792/ (eingesehen am 06.12.2017). 164 | Vgl. Bernhard Honnigfort, P egida geht über Grenzen, in: Frankfurter Rundschau 05.02.2016 online einsehbar unter www.fr.de/politik/spezials/pegida/ aktionstag-gegen-zuwanderung-pegida-geht-ueber-grenzen-a-372294 (eingesehen am 06.12.2017); Antifa Recherche Team Dresden, P egida : Entwicklung einer rechten Bewegung, in: Tino Heim (Hg.), P egida als Spiegel und Projektionsfläche: Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen P egida , Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2016, S. 33-54, hier S. 50ff. 165 | Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 2007, S. 232. 166 |  Inwieweit diese Beobachtung nicht auch in Teilen auf Fehlwahrnehmungen und Urteile zurückgeht, ließe sich diskutieren. Immerhin waren Bachmanns erster Ausstieg aus P egida grob abwertenden Äußerungen gegenüber Muslimen und Flüchtlingen und einer Foto-Pose als Hitler geschuldet. Vorländer u.a. deuten diese Spaltung als eine erste Weichenstellung zwischen bürgerlich-konservativen und radikal-rechtspopulistischen Protest, vgl. Vorländer u.a. P egida , S. 18. 167 | Vgl. Stefan Locke, Ist Festerling zu radikal für P egida?, in: faz.net 15.06.2016 online einsehbar unter www.faz.net/aktuell/politik/inland/pegida-rednerin-tatjanafesterling-zu-radikal-fuer-pegida-14288434.html (eingesehen am 29.11.2017).

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in ihre vierte Phase über: Durch die Löschung der ersten Pegida-Facebook-Seite, mithin einem Großteil der bis dato bestehenden Reichweite beraubt, war es für Pegida vermutlich essenziell, die Haltung gegenüber der AfD zu verändern. Im Vorfeld der sich ankündigenden Bundestagswahl vollzog Pegida einen Wechsel in der Beziehung zur AfD, welche nach langer Ablehnung nunmehr direkt hofiert wurde. Dies reicht von Auftritten von AfD-Politikerinnen und Politikern auf Pegida-Veranstaltungen über gemeinsame Kundgebungen und Wahlkampfveranstaltungen bis hin zu der Tatsache, dass Pegida für die Dresdner Rede Björn Höckes die Ordner gestellt hat.168 Gleichzeitig ist hervorzuheben, dass Pegida im Verlauf seines mittlerweile über dreijährigen Bestehens trotz der vielen Zäsuren und Umbrüche über die Zeit hinweg bemerkenswert stabil geblieben ist. Das ist in gewisser Weise sicherlich auch auf Gründungsmitglied Lutz Bachmann zurückzuführen, der Pegida immer von vorne und von oben geführt hat. Die Personalie Bachmann ist vermutlich auch der Schlüssel, um das Verhältnis zwischen der AfD und Pegida zu verstehen. Zweifellos ist gerade das Jahr 2017 von einer unverhohlenen Allianz zwischen Pegida und der AfD geprägt. Während in der Frühzeit des Dresdner Protestbündnisses dieses in Teilen der Partei selbst hoch umstritten war,169 gab es gleichzeitig subkutan immer eine beständige Fluktuation, Konvergenz und Konstanz in der thematischen Zielsetzung, wie Felix Korsch argumentiert.170 Wird jedoch die Perspektive Korschs umgekehrt, also weg von der AfD und hin zu Pegida, ließe sich auch argumentieren, dass sich die Geschichte von Distanz, Feindschaft und Annäherung zwischen der AfD und Pegida nahezu erschöpfend über die Causa Bachmann erklären lässt. Aus AfD-Sicht ist das Verhältnis zu Pegida von Flügelkämpfen und Lagerkonflikten geprägt, zunächst zwischen Bernd Lucke und Frauke Petry, später zwischen Frauke Petry und der Patriotischen Plattform innerhalb der AfD. Aus der Sicht von Pegida ließe sich das Verhältnis zur AfD aber auch als eine Geschichte von Egozentrik und Kränkung erzählen: Als »überparteiliche« Be168 | Vgl. o. V., Höcke löst mit Kritik an Holocaust-Gedenken Empörung aus, in: Süddeutsche Zeitung 18.01.2017 online einsehbar unter www.sueddeutsche.de/news/ politik/parteien-hoecke-loest-mit-kritik-an-holocaust-gedenken-empoerung-aus-dpa. urn-newsml-dpa-com-20090101-170118-99-919322 (eingesehen am 06.12.2017). 169 | Vgl. Felix Korsch, »Natürliche Verbündete«? Die P egida -Debatte in der AfD zwischen Anziehung und Ablehnung, in: Alexander Häusler (Hg.), Die Alternative für Deutschland: Programmatik, Entwicklung und politische Verortung, Wiesbaden 2016, S. 111-134. 170 | Felix Korsch, Stichwortgeber in Nadelstreifen. Personelle und inhaltliche Konvergenzen zwischen AfD und P egida , in: Alexander Häusler (Hg.), Die Alternative für Deutschland: Programmatik, Entwicklung und politische Verortung, Wiesbaden 2016, S. 135-147.

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wegung gestartet, waren die inhaltlichen und personellen Schnittstellen, so Korsch, zwischen AfD und Pegida durchaus vorhanden.171 Einen Wendepunkt im Verhältnis dürfte der kurzzeitige Rückzug Bachmanns aus der Pegida-Spitze im Januar 2015 darstellen: Dieser wurde zuerst über eine Pressemitteilung der AfD Sachsen bekannt gegeben, bevor Pegida dies selbst tun konnte. Zu diesem Zeitpunkt war Frauke Petry noch Landes- und Fraktionsvorsitzende im Freistaat und trieb den damaligen Parteivorsitzenden und AfD-Mitbegründer Bernd Lucke in einem Richtungsstreit vor sich her, der schließlich auf dem Essener Parteitag 2015 darin endete, dass Petry zur Parteivorsitzenden gewählt wurde, während Lucke die AfD verließ. Seitdem hielten sich Gerüchte über die Einflussnahme der AfD und Petrys auf Pegida. So ist die Geschichte des Verhältnisses von AfD und Pegida, unabhängig davon, ob sich diese Einflussnahme tatsächlich so zugetragen hat, vor allem dadurch zu erklären, dass Lutz Bachmann zumindest gute Gründe hatte zu glauben, dass Petry ihn aus der Spitze von Pegida verdrängen wollte. Jede weitere Phase der Beziehungen zwischen AfD und Pegida erscheint in diesem Licht als eine Kette von Situationen, in denen Lutz Bachmann alles daran gesetzt haben könnte, Petrys Anliegen zu sabotieren: Dazu gehört die Aufnahme von Tatjana Festerling, einer ehemaligen AfD-Politikerin, die aufgrund ihrer wohlwollenden Äußerungen im Zuge der Hogesa-Demonstration den Hamburger Landesverband verließ, um einem Parteiausschlussverfahren zuvorzukommen,172 in die Pegida-Reihen sowie ihre Aufstellung als Kandidatin zur OB-Wahl in Konkurrenz zu einem AfD-Kandidaten. Gleichzeitig fällt auf, dass sich Annäherungen an die AfD seitens Pegida immer auf eine bestimmte Gruppe innerhalb der Partei konzentriert haben: innerparteiliche Gegner von Petrys Kurs, entweder in der zweiten Reihe im sächsischen Landesverband, oder aber Vertreter des rechten Flügels rund um Björn Höcke und der patriotischen Plattform.

Auf einmal bleibt nur die Straße – P egida im Sommer 2016 (Phase IV) Zur Identifikation der wichtigsten Themen in dieser Phase haben Stier u.a. bereits einen entscheidenden Beitrag geleistet. So wurde über einen langen Zeitraum die Facebook-Kommunikation von Pegida, verstanden als ein überregionales Phänomen, erfasst, ausgewertet und Schwerpunktthemen identifiziert. Als Basis dienten dabei 25 Accounts, mehr als 34.000 Postings, über 850.000

171 |  Vgl. ebd. 172 |  Vgl. o. V., Neue P egida -Frontfrau stammt aus Hagen, in: Westfalenpost 14.04.2015 online einsehbar unter www.wp.de/staedte/hagen/neue-pegida-frontfrau-stammtaus-hagen-id10559375.html (eingesehen am 01.02.2018).

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Abb. 7: Die vier Phasen von Pegida Phase

Zeitraum

Beschreibung

Besondere Ereignisse

I

Oktober 2014 bis Januar 2015

Entstehung sowie „Hype-“ und Hochphase

Zahlenmäßig größte PEGIDA-Demonstration am 12.1.2015

II

Januar 2015 bis September

2015

Erste Spaltung des Orga-Teams,

Versammlungsverbot in Dresden Ende Januar 2015, Auftritt von

Marginalisierung und medial abflauende

Geert Wilders bei PEGIDA, Vorübergehender Rückzug von Bachmann

Aufmerksamkeit; „Facebook-Phänomen“

aus dem Orga-Team, Austritt von Kathrin Oertel aus dem OrgaTeam, Eintritt von Tatjana Festerling ins Orga-Team

III

Oktober 2015 bis Juni 2016

Thematische Fokussierung auf Flüchtlinge und „Masseneinwanderung“, Versuche der

Skandalrede von Akif Pirinçci auf dem 1. Geburtstag, , der „Galgen“

europäischen Vernetzung, Beginn starker Selbstbezogenheit und Selbstgefälligkeit IV

Juni 2016 bis Oktober 2017

2. Spaltung des Orga-Teams, fortdauernde Selbstgefälligkeit,

Austritt von Tatjana Festerling aus dem Orga-Team; Skandal um die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Dresden 2016

Annäherung, Anbiederung und Einbindung in den „Neurechten Komplex“ zwischen AfD und Identitärer Bewegung.

Spezialphase ab Dezember 2016

Die Stadt Dresden erteilt Däbritz und Bachmann ein Verbot zur Anmeldung von

Däbritz und Bachmann firmieren seitdem nunmehr als Gastredner

PEGIDA-Demonstrationen

Quelle: Eigene Zusammenstellung

Kommentare und mehr als 5,3 Millionen Likes.173 Neben einer Übersicht über die bevorzugten Themen (Masseneinwanderung, Verbrechen und sexuelle Übergriffe, Islam, Grenzkontrollen, Flüchtlinge und Flüchtlingsunterbringung, Demonstrationen, Aktivismus und politischer Extremismus, Staat, Volk und Traditionen sowie nationale, also deutsche Identität, Medienbias und Terror-Anschläge in Europa) ist auch eine Themensalienz-Analyse im Zeitverlauf entstanden. Bei vielen dieser Themen ergeben sich große Ähnlichkeiten und Schnittmengen mit der AfD, wobei Pegida gerade bei den Themen Verbrechen, Islam und sexuelle Übergriffe seinen Fokus legt, die dort mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit auftreten als bei den ergänzend untersuchten Parteien.174 Hierbei wird auch gerade im Zeitverlauf deutlich, dass zwei der Kernthemen, die die Pegida-Postings vom Rest des Samples unterscheiden, nämlich die Themen Verbrechen und sexuelle Übergriffe, vor allem zum Jahreswechsel 2016, also nach den Ereignissen der Silvesternacht von Köln, stark intensiviert und im Anschluss häufiger bespielt wurden.175 Retrospektiv ist der Sommer 2016 vielleicht eine Art Sattelzeit für Pegida. Die Anzahl Demonstrierender war auf einem so niedrigen durchschnittlichen Niveau wie seit Beginn der Proteste im Herbst 2014 und dem Sommer 2015

173 |  Vgl. Sebastian Stier u.a., When populists become popular, S. 1371. 174 | Vgl. ebd., S. 1375. 175 |  Vgl. ebd., S. 1381.

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nicht mehr.176 Durch das Zerwürfnis mit Tatjana Festerling hatte die Bewegung gleichsam ein wichtiges rhetorisches Zugpferd eingebüßt und befand sich noch in einem Abnabelungs- und Verarbeitungsprozess. So hieß es auf einer Pegida-Demonstration am 1. August 2016 im Dialog von zwei Spaziergängern, dass sie das Ausscheiden Tatjana Festerlings bei Pegida bedauerten, da ihr Redetalent im Vergleich zu den anderen Rednern bei Pegida schon außerordentlich gewesen sei und niemand es so gut wie sie verstanden hätte, Themen zu besetzen und wichtige Punkte anzusprechen. Bachmanns jüngste Darbietungen werden von ihnen als verbesserungswürdig bewertet, wohingegen »Siggi […] sich ganz toll entwickelt« habe, obwohl auch Däbritz einem Vergleich mit Festerling nicht standhalte.177 In dieser Sattelzeit musste jedoch nicht nur das Ausscheiden von Festerling, sondern auch die zunächst zeitweise und schließlich endgültige Sperrung der (ersten) Pegida-Facebook-Seite mit über 200.000 Likes aufgefangen werden. Hier offenbart sich ein gravierender Unterschied zur ersten Durststrecke im Frühjahr 2015, da zu diesem Zeitpunkt zumindest die Anhängerschaft bei Facebook stabil blieb, mithin eine gewisse Bedeutungslosigkeit auf den Dresdner Straßen durch die Aktivitäten im Netz kompensierend aufgefangen werden konnte. In dieser Phase sind es vor allem drei Themen, die die Reden prägen: Die Konstruktion von Heimat als schützenswertem Gut, die (Selbst-)Darstellung als »aufrechte Patrioten« und die Abarbeitung an Feindbildern. Die explizite Thematisierung des Schutzes und der Verteidigung der Heimat erfolgt besonders eindrucksvoll am Beispiel der Heimatschutzbrigaden der Bundeswehr. Es wird kritisiert, dass diese lediglich so hießen, zum »wahren Heimatschutz« aber nicht eingesetzt werden dürften. Dieses Bild der wehrlosen Heimat bringt Däbritz in einer Rede178 in Verbindung mit einem Beschluss, dass Polizist/-innen in Deutschland ihre Eigenschaft als »Dauerwaffenträger« aberkannt werden solle, Dienstwaffen nur noch beim Dienst oder auf dem Weg dorthin getragen werden dürfen. Damit sei der Polizist aber, wenn er in seiner Freizeit Zeuge eines Übergriffes werde, nicht bewaffnet und könne somit nicht adäquat eingreifen. Woraufhin Däbritz fordert: »Dann erwarte ich, dass er sich schleunigst in Dienst versetzt und den Terroristen ausschaltet (Applaus).« Diese Argumentation läuft darauf hinaus, dass er, mit Blick auf die USA kokettierend, konstatiert: »The only thing that stops a bad guy with a gun is a good guy with a gun.« Heimatschutz, so ließe sich diese Sequenz deuten, ist also im Notfall 176 |  Vgl. Durchgezählt, Teilnehmerzahlen P egida Dresden, in: RPubs 2016 online einsehbar unter rpubs.com/durchgezaehlt/pegidadd (eingesehen am 11.12.2017). 177 | Vorort-Beobachtung am 01.08.2016. 178 | Lutz Bachmann, 18.07.2016 P egida live vom Hauptbahnhof Dresden, in: YouTube, 18.07.2016, online einsehbar unter https://www.youtube.com/watch?v=eaDaXA9_ F2w (eingesehen am 01.02.2018).

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mit Waffengewalt durchzusetzen. Dass man die Heimat nicht nur gegen äußere Feinde (Terroristen, Flüchtlinge) verteidigen müsse, sondern auch gegen den inneren Feind, ist für Däbritz evident: Die, mit seinen Worten, »SS- und SA-Methoden« der Linken ließen sich ohne Polizei nicht stoppen. Man habe bereits die Kontrolle über ganze Stadtteile verloren, diese Entwicklung gehöre umgekehrt. Reflexartig wird in diesen Kontexten stets der »Vergewaltigungsdschihad« aufgerufen und mit der interessanten Bemerkung versehen: »Natürlich machen das auch Einheimische, aber deswegen müssen wir uns doch nicht noch irgendwelche Idioten importieren.« Diese Sequenz, die die Verteidigung der Heimat im Allgemeinen verhandelt, bedient allerdings gleich mehrere thematische Ebenen und Anknüpfungspunkte: Der patriotische Schutz der Heimat ist ein offensichtlich multithematisches Feld; die Bedrohungsszenarien für die Heimat sind multipel. Patriotismus, so ließe sich das schließlich ausdeuten, ist eine Abwehr gegen äußere wie innere Bedrohungen gleichermaßen. Der Patriot und die Patriotin fühlen sich an zwei Fronten bedroht, der inneren und der äußeren: Die äußere Front besteht in diesem Fall aus jenen, die durch Zuwanderung ins Land gelangt sind, allen voran Flüchtlingen. Die innere Front müsse gegen ein radikales und militantes linkes Milieu gebildet und gehalten werden, welches es »mit Stumpf und Stiel« zu entfernen gelte – ein durchaus geharnischter Ausdruck. Rhetorisch vollzieht dieser Abschnitt zweierlei: Zum einen führt er zu einer Gleichsetzung innerer und äußerer Bedrohungsszenarien; der Feind des Patriotismus befindet sich, verkörpert durch die Figur des Flüchtlings, in der Mitte der Gesellschaft. Diese Rhetorik bedeutet aber auch, dass Patriotismus erst notwendig werde, weil der »Feind« die Grenze überschreiten konnte. Hier versteckt sich eine massive Elitenkritik, Staatsversagen wird als Vorwurf mehr oder weniger offen mitthematisiert. Zugleich vollzieht sich aber auch ein interessanter Gleichsetzungsprozess: Pegida besitzt eine eigene, banalisierte Form einer Extremismustheorie; rhetorisch macht es für Däbritz keinen Unterschied, ob die Heimat durch fundamentalistisch-islamistischen Terror oder durch linksradikale Bewegungen bedroht wird. Beide Bedrohungsaspekte sind in der Rhetorik essenziell und gegen beide muss sich Pegida verteidigen. Darüber hinaus wird in Form der Zwischenrufe erkennbar, wie heftig die Abwertung und Verurteilung von Flüchtlingen mittlerweile vollzogen wird: Der Begriff des »Vergewaltigungsdschihads« ist von kaum zu übertreffender Deutlichkeit und formuliert eine Abwertung des Islams als Religion aber auch vor allem von Muslimen.179 Die Religion wird anhand dieses Schlagworts pauschal in die Form der extremen sexuellen Gewalt gedreht, indem Sexualität als Waffe des religiösen Krieges beschrieben wird. Da ein Krieg selbst nicht ver179 |  Zur Konnotation des Islams vgl. Kapitel 5.2.

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gewaltigen kann, sondern nur jene, die ihn führen, betrifft dieser Ausspruch am Ende nicht bloß die Religion, sondern auch alle, die für Pegida als Kombattanten, als Kriegsführende dieses Krieges, gelten können: Das sind, kraft Pauschalisierung und Generalisierung, letztlich mindestens alle Menschen, die der Religion des Islams angehören, aber auch jene, die in den Kontext der Religion sortiert werden, also potenziell alle Flüchtlinge. In diesem Kontext genügt allein die Andeutung der Gewissheit, eine Person könnte a) geflohen und b) muslimischen Glaubens sein, um als fanatisch-religiöser Vergewaltiger markiert zu werden. Die Verpflichtung zum Schutz der Heimat wird von Pegida eng mit Patriotismus verknüpft.180 Der Bürger habe eine moralische Verpflichtung für Deutschland, er sei verpflichtet, für Deutschland zu kämpfen, es zu beschützen und »rein zu halten«. Dieses separatistische Denken spiegelte sich vor allem in der Brexit-Reaktion von Pegida. Beim ersten Spaziergang181 nach dem »Leave-Votum« sangen einige Demonstrierende »God save the Queen«. Däbritz eröffnete seine Rede wieder einmal mit einem Zitat, um den historischen Moment noch stärker zu betonen und die Ereignisse bedeutsamer erscheinen zu lassen. »Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. (Victor Hugo)«. Gemeint ist der empfundene Auf bruch im national-konservativen Lager, dem eine sterbende Europäische Union gegenübergestellt wird: »Nichts ist so tot, wie eine Idee, die vorbei ist. (EU)« Der Brexit wird als »Quittung für Merkels Machtherrlichkeit« interpretiert, somit direkt gegen die Bundeskanzlerin instrumentalisiert und monokausal auf sie bezogen. Gleichzeitig kritisiert Däbritz, dass Volkes Wille immer nur dann gefragt sei, wenn die Eliten denken, das Volk denke wie sie; »denkt es dann aber mal alleine, denkt die Elite nur noch: So ein Mist, hätten wir bloß nicht gefragt.« Interessanterweise verknüpft Däbritz seine Gedanken mit sozialpolitischen Themen, um die in seinen Augen katastrophalen Zustände innerhalb der EU zu illustrieren, die die Mitgliedsstaaten nur noch auf eigene Faust in den Griff bekommen könnten. Schon Adenauer habe gewusst: »Das einzige, was die Sozialisten von Geld verstehen, ist, dass sie es von anderen haben wollen.«182 Nicht nur, dass die »Sozialisten« Europa heruntergewirtschaftet hätten (hier wird vor allem die Jugendarbeitslosigkeit betont), sondern es erzeuge »Wut und Verachtung, dass 180 | Lutz Bachmann, 27.06.2016 P egida live vom Postplatz, in: YouTube, 27.06.2016, online einsehbar unter https://www.youtube.com/watch?v=2bL7flime9c (eingesehen am 01.02.2018). 181 |  Vgl. ebd. 182 | Die Frage danach, wann und in welchem Kontext P egida sich durch Referenzen der Worte anderer, zumeist berühmter historischer Persönlichkeiten bedient, welche strategische Absicht damit verbunden sein könnte und inwieweit diese Referenzen wirken, ist ein Thema, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum Beachtung gefunden hat.

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die EU trotzdem massenhaft Invasoren auf den Kontinent lässt«. »Leistungswillige« Spanier, Portugiesen und Griechen seien willkommen, nicht jedoch Muslime. Der Brexit gibt ebenfalls Anlass, sich als Teil einer europäischen Bewegung zu präsentieren (wie es bislang vor allem Festerling bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Orga-Team mit Festung Europa versucht hatte), wenn man betont: »Die Völker Europas haben genug davon, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein« und dass weitere EU-Austritte folgen würden. Das Gegenteil von Globalisierung sei die Wiederherstellung der nationalen Souveränität und die Möglichkeit, wieder selbst zu regieren, was in der Forderung nach einem »Dexit« kulminiert und frenetisch beklatscht wird. Die Bestrebungen, die eigene Souveränität durch Abschottung zurück zu erlangen, wird auch auf das Flüchtlingsthema ausgeweitet. Man müsse die Grenzen sichern, die illegal Eingereisten zurückschicken und, so der Vorschlag, der an Frauke Petrys Forderung, Flüchtlinge auf Inseln zu ghettoisieren, erinnert, mit dem Geld, was die EU für Flüchtlinge ausgeben will, in Afrika und im arabischen Raum riesige Städte bauen, in denen es dann auch Arbeit gäbe, die der Qualifikation der Flüchtlinge angemessen sei. »Egal, wo wir das Geld ausgeben: weg ist weg!« Es wird erkennbar, dass die einzelnen Gegenstände eher ein komplexes, beinahe interdependentes Geflecht darstellen als separate, voneinander losgelöste Themenblöcke. Rhetorisch werden die Themen entsprechend mit Hilfe von Analogien, Vergleichen und Übertragungen verknüpft. Dadurch ist es möglich, eine Rede über den Brexit mit nationaler Souveränität und Selbstbestimmung (durchaus in einem ethnopluralistischen Verständnis) sowie Elitenkritik (hier vor allem am Beispiel der Kanzlerin) und einer an- und wahrgenommenen Überfremdung assoziativ zu verknüpfen. Die Thematisierung der EU mit ungewünschter (und gefährlicher) Zuwanderung konnotiert mit einer Absage an den Sozialismus (was in diesem Kontext wenig anderes bedeutet als eine Absage an einen als links angenommenen EU-Internationalismus) ruft in diesem Kontext erneut eine diffuse Gleichsetzung oder zumindest eine starke Gruppierung von Feindbildern hervor. Es zeigt sich gerade in Bezug auf nach Deutschland Gekommene ein Narrativ, das bei aller rhetorischen Abgrenzung und Feindbildkonstruktion durchaus »lagerübergreifend« funktioniert, und das auch bei NoPegida-Anhängern beobachtet werden konnte: Wer sich in die deutsche Leistungsgesellschaft integriert und seinen Beitrag leistet, ist gerne gesehen. Die Eignung für den heimischen Arbeitsmarkt und die Perspektive, dem Sozialstaat nicht zur Last zu fallen, sondern ihn zu unterstützten, sind sodann unterschwellige Bedingungen der Hilfe für Geflüchtete. Diese Feststellung ist wichtig, weil es sich an dieser Stelle um eine diskursive Übereinstimmung mit Pegida handelt, die bereits sehr früh in die öffentliche Diskussion eingegeben wurde: Die Argumente der Zuwanderung, des demografischen Wandelns und des Fachkräftemangels,

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die parallel zur Diskussion um die Aufnahme Geflüchteter geführt wurde.183 All diese Begründungen, im Kern meritokratisch-utilitaristischer Natur, sind schon sehr früh zur Legitimation der »Grenzöffnung« im August 2015 vorgebracht worden. Seitdem ist dieses Argument in der Diskurslandschaft der Bundesrepublik relativ ubiquitär und wird umfänglich angesteuert und vertreten. Neben den thematischen Evergreens gibt es bei Pegida bisweilen Versuche, neue Erzählungen zu generieren. Dies muss jedoch nicht immer zwingend von Erfolg gekrönt sein. So versuchte Lutz Bachmann bei einer Demonstration Anfang August 2016184, gendersensible Identitätspolitik zu würdigen und ein Bündnis, oder zumindest Bündnispotenziale zwischen Pegida, der Frauenund der Homosexuellenbewegung herzustellen. In einem Brückenschlag versuchte er zunächst, den Islam als monolithischen Block darzustellen: »Ihr alle kennt die grausamen Bilder aus TV, aus Presse, aus dem Internet, von IS-Hinrichtungen mitten auf dem Dorfplatz irgendwo in islamischem Gebiet. Da sieht man stets ein paar wenige, so genannte ›radikale Moslems‹, welche Menschen enthaupten, misshandeln oder was auch immer mit ihnen tun. Und diese wenigen, so genannten ›radikalen Moslems‹ sind aber umringt von – teilweise hunderten! – so genannten ›gemäßigten Moslems‹, welche zuschauen und – genau – nichts tun! […] Diese Masse der sogenannten ›gemäßigten Muslimen‹ hätte die Möglichkeit, in diesen Momenten zu beweisen, was hier fälschlicherweise immer wieder gebetsmühlenartig verbreitet wird: Dass der Islam die so genannte Religion des Friedens sei. Da muss ich lachen! Ich sage: Genauso ist es wahrscheinlich Unsinn, zwischen radikalen und gemäßigten Muslimen zu unterscheiden, denn, […] wenn sie in der Mehrheit sind, haben sie laut ihres Korans die heilige Pflicht, die Scharia einzuführen und die restlichen Kuffar – das sind die Ungläubigen, das seid ihr, das sind wir – zu töten oder zum Islam zu bekehren. Und ich sage euch: Sie werden es tun!«

Im Anschluss an diese Konstruktion eines »radikal-gemäßigten Islams« – und dem Verweis, dass die »politische Ideologie des Islams« eng verwandt mit der Ideologie des Nationalsozialismus sei  – steht die Einführung der Scharia in bloß einer, nämlich der radikalen soeben skizzierten »Enthauptungs-Tradition«. Bachmann formuliert nun rhetorische Fragen: Was würde mit der sexuellen Selbstbestimmung, was würde mit der Emanzipation der Frau und den Rechten 183 | Vgl. Dietrich Creutzburg, Prüfsteine für die Willkommenskultur, in: faz.net 25.06.2015 online einsehbar unter www.faz.net/aktuell/beruf-chance/rechtund-gehalt/einwanderungspolitik-fachkraef te-sind-gesucht-fluechtlinge-kommen13664339.html (eingesehen am 09.01.2018). 184 | Lutz Bachmann, 01.08.2016 P egida live aus Dresden, in: YouTube, 01.08.2016, online einsehbar unter https://www.youtube.com/watch?v=1erGesXyuM4 (eingesehen am 01.02.2018).

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der Frauen geschehen, wenn die Scharia eingeführt sei: Die Errungenschaften seien alsdann nichtig. Deshalb, so Bachmann, sei es die Pflicht von Homosexuellen und Frauenrechtlerinnen, »›Seit‹ an Seit‹« mit Pegida zu kämpfen. »Und ich frage weiter: Was würde mit Kirchen, Synagogen und buddhistischen Tempeln passieren, wenn der Islam in Europa immer stärker wird und an die Mehrheit kommt? Richtig: Es würden eben diese Kirchen und Synagogen brennen, welche heute noch das Licht für P egida und andere Bürgerbewegungen ausschalten, weil ihre fettgefressenen und realitätsblinden Kirchenfürsten und Rabbis sich und ihren Glauben verkauft haben für Posten und ein paar Silberlinge!«

Dieser Abschnitt kondensiert viele inhaltliche Strategien, die Pegida anwendet, und illustriert in nur wenigen Zeilen die rhetorischen Essenzen, die immer wieder auf monolithisierende und exkludierende Argumente hinauslaufen: Die Figur »der so genannten gemäßigten Moslems« wird als Chimäre verhandelt, die Relativierung steckt bereits in der Verwendung des Attributs der bloß »sogenannten« »gemäßigten Moslems«, übersteigert dadurch, dass Leute, die im IS-Herrschaftsbereich einer öffentlichen Hinrichtung beiwohnen, womöglich auch beiwohnen müssen im Krieg, nicht eingreifen. Diese Figur dient als Archetypus »gemäßigter Moslems«, die, so die Rhetorik, auch nur verdeckte, weil untätige Radikale seien, die dem Ruf ihrer Ideologie  – hier verschiebt sich das Argument aus dem Bereich des Religiösen in den Bereich des Kulturell-sozialen  – folgen würden. Und schließlich kehrt die Elitenkritik wieder, indem die Gläubigen gegen ihre Oberen, die »Kirchenfürsten«, in Stellung gebracht werden, die »fettgefressenen Rabbis«, die sich und ihren Glauben für materielle Anreize verkauft hätten, während die Gläubigen, Juden wie Christen, nicht mehr in ihre Gotteshäuser gehen könnten, ohne angepöbelt und bespuckt zu werden. Um dies zu verhindern müsse man, so Bachmann, jetzt aktiv werden und nicht erst, wenn es, wie in den dreißiger Jahren, zu spät sei. In dem Maße, in dem die Solidarisierungsaufforderung an Jüdinnen und Juden scheitert, weil sie ein gebräuchliches rhetorisches Feigenblatt rechtspopulistischer Kreise ist, die sich oft einer zweifelhaften, da an strukturell antisemitische Stereotype erinnernden, Elitenkritik bedienen,185 verhallt auch die Solidarisierungsaufforderung an Homosexuelle und Feminist/-innen. Erwähnt Bachmann die »fettgefressenen Kirchenfürsten und Rabbis«, johlt das Publikum auf, beschwört er die Einheit von Pegida mit Homosexuellen oder den Frauen, bleibt das Publikum faktisch reaktionslos, wohl auch, weil diese Bezüge für Pegida gewisse Reizthemen darstellen, die zumeist negativ konno-

185 | Samuel Salzborn, Angriff der Antidemokraten.

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tiert mit »Gender-Mainstreaming« in Verbindung gebracht wurden. Alte Themen im neuen Gewand haben keine eingebaute Erfolgsgarantie. Ganz Ähnliches war zu beobachten, als Michael Stürzenberger in einer seiner Gastreden186 versucht hat, den Amoklauf am Olympia Einkaufszentrum in München im Juli 2016, bei dem die Motivation des Täters durchaus kontrovers diskutiert wird, in seine islam- und muslimfeindliche Rhetorik einzuspannen.187 Weil der Täter einen iranischen Migrationshintergrund hatte und seine Opfer überwiegend türkischer Herkunft waren, konstruiert Stürzenberger für diesen Fall einen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Sein Argument läuft also auf eine Revitalisierung des ersten Pegida-Slogans hinaus, der sich gegen Glaubenskriege auf deutschem Boden ausgesprochen hatte. Die Resonanz des Publikums auf die Herleitung dieser bemühten Argumentationskette ist jedoch eher verhalten. Diese beiden Beispiele zeigen, dass die gewöhnliche Rhetorik gegen den Islam, gegen Muslime und Flüchtlinge nicht in jedem Fall verfangen muss; Themen und Topoi können nicht nach Belieben angesteuert und variiert werden, sondern müssen einer gewissen assoziativen Kohärenz folgen, die sich vor allem an der »Gewohnheit« der Themen bemisst, oder, im Vokabular der Protestforschung: Neue Erzählungen können dann Anhänger der Bewegung mobilisieren und Öffentlichkeit erzeugen, wenn sie erzählerisch und mitreißend präsentiert werden und mit einer gewissen empirischen Glaubwürdigkeit, die an den eigenen Nahbereich anzuknüpfen vermag, eine Verbindung zum Masterframe herzustellen in der Lage ist. Die Reaktivierung des Masterframes verpasste Pegida allerdings im Sommer 2016: Zwischenzeitlich auf sich selbst als faktisch bloßes Demonstrationsphänomen zurückgeworfen, das heißt, ohne eine beachtliche Fangemeinde in sozialen Netzwerken, war die weitere Zukunft Pegidas durchaus ungewiss. Strukturell funktionierten die Reden wie gewöhnlich: Mehr oder weniger aktuelle Ereignisse wurden von den Rednerinnen und Rednern, die zu diesem Zeitpunkt durchaus nicht immun gegen Kritik aus den eigenen Reihen waren, 186 | Vgl. Michael Stürzenberger, 01.08.2016 P egida live aus Dresden, in: YouTube, 01.08.2016, online einsehbar unter https://www.youtube.com/watch?v=1erGesXyuM4 (eingesehen am 01.02.2018). 187 | Der Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft in München sieht keine politischen Motive für die Tat, was Kritikerinnen und Kritiker hinterfragen, vgl. Kassian Stroh, Die Debatte über die Motive von David S. ist unverzichtbar, in: Süddeutsche.de 05.10.2017 online einsehbar unter www.sueddeutsche.de/muenchen/amoklauf-am-oez-diedebatte-ueber-die-motive-von-david-s-ist-unverzichtbar-1.3695496 (eingesehen am 20.12.2017); o. V., Gutachter sehen Amoklauf in München als politisch motiviert an, in: Zeit Online 03.10.2017 online einsehbar unter www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/ 2017-10/amoklauf-muenchen-gutachter-motiv-rechtsextremismus (eingesehen am 20.12.2017).

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aufgegriffen und in den etablierten Deutungsrahmen von Pegida eingepasst. Dabei wurden die Beiträge zuverlässig auf die thematischen Kernkategorien Pegidas eingestellt, wie Elitenkritik, verbale Angriffe auf den Islam und auf Muslime sowie eine Abwertung von allem, was von Pegida als »links« klassifiziert wird, wobei hier vor allem die Grünen als Feindbild herhalten müssen. Kaum eine andere Partei – und wenig andere politische Akteure – dient so sehr zur Kanalisierung für Feindbilder, was sich im Ausdruck »linksgrünversifft« prägnant versinnbildlicht hat. Die wesentliche Demarkationslinie, die Pegida zieht, um »links« zu markieren, liegt vor allem in der elitären Verblendung, der zu starken Nachsicht oder gar Hörigkeit gegenüber Muslimen und dem Islam, die zu einer »unpatriotischen Grundhaltung« führe. Demzufolge versteht sich Pegida auch in der Selbstpräsentation keineswegs als »rechts« im binären politischen Richtungsschema, sondern würde sich wohl eher als »patriotisch« bezeichnen, um diesen Begriff zugleich in Besitz zu nehmen.

2.2.3 Pfingst-Phalanx: Die vollendete Annäherung von P egida und AfD Ein Jahr später hat sich die Situation bei Pegida, zumindest was die personelle Zusammensetzung angeht, erneut gewandelt. Im Zuge einer Auseinandersetzung mit dem Ordnungsamt der Stadt Dresden als Folge der Pegida-Proteste anlässlich der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit 2016 wurde es Bachmann und Däbritz untersagt, als Versammlungsleiter von weiteren Pegida-Demonstrationen zu fungieren. Diese Regelung wurde im Verlauf zwar wieder aufgehoben,188 hat jedoch dazu geführt, dass vermehrt Wolfgang Taufkirch und Ines Gmeinert die Versammlungsleitung übernahmen, während Bachmann und Däbritz als »Gastredner« auftraten.189 Der Ton verschärfte sich indes weiter. Gleichzeitig ist der Schulterschluss mit der AfD vollzogen worden, sichtbar an den bereits thematisierten Verbindungen anlässlich der Rede von Björn Höcke im Ballhaus, doch auch schon zuvor durch wechselseitige Auftritte auf Demonstrationen, Kundgebungen und Veranstaltungen. Bachmann reklamierte nicht nur einen Gutteil der AfD-Wahlerfolge im 188 | Vgl. o. V., VG Dresden: Stadt darf P egida -Chef Bachmann Tätigkeit als Versammlungsleiter nicht pauschal bis 2021 verbieten, in: beck-aktuell 05.12.2016 online einsehbar unter rsw.beck.de/aktuell/meldung/vg-dresden-pegida-chef-bachmann-darfin-dresden-weiter-als-versammlungsleiter-taetig-sein (eingesehen am 01.02.2016). 189 | Seit der Auflage, dass Bachmann und Däbritz nicht länger P egida -Versammlungen anmelden dürfen, gelten diese per se als Gastredner/-innen, obwohl sie grundsätzlich von anderen »Gastredner/-innen« zu unterscheiden sind, die nie Teil des P egida -Teams waren. Wenn im Folgenden von Gast- und externen Redebeiträgen die Rede ist, sind damit nicht Däbritz und Bachmann gemeint.

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Frühjahr 2016 für Pegida, sondern forderte im Vorfeld der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern zur Wahl der AfD auf.190 Zugleich bot Pegida nun regelmäßig Mitgliedern und Mandatsträger/innen der AfD die eigene Bühne an. Auffällig hieran ist, dass vor allem Funktionär/-innen aus der zweiten und dritten Reihe die Einladung annahmen, die als heftige innerparteiliche Widersacher der damaligen Parteichefin und sächsischen Landesvorsitzenden Frauke Petry gelten konnten. Und wenn die AfD keine Leute auf die Pegida-Bühne schickte, dann wurden einfach Veranstaltungen gemeinsam initiiert – so geschehen am 08. Mai und am Pfingstmontag, dem 05. Juni 2017, als Pegida und AfD gemeinsam zum »Pfingstspaziergang« geladen hatten.191 In ihrer Analyse von Redebeiträgen haben Del Giudice u.a. argumentiert, dass vor allem externe Gastrednerinnen und Gastredner für den verschärften, in Teilen extremistischen Tonfall auf Pegida-Veranstaltungen verantwortlich seien.192 Im Sommer 2017 ergriffen zu den Erhebungszeitpunkten vor allem mit Michael Stürzenberger, Gernot Tegetmeyer, Renate Sandvoß sowie Egbert Ermer und Thomas Göbel (AfD) als externe Gäste das Wort. Stürzenberger ist ein Knotenpunkt in neurechten Netzwerken; er war aktiv bei der Partei Die Freiheit und regelmäßiger Autor bei PI-News, während Tegetmeyer, der ebenfalls bei Die Freiheit aktiv war, eine Führungsfigur von Pegida-Mittelfranken respektive Nügida ist – beide werden vom bayerischen Verfassungsschutz der islamfeindlichen Szene in Bayern zugerechnet.193 Renate Sandvoß ist Journalistin und schreibt für das Portal Journalistenwatch, einem »Journal für Medienkritik und Gegenöffentlichkeit«. In einem jüngeren Text schildert sie, welche Umstände sie dazu bewogen hätten, aus dem Schwarzwald nach Meißen zu ziehen: Weg von den Zuständen in Innenstädten und Fußgängerzonen, in denen bloß noch ein Drittel der Leute, denen man begegne, mit schwäbischem Dialekt sprächen und nur drei von 27 Kindern auf dem Spielplatz »deutsch« seien – hin zur sächsischen Herzlichkeit in Meißen.194 190 | Vgl. Christian Röther, Wenn die Wahrheit Kopf steht. Die Islamfeindlichkeit von AfD, P egida und Co, München 2017, S. 48. 191 |  Vgl. P egida  – TV Dresden, 05.06.2017 P egida -Pfingstspaziergang mit der AfD, in: YouTube, 05.06.2017, online einsehbar unter https://www.youtube.com/watch?v= oFvE2N0ZNT Y (eingesehen am 01.02.2018). 192 | Vgl. Del Giudice u.a., Was sagt P egida? 193 |  Vgl. o. V., Fürther P egida -Aktivist: Ein geistiger Brandstifter, in: nordbayern.de 07.07.2016 online einsehbar unter www.nordbayern.de/region/fuerth/further-pegidaaktivist-ein-geistiger-brandstifter-1.5326345 (eingesehen am 13.11.2017). 194 | Vgl. Renate Sandvoß, Auch ich bin ein Flüchtling – und meine neue Heimat liegt im Osten!, in: Jouwatch, 16.10.2017 online einsehbar unter www.journalistenwatch. com/2017/10/16/renate-sandvoss-auch-ich-bin-ein-fluechtling-oder-warum-ichjetzt-zum-ossi-werde/ (eingesehen am 13.11.2017).

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Sandvoß argumentiert unverhohlen ethnopluralistisch und rassistisch: »Uns wird Stück für Stück unsere Heimat genommen. Wir sind nicht mehr das deutsche Volk, sondern nur noch die, die schon länger hier leben. Was für eine Demütigung! Was für eine Herabsetzung für uns Menschen, die wir seit Generationen unsere Arbeitskraft für den Aufbau Deutschlands eingesetzt haben und große Teile erwirtschafteter Gelder abgeführt haben. Nach Merkels offizieller Einladung bahnen sich wilde Horden meist muslimischer Migranten, ohne Pass und Ausweispapiere, mit gefälschter Biografie, teilweise mit Gewalt, aber fast immer illegal, einen Weg durch europäische Grenzen und fluten millionenfach das gelobte Land Germany.«

Deutsche würden, so Sandvoß, zu Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse degradiert, »während man uns die Versorgungssuchenden als wertvoller als Gold präsentiert. Bitte?! Menschen, die nie einen Handschlag für unser Land getan haben und dank niedrigem IQ, Analphabetismus und Trägheit auch nie tun werden, zieht man dem eigenen Volk, dem man einen Regierungseid geschworen hat, vor. Für Bildung, eine zuzahlungsbefreite Krankenversorgung, für von Armut bedrohte deutsche Kinder und deutsche Rentner/-innen, ist angeblich kein Geld da. Aber für komfortable Rundumversorgung der Goldstücke sind bis 2020 93 Milliarden eingeplant!«

An dieser Stelle vermischt sich kaum verdeckter Rassismus  – die Flüchtlinge seien kraft ihrer Herkunft und Religion weniger intelligent und seien, im Gegensatz zu den Deutschen, die das Land nach dem Krieg wiederaufgebaut hätten, unwillig, zu arbeiten – mit einem Sozialstaatsargument: Für die »Goldstücke« sei das Geld verfügbar, für Renten, Schulen und Krankenversicherungsbeiträge jedoch nicht.195 Diese rhetorische Figur ist beliebt und findet sich keinesfalls nur bei Pegida. Die Klage über verschwendete Steuergelder ist vielmehr auch in unserem Sample durchaus präsent (vgl. Kapitel 3.4.1 und 4.1). Der Begriff »Goldstücke« ist eine Verballhornung und Umkehr einer Aussage des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Martin Schulz aus der »Heidelberger Hochschulrede« von 2016: »Was die Flüchtlinge zu uns bringen, ist wertvoller als Gold. […] Es ist der unbeirrbare Glaube an den Traum von Europa. Ein Traum, der uns irgendwann verloren gegangen ist.«196 Was Schulz mit seinem Satz meinte, wenn er vom »Traum von Europa« spricht, ist der Traum von Frie195 |  Vgl. P egida  – TV Dresden, 05.06.2017 P egida -Pfingstspaziergang mit der AfD 196 |  Martin Schulz, zit.n. o. V., »Was die Flüchtlinge uns bringen, ist wertvoller als Gold«, in: Rhein-Necker-Zeitung 11.06.2017 online einsehbar unter www.rnz.de/ nachrichten/heidelberg _ar tikel,-Heidelberg-Was-die-Fluechtlinge-uns-bringenist-wertvoller-als-Gold-_arid,198565.html (eingesehen am 13.12.2017).

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den, Freiheit und Menschenrechten, der einst Antrieb zur Gründung der europäischen Wertegemeinschaft gewesen sei. Der Pegida-Begriff »Goldstücke«, der seit Schulz Rede für die Patriotischen Europäer ein geflügeltes Wort ist, verkehrt diese ursprüngliche Intention jedoch ins Gegenteil, indem die Assoziation über Flüchtlinge, wie sie im Pegida-Sinne üblich sind, durch die Konnotation mit »Gold« ironisiert wird. Ethnopluralistische Versatzstücke benutzt auch Thomas Göbel. Dieser beginnt einen seiner Redebeiträge mit einer Tirade gegen die Ehe für Alle, die jüngst im Bundestag beschlossen wurde: »Nicht nur Lobbygruppen und Medien, insbesondere auch die Kirchen, haben dazu beitragen, dass die wichtige Funktion der Ehe, nämlich Sexualitäten einen Rahmen zu geben, schon lange obsolet geworden ist. Dass Ehe und Sex nicht mehr zwei zusammengehörende Dinge sind, ist ein neuer gesellschaftlicher Standard geworden, in dessen Ursache der moralische Verfall einer fast gebetsmühlenartig propagierten links-grünen Politik zugrunde liegt. [sic!] Damit wird die Ehe reduziert auf ihre Funktion, Verantwortung füreinander zu übernehmen.«

Göbel vermengt hier gleich mehrere Themen: Die Abstimmung der Ehe für Alle dient ihm als Vehikel, um Elitenkritik zu üben: an Kirchen, an Lobbygruppen und »links-grüner« Politik, die die Ehe entkernt hätten. Im weiteren Verlauf schafft Göbel ein argumentatives Konstrukt, dass die Ehe für Alle nicht eine Maßnahme der Gleichstellung von homo- mit heterosexuellen Paaren darstelle – die Möglichkeit, dass nun Homosexuelle Kinder erziehen dürften, verstöre ihn zutiefst –, sondern im Endeffekt auf ein Geschenk an die von ihm sogenannten »Goldstücke« hinauslaufe: »Nämlich, das Ziel könnte sein: die Mehrfachehe. Der Mann kann Verantwortung übernehmen, auch für Frau und Frau und Frau und Frau usw. Die Entscheidung, dass die Ehe als Beziehung offen für alle ist, ist ein schwerer Schritt, ein weiterer Schritt zur Islamisierung dieses Landes. […] Damit ist der Weg zur Kinderehe nicht mehr weit. Und nun erzähle mir einer, dass diese Vorgänge nichts mit Islamisierung zu tun hätten. Jeder, der auf dieser Liste namentlich mit ›Ja‹ gestimmt hat, hat dieses Vorhaben unterstützt und gehört vor Gericht gestellt.«

Kinderehe als islamische Praxis, die verklausulierte Bezeichnung von politischen Eliten als »Volksverrätern«, werden in einem Potpourri munter vermischt, das Volksverräter-Narrativ schließlich um offen ethnopluralistische Argumentationsmuster herum zugespitzt: »Das Ziel ist der Verfall unserer Kultur, unserer Werte, der Verfall unseres Bildungsniveaus und auch der Verfall in ein Mulitkulti und eine europäische Idee, die selbst uneins in sich

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P egida -Effekte? selbst ist, und nur einem Ziel dient: Deutschland abzuschaffen! [Buh-Pfiffe] Was ist geworden aus unserem Deutschland? Man könnte sagen, ein offenes Siedlungsgebiet im Zentrum Europas, welches sich zufällig Deutschland nennt, mit einer Rest-Bevölkerung, die schon länger hier lebt. Damit muss Schluss sein! Schluss mit der strategischen Umvolkung! Wir müssen uns dagegenstemmen, um unserer Kinder willen! Wir müssen uns dagegenstemmen, nicht wie eine einzelne deutsche Eiche, sondern wie ein gesamter Eichenwald!«197

Die Inhalte des Pegida-Orgateams sind auf der rhetorischen Ebene womöglich etwas unaufgeregter. Vor allem aber zielen sie in eine andere Richtung als es die Gastrednerinnen und Gastredner – mit Ausnahme von Michael Stürzenberger – oft tun. Der Fokus liegt nicht so stark auf den Faktoren von deutscher Identität und ethnopluralistischer Argumentation, sondern in der gezielten Abwertung von »dem Islam« und Feindschaft gegenüber »den Muslimen«, die auf einer Angst vor der Vermischung von und zwischen Religion und Kultur basiert. So Lutz Bachmann am 3. Juli 2017: »Entweder, man schafft eine so genannte Multikultigesellschaft, in der die Kulturen in Europa nebeneinander existieren, was mit einer barbarischen, mittelalterlichen, frauenfeindlichen, schwulenhassenden und faschistoiden Ideologie, wie der des Islams, niemals möglich wäre, oder aber man integriert die Neuankömmlinge. Und Integration heißt, dass sich der Ankömmling in die Gepflogenheiten, in die Sitten, in die Kultur, in die Sprache und in die Religion des Gastlandes einzufügen, einzugliedern hat.«

Im Vorfeld dieses Satzes differenziert Bachmann zwischen den »guten«, weil nützlichen und integrationswilligen und integrierten, Gastarbeitern aus Griechenland, Italien und der Türkei, und den muslimischen Zuwanderern und Flüchtlingen. So »sind diese neuen Einwanderer kein wichtiger Bestandteil unseres Landes und sie werden hier nicht für die Rente sorgen, das ist sicher! Sie sind keine Hilfe für Deutschland und Europa. Nein, man muss es deutlich sagen, sie sind eine Belastung und am Ende wegen ihrer Kultur und wegen ihrer Unfähigkeit zur Integration […] sind sie der Untergang unseres Wertesystems, unserer Gesellschaft, und am Ende auch des Friedens, da könnt ihr sicher sein.«198 In dieser Argumentation finden sich zwar auch ethnopluralistische Züge – der Verweis auf das Nebeneinander der Kulturen lässt sich so deuten –, sie treten jedoch hinter der Abwertung des Islams und von Muslimen zurück: Die 197 | Rede von Thomas Göbel, vgl. P egida live, 03.07.2017 P egida live vom Altmarkt Dresden, in: YouTube vom 03.07.2017, online einsehbar unter https://www.youtube. com/watch?v=SasTUOyCbkQ (eingesehen am 01.02.2018). 198 |  Rede von Lutz Bachmann am 03.07.2017, vgl. P egida live, 03.07.2017 P egida live vom Altmarkt Dresden.

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Rhetorik stellt eine faktisch unauflösbare Einheit zwischen dem Individuum und der Religion her, die hier jedoch als Kultur begriffen wird. Beide Begriffe sind austauschbar. Durch diese Kulturalisierung der Religion ist es wiederum möglich, sie mit Herkunft rückzukoppeln und sie darauf zu reduzieren. Die Folge ist eine offene Muslimfeindlichkeit,199 die zum Teil an ethnische Kategorien gebunden wird.200 Ergänzt wird diese Argumentation immer häufiger durch Verweise auf die Belastungen für den Sozialstaat. Offenbar sind aktuelle, potenzielle und zukünftige deutsche Transferempfängerinnen und Transferempfänger eine aktualisierte Zielgruppe für Pegida. Gleichzeitig ermöglicht der Umweg über die »heilige Kuh« Sozialstaat ebenfalls eine unauffällige Platzierung von ethnischen und rassistischen Vorurteilen, wie sie bereits von Thilo Sarrazin in der öffentlichen Debatte etabliert wurden. Letztlich wurden jene Solidaritätsangebote von Pegida aus dem Jahr 2016 an (relativ klar umgrenzte) Religionsgemeinschaften, an Frauen und Homosexuelle, zugunsten einer diffusen Gruppe, in gewisser Weise an »das Volk«, fallen gelassen, während die etablierten Muster der »bedrohten Heimat« wieder stärker aufgegriffen und mit Verweis auf den bedrohten Sozialstaat für die Zuhörerinnen und Zuhörer plastisch illustriert wurden.

2.2.4 Sommer in der Stadt – Rechtspopulistische Rhetorik als Blaupause Wo also steht Pegida im Jahr 2017? Welche Topoi, Narrative und Deutungsmuster prägen nun die Rhetorik der Proteste? Hier ist zunächst hervorzuheben, dass wesentliche Teile des Redens von Pegida auch davon handeln, die nach wie vor eigene ungebrochene Relevanz zu kommunizieren und dadurch zu erneuern. Die Selbstvergewisserung, aber auch Selbst- wie Fremdbeschwörung machen einen nicht unwesentlichen Teil der Pegida-Reden aus und sind etablierter Teil der Protestrituale. Kommt solch eine Rhetorik aus dem Kreise der Organisatoren, zielt das Erzählmoment zumeist auf eine Mobilisierungsaufforderung und auf Durchhalteparolen. Man dürfe nicht nachlassen, obwohl man ja Wirkungen gezeigt habe. Kommen diese Topoi von außen, dann wird zumeist Dresden als Vorbild und Sehnsuchtsort (»Hauptstadt des Widerstandes«) bemüht. In diesem 199 | Vgl. Michail Logvinov, Muslim- und Islamfeindlichkeit in Deutschland. Begriffe und Befunde im europäischen Vergleich, Wiesbaden 2017, S. 8f. 200 | Vgl. Naime Çakir, Islamfeindlichkeit. Anatomie eines Feindbildes in Deutschland, Bielefeld 2014, 154f.; Naime Çakir, P egida : Islamfeindlichkeit aus der Mitte der Gesellschaft, in: Alexander Häusler (Hg.), Die Alternative für Deutschland: Programmatik, Entwicklung und politische Verortung, Wiesbaden 2016, S. 149-162. Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesem Thema vgl. Kapitel 5.2.

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Punkt zeigt sich eine gewisse Dynamik: Kaum eine Kundgebung vergeht, in deren Verlauf nicht festgestellt wird, wie viele Pegida-Forderungen übernommen worden seien, man ja seine ursprünglichen Ziele faktisch schon erreicht hätte, nur damit im Anschluss neue, letztlich wiederum utopische Ziele formuliert werden, die erreicht werden müssten, was nur mit langem Atem aller Patrioten im Land möglich sei. Es ist diese beständige Erneuerung der eigenen Bedeutung und Aktualität, die Pegida zu einem Gutteil ausmacht, aber wenig Bedeutung über den eigenen, bewegungsinternen Horizont hinaus hat: Für die Besucherinnen und Besucher der Demonstration jedoch ist es diese beständige Selbstvergewisserung, das Wechselspiel zwischen Erfüllung und Erneuerung der Aufgabe, die die Beständigkeit maßgeblich mit bedingen dürfte. Einen solchen Phönix-Moment hatte Pegida nunmehr jüngst nach der Bundestagswahl: Man lobte sich einerseits für den eigenen Anteil am guten Ergebnis der AfD und gab sich zugleich einen neuen Auftrag, der nunmehr in der Kontrolle der AfD bestehe, damit diese nicht durch die demokratischen Institutionen kompromittiert werde.201 Auch Wortneuschöpfungen und Verballhornungen wie die »Goldstücke«, haben eine spezifische Funktion. Alle, die irgendetwas gesagt oder geschrieben haben, was Pegida aufgreifen, umdeuten und verwerten kann, können dabei zum Ziel werden. Besonders beliebt sind zu diesem Zweck die Aussagen von Politikerinnen und Politikern. Diese Verballhornung, die Pegida mit Wörtern und Aussagen von politischem Spitzenpersonal betreibt (»#Sprenggläubige«, »#Surensöhne«, »#Korandertal«, »#Goldstücke«, »#MischpokeCem«, »#IMErika«, »#Maasmännchen«, »#Pöbelralle«, »#ClaudiaFatimaRoth«) ist zu einer Art Erkennungszeichen und identitätsstiftendem Merkmal von Pegida geworden.202 Gleichzeitig lässt sich erkennen, dass diese Begriffe durchaus Streuwirkung haben. Dies ließe sich einerseits über das Konzept des Framings aufgreifen, oder aber im Sinne einer »politischen Deutungskultur« nach Karl Rohe,203 die über Bilder, Symbole und Sprache her- sowie infrage gestellt wird, ausdeuten. Offenbar existiert ein spezifischer Kommunikationsraum, in dem diese Begriffe eine Funktion erfüllen. Diese Verballhornung, die man auch Memefizierung des rechtspopulistischen Diskurses nennen könnte,204 stellt erneut 201 | Vgl. Michael Bartsch, P egida reklamiert AfD-Wahlerfolg für sich und geht zugleich auf Distanz, in: mdr.de 26.09.2017 online einsehbar unter www.mdr.de/sachsen/pegidadresden-118.html (eingesehen am 13.12.2017). 202 | Vgl. Göttinger Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora?, S. 53. 203 | Vgl. Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse, S. 337. 204 | Zur Funktion von Memes vgl. Wolfgang Frindte u.a. Muslime, Flüchtlinge und P egida , S. 259-261; InJeong Yoon, Why is it not Just a Joke? Analysis of Internet Memes Associated with Racism and Hidden Ideology of Colorblindness, in: Journal of Cultural Research in Art Education Jg. 39 (2016) H. S. 92-123.

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die Frage, in welche Richtung Pegida mittlerweile wirkt: Von der Straße ins Netz, oder vom Netz auf die Straße, und welche kommunikativen Folgen dies zeitigt.205 In diesen Zusammenhang gehört auch eindeutig die Verwendung, Übernahme und Verfremdung von Symbolen und Sentenzen: So trägt Lutz Bachmann am 1. August 2017 beispielsweise ein T-Shirt mit der Aufschrift »Rapefugees not welcome« in rot-schwarzer Schrift auf weißem Grund, was eine komplette Bedeutungsumkehr der ursprünglichen Aussage »Refugees welcome« darstellt, die sich vor allem in linken Kontexten auf T-Shirts, Aufklebern oder Taschen findet.206 Über die Funktion und Reichweite ist bisher, ebenso wie zur gesamten (digitalen) Ästhetik dieser Memes, kaum etwas bekannt. Es ist nicht ersichtlich, wer sie wann und warum benutzt und wann sie aus welchen Gründen nicht benutzt werden. Hier wäre weitere Forschung durchaus wünschenswert, um einen sichtbaren Aspekt von Wirksamkeit deutlicher beleuchten zu können. Inhaltlich bewegen sich die Redebeiträge nach wie vor gerne, wenn sie sich nicht um Elitenkritik oder Selbstvergewisserung drehen, um die Feindbilder Islam, Flüchtlinge und Muslime, die eine Bedrohung für wahlweise die deutsche oder europäisch-abendländische Identität darstellen. Hierbei ist die Deutlichkeit in der Rhetorik zum Teil davon abhängig, von wem diese Äußerungen stammen. In der Tendenz sind die Aussagen der Gastrednerinnen und -redner radikaler und krasser, zumindest jedoch im Ton unverblümter, offener und direkter. Es sind vor allem die Gäste (wie Stürzenberger, Tegetmeyer, Fleischmann und Sandvoß), die das radikalere Vokabular benutzen (auch wenn das Wort »Umvolkung« sowohl bei Thomas Fleischmann als auch bei Siegfried Däbritz vorkommt).207 Unbedingt hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die »natürliche Verbindung« zwischen den verschiedenen Kernthemen: Das »Feindbild Islam« korrespondiert häufig mit den Themen »Soziales« beziehungsweise »Leitbild Familie«. Flucht, Asyl und Einwanderung – Begriffe, die faktisch bedeutungsgleich verwendet, und damit beliebig austauschbar werden –, sind eine Bedrohung für die »deutsche Identität«, den Sozialstaat und Wirtschaftsstandort Deutschland.208 Den Kosten für die Aufnahme und 205 | Vgl. Laura Maleyka und Oswald, Sascha, Wenn »Genderwahn« zur »Tautologie« wird. Diskursstrukturen und Kommunikationsmacht in Online-Kommentarbereichen, in: Zeitschrift für Diskursforschung Jg. (2017) H. 2/2017, S. 159-181. 206 | Über die symbolische Bedeutung von Farbcodierungen ließe sich angesichts dieser Farben (die sich auch im ursprünglichen P egida -Logo finden) ebenfalls noch einmal grundsätzlich nachdenken. 207 |  Vgl. Del Giudice u.a., Was sagt P egida? 208 | »Wo war z.B. in der Presse oder überall ganz aktuell der Aufschrei zu hören, entweder von den Medien, von den Gewerkschaften oder den Betriebsräten, als der Ökonom Ludger Wößmann kürzlich forderte, dass ungebildete Flüchtlinge – habe ich das jetzt ge-

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Unterbringung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern werden alternative Kosten gegenübergestellt – für Obdachlose, Schulen und das Renten- oder das Gesundheitssystem. Das lässt sich dahingehend deuten, dass das »ökonomische Prisma«209, welches die Debatte um Flucht, Asyl und Zuwanderung letztlich seit Beginn der Flüchtlingskrise begleitet (Flüchtlinge als Ausgleich für den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel) von Pegida nunmehr ebenfalls explizit ausgenutzt und adressiert wird. Wenn es jedoch um die Banalisierung von Diskursen im Schatten von Pegida und sonstigen rechtspopulistischen Formationen geht, sind es nicht die unverhüllten Rhetoriken im Protestmodus, die die maßgeblichen Andockund Anschlussmöglichkeiten bieten, sondern vielmehr die subversiv und subkutan transportierten Bedeutungsgehalte: Wenn am Ende die Frage im Raum steht, inwiefern Pegidas Argumente in der »breiten Mitte« der Gesellschaft anschlussfähig sind, reicht es womöglich nicht aus, den Blick lediglich auf die Bugwelle zu richten. Die Frage, was im Fahrwasser und Schatten dieser Bugwelle passiert, gerät dabei zunächst schnell aus dem Blick, ist aber für den gesamtgesellschaftlichen Kontext überaus maßgeblich. Deswegen soll der Blick nun weg von Pegida hin zu den von uns befragten jungen Menschen wandern, um zu eruieren, inwiefern diese jenseits der Bugwellen dennoch ins Fahrwasser von Pegida geraten sein könnten.

sagt, ›ungebildete Flüchtlinge‹? Gibt’s das überhaupt? Sind doch eigentlich alles Ärzte, Facharbeiter, Ingenieure, naja ist egal – auf jeden Fall forderte dieser Wößmann, dass die ungebildeten Flüchtlinge Berufsausbildungen zum Pfleger oder zum Maurer machen sollten. (vereinzelte Buh- und Pfui-Rufe) Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen fordert er, dass der über Jahrzehnte hart erkämpfte Mindestlohn dafür wegfallen solle. Das ist nichts anderes, als das hier billige Lohnsklaven etabliert werden sollen.« – Rede von Lutz Bachmann, 03.07.2017; »Wisst Ihr noch 2005? Merkel kündigt eine Mehrheitssteuererhöhung um 2 Prozent an. Die SPD nannte das die Merkelsteuer, die mit ihr nicht zu machen sei. Und nach der Wahl einigt man sich auf 3 Prozent. Die Riesterrente war eine Idee vom damaligen Schröder-Freund Maschmeyer, der dadurch sich selber und den Versicherungskonzernen einen wahren Geldregen bescherte. Geringverdiener, die sich die Raten leisten können, werden diese später bei der Grundsicherung wieder abgezogen. Ach ja, Schröder, der Kanzler der sozialen Gerechtigkeit, führte die Agenda 2010 ein und sorgte dafür, dass eine ganze Bevölkerungsschicht entwürdigt wurde und verarmte, obwohl sie drei Jobs hat.« – Rede von Wolfgang Taufkirch, 14.08.2017. 209 | Vgl. Kapitel 5.1.

3. Konventionell, konform, kompatibilitätsorientiert? Relevanzsysteme, Werthaltungen und normative Bindungen der jungen Menschen

3.1 D ie S uche nach dem inneren K ompass Zur Untersuchung der Ausgangsfrage, inwiefern Inhalte, Formen und Themen von Pegida auf Jugendliche eine Anziehungskraft ausüben, mithin anschlussfähig an die Lebenswelten und Wertfundamente der jungen Menschen sind, soll zunächst das Relevanzsystem der Befragten beschrieben werden. Was ist den jungen Menschen wichtig im Leben? Welche Vorstellungen, Prägungen und Überzeugungen sind für sie handlungsleitend, auf welche Deutungsmuster greifen sie zurück? Wir konzentrieren uns im Folgenden an Werten statt beispielsweise an Orientierungen, da in der Zugangsweise der politischen Kulturforschung nach Karl Rohe weniger die Einstellungen, sondern vor allem die tiefer liegenden Vorstellungen relevant sind.1 Diese lassen sich im hier verwendeten Forschungsdesign am ehesten über die beschreibende Analyse der Werthaltungen der jungen Menschen erfassen. Der Erforschung von Werten wird disziplinübergreifend ein großer Stellenwert eingeräumt, da ihnen eine »umfassende Erklärungs- und Überzeugungskraft in Bezug auf menschliches Verhalten und Handeln« zugeschrieben wird.2 Es existiert eine Fülle an Definitionen, die allerdings kaum kaschiert, wie wenig klar zu fassen »Werte« sind, denen jedoch ungeachtet dessen eine relative Beständigkeit zugeschrieben wird, ebenso wie die Fähigkeit, auch indirekt, das heißt unterhalb der Bewusstseinsschwelle, auf Menschen einzuwirken3, ihnen Orientierung zu ermöglichen.

1 | Vgl. hierzu Kapitel 1.3. 2 | Vgl. Philipp Lechleiter, Wertekonstellationen im Wandel. Eine empirische Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2016, S. 25. 3 | Vgl. ebd., S. 26.

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P egida -Effekte? »Die Orientierung in der Welt als subjektive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen und Bedeutungen stellt nicht nur eine eigenständige Handlungsform dar (das Sich-Orientieren), sondern impliziert auch eine innere Ausrichtung beziehungsweise Haltung (sich in eine Richtung orientieren); zum Dritten verweist sie auf eine innere Wissensstruktur (orientiert sein, Orientierung haben).« 4

Orientierung wird hier verstanden als Aktivität, die darauf ausgerichtet sei, die Welt zu erkunden und Unbestimmtheiten zu reduzieren. Will man die handlungsleitende Funktion von Werten – die durch Fokusgruppen nur mittelbar zu eruieren ist – betonen, wird häufig auf die klassische Definition von Max Weber verwiesen, dass zielorientiertes Handeln »seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist«.5 Wir gehen in Anlehnung an die Grundannahmen der Werteforschung von der Vermutung aus, dass die jungen Menschen eine Art inneren Kompass besitzen, der sich unterschiedlich justiert, an dem sie ihr Verhalten in konkreten Situationen ausrichten und darüber hinaus allgemein gültige Normen ableiten, auch eine individuelle oder kollektive Identität entwickeln. Im alltäglichen Begriffsverständnis wird dem Wert auch oft eine wertende Konnotation zugeschrieben: Das Leben wird beispielsweise als »lebenswert« bezeichnet, bestimmte Dinge als »wünschenswert«. Eine solche Zuschreibung impliziert, »dass Werte sich aus subjektiven menschlichen Wertungen ergeben. Dies bedeutet dann […] aber auch, dass es sehr unterschiedliche, ja konkurrierende Werte geben kann (Wertpluralismus) und dass Menschen Werte unterschiedlich stark gewichten (Wertehierarchie, Wertekombination) können.«6 Auch werden Werte und Normen noch einmal hierarchisierend voneinander getrennt. »Während Werte unspezifisch, vage und recht allgemein sind und dem Verhalten eher die ungefähre Richtung weisen, als dass sie konkrete Vorschriften enthielten, beziehen sich Normen auf bestimmte, konkrete und spezifische Handlungsabläufe.« 7 4 | Josef Held, Rita Hackl und Johanna Bröse, Rechtspopulismus und Rassismus im Kontext der Fluchtbewegung. Politische Orientierungen von jungen Auszubildenden in Baden-Württemberg, online einsehbar unter https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_ uploads/pdfs/Studien/Studien_6-17_Rechtspopulismus.pdf, S. 11ff. (eingesehen am 30.01.2018). 5 | Detlef Grieswelle und Klaus Weigelt, Prinzipien politischen Handelns. Ein wesentliches Aufgabenfeld einer politischen Akademie, in: Klaus Weigelt (Hg.), Werte Leitbilder Tugenden. Zur Erneuerung politischer Kultur, Mainz 1985, S. 11-39, hier S. 17. 6 | Vgl. o. V., Warum brauchen Jugendliche Werte, online einsehbar unter www.du-bistwertvoll.info/223 (eingesehen am 30.01.2018). 7 | Detlef Grieswelle und Klaus Weigelt, Prinzipien politischen Handelns, S. 18.

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Als Wert wird allgemein der »Maßstab, der das Handeln lenkt« 8 verstanden. Die Entwicklung eines Wertesystems ist eng verknüpft mit der eines Normensystems und eines ethischen und auch politischen Bewusstseins9, sodass in der Literatur auch von »Wertbegründung« gesprochen wird.10 Auf ihrer Grundlage werden allgemein gültige Prinzipien entwickelt, die für das soziale Zusammenleben handlungsleitend sein sollen. Werte sind allerdings nicht nur im gesellschaftlichen Zusammenleben, sondern auch bei der Ausbildung der eigenen Persönlichkeit wichtig: »Tatsächlich haben Werte eine häufig unterschätzte Bedeutung für die Stabilität der Persönlichkeit, wie die Resilienzforschung unschwer belegen kann. Für die Persönlichkeitsentwicklung sowie für das soziale Verhalten, aber auch die kulturelle und religiöse Bildung sind Werte unverzichtbar. […] Werte bieten Kindern und Jugendlichen ganz allgemein Maßstäbe für ihr Handeln und Orientierung für ihr Leben; sie geben Jugendlichen Sinn und Ziele, die sie anstreben können. Doch nicht nur das. Über Werte definieren sich auch Sinn und Bedeutung innerhalb jeder Gesellschaft«.11

Werte strukturieren also sowohl ein individuelles als auch gesellschaftliches Ordnungssystem. Wenn sich bestimmte Werte verfestigen, kann man von einer Werthaltung sprechen, also von einer erworbenen Verhaltensdisposition. Der Gesellschaft zugrundeliegende gemeinsame Werte werden auch als kollektive Wertüberzeugungen beschrieben, die sich in der Gesellschaft institutionalisieren und auch zur Ausbildung und Festigung der jeweiligen politischen Kultur beitragen.12 Vom Wertbegriff zu unterschieden ist der Begriff der Tugend, der auf erworbene Eigenschaften abstellt: Werte werden zur Tugend, also z.B. Pflicht zu Pflichtbewusstsein, Leistung zu Leistungsbereitschaft. »Tugend bezeichnet einen Habitus, eine Verhaltensdisposition, die durch Sozialisation, speziell Erziehung, vermittelt wird.«13 Die Sozialisation spielt nicht nur für die Wertorientierung eine entscheidende Rolle, sondern auch bei der Ausprägung eines »Bürgerbewusstseins«. 8 | Franz Urban Pappi, Artikel Werte, in: Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe. Band 2. N-Z. München 2002, S. 1086. 9 | Dirk Lange u.a., Politisches Interesse und Politische Bildung, S. 20. 10 |  Vgl. ebd., S. 23. 11 |  Vgl. o. V., Warum brauchen Jugendliche Werte, in: du-bist-wertvoll.info, online einsehbar unter www.du-bist-wertvoll.info/223 (eingesehen am 30.01.2018). 12 | Helmut Klages sieht einen komplexeren Wandel, vgl. Helmut Klages, Wertewandel und politisches Handeln. Zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, in: Weigelt, S. 147-171. 13 | Detlef Grieswelle und Klaus Weigelt, Prinzipien politischen Handelns, S. 18.

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P egida -Effekte? »Im Sinnbild Wertbegründung strukturiert das Bürgerbewusstsein Vorstellungen, welche allgemein gültigen Prinzipien das soziale Zusammenleben leiten. Lernende haben eigene Ideen und Konzepte von Werten und Normen, die in politischen Konflikten, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen oder ökonomischen Unternehmungen zum Ausdruck kommen. Die in der Wertbegründung aufgebauten Sinnbilder ermöglichen eine politisch-moralische Urteilsbildung auf der Grundlage allgemein gültiger Prinzipien«,

die dann jedoch individuell verschieden ausfällt.14 Angestoßen durch Ronald Inglehart gibt es spätestens seit den 1960er Jahren eine Diskussion darüber, wie und aufgrund welcher gesellschaftlichen Veränderungen sich Werte und Wertvorstellungen wandeln. Auf diese Diskussion sei hier kursorisch verwiesen, weil sie einen Verständnishintergrund für die Einordnung unserer Forschungsergebnisse bietet. Die Überprüfung dieses Befundes folgt dann anhand der Analyse des erhobenen Materials. Inglehart diagnostiziert einen eindimensionalen Wertewandel in westlichen Demokratien seit den 1960ern von materialistischen hin zu postmaterialistischen Werten.15 Den zwei allgemeinen Annahmen folgend, dass erstens Wertorientierungen kulturelle Dynamiken sind, die der sich entwickelnden politischen Kultur eines Landes ihr Gepräge aufdrücken und es nachhaltig verändern, und dass zweitens steigende materielle Saturiertheit (physische Selbsterhaltung und körperliche Sicherheit) im Sinne der Maslow’schen Bedürfnispyramide die Menschen nach »höheren« Bedürfnissen (Selbstverwirklichung, Anerkennung, ästhetische und intellektuelle Bedürfnisse usw.) streben lassen, konstatiert Inglehart eine klare Zunahme postmaterialistischer Werthaltungen für alle westlichen Industrieländer. Die Tendenz erscheint dabei linear und fortschreitend; der wachsende Wohlstand der Industriegesellschaft werde über kurz oder lang materialistische Kohorten durch postmaterialistische ersetzen, sprich: im materiellen Überfluss der postmodernen Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft einen Wertewandel herbeiführen. Inglehart stellt also die Ausrichtung der Werte einer Gesellschaft in direkte Abhängigkeit von ihrer ökonomischen Situation. Diese Grundannahme wurde in der Folge von Inglehart selbst und auch von anderen dahingehend relativiert, dass sich traditionelle Wertmuster auch unabhängig von ökonomischen Strukturveränderungen wandeln können. Die Basisvorstellung, dass es (zunächst) einen Wandel von Pflicht- und Ak14 | Dirk Lange u.a., Politisches Interesse und Politische Bildung, S. 23. 15 | Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977 sowie die jüngere international vergleichende Studie in Ronald Inglehart, Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1998.

3.  Konventionell, konform, kompatibilitätsorientier t?

zeptanzwerten hin zu Selbstentfaltungswerten gegeben habe, zieht allerdings niemand grundlegend in Zweifel. Mittlerweile misst man allerdings auch der politischen Situation, dem Medianapparat und dem »historischen und religiösen Profil« einer Gesellschaft eine einflussausübende Bedeutung bei.16 Hinzu kommt, dass Inglehart infolge fortlaufender empirischer Überprüfung zu dem Schluss gekommen ist, dass die Wertorientierungen verschiedener Generationen mittlerweile parallel existieren und eine Wertsynthese eingehen können, sodass einerseits der Wertewandel nicht mehr als linear beschrieben werden kann und andererseits die Tendenz der Individuen dahin geht, nicht mehr klar einem Wertetyp zuordenbar zu sein, sondern sich zunehmend in »fluide« beziehungsweise Mischtypen materialistischer wie postmaterialistischer Einflüsse zu differenzieren. Nachdem Elisabeth Noelle-Neumann noch aus einer klar normativen Position heraus seit den 1960er Jahren einen Zerfall traditioneller Leistungswerte und ein vermehrtes Auf kommen hedonistischer Wertorientierungen konstatiert hat, betont Helmut Klages seit den 1980ern, zunächst in Analogie zu Inglehart, eine Entwicklung von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu Selbstentfaltungswerten und darauf folgend eine Stagnation des Wertewandels und ein hohes Maß an Instabilität und Orientierungssuche.17 Im Wesentlichen geht man heute deshalb mit Klages davon aus, »den Werteraum als mehrdimensionales Konstrukt […] und komplexe Wertekonstellation in Form spezifischer, ausdifferenzierter Wertetypen« 18 zu beschreiben. Abb. 8: Schema des Wertewandels19

Quelle: Schema nach Hradil 2002 16 |  Vgl. Philipp Lechleiter, Wertekonstellationen im Wandel, S. 35. 17 |  Vgl. Philipp Lechleiter, Wertekonstellationen im Wandel, S. 36. 18 | Vgl. ebd, S. 36. 19 |  Entnommen aus Stefan Hradil, Der Wandel des Wertewandels. Die neue Suche nach Sicherheit, Ordnung und Gemeinschaft in einer individualisierten Gesellschaft, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP) 4/2002, S. 409-420, hier S. 418.

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3.2 D as R ele vanzsystem der jungen M enschen 3.2.1 »Eigentlich spießig« und »omamäßig« – Der enorme Stellenwert von traditionellen Familienkonzepten Für eine Annäherung an Wertvorstellungen in diesem Sinne hat die Methode der Fokusgruppe ihre Grenzen. Dennoch können Werte über den oben skizzierten Gesprächseinstieg mit den Bildern rudimentär erfasst werden.20 Anhand der Auswahl der Bilder und dem weiteren Diskussionsverlauf soll im Folgenden beschrieben werden, was welchen jungen Menschen in ihrem Leben wichtig ist, welche Muster sich in der Auswahl erkennen lassen und welche Rückschlüsse diese Analyse zulässt im Hinblick auf die Wertegrundierung der jungen Menschen sowie auf eine mögliche Anschlussfähigkeit dieser an Appelle Pegidas. Das mit Abstand am häufigsten gewählte Bild zeigt eine stereotyp-traditionelle Vater-Mutter-Kind-Kind-Familie. Auf diese Darstellung bezogen sich doppelt so viele Frauen wie Männer und doppelt so viele Beunruhigte wie Unbekümmerte.21 In den Realgruppen war der Stellenwert im Verhältnis gesehen ebenfalls hoch.22 Dieser Befund passt zu den gängigen Erhebungen der Jugendstudien, die »Familie als emotionalen Heimathafen«23 bezeichnen, obgleich bei Jugendlichen die Bedeutung von Familie als zentraler Komponente des »Lebensglücks« eher abgenommen habe.24 Dieser Trend lässt sich bei den hier befragten jungen Menschen nicht feststellen: Familie ist für sie als Sehnsuchtsort geradezu übermächtig, Konflikte werden in diesem Zusammenhang nicht angesprochen25, viele wollen selbst eine Familie gründen, die sich strukturell an der Ursprungsfamilie orientiert. Die Familie wird oft als »natürlich das Wichtigste« bezeichnet, doch wird das bei weitem nicht immer inhaltlich 20 | Vgl. hierzu Kapitel 1.3. 21 | Vgl. hierzu Kapitel 1.3. 22 | Einzelne Gruppen haben diesen Aspekt forciert diskutiert, vor allem die jüngste Gruppe, die wir befragt haben, in Leipzig. Familiäre Prägungen sind sehr präsent. Überraschenderweise spielte die Familie in der Leipziger Beunruhigtengruppe keine große Rolle: Es fiel auf, dass hier Geld und das Jobcenter eine dominante Rolle spielen. 23 | Shell Deutschland Holding (Hg.), 17. Shell-Jugendstudie, Jugend 2015, Zusammenfassung, online einsehbar unter www.ljbw.de/files/shell-jugendstudie-2015zusammenfassung-de.pdf, S. 15 (eingesehen am 30.01.18). 24 | Eine eigene Familie halten für das Lebensglück im Vergleich zu 2010 (76 Prozent) inzwischen aber deutlich weniger Jugendliche (63 Prozent) für erforderlich, ebd. 25 | Seit 2010 (35 Prozent) ist der Anteil der Jugendlichen, die bestens mit ihren Eltern auskommen, noch einmal deutlich gestiegen. Ebenfalls ungebrochen ist die Zustimmung zum Erziehungsverhalten der eigenen Eltern, ebd.

3.  Konventionell, konform, kompatibilitätsorientier t?

gefüllt.26 Manche benennen die Familie ganz selbstverständlich als »Idealbild«, als eine Zielvorstellung, die es zu verwirklichen gelte. Der Umstand, dass immer weniger Kinder aus »traditionellen« Familien, also nicht-geschiedenen Vater-Mutter-Kind-Familien kommen27, wird nicht thematisiert und tut der Idealisierung der Familie keinen Abbruch. Es zeigt sich auch eine Verknüpfung von Familie mit Heimat, die dort sei, wo man sich vorstellen könne, eine Familie zu gründen.28 Zwar wird diese oft als Rückhalts- und Zufluchtsort beschrieben, in erster Linie aber vor allem schlicht und einfach als Selbstverständlichkeit, als etwas, was immer da ist. Familie bedeutet Zuhause, auch im engeren Sinne Gemeinschaft und Zusammenhalt, auffallend selten ist jedoch eine Konnotation mit Liebe als universalem Wert. Anders als in gängigen Jugendstudien wird Familie von den hier befragten jungen Menschen nur selten als Orientierungsgeber oder als wertprägende und vorbildhafte beziehungsweise »vernünftige« Werte vermittelnde Sozialisationsinstanz, interpretiert, sondern in erster Linie als emotionale Quelle wahrgenommen, die eigene Bedürfnisse nach Rückhalt und Geborgenheit befriedigt. Partiell wird dieses Bild insofern ausgeweitet, als dass man in der Familie nicht nur Zusammenhalt erfahre, sondern auch füreinander Verantwortung übernehme: »Das bedeutet, dass man seine Familie niemals im Stich lässt, dass man auch für seine Großeltern sorgt. […] Dass man selber auch Kinder in die Welt setzt und diese Kinder dann auch vernünftig erzieht. Vernünftig erziehen meine ich damit jetzt, die Kinder eine gute Bildung bekommen […]. Vernünftiges Miteinander, Respekt und Toleranz erfahren und das dann auch weitergeben.«

Während die SINUS-Jugendstudie von 2016 bei 14- bis 17-Jährigen zwar ebenfalls übergreifend konstatiert, dass diese an stabilen Familienverhältnissen interessiert seien und bis Mitte 30 eine eigene Familie gegründet haben wollen 29, unterschieden sich die dort unterteilten Gruppen noch im Hinblick darauf, wann sie diese Familie gründen wollen: Nur in den als postmodern bezeichneten Milieus herrsche bereits bei Jugendlichen eine völlig offene Herange26 | Sollten Zitate im Folgenden nicht anders gekennzeichnet sein, sind diese wörtliche Wiedergaben aus den Fokusgruppen. 27 |  Vgl. etwa Eva Schmidpeter und Dietmar Sturzbecher, Familie und Gesundheit, in: Dietmar Sturzbecher u.a. (Hg.), Aufschwung Ost? Lebenssituation und Wertorientierungen ostdeutscher Jugendlicher, Wiesbaden 2012, S. 55-79, hier S. 60ff. 28 | Vgl. hierzu auch Kapitel 4.2.8 29 | Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016? u.a. (Hg.), Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, S. 321ff.

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hensweise an Familiengründung und oft eine latente Beziehungsskepsis vor.30 Diese Unterschiede sind in unseren Gruppen deutlich eingeebneter, das klassische Familienbild wird nur in expliziten Ausnahmefällen infrage gestellt und als »Werbebild« und »nicht mehr zeitgemäß« etikettiert, bezeichnenderweise ausschließlich in den unbekümmerten Gruppen. Hier werden auch Freunde zur Familie gezählt und wird auf die Gleichberechtigung von homosexuellen Paaren mit Kindern verwiesen. Allerdings ist dies die Ausnahme: Auch Menschen, die in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft leben, präferieren ein spießiges, »normales« Familienbild, eine »ordentliche Beziehung«, viele Kinder im eigenen Haus. Obwohl die Diskussionsteilnehmer/-innen nicht unbedingt schon in selbst gegründeten Familien lebten, wurde das Bild der Familie eklatant häufiger ausgewählt als die Abbildung eines Paares ohne Kinder, die in den beunruhigten Gruppen überhaupt nicht benannt wurde. Im Vergleich zur Bedeutung von Freundschaft und Familie spielte eine Zweier-Paar-Konstellation also eine deutlich untergeordnete Rolle. Das Familienideal ist bei den meisten unweigerlich mit einem eigenen Haus verknüpft. Das Eigenheim wird als das, »was ich immer haben will«, bezeichnet. »Familie und ein Haus und Gemütlichkeit und ja, eigentlich ist das spießig […] dieses traute Eigenheim so, das ist, glaube ich, schon was, was ich irgendwie erstrebenswert finde.« Der »Traum vom Spießer-Eigenheim« wird zwar in den unbekümmerten Gruppen punktuell als bieder und »omamäßig« perzipiert, in ironisierter Form aber dennoch vertreten und als Sehnsuchtsort gezeichnet. In der Ironisierung der eigenen Prämissen und Wünsche zeigt sich indes ein wiederkehrendes Muster der als unbekümmert und frei rekrutierten Gruppen: Man markiert sprachlich, dass man sich bewusst ist, dass den geäußerten Vorstellungen etwas »Spießiges« anhaftet, etwas, das man intuitiv vielleicht eigentlich ablehnen sollte, sich aber dennoch gleichzeitig als »sicheren Ort«, als Idylle, wünscht. Schließlich sei das »so ein Mentalitätsding«, so ein »Gefühlsding«. Diese Ironisierung, die stellenweise als Mittel der Kontingenzbewältigung (das meint hier, die allgemeine Unsicherheit des Lebens handhabbar zu machen) oder bewusste Brechung bei gleichzeitiger Adaption von Erwartungshaltungen und gesellschaftlichen Konzepten erscheint, findet sich in den Gruppen der Beunruhigten kaum. Hier erscheint es legitim, sich das Spießige zu wünschen, weil es eben gar nicht als spießig gilt.31 30 | Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 327. 31 | Ein ähnliches Sprachschema ist auch bei anderen Themen zu beobachten. Eine Dresdner Teilnehmerin findet, dass, »egal wie merkwürdig Russland ist«, dort eine »tiefe Gemeinschaft« existiere, die sie erstrebenswert findet. Sie weiß also, dass durch das von ihr gewählte Bild in der Gruppe bestimmte (negative) Assoziationen aufgerufen werden, erwähnt das auch, um Reflexionsvermögen zu zeigen, argumentiert dann aber doch für das gewählte Bild. Kritik an der gewählten Darstellung im Vorfeld zu entkräften, ist

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Demgegenüber belegt das Bild, das mit Freundschaft assoziiert wird, Platz fünf in der Häufigkeit der Auswahl, es besitzt für Frauen mehr Relevanz und wird in den als beunruhigt rekrutierten Gruppen etwas weniger oft genannt als in den anderen Fokusgruppen. »Blut« erscheint den befragten jungen Menschen »dicker als Wasser«: Sie bauen auf Harmonie in der Herkunftsfamilie und pflegen kaum ein soziales Netz jenseits davon als Garant für Stabilität. Freunde werden eher mit »Spaß haben« und »etwas unternehmen« assoziiert, aber auch mit Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Harmonie. »Keinen Stress« haben, ob mit Leuten oder Anforderungen, steht bei vielen Jugendlichen auf der Prioritätenliste ganz oben. Ebenfalls recht häufig, indes wiederum fast nur von Frauen, wurde ein »Waldweg« gewählt, als Sinnbild für Erholung und Ausgleich, unabhängig von der Rekrutierungsform – also ein abstrakter Ort der Harmonie jenseits von Familie und Hobbys. Im Vergleich zur Shell Jugendstudie von 2015 fällt auf, dass Familie in der vorliegenden Untersuchung ein deutlich größerer Stellenwert beigemessen wurde als Freundschaft. Dass enge, persönliche Beziehungen als Stabilitätsanker jenseits der Familie nicht übermäßig oft thematisiert werden, könnte möglicherweise ein erster Hinweis auf die von uns beobachtete fundamental egozentrische Haltung der Jugendlichen jungen Menschen sein, die in den folgenden Kapitel als Ego-Shooter-Mentalität näher beschrieben werden soll,32 denn sie scheinen sich eher auf sich selbst zu verlassen oder auf den Familienverband als auf Freundschaft. Gleichzeitig spricht die Forschung gerade Freundschaftsbeziehungen einen enormen Stellenwert zu, wenn es um das Erlernen von Normen und auch die Aneignung von Werten und moralischen Haltungen geht.33 Denn Freundschaften helfen jungen Menschen, »ihr Orientierungs- und Wertesystem, das ihnen Halt bieten soll und gleichzeitig flexibel genug sein muss, um auf Veränderungen reagieren zu können, in einem Meer der Möglichkeiten heraus[zu]bilden. Aus der mit diesem Drahtseilakt verbundenen Unsicherheit zwischen Verbindlichkeit und Bindungslosigkeit erwachse das Verlangen nach einem Miteinander […]. Es gehe dabei um Beständigkeit, Verlässlichkeit und Geborgenheit, die kein Beruf und kein Sozialstaat derart bieten könnten wie eine Familie. Bei dem konstatierten ›Ende der Ichlinge‹ handelt es sich demnach weniger um reine Nächstenliebe,

eine präsente Strategie: Man zeigt, dass man sich möglicher Kritik gewahr ist, um dann doch für die eigene Entscheidung zu argumentieren. 32 | Vgl. detaillierter dazu Kapitel 5.1. 33 | Bianca Bredow, Freizeit, Medien und Sport, in: Sturzbecher u.a. (Hg.), Aufschwung Ost? Lebenssituation und Werteorientierung ostdeutscher Jugendlicher, Wiesbaden 2012, S. 79-103, hier S. 81.

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P egida -Effekte? sondern um einen pragmatischen ›Beistandspakt‹, bei dem einer dem anderen hilft, damit auch ihm bei Gelegenheit geholfen wird.« 34

Ob unsere Studie allerdings überhaupt den Schluss auf ein »Ende der Ichlinge« zulässt, darauf wird zurückzukommen sein.

3.2.2 Der größte Konsens und die stärkste Scheidungslinie: Urlaub und Geld Die Abbildung einer Palme am Strand wurde nach der Familie am häufigsten ausgewählt und zwar in ausgewogener Verteilung, von Männern und Frauen gleichermaßen, von den Unbekümmerten und Beunruhigten, im Osten etwas häufiger als im Westen. Es ist das Bild, welches den größten Konsens herstellt, wo es keine Ausreißer oder Signifikanzen gibt. Die Palme steht bei einigen im Sinne einer Konsumorientierung für Urlaub und die Möglichkeit, abzuschalten, bei anderen auch als Sinnbild für die Möglichkeit, ferne Länder zu bereisen und andere Kulturen kennenzulernen oder sich als Globetrotter zu inszenieren. Die Tendenz, »die Suche nach der eigenen Identität möglichst weit entfernt vom irdischen Ankerpunkt dieser Identität, dem Zuhause, zu beginnen«35, wie ein Artikel über Urlaubsselfies junger Menschen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung suggerierte, ist allerdings kaum ausgeprägt bei unseren Diskussionsteilnehmer/-innen. Überhaupt wird die Auswahl dieses Bildes vergleichsweise wenig kommentiert, der ferne Ort nicht als Sehnsuchtsort gefüllt, sondern eben als Stellvertreter für die Notwendigkeit und den Wunsch, Urlaub zu machen, interpretiert. Aber mehr auch nicht. Fast ebenso häufig haben die Diskussionsteilnehmer/-innen »Geld« in ihre Auswahl aufgenommen.36 Und hier scheiden sich, überspitzt formuliert, die Geister radikal: In den als beunruhigt rekrutierten Gruppen ist es ein enorm dominantes Motiv, dessen Relevanz im Mangel oft schon als Gruppenkonsens vorausgesetzt wird (»weil Geld haben wir wahrscheinlich alle zu wenig«), in den unbekümmerten Gruppen wurde es kein einziges Mal gewählt. Auch

34 | Marie-Luise Gehrmann und Dietmar Sturzbecher (Hg.), Werte, Zukunftserwartungen und Migrationswünsche, in: Aufschwung Ost? Lebenssituation und Werteorientierung ostdeutscher Jugendlicher, Wiesbaden 2012, S. 21-55, hier S. 25. 35 |  Mein spirituellstes Selfie, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 05.11.2017. 36 | Die Realgruppe einer Berufsschulklasse in Leipzig zeichnet sich dadurch aus, dass sie wie keine andere Gruppe sonst um das Thema Geld kreist. Starke finanzielle Sorgen werden offener thematisiert, vielleicht auch, weil man sich kennt und ein ähnliches Schicksal teilt. Eine Teilnehmerin ist froh, dass ihr jemand ins Auto gefahren ist, weil sie mit der Versicherungssumme den aktuellen finanziellen Engpass überbrücken kann.

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spielte Geld im Osten eine größere Rolle als in den West-Gruppen.37 Wenn die Befragten über Geld sprechen, geht es weniger um Geld als Voraussetzung für Erfolg und Macht im Leben, sondern für die meisten ist Geld schlicht der Ausgangspunkt aller weiteren Vorstellungen, allerdings in einer eher bescheidenden Perspektive: Mit »ein bisschen mehr« Geld ist es »schöner«, Geld entspricht der Befähigung, schöne Dinge erleben zu dürfen. Wohlstand ist für viele nicht selbstverständlich, sondern ein Privileg, das man »genießt«, sich aber stets bewusst ist, dass man sich die Rahmenbedingungen dafür heute erarbeiten muss, um es morgen auskosten zu können. Das SINUS-Etikett »Haben und zeigen« ist bei unseren Diskussionsteilnehmern indes fehl am Platz. Statussymbole spielen keine Rolle, auch nicht das bei Erwachsenen mobilisierende Thema Benzinpreise/Auto oder die bei Jugendlichen bedeutsame Markenkleidung. Die Beobachtung, junge Menschen zeigten ihre Wertvorstellungen expressiv durch Konsumgüter38, bestätigt sich nicht. Im Gegenteil: Gerade Markenfixierung wird unter den Beunruhigten im Osten kritisch diskutiert, es wird von Mobbingerfahrungen berichtet oder sie wird als Anzeichen für die »Verblödung« der Gesellschaft gewertet. Über die Verbindung der Bilder »Jobcenter« und »Geld« treten staatliche Fördermaßnahmen in den Vordergrund und darüber auch die Thematisierung von Chancengleichheit und meritokratischem Leistungsprinzip, das bei den jungen Menschen hohe Anerkennung genießt.39 Vor allem die Abbildung des Jobcenters erregt die Gemüter der Beunruhigten. Sie üben teils heftige Kritik an der Agenda 2010 und den Hartz-Reformen (»Berg nach unten statt Kurve nach oben«) oder am Arbeitsamt, wo man als »Mensch zweiter Klasse« behandelt werde. Auf die Frage, was in Deutschland gut laufe, antworten trotz dieses in fast allen als beunruhigt rekrutierten Gruppen präsenten Lamentos, die Teilnehmer unisono mit materieller Absicherung, die der Sozialstaat in Deutschland garantiere, »was man eigentlich gar nicht so sehr zu schätzen weiß«. Die Aussage »niemand müsse in Deutschland auf der Straße leben«, fällt wortgleich in mehreren Gruppen. Auf Familie, Urlaub, Freundschaft und Geld folgen in der Bildauswahl typische Hobbys und Freizeitbeschäftigungen: Sport (beziehungsweise Fußball, deutlich häufiger von Männern und deutlich häufiger bei den Beunruhigten), Musik (sehr gleichmäßig verteilt), ebenso wie Gaming (fast nur von Männern gewählt). Hier geht es einfach um Spaß, Freizeitgestaltung, »Chillen« und Auspowern. Sport und Musik bieten außerdem die Möglichkeit zur Identifikation mit einer bestimmten Band oder Mannschaft, dies wird vor allem von zwei Dynamo-Dresden-Fans eingebracht, die ihre Verbundenheit mit dem Verein 37 |  Vgl. hierzu auch Kapitel 5.1. 38 | Vgl. Dirk Lange u.a., Politisches Interesse und Politische Bildung, S. 18. 39 | Vgl. das Kapitel 5.1.

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explizit als Heimatliebe beschreiben. Wird Sport über Fußball thematisiert, dann wird – ganz anders als beim Fitnessstudio – die Gemeinschaftskomponente in den Vordergrund gestellt, denn: »Sport schafft, wenn er innerhalb von Vereinen, Organisationen oder Gruppen betrieben wird, einen sozialen Rahmen, der die Integration in soziale Gruppen und soziale Unterstützung fördert.«40 Entsprechend ist Fußball ein Ort, an dem einige Befragte Gemeinschaft und Zusammenhalt erfahren. Betonen die meisten hier zwar den Teamgedanken, dient Fußball im Einzelfall allerdings auch zur Exklusion: So ist der Dynamo-Fan aus Dresden froh, dass sein Team »für sich« spiele und nicht so »multikulti rein gemischt« sei. Auch Fußball ist für ihn quasi ein Medium; es geht ihm weniger um den Sport, sondern darum, dass jedes Land für sich kämpft, die »Ethnien« säuberlich getrennt bleiben. Das von ihm angeführte Beispiel, Dynamo Dresden habe die meisten deutschen Spieler, ist seine Art der Affinität zur Postfaktizität: Er presst sein Vorbild, die Fußballmannschaft, ungeachtet, ob es der Realität entspricht, in sein Wertesystem beziehungsweise Idealbild, um einen Widerspruch, den er nicht aushalten könnte, aufzulösen. Ein sehr lautstark seine Ressentiments artikulierender Beunruhigter aus Leipzig ist ebenfalls fußballbegeistert, engagiert sich ehrenamtlich und schließt dort soziale Kontakte; Fußball verbinde Völker, allerdings betont er im gleichen Atemzug, dass es doch auch um Macht, Erfolg und die Vormachtstellung des eigenen Vereins ginge. Auch er hat starke Assoziationen zum Thema Heimat. Entsprechend dieser Maximen ist er RB-Leipzig-Fan: »Wer das meiste Geld hat, ist oben mit dabei. Das ist eben so.« Diese Aussage besitzt für ihn nicht nur im Fußball Gültigkeit.41 Auch Musiker/-innen wird gelegentlich eine Vorbildfunktion zugesprochen, wie der Dynamo-Fan aus Dresden am Beispiel der Böhsen Onkelz verdeutlicht, die er als Beleg für freie Meinungsäußerung und als Protestmedium anführt, weil sie äußerten, was man sonst nicht sagen dürfe, und damit einen Tabubruch vollzögen. Obwohl die Abbildungen, die Freizeitaktivitäten zeigen, in der Summe häufig genannt wurden, fällt auf, dass die Befragten diese überraschenderweise eher allein ausüben42 als mit Freunden. Das Potenzial der Freizeit zur Ausgestaltung der eigenen Identität wird kaum thematisiert.

40 | Bianca Bredow, Freizeit, Medien und Sport, S. 83. 41 | Diese Aufzählung soll keinesfalls eine rege Vereinsaktivität der jungen Befragten suggerieren. Vgl. hierzu Kapitel 4.2. 42 | Verschiedene Studien zeigen im Gegensatz dazu, dass Jugendliche einen Großteil ihrer Freizeit mit Gleichaltrigen verbringen und dass »Freunde treffen« die am häufigsten ausgeübte Freizeitbeschäftigung Heranwachsender sei, vgl. Bianca Bredow, Freizeit, Medien und Sport, S. 81.

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3.2.3  Was hat es auf sich mit »Vielfalt« und »Toleranz«? Hinter Familie, Urlaub und Geld stand – auf den ersten Blick überraschend – ein Bild, auf dem einander greifende Hände unterschiedlicher Hautfarben abgebildet sind. Wie impliziert wurde das Bild meistens als Symbol für Vielfalt gedeutet. Weiterhin auffällig ist die Tatsache, dass es recht gleichmäßig gewählt wurde, von Männern seltener als von Frauen, jedoch gleichermaßen von Unbekümmerten und Beunruhigten. Vielfalt erscheint damit als erster Wert, der symbolisch über die Bilderauswahl zum Ausdruck gebracht wurde und durch die Zahl der Nennungen hohe Relevanz besitzt. Allerdings zeigt sich auf den zweiten Blick, dass es den meisten Teilnehmenden schwerfällt, diesen Begriff mit konkretem Inhalt zu füllen, sodass oft schon von vorneherein darauf verzichtet wurde. Weiterhin bietet sich das Motiv an, um sozialen Erwartungen innerhalb einer noch fremden, noch nicht durchschauten Gruppenkonstellation rasch und unproblematisch gerecht zu werden, setzt man doch Vielfalt als etwas im Diskurs positiv Konnotiertes voraus. Nur in Ausnahmefällen wird die Darstellung mit etwas Konkretem, beispielsweise dem Engagement bei Amnesty International verknüpft. Attribute, die dem Bild zugewiesen werden, sind »international«, »Diversität«, »pluralistischer Gedanke«, die dann rasch über das vertraute Konzept der Gemeinschaft erläutert werden: »Ich habe viel im Ausland gewohnt und es ist einfach schön, wenn man merkt, dass man da Teil der Gemeinschaft wird. Also, wenn man ankommen kann und wenn man nicht mit Vorurteilen willkommen geheißen wird. […] Und es ist einfach so, dass wir alle in dieser Welt leben und, ja, dass das einfach die Quintessenz ist, dass man sich die Hand reicht.« Häufig ist auch ein diffuser Bezug zum multikulturellen Freundeskreis, in dem der gegenseitige Austausch »interessant« sei aufgrund der unterschiedlichen Positionen und kulturellen Hintergründe. Wird Vielfalt positiv wahrgenommen, äußert sich das darin, dass einem »ein buntes Miteinander«, das sich vor allem im Stadtbild zeige, als bereichernd auffalle oder, ebenfalls überraschend oft (und in Analogie zu Pegida-Fokusgruppen), auf den Bereich »Speisen« und verschiedene Restaurants verwiesen wird, in dem »multikulti« funktioniere. Ansonsten tauchen gerade bei den Beunruhigten, evoziert durch das Stichwort »Vielfalt«, ethnopluralistisch grundierte Argumente auf, die auch auf Toleranz Bezug nehmen: »Multikulti zum Beispiel ist ja nur so ein Stichwort, was ab und zu mal durch die Presse sozusagen fliegt, ne? Und von daher ja, bin ich da halt ein bisschen distanziert, ne? Weil ja jede Kultur hat ja ihren eigenen… ihr eigenes Image. Ja? Und von daher sollte man das auch schützen, ne?« Es gibt aber auch Stimmen, die »multikulti« per se ablehnen: »Multikulti, das kann ja nicht funktionieren. Ich meine, es bilden sich ja Parallelgesellschaften. […] Ich meine, wenn das so funktionieren würde, dann würden die Leute sich ja untereinander vermischen, ne?« In extremer Zuspitzung und an-

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mutender Reflexhaftigkeit wird in Anschluss an Pegida dann das Argument angeführt, wenn man in einem muslimischen Land versuchen würde, eine Kirche zu bauen, »die würden mir aber sonst was dort lehren, ne? Also die tun uns überhaupt nie Toleranz entgegenbringen. […] Wobei dieses Wort Toleranz ist auch ausgelutscht. Ich habe mal im Wörterbuch geguckt, was das wirklich heißt. Das heißt nämlich nicht, andere Dinge zulassen oder dulden, sondern etwas ertragen zu können. Ich bin aber nicht bereit, alles zu ertragen, ja?« 43

Dass Multi-Kulti gelebte Realität sei, die »nicht monoton« ist und »als Bereicherung« empfunden wird, betonen eher diejenigen, die aus einer Familie mit nicht-deutschen Wurzeln stammen und frei rekrutiert wurden. Andere erwähnen Zusammenhalt und Toleranz in einem Atemzug und sind davon überzeugt, dass »Toleranz« und dass »das alles so offen ist« ein positiver Wert in Deutschland sei. Die hier betonte Offenheit wird in den Angstgruppen allerdings auch eher als verordnete Offenheit empfunden: »Darauf [auf Sozialleistungen] hat der [ein Flüchtling] einen Anspruch nach unserem Gesetz. Und da können wir uns aufregen, wie wir wollen, aber es ist nun mal so, weil wir sind offen.« Eine andere Gesprächsteilnehmerin sagt ebenfalls auf die Frage, ob es ihr wichtig sei, was andere über Deutschland denken, dass sie sich wünsche, dass Deutschland Toleranz und Anerkennung finde für sein Verhalten während der Flüchtlingskrise. In einer anderen Gruppe wird betont, das Positive an Deutschland sei eine »erarbeitete und erkämpfte Toleranz, aber eher im Sinne von Nischen zulassen und leben können so. Aber das ist auch ein jahrelanger Kampf gewesen.« Dass sich Vielfalt »historisch bewährt« habe, ist allerdings eher eine Einzelmeinung. Die meisten, die Toleranz als Wert betonen, bezeichnen sich auch selbst als tolerant, um die handlungsleitende Funktion des Werts noch hervorzuheben. Die gegenteilige Ausnahme ist eine als beunruhigt rekrutierte Teilnehmerin aus Dresden, die das Bild ausgewählt hat, um zu betonen, dass sie »nichts gegen Ausländer« habe, sie habe schließlich Freunde auf der ganzen Welt, mit denen sie die gleichen Werte teile. Das Bild kommentiert sie allerdings mit den Worten: »Und ja, das heißt, jetzt bloß, weil die dunkle Haut haben oder so was, heißt ja für mich nicht gleich, dass sie schlechte Menschen sind.« Diese Füllung des Begriffes Vielfalt ist auf mehreren Ebenen interessant: Erstens 43 | Dazu passend Josef Held u.a., Rechtspopulismus und Rassismus im Kontext der Fluchtbewegung, S. 20: Toleranz und Akzeptanz sei eben nicht dasselbe, man könne zwar Menschen unterstützen, die in Not seien, aber »die eigenen Werte im eigenen Land dürfen nicht untergehen, weil das ist der falsche Weg, das führt natürlich zum Fremdenhass«.

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meint sie betonen zu müssen, dass sie keine Animositäten gegenüber Ausländern hege. Zweitens grenzt sie die Möglichkeiten des guten Miteinanders ein auf diejenigen, die den Willen dazu hätten und ein gemeinsames Wertefundament dafür. Dadurch werden Vielfalt und Zusammenleben an exkludierende Voraussetzungen geknüpft, die sich, wie der Zusatz zeigt, vor allem gegen Menschen richten, die nicht ihre Hautfarbe haben, indem sie explizit betont, dass es ja keinen Zusammenhang zwischen Hautfarbe und »gut« und »schlecht« gäbe. Die Unterteilung in gute und schlechte Menschen wird indes auch in einer unbekümmerten Gruppe in Westdeutschland anhand von Gesetzeskonformität vollzogen. Wird der Begriff Toleranz positiv gefüllt, dann in Kombination mit Akzeptanz als Grundvoraussetzung für ein gutes Zusammenleben. Hier zeigt sich ein Kernargument der Debatte: Toleranz als Voraussetzung für Anpassung führt dazu, dass man nicht weiter auffällt, und das scheint das Ziel der meisten Diskussionsteilnehmer zu sein. Diese Haltung wird nur in einer einzigen Gruppe, die in Dresden frei rekrutiert wurde, problematisiert, als ein Vorredner als Kernbegriff das Wort »Einheit« verwendete: »Also, ich finde das Wort Einheit so generell ein bisschen schwierig. Ich glaube, man braucht jetzt auch nicht so eine konkrete Einheit, sondern einfach einen gewissen Toleranz- beziehungsweise Akzeptanzgrad, damit das Zusammenleben funktioniert.« Der prompte Widerspruch, Toleranz habe – übrigens auch auf Pegida bezogen – ihre Grenzen, folgt auf dem Fuß: »Aber muss man versuchen, jeder Gruppe von durchgeknallten Menschen hinterherzurennen, und zu versuchen, denen das Leben recht zu machen?« Es entspinnt sich eine Diskussion, wie man Menschen zu »Toleranz erziehen« könne; dass dies nicht möglich sei, wird zwar vereinzelt geäußert, aber eher mit Unbehagen aufgenommen und als Zynismus kritisiert. Der Konsens liegt darin, dass Toleranz früh gelernt werden müsse, um inkorporiert zu werden, bei »bornierten« älteren Menschen, die »wirklich null offen sind«, sei ohnehin – so merken die jungen Menschen zornig an – Hopfen und Malz verloren. Und so zeigt sich: Weder für den Trend, dass Vorbehalte gegenüber als »Andere« Markierten bei jungen Menschen rückläufig seien, noch dass Vielfalt und eine multikulturelle Gesellschaft im Osten auf eine größere Ablehnung stoßen, haben sich in unserer Untersuchung Hinweise gefunden.44 Bei unseren Diskussionsteilnehmer/-innen ist das Bild einer toleranten Gesellschaft enorm präsent, jedoch ist ihre Einstellung dazu nicht gefestigt, anders als beispielsweise bei NoPegida-Aktivist/-innen, zu denen das Institut für Demokratieforschung im Jahr 2016 eine Studie vorgelegt hat. Hier zeigte sich, dass diese den Toleranz-Begriff sehr offensiv verwendet haben, »um die Gesellschaft 44 | Vgl. Shell Deutschland Holding (Hg.), 17. Shell Jugendstudie, Zusammenfassung, S. 23.

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zu beschreiben, in der man leben möchte. Für viele ist Toleranz eine Selbstverständlichkeit. Es bedeute, offen für andere zu sein als Voraussetzung für eine heterogene Gemeinschaft.«45 Obwohl die Gefahr einer plakativen Verwendung erkannt wird, gehört der Begriff bei ihnen zu einem artikulierten bürgerlichen Selbstverständnis, das durch die Protestbeteiligung noch geschärft wird – eine Tiefenschicht, die das Toleranzsediment unserer Fokusgruppenteilnehmerinnen und Fokusgruppenteilnehmer nicht erreicht. Die Diskussion mit den jungen Menschen um Vielfalt und Toleranz offenbart augenfällig, dass derartige Werte für die Teilnehmenden nur schwer zu füllen sind. Sie können von daher kaum als handlungsleitend interpretiert werden, allerdings ist ihnen das Konzept vor allem durch die mediale Debatte und die gesellschaftliche Diskussion sowie durch die an sie herangetragene Erwartungshaltung durchaus präsent. Sie wissen, dass man sich dazu irgendwie verhalten muss, die meisten flüchten sich deswegen in Vages, die wenigsten – und diejenigen stammen dann aus den Gruppen der Beunruhigten – äußern dezidierte Ablehnung. Mag man den Teilnehmenden, die den Wert von sich aus genannt haben, zwar nicht absprechen, dass er eine Relevanz für sie besitzt, bleibt dennoch unklar, welche Verbindlichkeit und alltagspraktische Relevanz dem Wert der Toleranz wirklich zukommt. Dies müssten vertiefende und methodisch aufs Alltagshandeln fokussierte wissenschaftliche Untersuchungen zu klären versuchen.

3.3 G rösserer R aum für S elbstentfaltungswerte ? Dass Toleranz und Vielfalt über die freie Bilderauswahl so ein großer Stellenwert eingeräumt wurde, könnte zu der Annahme verleiten, dass die ursprüngliche Theorie des Wertewandels, die eine wachsende Bedeutung von Selbstentfaltungswerten prognostiziert hatte, wieder an Virulenz gewinnt. Diese Hypothese soll im Folgenden am Material und in späterer Kontrastierung zur Relevanz von Pflicht- und Akzeptanzwerten überprüft – und, das sei vorweggenommen – falsifiziert werden. Unterschiedliche Studien stellen eine Pluralisierung statt einen Verfall von Werten fest und kommen zusammenfassend zu dem Befund: »Die Ergebnisse zeugen von neuen Wertpräferenzen und zunehmenden Selbstverwirklichungsansprüchen – von Frauen und Männern. Dass der Wunsch nach Individualität und Persönlichkeitsentfaltung, dem Ausprobieren und Ausleben neuer Freiheiten wächst, bedeute jedoch keineswegs, dass ›klassische‹ Lebensziele wie etwa eine glückliche Partnerschaft, gute Freunde oder die Familiengründung ihre Bedeutung verlieren. […] Entgegen dem lange Zeit verbreiteten ›kulturpessimistischen Alarmismus‹, der Warnung 45 | Stine Marg u.a., NoPegida, S. 80.

3.  Konventionell, konform, kompatibilitätsorientier t? vor einem allgemeinen Wertezerfall und Moralverlust, erleben wir vielmehr eine Pluralisierung der Werte.« 46

Dieses Sowohl-Als-Auch zeigt sich auch in unserem Sample, wobei auffällt, dass sehr wenig explizit über Selbstverwirklichung gesprochen wird. Der Alltag mit seinen Anforderungen steht klar im Vordergrund, es geht den jungen Menschen um Greifbares, denn: Wie pragmatisch und, überspitzt, fantasielos und kreativitätsarm sie sind, zeigt sich daran, dass die Bilder, die diffusere Assoziationen wie Wärme, Leichtigkeit, Schönheit um ihrer selbst willen darstellen, selten gewählt wurden. Auch einem zwar ehrenwerten, aber doch nutzlosen Idealismus, können die Teilnehmenden nichts abgewinnen. Ein solches Prinzip könne im Alltag nicht bestehen, Ideale müsse man sich leisten können, »man muss ja einfach realistisch bleiben«. Ebenso wird persönliches Glück auffällig selten explizit thematisiert, und wenn, dann eher über Dinge des Alltags und Hobbys. Glück erscheint als Zufriedenheit in konkreten Situationen, als Zustand der Sorglosigkeit und Unbeschwertheit. Doch gleichzeitig hat auch – anders als in der Shell-Jugendstudie –“Spaß haben« für die hier Befragten einen geringen Stellenwert.47 Dass Hobbys Spaß machten und dass man auch mit Freunden Spaß habe, ist zwar eine durch die meisten Diskutant/-innen legitimierte Position, eine konsumorientierte »Apple-Smartphone-Spaßgesellschaft« wird jedoch gerade von den Beunruhigten verteufelt. Den Werbeslogan »Hauptsache Spaß« sehen sie als »Spiegelbild« einer Gesellschaft, die sie als verblödet und oberflächlich erleben. »Und wenn du nicht alles cool […] findest, dann bist du irgendwie frustriert, deprimiert und was weiß ich nicht alles. Und nie Teil dieser tollen Superspaßgesellschaft. Hach, Deutschland – uns geht’s ja allen so gut. Was nicht stimmt!« Wer in dieser Gesellschaft noch Spaß haben könne, so das Narrativ, der verschließe die Augen vor den wirklich dringenden Problemen. Ein zu den klassischen Selbstentfaltungswerten gehörender Wert, die Gleichheit, erfährt eine explizitere Goutierung in vielen Gruppen, allerdings bleibt der Begriff ähnlich unbestimmt wie Toleranz und Vielfalt. Auch werden seine Grenzen diskutiert und darauf hingewiesen, dass Gleichheit gleichsam Pauschalisierung bedeuten könne, alsdann wird der Wunsch nach Differenzierung geäußert. Konkret thematisiert wird beispielsweise Geschlechtergleichheit, allerdings ausschließlich von Frauen, die überraschend häufig eine Abbildung des Christopher Street Day auswählten. Sie wünschen sich, dass 46 | Vgl. o. V., Wertvorstellungen von Kindern und Jugendlichen heute, in: du-bistwertvoll.info, online einsehbar unter www.du-bist-wertvoll.info/216 (eingesehen am 30.01.2018). 47 | Vgl. Shell Deutschland Holding (Hg.), 17. Shell Jugendstudie, Zusammenfassung, S. 31.

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Homosexualität nicht diskriminiert werde und ärgern sich über Benachteiligung, Ungerechtigkeit und Intoleranz. Daran schließt sich gelegentlich ein Gespräch über die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern an. Obwohl Männer bemerken, dass Rollenbilder, in denen die Frau an den Herd gewünscht wird, »von der Mentalität« her veraltet seien, bedeutet dies eigentlich für keine Teilnehmerin und keinen Teilnehmer, dass sie auch überwunden sind. Eine Teilnehmerin aus dem Westen betont, dass es für Frauen immer noch schwierig sei, Familie und Karriere zu vereinen, wobei sie das eher als Notwendigkeit aus materiellen Erwägungen heraus thematisiert, denn als Teil ihrer Selbstverwirklichung. Ein ebenfalls typischer, den Selbstentfaltungswerten zuzurechnender Wert ist Freiheit, der über die Auswahl des Bildes der Freiheitsstatue auch verhältnismäßig oft angesprochen wurde. Neben dem Bild, das für Vielfalt stand, war es das einzige in relevanter Anzahl gewählte Bild, das einen Wert symbolisiert. Es wurde deutlich häufiger von Frauen gewählt und auch etwas häufiger von den Beunruhigten. Thematisiert wird Freiheit in ihrer Ambivalenz: Freiheit, im Osten auch öfter als Reisefreiheit interpretiert, wird beschrieben als »Freiheitsgefühl«, das sich bei vielen gerade im Urlaub einstelle, »wo man einfach alles andere vergisst«. Etwas grundlegender wird auch Deutschland als Land beschrieben, das »viel Freiraum« und »Möglichkeiten« biete. Auch die Möglichkeit, aufgrund des Internets ortsunabhängig zu arbeiten, ermögliche eine freiere Gestaltung des Berufslebens. In diesem Diskussionszusammenhang offenbart sich erneut die Relevanz des Geldes, nimmt man dieses doch als Mittel wahr, das Freiheit  – hier formuliert als Zielvorstellung  – ermögliche. »Wenn das Finanzielle stimmt, ist das alles ein bisschen leichter. Auch egal, um was es geht, wenn das liebe Geld da ist, dann ist alles ein bisschen leichter.« Individuelle Freiheit im Sinne eines Freiraumes für Selbstverwirklichung wird nur von den wenigen Frauen angesprochen, die dezidiert betonen, bewusst alleine zu leben, um nicht auf jemand anders Rücksicht nehmen zu müssen. Eingeschränkt werde das Freiheitsgefühl im Alltag, so empfinden es viele Frauen, dadurch, dass sie aus Angst vor Übergriffen nicht mehr überall hingehen könnten.48 Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit thematisieren allerdings auch Männer, beispielhaft im Kontext des vereitelten Terroranschlags auf das Fußballländerspiel in Hannover 2016, »dass man sich da unsicher fühlt, auch machtlos, weil a) von den Informationen und dann auch: Wie verhält man sich? Na ja, eigentlich muss man ja so weiterleben. […] Aber das Freiheitsgefühl ist halt immer noch dieses, wenn man jetzt sagt, da gehen wir nicht drauf ein, ich fahre weiter Straßenbahn, dann beruhigt sich das ja erst mal so für einen persönlich.« Die männlichen Teilnehmer der Gruppen sind

48 | Vgl. hierzu auch Kapitel 5.2.

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jedoch entsprechend eher in der Lage, ihr Freiheitsgefühl durch eine bewusste Einstellung und Entscheidung »zurückzuerobern«. Am intensivsten wird Freiheit als Meinungsfreiheit diskutiert. Durch viele (nicht nur die Beunruhigten-)Gruppen zieht sich  – ähnlich wie bei Pegida oft thematisiert – das Motiv, in Deutschland herrsche keine Meinungsfreiheit mehr. Gerade im Zuge der Diskussion, welchen Einfluss Medien auf gesellschaftliche Stimmungslagen hätten, werden konstant Bedenken eingebracht, die Medien seien durch »die Politik« gesteuert und abweichende Meinungen wie etwa von Eva Herrmann oder Thilo Sarrazin würden »mundtot« gemacht.49 Grundsätzlich bedeutet Meinungsfreiheit für die Diskutant/-innen, »frei und wahr« sagen zu können, was man denkt, und das auch rechtlich garantiert zu bekommen, wenn dabei keine Grenzen übertreten werden. Obwohl viele Teilnehmende Diskussionen und Meinungsaustausch im Freundeskreis als wichtig erachten, erwähnen sie in Dresden interessanterweise auch, dass man zu Hochzeiten Pegidas auf der Arbeit habe aufpassen müssen, was man sage, um nicht in Konflikt zu geraten. Hier wird deutlich, dass die Befragten ungern die eigene diskursive Komfortzone verlassen, indem sie in einen wirklich kontroversen Austausch treten. Um sich mit seiner Meinung an die Öffentlichkeit zu trauen, statt mit dieser hinter den Berg zu halten, bedarf es offenbar eines geschützten Raumes und selbst dann agieren sie äußerst vorsichtig. Grundsätzlich äußern die Teilnehmer eine hohe Sensibilität dafür, dass bestimmte Meinungen ihrer Einschätzung nach nicht geäußert werden dürften, ohne gesellschaftlich sanktioniert und als »rechts« etikettiert zu werden, ein Umstand, den auch Pegida massiv thematisiert und beklagt. Dass Meinungsfreiheit grundsätzlich als wichtig erachtet wird, bedeutet im Umkehrschluss allerdings nicht, dass man die Legitimität oder Notwendigkeit von Protest anerkennt: Das ist frappierender Weise nur bei sehr wenigen der Fall, ungeachtet des Rekrutierungshintergrundes. Es ist die Ausnahme, wenn ein Teilnehmer aus Leipzig Protest, in diesem Fall Pegida, als legitimes und notwendiges Mittel der freien Meinungsäußerung beurteilt. Die Teilnehmenden unserer Gesprächsgruppen scheinen damit deutlich weniger protestaffin zu sein als das Gros der deutschen Jugendlichen, von denen im Jahr 2015 immerhin 56 Prozent angaben, sich an politischen Aktivitäten wie Demonstrationen oder Onlinepetitionen beteiligt zu haben50; ein Befund, der in der vorliegenden qualitativen Untersuchung nicht bestätigt werden kann.51 Die meisten unserer Diskutanten sehen Protest deswegen als illegitim an, weil sie unterstellen, die Protestierenden würden keine Inhalte vertreten und die Bühne der 49 | Vgl. hierzu Kapitel 5.3. 50 | Vgl. Shell Deutschland Holding (Hg.), 17. Shell-Jugendstudie Zusammenfassung, S. 26f. 51 | Vgl. hierzu Kapitel 4.2.

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Demonstration nur für Gewalt nutzen. Viele äußern, dass, wenn man schon protestieren müsse, man es dann dort tun solle, wo man niemanden störe. Freie Meinungsäußerung im Sinne einer Beteiligung an Protest wird von den jungen Menschen nicht als schützenswert beurteilt.52

3.3.1 (Politische) Bildung als Schnittstelle und Scheidelinie zwischen Selbstentfaltungs- und Pflichtwerten Dass Bildung analog zu prosozialen Werten wie Gerechtigkeit und Respekt als Wert erforscht wird, muss nicht unmittelbar einleuchten. Vielmehr scheint es plausibler, Bildung als eine Art Humboldt’scher Charakterschule, vor allem aber auch als Versprechen zu interpretieren.53 Dass Jugendliche den Schlüsselwert von Bildung erkennen, ist ungeachtet dessen fast schon ein Allgemeinplatz und wurde auch bei uns in allen Gruppen sichtbar, allerdings wird das Thema unterschiedlich adressiert: Gleich oft gewählt werden Abbildungen, die »Schule« zeigen und eine von Jan Böhmermann, dieser allerdings ausschließlich in den als unbekümmert rekrutierten Gruppen. Er wird dort in erster Linie mit Meinungsfreiheit und politischer Satire assoziiert.54 Er sei ein »Mann mit Mission«, um die Jugend durch Humor wieder zu politisieren. Böhmermann wird vor allem als Medium zur politischen Information und Bildung beschrieben, die allerdings – so wird betont – trotzdem noch Spaß machen muss. Der Konsens, sich über Satire zu informieren, findet unter den Unbekümmerten allgemeine Zustimmung, vereinzelt wird zudem betont, dass Satire eben nicht jeder als solche erkenne, Dummheit und Satire werden als antagonistische Konzepte definiert. Böhmermann steht für eine leicht verdauliche Form der Auseinandersetzung mit Politik unter dem »Schutzmantel der Ironie«.55 Ironie ist hierbei ein Mittel, mit dem man sich die Welt erschließen möchte, jedoch weiß, dass dies vollumfänglich nicht gelingen wird. Die Ironie nimmt im Scherz gewissermaßen alles ernst, dient aber auch der Kontingenzbewältigung, weil sie sich um eine Beschreibung der Welt bemüht, auch wenn sie darum weiß, dass ihr Vokabular dafür vorläufig ist.56 Zudem war das Sprachmuster der Ironie  – wie oben schon gezeigt beim »Spießer-Eigenheim«  – in den als unbekümmert rekrutierten Gruppen verbreitet, um geschützter über Dinge sprechen zu können.

52 | Vgl. hierzu Kapitel 4.1. 53 | Vgl. hierzu eingehender Kapitel 5.1. 54 |  Zur Funktion von Satire im Kontext des Politikverständnisses vgl. auch Kapitel 4.2.2. 55 | Vgl. hierzu Kapitel 4.2.2. 56 | Vgl. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt 1989, S. 129-147.

3.  Konventionell, konform, kompatibilitätsorientier t?

Das Thema Bildung, wenn es nicht auf politische Bildung und Böhmermann verengt wird, findet in allen Gruppen große Resonanz und Akzeptanz. Vor allem diejenigen, deren Schulzeit noch nicht weit zurückliegt, benennen Schule57 als ganz konkreten Ort mit der praktischen Aufgabe, einen auf das Leben vorzubereiten, teilweise auf »Lesen und Schreiben« Lernen begrenzt oder auf Bildung »als Tor zur Welt« überhöht. Schule ist für manche allerdings nicht nur Wissensvermittlung, sondern auch Teil der Erziehung. Bildung wird von ihnen als Bereich beschrieben, der in Deutschland gut aufgestellt sei, und der einem Menschen oder einer Nation im Sinne von wissenschaftlichem Fortschritt Macht verleihen, aber auch Ängste abbauen und den Horizont erweitern könne. Der Zugang zu Wissen wird allgemein als Privileg wahrgenommen, Bildung als Voraussetzung, etwas im Leben zu erreichen.58 Gerade in der frei rekrutierten Gruppe in Dresden wird politische Bildung als Allheilmittel gegen Pegida angesehen, ähnlich wie das auch bei den NoPegida-Demonstrant/-innen der Fall war. »Ich sage nochmal: Politische Bildung rausheben! […] Also, es kann nicht jeder so aufgeklärt sein wie ein Akademiker, das ist natürlich klar, aber die Frage ist: Wie kann man dann dem Menschen mit dem einfachen Geist… dem das erklären, dass er es auch versteht? Ich glaube, das ist gar nicht zu 100 Prozent möglich.« Der überheblich vorgetragene Appell benennt also auch gleich die Grenzen seiner Wirkmächtigkeit, da man politische Bildung niemandem aufzwingen könne.

3.3.2 Rückkehr zu »Recht und Ordnung«? Die hohe Bedeutsamkeit von Pflicht- und Akzeptanzwerten Als in den 1990er Jahren eine schrittweise Wiederkehr der traditionellen Werte bei den unter 30-Jährigen beobachtet wurde, distanzierte sich Elisabeth Noelle-Neumann von ihrer ursprünglichen Ansicht, im Voranschreiten der Selbstentfaltungswerte ein Zeichen für eine zunehmend egoistische Grundhaltung der Bevölkerung gesehen zu haben. Doch kam die Tatsache, dass die Entwicklung der Selbstentfaltungswerte einen Einbruch erfuhr und Werte wie Ordnungsliebe und Fleiß, Gehorsam und Unterordnung wiederkehrten, für viele unerwartet.59 Rasch sprach man von einem »Rückgang der Idealisten«, deren Werteprofil durch starke Selbstverwirklichungswerte geprägt sei.

57 | Schule wird in den Gruppen der Beunruhigten fast doppelt so oft benannt, was ein Hinweis darauf sein könnte, wie wichtig Schule als orientierungsgebende Instanz ist oder welchem Wert eine »ordentliche« Bildung beigemessen wird, betont man doch gar zu oft, dass die Geflüchteten formal gering Gebildete oder gar Analphabeten seien. 58 | Vgl. hierzu eingehender Kapitel 5.1. 59 | Vgl. Philipp Lechleiter, Wertekonstellationen im Wandel, S. 39.

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P egida -Effekte? »Pragmatisch und unideologisch – so charakterisierte die Shell Jugendstudie 2002 die Jugend, die sehr individuell einen Platz in der Gesellschaft suchte und optimistisch war, diesen auch zu erreichen. Auffällig war eine Neuorientierung der Werte weg von den ›postmaterialistischen‹, mit Selbstverwirklichung und Lebensgenuss verbundenen Orientierungen, hin zu einer Synthese dieser Orientierungen mit eher traditionellen Vorstellungen.« 60

Die Nachfolgestudie von 2006 konstatierte eine Fortsetzung dieser Grundhaltung und nahm die Tatsache, dass 64 Prozent großen Wert auf Respekt vor Gesetz und Ordnung legten, als Beleg für eine stabile Wertewelt der Befragten. Es scheint also, dass zu diesem Zeitpunkt eine Rückkehr der bürgerlichen Werte zu beobachten war, bei gleichzeitiger Weiterexistenz hedonistischer Wertvorstellungen, und dass vor allem bei der Jugend traditionelle Wertorientierungen eine deutliche Aufwertung erfahren haben. Auch das Erstarken von Sekundärtugenden wird mit dem Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung in einer zunehmend komplexen Welt erklärt; ob dieser Prozess allerdings wirklich eine Internalisierung bürgerlicher Werte bei Jugendlichen bedingt, bleibt ungeklärt.61 Bei unseren Befragten lässt sich gleichwohl eine pragmatische Haltung konstatieren, die ganz massiv die Bereitschaft beinhaltet, sich an Leistungsnormen zu orientieren. So kann die herausragende Bedeutung, die Leistung in den Diskussionsrunden hatte, den skizzierten Befund plausibel erscheinen lassen.62 Lamenti über mangelnde Leistungsbereitschaft der Jugend erscheinen deswegen in Bezug auf unsere Teilnehmenden völlig fehl am Platze. Die meisten finden zwar eine gute Work-Life-Balance erstrebenswert, glauben aber auch, durch Leistung ihre eigene Position und ihren Lebensstandard verbessern, Hobbys finanzieren (in Ausnahmefällen auch Sinnstiftung erfahren) zu können. Auf den Punkt gebracht: In Deutschland könne »man etwas erreichen, wenn man will,« sich »hochmausern«. Es ist eine durchaus typische Aussage, wenn schon in der Vorstellungsrunde in Bezug auf die aktuelle berufliche Position betont wird, »das hat mir […] nicht gereicht«, deswegen gehe man nochmal zur Schule und mache sein Fachabitur parallel zum Beruf. Das sei zwar stressig, aber dennoch der richtige Weg, man wolle »mehr«. Dass Frauen erwähnen, sie verspürten Druck, Karriere machen zu müssen, damit das 60 | Vgl. Flyer zu Shell-Jugendstudie, online einsehbar unter www.shell.de/ueberuns/die-shell-jugendstudie/multimediale-inhalte/_ jcr_content/par/expandable list_643445253/expandablesection.stream/1456210165334/d0f5d09f09c6142df0 3cc804f0fb389c2d39e167115aa86c57276d240cca4f5f/flyer-zur-shell-jugendstudie2015-auf-deutsch.pdf, (eingesehen am 01.02.2018), vgl. auch Lechleiter, S. 40. 61 |  Lechleiter, Wertekonstellationen im Wandel, S. 41. 62 | Vgl. hierzu auch Kapitel 5.1.

3.  Konventionell, konform, kompatibilitätsorientier t?

Geld für die Familie reiche, ist eine Ausnahme. Die übergroße Mehrheit sieht eine Karriere als Chance an, auch die Schüler legen enormen Wert darauf, gefördert zu werden, »Chancen zu haben«. Singulär sind zwei als beunruhigt rekrutierte Teilnehmer aus Dresden, die das Leistungsdenken der Gesellschaft beziehungsweise dessen Produkt, das Streben nach einer gehobenen Position, nicht nachvollziehen können. »Ich verstehe nicht, warum in Deutschland alle in einem Chefsessel sitzen wollen. […] So, dann hast du dein Bauunternehmen, aber du hast niemanden, der Bagger unten fahren will, weil die alle halt auf dem Chefsessel sitzen wollen. Wie soll denn das später funktionieren?« Diese Aussage impliziert nicht mangelnde Leistungsbereitschaft, sondern Unverständnis darüber, warum alle in der Hierarchie aufsteigen wollen. Insgesamt ist Faulheit ein absolut sanktionierter Gegenbegriff zu Leistung in den Diskussionen. Sie erfährt eine nahezu wütende Verachtung und eine nochmal zugespitzte Komponente, wenn sie Geflüchteten zugeschrieben wird, denn der Leistungsaspekt ist auch in der Diskussion über Flüchtlinge zentral:63 Wer etwas leistet und »sich voll reinhaut«, wer lernen will, den sieht man mit anderen Augen, der wird nicht mit Kategorien der Fremdheit beurteilt, sondern im eigenen Schema der Meritokratie. Mehr reflexhaft geben wenige zu bedenken, dass es auch faule Deutsche gäbe. Neben dem dominanten Bild des »faulen Geflüchteten« ist auch der »faule Politiker«, der Unsummen fürs Nichtstun verdiene, ein häufiger Gegenstand der Ereiferung. Der Versuch, »einfach so durchzukommen«, sich durchzumogeln, ist eine Haltung, für die niemand Verständnis auf bringt. Hier, wie an vielen anderen Stellen, wird vehement eingefordert, dass alle nach den Regeln spielen und auch etwas »opfern« müssten. Eine zweite tragende Säule des Pflicht- und Akzeptanzwertedenkens ist der Aspekt »Sicherheit«, der viel Raum in den Gesprächsverläufen einnimmt, obwohl er in der Auswahl der Bilder eher eine nebengeordnete Rolle spielt;64 so wird das Thema Innere Sicherheit kaum über die präsentierte Abbildung eines Polizeieinsatzes adressiert  – eine auffällige Diskrepanz zum weiteren Gesprächsverlauf.65 Der Antagonismus Sicherheit – Angst war in den Gesprächen sehr präsent, allerdings weniger über die Auswahl der Bilder: Auch ein Bild von Soldaten wurde selten gewählt, interessanterweise ausschließlich von Frauen und auch einmal im positiven Sinne als Karriereoption und sinnvolle Institution zum Schutz des Landes. Die IS-Krieger, die immer mit Terror assoziiert wurden, wurden ausschließlich in den beunruhigten Gruppen gewählt, 63 | Vgl. hierzu Kapitel 5.2. 64 |  Vgl. hierzu detaillierter Kapitel 5.4. 65 | Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Bitte, sich Bilder auszusuchen, die einem wichtig sind, nicht unbedingt dazu einlud, die Visualisierung der Polizei zu wählen.

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allerdings insgesamt selten. Rein assoziative Bilder, die Angst hätten symbolisieren können, wurden gar nicht gewählt. Aspekte, die die eigene Sicherheit bedrohen, sind in erster Linie Flüchtlinge, Drogen und Problemstadtviertel. Enorm viele Frauen schildern Bedrohungssituationen durch Flüchtlinge, Männer berichten über Sorge um ihre Partnerin. Die Erzählung, sich nicht mehr sicher zu fühlen, wenn man durch die Stadt gehe, sogar »richtig Angst teilweise« zu haben, ist auch bei Frauen präsent, die ad hoc Pflicht- und Akzeptanzwerten keine Bedeutung beimessen, sondern sich aufgeschlossen-weltbürgerlich geben: »Was mir noch persönlich jetzt aufgefallen ist, ist, dass es schon mehr sexuelle Belästigungen gibt, draußen. Also, das ist wirklich so. Wie gesagt, ich bin sehr feministisch, bin auch sehr links. Ich will überhaupt nicht sagen, dass Flüchtlinge irgendwie übergriffiger sind als deutsche Männer, so, ja? Aber es ist wirklich so, dass es nachts eben…, dass ich mich öfter unsicher fühle.« Eher die Ausnahme ist eine Teilnehmerin aus Duisburg, die, nachdem sie in der Schule fast Opfer von Gewalt geworden wäre, einen Thaibox-Kurs im Sportverein besuchte, um sich ihrer eigenen Stärke bewusst zu werden und sich in aggressiven Situationen unter Kontrolle zu haben, »nach dieser ganzen Thaibox-Geschichte habe ich dann gedacht, also, auch wenn ein Hai vor mir stehen würde, ich habe keine Angst«. Das Bedürfnis nach Kontrolle ist ansonsten vor allem eines, das an den Staat adressiert wird. Obwohl man sich bewusst ist, dass Terror etwas ist, was in letzter Konsequenz nicht verhindert werden kann, sieht man doch den Staat in der Verantwortung, ein Sicherheitsgefühl zu schaffen. Das Bedürfnis nach autoritären Krisenlösungen, überhaupt die Faszination für Macht und Stärke, teilen viele Fokusgruppenteilnehmer mit den Pegida-Demonstranten.66 Die Bewunderung einiger Männer, die das Bild von Putin gewählt haben, für eine autoritäre Führungsperson ist augenfällig. Ein in Russland geborener Dresdner bewundert Putin nach eigener Auskunft »heimatbedingt«; die Tatsache, dass er ihn nicht nur als »hochintelligent«, sondern zugleich auch als »gefährlich« charakterisiert, tut seiner Bewunderung keinen Abbruch. Andere Ausführungen zu Putin zeigen eine Machtaffinität, den Wunsch, zu den Starken und Großen gehören zu wollen, die anderen einfach »den Gashahn zudrehen« können. Der Keim der Bewunderung von Putin liegt gerade in der Faszination seines scharfen Vorgehens, seiner strategischen Intelligenz und der durchaus gesehenen Gefahr, die davon ausgehe. Der Wunsch nach Stärke, den man eher auf Dritte kapriziert, tritt zurück hinter dem Bedürfnis, einen unbedingt sicheren und stabilen Ort zu haben. Dieser Zusammenhang ist unabhängig von der Rekrutierungsform, dem Ort, wo wir geforscht haben, und dem Geschlecht sehr ausgeprägt. »Ich habe halt diesen einen Rückzugsort, und das Schöne ist diese Sicherheit. Man weiß: Egal 66 | Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora?, S. 29ff.

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was passiert, egal was, es gibt dieses Nest, und das kann einem niemand nehmen. Das ist irgendwie sehr beruhigend.« Dieser Wunsch wird vor allem an den Ort gerichtet, den die Diskutanten als ihre Heimat begreifen. Für viele ist Heimat der Raum, an dem man sein Kind großziehen möchte, ein Ort, an dem man sich sicher fühlt, der Stabilität gewährleistet. Die Stadt, in die es einen immer wieder zieht, ist ein Sicherheitskriterium – innerhalb dieses begrenzten Wohlfühlraumes möchte man dann nur noch in einen anderen Stadtteil ziehen, um sein Sicherheitsgefühl in konzentrischen Kreisen zu steigern und das Problemviertel, in dem man momentan wohnt, zu verlassen. Ein Befragter möchte räumlich ausweichen anstatt sich »zur Wehr zu setzen«, denn »dann ist man selber erst mal wieder der Arsch im Endeffekt«. Die Sicherheitslage in seinem Stadtteil habe sich verschärft, weil viele Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenlebten und das Drogen und Kriminalität begünstige. Es sei ein Kampf um die Straße entbrannt, von der er sich verdrängt fühle. Seine Konfliktlösungsstrategie ist Ausweichen statt Konfrontation. Andernorts wird so eine Beschreibung auf die politische Ebene gehoben, und die Verantwortlichkeit der SPD-dominierten Stadtpolitik als Verfechter der Agenda 2010, den »größten Arbeiterverrätern«, kritisiert. Sicherheit bleibt also eines der Themen, die enorm anschlussfähig an von Pegida vertretene Positionen sind. Denn »die politischen Eckpfeiler, für die ein großer Teil der P egida -Teilnehmer votiert, lassen sich zunächst unter den Ausdruck law and order subsumieren. Auf die Frage, welche drei Bereiche in unserem politisch-gesellschaftlichen System eine größere Bedeutung haben sollten, lautet die am häufigsten genannte Trias: ›Recht und Ordnung‹ (56 Prozent), ›politische Selbstbestimmung Deutschlands‹ (55 Prozent) und ›deutsche Leitkultur‹ (49 Prozent).« 67

Das Bedürfnis nach Kontrolle und Stabilität korreliert vor allem bei den Beunruhigten mit Wünschen nach Ordnung und punktuell sogar »Reinheit«. Vereinzelt zeigt sich dieser Wunsch in der praktischen Ausgestaltung des eigenen Raumes, der sauber, ordentlich und aufgeräumt zu sein hat. Diese Ansprüche potenziert ein befragter Jungmanager aus der Tech-Branche zum Lebensprinzip, das sich als Lifestyle gegen jeden Ballast in der eigenen Wohnung oder im Eigenheim wendet: »Für mich kann es gar nicht wenig genug sein.« Was er besitzt, ist dafür hochwertig. Zwei Dresdner gehen sogar so weit, dass sie an Or67 |  Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora?, S. 29. »Die Freiheit des Einzelnen, der Umwelt- und Tierschutz sowie der Meinungspluralismus sind deutlich abgehängt mit ca. 12, 10 und 8 Prozent Zustimmung. Freie Marktwirtschaft (7 Prozent) und Gewaltenteilung (6 Prozent), Kernpunkte des Liberalismus, sind den Befragten noch unwichtiger; Gleichstellung, Minderheitenschutz und kulturelle Vielfalt werden nur sporadisch befürwortet.«

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ten, die sie als heimisch wahrnehmen, ein »reines Gefühl« verspüren, das dem Ort zusätzliche Stabilität verleiht. Die Frage nach Sauberkeit wird vor allem am öffentlichen Raum und an der Präsenz von Geflüchteten festgemacht. Ein Leipziger differenziert allgemein nicht, wie viele andere, zwischen Deutschen und Geflüchteten, sondern zwischen denen, »die ordentlich sind« und denen, »die kannste in der Pfeife rauchen und im nächsten Bus sonst wohin schicken«. Ordentlich ist jemand, der sich an die Regeln hält und der ein ähnliches Relevanz- oder Wertesystem hat. Man könne verstehen, wenn sich Menschen gegen eine Flüchtlingsunterkunft empörten, durch die die »Nachbarschaft verschmutzt wird«. In sehr pauschaler Weise wird in manchen Gruppen die Veränderung des Stadtbildes als unordentlich und störend beschrieben. »Dort ist alles voll Türken und Russen. Und wenn ich dort einkaufen gehe, an den Kassen sind übelste Schlangen. Und man versteht aber kein Wort. […] Und die schubsen dann einen auch wirklich weg […], das ist richtig penetrant geworden, finde ich!« In dieser Debatte zeigt sich, welch großer Stellenwert guten Manieren zugemessen wird. Berichtet wird auch von Integrationsklassen, die auf dem Schulhof geklaut und geschrien hätten, sodass für die anderen Klassen kein Unterricht möglich gewesen sei, ein Verhalten, das als »extrem« und »richtig nervig« eingestuft wird. Ähnlich wie bei anderen Thematisierungen von Geflüchteten und Ausländern generell gibt es in Reaktion auf solche Erzählungen stets eine Stimme, die darauf hinweist, dass bei ihm im Haus ein »total freundlicher« (christlicher) Syrer wohne, »ich habe noch nie einen Deutschen gesehen, der so oft ›Bitte‹ und ›Danke‹ sagte.« Dennoch dominiert das diffuse Gefühl, etwas habe sich zum Unguten hin verändert.

3.3.3 »Weil wir einfach unterschiedlich ticken« – Deutsche Tugenden und die Leitkulturdebatte Die Diskussion um Höflichkeit leitet direkt dazu über, was die Diskussionsteilnehmenden als »typisch deutsch« etikettieren, welchen Eigenwert sie Traditionen beimessen und inwiefern sie Stolz empfinden, deutsch zu sein. Eine Befragte äußert, dass man mit Menschen, mit denen man Traditionen teile, besser auskomme als mit anderen. »Keine Ahnung, wie gesagt, dann wieder diese Tradition und so, weil man merkt das ja auch, von wo… also selbst von den Bundesländern her merkt man ja, dass man hier irgendwie mit den Menschen besser klarkommt, also als jetzt zum Beispiel mit den Bayern oder so, weil wir einfach unterschiedlich ticken.« Diese Aussage steht im Kontrast zur Mehrheit junger Menschen, die beispielsweise in der SINUS-Jugendstudie befragt wurden. Sie stehen dem Begriff »Nation« größtenteils neutral gegenüber, Nationalsymbole und -gepflogenheiten sind ihnen nicht wichtig, wohl rufen sie aber ebenso wie unsere Teilnehmer/-innen nationale Stereotype auf. Auch in unseren Gesprächsgruppen gibt es zahlreiche Äußerungen, was man

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als christliche – gemeint ist: deutsche Tradition – empfindet, die aber nur im Einzelfall über das stereotype Bild der Bratwurst (ergänzt durch Kartoffeln, Brot und Bier) präsentiert werden: »Die […] steht für mich so ein bisschen für Tradition und Werte. Also das ist jetzt nicht die Bratwurst alleine oder so, aber wir Deutschen haben halt viele gute Werte, finde ich. Und wir versuchen die auch immer weiterzugeben. Ist halt manchmal schwierig, dass andere das nicht annehmen.« Dass der missionarische Impuls so offen ausgesprochen wird, die »guten, deutschen Werte« weitergeben zu wollen, ist zwar eine Seltenheit, implizit finden sich jedoch auch an anderen Stellen zahlreiche Verweise auf »preußische Tugenden« wie Fleiß, Ordnung, Pünktlichkeit und das nicht nur bei den Beunruhigten. Es mutet fast paradox an, dass die in den Gruppen verfochtenen Werte und Leitbilder teilweise in ironischer Form als typisch deutsch aufgegriffen werden, ohne dass angemerkt würde, dass man selber diese Werte vertritt. Und so klingt die mal wieder im April 2017 von Thomas de Maizière oder jüngst von Sigmar Gabriel68 aufgeworfene Frage nach einer deutschen Leitkultur, danach »wer wir sind«, immer wieder auch in den Diskussionsgruppen durch. »Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark«, schrieb de Maizière.69 Ein klar umrissenes Wertfundament, anhand dessen man urteilt und das sich konkret ans »Deutschsein« und an Traditionen orientiert, ist jedoch die Ausnahme in unseren Gruppen. Etwas anders verhält es sich mit Patriotismus, zu dem de Maizière äußerte: »›Wir sind aufgeklärte Patrioten. Ein aufgeklärter Patriot liebt sein Land und hasst nicht andere. Auch wir Deutschen können es sein.‹ Es habe in der Vergangenheit zwar Probleme mit dem deutschen Patriotismus gegeben. Doch das sei vorbei, vor allem in der jüngeren Generation. ›Unsere Nationalfahne und unsere Nationalhymne sind selbstverständlicher Teil unseres Patriotismus: Einigkeit und Recht und Freiheit.‹« 70

Mit dieser Meinung steht der Innenminister an der Seite mehrerer Fokusgruppenteilnehmer/-innen: Eine Abbildung der Fanmeile mit Deutschlandfahnen wurde von Frauen mehrfach ausgewählt, vielleicht überraschenderweise von den Unbekümmerten, unter denen eine Teilnehmerin findet, man müsse eigentlich patriotisch und stolz auf sein Land sein. Diese Haltung entspricht auch dem von SINUS erhobenen Befund, »dass die überwiegende Mehrheit 68 | Sigmar Gabriel, Sehnsucht nach Heimat. Wie die SPD auf den Rechtspopulismus reagieren muss, in: Der Spiegel 51, 16.12.2017, S. 30-33. 69 |  Vgl. Thomas de Maizière, »Wir sind nicht Burka«, in: Spiegel Online, 30.04.2017, online einsehbar unter www.spiegel.de/politik/deutschland/thomas-de-maizieres-leitkulturwir-sind-nicht-burka-a-1145500.html 30.4.2017 (eingesehen am 02.02.2018). 70 | Vgl. Thomas de Maizière, »Wir sind nicht Burka«.

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der Deutschen sich wieder positiv zur eigenen Nation bekennt«.71 Fußball erscheint hier als »Moment des Erlebbarwerdens nationaler Identität für den jugendlichen Mainstream […]. Vereinzelt klingt im Zusammenhang mit diesem Thema auch Kritik daran an, dass ein Nationalbewusstsein und erst recht Nationalstolz in Deutschland nicht unbefangen geäußert werden können.« 72 Demgegenüber wird nur selten von den von uns Befragten Patriotismus in Verknüpfung mit Pegida kritisch beurteilt, da es »nationalistisches Denken« anfache. Innerhalb dieser Debatte ist auch der Raum, in dem die Jugendlichen leben, nicht ganz unwichtig: Bilder, die Regionales und symbolhafte Bauten abbilden, werden durchaus gewählt und wer die lokale Identität besonders herausstreicht, so scheint es, ist weniger mobil (sowohl weniger mobilitätswillig als auch mobilitätsfähig) und stärker an Stabilität interessiert. Allerdings ist der so beschriebene Raum im weitesten Sinne kein historischer Raum. Geschichte spielt eine untergeordnete, eher unterschwellige Rolle. Die erfahrungsgemäß von Erwachsenen der gesellschaftlichen Mitte oft gewählte Abbildung des »Kniefall« Brandts bedeutet den jungen Menschen nichts, anders als der Mauerfall, der ausschließlich im Osten gewählt wurde. Das zerstörte Dresden wird zwei Mal gewählt und steht dann als Sinnbild für die Verpflichtung, aus der Geschichte zu lernen.73 Ansonsten scheint eine historische Verankerung bei den Jugendlichen bei der Suche nach Orientierung überhaupt keine Rolle zu spielen. Werden Analogien zur Zeit des Nationalsozialismus gezogen, so geschieht dies – man wird auch hier an Pegida und die Forderung, den »Schuldkult zu beenden« 74, erinnert –, indem die aktuelle Situation mit dem Jahr 1933 71 | Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 412. 72 | Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 422. 73 | Im Gegensatz dazu steht der Befund von SINUS, dass Interesse und Wissen zu Geschichte begrenzt seien. Allerdings Geschichte »lebensweltübergreifend meist mit negativ besetzten historischen Ereignissen (der deutschen Vergangenheit) […], vor allem mit dem Zweiten Weltkrieg« verbunden werde. Im Gegensatz zu unseren Ergebnissen konstatiert das SINUS-Institut, dass viele Jugendliche aus bildungsnahen Schichten das Thema interessant fänden. »Junge Menschen aus bildungsfernen Lebenswelten sind wenig über geschichtliche Themen informiert und sehen historisches Wissen meist nicht als besonders wichtig an. Lediglich Sozialökologische und Expeditive schreiben der Geschichte einen Stellenwert zu, um aktuelle Ereignisse besser verstehen zu können. Alle Jugendlichen sind sich aber einig, dass man aus den negativen Ereignissen der Vergangenheit lernen sollte, damit sie sich nicht wiederholen«, Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 472. 74 | Vgl. Katharina Trittel, »Ebenso typisch wie verlogen.« Zum Tod von Hans Mommsen, in: Julia Bleckmann u.a. (Hg.), Die neue Unordnung. Jahrbuch des Göttinger Institutes für Demokratieforschung 2016, Stuttgart 2017, S. 353-357.

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verglichen wird, als klare Feindbilder politisch mobilisiert hätten. Größtenteils sieht man jedoch keine Notwendigkeit, sondern eher eine Abneigung, sich für die Geschichte »zu entschuldigen«, vielmehr möchte man das abschütteln, weil es »schon so lange her ist«. Dass das Erbe der deutschen Geschichte »mit all ihren Höhen und Tiefen« 75 ebenfalls zur deutschen Leitkultur gehöre, wie de Maizière meint, zeigt sich in unseren Gruppen kaum. Verbreitet ist die Einschätzung, der Verweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands werde als Druckmittel gegen Deutschland verwendet, um eine positive Haltung gegenüber Geflüchteten zu erzwingen. Doch damit nicht genug. Folgende Gesprächspassage beschreibt eindrücklich und sinnbildlich, erstens, wie die jungen Menschen deutsche Geschichte und ihre aktuellen Bezüge verknüpft diskutieren und, zweitens, wie sie diese bewerten. 4: »Also was tatsächlich ging dort ab? Waren dort Berater, politische, die dann sagten: ›Frau Merkel, das ist Ihre historische Chance, um Ihrem Ziehvater Kohl ein für alle Mal den Rang in der politischen Agenda abzulaufen – jetzt können Sie zeigen, Sie machen das Holocaust-Gedönse wieder wett, indem sie die Flüchtenden rein lassen?‹« 76 […] 1: »Kann man schon … also auf die Geschichte kann man gewisserweise stolz sein. Außer jetzt… ne… die hier… ein paar Konsorten gab es ja damals, wo man jetzt nicht stolz sein kann.« 2: »Na ja, in den Konsorten gab’s ja auch Vorteile.« 1: »Ja, Autobahn. Ne?« 2: »Ja, solche Kleinigkeiten halt.« 1: »Ich weiß, ich weiß.«

75 | Vgl. Thomas de Maizière, »Wir sind nicht Burka«. 76 | Ähnlich argumentieren auch Auszubildende aus Baden-Württemberg, vgl. Josef Held u.a., Rechtspopulismus und Rassismus im Kontext der Fluchtbewegung, S. 26: »Ich bin stolz drauf, Deutscher zu sein, wir stehen zu unseren Fehlern, wir stehen dazu, dass im Zweiten Weltkrieg diese grausamen Sachen passiert sind, aber jetzt ist einfach Schluss, der Deutsche soll einfach seine Meinung frei äußern dürfen, ohne dafür als Nationalsozialist abgestempelt zu werden.«

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P egida -Effekte? 3: »Aber hätte es das damals nicht gegeben, wie du sagst, diese Konsorten, ich sag mal so: Ich bin ein Mensch, ich vertrete die Meinung, man lernt aus Fehlern. Ich muss Fehler machen um draus zu lernen, um zu begreifen: das war scheiße.« 1: »Also ich schäme mich jetzt für die Geschichte nicht…«

Natürlich ist diese Passage keine, die verallgemeinerbar für alle Gruppen wäre. Doch rief sie bei den anderen Teilnehmern keinen Widerspruch hervor, im Gegenteil; wie man sieht, haben sich an eine zunächst für sich stehende Aussage mehrere Diskutant/-innen angeschlossen beziehungsweise sich bejahend in das Gespräch eingeschaltet. Während Person 1 und Person 2 im Gespräch noch partiell eine ironische Perspektive bedienen, bleibt vor allem die Aussage von Person 3 unwidersprochen, der jedwede Ironie abgeht, wenn sie den Holocaust als einen Versuch, den man mal hätte wagen müssen, um seine Untauglichkeit zu erkennen, bezeichnet. In anderen Gruppen betonen die Befragten mit Migrationshintergrund, man dürfe ruhig stolz darauf sein, »wo man herkommt« und man könne sich ja »deutsch fühlen«.77 In dieser Runde läuft das Gespräch eher darüber, dass es grundsätzlich legitim sein solle, stolz auf sein Land zu sein. Doch wenn ein »richtiger« Deutscher das sage, werde er gleich »in eine Schublade gesteckt«, er sei dann gleich »ein Nazi«. Auf Nachfrage bejahen einige spontan, dass es ihnen wichtig sei, was andere über Deutschland denken. Sie finden, »die«, die über Deutschland reden, sollten »nicht immer an das Nazitum denken, sondern auch an die Qualitäten der Deutschen«. Sie nennen »Technologie« und »das Geistige oder so« als Beispiele und verweisen implizit auf die deutsche Identitätskonstruktion als Land der Dichter und Denker sowie technische Innovationsfähigkeit. Ein Teilnehmer merkt zaghaft an, dass man dem »einfachere[n] Volk«, jenen, die jetzt »alles scheiße [finden], was die Merkel macht«, mehr Anerkennung entgegenbringen solle, um sie zu befrieden. Er vermutet also einen gekränkten deutschen Stolz hinter dem Mobilisierungspotenzial gegen Flüchtlinge. Eine weitere Teilnehmerin ist »stolz auf ihr Land« und korrigiert sich im selben Atemzug, sie sei »froh«, dass sie in Deutschland aufgewachsen sei und dass sie auf dem zweiten Bildungsweg gefördert werde. Sie verbindet also mit ihrem Stolz eine Freude darüber, was Deutschland für sie tue. Sie ist der Meinung, jeder Deutsche könne ein solches Deutschland in Anspruch nehmen, niemand müsse betteln, sie müsse aber auch Hilfsbedürftige nicht unterstützen, da Deutschland Hilfe für jeden anbiete.

77 |  Vgl. auch den Befund von Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 413ff.

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Vor allem biete Deutschland Traditionen. Entweder man spricht selbst unverhohlen an, dass man den Verlust von Traditionen fürchte oder man äußert zumindest Verständnis für Menschen mit einer solchen Sorge. »Weihnachtsmarkt heißt Wintermarkt […]. Und ich glaube, St. Martin heißt mittlerweile Lichterfest und solche Sachen. Dass solche Traditionen wahrscheinlich immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden und ich glaube, dass die Angst haben, dass die eigene Tradition – eigene deutsche Tradition oder christliche Tradition –, die in diesem Land ja vorherrscht, nach und nach ausgetauscht wird durch Traditionen außerhalb.«

Allein an der Wortwahl zeigt sich, dass Konzepte der Neuen Rechten über den »Großen Austausch« durchaus, wenn auch unterbewusst, Eingang in Argumentationsschemata gefunden haben. Die Identitäre Bewegung bezeichnet mit diesem Schlagwort »die ungebremste Masseneinwanderung und die daraus resultierende Islamisierung. […] Durch niedrige Geburtenraten der deutschen und europäischen Völker bei gleichzeitiger massiver muslimischer Zuwanderung werden wir in nur wenigen Jahrzehnten zu einer Minderheit im eigenen Land.« 78 Diese Sorge wird durch die Befragten ausgedehnt auf das ganze »Funktionieren« der deutschen Gesellschaft, apokalyptische Szenarien werden vereinzelt gemalt: »Das Krankensystem wird kollabieren. Meine Zahnärztin hat’s auch gesagt […] es wird geplündert jetzt ohne Ende. Rentenfonds, Krankenfonds. […] Wir sind so fleißig, wir Deutschen. Arbeiten den ganzen Tag von früh bis abends, werden aber immer ärmer.« In dieser Argumentation zeigt sich im Kern, dass die deutschen Tugenden wie Fleiß zwar in die Gesellschaft eingebracht, aber letztlich nicht belohnt würden, würde doch von staatlicher Seite, wie vor allem Teile der Beunruhigten betonen, zu »viel geschönt und gelogen«, sodass die alltäglich empfundene Realität der Bürger nicht mit dem übereinstimme, was man medial als Bild von Deutschland präsentiert bekäme. Zudem zeigt der Verweis auf eine andere Position – die Zahnärztin – an, dass man nicht nur jemanden kennt, der derselben Meinung ist, sondern auch, dass es sich um jemand handelt, der sich mit der Materie – dem Krankensystem – qua beruflicher Position auskennen müsse. Die Legitimation des Hören-Sagens. Insgesamt herrscht eher eine positive Einstellung Deutschland gegenüber vor, die allerdings nicht immer unter dem Begriff »Stolz« subsumiert, sondern vielmehr als Freude artikuliert wird, Deutsche zu sein, weil man in Deutschland gut und sicher leben könne. Stolz könne man aber nur auf eine eigene

78 | Vgl. Identitäre Bewegung, Großer Austausch, online einsehbar unter https://www. identitaere-bewegung.de/kampagnen/grosser-austausch/ (eingesehen am 25.01.2017).

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Leistung sein und nicht auf den Zufall, in Deutschland geboren zu sein.79 In der Diskussion über deutsche Werte reichten in der SINUS-Studie »die Beschreibungen der Befragten von eher harmlosen Klischees bis hin zu harten Vorurteilen und diskriminierenden Verallgemeinerungen. Viele Jugendliche reflektieren durchaus, dass es sich dabei um rassistische Vorurteile handelt, und äußern ihr Unbehagen, von diesen beeinflusst zu sein. Sie scheinen nach alternativen Definitionen und Deutungsmustern zu suchen.« 80 Der Befund ist durchaus auch in unseren Fokusgruppen erkennbar, allerdings ist das Unbehagen nicht besonders präsent, die Suche nach alternativen Deutungsmustern in vielen Gruppen gar nicht oder kaum spürbar, was in erster Linie wohl auf die altersbedingt gefestigteren Positionen zurückzuführen sein dürfte. Möglicherweise führt auch die Konfrontation mit »dem Fremden« 81 dazu, den »eigenen« Werten wieder eine größere Relevanz zuzusprechen und ihnen eine stärkere Sichtbarkeit verleihen zu wollen.

3.4  J ugend ohne W ert (e)? Es stand die Frage im Raum, ob sich auch in unserem Sample das Resultat der Verschiebung von Werten im Sinne des konstatierten Wertewandels zurück zu Pflicht- und Akzeptanzwerten und weg von Selbstentfaltungswerten beobachten lässt. In der Tendenz scheint sich der Befund an dieser Stelle bestätigen zu lassen. In der Shell-Studie wurde die junge Generation als »pragmatisch« bezeichnet, weil sie sich nur die Werte auswähle, die für ihren eigenen Nutzen und ihr eigenes Leben instrumentalisierbar seien.82 Hedonismus würde an Bedeutung verlieren, während Prosozialität – was im Folgenden überprüft 79 | Vgl. auch 17. Shell-Studie Zusammenfassung, S. 28: »62 Prozent der Jugend sind stolz darauf, Deutsche zu sein. […] Zum Thema ›Stolz auf die Nation‹ gibt es allerdings zwei verschiedene Ansichten: Die einen, und das sind vor allem die höher Gebildeten, meinen, man könne nur auf etwas stolz sein, was man selbst geleistet hätte. Die anderen, das ist die Mehrheit, finden, dass sich Stolz ganz von selbst ergäbe, wenn man in eine Kultur eingeboren ist oder sich darin eingelebt hat. Diese unterschiedlichen Sichtweisen haben eigene Konsequenzen. Wer Stolz mit eigenen Leistungen begründet, dem ist das Herkunftsland eher unwichtig. Man fühlt sich mit denen im Einklang, die etwas leisten, egal, woher sie kommen. Leistung wird dabei nicht nur im materiellen, sondern auch im ideellen Sinne verstanden. […] Dagegen finden Jugendliche, die sich über den Stolz mit ihrer Kultur identifizieren, einheimische ›Standards‹ und die Zugehörigkeit zu den Landsleuten wichtiger.« 80 | Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 424. 81 | Vgl. Kapitel 5.2. 82 | Vgl. auch Lechleiter, Wertekonstellationen im Wandel, S. 41.

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werden soll – einen Bedeutungszuwachs erfahre, Hinweise, die der Arbeitspsychologe Philipp Lechleiter als Anzeichen einer Wertepluralisierung gedeutet hat:83 Traditionelle bürgerliche Werte seien zurückgekehrt 84, dennoch bildeten Selbstentfaltungswerte immer noch die stärkste Wertegruppe  – ein Befund, der den uneindeutigen Gesamttrend der Entwicklungen im Wertesystem auch bei jungen Menschen bestätigt und die Frage aufwirft, ob sich das Werteensemble der jungen Generation nicht eher als Synthese auch widersprüchlicher Wertvorstellungen interpretieren lässt. Nachdem die Wertegruppen, die oftmals stellvertretend für traditionelle oder postmaterialistische Werte herangezogen werden, eingehend untersucht wurden, schließt sich an dieser Stelle ein genauerer Blick auf die vermeintlich immer wichtiger werdenden prosozialen Werte an.

3.4.1  Das gute Miteinander durch »unverbindliche Freundlichkeit« In der Fachdiskussion der letzten Jahre spielt der Bereich der sogenannten Grundwerte eine herausgehobene Rolle, beispielsweise Menschenwürde, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit oder Solidarität. »Diese Begriffe zielen auf eine äußerst abstrakte Sinnbestimmung menschlicher Existenz; sie sind grundlegend für menschliches Zusammenleben und staatliche und gesellschaftliche Ordnung. Solche allgemeinsten Sollensvorstellungen finden ihr institutionelles politisches Pendant in der Konzeption eines demokratisch-freiheitlichen und sozialen Rechtsstaats, der auf der Grundlage der Menschenwürde seine politischen Ziele‹ in der Sicherung und Mehrung individueller und politischer Freiheit, sozialer Gerechtigkeit sowie inner- und zwischenstaatlichen Friedens sieht‹.« 85

Und in der Tat: Den jungen Menschen ist ein gutes Miteinander wichtig. Doch was bedeutet das und wie kann das funktionieren? Zunächst meint das ganz konkret den Umgang miteinander, der verstärkt von den Beunruhigten thematisiert wird. Ob das Anrempeln an der Supermarktkasse oder störendes Verhalten bei der Freizeitgestaltung im Park – die Teilnehmenden kritisieren, dass das Leben von vielen als aggressiv geführter Kampf interpretiert werde, und man darüber die einfachsten Regeln und eine »unverbindliche Freund83 | Vgl. Philipp Lechleiter, Wertekonstellationen im Wandel, S. 42. 84 |  Vgl. auch Viktoria Kaina und Franziska Deutsch, Verliert die »Stille Revolution« ihren Nachwuchs? Wertorientierungen in Deutschland im Kohorten- und Zeitvergleich, in: Edeltraud Roller u.a. (Hg.), Jugend und Politik, S. 157-181. Sie kommen zu dem Schluss, dass es eine Renaissance konventioneller Werte gäbe und sich die Jugend in erster Linie pragmatisch und eigennutzorientiert verhalte. 85 | Grieswelle und Weigelt, Prinzipien politischen Handelns, S. 19.

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lichkeit« vergesse. »Und diese Veränderung tut mir eigentlich weh […] Und es ist überhaupt kein Vertrauen mehr da oder einfach mal dieses Aufeinanderzubewegen.« Vorstellungen des guten Miteinanders bewegen sich allerdings ausschließlich auf der eigenen Alltagsebene, im eigenen Umfeld, in Bezug auf gesamtgesellschaftliches Miteinander herrscht Ratlosigkeit, es müsse eben irgendwie »funktionieren« – ein Zauberwort unserer Teilnehmer, sie haben es rund 96-mal in den Diskussionen verwandt.86 Zwar gilt vielen Toleranz in der oben beschriebenen Auslegung irgendwie als Minimalwert für eine funktionierende Gesellschaft, allerdings wird dies im selben Atemzug mit der Forderung verknüpft, dass jeder bestimmte Regeln einhalten müsse. »Also, genauso, wie wir erwarten können, dass wir nicht auf der Straße belästigt werden oder dass bestimmte grundsätzliche Regeln eingehalten werden, können auch Menschen, die hierherkommen, genauso erwarten, dass bestimmte Regeln oder religiöse Vorschriften ihnen sehr wichtig sind, eben, klar, weil wir die Möglichkeit, auch, dazu haben, ihnen wirklich den Raum einzuräumen, dass sie das so ausleben können.«

Ob es Raum für freie Religionsausübung geben solle, wird indes kontrovers diskutiert: Skeptiker argumentieren, es solle jeder seine »Religion ausleben, seine eigene Kultur pflegen, aber Moscheen gehören nicht nach Deutschland […] die gehören alle abgerissen!« Eine Aussage, die sich gegen eine Veränderung des Umfeldes (beziehungsweise des vermeintlichen Umfeldes, das hier künstlich größer gedacht ist, als es real erlebt wird) stellt, ohne eine grundsätzliche Ablehnung der Religionsfreiheit und damit des Grundgesetzes einzuräumen. Nur wenn Religion über das Thema Islam adressiert wird, spielt sie als sinnstiftender Wert im Alltag der Jugendlichen keine Rolle. Dieser Befund wirft die Frage auf, ob die jungen Menschen, wenn nicht an einen Gott, so doch an etwas Anderes glauben und ob es als Moment der Orientierung nicht maßgeblich ist, an irgendetwas zu glauben, doch ein Teilnehmer sagt lapidar: »Ich glaube erst mal gar nichts«. Diese Aussage bezieht sich zwar auf den Wahrheitsgehalt von medial vermittelten Informationen, avanciert aber bei vielen hier Befragten durchaus zu einer Grundhaltung, die im Kontrast steht zu den Erhebungen der SINUS-Jugendstudien von 2008 und 2012, die zeigen, dass Jugendliche ein Bedürfnis nach Sinnfindung haben, dieses jedoch häufig »mit einem individuell zusammengestellten Patchwork aus einer Vielzahl von religiösen, quasireligiösen beziehungsweise spirituellen Angeboten

86 | Vgl. hierzu die Übersicht im Anhang.

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befriedigen« 87 und so einen nicht kirchlichen, aber doch »persönlichen Glauben« entwickeln würden. Die jungen Menschen haben allerdings einen starken Wunsch nach Gemeinschaft, insofern sie sich grundsätzlich ein konfliktloses Miteinander derjenigen wünschen, die es verdient haben, Teil einer Gemeinschaft zu sein, in die sie eingebettet und eingegliedert sind. Die Regeln, auf denen diese Gemeinschaft basiert, beruhen mehr auf Setzungen als auf Aushandlung und Konflikt. Allerdings bleibt der explizite Begriff der Gemeinschaft diffus.88 Er wird vor allem in den Gruppen der Beunruhigten thematisiert: Für Menschen, die Wert auf eine sichere Heimat legen, scheint eine drohende Parallelgesellschaft als Kontrastbegriff zu Gemeinschaft zu fungieren. Hier scheint das Konzept der homogenen Volksgemeinschaft klar durch. Die Gemeinschaft inkludiert diejenigen, die nach den Regeln spielen und per definitionem dazu gehören 89, andere sind exkludiert, exkludieren sich aber auch, so die Erzählung, selbst. Tendenziell ist dieser Gemeinschaftsbegriff und die damit verbundene Sehnsucht anschlussfähig an Pegida, denn »Individualismus findet bei Pegida kaum Anklang: Für 58 Prozent rangiert das Wohl der Gemeinschaft vor dem Wohl des Einzelnen«90 – und grenzt sich von den Untersuchungen zu NoPegida ab: »Obwohl dort die Gemeinschaft anders als bei P egida kaum verherrlicht wird, viele das Konzept mit einer verführbaren Masse assoziieren und deshalb auch eher kritisch beäugen, werden dennoch positive Gemeinschaftserfahrungen von den Demonstrationen geschildert. Obwohl man die Leute nicht kenne, spüre man einen Zusammenhalt, wenn man gemeinsam eine Menschenkette bilde. Doch müsse dieser Gemeinschafts-

87 |  Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 336. Trotzdem gehört nach wie vor die Mehrheit junger Menschen in Deutschland einer Glaubensgemeinschaft oder Kirche an. Konfessionslos sind laut der aktuellen Shell-Jugendstudie nur 23 Prozent der 12- bis 25-Jährigen in Deutschland. 88 | Die Fanmeile, geplant als Bild, über das Nationalstolz adressiert werden sollte, wurde eher assoziiert mit Spaß, Party und Gemeinschaft. Als weiteres Gemeinschaft repräsentierendes Bild wurde einmal der Ureinwohner/-innenstamm gewählt, bei dem mehrere Generationen gemeinschaftlich zusammensäßen. Gelegentlich wird Gemeinschaft auch mit dem Bild assoziiert, das sonst stellvertretend für Toleranz gedeutet wurde, die einander greifenden Hände. 89 | Michael Wildt: Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg 2017, S. 55ff, insbesondere S. 66. 90 | Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora?, S. 33.

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P egida -Effekte? sinn auch über die eigene Gruppenzugehörigkeit hinausgehen, um Solidarität zwischen unterschiedlichen Gruppen zu schaffen.« 91

In der frei rekrutierten Gruppe in Dresden wird Gemeinschaft auch mit Pegida assoziiert, als »Partystimmung«, die die Teilnehmer vor Ort suchten, als »Gemeinschaftsgefühl«, welches aber »nicht tiefgründig« sei, sondern »reiner Populismus«. Jedoch findet sich der noch bei NoPegida thematisierte Mechanismus der Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber bei unseren Befragten nicht. Andere, die Teil der Gemeinschaft sein möchten, müssen dafür auch etwas leisten, man selbst jedoch gehört offenbar ganz selbstverständlich dazu und entscheidet über die Zugehörigkeit anderer – meistens der Geflüchteten. Dies wird in den Gruppen der Beunruhigten deutlich verbalisiert: »Ich glaube, das Problem, was uns alle eint […] ist, dass wenn was Fremdes reinkommt ins Land und es findet eine Nische, dann kann man damit leben. Also wenn sich eine Eingliederung vollzieht, ist es möglich, damit zu leben. Zum Beispiel die ganzen Asiaten und so weiter oder auch der von dir beschriebene Dönermann, nenne ich ihn jetzt mal, der in so ’ner Nische drin ist, wo alle sagen: Na, ich gehe zum Dönermann so und der ist voll konkret krass. Okay. Aber draußen die… die arabischstämmigen oder türkischstämmigen Flüchtlinge, die findet man dann schlecht.«

Bei den Unbekümmerten wird angemerkt, Integration sei nicht immer nur auf der Folie der Extreme zu diskutieren, sondern man müsse einen »Mittelweg« finden. Die Frage könne doch nicht sein, ob man für oder gegen Ausländer sei, gesellschaftliches Funktionieren (das hier mit der Integrationsfrage gleichsetzt wird) sei die Aufgabe aller. Insgesamt wird allerdings auch bei den nicht Beunruhigten der Konsens, Integration im Sinne einer einseitigen Anpassung sei erforderlich, kaum infrage gestellt. Wer nicht mehr auffällt – eine Maxime, die sich auch auf die jungen Leute selbst übertragen ließe – gilt als integriert und wird dann auch akzeptiert. Auch die von SINUS erhobenen Befunde sprechen zwar von Stimmen vor allem aus den prekären und konservativen Lebenswelten, »die recht radikal eine konsequente Anpassung der Fremden an die deutsche Kultur – Assimilation – einfordern«92, diese blieben jedoch in der Minderheit – anders als in unseren Gruppen, wo diese Auffassung konsensfähig ist.

91 | Stine Marg u.a., NoPegida, S. 79. 92 | Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 427.

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3.4.2  »Nur das Gute ist willkommen« Stellenweise (und das häufiger bei den Beunruhigten) wird proklamiert, dass man es für wichtig halte, die »gleichen Werte« zu teilen. Viele beschreiben ihr Wertfundament auch grundsätzlich eher über Werte, die sie ablehnen, als über solche, die sie befürworten, da man sich Negatives ja »auch eher als das Positive« merke. Es fällt also leichter, etwas abzulehnen und zu exkludieren, als konstruktiv zu sein. Das ändert jedoch nichts daran, dass man sich eine per se »gute« Gemeinschaft wünscht, zu der auch nur »die Guten« gehören. »Ich glaube, wenn man sagt, der Islam gehört zu Deutschland, oder wer auch immer gehört zu Deutschland, meint man immer das Gute und man meint nie das Schlechte. […] Dass wenn jemand sagt, ihr seid hier willkommen, dann nur ihr, die was für das Land auch tut, seid hier willkommen. […] Kurz: Nur das Gute ist willkommen. Immer!« In dieser Aussage zeigt sich nicht nur ein etwas naives Denken über die Welt, sondern auch ein tief verwurzeltes, globaleres Harmoniebedürfnis. Der Wunsch nach Positivem verknüpft sich eng mit der Suche nach »Wahrheit«, Wahrheit bedeutet dann Glaubwürdigkeit (vor allem in medialer Berichterstattung) und Eindeutigkeit, also etwas, das nicht geschönt ist, aber eben auch wenig Interpretationsspielraum zulässt. Trotz des Wunsches nach Wahrheit wird jedoch enorm häufig auf der Grundlage bloßen Hören-Sagens argumentiert. Was die Kollegin gehört hat, hat für die Diskutant/innen einen größeren Wahrheitsgehalt und somit größere Diskursrelevanz, als das, was die Mainstreammedien berichten. Alltagsempirie, auch wenn es nur sekundäre ist, besitzt somit einen höheren Wahrheitsanspruch als andere Informationsquellen. Gerade der Topos des Unverblümt-die Wahrheit-Sagens, was sich viele (nur Pegida) nicht mehr trauten, ist mehrfach Thema. Das von der AfD gerne verwendete Versprechen des »Klartext-Redens«, der Slogan »Mut zur Wahrheit«, hat eine hohe Anziehungsfähigkeit auf viele der jungen Menschen. Wahrheit wird von ihnen dann oft gleichgesetzt mit Widerspruchslosigkeit. Die Gruppen schwanken zwischen dem Wunsch nach Differenzierung, der häufig ihrem Harmoniebedürfnis entgegensteht, und dem Gefangensein in ihren Vorurteilen, die oft nicht als solche erkannt werden. Eine Duisburgerin lehnt ab, dass alle über einen Kamm geschoren werden, so wie Pegida es praktiziere, eine Leipzigerin fordert einen Mitdiskutanten auf, nicht alle in einen Topf zu schmeißen, weil er die Flüchtlinge, über die er schlecht rede, ja nicht persönlich kenne. Denn das ist, was Gewicht hat in der Argumentation: Persönliches Erleben wird wie sonst nichts als Beurteilungsgrundlage anerkannt. Zudem sei es wichtig, »dass man kritisch einfach an Dinge herangeht«. Gerade junge Menschen sollten »die Dinge hinterfragen« und »nicht alles schlucken«. Manche äußern also auch ein Bewusstsein dafür, selbst zu pauschalisieren. Vorurteile werden zuhauf geäußert, aber selten als solche de-

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maskiert, vielmehr wird an vielen Stellen deutlich, dass Vorurteile das eigene Denken und Bewerten massiv strukturieren, unhinterfragt in die Diskussion einfließen und Konsens herstellen. Dabei werden Halbwahrheiten oder auch Vorurteile im Gewand »gefühlter Wahrheiten« gerade von meinungsstarken Diskussionsteilnehmer/-innen als »Tatsachen« und »Fakten« dargestellt. Es zeigt sich, dass hier, in scharfem Kontrast zu den Erzählungen über rebellische Generationen der späten 1960er oder 1970er Jahre, ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis vorherrscht, das sich möglicherweise als Reaktion auf eine gesellschaftliche Krisensituation lesen ließe, vermutlich aber weniger konservativen Charakters, als vielmehr in die Matrix der jungen Menschen eingeschrieben ist. Die Erzählung einer Rebellion mitsamt ihrer sinnstiftenden Wirkung fehlt dieser Generation. Ohnehin ist es auffällig, dass in den Gruppen kaum von einem »Wir« gesprochen wird, obwohl Gemeinschaft und Zusammenhalt eine große Rolle spielen. Das Wort »ich« findet weitaus häufiger Verwendung. Verbindende Elemente, die ein »Wir-Gefühl« erzeugen könnten, werden kaum thematisiert, und wenn, dann im Mangel, etwa als Vertrauensverlust. Die Bereitschaft, Vertrauen zu investieren, ist gering. Ein solch tiefes Gefühl sei, so beklagen in erster Linie Beunruhigte, in alltäglichen Sozialkontakten auch aufgrund technologischer Veränderungen kaum zu erreichen. »Und da ist mir ein Gedanke in den Kopf gekommen […], dass sich die Menschen immer weiter voneinander entfernen und fremder werden, weil die Technologie es einem ermöglicht, ohne Kontakt zum anderen zu haben, trotzdem virtuell Kontakt zu ihm zu erhalten. Also früher, ich vom Dorfe, wir haben… hatten unsere Straße und waren alle Freunde. […] Und heute haben alle WhatsApp, […] ich schreibe halt den Leuten lieber, was so ansteht, anstatt am Wochenende mich mal bei denen auf die Couch zu lenzen mit ’nem Bierchen […] Das ist, dass man halt mit dem Fortschritt sich halt immer weiter voneinander entfernt irgendwie. Aber trotzdem alles mitteilt. […] Irgendwann liegst du in so ’ner Kapsel und hast so einen Stöpsel im Gehirn und dann brauchst du gar nichts mehr zu machen.«

Die Romantisierung eines »Früher« ohne soziale Kälte kann durchaus als wiederkehrendes Muster ausgemacht werden; es zeigt sich, obwohl die jungen Menschen sich selbst abkapseln,93 ein Bewusstsein dafür, dass man eigentlich lieber Teil von etwas Gemeinsamem wäre. Die Anstrengung, das aktiv zu 93 | »Deutlich zurückgegangen ist seit 2010 der Wunsch, möglichst viele Kontakte zu anderen Menschen zu haben. […] Obwohl die Möglichkeiten, immer und überall online Kontakt zu halten, enorm gestiegen sind, hat das offensichtlich die Freude hieran nicht unbedingt gesteigert. Eher scheint die Inflation des Kontaktens eine gewisse emotionale Abwehr ausgelöst zu haben.« Vgl. 17. Shell Jugendstudie, Zusammenfassung der Ergebnisse, S. 30.

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gestalten, erscheint den meisten jedoch als zu groß. Umgekehrt proportional zur Bereitschaft, Zusammenhalt zu stiften, wird er als Wunsch thematisiert, aber auch dann eher auf der kleineren Ebene des familiären Zusammenhalts und der vagen Hoffnung, »dass alle miteinander können«. Bei den wenigen, die in Vereinen aktiv sind, sind diese ein Ort des erfahrenen Zusammenhalts, weil alle die gleichen Ziele und den Ehrgeiz hätten, dafür Leistung zu bringen, die jedoch interessanterweise einen ebenbürtigen Stellenwert hat neben dem Anspruch, gemeinsam Spaß zu haben und dem Wunsch, dass sich alle gut verstehen. Den Zusammenhalt spüre man aber gerade im Erfolg. Die Vorstellung, sich gemeinsam gegen etwas oder jemanden  – soziale Ungerechtigkeit, »Bundesregierung, Banken, Kapitalismus« – zusammenzuschließen, ist indes eine marginale Perspektive. Zwar wird punktuell immer wieder erwähnt, dass das Leben ein »Geben und Nehmen« sei und dass gerade Zusammenschlüsse wie Vereine darauf basierten: »Man kann ja nicht bloß was nehmen, sondern muss irgendwie was geben für die Gesellschaft und für die Mannschaft. Und das ist schon wichtig, wenn man was gibt, dass man das eigentlich immer zurückgibt.« Allerdings überwiegt das Gefühl, dass man selber öfter etwas weggenommen kriegt: »Es ist ein Problem, wenn klargemacht wird, eine neue Bevölkerungsschicht kommt rein und bekommt aber irgendwelche Vorteile. […] Und wenn das Empfinden da ist: uns werden die Lehrer weggenommen – dann ist das schlecht. Weil das symbolisiert: Sorry, People. Ihr müsst alle mal ein bisschen Abstriche machen. Weil jetzt kommen ein paar Neue rein und die können nicht einzahlen, die nehmen nur das Geld, ne? […] Und das ist eine Message, die ist schlecht! Weil das symbolisiert: Ich muss Abstriche machen. Also ich kann nicht geben, sondern ich muss geben.«

3.4.3  Prosoziale Werte Prosoziale Werte, wie »Geborgenheit«, »Vertrauen«, »Ehrlichkeit« und »Respekt«, werden in der Diskussion unserer Fokusgruppen vornehmlich als Desiderat thematisiert. Man bezeichnet damit im engeren Sinne Werte, auf denen prosoziales Handeln basiert, also ein freiwilliges, hilfsorientiertes, zunächst uneigennütziges Handeln. Ungeachtet dessen, dass er in der Gesprächskultur nicht immer an den Tag gelegt wird, hat Respekt zumindest einen großen proklamierten Stellenwert. Respekt bezieht sich auf Achtung der Schwächeren (vor allem auf alte Menschen, die schon etwas geleistet hätten). Dass jemand die Ansicht äußert, jeder habe grundsätzlich Respekt verdient, ist eher eine Ausnahme. Eine Teilnehmerin empfindet Respekt dezidiert als plakativen Wert, den alle einfordern, aber der für sie keine angemessene Kategorie darstelle; alle sprächen davon, doch würde niemand den Begriff füllen, deswegen könne man auch keinen Respekt in einer Gesellschaft erwarten.

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Während in den Gesprächsrunden mit den NoPegida-Aktivist/-innen oftmals über mangelnde Hilfsbereitschaft und Ignoranz geklagt wurde, dass man den »Blick für den anderen« verliere, offenbart sich nun bei unseren jungen Menschen sogar stellenweise das Gegenteil: Sie bringen selten Verständnis dafür auf, dass bestimmte Menschen nach Deutschland kommen. Der Satz »Da habe ich kein Verständnis für« zeugt von einer Unwilligkeit oder Unfähigkeit zur Perspektivübernahme und einer massiven Empathielosigkeit. Vermutlich auch aufgrund solcher Äußerungen wird in einer freien Gruppen gerade die »Flüchtlingskrise« als Beleg für eine »Entmenschlichung« der Gesellschaft, als Beispiel großer »Empathielosigkeit« der Politik angeführt, doch ist Menschlichkeit an sich ein deutlich geringerer Faktor als bei in den Gesprächen mit den NoPegida-Aktivist/-innen, die dieses Konzept als eine Art zentralen ethischen Wert immer wieder in die Diskussion einbrachten. Auch Rücksichtnahme ist ein Thema, das ansonsten eine geringere Rolle spielt, allerdings wird es thematisiert, sobald es um die Rücksichtslosigkeit der anderen geht. Lautes Reden von Flüchtlingen in der Bahn sei »nervig«, so die Erzählung in mehreren Gruppen. Nur in Ausnahmefällen wird thematisiert, dass, ausgelöst durch Existenzängste, gesamtgesellschaftlich »dieses Treten nach unten« sich eingebürgert habe, und, weil die Ängste »nicht besprochen« würden, sich die Menschen bei Pegida einfänden. Genau entlang dieser Trennlinie – Wer soll auf wen Rücksicht nehmen müssen, wer hat die Pflicht, »sozial« zu sein, wessen Fehlverhalten wird als »asozial« empfunden – verläuft auch die Diskussion über Hilfsbereitschaft. Die Frage, ob man sich gegenüber Geflüchteten hilfsbereit zeigen solle, beantwortet eine Leipzigerin mit dem Satz »Uns hilft doch auch keiner«. Es scheint durch, was für viele gilt: Hilfe muss man sich verdienen, es sei ein Geben und Nehmen, also gäbe man nur Hilfe, wenn man auch selber welche erfahre. Hilfsbereitschaft als reines Geben, aus Barmherzigkeit, kommt im Weltbild unserer Diskutanten nicht vor. Hilfsbereitschaft indes, die vom deutschen Staat ausgeht, bewerten manche wie oben schon angedeutet als Konzessionsaktivität, »wegen dem Krieg«, man sei wegen seiner Vergangenheit nun dazu verpflichtet, quasi in vorauseilendem Gehorsam diese Werte gesellschaftlich zu realisieren, obwohl viele Flüchtlinge sich weder Mitleid noch Hilfsbereitschaft verdient, sondern sie sich quasi erschlichen hätten, indem sie ihre Situation schlechter dargestellt hätten, als sie sei. Auch wenn einige den Staat in der Pflicht sehen, Auf bauhilfe in den Herkunftsländern zu leisten oder manche der Zivilgesellschaft oder kleinen Zusammenschlüssen wie Dorfgemeinschaften eine enorme Hilfsfähigkeit zusprechen, sind diese Äußerungen nicht mit der Hilfsbereitschaft in den Reihen der NoPegida-Aktivist/-innen zu vergleichen: Von den in diesem Kontext Befragten waren überdurchschnittlich viele Frauen in Hilfsprojekten für Geflüchtete engagiert und begründeten dies mit zwischenmenschlichen Werten

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wie Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe. In der vorliegenden Studie erzählen nur wenige Befragte, dass sie die »Willkommenskultur«, die den Flüchtlingen 2015 entgegengebracht worden sei, als positiv erlebt hätten, weil »auf einmal etwas ins Rollen« gekommen sei. Die Menschen, die sich gegen die Flüchtlinge gewandt hätten, »die sogar die Flüchtlingsheime angebrannt« hätten, werden in diesem Kontext zwar als »asozial« beschimpft, allerdings folgt prompt der Konter der Runde, es sei ebenso »asozial«, als in Köln in der Silvesternacht Frauen »angegangen« worden seien. Dass so ein Verhalten zwar nicht verallgemeinerbar sei, aber dennoch ein schlechtes Licht auf ganze Gruppen werfe, wird in extrem biologistischer Manier vorgetragen: »Weil… es gibt unter hundert Leuten immer einen schlechten und der färbt – wie ein Tropfen Blut – färbt sofort ’ne ganze Badewanne in so’n rosa. Und… die muss man halt rauspicken. […] Und… da bin ich der Meinung, wenn mir jemand doch die Hand aufhält und mir alles gibt: Essen, Trinken, Klamotten, Obhut, Sicherheit, ich kann meine Religion frei ausüben. Warum gibt es dann immer noch Leute dabei – nicht alle – warum gibt es noch immer Leute dabei, die das dann noch mit Füßen treten? […] Wo die dann sagen, äh die Flüchtlinge die, die sind uns gar nicht dankbar dafür.«

Dankbarkeit, die man  – und das ist eigentlich common sense  – von den Geflüchteten durchweg erwartet, wird als Motiv darüber hinaus nur selten angeführt, etwa für Momente im Leben, als einem etwas ermöglicht wurde, oder Dankbarkeit Menschen gegenüber, die etwas leisten, was man für notwendig hält, aber selber nicht leistet, wie beispielsweise in einem Fall auch den Protest gegen Pegida. Interessant ist, dass sich, wenn Teilnehmende aus den Fokusgruppen der vorliegenden Studie aktive Hilfsbereitschaft zeigen, diese oft auf Umweltschutz oder Tiere kapriziert. Hier wollen vor allem die Beunruhigten eine »Mahnrolle« einnehmen, »weil die Natur und Tiere, die können nicht für sich sprechen«. Insgesamt ist Umweltschutz ein solide präsentes Thema. Anhand der Abbildung eines Eisbären im schmelzenden Eis und einer ölverklebten Ente wird oft kritisiert, dass Umweltschutz ein Thema sei, das »viel zu wenig angegangen« werde, bei dem sich Deutschland allerdings, wie man anerkennt, »bemühe«. Hier gelingt die Perspektivübernahme, andere Lebewesen als schutz- oder hilfsbedürftig wahrzunehmen, Mitmenschen indes wird eher Gleichgültigkeit entgegengebracht. Das unterscheidet unsere Befragten von dem bei SINUS erhobenen Typus der Sozialökologischen, deren Empathie für die Umwelt mit einem »stark postmateriell geprägten Wertekatalog« korreliert, sodass dieser für Toleranz, Demokratie, Solidarität, Chancengleichheit und Menschenrechte eintrete.94 Konsumkritik oder zumindest Konsumbewusstsein ist indes ein 94 | Vgl. Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 131.

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Punkt, den unsere Teilnehmenden mit den Sozialökologischen partiell gemein haben und der unter dem Stichwort Nachhaltigkeit verhandelt wird. Doch es fällt auf, dass gerade nicht die hoch Gebildeten, Veränderungsaffinen Umweltschutz als Thema auf die Agenda bringen, sondern es vermehrt von Frauen in den Beunruhigten-Gruppen thematisiert wird. Gerade eine NPD-Wählerin aus Leipzig erhebt lautstark ihre Stimme für Tierschutz (mit dem Verweis auf die eigene Herkunft aus materiell schwierigen Verhältnissen als Antrieb ihres Impulses, sich für Schwächere stark zu machen) und eröffnet damit die Flanke  – ohne sie jedoch auszudefinieren –, die die extreme Rechte bereits seit Jahrzehnten zur Ökologiebewegung hat: Umweltschutz gleich Heimatschutz. Auch wenn Hilfsbereitschaft kein dominantes Gesprächsthema ist, lehnen die Teilnehmer/-innen doch in ihrem Bedürfnis nach Harmonie Hass und Gewalt ab und äußern, »dass man einfach nur Frieden möchte«. Als gewaltsam werden von den Befragten bisweilen Pegida und Rechtsextreme eingestuft, aber deutlich häufiger eben männliche Geflüchtete, die meist als Täter, und nur in Ausnahmefällen auch als Opfer von Gewalt thematisiert werden. Außerdem wird geäußert, dass »die Menschen heutzutage« immer gewaltbereiter wären. Gewalt bezieht sich aber nicht nur auf den gesellschaftlichen Nahraum, sondern wird auch als Ablehnung von Krieg artikuliert, obwohl Krieg stets etwas Abstraktes, Fernes bleibt. Die grundsätzliche Ablehnung von allem, was die jungen Menschen für radikal, extrem oder gewaltvoll halten, teilen sie mit Jugendlichen, von denen in der Shell-Jugendstudie nur 14 Prozent angaben, »dass es ›in jeder Gesellschaft Konflikte gibt, die nur mit Gewalt gelöst werden können‹«  – vor allem von denjenigen geäußert, die sich selbst rechts verorten.95 Ein ähnliches virulentes Verständnis dafür, angesichts bestimmter gesellschaftlicher Situationen »die Beherrschung zu verlieren«, zeigt sich auch bei Pegida-Anhänger/-innen96 und steht so im Kontrast zur gewaltablehnenden Haltung der hier befragten jungen Menschen. Nur die wenigsten Fokusgruppenteilnehmer/-innen geben an, Gefühle wie Hass selbst zu verspüren, mit einer Ausnahme einer Teilnehmerin aus Duisburg, die eine Abbildung von IS-Kriegern ausgewählt hat und sagt, dass sie ihnen gegenüber Hass verspüre, »ganz ehrlich gesagt«. Ein Teilnehmer spricht Hass eine Teillegitimität zu, wenn er sich nicht »an den falschen Stellen« entlade, sondern sich »gegen Organe [richte], die es ja zu verantworten haben im Endeffekt«.

95 | Shell Deutschland Holding (Hg.), 17. Shell-Jugendstudie, Zusammenfassung der Ergebnisse, S. 23. 96 | Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora?, S. 33.

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3.4.4  Allgemeinwohl? Mein Wohl! Wenn in den Gesprächsgruppen überhaupt konkrete Verantwortung thematisiert wird, dann, überraschend konstant, im Sinne einer Verantwortung für die Umwelt oder für die eigenen Kinder in Zeiten der gestiegenen Terrorgefahr. Verantwortungsbewusstsein wird allerdings meist in dem Kontext von Problemlösungen diskutiert und nicht wie bei den Aktivisten von NoPegida im Sinne einer Verantwortung für die Gestaltung der Gesellschaft.97 Einen solchen Gestaltungswillen sucht man bei unseren Teilnehmern vergeblich. Gerade die grundlegende Verpflichtung, sich in die Demokratie einzubringen und sich zu engagieren, der Gesellschaft, in der man lebt, »etwas zurückzugeben«, ist ein selten aufloderndes Flämmchen innerhalb der Diskussionen. An diesem Punkt weichen unsere Ergebnisse eindeutig von der Shell-Jugendstudie 2015 ab, die konstatiert, dass die Jugendlichen trotz ihrer pragmatischen Perspektive bereit seien, »sich für die Belange anderer Menschen oder der Gesellschaft einzusetzen. […] Junge Menschen interessieren sich wieder mehr für gesellschaftspolitische Themen. Sie wollen sich verstärkt in soziale Gestaltungsprozesse einbringen. Die Jugendlichen wollen zupacken, umkrempeln, neue Horizonte erschließen und sind dabei auch bereit, Risiken einzugehen. Die junge Generation in Deutschland 2015 kann deshalb als ›Generation im Aufbruch‹ bezeichnet werden.« 98

In unserer quantitativen Erhebung unter NoPegida-Anhänger/-innen votierten rund 69 Prozent dafür, dass Solidarität in der Gesellschaft eine größere Rolle spielen solle. Damit erhielt dieser Wert mit Abstand die größte Zustimmung99  – seine Relevanz bestätigte sich in den Fokusgruppen mit den 97 | Doch tatsächlich war die Divergenz zwischen den postulierten Pflichten und den tatsächlich wahrgenommenen Verpflichtungen auch dort recht hoch. 98 | Vgl. Shell Deutschland Holding (Hg.), Shell-Jugendstudie 2015, online einsehbar unter https://www.shell.de/ueber-uns/die-shell-jugendstudie/werte-der-jugend.html (eingesehen am 05.02.2018). 99 | »Den P egida -Unterstützern in Dresden fielen vor allem Recht und Ordnung sowie nationale Interessen ein. Ihre Widersacher plädieren hingegen vor allem für Gleichstellung, Solidarität und Umverteilung. Die letzte Forderung wird noch dadurch untermauert, dass die NoPegida-Befürworter/-innen größtes Misstrauen gegen Großkonzerne und Banken bekunden und der freien Marktwirtschaft (zu 97 Prozent) keine größere Relevanz mehr zumessen mögen.« Vgl. Franz Walter, Studie über Pegidagegner: Jung, kinderlos, weiblich, in: Spiegel online, 26.01.2015, online einsehbar unter www.spiegel. de/politik/deut schland/franz-walter-ueber-die-anhaenger-der-gegenbewegungnopegida-a-1014993.html (eingesehen am 15.09.2015).

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Aktivistinnen und Aktivisten der Pegida-Gegner/-innen allerdings nur bedingt,100 hier wurde Solidarität oft in engem Konnex mit Zivilcourage verwendet. Mut, vor allem Mut zum Ungehorsam, spielt indes bei den hier befragten jungen Menschen überhaupt keine Rolle. Auch Mut für eine eigene Interessenvertretung wird nicht thematisiert, doch wünscht man sich vereinzelt offenbar Vorbilder, die stellvertretend mutig für bestimmte Ideen eintreten. Nun gelten Solidarität, auch Gerechtigkeit und Fairness, mithin als Kernnormen, die rechtem Denken entgegenstehen und die gesamtgesellschaftlich möglicherweise in Auflösung begriffen seien. Zwar wäre es unredlich, so weit zu gehen, dass ihr Nicht-Thematisieren in den Fokusgruppen diese Vermutung stützt, doch bleibt eben auffällig, dass Solidarität, wenn überhaupt, dann nur in einer Gruppe und wieder nur über einen Gegenbegriff – den »Egoismus« – thematisiert wird. Auch das Thema Gerechtigkeit wird häufiger über den Antipoden der Ungerechtigkeit angesprochen.101 Klassischerweise fordern diejenigen, die in der Ungleichbehandlung meist von »Deutschen« und »Flüchtlingen« eine Ungerechtigkeit sehen, vergleichbar mit dem bereits von Justus Bender für AfD-Wähler/-innen identifizierten Verhalten,102 dass Normverletzungen auch bestraft werden sollten. Gerade von den Wortführer/-innen unter den Beunruhigten wird oftmals allein schon aus der Anwesenheit der Geflüchteten eine Ungerechtigkeit abgeleitet: »Also ich finde das ungerecht, dass… Ich meine, da sitzen die Leute so auf der Wiese bei schönstem Sommerwetter mit ihren fünf Kindern – und der Deutsche geht arbeiten. […] Es ist wirklich… es ist wirklich… Menschen im eigenen Land: zweite Klasse als Deutscher. […] Das liegt ja an uns selbst, ob wir was dagegen machen oder ob wir uns das weiterhin bieten lassen.«

100 |  Der Befund wird durch die Fokusgruppen etwas relativiert. »Der Begriff wurde weit weniger exponiert aufgegriffen, möglicherweise, weil er nicht als Vorgabe in die Diskussion eingebracht wurde und die Affirmation innerhalb der Umfrage eher reflexhaft ausfiel aus der Auffassung heraus ein passendes Schlagwort erkannt zu haben. Zwar zählen die Fokusgruppenteilnehmer Solidarität zum Grundwertekanon, in der Grundrechtehierarchie ist sie aber weniger zentral.« Stine Marg u.a., NoPegida, S. 79ff. 101 | Es findet sich lediglich ein Verweis auf Ost-West-Unterschiede in dieser Debatte: Eine Dresdnerin thematisiert Gehälterungerechtigkeit zwischen Ost und West als politisches Thema, das sie bewege und das sie als Erklärung anführt, warum »die Ossis die Wessis vielleicht nicht leiden« könnten. Vom Bundesland unabhängig wird von Betroffenen erwähnt, dass man in der Bezahlung sozialer Berufe eine Ungerechtigkeit sehe. 102 |  Justus Bender, Was will die AfD? Eine Partei verändert Deutschland, München 2017.

3.  Konventionell, konform, kompatibilitätsorientier t?

Wenn es konkreter um soziale Gerechtigkeit geht, sind Äußerungen des Sozialneids eher selten. Für manche scheint es fast gottgegeben zu sein, dass es eben Arme und Reiche gebe, allerdings öffne sich die Schere zwischen diesen beiden Gruppen in den letzten Jahren immer weiter. Als Grund für soziale Spaltung wird explizit die Agenda 2010 angesprochen, aber auch, dass für »die eigenen Bürger« kein Geld da sei, »nur noch für das Thema Asyl«. Wer dagegen Fairness einfordert, der plädiert dafür, eben nicht alle über einen Kamm zu scheren, sondern zu einem vorurteilsfreien Urteil zu gelangen. Dass Gesprächsteilnehmer grundsätzlich den Wunsch nach einer gerechteren Welt äußern, ist eher die Ausnahme. Allgemein werden die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland positiv hervorgehoben; dass soziale Gerechtigkeit eher als Zielwert artikuliert werden kann, der im Alltag kaum eingefordert wird, zeigte sich auch schon in den NoPegida-Gesprächsrunden. Die bei den NoPegida-Aktivisten einen enorm hohen Stellenwert einnehmenden Grundrechte, auf die man sich als kleinster gemeinsamer Nenner stets verständigen konnte, und der sehr präsente Bezug auf das Grundgesetz, fehlen hingegen bei den jungen Menschen, die wir im Rahmen dieser Studie befragt haben, fast vollständig. Nur ein einziges Mal werden die Grundrechte als positives Merkmal Deutschlands erwähnt. Das überrascht auch deshalb, weil die in den Gruppen latent präsente Debatte um Leitkultur ja durchaus auch als Debatte einer Verfassungskultur geführt worden ist und sich die Grundrechte, wie auch der Jurist Cristof Gramm betont hat, als kleinster gemeinsamer Nenner, zumal in Räumen sozialer Erwünschtheit, nahezu aufdrängen.103 Gramms Beobachtung, dass aktuellen Versuchen, »Grundlagen nationaler Identität« aus einem »Aggregat von vielen Einzelnen« in einem gemeinsamen Nenner zu vereinen und als diese Identität auszubuchstabieren, eine Verbindlichkeit fehle, trifft auch auf unsere Gruppen zu. Verbindlichkeit auf gesellschaftlicher Ebene schaffe indes das Grundgesetz, welches eine »offene Gesellschaft« festschreibe, die sich in »vielen spezifischen Lebensweisen, Grundüberzeugungen, inneren Haltungen und Vorstellungen über das richtige Leben verdichtet.« Doch zeigt sich auch in unseren Gesprächsrunden, dass eine solche »Konstruktion […] ziemlich blutleer« bleibt, sodass sich die berechtigte Frage stellt, ob das Grundgesetz jenseits der Festlegung verbindlicher demokratischer Spielregeln überhaupt eine »überzeugende Bezugsgröße für unsere nationale Identität darstellen« könne. Die jungen Menschen haben diese Frage recht eindeutig durch ihre Nicht-Bezugnahme mit »Nein« beant103 | Vgl. hier und im Folgenden: Cristof Gramm, Verfassungskultur, Menschenwürde, Gewaltverzicht, Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie, Gleichberechtigung, sozialer Schutz, Trennung von Staat und Religion – unsere Identität, in: FAZ vom 20.07.2017, online einsehbar unter www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/leitkultur-ver fassungskultur-15113243.html (eingesehen am 05.02.2018).

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wortet. Zwar nehmen sie beispielsweise auf das Recht zur freien Meinungsäußerung und auf sozialstaatliche Garantien Bezug, doch schon bei dem Recht auf Schutz werden Zweifel laut, und, am sinnfälligsten: Das Herzstück des Grundgesetzes, die Würde aller Menschen, findet keinerlei Erwähnung. Eine offene Gesellschaft bedeutet allerdings, dass jeder auch verpflichtet ist, die Freiheit des anderen zu dulden, im Alltag auszuhalten. Gerade dieses Bewusstsein sucht man bei unseren Gesprächspartner/-innen oft vergeblich, vor allem in letzter Konsequenz, wenn sie, trotz Bekenntnis zur individuellen Freiheit, einfordern, alle müssten sich an die Regeln halten und damit oft die Regeln des eigenen Empfindens meinen.104 So kommt etwa Christof Gramm zu dem Urteil: »Demonstratives Beleidigtsein hilft dabei genauso wenig weiter wie der empörte Grundton einer sich für besonders hochstehend haltenden Moralität. […] Die offene Gesellschaft ist ganz sicher nicht die Gemeinschaft der moralisch Überlegenen – beziehungsweise derjenigen, die sich dafür halten. Differenzen, auch solche moralischer Art, werden in ihr nicht aufgehoben, sondern sind auszuhalten.«

Dieses »staatsbürgerliche Minimum« auszuhalten fällt den meisten unserer Gesprächsteilnehmer jedoch enorm schwer. Die Bereitschaft, darüber hinaus aktiv zu werden, sich ehrenamtlich zu engagieren beispielsweise, ist als bürgerliche Grundhaltung, als, wie es in der Weimarer Verfassung hieß, »staatsbürgerliche Gesinnung«, wenig ausgeprägt, ganz anders als bei den NoPegida-Aktivist/-innen, von denen viele aus der Perspektive des »Pflichtbürgers« auf die Gesellschaft schauten und von sich selbst ein entsprechendes Engagement erwarten. Gramm schließt seinen Beitrag mit einem eindringlichen Appell: »Deutschland wird heute jedenfalls ganz wesentlich auch durch eine Verfassungskultur zusammengehalten, bei der Menschenwürde und Grundrechte, Gewaltverzicht und Friedlichkeit, Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie, Gleichberechtigung, Respekt vor anderen, sozialer Schutz, die Trennung von Staat und Religion und – nicht zuletzt – eine auf diesen Grundlagen beruhende staatsbürgerliche Verantwortungsethik die Eckpfeiler darstellen. Eine gemeinsame Identität im Staat des Grundgesetzes, die ohne diese Elemente auszukommen meint, wäre jedenfalls unvollständig.«

Diesen Vorwurf müssen sich die jungen Menschen, mit denen wir sprachen, wohl größtenteils gefallen lassen.

104 | Gramm beschreibt hierbei einen Zusammenhang, der in Kapitel 6 noch einmal Bedeutung erlangen wird.

3.  Konventionell, konform, kompatibilitätsorientier t?

3.4.5 »Mal ein bisschen Ordnung schaffen«: Der Wunsch nach Konformität und Kontrolle Thomas de Maizière äußerte im Zuge der Leitkultur-Debatte: »Vielleicht sind wir stärker eine konsensorientierte Gesellschaft als andere Gesellschaften des Westens.«105 Und in der Tat: Das bereits thematisierte Harmoniebedürfnis korreliert in unseren Fokusgruppen mit einem Hang zur Konformität und dem Wunsch nach Kontrollier- und Planbarkeit.106 Die Erwartungshaltung aller Gesprächsgruppen ist, dass alle nach den Regeln spielen. Normverstöße werden nicht angestrebt, vielmehr prinzipiell missbilligt. Spielen diese in den SINUS-Typen von Jugendlichen unter 18 Jahren möglicherweise lebensphasenbedingt noch eine große Rolle, ist es für unsere Teilnehmer wichtig, angepasst zu sein, auf jeden Fall aber nach den Regeln zu spielen. Bei der Frage, wer zuständig sei, Probleme im Land zu lösen, wird die Verantwortung von vielen externalisiert und »der Politik« zugeschoben, von der gleichfalls erwartet wird, dass sie als Kontrollinstanz auch regulierende Kontrollmechanismen entwickle, und dem Wunsch entspreche, alles möge in geregelten Bahnen verlaufen. Obwohl ein Gefühl verbreitet sei, dass etwas nicht richtig funktioniere im Land, werde nur in Ausnahmefällen dazu aufgerufen, Widerstand auch in Wort oder Handlung zu artikulieren. Auch die Verbalisierung von Nonkonformität im eigenen Lebensentwurf ist sehr selten und nur in den unbekümmerten Gruppen zu beobachten. Doch selbst hier handelt es sich meistens nicht um gesellschaftlich nonkonformes Verhalten, sondern lediglich um eine Devianz von der Peergroup, mit der auch 105 | Vgl. Thomas de Maizière, »Wir sind nicht Burka«. 106 | Diese Beobachtung wird in der SINUS-Jugendstudie unter dem Schlagwort »Neo-Konventionalismus« verhandelt. »Es geht heute den wenigsten Jugendlichen darum, der Mainstream-Kultur der Erwachsenen eine eigene ›Subkultur‹ entgegen zu setzen. Der Wertekanon der Jugend ist nahezu derselbe wie bei den Erwachsenen […]. Folgerichtig hat auch die Bedeutung der noch in den 1990er und vor allem 1980er Jahren identitätsstiftenden Jugendkulturen beziehungsweise Jugendszenen weiter abgenommen. Im Vergleich zur Studie 2012 ist dabei wirklich neu, dass der Begriff ›Mainstream‹ heute kein Schimpfwort mehr ist. Im Gegenteil – er ist ein Schlüsselbegriff im Selbstverständnis und bei der Selbstbeschreibung. Diese positive Bezugnahme auf den Begriff kann als neue Sehnsucht nach Normalität interpretiert werden. Jugendliche wollen heute mehr noch als vor wenigen Jahren so sein ›wie alle‹. Dem entsprechen auch eine generelle Anpassungsbereitschaft der Jugendlichen und ihre selbstverständliche Akzeptanz von Leistungsnormen und Sekundärtugenden. Vgl. Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 475. Vgl. dazu auch Inga Borchard und Silke Borgstedt, Ich bin eher so Mainstream, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft H. 3/2016, S. 79-87.

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kokettiert wird, wie beispielsweise von einem Teilnehmer, der sagt, er stehe mit seinem politischen Interesse im Freundeskreis alleine da. In der gleichen Gruppe fällt auch der Satz eines Teilnehmers, er wolle keinesfalls »alltäglich« sein. Den anderen in der Gruppe fällt aber auf, dass sie sich in einem verhältnismäßig homogenen Umfeld bewegen, in einer »Akademikerblase«, in der alle ähnlich dächten. Interessanterweise äußern selbst diejenigen, die sich als unabhängig und aufgeklärt verstehen, den Wunsch nach einer reglementieren autoritär-ordnenden Instanz, der es beispielsweise möglich sei, Hassparolen in der Bild-Zeitung einzuschränken. »Normal sein« scheint für die jungen Menschen, ebenso wie die spießigen Lebensziele Familie und Eigenheim, nicht im Ruch der Langeweile zu stehen, sondern es scheint für die meisten erstrebenswert zu sein: »Alles, was zu krass ist, alles was radikal ist, finde ich schlimm, also auch beide Seiten, rechts – links. […] Das heißt jetzt nicht, dass man sich jetzt überall anpassen muss oder… ja so ’n Fähnlein im Wind ist, davon halte ich nichts. Aber ich denke, wenn das alle Menschen befolgen würden, ginge es uns auch ein bisschen besser zusammen im Umgang miteinander.«

Die Gefahr, als opportunistischer Wendehals zu gelten, wird hier zwar problematisiert, aber doch eher in einer halbherzigen Weise, die dem »Befolgen« einen deutlich größeren Stellenwert beimisst. Diese Brechung findet sich gerade bei denjenigen besonders stark, die sich am meisten wünschen, dass alles in geordneten Bahnen abläuft, eben so, wie es »früher« angeblich war. Wer explizit betont, sich nonkonform zu verhalten, tut dies trotzdem meist noch innerhalb eines Stabilität gebenden Systems. Eine Teilnehmerin sieht sich seit ihrer Kindheit als Teil der Fankultur Dynamo Dresdens, Fußball ist eine strukturierende und sinngebende Größe in ihrem Leben. Für sie ist es jedoch selbstverständlich, nicht auf Sitzplätzen das Spiel zu verfolgen, sondern sie geht in den K-Block, und unterteilt die Stadionbesucher in zwei Kategorien: »Es gibt einmal die, wo Fußball für’n Arsch ist. Das sind nämlich die, die sitzen. Und es gibt einmal den sogenannten Fanblock oder Chaotenblock darf man auch gerne sagen, nehme ich jetzt auch keinem übel. Das sind dann wirklich die Hartgesottenen, die auch stehen, wo auch, sag ich mal, ordentlich Action im Block ist. Ich muss für meine Person gestehen: Ja, wir sind halt K-Block-Gänger, das ist nun mal so.«

Das vermeintlich rebellische Verhalten dient der Identitätsstiftung, zu einer bestimmten Gruppe zu gehören, die sich von der als spießig empfundenen Mehrheit abhebt. Interessanterweise wird das Thema Konformität häufiger über Pegida verhandelt. Die einen berichten von Begegnungen im Bekanntenkreis, in denen

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ihnen der Vorwurf gemacht wurde, nicht zu Pegida zu gehen, und damit zu den »Ja-Sagern« zu gehören. Andere sehen die Anziehungskraft von Pegida darin, dass man dort unter »Gleichgesinnten« sei und interpretieren gerade die Pegidist/-innen als die Angepassten und belegen Pegida mit dem Begriff »Mitläufer«. Diese Vokabel benutzen aber gerade die Teilnehmenden, die selber extrem konform erscheinen, stromlinienförmiges Verhalten von anderen einfordern und die offensiv Themen der Patriotischen Europäer vertreten. Andere Stimmen betonen den Aspekt der Hooligans, die bei Pegida mitliefen, um Randale zu machen. Mitlaufen wird hier also so verstanden, dass man gar nicht für oder gegen eine Sache protestiere, sondern nur teilnehme, um gewaltbereit zu agieren.

3.5 W erteprofile und S pezifik a  – Z wischenfa zit Da mit der vorgenommenen Analyse keine Typenbildung im engeren Sinne angestrebt wird, sollen nun abschließend eher Auffälligkeiten gebündelt werden, um ein Bild von den jungen Menschen und ihren Werteprofilen zu zeichnen, auf deren Aussagen die vorliegende Studie wesentlich basiert. Es sei noch einmal in Erinnerung gerufen, dass Inglehart ursprünglich zwischen zwei Wertesphären unterschieden hat, nämlich einer materialistischen und einer postmaterialistischen. Hierbei werden ersterer Sicherheits- und Versorgungsbedürfnisse zugeschrieben, während letztere die Kernbegriffe Partizipation und Menschenwürde, ebenso aber auch intellektuelle und ästhetische Bedürfnisbefriedigung beinhaltet. Kern des Inglehart’schen Konzepts ist hierbei die hierarchische Ordnung beider Sphären: Erst die Befriedigung materialistischer Werte schaffe die Kapazitäten, sich auf postmaterialistische Werte zu fokussieren. Doch wurde diese Bipolarität in der Folge die Existenz von Mischtypen aufgeweicht beziehungsweise durchbrochen, weswegen die Werteforschung sich nun verstärkt als Wertewandelforschung versteht.107 Diese interpretiere die Werteaneignung als Anpassungsprozess an veränderte Lebenssituationen. Doch bleibe die Grundstruktur des Werteraums strittig, auch wenn sich die Deutung einer Mehrdimensionalität nach Klages durchzusetzen scheint, in die widersprüchliche Wertorientierungen einfließen und zu einer Synthese zusammengeführt werden.108 Die recht konventionellen, doch eher an Stabilität interessierten, aber tendenziell im SINUS-Schema dem Postmaterialismus Zuneigenden, sind in unseren Gruppen überwiegend Student/-innen, die traditionelle Konzepte wie Familie zwar spießig, aber dennoch erstrebenswert finden, Politik in einem gut 107 | Vgl. Marie-Luise Gehrmann und Dietmar Sturzbecher, Zukunftserwartungen und Migrationswünsche, S. 21ff. 108 | Vgl. auch Philipp Lechleiter, Wertekonstellationen im Wandel, S. 47 und S. 66.

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bekömmlichen Format konsumieren und ansonsten sehr klassische Berufswege wählen (Lehrer, Pflegeberufe usw.). Sie zeigen ein Bewusstsein für den Wert des Allgemeinwohls, das sie aber eher im kleineren Rahmen (Familie, Freunde) und weniger gesamtgesellschaftlich gestalten. Zu ihrer Vorstellung eines guten Zusammenlebens gehören prosoziale Werte und die Abbildung der Hände unterschiedlicher Hautfarben, die für Vielfalt stehen. Sie liegen, blickt man auf die üblichen Wertewolken, bei allem ungefähr in der Mitte der Matrix und würden von Klages als »aktive Realisten« bezeichnet werden. Wohlfühlwerte wie Geborgenheit und Gemütlichkeit spielen eine große Rolle. Eine weitere Gruppe (der meist Unbekümmerten) ist stärker an Veränderung orientiert, meidet die Klischees des Eigenheims oder die Betonung des Werts der Familie und orientiert sich eher an kreativen, ästhetischen Kategorien, die Selbstverwirklichung bedeuten, bei SINUS wären sie den veränderungsaffinen Postmaterialisten (oder: nonkonformen Idealisten) zuzuordnen. In dieser Gruppe sammeln sich auch diejenigen, die Politik und Veränderung durch Meinungsäußerung einen großen Stellenwert beimessen, ihren Veränderungswillen also eher auf die Gesellschaft als auf die eigene Biografie richten. Einige wünschen sich explizit Veränderung durch Zuwanderung. Sie verkörpern tendenziell den »progressiven Pol« des Wertewandels. Ihre Lebensphilosophie beruht auf Selbstentfaltung, obwohl auch sie, zumindest in einem gewissen Grad, auf Sicherheit bedacht sind, allerdings eher aus einer Haltung der kritischen Distanz oder Ironie heraus. Ihnen ist in extremer Zuspitzung (zumindest in der aktuellen Lebensphase) Alltäglichkeit ein Graus, sie präsentieren sich als mobile, auch fluide Persönlichkeiten, für die Erlebniswerte einen zentralen Raum einnehmen. Lifestyle kommt vor allem bei den eher materialistisch orientierten eine hohe Bedeutung zu, Selbstverwirklichung und auch Selbstausdruck stehen für sie an erster Stelle. »Erwachsene« Dinge, wie die Gründung einer Familie, erscheinen erst in ferner Zukunft als Zielvorstellung auf der Agenda. In unserem Sample drückt sich der tendenziell hohe Bildungsgrad dieser Teilnehmer auch darin aus, dass sie Geld im Gegensatz zu den anderen nicht thematisieren. Als Variation dieser Gruppe gibt es aber auch diejenigen, die dieser Rastlosigkeit eine bewusste Sesshaftigkeit entgegenstellen, die explizit wieder aus der Stadt auf das Land ziehen möchten, die eine sehr enge Anbindung an ihre Herkunftsfamilie und ihren Heimatort haben, die den Ausgleich in der Natur suchen und sich für sehr konventionelle Lebensmodelle stark machen. Bei SINUS wären sie die stabilitätsorientierten Materialisten, obwohl Materialismus im Sinne von Orientierung an Konsum und materiellen Statussymbolen entgegen der Benennung keine große Rolle spielt. Sie wissen zwar, dass ihre Präferenzen nicht denen entsprechen, die man jungen Menschen gemeinhin zuschreiben würde, doch sie verfechten sie trotzdem und sind bemüht, die Einwände gegen ihr Lebensmodell zuvorkommend argumentativ zu entkräften.

3.  Konventionell, konform, kompatibilitätsorientier t?

Eine idealtypische Gruppe, die definitiv an Stabilität interessiert ist, dies jedoch eher an Wertvorstellungen festmacht, die sich auf Rücksichtnahme (auch: Umweltschutz) und »gut und schön« zusammenleben (Geborgenheit, Gemeinsamkeit) bezieht, richtet den Fokus sowohl auf das eigene Leben (in der Natur finden sie Ruhe, Ausgleich, zu sich selbst und ihren Wurzeln zurück) als auch auf globalere Themen, die sie jedoch mit einem persönlichen Empfinden abgleichen. Prosoziale Werte wie Menschlichkeit, Toleranz und Vielfalt sind hier Schlagworte – manchmal allerdings auch nicht mehr. In diese Gruppe mischen sich Töne der Konsumkritik, dass »Luxus um jeden Preis« eben nicht erstrebenswert sei und jeder durch »bewussteres Verhalten« seinen Beitrag leisten könne, obwohl das vielleicht »altmodisch« sei. Sie ähneln dem SINUS-Typ des Sozialökologischen, allerdings nur partiell, da sich in dieser Gruppe auch Teilnehmer finden, die Umweltschutz eher als Heimatschutz interpretieren und zwar ein gewisses Maß an Rücksichtnahme zeigen, dieses aber dezidiert der Natur »als Lebensgrundlage« und nicht etwa Geflüchteten entgegenbringen. Der Klimawandel wird dann zu einem Narrativ des »Früher war alles besser« (»erschreckend«, wie es heute ist). Ihre Sehnsucht nach Ursprünglichkeit kippt stellenweise in eine Verklärung eines vormaligen Zustands, der in jeder Komponente besser als das ist, was heute geschieht. Eng an traditionelle Vorstellungen gebunden, an Stabilität interessiert und an Materialismus, Sicherheit und Schutz ausgerichtet, ist eine Gruppe, die sich überwiegend aus den Beunruhigten rekrutiert und auch als »ordnungsliebende Konventionalisten« bezeichnet wurde. Sie prangern Missstände an und wenden sich explizit von bestimmten Werten wie Vielfalt ab. Gemeinschaft und (mit einigen Abstrichen und Brüchen) Heimat sind hier besonders wichtig, aber zu der Gemeinschaft gehört dezidiert nicht jeder dazu, sondern es geht eher um die eigene Gruppe, die sich gegen andere behauptet. Diese Gruppe zeigt zum Teil eine Art sentimentale Idealisierung der Vergangenheit, die eigentlich ein stereotypes Charakteristikum älterer Menschen ist. Verstärkt wird das dadurch, dass sie die Bilder darüber auswählen, was sie im Leben bereits geprägt habe. Eine Teilgruppe formuliert vor allem feste Zielvorstellungen vom Leben, Vorbilder und Idealzustände (Makellosigkeit, Schönheit, Glück, Sauberkeit, Sicherheit), die sich allerdings auch mit einem starken Selbstverwirklichungsdrang mischen  – für sie zentral und mit allen anderen Werten irgendwie verbunden ist ein individuelles »Wohlgefühl«, das sich klar auch über Wohlstand definiert, der ihre eigene Wohlfühloase ermöglichen soll. In dieser Gruppe finden sich die stärksten emotional-normativen Urteile (»eine Schande«) und man empört sich darüber, wenn eine Ungleichbehandlung ohne Konsequenzen bleibt. Positive Dinge werden eher plakativ oder mit ausdrucksarmen Wörtern wie »nett« und »schön« benannt, doch negative Dinge »regieren uns« oder »verfolgen uns«, sodass sich auch sprachlich Angst und eine Wahrnehmung der Fremdbestimmung manifestiert.

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Es gibt eher wenige, die sich als desillusionierte Realisten beschreiben lassen. Diese zeigen ein Bewusstsein dafür, dass Politik keine Idealzustände schafft, beklagen aber dennoch tendenziell den Zustand der Welt, in der sie leben, allerdings ohne eine Schuldzuweisung in Richtung Politik abzugeben. Das Bild von Hochhäusern in einer Großstadt symbolisiert für sie eine Dystopie: eine überfüllte, hässliche Welt. Sie sprechen wenig über sich selbst, über Hobbies oder Werte, sondern über allgemeine Zustände. Auch sind sie verhältnismäßig unsicher, Zögernde, die sich keine offensive Meinungsartikulation zutrauen, ohne allerdings das Bedürfnis zu haben, konformistisch zu sein. Für sie ist die Bewältigung des Alltags maßgeblich, ihre Biografien sind durchaus von Jobwechseln und Veränderungen geprägt, ohne dass die Karriere zielstrebig geplant wäre – vieles scheint sich einfach so ergeben zu haben, ohne dass man es selbstbewusst in die Hand genommen hätte. Es gibt allerdings auch solche, die, obwohl sie zweifeln, durchaus idealistisch-suchende Vorstellungen von der Zukunft haben. Sie sehen zwar vieles realistisch und kämpfen mit Jobsuche und der Suche nach Zugehörigkeit, mit der »harten Realität«, was aber nicht zwangsläufig zu Verzweiflung oder Desillusionierung führt, sondern eher zu einer Suche nach Idealen und etwas Gutem, welches mit träumerischen Passagen gefüllt wird. Aufgrund der genannten Aspekte erscheint es nicht angebracht, diesen Typus mit dem des perspektivlosen Resignierten gleichzusetzen: Zwar gibt es ein resignierendes Moment, doch kann man nicht davon sprechen, dass die hier Genannten keinerlei Wertvorstellungen vertreten würden. Zutreffend ist jedoch, dass sie recht fatalistisch auftreten und partiell auch schicksalsergeben handeln und argumentieren, überdies nicht für detaillierte Lebensziele eintreten. Vor allem die jüngsten Teilnehmer unserer Fokusgruppen lassen sich als eher jugendlich wirkende Materialisten fassen, die sehr konventionell und von allem ein bisschen sind. Sie sind Veränderungen durchaus nicht abgeneigt, haben aber feste Ankerpunkte in traditionellen, stabilitätsgebenden Werten wie einer Familie, Zusammenhalt und Freundschaft. Diese Gruppe ist zwar teilweise auf Hilfe des Staates angewiesen, würde es aber lieber aus eigener Kraft schaffen, um unabhängig zu sein. Sie sind fest davon überzeugt, dass ihre Peergroup ganz im Sinne des Staates und des meritokratischen Ideals etwas lernen solle und auch wolle, doch würden staatliche Institutionen ihnen auf diesem Weg des Öfteren Steine in den Weg legen. Autoritäten, haben einen großen Einfluss auf sie und es gelingt nicht unbedingt, sich gegen diese zu behaupten. Sie sind in der Zusammenschau wenig selbstständig oder neugierig, dafür sehr auf übergeordnete traditionelle Werte bedacht. In ihre positive Konnotation von Gemeinschaft mischt sich beizeiten ein naiv wirkendes, unhinterfragt positives Bild von Deutschland. Eine eher männlich dominierte Gruppe tritt als hedonistischer unpolitischer Materialist auf, der sich über den PC, Fitness und Freunde definiert,

3.  Konventionell, konform, kompatibilitätsorientier t?

zwar bemerkend, dass dies über ihn als Person wenig verrate und etwas oberflächlich wirke, aber das seien nun mal die Dinge, die sein Leben bestimmen. Bilder, die Lifestyle verkörpern, haben insgesamt einen soliden Platz im Mittelfeld. Das Fitnessstudio steht hier für Ausgleich, Auspowern, Sportlichkeit. Auch ein Bild von Models, die werbeplakatmäßig ihren perfekten Body präsentieren, war durchaus von Bedeutung, und zwar in gleichmäßiger Verteilung, sodass man von einem Merkmal von relativer Relevanz für alle Jugendlichen sprechen kann (»ein krasser Body gehört halt dazu« und verleihe »Selbstbewusstsein«). Teilweise werden sie als Schönheitsideale, also explizit als Vorbilder angesehen. Smartphone und Laptop stehen für »unterwegs sein« und mit Freunden in Kontakt bleiben, als Kommunikationsmöglichkeit, den Anforderungen einer mobilen, globalisierten Welt und den mit ihr einhergehenden Beziehungsformen gerecht zu werden. Insgesamt bleibt dieser Typus allerdings lieber dort, wo er ist. Seine Heimat liebt er, weil er »schon immer hier« war; wenn er nicht muss, wird er nicht weggehen und sein Leben in den gewohnten Bahnen managen. Sein Umfeld hat ihn geprägt und das findet er bewahrenswert. Man möchte eine »ordentliche Beziehung« führen, am Wochenende feiern gehen, den Alltag vergessen. Hier werden Dinge häufig als »einfach schön« bezeichnet. Für sie ist der Ausgangspunkt oftmals Geld (allerdings geht es weniger um den aktuellen Zustand, sondern um Wünsche), damit stehe alles in Verbindung. Doch geht es hier nicht um Macht durch Geld, sondern um »ein bisschen mehr« Geld, damit sei alles »schöner«. Diese Perspektive ist bescheidener und individueller. Diese Gruppe weiß, dass sie sich die Rahmenbedingungen heute erarbeiten muss, um morgen genießen zu können. Für sie ist es wichtig, zunächst das eigene Leben zu managen, Rücklagen zu bilden, Sicherheiten zu schaffen, bevor er über den eigenen Tellerrand blickt. »Seine Schäfchen ins Trockene bringen« lautet hier die Maxime. Insgesamt: Die Forschung hat hinsichtlich der Wertegruppen als gesellschaftlich dominanten Typ den »aktiven Realisten« ausgemacht.- Dieser vereine eine leistungsorientierte und zugleich moderat hedonistische Wertemischung, habe ein mittleres Bildungsniveau, wähle Volksparteien mit leichter CDU-Präferenz und sei ansonsten ein »modernisierungstüchtiges Individuum, das Selbstverwirklichung und Pflichtethos, Partizipation und Gehorsam, Spaß und Leistung in einem synthetischen Weltbild« vereint.109 Man spricht von einem leistungsorientierten »Anpacker«, der mit einem starken Innovationsbedürfnis und voller Tatendrang sein Leben gestalte, seinen Mitmenschen mit einem aufrichtigen Interesse begegne. »Das moderne, offene und gleichzeitig prinzipienfeste Weltbild des ›Realisten‹ unterstreicht auch dessen mentale Stärke, die sich wiederum darin zeigt, dass er geringere psychische Angst- und Gefährdungspotentiale aufweist als andere Wertetypen.« 109 | Hier und im Folgenden: Lechleiter, Wertekonstellationen im Wandel, S. 53.

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Doch was von diesem angeblich so weit verbreiteten Typus zeigt sich in unseren Gruppen? Wohl ist das Gros unserer Teilnehmer leistungsorientiert und gestaltet sein berufliches Leben entsprechend, doch tut man dies eben nicht als dynamisch anpackendes, selbstbewusstes Individuum, sondern eher, um für sich im bescheidenen Rahmen das Beste zu erreichen und, weil alle es so machen, die Erwartungshaltung nahezu implantiert erscheint. Vor allem das Innovationsbedürfnis fehlt den meisten völlig: Veränderungen werden, wenn sie sich nicht vermeiden lassen, in Kauf genommen, oder wenn, dann in bescheidenem Umfang aus einer gesicherten Komfortzone heraus gewagt, sofern es eine ausreichende Absicherung und einen Weg zurück gibt. Tatendrang taucht hier eher in der Gestalt einer Einsicht in die Notwendigkeit (Man tut, was man muss) auf und begrenzt sich auf die eigenen Ziele. Eine aktive Gestaltung der Gesellschaft oder Politik ist für die meisten außerhalb ihres Relevanzsystems. Das Interesse für die Mitmenschen begrenzt sich auf den sozialen Nahraum, intensiv kann nur die eigene Familie mit Aufrichtigkeit und tiefer Bindung rechnen. Das Weltbild ist weder besonders offen, noch prinzipienfest, sondern wenn überhaupt pragmatisch zusammengesetzt. So ist auch Angstpotenzial latent vorhanden, aber keine allgegenwärtige Drohkulisse. In unserem Sample waren also nicht die aktiven Realisten, sondern die ganz Konventionellen dominant.110 Und so zeigt sich, dass das, was in mehreren hier vorgestellten »Werteypen« Gültigkeit besitzt, die Beschreibung derer ist, die bei SINUS »Konservativ-bürgerliche: Die familien- und heimatorientierten Bodenständigen mit Traditionsbewusstsein und Verantwortungsethik« genannt werden. Die Erklärung hierfür liegt in der insgesamt extrem ausgeprägten Ausrichtung an Konformität. Für sie sind Anpassungs- und Ordnungswerte sowie Kollektivwerte (wie Familie und Zusammenhalt) enorm wichtig. Sie neigen zur »autoritären Interpretation von Sekundärtugenden«.111 Hedonistische Werte sind zwar auch vorhanden, sie rangieren aber in ihrer Bedeutung deutlich hinter einer umfassenden »Liste von Werten des traditionell-bürgerlichen Tugendkatalogs: Bodenständigkeit, Vernunft, Standhaftigkeit, Sachlichkeit, Beständigkeit, Bescheidenheit, Gewissenhaftigkeit, Zielstrebigkeit, Fleiß, Treue, Gehorsam, Disziplin, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Höflichkeit, Ordnungsliebe, Sauberkeit, Harmonie«112 . Es dringt ein starkes Bewusstsein durch für die bewährte gesellschaftliche Ordnung, die immer auch in Gefahr zu geraten scheint, an der man aber eigentlich festhalten möchte. Für Konservativ-Bürgerliche ist eher Selbstdisziplinierung als Selbst110 | Einschränkend muss angemerkt werden, dass es sich hier auch um einen methodischen Zerreffekt handeln könnte, da sich erfahrungsgemäß eher »angepasstere« Menschen dazu entscheiden, an derartigen Gruppendiskussionen teilzunehmen. 111 |  Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 39. 112 | Vgl. ebd., S. 40.

3.  Konventionell, konform, kompatibilitätsorientier t?

entfaltung charakteristisch, Lifestyle spielt entsprechend eine untergeordnete, Geld eine überhöhte Rolle. Konventionell bedeutet hier vornehmlich: Sie spielen nach den Regeln, sind heimatnah, verwurzelt, risikofern und durchaus patriotisch eingestellt. Sie gehen im Leben auf Nummer sicher und wünschen sich körperliche Unversehrtheit ebenso wie materielle Absicherung, schlagen mit Freude eine »Normalbiografie« ein, die durchaus auch als Ideal überhöht wird. Familie ist eben das allerwichtigste, eine (homogene) Gemeinschaft hat ohnehin einen enorm hohen Stellenwert. Das, was geplant werden kann, wird früh geplant, man möchte nichts bis wenig dem Zufall überlassen, obwohl man dennoch irgendwie im Hier und Jetzt lebt, weil man um die Unwägbarkeiten, heutzutage eine solche Biografie linear zu planen und umzusetzen, weiß. Das sorgt zwar für Unbehagen, aber vor allem auch für Achselzucken. Ihre Zukunftswünsche sind »von Bescheidenheit, Nüchternheit, und Realismus gekennzeichnet. Alles, was man will, ist ein anständiges Leben ohne Not in harmonischen familiären Verhältnissen.«113 Und um das zu erreichen, zeigt man selbstverständlich eine hohe Leistungsbereitschaft.

113 | Ebd., S. 48.

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4. Politikdistanz und Polarisierungsresistenz Die unpopulären Themen

4.1 P egida als B ezugssystem : P rimäre D istanz und   sekundäre A nschlussfähigkeit Obgleich die originären Pegida-Demonstrationen weiterhin stattfinden, sich als Label, Marke und Chiffre ebenso fest im Diskurs etabliert haben wie als Protestritus in der Dresdner Altstadt, gilt selbiges nicht länger für den Ableger aus Leipzig: Während Pegida zum dreijährigen Jubiläum noch einmal eine Art Höhenrausch feierte und so viele Menschen mobilisieren konnte wie lange nicht, nutzten die Leipziger Verteidiger des Abendlandes ihren zweiten Geburtstag dazu, die eigene Auflösung bekannt zu geben. Genauer gesagt erklärte die Führungsspitze den Rückzug von der Straße, nachdem man seit einiger Zeit nur noch einmal im Monat statt wöchentlich demonstrierte. Die Meinungsäußerung auf der Straße in den vergangenen zwei Jahren habe sich als sehr anstrengend erwiesen und man wolle die politische Auseinandersetzung zukünftig mit anderen Formen und Formaten fortführen: Hierzu seien Bürgersprechstunden und Kabarettabende geplant.1 Damit haben zwei Jahre intensiver Auseinandersetzungen in Leipzig ihr vorläufiges Ende gefunden. Und so kann und konnte Legida weiterhin als eine Intensivierung und Steigerung des Dresdner Vorbilds, aber auch als eine Umkehrung der Verhältnisse in Dresden betrachtet werden: Die Leipziger Variante galt von Anfang an als verschrobener, aber auch in ihren Inhalten radikaler als das Protestbündnis an der Elbe.2 Auch die Zahlenverhältnisse auf 1 | Vgl. o. V., L egida plant keine Demos mehr – stattdessen Kabarett und Netzwerkarbeit, in: Leipziger Volkszeitung 09.01.2017 online einsehbar unter www.lvz.de/ Specials/Themenspecials/Legida-und-Proteste/Legida/Liveticker-Legida-in-Leipzigam-9.1.2017 (eingesehen am 07.02.2017). 2 | Vgl. Christian Bangel, Der Hass von Leipzig, in: Zeit Online 13.01.2015 online einsehbar unter www.zeit.de/politik/deutschland/2015-01/legida-demonstration-leipzig/ komplettansicht (eingesehen am 07.02.2017).

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den Leipziger Straßen waren eine Umkehr der Dresdner Zustände: Während die NoPegida-Proteste in Dresden fortwährend aus einer Position der numerischen Unterlegenheit heraus agierten, war der Gegenprotest in Leipzig immer sehr präsent, auch robust oder schlicht übergriffig – und ja, bisweilen gewalttätig – im Umgang mit den Legida-Protesten.3 Wendet man den Blick schließlich gen Westen, nach Duisburg respektive Nürnberg, ist es ratsam, zunächst hervorzuheben, dass die Erhebungen auch deshalb in diesen beiden spezifischen Städten durchgeführt wurden, weil beide Städte Ableger von Pegida hatten, die vor allem aufgrund ihrer Radikalität und der Beteiligung von bekannten Persönlichkeiten aus dem extrem rechten Spektrum aufgefallen sind. Beiden Ablegern, Nügida in Nürnberg und Duigida in Duisburg (nicht zu verwechseln mit Dügida in Düsseldorf) ist ihre Erwähnung in den Verfassungsschutzberichten der jeweiligen Landesämter gemein.4 In Nürnberg sind mit Michael Stürzenberger und Gernot Tegetmeyer zwei Personen Schlüsselfiguren des lokalen Protests, die auch wiederkehrende Gastredner auf der Pegida-Bühne in Dresden sind.5 Zusätzlich zu wissenschaftlichen Umfragen in Dresden gab es solche auch bei Ablegern von Pegida in anderen Städten, unter anderem Braunschweig, Duisburg und Hannover. Während es immer relativ problemlos möglich war, auch auf den Demonstrationen selbst für die Umfrage zu werben, war Duisburg in diesem Zusammenhang die einzige Stadt, in der damals mit Rücksicht auf das Wohlergehen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf eine Demonstrationsbefragung während einer Duigida-Veranstaltung verzichtet wurde.6 Auf die Frage hin, wie Pegida nun auf die Jugend und die jungen Menschen vor Ort wirkt, ist es angemessen, eine Unterscheidung einzuführen, denn Pegida existiert als Adressat auf zwei verschiedenen Ebenen: Einerseits gibt es die Sphäre der symbolisch-metaphorischen Referenz, die hauptsächlich auf einer rhetorisch-diskursiven Ebene angesiedelt ist. Andererseits handelt es sich bei der zweiten Wirkungsebene um die materiell-physische Präsenz der Demonstrationszüge auf den Straßen und Plätzen. Beide Ebenen sind im Reden über Pegida und Legida innerhalb unserer Diskussionsgruppen in den 3 | Vgl. Stine Marg u.a., NoPegida, 23ff. 4 |  Vgl.  Gregor Mayntz, Rechtsextreme unterwandern Pegida, in: Rheinische Post 06.10.2016 online einsehbar unter www.rp-online.de/politik/rechtsextreme-unterwandern-pegidaaid-1.6307459 (eingesehen am 29.01.2018); Jonas Miller, Die Bewegung am Boden, in: Bayrischer Rundfunk 23.09.2016 online einsehbar unter www.br.de/nachrichten/ rechtsaussen/pegida-in-bayern-100.html (eingesehen am 29.01.2018). 5 |  Vgl. Kapitel 2.2. 6 | Vgl. Franz Walter, Studie zu NoPegida, in: Göttinger Institut für Demokratieforschung, 26.01.2015, online einsehbar unter: www.demokratie-goettingen.de/blog/studie-zunopegida (eingesehen am 29.01.2018).

4.  Politikdistanz und Polarisierungsresistenz

entsprechenden Städten präsent gewesen, wenn auch in einem unterschiedlichen Maße. Diese Varianten in den Protestkonstellationen haben auch einen gewissen Einfluss auf die Wahrnehmung, der sich in dem erhobenen Material wiederfindet. Allgemein muss jedoch vorangestellt werden, dass das Thema Pegida in Dresden (respektive Legida in Leipzig) nicht so stark beschäftigt oder polarisiert, wie dies zunächst aufgrund der Historie der Proteste in den Städten, aber auch aufgrund von Einschätzungen ortsansässiger Expertinnen und Experten aus Zivilgesellschaft, Lokalpolitik oder Journalismus zu erwarten gewesen wäre. Gerade im Hinblick auf Dresden war oftmals von einem Polarisierungseffekt und einem Positionierungszwang die Rede, der auf die ganze Stadt einwirke und jeden dazu nötige, sich für oder gegen Pegida auszusprechen. Aus Sicht dieser Perspektive könne es in Dresden kein »Dazwischen« geben, Dresden nach 2014 zivilgesellschaftlich zu denken sei letztlich nur noch in den Kategorien Pegida versus NoPegida möglich. So hörten wir es nicht nur von den Demonstrierenden selbst, sondern auch in den Expert/-inneninterviews mit Politiker/-innen und Manager/-innen der Zivilgesellschaft. Dieser Eindruck lässt sich allerdings auf der Grundlage unseres Materials nicht bestätigen, im Gegenteil: Die Ergebnisse der Fokusgruppen mit den jungen Menschen stehen in einem deutlichen Widerspruch zu diesen Einschätzungen. Zu einem Positionierungszwang kam es hier eher dergestalt, dass sich die Befragten zumeist erst dann zu Pegida geäußert haben, wenn das Thema von der Moderation aktiv angesteuert wurde. Obgleich flexibel konzipiert, um zu jedem Gesprächsmoment eine Thematisierung zu ermöglichen, sollte die Diskussion in diese Richtung gehen, kam Pegida über das gesamte Material hinweg vorwiegend erst dann zur Sprache, wenn es zum Ende der Diskussionsrunde als Thema vorgegeben respektive aktiv thematisiert wurde. Von sich aus sprachen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht über Pegida. Diese Augenfälligkeit, dass Pegida gerade nicht selbsttätig thematisiert wurde, erklärt zu einem gewissen Teil auch die Art und Weise des Redens über das Phänomen. Sicherlich: Einige unserer Befragten lehnten die Patriotischen Europäer entschlossen ab, andere hielten die Demonstrationen für gut und richtig. Aber das Gros der Teilnehmenden betrachtete die montäglichen Demonstrationen doch mit einer gewissen Gleichgültigkeit – einer Gleichgültigkeit, die sich auch sprachlich abbildete. Zwei weitere Aspekte verdienen im Vorfeld der detaillierten Analyse noch Beachtung: Zunächst stellt sich die Frage nach der ständigen Präsenz von Pegida als Masterframe: Zwar wurde im Rahmen der Erhebungen strikt darauf geachtet, in Leipzig auch auf das Phänomen Legida – und später in Duisburg und Nürnberg auch Duigida und Nügida – Bezug zu nehmen. Dennoch steht die Frage im Raum, inwieweit die Proteste von Legida in Leipzig durch das Phänomen Pegida geprägt und beeinflusst sind. Oder, anders gefragt: Ist es unseren Teilnehmenden möglich, von Legida und weiteren Gida-Ablegern

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in anderen Städten zu sprechen, ohne gleichzeitig Pegida mitzudenken? Zumindest Personen, die in Städten außerhalb Sachsens gegen lokale Pegida-Ableger demonstriert haben, hatten Mühe, diese Trennung aufrechtzuerhalten: Die geringe Größe dieser lokalen Ableger und die Tatsache, dass diese häufig rasch wieder versandeten, führten dazu, dass sich nicht nur die Ableger auf das Vorbild in Dresden berufen haben. Auch die Gegenproteste suchten den Bezug zu Pegida, um ihre Positionen und ihr Engagement zu erläutern. Auch wenn sich die Proteste in Dresden von den Formationen in den übrigen Städten, die als Erhebungsorte dienten, in relevanten Punkten unterscheiden – hier sind beispielsweise die Zahlenverhältnisse bei den Demonstrationen oder das Konfliktpotenzial zwischen den beiden Lagern zu nennen –, ist davon auszugehen, dass es ausreichend Anknüpfungspunkte gibt und beim Reden über die lokalen Ableger auch Pegida-Frames mitgedacht und mitthematisiert werden.

4.1.1  Reden über L egida : Ohne N o L egida geht es nicht Fragten wir junge Menschen in Leipzig nach ihrer Meinung und ihren Eindrücken zu Legida, so war das Urteil zunächst einmal in der Mehrheit wenig schmeichelhaft für die Patriotischen Europäer zwischen Gewandhaus und Uniriesen: »Nazis«, »Schwachsinn«, »rassistische Idioten«, »das sind diese … die gegen Ausländer sind«, »Mitläufer«, »Stress jeden Montag«, »sinnlose Steuerverschwendung«, »Vandalismus« »Engstirnigkeit«, »Patrioten« oder »Gegen die Islamisierung und Überfremdung unserer Gesellschaft in unserem Land. Keine Moscheen.« Auf der Ebene der kurzen, plakativen Beschreibung und Charakterisierung Legidas dominieren vor allem Äußerungen der Ablehnung und Verachtung der Leipziger Demonstrationszüge. Wenig verwunderlich scheint hierbei, dass die derbsten Ausdrücke in jener Gesprächsrunde formuliert wurden, deren Teilnehmende überwiegend einen Migrationshintergrund haben, und frei rekrutiert wurden. Darüber hinaus sind sie in der Mehrheit selbst (oder zumindest Familienmitglieder) Angehörige der islamischen Religion. Zwei Teilnehmende haben darüber hinaus eine Fluchtbiografie und faktisch alle sind ihren Selbstdarstellungen nach mehrfach Adressaten fremdenfeindlicher und rassistischer Anfeindungen gewesen. Die ganze Rhetorik und Programmatik Legidas stellt für diese jungen Menschen also so etwas wie einen frontalen und fortwährenden Angriff auf den Kern der eigenen Identität – als Muslima oder Muslim, als Geflüchtete oder als Zugewanderte oder einer Kombination dieser Momente – dar. Jenseits der zunächst plakativ und aufgrund der Aufforderung, zunächst einmal spontane Assoziationen zu äußern naturgemäß vereinfachenden Charakterisierung erfährt das Bild von Legida jedoch im Diskussionsverlauf eine vage Ausdifferenzierung: Die Empörung und die Wut bleiben bestehen. Es herrscht schlichtweg Fassungslosigkeit:

4.  Politikdistanz und Polarisierungsresistenz »Das war einfach unfassbar, dass überhaupt Menschen mit so einer Meinung irgendwie auf die Straße gehen… können. Oder es überhaupt schaffen, irgendwie auf die Straße zu kommen. Und deswegen hat uns das einfach alle richtig aufgeregt und wir waren deshalb so geladen und sind halt dann immer jede Woche hingegangen auch.«

Dabei wirkt es hier, als seien nicht einmal die fremdenfeindliche Gesinnung und die islamophobe Haltung von Legida als solche der eigentliche Quell der Fassungslosigkeit  – die sind schließlich aus eigener Erfahrung lange und wohlbekannt. So ist es Gruppenkonsens, dass sich für sie selbst als Menschen mit Migrationshintergrund nicht viel geändert habe. Folgende Äußerung einer befragten Person, die in Jugendzeit aus Südostasien nach Deutschland gekommen ist, fasst den Gruppenkonsens an dieser Stelle pointiert zusammen: »Ja, also ich finde es hat … also aus meiner Ansicht nach, ich glaube, es gibt kaum Veränderungen. Es gibt… also man merkt es halt, dass es mehr Proteste gibt und so weiter, aber jetzt so Umgebung jetzt, also meine ist eigentlich wie immer. Beleidigungen waren schon immer da. Und wird es auch immer geben.«

Vielmehr herrscht offenkundiges Entsetzen darüber, dass es diese Haltungen in Form von Legida auf die Straße geschafft haben, dass sie nunmehr öffentlich sind und im Rahmen einer Demonstration geäußert werden können. Eine Erklärung dafür könnte darin zu suchen sein, dass die Integrität des öffentlichen Raumes, die Bedeutung der Straße, in Leipzig auf eine besondere Art und Weise kodiert ist. Sie erfüllt für und in der Stadt eine spezifische, sinn- und identitätsstiftende Funktion.7 Neben der eindeutigen Etikettierung von Legida gibt es zugleich auch Differenzierungsversuche. Die abstrakte Demonstrationsmenge Legida wird grob in zwei Teile geteilt: Einmal »echte Nazis«, die bloß auf Krawall aus seien. Der andere Teil wird als Sammelgruppe von Mitläufer/-innen kategorisiert, auch wenn es hier wiederum zwei Typen gebe: Einmal jene, die Legida zur Artikulation ihrer ökonomischen Ängste und materiellen Unsicherheiten nutzten, ihrer Frustration Ausdruck verliehen und schließlich eine Gruppe von mehr oder weniger zufällig Protestierenden, die aus Langeweile teilnähmen. Kritisiert werden in dem Zusammenhang vor allem die, »die Angst haben« – jedoch nicht dafür, dass sie diese Angst vor einem ökonomischen Verteilungskonflikt haben, sondern für die Art und Weise, wie sie diese Angst artikulierten, nämlich im Fahrwasser fremdenfeindlicher und rassistischer Proteste. Diese Wahrnehmung von Legida zieht sich auch durch eine weitere unserer Gesprächsgruppen: In der freirekrutierten Gruppe ist der Argumentationsverlauf beim Thema Legida in vielen Teilen sehr ähnlich: Auf der einen Seite 7 | Vgl. Stine Marg u.a., NoPegida, S. 58ff.

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gibt es die Zubilligung des politischen Engagements, das Recht auf Meinungsäußerung zur Artikulation als solcher empfundener Missstände. Gleichzeitig kommt es dahingehend zur Missbilligung dieser Meinungsäußerung, weil diese nicht an einer Lösung des Konflikts oder einer Diskussion des Problems interessiert sei: »Aber gleichzeitig habe ich nicht das Gefühl, dass man wirklich bereit ist irgendwie zu ’nem Austausch und zu ’ner irgendwie Lösung zu kommen oder mal… ja… über Dinge zu diskutieren. Sondern ich habe das Gefühl, dass es immer nur so, ’ne: ›Ich bin damit nicht einverstanden‹-Einstellung ist, ›aber ich will jetzt auch nicht wirklich was ändern‹.«

Aus dem weiteren Kontext dieser Äußerung wird die Sympathie der befragten Person für die Gegendemonstrationen deutlich, an die sie im Zusammenhang von Legida und Pegida eigentlich zuerst gedacht habe, weil sie auch mehrmals an diesen teilgenommen hätte. So ist das Zugeständnis der Demonstrationsfreiheit wenig mehr als eben genau dies: Ein rhetorisches Zugeständnis, das durch seine argumentative Rahmung konterkariert und (in Teilen) sogleich wieder kassiert wird. Darüber hinaus sorgt die Feststellung, dass eine Diskussion mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Legidas an deren Weigerung zum Austausch scheitere, für eine Immunisierung der eigenen, in diesem Falle dezidiert ablehnenden Haltung gegenüber Legida. Indem die Demonstration als Recht zur Meinungsäußerung zugleich mit der Pflicht zur Diskussion verknüpft wird, wird Legida doppelt delegitimiert: Die unterstellte Diskussionsverweigerung ermöglicht nicht nur die Diskreditierung der Legida-Demonstration in Gänze; sondern es wird hierdurch eine Katharsis der Gegenproteste ermöglicht: En passant wird das NoLegida-Lager von fast jeder Verpflichtung zur Auseinandersetzung mit Legida in der Sache befreit, weil diese Auseinandersetzung von Legida von vornherein verweigert werde. Diskussion, so wird hier zum ersten, aber nicht zum letzten Mal deutlich, scheint also weniger auf einen Austausch abzuzielen als vielmehr auf die Unterwerfung der anderen, gegenteiligen Meinungen. Diese Argumentation fügt sich dabei bündig in die lokale politische Kultur in Leipzig – auch wenn sie nicht exklusiv für Leipzig gilt – ein, bei der die Diskurshoheit in der Sache gelegentlich auch mit den Größenverhältnissen auf der Straße gleichgesetzt wird.8 Dies führt zu einer weiteren Besonderheit, die das Reden über Legida in Leipzig stark von dem Reden über Pegida in Dresden unterscheidet: Die Wahrnehmung, Thematisierung und Positionierung der Gegendemonstrationen und ihre Rolle während der Legida-Proteste. Da die Legida-Demonstrationen von Anfang an aus einer Position der zahlenmäßigen Unterlegenheit gegen8 | Vgl. ebd.

4.  Politikdistanz und Polarisierungsresistenz

über den Gegenprotesten heraus agiert haben, sich die kommunale Verwaltung und Akteure aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft früh und konsequent gegen Legida positioniert haben,9 ist das Ereignis Legida kaum von dem Phänomen NoLegida zu trennen. So war es auch der Beunruhigten-Gruppe in Leipzig faktisch nicht möglich, Legida zu thematisieren, ohne die Gegenproteste ebenfalls anzusprechen. So beginnt die Gesprächspassage damit, dass eine der Teilnehmerinnen Bekannte erwähnt, welche der Hooliganszene zuzuordnen sind und »wo die ganzen Läufe waren, auch mitgelaufen sind. Und ich finde es auch sehr… das spornt halt einfach zu diesem nationalistischen Denken einfach an. Finde ich erst mal schlecht. Also meine Meinung. Und dass es auch sehr viele Mitläufer gibt, weil die einfach nur sozusagen dieses… dieses Randalieren, dieses gegen die Polizei einfach leben.« An dieser Stelle erfolgt von dem einzigen sehr bekennenden Pegida- und Legida-Unterstützer in Reaktion die Erwähnung gewaltbereiter Gegendemonstrant/-innen: »Das machen aber unten die Linksextremen in Connewitz, das machen die aber nicht?« Hieraus folgt eine Diskussionsdynamik, die, indem sie mit den Extrembeispielen beider Protestgefüge argumentiert, auf eine Ablehnung von Protestereignissen als Ausdruck von extremistischer Auseinandersetzung hinausläuft. Die Identifikation der jeweiligen Proteste mit ihren extremen Ausprägungen führt am Ende zu einer gänzlichen Zurückweisung der Proteste – und Protest allgemein. Die Konfrontation von Legida und NoLegida hat aufgrund von stadtspezifischen Eigenlogiken einen inkrementellen Distanzierungseffekt. Die Kongruenz von Protest mit Gewalt führt für einen wesentlichen Teil unserer Befragten – nämlich maßgeblich jenen, die sich nicht explizit zu einem der beiden Protestlager bekennen  – zu einer Delegitimation von Protest insgesamt. Die Proteste werden dadurch nicht zu einer legitimen Äußerung politischer Willensbildung, sondern zu einer simplen Verschwendung von Steuergeldern, die im Endeffekt beiden Protestparteien angelastet wird: Legida, weil das Bündnis, obwohl es selbst die falsche Aufwendung von Steuermitteln kritisiere, durch die fortdauernden Proteste selbst zu einem erheblichen Steuermittelaufwand beitrage, indem es Gegenproteste von NoLegida provoziere, die eine massive polizeiliche Absicherung nötig machten. Diese Sakralisierung des Steuergeldes ist ein Motiv, das die Befragten auch in anderen Kontexten beschäftigt und sie, dies hat die Auseinandersetzung über das Relevanzsystem und die Werthaltungen der Jugendlichen gezeigt,10 damit auf einer grundsätzlichen Ebene charakterisiert.

9 | Michael Lühmann, Ostdeutsche Lebenslügen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik H. 11/2017, S. 59-64, hier S. 64. 10 |  Vgl. Kapitel 3.4.

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Jene Gruppe der Befragten, die sich den beiden Protestlagern gegenüber indifferent verhalten, vollzieht eine Zurückweisung der Proteste maßgeblich über ihre Form. Dies bedeutet jedoch nicht zwingend, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung nicht auch stattfindet. So wird die Distanzierung von Legida von einigen mit Hilfe hypothetischer Szenarien begründet, welche die Notwendigkeit einer eigenen Flucht vor Terror, Krieg, Hunger oder Umweltkatastrophen imaginieren. Gleichzeitig ist es aber auch über die Bezugnahme auf die Form und Gestalt der Proteste möglich, eine Distanzierung herzustellen, auch wenn sich weltanschauliche Überschneidungen ausmachen lassen. Diese strukturierende Formwahrnehmung ist dadurch charakterisiert, dass sie als konfrontativ und nicht an einer Diskussion und Übereinkunft interessiert wahrgenommen wird. Dieses Konsensinteresse deutet auf ein Politikverständnis, das vor allem auf Einvernehmen, Bruchlosigkeit und auch Unsichtbarkeit ausgerichtet ist. Politik oder politisches Handeln, das diese Unsichtbarkeit und Bruchlosigkeit dadurch infrage stellt, dass es nicht nur sichtbar wird, sondern darüber hinaus auch noch das Unvernehmen11 beider Parteien hervorhebt, wird in diesem Zusammenhang also als ungerechtfertigt und schließlich schlichtweg störend wahrgenommen. Dies resultiert dann in den Aussagen, dass das Tandem von Demonstration und Gegendemonstration, was in Straßensperren, umgeleiteten Straßenbahnen, verlängerten Arbeits- und Heimwegen – kurz »Stress jeden Montag« – mündet, vor allem auf seiner strukturellen Ebene abgelehnt wird. Die Äußerungsform von Protest spielt für die Diskutant/-innen in Leipzig also eine nicht unwesentliche Rolle. Dies gilt einerseits für das Entsetzen darüber, dass Fremdenfeindlichkeit und ausländerfeindliches Ressentiment, welches für die Betroffenen ohnehin im täglichen Alltag erlebbar ist, durch den Protest in Form von Legida eine neue Stufe der Sichtbarkeit erlangt und dadurch Billigung erfahren und Wirkungsmacht entfaltet hat. Andererseits werden die Proteste mittels der Unterstellung zurückgewiesen, ihre Struktur sei zweck- und ziellos und nicht an der Schaffung eines Konsenses interessiert. In beiden Fällen werden Prozesse der Raumaneignung und die Politisierung von öffentlichen Räumen, maßgeblich der Straße, thematisiert. Um die Bedeutung zu verstehen, mit der diese Prozesse der Raumaneignung betrachtet und bewertet werden, ist es notwendig, die spezifische Semantik von Raumaneignung in Leipzig zu berücksichtigen: Die Freiräume in Connewitz12, die Verdrängung der rechten Aufmärsche am Völkerschlachtdenkmal und die 11 | Vgl. Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M. 2002. 12 | Vgl. Dieter Rink, Der Traum ist aus? Hausbesetzer in Leipzig-Connewitz in den 90er Jahren, in: Roland Roth, Dieter Rucht (Hg.), Jugendkulturen, Politik und Protest: Vom Widerstand zum Kommerz?, Opladen 2000, S. 119-140.

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allgemeine Marginalisierung der rechten Szene zur Jahrtausendwende13, in gewisser Hinsicht auch die Montagsdemonstrationen von 1989: Jeder dieser Momente und Konflikte wurde auch vornehmlich auf der Straße ausgefochten. Spätestens seit den Montagsdemonstrationen von 1989, aber auch mit der Herausbildung und Duldung der Hausbesetzungsszene, ist die Inanspruchnahme von Raum und Räumen in Leipzig in einer für die Stadt spezifischen Weise politisiert und mit einem emanzipatorisch-positiven Sinnbezug aufgeladen. Deshalb gibt es in Leipzig eine sehr spezifische Auffassung von Straße als öffentlichem und politischem Raum, den es zu erkämpfen, zu bewahren und – notfalls – zu verteidigen gelte. Der »Mythos Heldenstadt«14 und der »Mythos Connewitz«15 sind wesentliche Teile des Leipziger Selbstverständnisses, über das die Stadt Bewegungsaffinität, Strukturoffenheit und die Facetten politischer und zivilgesellschaftlicher Gestaltung gezielt als positive Ressource nutzt.16 Allerdings erzeugen diese Topoi auch Verwerfungen, denn der Zugriff auf diese positiven Ressourcen ist limitiert und die Anschlussfähigkeit nicht unbegrenzt. Gerade dort, wo dieser Sinnbezug nicht zustande kommt, ist Abkopplung die Folge. Dies betrifft vor allem die Indifferenten, die sich weder positiv (wie NoLegida) noch negativ (wie Legida) auf diesen Selbstverständnisrahmen beziehen können. Formal greifen sie auf dieselben oder zumindest ähnliche rhetorische Versatzstücke zurück. Aber ein Anschluss an diese Sinnbezüge ergibt sich dadurch gerade nicht. Die konstatierten Polarisierungseffekte, gar Polarisierungszwänge, die durch die fortdauernde Präsenz von Legida und Pegida auf die Menschen ausgeübt würden, perlen an einem Gutteil der Befragten in Leipzig offenbar einfach ab. In einer für Leipzig und der politischen Kultur der Stadt spezifischen Art und Weise findet sich in dieser speziellen Abkopplung der Ausdruck einer allgemeineren und tiefer greifenden Indifferenz, die sich vermutlich nicht nur auf das Thema Legida in Leipzig erstreckt. Vielmehr gibt es gute Gründe anzunehmen, dass sich diese Indifferenz auch auf die Politik und das Politische

13 | Vgl. Korinna Klasen, Völkerschlacht in Leipzig, in: Jungle World 22.04.1998. 14 |  Vgl. Friederike Meyer zu Schwabedissen und Monika Micheel, Heldenstadt Leipzig und Weihnachtsland Erzgebirge – Zur Bildhaftigkeit von sprachlichen Raumkonstruktionen, in: Social Geography Discussions Jg. 2 (2006) H. 1, S. 129-160, hier S. 114-145. 15 |  Vgl. Martin Machowecz, Connewitz, komm raus, in: Zeit Online 16.04.2015 online einsehbar unter www.zeit.de/2015/16/antifa-leipzig-connewitz-besetzte-haeuser (eingesehen am 07.09.2015). 16 |  Vgl. Oliver D’Antonio, Zwischen Rathaus, Milieu und Netzwerk. Über die lokale Verankerung politischer Parteien, Wiesbaden 2015, 542.

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im Allgemeinen bezieht und somit den Ausdruck einer gewissen Grundstimmung darstellt.17

4.1.2  Reden über P egida : Ein strukturelles Problem? In Leipzig war es den Teilnehmenden der Gruppendiskussionen faktisch nicht möglich, Legida zu thematisieren, ohne die Gegenproteste ebenfalls zu erwähnen. Ganz anders in Dresden. Hier finden die Gegenproteste keinerlei Erwähnung, so wie sie auch im Verlauf der drei Jahre, die Pegida seit Oktober 2017 besteht, kaum einmal eine ähnliche Zahl von Menschen zum Protest motivieren konnten wie ihr Gegenüber.18 Auch ist die initiale Umschreibung von Pegida in den Dresdner Gesprächen eine andere, der Ton ist im Ganzen wohlwollender: So fanden sich neben neutralen oder verteidigenden Zuschreibungen wie »Diffamierung«, »Label«, »Gegenstimme«, »Meinungsfreiheit«, zwar auch kritischere Töne wie »Verkehrschaos, »Volksverdummung«, »radikal« und »Idioten«. In der Wortwahl und in der Häufigkeit sind die distanzierten Haltungen gegenüber Pegida in Dresden vergleichbar mit den Äußerungen in Leipzig. Zugleich sind jedoch der positive Bezug oder die entlastenden Aussagen in Dresden sehr viel häufiger als in Leipzig. Jenseits dieser groben Charakterisierung entfaltete sich in den Gruppen aber eine durchaus bemerkenswerte Gesprächsdynamik. Auf den Punkt gebracht: Pegida hat ein massives Nachwuchsproblem. Was sich auf der Ebene quantitativer Befragungen angedeutet hat – der Rückzug der Jugendlichen und jungen Menschen aus dem Protestgefüge19 – findet seine Entsprechung und Bestätigung in den Diskussionsrunden. Die jungen Menschen in Dresden gehen nicht zu Pegida. Selbst wenn die Proteste an sich wohlwollend betrachtet werden, reiht man sich nicht regelmäßig zwischen den anderen »Patrioten« ein. Einmal, so räumt eine Person aus den beunruhigten Gruppen schließlich ein, sei sie dabei gewesen: »Also ich war mal ganz am Anfang, da […], habe ich das einfach mal auf mich wirken lassen, was da so für eine Aura ist, halt, ne? Und hab das dann auch nicht weiter verfolgt halt, ich war nur einmal da, weil das ist ja schon krass.« Ansonsten begnügen sich unsere potenziell Pegida-affinen Befragten damit, die Verteidigung des Abendlandes einer mittlerweile erfahrenen Protest-Gerontokratie zu

17 | Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 4.2. 18 |  Ausnahmen bilden hier die Proteste, die das einjährige P egida -Jubiläum begleitet haben und zwei, von Stadt und Verwaltung organisierte, Konzert-Veranstaltungen im Frühjahr 2015. 19 | Vgl. Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora?, S. 11ff.

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überlassen, schließlich ist der Altersschnitt bei den Pegida-Protesten merklich angestiegen.20 Dass die Bereitschaft, an einer Pegida-Demonstration teilzunehmen, in unseren Gesprächen eher übersichtlich gestreut war, bedeutet jedoch nicht, dass das Protestbündnis rundum und in Gänze abgelehnt werde: Vielmehr wird Pegida an einigen Stellen vehement verteidigt. Beispielsweise wird dezidiert zurückgewiesen, dass bei Pegida Nazis marschierten. Es handle sich vielmehr um »ganz normale Leute, ältere Leute, normale Mittelschicht«. So wurde die Teilnahme sogar in Erwägung gezogen, aber letztlich nicht realisiert: »Ich sag’s, ich war da noch nie. Ich würde mir vielleicht mal überlegen, dorthin zu gehen, mir einfach mal ein Bild zu machen. Aber ich finde es im Großen und Ganzen okay. Das sind halt wenigstens noch Leute, die mal ihre Gehirnzellen noch ein bisschen benutzen. Ob das immer richtig ist, was die denken, ist ja egal. Das weiß ja sowieso niemand, ob das richtig ist. Aber die haben wenigstens noch eine Meinung. Das sind nicht solche Multikulti-Fanatiker.«

Die ideelle und thematische Übereinkunft zwischen dieser Teilnehmerin und den »patriotischen Europäern« ist sehr ausgeprägt, wird in gewissem Maße selbst hergestellt. Im Rahmen unserer Erhebungen in Dresden stellt dies aber das positivste Bekenntnis zu Pegida dar, das unmittelbar als solches erkennbar ist. Dennoch resultierte dieses offensive Bekenntnis, das sich sogar in einer direkten Übernahme von Vokabular auszeichnet, nicht in einer Teilnahme an den Demonstrationen: »Ich würde… ich will es mir selber auch mal angucken, was da so los ist. Ich war da noch nie.« Neben dieser sehr eindeutigen, positiven Bezugnahme auf Pegida sind Wechselspiele zwischen Billigung und Ablehnung des Pegida-Bündnisses durchaus üblich in unseren Dresdner Gesprächen und wurden immer wieder in einem Muster eines Sowohl-als-auch thematisiert. Während Themen, Inhalte und Motivationen durchaus Wertschätzung erfahren oder zumindest in ihrem Ursprung nachvollzogen werden können, finden die Folgen der Pegida-Veranstaltungen für die städtische Infrastruktur  – vor allem den öffentlichen Personennahverkehr  – nur mäßigen Anklang. Umleitungen, Verspätungen und Sperrungen waren immer wieder Quell konstanten Ärgers, der sich schließlich auch gegen Pegida richtete:

20 | Vgl. ebd. sowie Karl-Heinz Reuband, P egida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen der Kundgebungsteilnehmer, in: Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung Jg. 22 (2016) H. S. 52-69.

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P egida -Effekte? »Ich finde es auch einfach nur… nervig. Wenn ich Montagabend von der Arbeit komme und mir so überlege, bei mir hat ja so ’ne Woche, ist ja so ein bisschen fortlaufend. Ich stand schon manchmal Montags abends [an der Haltestelle] und dachte so: Och Kacke, kannst du schon wieder laufen bis nach Hause, weil es fährt nichts. Das ist so ein Mist! Ich finde es persönlich sehr… einfach nur nervig.«

Diese Störung des Heimwegs nach einem langen und harten Arbeitstag – die Urheberin dieser Sätze erklärte an anderer Stelle, dass sie zwei Jobs habe  – wiegt besonders schwer und übertüncht damit auch die Sympathien, die eigentlich für Pegida und deren Anschluss an die Montagsdemonstrationen von 1989 vorhanden sind: »Weil warum, ich meine, es gab schon mal früher so diese Initiativen, dass man montags auf die Straße gegangen ist, um etwas durchzusetzen. Siehe Wende – sonst hätten wir sie nicht. Wo man sagt, die richtigen Ansätze an den richtigen Stellen platziert mit den richtigen Mitteln. Ja, durchaus richtig. Aber irgendwann nervt’s einfach nur, weil die machen jeden Montag einfach nur die Straßen dicht und bringen tut’s unterm Strich sowieso null.«

Die Anerkennung für den Modus der Pegida-Demonstrationen schlägt hierbei noch in derselben Sequenz in Enttäuschung und Frustration um. Oder auch: Die Hoffnung auf Verbesserung, auch der eigenen, mitunter prekären Erwerbssituation, symbolisiert durch den Bezug auf die Demonstrationen von 1989, schlägt um in Frustration über die stagnierenden Proteste, wobei der inhaltliche Fortschritt und der politische Erfolg Pegidas assoziativ identisch mit den blockierten Straßen und Straßenbahntrassen in Dresden gesetzt und somit als blockiert wahrgenommen wird. Gerade durch den Bezug auf die Wende von 1989 (das Wort an sich bezieht sich ja bereits auf einen Moment der Bewegung) entfaltet die Charakterisierung von Pegida mit Hilfe von Vokabeln wie Umweg, Verzögerung und Stillstand eine besondere metaphorische Wucht, die letztlich in einer Fundamentalenttäuschung mündet: Trotz der Tatsache, dass die Inhalte und Ziele der Protestformation eigentlich für gut befunden werden, wird diese negativ bewertet, weil sie einerseits den gewünschten Fortschritt nicht erzielt, sondern stagniert – und andererseits sogar das persönliche Alltagsleben blockiert. Zu der primär strukturellen respektive verkehrspolitischen Kritik gesellt sich stellenweise auch die Kritik an der Organisation, dem Verein Pegida. Weniger an ihren inhaltlichen Positionen, sondern an der mangelnden Distanzierung gegenüber rechtsradikalen Milieus, die das Erscheinungsbild der Proteste prägten und dadurch diskreditieren würden. »Mich hat am Anfang vor allem auch gestört, dass die sich nicht distanziert haben von anderen Gruppen, die mitmarschiert sind. Also Hooligans zum Beispiel, wo ich sage, die

4.  Politikdistanz und Polarisierungsresistenz haben einfach bei so ’ner Idee, sag ich mal nichts verloren, weil die sind einfach bloß auf blöde Gewalt aus und das ist völlig zu verurteilen. Also wenn man sich verbal mit der Sache auseinandersetzt oder gedanklich, ist das in Ordnung in jeder Art. Aber Gewalt, ob nun links oder rechts, das verurteile ich von allen Seiten, ne? Da hört der Spaß dann auf.«

Hier erfolgt eine eindeutige Distanzierung von einer Verknüpfung zwischen politischer Auseinandersetzung und der Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung dieser Ziele. Die Hooligans dienen hierfür als argumentatives Bildelement. Zwar wird die Distanzierung durch die Auseinandersetzung mit Pegida provoziert, jedoch auch auf jede Art politischer Auseinandersetzung ausgedehnt. Hieran lassen sich nunmehr verschiedene weitere Interpretationsszenarien anschließen. Das Offenkundige besteht darin, dass politische Auseinandersetzung für diesen Gesprächsteilnehmer dezidiert eine Auseinandersetzung des Wortes sein muss, in der Gewalt keinerlei Rolle spielen darf. Hierbei kann die Ausweitung dieses Gebots (»in jeder Art«) der rhetorischen Fokussierung als eine Klärung von Selbstverständlichkeiten angesehen werden: Es muss für alle gelten. Gleichzeitig  – und diese Interpretation mag in Teilen der eigenen Verortung in der Politikwissenschaft geschuldet sein – lässt sich diese Aussage auch so lesen, dass sie wie eine parademäßige Anwendung der Extremismustheorie funktioniert, wie sie in Sachsen als gesellschaftlich weithin geteiltes Selbstverständnis gilt.21 Hierbei liegt die besondere Konnotation des »in jeder Art« in der Gleichsetzung der Hooligans, denen gewaltsame politische Interessensdurchsetzung zugeschrieben wird, mit ihrem linken Gegenstück. Die gedankliche, verbale, jedenfalls nicht gewalttätige Auseinandersetzung ist damit nicht bloß die »richtige« Art und Weise, sie wird auch zugleich lediglich in einer Repräsentation von politischer Mitte und Mäßigung entdeckt. Auf dieser Ebene ist die oben zitierte Aussage eine Kritik an Pegida, deren Initiatorinnen und Initiatoren sich, weil sie sich nicht von den Hooligans distanzierten, ihr eigenes Ansehen diskreditiert hätten. Dergestalt gelesen kehrt sich der Bedeutungsgehalt der Aussage von einer Kritik an Pegida wegen der Hooligans in ein Lob an Pegida trotz der Hooligans um: Obwohl die Distanzierung von den Hooligans ausblieb – eine Tatsache, die gerade in der Anfangszeit von Pegida auf die Zusammensetzung des Organisationsteams zurückzuführen ist 22 –, steht man der Bewegung nicht grundsätzlich kritisch gegenüber. Die sichtbare Beteiligung eines Milieus, das mit Gewaltbereitschaft assoziiert wird, führt zwar zu einer Diskreditierung des Anliegens, jedoch nicht, weil das Anliegen und das sichtbare Milieu kritikwürdig wären, sondern weil das 21 | Vgl. Lars Geiges u.a., P egida , 22ff. 22 | Vgl. ebd.

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kritisierte und sichtbare Milieu das eigentlich inhaltlich geteilte Anliegen diskreditiert. Dieses rhetorische Muster ist jedoch keineswegs in dieser Ausprägung singulär, sondern im Verlauf der Fokusgruppen in mehreren Varianten aufgetreten. Mit Rückblick auf die Eingangsstatements zu Pegida, die oben angeführt wurden, sind hierunter vor allem die Zuweisungen »Diffamierung, Meinungsfreiheit« und »Label« zu nennen. Kern dieses argumentativen Strangs, der in dieser deutlichen Ausprägung ein Spezifikum der Gespräche in Dresden ist, ist damit eine Fokusverschiebung: »Man sagt seine Meinung. Natürlich unterstützt man das mit den Worten ›wir sind das Volk‹, wir möchten auch mal was sagen, wir möchten unsere Meinung jetzt nach außen tragen, hört uns bitte an. Was damit gemacht wird, das sehen wir in den Medien. Zuerst wurde es gehypet. Wie gesagt, am Anfang war das ja wirklich eine positive Medienberichterstattung. […] Und direkt danach dann, wo es dann wirklich zu viele waren, wo es dann mal hier ich glaube Zwanzig-Dreißigtausend waren, da wurde es dann: Nee, die haben wahrscheinlich dann irgendwann zu viel Macht, die müssen wir wieder runterkaspeln, sonst drehen die uns noch rein. Und schwupp: Nee, ist alles Rechte, ne? Ist alles Nazi. Also das finde ich eigentlich schade drum.«

Hier findet die Diskreditierung Pegidas (auch hier verstanden als gute und richtige Idee) nicht dadurch statt, dass die falschen Teilnehmer/-innen, also beispielsweise Hooligans, mitliefen und dadurch das Bild ruinierten, sondern dadurch, dass die Medien die Protestformation wie einen Spielball behandelt hätten. Das Muster ist ein ähnliches zum obigen Fallbeispiel: Die an und für sich für gut befundene Idee wird in ihrer Wirkungskraft geschmälert, einmal durch die Tatsache, dass die falschen Leute, also Hooligans, die Idee repräsentierten, und ein andermal dadurch, dass die Idee schließlich im falschen Licht, durch die Medien, dargestellt werde, sobald sie erfolgreich zu werden drohe. In beiden Fällen zielt die Argumentation jedoch darauf ab, die Idee Pegida, aber auch jene Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Demonstrationen, die beiden Effekten (womöglich gegen ihren Willen) ausgesetzt seien, argumentativ zu legitimieren oder zu rehabilitieren. Bemerkenswert ist, dass diese Argumentationsmuster vordergründig zunächst immer auch als eine Kritik an Pegida in Gänze verstanden werden können. Erst aus einem längeren Kontext heraus, der sich teilweise über die komplette Gesprächslänge erstreckt hat, wird erkennbar, dass dies keineswegs eine primäre Kritik an Pegida darstellt, sondern auch einen verteidigenden Charakter besitzt. Besonders deutlich wird die Entwicklung dieser Erzähllogik in einer frei rekrutierten Realgruppe; dort entwickelt sich das Narrativ im Verlauf von über 60 Minuten Diskussionszeit.23 Es beginnt mit der Etablie23 | Für eine ausführliche Herleitung und Kommentierung dieses Sachverhalts anhand einer beispielhaften Textsequenz vgl. den Anhang.

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rung einer Rechtfertigung des Meckerns und der Unzufriedenheit, geäußert im Kontext der Heimat, die an dieser Stelle lokal und kommunal konnotiert und nicht nationalpolitisch aufgeladen war, mit dieser Bedeutung jedoch aufgeladen wird und dadurch Raum für die Thematisierung von Pegida schafft. Hierdurch wird zunächst die Rechtfertigung der Unzufriedenheit und des Meckerns konkretisiert, indem Pegida als der einzige Ort benannt wird, in dessen Kontext dies überhaupt noch möglich sei. Gleichzeitig sind sich die Teilnehmenden der Tatsache bewusst, dass die Protestgeschichte Pegidas für diese Möglichkeit der Unzufriedenheitsäußerung mitunter nicht den besten Leumund darstellt. Das besagte Narrativ der Diskreditierung dient nun dazu, genau diese Verbindung aufzubrechen: Daraus erwächst im Verlauf der Diskussion letztlich ein Moment der Absolution für alle, denen Pegida als einzige Möglichkeit gilt, politischen Widerspruch zu artikulieren: Sie übersetzt sich in eine Art »Pegidist aus Notwehr«.

4.1.3  Protest aus Notwehr? Eine Diskreditierungsperspektive Mit der Erzählung, dass die Pegida-Proteste eine Art Notwehr darstellen, werden diese zugleich stark relativiert. Indem die negativen Aspekte (Propaganda, Fremdenhass, dumpfe Parolen) als vereinzelt wahrgenommen oder externen Strukturen zugeschrieben werden, wird ein Großteil des Pegida-Publikums von diesen Tendenzen ausgenommen, wenn nicht gar im direkten Sinne des Wortes »ent-schuldigt«. Im Rahmen dieser konzeptionellen Trennung wird argumentiert, dass das Publikum sicher nicht in erheblichem Maße für die Propaganda und den Fremdenhass empfänglich sei, weil es letztlich darum gehe, sich (fast wie in Notwehr) gegen die Politik aufzulehnen. Die Dresdnerinnen und Dresdner, die zu Pegida gehen, seien damit gleichsam in einer doppelten Opferrolle gefangen: Zunächst seien sie Opfer der Medien, die die wenigen »rechten Ausnahmen« in ihrer Berichterstattung überbetonten. Und schließlich sind sie Opfer der fremdenfeindlichen Hetzpropaganda eines Lutz Bachmann und anderer Rednerinnen und Redner, die sie mit ihrer Fremdenfeindlichkeit zu verführen suchten. Am Ende bleibt das Bild der aufrechten Dresdner Bürgerinnen und Bürger, und des aufrechten Bürgers, der all diese Unbill erträgt, weil ihm keine andere Möglichkeit gegeben sei, seiner Verstimmung mit der Politik und den politischen Verhältnissen anderweitig Ausdruck zu verleihen. Dass dieses Argumentationsmuster ausgerechnet in Dresden eine derart frappierende Repräsentation erfährt und sich, wenn auch in verschiedenen Abstufungen, in mehreren Dresdner Gruppen wiederfindet, ist nicht völlig überraschend: Die Auseinandersetzung um die Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg, der »Opfermythos« der Stadt, gilt für die jüngere Stadtgeschichte als ein derart prägendes Ereignis, dass es einen diskursmächtigen Charakter

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erhält. Spuren dieser rhetorischen Muster – in diesem Falle die Wahrnehmung und Selbstthematisierung als Opfer – übertragen sich auch auf Auseinandersetzungen jenseits dieser Debatte. Allerdings sollte diese Interpretation auch nicht überreizt werden, da Prozesse und Rhetorikmuster der Externalisierung, Reinwaschung und Selbstetikettierung als Opfer zwar durchaus in Dresden vorkommen, aber eben keine Phänomene sind, die sich lediglich auf diese Stadt beschränken. So gibt es sowohl in Dresden wie auch in Leipzig, aber beispielsweise auch in Duisburg Stimmen, die Legida und Pegida als eine Art »Unheil von außen« charakterisieren, welches in Form von auswärtigen Demonstrationsteilnehmer/-innen über die Stadt gekommen sei. Bloß: In Dresden ist diese Erzählung ungleich präsenter. Bei der Rekonstruktion des Narrativs ist auffällig, welcher Zeithorizont den Befragten unserer Gruppengespräche offenbar geläufig ist, wenn sie Pegida thematisieren. Sicherlich: Die Einschränkungen der städtischen Mobilität sind ein fortdauerndes Ereignis, das sich unabhängig von der Teilnehmendenzahl beständig wiederholt. Was bei der Diskussion von Pegida in Dresden weiterhin hervorsticht, ist die Tatsache, dass sich die Beschreibungen von Pegida in großen Teilen auf die Hochzeit der Bewegung, also maßgeblich den Winter 2014/2015 und das Frühjahr 2015, beziehen. Vor diesem Hintergrund erscheint das Narrativ der kollektiven Protestnotwehr in einem etwas anderen Licht. Gerade zu diesem Zeitpunkt war die Frage, wer oder was Pegida nun eigentlich ist, nicht in Ansätzen, geschweige denn abschließend geklärt. Das mediale und wissenschaftliche Interesse war auf dem Höhepunkt und Akteure aus beiden Feldern suchten Antworten auf genau ebendiese Fragen. Wenn sich unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei ihrem Reden über Pegida maßgeblich auf die Anfangszeit des Protestbündnisses beziehen, dann sind ihre Urteile anders zu bewerten, als wenn diese Zuschreibungen im dritten Jahr von Pegida auf die aktuellen Proteste bezogen formuliert werden. Denn gerade in der Anfangszeit war Pegida für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherlich auch genau das: Eine Projektionsfläche und Gelegenheit politischen Protests. Hierfür spricht, dass einige Demonstrationsteilnehmer/-innen angegeben haben, durch die Teilnahme an einer Pegida-Demonstration erstmals politisch aktiv geworden zu sein.24 Auch die Selbstaussagen der Pegida-Teilnehmer, die in der pauschalen Abwertung aller Demonstrationsteilnehmer/-innen als »Nazis« einen Affront gesehen haben und deshalb erst zur Teilnahme an der Demonstration motiviert wurden, lassen sich in diesen Zusammenhang zur Relativierung vorbringen.25

24 | Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 91. 25 | Vgl. ebd., S. 97-99.

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4.1.4  Zwischen Urteil und De-Chiffrierung Allgemein ist die Diskussion in Dresden stark von den Fragen geprägt, inwieweit die Stadt eine Art Verantwortung trage, die Teilnehmer/-innen aus dem Dresdner Umland kämen oder wie die Zusammensetzung der Demonstrationen sowie die Motivation ihrer Teilnehmer/-innen zu bewerten seien. Eine skeptische und ablehnende Haltung sowie eine kritische Auseinandersetzung mit Pegida und den Ursachen findet sich vor allem in der ersten Gruppe, die in Dresden zur Diskussion geladen wurde. Diese Gruppe, die auf einer freien Rekrutierung basiert, unterscheidet sich sozialstrukturell von den übrigen Gruppen aus Dresden: So besteht sie zum Großteil aus Studierenden oder absolvierten Sozial- und Gesellschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Politisch und ideell lässt sich diese Gruppe damit eher dem NoPegida-Lager zuordnen. Dementsprechend blieb die Auseinandersetzung im Ergebnis der Ablehnung verhaftet, auch wenn versucht wurde, die Motive der Pegida-Demonstrant/-innen nachzuvollziehen. Eine Teilnehmerin erklärt die Motivation der Pegida-Teilnehmer/-innen mit der Veränderung des Stadtbildes und Erfahrungen relativer Deprivation, vornehmlich für ältere Leute: »Und jetzt hat sich das Stadtbild sehr gewandelt, und das sind ja auch, glaube ich, vor allen Dingen ältere Leute, die damit extreme Probleme haben. Und jetzt beginnt dieses Treten nach unten, also dass man Angst hat, dass man Existenzängste hat: ›Die kommen jetzt, und jetzt nehmen sie uns was weg‹. Das muss ja noch nicht mal so sein, dass einem wirklich was weggenommen wird, aber dieses Gefühl, dieses Gefühl ist da, und dieses Gefühl wird auch nicht gelöst, oder es wird auch gar nicht besprochen. Und das führt, glaube ich, dazu, dass so viele Menschen halt auf die Straße gehen.«

Im gleichen Atemzug wird Pegida eine Radikalisierung attestiert, wobei diese Einschätzung von einem weiteren Teilnehmer nahezu unmittelbar relativiert und als verharmlosend dargestellt wird: »Das waren von Anfang an Neonazis, die da vorne mit dabei waren, also die das organisiert haben.« Im Anschluss entwickelt sich eine Auseinandersetzung zwischen den beiden besagten Personen: Die Teilnehmerin insistiert auf einer Suche nach Motiven und Gründen für Protest und verortet diese in der konservativen sächsischen politischen Kultur, die es einer linksorientierten Zivilgesellschaft erschwere, sich zu organisieren. Schließlich gelte es, Strukturen und Ursachen von rechten und rechtsextremen Manifestationen zu ergründen. Diese werden hauptsächlich, wie bereits oben, in Deprivationserfahrungen gesehen: »Und ich glaube, das hat einfach auch viel mit, na, Existenzängsten zu tun, und dass die Leute halt nicht nach oben treten, sondern immer nach unten.«

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Dieser Haltung steht, durchaus polemisch, die Frage entgegen, wie weit eine Gesellschaft in ihrem Verständnis für diese Gefühle gehen und wieviel sie ertragen müsse: »Aber muss man versuchen, jeder Gruppe von durchgeknallten Menschen hinterherzurennen und zu versuchen, denen das Leben recht zu machen? Oder kann man bei manchen Leuten nicht auch einfach sagen, dass die dumm sind […] und merkwürdige Forderungen haben und nationalistisch sind und sich eine Religion aussuchen, um ihren Hass darauf abzulassen?«

Der Suche nach den Ursachen, die ein Verständnis, auch ein gewisses Einvernehmen erfordert, wird mit den Grenzen der Toleranz konfrontiert. Damit reproduzieren die Gesprächsteilnehmer einen Topos, der bereits innerhalb der NoPegida-Diskussionen eine Rolle spielte.26 Ein möglicher Ausweg wird – auch das ist eine weitere Gemeinsamkeit zu den dezidierten NoPegida-Aktivist/-innen – in einer Ausweitung der politischen Bildung gesehen:27 Nur mit Hilfe von Bildung, so der Tenor, könnten die Ursachen für rechtes Gedankengut fortgebildet und wegrationalisiert werden. Da jedoch die meisten Pegida-Demonstranten, so die Selbsterkenntnis aus der Diskussion heraus, in keiner Weise mehr für politische Bildung empfänglich seien, bestehe die einzige Lösung darin, abzuwarten und auszuhalten, bis die Demografie das Problem von selbst gelöst habe: »Nein, ich denke, dass man die gar nicht zu Toleranz erziehen kann. Man muss einfach noch 30 Jahre warten.« Was hier als Polemik gekleidet und in Sarkasmus gewandet daherkommt, offenbart jedoch auch eine Symbiose aus Fatalismus und Ratlosigkeit, die sich in dieser Gruppe ausbreitet: Bildung und Auf klärung als Patentrezept stoßen an die Grenzen der Praktikabilität  – entweder, weil die Menschen nicht erreicht werden können, oder weil sie nicht erreicht werden wollen. Mitunter lohnt es auch, die implizit und kaum reflektierte Gleichsetzung von Bildung und Erziehung, die im Rahmen der Diskussion vollzogen wurde, zu betrachten: Dadurch ändert sich der Anspruch, der an den Bildungsauftrag gestellt wird. Bildung zur Selbstermächtigung ist etwas Anderes als Bildung als Erziehung. Somit wird die »Erziehung zur Toleranz« als Kernbegriff des Bildungsimperativs zu einer Phrase, die nicht einfach übergangen werden sollte. Derart kombiniert tragen Bildung und Toleranz eine spezifische Ausrichtung in sich, sie sind nicht lediglich instrumentelle Begriffe, sondern normativ aufgeladen. Die Erziehung zur Toleranz bedeutet hier eben auch die Erziehung zu einer spezifischen Toleranz, nämlich einer Toleranz, die den eigenen politisch-moralischen Maßstäben entspricht, sie forciert eine 26 | Vgl. Stine Marg u.a., NoPegida, 80ff. 27 | Vgl. ebd., S. 82.

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Bildung zur Akzeptanz dieser Denkstruktur. Dies ermöglicht Rückzugs-, Abschottungs- und Aburteilungseffekte gegenüber Menschen, die diesen Geboten nicht entsprechen wollen oder können: »Genau. Das ist halt mit den Ängsten, ne, so die Sache. Das ist auf jeden Fall so. Und viel ist halt durch die Medien, also: Viele schnappen das auf, denken: ›Okay, Ausländer – ja, dort liegt mein Geld! Das geht nicht, ich gehe 40 Stunden arbeiten die Woche, und es reicht gerade so!‹ Wenn man da mal fragt: ›Du hast es jetzt dort gelesen. Hast Du es aber auch noch tiefgründiger gelesen, oder mal richtig recherchiert?‹ – ›Nee, da habe ich keine Zeit.‹ Das ist bei den meisten dann so komisch, dass ich dann sage: ›Ich gehe morgens zur Arbeit, da habe ich jetzt keine Lust, mich da noch hinzusetzen, und da noch wirklich zwei Stunden über Politik irgendwas zu lesen. Da gucke ich lieber, hier, Bauer sucht Frau, oder… […], und brauche mich damit nicht auseinanderzusetzen. Und da gehe ich lieber montags zu P egida . Da schreien die ab und zu was.‹ Ich sage: ›Klingt ja alles cool und schön.‹ Ich sage: ›Aber wie im Dynamo-Stadion.‹ […] ›Und da komme ich dann mal mit, das macht halt Spaß, und ich bin halt unter Gleichgesinnten, die dasselbe Problem haben wie ich, eigentlich.‹«

Über Prozesse der Abwertung und Verächtlichmachung werden auf einer Art vorinhaltlichen Ebene Diskursschranken geschlossen, die die eigene bildungsliberale Komfortzone schützen sollen. Wer das Falsche im Fernsehen sieht oder auf die falschen Demos geht, der wird markiert, vielleicht sogar stigmatisiert. Über kulturelle Codes, denen man skeptisch gegenübersteht oder die man gar verachtet, werden Grenzen gezogen und Urteile gesprochen, anhand derer entschieden wird, ob die Diskursteilnahme als angemessen angesehen wird oder nicht. Im äußersten Fall erfolgt diese Grenzziehung einfach über die Etikettierung des Gegenübers als Nazi, wodurch der Ausschluss ultimativ vollzogen ist. Wer dieses Label einmal trägt, der ist für die Teilnahme am Diskurs nachhaltig diskreditiert. Gleichzeitig sorgt diese Abgrenzungsstrategie auch für Ruhe im eigenen Wasserglas und legitimiert Praktiken der Diskursverweigerung: Wer den eigenen Regeln nicht entspricht, mit dem wird schlichtweg nicht gesprochen. Diese Haltung changiert in gewisser Weise zwischen Indifferenz und Ignoranz. Sie ist jedoch im Vergleich zur Indifferenz, die bezüglich des Legida-Umgangs in Leipzig herausgearbeitet wurde, eine genuin politische und stark in einem linksliberalen Gesellschaftsbild verwurzelt. Sie speist sich auch nicht daraus, dass Politik per se skeptisch oder mit Gleichgültigkeit betrachtet wird, sondern stattdessen daraus, dass gewisse Haltungen gezielt markiert werden, die dann mit Ignoranz oder Gleichgültigkeit betrachtet werden können. Dadurch geraten gesellschaftliche Debattenpositionen in gewisser Weise obsolet, da man ihnen keine Berechtigung zugesteht – wodurch sich auch jede Debatte erübrigt.

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4.1.5  Das Leiden der Anderen und die Mitte als Disclaimer Aber wie gestaltet sich die Wahrnehmung bei den Beunruhigten und bei den Unbekümmerten gegenüber Pegida im Allgemeinen und den lokalen Ablegern im Speziellen aus einer etwaigen »Westperspektive« heraus? Zunächst fällt auf, dass das Phänomen auch in den westdeutschen Städten eine relativ geringe Relevanz hat. Auch hier ist es nötig, das Thema zu initiieren. Mit Ausnahme eines Unbekümmerten in Nürnberg, der mit dem Phänomen vor allem seine Erfahrungen mit Ereignissen schildert, die von ihm als Polizeigewalt gelabelt werden, gibt es auch kaum Äußerungen über Demonstrationsteilnahmen. Allerdings, so muss hier eingefügt werden, sind es die oben skizzierten Charakteristika und Zusammensetzungen der Proteste, die diese Protestabstinenz durchaus hinreichend erklären können. Das Teilsample in den westdeutschen Städten ist zwar nicht bruchlos hinsichtlich der politischen Äußerungen28, aber die eigene Abwehrhaltung gegenüber dem Phänomen ist stabil genug, um die Teilnahme auszuschließen. Zunächst beansprucht das Reden der Befragten über Nügida und Duigida nicht sonderlich viel Redezeit. Dies mag der relativ geringen Relevanz, die die lokalen Ableger vor Ort eingenommen haben, geschuldet sein. Auch ist es wohl nicht sehr überraschend, dass das Reden über Pegida, sofern es denn stattfindet, ein Reden über das Protestphänomen zur Hochphase seiner medialen Repräsentanz ist. Alles, was die Entwicklung von Pegida jenseits der Geschehnisse des Winters 2014/2015 geprägt hat, liegt dementsprechend außerhalb des Relevanzkorridors der Befragten. Grundsätzlich bedeutet dies, dass sich die allgemeinen Deutungsmuster auf der oberflächlichen Ebene in Nürnberg und Duisburg nicht wesentlich von den »unbekümmerten« Deutungen in Leipzig und Dresden oder auch bei den NoPegida-Aktivst/-innen unterscheiden, dezidiert affirmative Äußerungen, wie bei den befragten jungen Menschen aus Ostdeutschland gibt es hingegen nicht: »Dresden. Ostdeutschland«, »ich kann die […] schon mal gar nicht ernstnehmen. Ich bin dankbar, dass wir genug Menschen hier in Deutschland haben, die klug genug sind, sich dagegen zu stellen«, »fehlinformierte Leute«, »allgemein bekannt«, »das eher Konservative«, »würde schon sagen, fast Volksverhetzung, irgendwie. Angst schüren«, »Frustration«, »Frustration, auf der Strecke gebliebene«, »sozial abgehängte«, »Nazi-Rentner«, »ein Stückchen rechts angehaucht«, »gewalttätig«, »würde auch den Islam damit in Verbindung bringen«, »momentan hört man gar nichts mehr davon« und »bei uns nicht so schlimm wie in anderen deutschen Gebieten« – das sind wesentliche Charakterisierungen von Pegida in Duisburg und Nürnberg. Demzufolge ist Pegida in der »Westdeutung« vor allem ein Phänomen der Deprivation. 28 | Vgl. Kapitel 5.2.

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Es seien wahlweise die ängstlichen, von Verlust bedrohten oder abhängten Menschen, die das Protestbündnis trügen. Angst hätten diese Leute demnach vor Ausländern im Allgemeinen respektive einer Islamisierung im Speziellen, bedroht sei für sie der Fortbestand und die hegemoniale Rolle der deutschen Kultur, abgehängt seien sie entweder ökonomisch oder soziokulturell, wodurch sie sich entfremdet fühlten, das Land, die Politik und die Welt nicht mehr verstünden. Was dadurch auffällig ist  – und dies ist eine Besonderheit der Pegida-Deutung in westdeutschen Städten –, ist die Lücke, die zwischen Deutung und Zuschreibung der Protestmotivation klafft. Die Deutungen gegenüber Pegida sind bei weitem nicht schmeichelhaft; dazu wird zu oft der Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und kognitivem Vermögen der Protestierenden in Dresden hergestellt (vulgo: Sie werden als dumm bezeichnet). Die befragten jungen Menschen aus Westdeutschland wenden damit dieselben Deutungskategorien an, die auch die freirekrutierte Gruppe gegenüber Pegida in Stellung gebracht hat und die oben bereits diskutiert wurden. Aber: Hinter all diesen Zuschreibungen steckt  – zumindest vordergründig – immer noch ein Versuch der Erklärung. Pegida als Phänomen in Dresden wird mit Status- und Verlustängsten sowie Entfremdungsgefühlen rationalisiert und plausibilisiert. Die Motive werden zwar in den überwiegenden Fällen zurückgewiesen, da man sie persönlich nicht teile, aber aus diesem Versuch der Rationalisierung resultiert zumindest das Zugeständnis, dass die Proteste in gewisser Weise gerechtfertigt sein könnten. Solange das Phänomen im Osten der Republik situiert ist, zieht das offenbar die Notwendigkeit nach sich, das Phänomen einerseits zu erklären, andererseits in dieser Erklärung auch eine Abwehr zu verpacken, die das Phänomen zugleich als Spezifikum und Unikat eines »anderen Deutschlands« ausweist. Der Versuch der Rationalisierung geht also einher mit dem Versuch einer Perspektivübernahme, die sich jedoch auf das Prinzip »der Osten« beschränkt. Damit vollzieht sich aber sogleich eine Zuschreibung von Verantwortung und Verwicklung, die zugleich die eigene Betroffenheit negiert. Das sei eben ein typisches Phänomen für den Osten Deutschlands und hier vor allem Sachsens, keinesfalls jedoch eines »im Westen«. Das deutet auf ein Denkmuster hin, das Peter Maxwill jüngst in einem Kommentar für Spiegel Online kritisiert hat: »Hass auf (tatsächliche oder vermeintliche) Ausländer findet fast jeder schlimm – wie praktisch es da ist, dass man die Empörung darüber in ›Dunkeldeutschland‹ abladen kann, im ›Kaltland‹.«29

29 | Peter Maxwill, Sachsen, braunes Naziland? Unfug, in: Spiegel Online 28.01.2018 online einsehbar unter www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/rassismus-in-sachsennicht-nur-ein-ostdeutsches-problem-a-1190120.html (eingesehen am 01.02.2018).

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Ein Teil dieses Abwehrreflexes ist damit auch die Positionierung gegenüber Pegida vor der eigenen Haustür: Hier findet keine Rationalisierung statt. Vielmehr werden Pegida-Proteste schlicht zu einer Art »Pathologie von Nazis« (v)erklärt: Der Vorteil dieser Pathologisierung ist, dass jede weitere Begründungspflicht entfällt. Das Label »Nazi« erfüllt den Zweck einer umfassenden Diskreditierung und Distanzierung. Von Nazis initiierte Proteste sind somit eine Störung gesellschaftlicher Funktionsfähigkeit. Denn, so die implizite dahinterliegende Annahme: Im Westen gibt es keinen Grund, solche Proteste zu veranstalten. Durch die Tatsache, dass die Proteste im Westen der Republik tatsächlich von stellenweise radikal rechten Kadern organisiert und besucht werden, diese aber zahlenmäßig sehr marginal blieben und bleiben, fällt diese Deutung auch überaus leicht. Sie ist aber möglicherweise Teil spezifischer rhetorischer Reflexe, die die Ablehnung von extrem rechten Positionen im Diskussionszusammenhang quasi obligatorisch machen.30 Die Diskreditierungswucht, die mit dem Begriff »Nazi« einhergeht, ist derart kraftvoll und tiefgreifend, dass allein die Nennung des Begriffs ein hinreichender Endpunkt der Auseinandersetzung sein kann. Die Befragten fühlen sich nicht länger genötigt, jenseits der Markierung der Pegida-Proteste in westdeutschen, respektive ihren Städten, als »Nazi«-Veranstaltung eine weitere Positionierung oder tiefgreifende Deutung vorzunehmen. Die Markierung selbst genügt, um eine Distanzierung vorzunehmen, die unhinterfragt im Gruppenkonsens aufgeht. Wo auf der einen Seite mit beinahe hobbysoziologischem Impetus das Phänomen Pegida als ostdeutsches Spezifikum mit Inhalt, also Sinn, gefüllt wird, bleibt diese Herstellung von Sinnhaftigkeit für die gleichlautenden Phänomene in Bezug auf die eigene Lebenswelt nicht nur aus; sie ist vielmehr nicht notwendig. In diesem Zusammenhang argumentiert Michael Lühmann, dass es eben diese Zuschreibungen in Richtung eines ostdeutschen und sächsischen Exzeptionalismus seien, »etwa die vom im Zuge der Transformation zurückgelassenen, wütenden, an den Verhältnissen leidenden Ostdeutschen«, die damit letztlich zu einer Pathologie verdichtet würden.31 Aus dieser Perspektive wäre die Zuschreibung von nachvollziehbaren Motiven lediglich eine Pseudorationalisierung. Zugleich wird damit eine Festigung der eigenen Position hergestellt: Auf der einen Seite ist man selbst nicht sozial und kulturell im Hintertreffen, man gehört nicht »zu denen«, die auf die Straße gehen und gegen »die Fremden« demonstrieren müssen. Auf der anderen Seite ist man aber eben auch garantiert kein »Nazi«, man ist nicht Teil jener Gesellschaft, der zurückgewiesen wird. In dieser Konstellation liegt auch der Unterschied zu der oben skizzierten Wirkungsweise des Diskreditierungs- und Rehabilitationsnarrativs, das in Dresden wirkmächtig zum Vorschein kommt: Im Dresd30 | Zu der Strategie der obligatorischen Disclaimer vgl. 5.2. 31 | Vgl. Michael Lühmann, Ostdeutsche Lebenslügen, S. 59.

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ner Fall wird es von Menschen geprägt, die ihre gesamte Sozialisation im Osten Deutschlands vollzogen haben, es dient damit also auch in gewisser Weise zur Abwehr und Durchbrechung einer »Kaltland«-Metaphorik, indem auf die Berechtigung der Proteste verwiesen werden soll. Kommt die Markierung aus Westdeutschland (oder von Westdeutschen im Osten), so dient die Argumentation einem genau gegenteiligen Zweck: der Delegitimation dieser Proteste. In dem Zusammenhang könnte auch ein Phänomen stehen, das vor allem in den Diskussionen in den Nürnberger Gruppen ausgeprägt war: Die Anrufung der Mitte als ideale Gesellschaftsposition. Sinn und Zweck dieser Operation sind ähnlich wie in den ostdeutschen Städten. Einerseits dient der Bezug auf »die Mitte« der Positionierung in der politischen Landschaft. Durch die Anrufung der Mitte wird eine Positionierungsleistung vollzogen, die sich analog zu der oben angedeuteten Haltung zu Pegida zeigt. Es werden Extremismen verurteilt, ebenso der Wunsch nach Ruhe und Geborgenheit in der Mitte (und der eigenen Verortung in der Mitte) geäußert. Durch die Erwähnung der »ruhigen Mitte« wird diese erst als Idealkonzept hergestellt. Eher ein Ort der Sehnsucht denn der Faktizität, der sich vielleicht in Teilen auch auf das eigene politische Erleben erstreckt. Politische Aktionsformen werden dezidiert als »extrem« markiert, die Positionierung in der Mitte dient als Gegenpol dazu. Die Mitte hat eben auch eine verheißungsvolle Kraft, sie verspricht »den harmonischen Ausgleich der Extreme und die einvernehmliche Synthese widerstreitender Anschauungen«.32 Dieses Narrativ, das im Endeffekt eine grobe Vereinfachung der Extremismustheorie im verfassungspolitischen Ansatz darstellt, wird für gewöhnlich herangezogen, um einen gewissen sächsischen Exzeptionalismus zu erläutern.33 Es deutet sich hier jedoch an, dass die Wirkungsweise dieses Mitte-Denkens eben doch weitreichender ist. Die Selbstverortung gerät zu einer gezielten Depolitisierung. Dabei ist die Mitte harmonisch, ein Wohlfühlort für die Einzelnen.34

4.1.6 Zwischenfazit Es fällt also auf, dass der Umgang der Jugend  – respektive der von uns befragten Jugendlichen und jungen Menschen  – mit Pegida vielschichtig ist. Das antimuslimische Protestbündnis hat in diesen Alterskohorten einen relativ schwierigen Stand: Politisches Engagement zur Rettung des Abendlandes ist hier offenbar nicht en vogue. Dies hat mehrere Ursachen, von denen nur eine – und hierbei nicht zwingend die dominante – die dezidierte Ablehnung 32 | Stine Marg, Mitte in Deutschland. Zur Vermessung eines politischen Ortes, Bielefeld 2014, S. 11. 33 | Vgl. Lühmann, P egida passt nach Sachsen. 34 |  Zu diesem Harmoniebedürfnis vgl. Kapitel 5.2.

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Pegidas aus inhaltlichen Gründen ist. Diese ist vor allem bei jenen ausgeprägt, die aufgrund ihrer eigenen Biografie keinen Draht zu Pegida finden können, weil sie sich als Menschen mit Migrationshintergrund (und bisweilen muslimischen Glaubens) als Angriffsziel dieser Rhetorik begreifen. Gleichzeitig sind es vor allem die Leute mit einem sozialwissenschaftlichen akademischen Hintergrund, also jene, die sich verstärkt in den Gruppierungen der Unbekümmerten finden, die sich gezielt von den »patriotischen Europäern« distanzieren. Beiden Gruppen ist gemein, dass sie die Typologisierung von Pegida-Demonstrant/-innen als »Nazis« bisweilen recht zügig vollziehen und dabei nicht immer eine Unterscheidung hinsichtlich der Verortung des Protestes vornehmen, den Vorwurf also auf ost- wie westdeutsche Pegida-Formationen anwenden. Dieser klar ablehnenden Haltung steht auf der anderen Seite eine diffuse Mischung gegenüber, die von unpolitischer Indifferenz bis hin zu inaktiver Zustimmung reicht. Die Grenzen zwischen diesen Fällen sind f ließend, haben jedoch gemeinsam, dass sie graduell für eine Pegida-Rhetorik empfänglich sind. Besonders deutlich wird dies bei den Erzählungen, die Pegida zumeist nicht aufgrund inhaltlicher oder ideeller Gründe ablehnen, sondern aus formalen und infrastrukturellen Erwägungen heraus eine Distanz auf bauen. In diesen Fällen wird auf den zweiten Blick meist relativ gut sichtbar, dass verschiedene Argumentationsmuster, die bei Pegida in Gebrauch sind oder von Pegida bedient werden, auch hier auf Resonanz stoßen könnten.35 Hier ist es dann meist der Modus der Demonstration, der als unliebsam, störend oder geldverschwenderisch angesehen wird, der eine stärkere Solidarisierung verhindert, weil dieser die eigene Bewegungsfreiheit – oft nach einem langen, harten Arbeitstag – offenbar zu sehr einschränkt, sodass eine vollständige Sympathie mit Pegida nicht so recht gelingen kann und will. Hinzu kommt gerade in Dresden das sehr dominante Erzählmuster von Protestierenden aus Notwehr, denen die Teilnahme an Pegida nachgesehen wird, weil sie keine andere Möglichkeit der politischen Meinungsäußerung hätten und hierbei aus zwei Richtungen in Bedrängnis seien: Den Medien und den hetzerischen Reden eines Lutz Bachmann. Interessant ist, dass in den westdeutschen Diskussionsrunden ein sehr ähnliches Narrativ zum Vorschein kam, dies dort jedoch eher nicht dazu verwendet wurde, die eigene Sympathie zu Pegida zu rechtfertigen. Vielmehr diente es dazu, die individuelle Position in der Gesellschaft mit Hilfe von Disclaimern und vorgefertigten Deutungsmustern zu festigen und – eher en passant – diese Positionierung als unpolitisch und harmonisch zu imaginieren.

35 | Vgl. hierzu die Kapitel 2.2. und 5.2.

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Während Pegida als primäres Protestereignis also nicht anschlussfähig erscheint oder Ablehnung erfährt, lassen die Gründe, aus denen dies geschieht, jedoch nicht zwangsläufig Entwarnung zu. Sie deuten jeweils auf politische Weltbilder hin, die es zu problematisieren und  – aus einer normativen Perspektive  – mitunter auch zu kritisieren gilt. Jenseits dieses Kritikpotenzials ist jedoch auch festzuhalten: Den Diskussionen ist die Tatsache gemein, dass sie Gewalt oder Gewaltanwendung – im Sinne gewalttätiger körperlicher Konfrontation – im Rahmen der politischen Auseinandersetzung strikt ablehnen. Hierbei spielt es keine Rolle, ob diese auf Seiten von Pegida und Legida mit dem Bild des Hooligans – und der pauschalen Disqualifizierung im Westen durch das »Nazi«-Label –, der kraft seiner bloßen Erwähnung Gewaltpotenzial verdeutlichen soll, illustriert wird, oder Gewalt aus den Reihen von Gegenprotesten mit einem Verweis auf »die Linksextremisten« erklärt wird. Dies ist zu einem Zeitpunkt, indem sich die politische Auseinandersetzung auf beiden Seiten des politischen Spektrums – auch mit Mitteln der körperlichen Gewalt – bisweilen in den Bereich der Straf barkeit hinaus ausdehnt, zunächst einmal ein grundsätzlich beruhigender Befund. Dennoch zeigt sich, dass die Ablehnung von Pegida keineswegs ausschließen muss, dass rhetorische Muster, die von Pegida vertreten werden, nicht im Sinne einer sekundären Anschlussfähigkeit jenseits der konkreten Protestsympathien vorhanden sein können. Im Folgenden gilt es nachzuzeichnen, worin diese sekundären Anschlussfähigkeiten, neben den bisher schon explizierten Werthaltungen und normativen Deutungsmustern, konkret bestehen können und wie sie sich in das Gesamtbild der hier porträtierten Jugendlichen und jungen Menschen einfügen.

4.2 D eutungsmuster von P olitik , D emokr atie und  G esellschaf t Die Unzufriedenheit mit den amtierenden Bundes- und Landespolitikerinnen und -politikern, die Kritik an den TTIP-Verhandlungen, den ESM-Mechanismen und der bundesrepublikanischen Russland-Politik waren ein starkes Antriebsmoment für die Pegida-Demonstrant/-innen im Winter 2014/2015. Während jahrelang die Politikabstinenz und das fehlende Engagement eines Großteils der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger beklagt wurden, zeigten sich mit Pegida auf den Straßen Dresdens zahlreiche unzufriedene Menschen, die hart mit ihrer Regierung ins Gericht gingen. In ihrer verbalisierten und symbolisch ausgedrückten Kritik, beispielsweise in Form des bereits erwähnten Galgens, offenbarte sich eine schier unüberbrückbare Distanz zwischen ihnen, die für sich reklamierten, »das Volk« zu sein, und jenen, die dort oben lediglich egoistisch, selbstverliebt und verantwortungslos agieren würden. Informiert, selbstgewiss, aber ebenso kompromisslos gaben sich – wie eine qualitative Befragung zeigte –

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die Pegida-Anhängerinnen und Anhänger. Sie offenbarten rigide Einstellungen sowie simplifizierende und dichotomisierende Kategorisierungen, die ihnen halfen, Eindeutigkeit und somit Orientierung herzustellen.36 Ihre Anforderungen an die Politik lassen sich auf simple Schemata wie »richtig oder falsch« beziehungsweise »oben und unten« reduzieren.37 Demgegenüber entfalteten die demonstrierenden Gegnerinnen und Gegner der »Patriotischen Europäer« ein komplexeres, realistischeres und verständnisvolleres Bild von der Politik. Sie kritisieren zwar die eine oder andere politische Entscheidung, halten das politische System jedoch grundsätzlich für durchlässig und responsiv. Und obwohl die NoPegida-Demonstrantinnen und -Demonstranten die verkrustete, oligarchische Organisationshierarchie der Parteien, deren »Hinterzimmerpolitik« oder die parteipolitische Indienstnahme ihres eigenen zivilgesellschaftlichen Engagements ablehnten, gaben sie sich alles in allem recht zufrieden mit dem politischen System und seinen Strukturen.38 Dass Protestierende den Willen haben, Ansprüche an die Politik und Interesse für gesellschaftspolitische Zusammenhänge zu artikulieren, überrascht wenig. Gerade weil Pegida aus der Perspektive der zivilgesellschaftlichen sowie politischen Eliten Sachsens eine gesellschaftliche Spaltung verursacht habe und auch Teile der wissenschaftlichen Literatur die These einer Polarisierung der sächsischen, zumindest der Dresdner Gesellschaft vertreten,39 ist die Positionierung der hier befragten jungen Menschen zur Politik von großer Relevanz. Aber inwiefern interessieren sich junge Menschen überhaupt für Politik? Wie ausgeprägt sind ihre Responsivitätserwartungen? Oder herrscht lediglich eine, der Jugend oft unterstellte, Politikverdrossenheit vor?40

4.2.1 Junge Menschen und ihr Verhältnis zur Politik: Zwischen Interesse und Abstinenz Über den Gesprächseinstieg mit Hilfe der Bilderwände lassen sich zunächst solche Befragte identifizieren, die ein größeres Interesse an Politik haben.41 Wir baten die jungen Menschen zu Beginn der Fokusgruppe, jene Bilder aus36 | Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 116f. 37 |  Hans Vorländer u.a., Entfremdung, Empörung, Ethnozentrismus. Was P egida über den sich formierenden Rechtspopulismus verrät, in: Dirk Jörke und Oliver Nachtwey (Hg.), Das Volk gegen (liberale) Demokratie, Baden-Baden 2017 (Leviathan Sonderband Nr. 32), S. 138-159, hier S. 147. 38 | Stine Marg u.a., NoPegida, S. 104f. 39 | Vgl. hierzu Kapitel 2.1.3. 40 | Zu den begrifflichen und definitorischen Spannungen des Begriffs und seine verschiedenen Dimensionen, vgl. Kapitel 1.2. 41 | Vgl. zur Methode Kapitel 1.3.

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zuwählen, die symbolisch für etwas stehen, das ihnen ganz persönlich wichtig ist im Leben. Zehn der insgesamt 64 Darstellungen verwiesen auf Politik im engeren Sinn: Zu sehen waren eine TTIP-Demonstration, die Guy-Fawkes-Maske, der Kniefall von Willy Brandt, ein Bundeswehrhelikopter im Einsatz, eine Wahlurne, der Bundestag, Kämpfer des IS, Angela Merkel, eine Demonstration anlässlich des Mauerfalls sowie Wladimir Wladimirowitsch Putin mit Recep Tayyip Erdoğan. Insgesamt wurde 44 Mal von 24 Personen auf eines dieser Bilder verwiesen. Diese können demzufolge zunächst als politisch interessiert angesehen werden. Doch sollte diese Erkenntnis vom Beginn der Fokusgruppe, die auch als »Phase der Fremdheit« bezeichnet wird,42 nicht überinterpretiert werden, da sich die Beteiligten hier zunächst an den Gesprächszusammenhang und die damit verbundenen Erwartungen herantasten und nur in den wenigsten Fällen tiefergehend öffnen. Dennoch offenbaren sich in den Beschreibungen der Bilder Rahmungen und Deutungszusammenhänge, in denen sich die Lebenswelt der jungen Menschen verortet. Insofern ist es legitim, hier einen Teil der Befragten durch die anfängliche Wahl von politischen Themen als dezidiert politisch Interessierte einzustufen. Demgegenüber ist in quantitativen Erhebungen, wenn explizit danach gefragt wird, ob sich junge Menschen für Politik interessieren, nicht selten mit einer sozial erwünschten Antwort zu rechnen. Immerhin gaben bei der letzten Shell-Jugendstudie 41 Prozent der Befragten im Alter zwischen zwölf und 25 Jahren an, politisch interessiert oder stark interessiert zu sein.43 In der vorliegenden Studie zeigten von den insgesamt 88 qualitativ Befragten lediglich 24 Personen über die Ansteuerung der entsprechenden Bilder politisches Interesse (das entspricht rund 27 Prozent), wobei das Geschlechterverhältnis annähernd ausgeglichen ist.44 Auch das Bildungsniveau 42 | Vgl. hierzu: Siegfried Lamnek, Gruppendiskussion. Theorie und Praxis, Weinheim 2005, S. 43. 43 | Ulrich Schneekloth, Jugend und Politik, S. 157. Die These der sozialen Erwünschtheit, dass Personen dazu neigen, die Frage nach (politischem) Interesse zu bejahen, da sie davon ausgehen, dass dies von ihnen – im Gesprächszusammenhang oder gesellschaftlich – erwartet wird, erhärtet sich hier im Laufe der Erhebung, da freimütig mehr als die Hälfte der Befragten auf konkrete Nachfrage angaben, sich vermeintlich für Politik zu interessieren, im Gesprächsverlauf jedoch keine gesellschaftspolitischen Themen verbalisierten oder sich an solchen Diskussionen beteiligten beziehungsweise auf Nachfrage kaum Themen, Politikerinnen und Politiker, alltägliche Beispiele o.Ä. benennen konnten, aus denen ihr bekundetes Interesse plausibel wurde. 44 | Auch Gaiser und Kollegen stellen fest, dass der Gendereffekt auf politisches Interesse und politische Kompetenz eher schwach ausgeprägt ist. Vgl. Wolfgang Gaiser u.a., Jugend, Demokratie und Politik – Entwicklungen seit der deutschen Vereinigung, in: Jörg M. Fegert u.a. (Hg.), Adoleszenzpsychiatrie. Psychiatrie und Psychotherapie der

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scheint – worauf zahlreiche Studien der Jugendforschung bereits hingewiesen haben – mit dem Interesse an Politik zusammenzuhängen, da jene mit einem niedrigen formalen Bildungsabschluss auch in unserer Studie deutlich seltener ein explizites Interesse an Politik formulierten. Bei der Auswahl der Bilder verwiesen die Befragten am häufigsten auf die Staatschefs der Türkei und Russlands (7-mal), gefolgt von der TTIP-Demonstration (5-mal) und der Bundeskanzlerin sowie dem Mauerfall (je 4-mal). Demgegenüber bezog sich nur eine Person auf den Kniefall von Warschau. Bis auf eine Ausnahme wurde das Bild mit Putin von Männern ausgewählt, die sich auf den russischen Präsidenten beriefen, der für »seine starke Hand« sowie seine Eigenständigkeit und (Wirtschafts-)Macht bewundert wird. Dies gilt zwar nicht uneingeschränkt, doch wird das wahrgenommene »Gegen-Russland-Gehetze« explizit abgelehnt. Diese Kritik an der Russland-Politik tauchte erstmals in aller Deutlichkeit bei den Pegida vorausgehenden »Mahnwachen für den Frieden« auf45 und wird seit der Ukraine-Krise begierig im rechten Spektrum als Kritik am »Amerikanismus« instrumentalisiert. Demgegenüber sind die Hinweise der Befragten auf Angela Merkel weniger eindeutig. Während ein Befragter sie als Partnerin von Putin sieht, die gemeinsam mit ihm ein starkes »Eurasien« formen könnte, ist die amtierende Bundeskanzlerin für andere ein Symbol für das Versagen der bundesrepublikanischen (Flüchtlings-)Politik. Die Abbildung der Demonstration aus dem Jahr 1989 dient für die hier befragten jungen Menschen als Aufhänger, um ihre Beteiligung oder zumindest ihre biografische Involviertheit in das Thema zu signalisieren. Die Assoziationen zur TTIP-Demonstration bezogen sich mehrheitlich auf Umweltschutz und die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung, die ebenfalls bei der Wahl der Guy-Fawkes-Maske als Symbol für eine kritische Öffentlichkeit, für ein Kollektiv, das »Missstände« aufzudecken vermag, eine Rolle spielte. Doch nicht nur über die Auswahl der Bilder, sondern auch durch die recht unvermittelte Ansteuerung von gesellschaftspolitischen Themen durch die Teilnehmenden innerhalb der Diskussion, offenbaren einige Befragte eine Affinität zur Politik. Hier können drei weitere Teilnehmer Adoleszenz und des jungen Menschenalters, Stuttgart 2009, S. 32-47, hier S. 32. Demgegenüber argumentieren die Autoren der Shell-Jugendstudie, dass Frauen – obwohl sie tendenziell über eine höhere Bildung verfügten – weniger Interesse an Politik aufwiesen als Männer und erklären dies damit, dass die herkömmlichen Machtstrukturen in der Politik weiterhin männlich geprägt seien und somit Frauen abschreckten. Vgl. Ulrich Schneekloth, Jugend und Politik, S. 161. 45 | Vgl. hierzu: Priska Daphi u.a., Occupy Frieden. Eine Befragung von Teilnehmer/innen der »Montagsmahnwachen für den Frieden«, ibp working papers, Berlin 2014, online einsehbar unter https://protestinstitut.eu/wp-content/uploads/2015/03/occupyfrieden_ipb-working-paper_web.pdf (eingesehen am 07.02.2018).

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identifiziert werden, die alle formulieren, dass sie zwar politikinteressiert seien und sich mit ihrem nahen Umfeld über Politik austauschten, es ihnen jedoch schwerfalle, »am Ball zu bleiben« und sich zu informieren. Sie bekennen sich zur Rat- und Orientierungslosigkeit in politischen Fragen und wüssten nicht, wem sie daher bei der Wahl ihre Stimme geben sollten. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass im Rahmen der zwölf durchgeführten Fokusgruppen einige durch einen verstärkten Fokus auf politische Themen hervorstachen und andere wiederum durch eine große inhaltliche Politikabstinenz auffielen. Dies ist, wie im Folgenden noch argumentiert werden soll, nicht in dem Sinne zu deuten, dass die Befragten apolitisch seien, sondern meint zunächst lediglich, dass keine/r der Gesprächspartner/-innen beispielsweise zu Beginn der Fokusrunde explizit auf die im engeren Sinne politischen Darstellungen verwies oder gar von sich aus im Diskussionsverlauf ein genuin politisches Thema ansteuerte. Dies trifft singulär für eine in Westdeutschland durchgeführte Fokusgruppe mit Beunruhigten zu. Auf die konkrete Nachfrage, ob man sich denn für Politik interessiere, versicherten bis auf eine Befragte alle, dass ihnen Politik schon wichtig sei, dass man jedoch keinen Einfluss habe, als Bürgerinnen und Bürger übergangen werde und die Regierenden beständig über den Willen der Wählerinnen und Wähler hinweggehen würden. In einer ebenfalls mit Beunruhigten allerdings in Ostdeutschland durchgeführten Fokusgruppe zeigten sich mit vier Befragten so viele wie in keiner anderen Gruppe gleich zu Beginn als politisch interessiert. Auch im weiteren Verlauf waren explizit politische Themen höchst virulent. Gleichzeitig fiel diese Gruppe mit hart formulierten Ressentiments gegenüber Fremden und Geflüchteten auf.46 Zählt man hingegen lediglich die expliziten Nennungen der Thematisierung von Politik oder politischem Personal, muss festgestellt werden, dass diese in den in Westdeutschland durchgeführten Erhebungen deutlich präsenter waren als in Ostdeutschland.47 Und es betonten letztlich nur drei Frauen, davon zwei aus den in Westdeutschland durchgeführten Gruppen, die Relevanz des (niedrigschwelligen) politischen Engagements in Form der Wahl. Es scheint im Lichte dieser Beispiele beinahe, als könnten Jugendliche in Ostdeutschland freimütiger zugeben, dass sie an der Politik keinerlei Anteil nehmen und all dies sie nicht berühre, während junge Menschen in Westdeutschland zumindest ein wenig verbergen wollten, dass sie sich keinesfalls für gesellschaftspolitische Belange interessieren. Damit wird auch der Befund zahlreicher Studien

46 | Vgl. hierzu Kapitel 5.2. 47 | Immerhin entfällt die Hälfte der Codierungen in MaxQDA, die sich auf Politik beziehen auf die vier in Westdeutschland durchgeführten Gruppen, während die andere Hälfte in den acht ostdeutschen Gruppen identifiziert werden konnte.

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gestützt, die der ostdeutschen Jugend ein geringes politisches Interesse unterstellen.48 Obwohl 27 Befragte hier als politisch interessiert beschrieben wurden, bedeutet dies nicht, dass sie über ein tiefergehendes Verständnis von oder profundes Wissen über die politischen Prozesse, Institutionen oder Entscheider verfügen. Sie sprechen lediglich von sich aus über Themen, die unmissverständlich als politisch bezeichnet werden können und sind daher keinesfalls politikfern oder ähnliches. Dennoch: Mehr als zwei Drittel der jungen Menschen, die für die Fokusgruppen rekrutiert wurden, um über 120 Minuten mit anderen über »Jugend und Gesellschaft« zu sprechen, interessieren sich offenbar nicht für Politik beziehungsweise haben keine präsente Vorstellung davon. Politik erscheint darüber hinaus vielen als eine Art »Trigger«, auf den sie sofort reagieren. Sie definieren den Gesamtkomplex dann reflexhaft als schwieriges Thema und sprechen sich implizit die Qualifikation ab, dort einen Beitrag leisten zu können. Darüber hinaus sind die Verweise auf einen Mangel an Zeit oder auch die eigene Jugend, da einem das passive Wahlrecht verwehrt sei, sowie schlichtweg das inhaltliche Desinteresse eine Rechtfertigung dafür, dass man sich nicht mit Politik auseinandersetzen müsse. Das fehlende Interesse und Bewusstsein über das politische System führt offenbar dazu, dass die Befragten politische Themen, die ihnen wichtig sind, öffentliche Abläufe, die »funktionieren«, oder gesellschaftliche Zustände, die sie gutheißen, als gegeben wahrnehmen. Die Vorstellung davon, dass die sozioökonomischen und kulturellen Realitäten einfach da sind und nicht gemacht beziehungsweise gestaltet werden, speist sich offenbar auch aus einer grundsätzlichen Zufriedenheit, die zwar durch die eine oder andere Thematik ein wenig eingetrübt wird, jedoch keinesfalls zu einer Frustrations- oder Enttäuschungserfahrung führt, wie dies bei den Pegida-Anhänger/-innen beobachtet wurde. Bis auf die Asylpolitik49 herrscht unter den Befragten Einmütigkeit: Das Schulsystem, der Sozialstaat, das Gesundheitswesen, die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Justiz, die Polizei, die Organisation des Recyclingkreislaufes und insbesondere die Wirtschaft arbeiten gut aus der Perspektive der meisten Befragten. Doch hat diese überwiegend positive Grundhaltung durchaus ihre Schattenseiten, die sich im Gesprächsverlauf offenbaren. Gerade weil die jungen Menschen zufrieden sind oder sich zumindest kaum an den gesellschaftlichen Realitäten stoßen, setzten sie gleichzeitig die Funktionalität, Professionalität und Qualität der Abläufe voraus. Das heißt, dass der Sozialstaat verlässlich arbeitet oder sich das Justizwesen bewährt, schreiben sie keinesfalls den Politikerinnen und Politikern gut oder sehen dies als deren Leistung an. Aus der Perspektive der Befragten ist der Wohlfahrtsstaat eine Errungenschaft der Wil48 | Vgl. exempl. Gert Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit, S. 103. 49 | Siehe hierzu eingehender Kapitel 5.2.

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helminischen Gesellschaft, die sich durch die letzten 150 Jahren gerettet hätte und es sei ohnehin die Wirtschaft und keinesfalls die Politik, die für Arbeitsplätze und damit ein gutes Leben sorge. Die funktionsfähige Gesellschaft wird demzufolge nicht gemacht, sondern ist in den Augen der Befragten einfach da, quasi naturgegeben. Diese Perspektive der Naturalisierung, also Wahrnehmung von politischen Prozessen und Inhalten außerhalb des eigenen Einflusses, bedeutet im Umkehrschluss auch, dass man sich nicht zu interessieren oder engagieren braucht und dass einen Politik letztlich nur erreichen kann, wenn sie einen persönlich betrifft und intensiv berührt. Politik spielt für einen Großteil der Befragten nur dann eine Rolle und wird erst in dem Augenblick von ihnen aktiv verfolgt, wenn sie Emotionen, wie Ängste, Enttäuschungen oder gefühlte Wahrheiten, anspricht, oder dezidiert im Alltag als Interventionsmacht wahrgenommen wird. Wenn Politik also keinen Alltagsbezug für die jungen Menschen hat, stehen diese ihr völlig leidenschaftslos gegenüber.50 So ist es auch kein Zufall, dass vereinzelt jene Befragten, die eher zu den Älteren unseres Samples gehören und sich mitten in der Familiengründungsphase befanden, die Familienpolitik fokussierten und kritisierten. Sie beklagen sich über die Höhe der Kinderbetreuungskosten, die mangelnde Unterstützung der Familien durch die Politik und äußern Sorgen über die hinreichende Förderung von Kindern oder um bezahlbaren Wohnraum. Familien- und Bildungspolitik war jedoch insgesamt nur selten ein Thema und wurde überwiegend von jenen elf Befragten virulent verhandelt, die selbst Kinder haben. Jedoch findet sich in allen Fokusgruppen harte Kritik an der Asylpolitik.51 In dieser offenbare sich die Plan- und Kompetenzlosigkeit der politischen Klasse, unter der das Gros der Gesellschaft zu leiden habe. Dies ist auch ein Hinweis darauf, dass Veränderungen oder Reformen selten als Fortschritt oder Innovation, sondern eher als Verschlechterung der Ausgangssituation wahrgenommen werden.52 Infolge dieses Deutungsmusters geraten die Politikerinnen und Politiker für die Befragten ins Fadenkreuz. Dennoch: Rechtspopulistische Diskursstränge, wie etwa, dass die Regierenden die »Schleusen geöffnet hätten« oder daran »Schuld« seinen, dass massenhaft Wirtschaftsflüchtlinge über die »offenen Grenzen« Deutschlands »hergefallen« seien, finden sich nicht als dominante Muster in den Gruppen. Insgesamt ist Politik, letztlich auch mit ihren kritisch betrachteten Aspekten etwas, was sich fern der eigenen Lebenswelt abspielt, im Hintergrund surrt und daher nicht beachtet wird. Gleichzeitig bleibt die genuine Leistung der Politikerinnen und Politiker unerkannt. Sobald jedoch Probleme 50 | Vgl. Marc Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche 2016?, S. 74. 51 | Detaillierter zur Kritik an der Asylpolitik vgl. Kapitel 5.2. 52 | Dies ist ebenfalls ein Hinweis auf einen gewissen »Strukturkonservatismus« beziehungsweise die thematisierte Spießigkeit der hier befragten jungen Menschen. Vgl. hierzu Kapitel 3.2.1.

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auftauchen und die Funktionsfähigkeit des politischen Systems im weitesten Sinne nicht mehr gesichert erscheint, wird die politische Kasse (nicht nur) von den jungen Menschen verantwortlich gemacht. Während Politik demzufolge aktiv wenig Bedeutung und Gestaltungsmacht zugeschrieben wird, deuten die Befragten die Wirtschaft als eigentlichen Taktgeber. So sei diese nicht nur die Gestalterin der Bedingungen des guten Lebens  – weil Arbeit, Leistung und Konsum der Vollzugsmacht der Wirtschaft unterliegen –, sondern sie stelle den bestimmenden Faktor dar. So sind es beispielsweise nicht die politischen Eliten, sondern die Lobbyisten und Konzernchefs, die für die jungen Menschen die Gesellschaft gestalten und Politik lenken. Der Kapitalismus, orchestriert durch die Banken und internationalen Holdings, nicht die Wählerinnen und Wähler und ihre politischen Repräsentant/-innen, würden die Richtung maßgeblich bestimmen. Dies wird in den Fokusgruppen weniger offen und kritisch formuliert, sondern taucht eher am Rande immer wieder auf, bleibt unwidersprochen, stößt auf Zustimmung. Insofern ist es nur konsequent, wenn die Befragten fordern, dass die Politikerinnen und Politiker eigentlich wie Managerinnen und Manager agieren sollten, die lediglich die vorliegenden Fakten zu deuten hätten, um darauf fußend die richtige Strategie zu verfolgen. In diesen Erzählsträngen wird nicht nur die Dominanz des Wirtschaftssystems betont, sondern auch die Übernahme der marktwirtschaftlichen Prinzipien in die Politik gefordert. Schließlich, so ein Befragter, könne man sich nur weiterentwickeln, wenn man sich Ziele setze, das wisse doch jeder Fußballspieler und jeder BWLer. Dass Politik wie ein Unternehmen funktionieren soll, bedeutet für die Befragten jedoch nicht maximale Profitorientierung, sondern die Bereitstellung der Basisbedürfnisse der entwickelten Gesellschaft als Garant des reibungslosen Funktionierens. Die technokratische Idee von Politik als quasi-automatisierte »Steuereinheit« wird selbst von jenen Befragten verfolgt, die als politisch Interessierte identifiziert wurden, und offenbart sich beispielhaft in ihren Formulierungen: Sie wollen dann eher »voten«, also lediglich für vorliegende Präferenzen Zustimmung oder Ablehnung signalisieren, statt aktiv mitzuwirken.

4.2.2 Satire und Außenpolitik: Die politischen Themen der jungen Menschen Nochmal: Die folgenden umfänglichen Ausführungen über die Haltung zur Politik sind im Licht der Forschungsfrage zu betrachten und keinesfalls als Hinweis auf eine ausführliche und vertiefte Behandlung des Gegenstandes der Befragten zu deuten. Politik kam in den Gesprächsrunden nur am Rande vor und ist für das Gros der jungen Menschen kein entscheidender Deutungsrahmen. Neben der bereits erwähnten Flüchtlings- und Familienpolitik waren Umweltund die Außenpolitik dominante Themen in den Fokusgruppen. Während in der

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jüngeren Literatur angenommen wird, dass die »klassische Politik« auf Kosten des Sozialen oder »Neuen Politik«, wie Umwelt, Frieden und Dritte Welt, etwas in der Hintergrund trete oder spätestens infolge der Hartz-IV-Gesetze die Sorge um den Arbeitsplatz im Fokus sei und die »früher« präsente Umweltpolitik verdrängt habe,53 wurden Umweltprobleme hier ausführlich und breit verhandelt. Die Abbildungen eines einsam auf einer winzigen Eisscholle treibenden Eisbären und einer ölverschmierten Ente dienten wie erwähnt in vielen Gruppen als Anregung, die Relevanz des Umweltschutzes zu betonen und seiner Sorge über den Klimawandel Ausdruck zu verleihen. Bis auf eine Gesprächspartnerin, die über ihre Aktivitäten in einer Tierschutzorganisation sprach, blieb es bei den meisten Befragten jedoch bei recht inhaltsleeren Proklamationen: Man könne angesichts zahlreicher Entwicklungen, wie dem schmelzenden Eis und der weltweiten Erwärmung, keinesfalls den Klimawandel leugnen, Umweltkatastrophen seien »super schlimm« und es sei immer noch unsäglich, dass der Mensch »überall seinen Dreck hinterlässt«. Bezüglich des Umweltbewusstseins müsse sich etwas ändern, schließlich sei davon die Zukunft, »unsere« Zukunft abhängig. Auf die ikonografische Abbildung des zerborstenen Kernkraftreaktors in Tschernobyl, als Sinnbild der menschengemachten Zerstörung des Lebensraumes, bezog sich in diesem Zusammenhang jedoch niemand. Lediglich vereinzelt wurde angenommen, dass dieses Bild durch Krieg verursachte Zerstörung zeige. Umweltbewusstsein und die Forderung an die Politik, Katastrophen zu verhindern und Klimaleugnern Einhalt zu gebieten, sind demnach durchaus großräumig vorhanden. Es mag insoweit als Deutungsrahmen auch präsent sein als Handlungen wie die Mülltrennung bewusst praktiziert werden, aber dezidierter Aktivismus im Tierschutz oder dem Anti-AKW-Protest  – noch in den späten 1970er und den 1980er Jahren ein großes Thema der Jugend – findet sich bei den hier Befragten nur sehr vereinzelt.54 Neben der Umweltpolitik sprachen die Fokusgruppenteilnehmer/-innen über außenpolitische Maßnahmen. Hierbei wurden Waffenexporte kritisiert, Donald Trump und Jan Böhmermann in den Fokus genommen sowie über die Rolle der Europäischen Union gesprochen. Immerhin in vier Gesprächsgruppen wurde die Rolle Deutschlands als einer der führenden Waffenexporteure und als Kriegsprofiteur kritisch besprochen. Mit Lieferungen nach Saudi-Arabien und in unruhige Regionen der Welt befeure man Konflikte und agiere ausgesprochen verantwortungslos. Ebenso die Wahl des 45. Präsidenten der USA im November 2016 beschäftigte die Befragten. Auch hier waren die Haltungen größtenteils von großer Ablehnung geprägt. Seine Plä53 | Jürgen Gerdes u.a., Jugend und Politik. Soziologische Aspekte, S. 49. 54 | Siehe weiter unten im Kapitel zu den möglichen Gründen für das fehlende Engagement. Zur Diskussion der Befragten über den Zustand des Planeten als Zeichen eines prosozialen Wertes vgl. ebenso Kapitel 3.4.2.

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ne des Mauerbaus an der Grenze zu Mexiko wurden ebenso kritisiert wie seine beständige Leugnung des Klimawandels. Die jungen Menschen unterstellten Trump »Geld- und Machtgeilheit«, erklärten ihn für »verrückt« und »dumm«, äußerten sich ob seiner wahrgenommenen Fremdenfeindlichkeit und uneingeschränkten Verfügungsmacht über Nuklearwaffen tief besorgt. Den gewählten Vertreter der Freien Welt verteidigte in diesen Diskursmomenten kaum jemand, es wurden lediglich Hinweise darauf gegeben, dass Hillary Clinton als Kandidatin der Demokratischen Partei auch keine gute Alternative gewesen wäre. Dass Trump jedoch kein Unfall der Geschichte ist, sondern mehrheitlich durch das amerikanische Volk gewählt wurde und auch von diesem in Teilen weithin geschätzt wird, schien niemandem präsent zu sein. Hier offenbart sich auch die geringe Internalisierung der demokratischen Praxis der freien Mehrheitswahl. Neben Trump wurde im Rahmen der Außenpolitik überraschend oft die Angst vor Krieg thematisiert. Dabei könne man sich – so der Tenor – glücklich schätzen, in einem friedlichen Land zu leben. Dennoch seien die durch die Wirtschaft initiierten Kriege oder kriegsähnlichen Zustände durch die jüngsten Regimeumbrüche anlässlich des Arabischen Frühlings allgegenwärtig und scheinen auch die gefühlte Sicherheit und Friedenssehnsucht der Befragten zu beeinflussen. Das Thema Krieg wurde hauptsächlich in jenen Fokusgruppen thematisiert, in denen die Teilnehmer explizit als Beunruhigte rekrutiert worden waren. Krieg beziehungsweise die Angst vor Krieg war demzufolge weniger in den freien Jugendgruppen oder in den als unbekümmert ausgewählten Gruppenzusammenhängen präsent. Hervortretend, jedoch in erster Linie durch die tagesaktuelle Berichterstattung im Erhebungszeitraum sowie durch die Visualisierung auf der Bilderwand forciert, war die Bezugnahme auf Jan Böhmermann.55 Diese wurde jedoch nur in den Fokusgruppen deutlich, in denen die Teilnehmer frei oder als Unbekümmerte rekrutiert wurden. Böhmermanns überwiegend sexuell konnotierten Diffamierungen des türkischen Staatspräsidenten wurden als mutige Haltung und witzige Kritik bewertet. Überraschend war in diesem Zusammenhang weniger die mit Böhmermann zum Ausdruck gebrachte Geringschätzung der jungen Menschen gegenüber Erdoğan, sondern das breit geäußerte Bekenntnis zur Bearbeitung von Politik mit Hilfe von Satire. Nur für eine Befragte steht Böhmermann für »dummes Rumgelaber«, während 13 andere einräumten, dass er genau ihren Humor treffe. Sie lobten, dass der Satiriker in der Lage sei, Politik »lustig aufzuarbeiten« und die Wahrheit unter dem Schutzmantel der Ironie anzusprechen. Böhmermann sei jemand, der sich über die »richtigen Leute« lustig mache. Überdies symbolisiert er für die 55 | Vgl. hierzu auch Kapitel 3.3.1. (Böhmermann und politische Satire als Beispiel für politische Bildung) und Kapitel 5.3. (Böhmermann und die Rolle der Medien).

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Befragten offenbar den »Kampf um Meinungsfreiheit«. Er bemühe sich, die Menschen »aufzurütteln«, die »Jugend zu politisieren« und sie zum Nachdenken anzuregen. Diese Einschätzung deckt sich mit der Funktion, die der politische Satire herkömmlicherweise zugeschrieben wird. So löse sie die kritische Auseinandersetzung des Einzelnen mit gesellschaftspolitischen Themen aus, erhöhe dadurch sein Wissen über Politik 56 und etabliere gleichzeitig den Konsument/-innen der Satire das Gefühl, ein tieferes Verständnis über politische Themen erlangt zu haben.57 In der vorliegenden Untersuchung fällt auf, dass für die Befragten die politische Vermittlung nur zu gelingen scheint, wenn sie sich unterhaltsam und witzig präsentiert. Politische Inhalte müssen auf einem bekömmlichen Niveau und leicht verdaulich serviert werden, dann ist man offenbar bereitwillig geneigt, sich damit auseinanderzusetzen. Dennis Lichtenstein und Cordula Nitsch bezweifeln jedoch, dass Böhmermann die produktiven Funktionen der Satire – über Themen sowie Politikerinnen und Politiker zu informieren, Hintergrundwissen zu liefern und die Einbettung in einen substantiellen Kontext vorzunehmen – überhaupt bedienen könne. Sie schlagen in einer jüngsten Studie das Neo Magazin Royale der »pseudo-kritischen Satire« zu und kritisieren damit die oberflächlichen Darstellungen Böhmermanns. In der Sendung finde, so das Autor/-innenteam, die Bewertung von Politik und politischem Personal überwiegend anhand politikferner Kriterien statt und es fehle an Positionierungen zu politischen Themen insgesamt.58 Es wird demzufolge lediglich eine, die Jugend ansprechende, Memefizierung praktiziert, statt zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung angeregt. Satire, so argumentieren einige Kritiker in ähnlicher Stoßrichtung wie Lichtenstein und Nitsch, sei durchaus in der Lage, die Politikverdrossenheit zu steigern, eben weil sie Politikerinnen und Politiker lächerlich mache und politische Themen der Ernsthaftigkeit und Relevanz berauben könne.59 Überdies wird in einer Studie der Ohio State University darauf aufmerksam gemacht, dass politische Satire nicht mehr vornehmlich Irritation auslöse und damit zur Reflexion 56 | Vgl. Young Min Beak und Magdalena E. Wojcieszak, Don’t Expect Too Much! Learning From Late-Night Comedy and Knowledge Item Difficulty, in: Communication research, 36 (2009) 6, S. 783-809. 57 | Vgl. Jody Baumgartner und Jonathan S. Morris, The Daily Show Effect. Candidate Evaluations, Efficacy, and American Youth, in: American Politics Research, H. 34/2006 3, S. 341-367. 58 | Dennis Lichtenstein und Cordula Nitsch, Informativ und kritisch? Die Politikdarstellung in deutschen Satiresendungen, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, H. 66/2018 1, S. 5-21. 59 | Vgl. hierzu: Sven Behrmann, Politische Satire im deutschen und französischen Rundfunk, Würzburg 2002, S. 264f.

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anrege, sondern die satirisch aufbereitete Doppeldeutigkeit von den Rezipienten vermehrt im Sinne der eigenen politischen Vorlieben interpretiert werde und jene in den Ambiguitäten nur das entdecken wollten, was ihre eigenen politischen Ansichten verstärke.60 So erklärt sich möglicherweise auch, warum Böhmermann von den hier befragten jungen Menschen als Politikentertainment wahrgenommen und gleichzeitig bezweifelt wird, dass die dargestellten Zusammenhänge lediglich Satire seien, schließlich wisse man bei der realen Politik oft nicht, ob das nicht vielmehr satirisch gemeint sei, schließlich erscheine die Politik ihnen oftmals selbst als »schlechter Witz«. »Ein Problem der Satire ist, dass sie oft auf Äußerlichkeiten und Oberflächliches abhebt. Politische Debatten werden reduziert auf Auseinandersetzungen zweier Personen, komplexe Probleme auf einen (Neben-)Aspekt und politische Überzeugungen auf taktische Überzeugungen.«61 Das führe nicht nur zu einem Verlust der Glaubwürdigkeit des politischen Diskurses, sondern auch, weil Satire verstärke und exponiere, zu einer Aufheizung der Debatte insgesamt.62 Aus dieser Perspektive heraus wird auch klarer, warum es der vom Satiriker Böhmermann geschmähte Staatspräsident eines muslimischen Landes und die Bedienung u.a. muslimfeindlicher Stereotype war, die im Frühsommer 2016 die Republik in Atem hielt und auch die Jugendlichen in Kontakt mit Politik zu bringen vermochte. Dabei sollte das In-Berührung-Bringen mit Politik durch Satire als ihre genuine Funktion insbesondere für junge Menschen, das zeigt die vorliegende Erhebung noch einmal deutlich, keinesfalls unterschätzt werden. Schließlich verhandelten die Befragten die Außenpolitik nicht nur mit Hilfe der Themen Waffenexporte oder der US-amerikanischen beziehungsweise türkischen Staatschefs, sondern auch über europapolitische Themen wie den Brexit. Doch während eine starke EU-Feindlichkeit nicht nur bei Pegida, sondern auch bei der Jugend in ostmitteleuropäischen Gesellschaften identifiziert wird,63 war Europa sowohl in westdeutschen als auch in ostdeutschen Fokusgruppen lediglich ein Randthema und wurde meist proeuropäisch verhandelt. So sprachen sich die Befragten ausnahmslos gegen den Brexit aus, der immerhin von Pegida 60 | Heather L. La Marre u.a., The Irony of Satire. Political Ideology and the Motivation to See What You Want to See in The Colbert Report, in: International Journal of Press/ Politics, H. 14/2009, S. 212-231. 61 |  Sven Behrmann, Politische Satire im deutschen und französischen Rundfunk, Würzburg 2002, S. 270. 62 | Ebd. S. 271f. 63 | Vgl. exempl. Dániel Róna, Far-right generation? Reasons behind the popularity of Jobbik among the youth, Konferenzpaper der ecpr 2013, online einsehbar unter https:// ecpr.eu/Filestore/PaperProposal/d599a34f-cafd-4bfa-87ad-9ae9f1956ba4.pdf (eingesehen am 07.02.2018); Eva Spanka und Andreas Kahrs, Die Bewegung marschiert. Ruch Narodowny und Polens extreme Rechte, in: Osteuropa H. 64/2014, S. 129-140.

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euphorisch begrüßt wurde, plädierten für die Notwendigkeit einer höheren Beteiligung der Wahlen zum Europaparlament und setzten auf die EU als Garant für Frieden. Lediglich in Bezug auf die Flüchtlingspolitik der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union waren sich die Befragten nicht einig: Während von einigen die Führungsrolle der Bundesrepublik unterstützt wurde, da das Land innerhalb der politischen Gemeinschaft ein bestimmender Faktor und eine starke Wirtschaftsmacht sei, forderten andere vorsichtig, dass es zielführender sei, die Flüchtlinge innerhalb der EU gleichmäßiger zu verteilen. Insgesamt war die Stimmung unter den befragten jungen Menschen jedoch eindeutig proeuropäisch, Forderungen wie »Raus aus dem Euro!« oder die Zerschlagung der Europäischen Union, wie sie (u.a.) durch Pegida beständig vernehmbar sind, wurden hier von niemandem erhoben. Auch das Pegida-Narrativ der »Festung Europa« beziehungsweise »Fortress Europe« wurde von keinem Befragten aufgegriffen.64

4.2.3 Das »unsichtbare Politikprogramm« oder: Was bedeutet für sie Politik? Politische Themen in qualitativen Erhebungen haben auch immer einen Aktualitätsbezug, das heißt, nur weil die Sendung von Jan Böhmermann im Zuge seines Schmähgedichtes vielfach verhandelt wurde, sind nicht alle jungen Menschen Böhmermann-Fans, sondern wird hier auf ein aktuelles Ereignis, das für die Befragten abruf bar ist, Bezug genommen. Andere Themen, wie beispielsweise die Sozialpolitik oder die Sorge vor dem Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Schere zwischen Arm und Reich«, wären möglicherweise im Lichte einer aktuellen öffentlichen Debatte über das Grundeinkommen oder Arbeitsmarktreformen virulenter gewesen und tauchen daher hier explizit nur vereinzelt auf, sind dafür jedoch implizit umso virulenter.65 Dennoch sollte diese vordergründig distanzierte Haltung der jungen Menschen nicht als umfassende apolitische Einstellung missverstanden werden. Nur weil zwei Drittel der Befragten nicht ausführlich und explizit über Parteien, Politikerinnen und Politiker oder politische Inhalte sprechen, heißt das nicht, dass sie politikfern oder politisch apathisch sind. Ganz im Gegenteil: Die jungen Menschen präsentieren sich beinahe beiläufig als Gruppe, die sich Meinungen (auch zu politischen Themen) bildet und sich über Politik informiert. So fallen beispielsweise nebenher und wie selbstverständlich in Diskussionspassagen, die über einen längeren Zeitraum ohne Moderatorenintervention ausgekommen sind, Sätze wie diese, dass »man sich ja zwangsläufig eine eigene Meinung bildet« oder die »Wahl in Amerika spannend« sei, während die Rente oder der Generationenvertrag wenig Interesse wecke. 64 |  Vgl. hierzu Kapitel 2.2.2. 65 | Vgl. Kapitel 5.1.

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Gerade junge Menschen scheinen etablierte Begrifflichkeiten zu meiden und dennoch über deren Inhalte zu sprechen. Beispielsweise wird das Schlagwort »Globalisierung« von niemandem verwendet, obwohl die Befragten doch permanent lokale Entwicklungen mit globalen Folgen debattieren. So meinen sie Globalisierung, wenn sie Auswirkungen des aktuellen Zustands des politischen Systems in den USA auf die gesamte Welt oder die Verantwortlichkeiten der Industriestaaten für die Umweltverschmutzung verhandeln, ohne explizit auf das ihnen möglicherweise unbekannte oder sie verschreckende Vokabular zurückzugreifen. Politik wird den Befragten nicht in abstrakten Begrifflichkeiten oder alltagsfremden Themen bewusst, sondern in alltäglichen und lebensweltlichen Dimensionen präsent,66 in denen »Interesse an oder das Engagement in politischen Zusammenhängen zum Ausdruck kommt«.67 Sie sind, so die hier verfolgte Argumentation, genau dann politisch, wenn sie über die Gesellschaft nachdenken und den Zustand ihrer lokalen, regionalen, nationalen oder internationalen Lebenswelt reflektieren.68 Oder mit Christoph Möllers formuliert: »Politische Urteilsfähigkeit betrifft die elementare Fähigkeit, beurteilen zu können, was für das eigene Leben wichtig und richtig ist und was nicht.«69 Und genau diese Zusammenhänge zeigen sich – im Gegensatz zu elaborierten Reflexionen über Politik – in den durchgeführten zwölf Fokusgruppen. Insofern sind die hier befragten jungen Menschen durchaus als politisch Urteilende zu bezeichnen (im Gegensatz zu den oben beschriebenen 27 politisch Interessierten) und sollten auch als politisch Denkende behandelt und nicht als politisch Desinteressierte denunziert werden.

a)  Politik als Gefühl Umso mehr gilt es herauszufinden, was sowohl die politisch Urteilenden implizit als auch die politisch Interessierten explizit unter Politik verstehen. Grundsätzlich fällt auf, dass selbst jene, die sich äußerst politisch präsentieren und über einen hohen Bildungsabschluss verfügen, Schwierigkeiten haben, begrifflich zu fassen, was Politik sein könnte. Selbst die Engagierten und im Gruppenkontext sich selbstbewusst Gebenden stammeln – direkt nachgefragt – oftmals nur: »Also, dass 66 | Vgl. Jürgen Gerdes und Uwe H. Bittlingmayer: Jugend und Politik, S. 45-67, hier S. 51. 67 | Klaus Boehnke u.a.: »Politische Persönlichkeit« – Eine aussterbende Spezies?, in: Aydin Gürlevik u.a.: Jugend und Politik. Politische Bildung und Beteiligung von Jugendlichen, Wiesbaden 2016, S. 227-253, hier S. 230. 68 | Dabei muss es nicht zwangsläufig darum gehen, dass »Interesse an Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft und Interesse an Gestaltung von Lebensräumen« artikuliert und »Sprachrohre« für die »eigenen Probleme, Sehnsüchte und Interessen« gesucht werden, wie es im »unsichtbaren Politikprogramm« formuliert ist. Vgl. Wiebke Kohl und Anne Seibring (Hg.), »Unsichtbares« Politikprogramm? Themenwelten und politisches Interesse von »bildungsfernen« Jugendlichen, Bonn 2012. 69 | Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, Bonn 2008, S. 19.

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man halt auch… gesetzliche Vertreter hat, die dann halt für eine größere Gruppe an Menschen repräsent… also, die dann repräsentieren.« Letztlich scheinen für die Definition von Politik zwei Bezugspunkte für die Befragten relevant zu sein: Politik als Gefühl und Politik als Dezision. Gerade weil sich die jungen Menschen explizit nur begrenzt für politische Abläufe interessieren, ist ein Mangel an politischen Präferenzen evident. Daher kann es auch kaum um Inhalte, Politikfelder oder Werte gehen, die für sie im Rahmen der politischen Repräsentation relevant sind, sondern lediglich um das Gefühl, gut vertreten zu werden. Sie wählen demzufolge mehrheitlich jenes politische Personal, dem sie Glauben schenken, in das sie Vertrauen investieren.70 Daher ist es auch kein Zufall, dass Formulierungen mit »ich glaube« derart häufig verwendet werden.71 Damit gewinnt die Problematik der Misstrauensgesellschaft noch einmal an Virulenz. Denn wenn politische Bindung nicht über die (erfolgreiche) Etablierung bestimmter politischer Themen erzeugt werden kann, sondern lediglich einer geheimnisvollen »Macht der Stimmungen« unterliegt72, entzieht sie sich jeglicher Beeinflussung oder auch politischen Performanz. Dies erklärt letztlich auch, warum das Institutionenvertrauen der jungen Menschen beständig rückläufig ist.73 Es mögen demzufolge, darauf wies schon vor mehr als fünfzig Jahren Ernst Fraenkel hin, weniger Strukturdefekte oder »Krisen« der Demokratie sein, die bekämpft werden müssen, sondern verbreitete Gefühle im »kollektiven Bewusstsein«, deren Ursachen nachzugehen ist74, wie es im vorliegenden Bericht expliziert werden soll.

b)  Politik als Dezision Neben dem Gefühl spielt die Imagination von Politik als Entscheidung für die befragten jungen Menschen eine herausragende Rolle. Sie sehnen sich nach Letztentscheidungen, die die Bewältigung zentraler Probleme ermöglichen. Dabei argumentieren sie ähnlich wie die Pegida-Anhänger/-innen, dass es doch richtige und falsche Entscheidungen, Ziele oder Politiken geben müs70 | Somit deckt sich das Repräsentationsverständnis der jungen Menschen mit der Idee der »vertrauensbasierten Personalwahl«, die wichtiger sei als die ideologischen Inhalte, wie sie bereits vor fünfzig Jahren von Wilhelm Hennis formuliert wurde in: Politik als Praktische Wissenschaft, Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, Stuttgart 1968, S. 62f. 71 | Vgl. hierzu die Wörterliste im Anhang. 72 | Heinz Bude, Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen, Bonn 2017. 73 | Vgl. hierzu: Wolfgang Gaiser und Johan de Rijke, Partizipation im Wandel? Veränderungen seit Beginn der 1990er Jahre, in: Martina Gille (Hg.), Jugend in Ost und West seit der Wiedervereinigung, S. 280. 74 |  Vgl. Ernst Fraenkel, Ursprung und Bedeutung der Parlamentsverdrossenheit, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5 Demokratie und Pluralismus, Baden-Baden 2007 (1966), S. 151-161, hier S. 151.

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se. Darin offenbart sich das Verständnis eines holistischen und eindeutigen Volkswillens, der mit dem Allgemeinwohl gleichgesetzt wird. Die Idee, dass konkurrierende Vorstellungen miteinander ringen und in Kompromissen vereint werden müssen, ist in dem Deutungsrahmen der jungen Menschen kaum präsent. Lediglich ein sich zuversichtlich gebender Student aus Nürnberg hielt fest, dass für ihn Politik auch Diskussion und Streit bedeutet. Demgegenüber konnotierten die anderen Befragten in Ost- und Westdeutschland konflikthafte Aushandlungsprozesse oder das Agieren von Interessengruppen eher negativ. Diese Konsensorientierung und Suche nach Eindeutigkeiten lässt sich nicht nur in ihren Denkmustern über Politik identifizieren, sondern auch anhand ihres Diskussionsverhaltens beobachten.75 Hier zeigt sich, dass die Befragten kaum in der Lage sind, widersprüchliche Aussagen und gegenläufige Meinungen auszuhalten beziehungsweise produktiv zu bearbeiten. Dass sie sich dabei gleichzeitig unbemerkt permanent selbst widersprechen, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Die Bemühungen der Befragten, stets offensichtliche Widersprüche einebnen zu wollen, zeigt sich daran, dass sich im Diskussionsverlauf überaus rasch ein Gruppenkonsens herausbildet. In den seltenen Gelegenheiten, bei denen dazu quer laufende Ansichten aufbrechen, bleiben diese einfach im Raum stehen und werden ignoriert. Die Befragten lassen kaum Lust am Debattieren erkennen, sind selten in der Lage, Argumente zu gewichten oder die zuvor unbekannten Bedürfnisse des anderen gelten zu lassen. Und während ihnen das Verständnis von politischen Interessen als den Interessenslagen sozialer Gruppen, die sich eben nicht hemdsärmelig zu einem homogenen Volkswillen amalgamieren lassen, keinesfalls bewusst zu sein scheint, präferieren sie die explizite Trennung von »Meinung« und »Charakter«, um den Streit nicht austragen zu müssen, sondern nivellierend argumentieren zu können: »Und ja, das ist halt seine Meinung. Die akzeptiere ich. Und das sagt aber nicht aus, dass er ein schlechter Mensch ist oder so, also das macht seinen Charakter nicht schlechter.« Aus dieser konsensualen Grundhaltung heraus ist letztlich die hier beobachtete und den Pegida-Anhängern nicht unähnliche hohe Responsivitätserwartung der jungen Menschen erklärbar. Eben weil sie davon überzeugt sind, dass das Allgemeinwohl klar und eindeutig ist, sind die Anforderungen der Regierten an ihre Regierenden offenbar ebenso unzweideutig.76 Frei nach dem Motto, »wir fragen und bestellen«, »ihr antwortet und liefert«77. 75 | Diese Unfähigkeit zu einer intensiven und pointierten Diskussion zwischen jungen Menschen wird auch zunehmend von Hochschuldozenten beklagt. 76 |  Vgl. hierzu grundsätzlich und anschaulich Kapitel 6. 77 |  Hans Vorländer u.a., Entfremdung, Empörung, Ethnozentrismus. Was P egida über den sich formierenden Rechtspopulismus verrät, in: Dirk Jörke und Oliver Nachtwey (Hg.), Das Volk gegen (liberale) Demokratie, Baden-Baden 2017 (Leviathan Sonderband Nr. 32), S. 138-159, hier S. 147.

4.  Politikdistanz und Polarisierungsresistenz

c)  Politik als der Staat Darüber hinaus setzen viele Befragte das institutionelle Arrangement, also den Staat, mit der Politik gleich. Für sie sind dann die Institutionen, die auf sie wirken, gleichbedeutend mit Politik. Demzufolge ist Politik all das, was das Leben der Bürger organisiert, also das Arbeitsamt, die Schulbehörde, oder die ihr Handeln einhegenden Regularien und Gesetze. Dies verfestigt möglicherweise noch die Vorstellung davon, dass all diese Institutionen und Arrangements unverrückbar und irreversibel sind, dass man sich selbst daran weder beteiligen könne noch brauche. In der Gleichsetzung des »institutionell-normativen Ordnungsrahmen[s] des Politischen«78 mit der Politik selbst geraten einerseits Beteiligungsoptionen völlig aus dem Blickfeld und andererseits strahlt die negative Beurteilung der Politik auf den »Rechte beanspruchenden und Aufgaben erfüllenden Komplex von legislativen, exekutiven und judikativen Institutionen« (Renate Mayntz) ab. So ist es evident, dass den repräsentativen Funktionsprinzipien beispielsweise keinerlei Bedeutung mehr beigemessen wird, wenn die Befragten annehmen, dass die »Wirtschaftsdirektoren« ohnehin beim »lockeren Abendessen« die Dinge entscheiden und deutlich mehr Einfluss als der herkömmliche Bürger geltend machen können. Dieser Etatismus beziehungsweise diese Fixierung auf Politik als Verwaltung und Politik als Exekutive (die letztlich durch die Wirtschaft gesteuert seien) scheint auch nicht – wie gelegentlich angenommen – auf das ostdeutsche Erbe zurückführbar zu sein, denn er ist sowohl in den in Ostdeutschland als auch in den in Westdeutschland durchgeführten Gruppen ein dominantes Deutungsmuster.79

4.2.4 Politikerinnen und Politiker, Parteien – Leerstellen des politischen Deutungsmusters Doch nicht nur das Verständnis von Politik an sich ist offenbar bei den jungen Menschen diffus und nur rudimentär vorhanden, auch die handelnden Personen sind ihnen nur schemenhaft bekannt und werden äußerst selten benannt. Dies ist auch deswegen ein so deutlicher Befund, weil wir über Politik mit einem ähnlichen Leitfaden bereits zahlreiche Gruppendiskussionen in unterschiedlichen Bevölkerungssegmenten durchgeführt haben. Während engagierte und in sozialen Bewegungen involvierte Befragte selbstverständlich auf zahlreiche politische Akteure auf lokaler, Landes- und Bundesebene verweisen können,80 78 | Kurzdefinition des Staats nach Andreas Anter und Wilhelm Bleek, Staatskonzepte. Die Theorien der bundesdeutschen Politikwissenschaft, Frankfurt a.M. 2013, S. 101. 79 | Wobei der Begriff Etatismus hier insofern nicht ganz treffend ist, weil die Regelungskompetenz für die Befragten mehrheitlich bei der Wirtschaft liege und die Politik auf die reine Verwaltung beschränkt sei. 80 | Vgl. hierzu: Julia Kopp, »Eigentlich füllen wir nur ein Verantwortungsvakuum aus.« Die Konflikte aus Perspektive der Bürgerinitiativen, in: Christoph Hoeft u.a. (Hg.), Bür-

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kann selbst die sozioökonomische, aber politisch nichtengagierte Mitte der Gesellschaft über zentrale Bundespolitikerinnen und -politiker Auskunft geben.81 Bei den hier befragten jungen Menschen werden Personen jedoch äußerst selten erwähnt. Wenn das Gespräch auf politische Eliten gelenkt wird, werden überwiegend negative Assoziationen geäußert wie beispielsweise die Unzufriedenheit darüber, dass Politikerinnen und Politiker gegen das zunehmende Auseinanderfallen von Arm und Reich nichts unternehmen oder einem beständig relevante Informationen vorenthalten würden. Diese Beobachtung passt zu der Annahme, dass Politik als automatisches beziehungsweise selbstgesteuertes System wahrgenommen wird, das weder durch die Bürger noch durch die Regierenden evidente Beeinflussung erfahren kann. Dennoch findet sich auch vereinzelt Verständnis für die Herausforderungen, denen sich die Politikerinnen und Politiker stellen müssten. Ein Befragter ist in dem Zusammenhang der Ansicht, dass insbesondere im Vergleich zum Gehalt der Spitzenmanager/-innen die Bezahlung des politischen Spitzenpersonals völlig gerechtfertigt sei und zwei andere Befragte hoben hervor, dass die Wahlperiode ohnehin zu kurz wäre, um substantielle Reformen umsetzen zu können. Insbesondere in jenen Gruppen, die frei oder als Unbekümmerte rekrutiert wurden, schien sich das Narrativ durchzusetzen, dass die Politikerinnen und Politiker machen könnten, was sie wollten, so lange es die Befragten nicht tangierte oder gar negativ beeinflusse. Auffällig ist der Zusammenhang, dass all jene, die die Einwanderungspolitik kritisierten, gleichzeitig die größte Verachtung gegenüber der politischen Klasse äußerten. So scheinen beinahe jene, die sich nicht für Politik interessieren, den Politkern am unkritischsten gegenüberzustehen. Das heißt, es sind eher die politisch Aktiven und Interessierten, die am härtesten über die Politik urteilen. Hierzu passen auch die Befunde von Edeltraud Roller u.a., dass die subjektive politische Kompetenz der jungen Menschen seit den 1960er Jahren beständig zunimmt, die Unterstützung in Bezug auf die Demokratie und das Parteiensystem demgegenüber jedoch rückläufig sei.82 Auch die Parteien spielen keine Rolle und finden – anders als in anderen von uns durchgeführten Erhebungen – kaum Erwähnung, das heißt auch, dass die befragten jungen Menschen keine »Parteienschelte« üben.83 Lediglich eine Teilnehmerin distanziert sich bewusst, indem sie formuliert: »Ich bin schon gerproteste in Zeiten der Energiewende. Lokale Konflikte um Windkraft, Stromtrassen und Fracking, Bielefeld 2017, S. 123-135. 81 | Vgl. Stine Marg, Mitte in Deutschland, S. 208-213. 82 | Edeltraud Roller u.a., Der Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforschung. Einleitung, in: Dies. (Hg.), »Voll normal!« Der Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforschung, Wiesbaden 2006, S. 7-19, hier S. 12. 83 | Hier gilt – wie im gesamten Forschungsbericht: Die Mengen- und Prozentangaben sollen keine statistische Exaktheit oder gar »Repräsentativität« vorgaukeln, sondern le-

4.  Politikdistanz und Polarisierungsresistenz

politikinteressiert. Aber das heißt nicht parteiinteressiert… ich traue keiner Partei.« Insgesamt scheint das Verhältnis der jungen Menschen zu Parteien nicht ganz so desolat zu sein, wenn lediglich ein knappes Fünftel der von uns Befragten angeben, nicht an der letzten Wahl teilgenommen zu haben. Dennoch muss hier der beinahe ebenso hohe Anteil jener berücksichtigt werden, die sich einer Beantwortung der Wahlabsichten in der fragebogengestützten Erhebung im Anschluss an die Fokusgruppen enthalten haben. In diesem Zusammenhang muss jedoch auch in Betracht gezogen werden, dass sechs bis acht der Befragten mit aller Wahrscheinlichkeit bei der Bundestagswahl 2013 aufgrund des Alters noch nicht wahlberechtigt waren. Auch bei der Frage danach, welcher Partei bei der kommenden Bundestagswahl die Stimme gegeben werde, ähnelt die Wahlbereitschaft unseres Samples dem Bundesdurchschnitt. Während in der vorliegenden Studie knapp zwei Drittel der Befragten nach eigenem Bekunden an der letzten Wahl teilgenommen haben und beinahe ebenso viele planen, sich bei den kommenden bundesweiten Abstimmungen zu beteiligen, lag die Wahlbeteiligung der 18- bis 34-Jährigen bei der Bundestagswahl 2013 bei 61,1 Prozent und vier Jahre später bei 69,4 Prozent.84 In der Literatur wird allgemein angenommen, dass die Bereitschaft zur Teilnahme an den Wahlen bei jüngeren Menschen geringer ist als bei älteren. Dass wir jedoch insgesamt  – wie es sich noch bis zur Bundestagswahl 2009 darstellte – davon sprechen können, dass die Wahlbeteiligung bei den jüngeren Altersgruppen beständig rückläufig sei,85 ist seit den letzten beiden Bundestagswahlen nicht mehr haltbar. Insofern zeigt sich auch hier möglicherweise eine Rückkehr der Wahlnorm als Begleiterscheinung der wiederkehrenden Pflicht- und Akzeptanzwerte.86

diglich das hier befragte Sample beschreiben und somit die Einordnung neben anderen Befunden erleichtern. 84 | Vgl. hierzu: Wahl zum 19. Bundestag am 24. September 2017, Heft 4, Wahlbeteiligung und Stimmenabgabe der Frauen und Männer nach Altersgruppen, Hg.: Statistisches Bundesamt, Informationen des Bundeswahlleiters, online einsehbar unter https://www. bundeswahlleiter.de/dam/jcr/e0d2b01f-32ff-40f0-ba9f-50b5f761bb22/btw17_heft4. pdf (eingesehen am 04.02.2017), S. 11. 85 | Vgl. dazu Kai Arzheimer: Jung, dynamisch, Nichtwähler? Der Einfluss von Lebensalter und Kohortenzugehörigkeit auf die Wahlbereitschaft, in: Edeltraud Roller u.a., »Voll normal!« Der Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforschung, Wiesbaden 2006, S. 317-335, hier S. 332 86 | Vgl. zur Bedeutung der Pflicht- und Akzeptanzwerte der jungen Menschen Kapitel 3.3., insbesondere 3.3.4.

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Abb. 9: Wahlbeteiligung zur Bundestagswahl nach Altersgruppen in Prozent Alter

2002

2005

2009

2013

2017

Insgesamt

79,1

77,7

70,8

71,5

76,2

18-20

69,9

69,6

62,5

63,7

69,9

21-24

67,7

66,0

58,6

59,6

67,0

25-29

71,6

69,5

60,6

61,6

68,6

30-34

76,2

73,9

64,5

64,8

72,0

Quelle: Entnommen aus dem offiziellen Bericht des Bundeswahlleiters zur Wahl zum 19. Bundestag am 24. September 2017

Doch die mangelnde Selbstverpflichtung, zur Wahl zu gehen, ist das in den Gruppendiskussionen überwiegende Deutungsmuster. Bis auf wenige Ausnahmen ist die Zugehörigkeit zum Nichtwähler/-innenlager legitim, insbesondere, weil oftmals Konsens darüber herrscht, dass der eigenen Stimme wenig Gewicht beigemessen werde. Lediglich von zwei Frauen wird die Notwendigkeit der Wahlbeteiligung hervorgehoben. Man müsse wählen gehen, notfalls den Zettel ungültig machen, aber unbedingt die AfD oder »rechtspopulistische Entwicklungen« verhindern – so ihr Grundtenor, während andere Befragte sich nicht zu einer möglichen Wahlpflicht bekannten. Demgegenüber geben die Auskünfte der Befragten im Rahmen der Nachbefragung mit Hilfe eines Fragebogens zum zukünftigen und jüngsten Wahlverhalten Hinweise darauf, dass einige junge Menschen ein größeres Vertrauen in Parteien aufweisen, als man es durch die Diskussionsinhalte vermuten könnte. Hier konnten 32 Personen als Parteianhängerinnen und Parteianhänger identifiziert werden. Dies meint hier diejenigen, die angaben, wie bei der letzten auch bei der zukünftigen Wahl der gleichen Partei ihre Stimme geben zu wollen. 87 | Wahl zum 19. Bundestag am 24. September 2017, Heft 4, Wahlbeteiligung und Stimmenabgabe der Frauen und Männer nach Altersgruppen, Hg.: Statistisches Bundesamt, Informationen des Bundeswahlleiters, online einsehbar unter https://www. bundeswahlleiter.de/dam/jcr/e0d2b01f-32f f-40f0-ba9f-50b5f761bb22/bt w17_ heft4.pdf (eingesehen am 04.02.2017), S. 11.

4.  Politikdistanz und Polarisierungsresistenz

Abb. 10: Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2013 (»Was haben Sie bei der letzten Bundestagswahl gewählt?«) n=88

keine Angabe; 17,0%

CDU/CSU; 11,4%

SPD; 12,5%

andere; 1,1%

Ich war nicht wählen.; 19,3%

FDP; 3,4% Bündnis 90 / Die Grünen; 5,7%

NPD; 8,0%

Die Linke; 15,9%

AfD; 2,3% Piratenpartei; 3,4%

Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten der fragebogengestützten Erhebung im Anschluss an die Fokusgruppen

Der Anteil der westdeutschen Befragten ist hierbei deutlich höher. Interessant ist, dass sowohl die Sozialdemokrat/-innen als auch die Linkspartei mit je zehn Stammwählerinnen und -wählern im oben definierten Sinne die größten Gruppen an Getreuen sammeln können, während auf die Christdemokrat/-innen nur fünf, die Grünen nur drei, die Freidemokrat/-innen nur zwei Stammwählerinnen und -wähler kommen und sich für die AfD und NPD jeweils nur eine beziehungsweise einer verzeichnen lässt. Unter Berücksichtigung, dass immerhin 33,5 Prozent der 18- bis 35-jährigen Sachsen bei der letzten Bundestagswahl CDU gewählt haben beziehungsweise knapp 21 Prozent in der gleichen Altersgruppe im Bundesdurchschnitt, sind demgegenüber die Anhänger/-innen der Christdemokratie sowohl in Sachsen (mit vier Personen) als auch insgesamt mit knapp sieben Prozent in unserem Sample deutlich unterrepräsentiert. Unter Vorbehalt der geringen Fallzahl kann jedoch zusammengefasst werden, dass prägende Deutungsmuster der befragten CDU-Anhänger/-innen zum einen die Betonung der Notwendigkeit der Erwerbsarbeit und zum anderen die sich ausbreitende gesellschaftliche Unsicherheit durch die Geflüchteten sind. Während bei der vergangenen Wahl lediglich zwei Personen bekannten, die AfD gewählt zu haben, gaben in unserer Befragung immerhin sechs junge Menschen an, der Partei bei der nächsten Wahl ihre Stimme geben zu wollen. Die Wähler/-innen der Alternative für Deutschland, die in unserem Sample nur in Ostdeutschland beziehungsweise Sachsen zu finden

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Abb. 11: Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2017 (»Welcher Partei geben Sie bei der nächsten Wahl ihre Stimme?«) n=88

CDU/CSU; 6,8% keine Angabe; 10,2% Noch nicht sicher; 2,3% SPD; 15,9%

andere; 5,7%

Ich werde nicht wählen gehen.; 15,9%

FDP; 2,3%

Bündnis 90 / Die Grünen; 12,5%

NPD; 3,4% AfD; 6,8%

Die Linke; 17,0%

Piratenpartei; 1,1%

Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten der fragebogengestützten Erhebung im Anschluss an die Fokusgruppen

waren, betonten die Gefahr sexueller Belästigungen durch Ausländer und ihre Angst vor Anschlägen sowie die Trennung zwischen Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen. Auch die Betonung der Heimat sowie eine gewisse Affinität zu Donald Trump waren in dieser Gruppe auffällig. Es werden demzufolge zwar nicht die durch die Pegida-Führung geprägten Begriffe verwendet, sich jedoch dezidiert deren Narrationsmuster bedient. Während die CDU-Wählerinnen und -Wähler offenbar deutlich unterrepräsentiert sind, sind demgegenüber die NPD-Wählerinnen und -Wähler in unserem Sample mit insgesamt sieben Personen, davon drei aus Westdeutschland, stark vertreten. Dies ist jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit der Methode der Rekrutierung der Studienteilnehmenden geschuldet und muss auch aus dieser Perspektive betrachtet werden. Die präsenten Narrative der NPD-Wählerinnen und -wähler waren, dass man selbst härter arbeiten würde als die Flüchtlinge, denen es dennoch besser gehe als einem selbst, sowie die These, dass der Islam keinesfalls zu Deutschland gehöre. Die größte Wählergruppe in unserem Sample gehört zur Linkspartei. Während die Wählerinnen und Wähler der Sozialdemokratie enorm heterogen sind und hier keine übergreifenden gemeinsamen Narrative identifiziert werden konnten, gilt dies für die Linksparteiwählerinnen und -wähler nicht. Hier finden sich mehrheitlich jene, die den europäischen Gedanken positiv bewerten und die Pegida-Anhänger/-innen als dümmliche Fremdenfeinde

4.  Politikdistanz und Polarisierungsresistenz

abwerten.88 Während lediglich drei Befragte angaben, bei der Bundestagswahl 2013 die Grünen gewählt zu haben, wollten dies immerhin zwölf junge Menschen bei der Wahl 2017 tun. Hier war die Angst vor dem Auseinanderbrechen des gesellschaftlichen Zusammenhaltes ein präsentes Deutungsmuster. Während zwar knapp 36 Prozent der Befragten als Parteianhänger/-innen identifiziert werden konnten, findet sich gleichzeitig eine hohe Zahl an Wechselwähler/-innen. Dies sollte jedoch nicht überbewertet werden, da die Parteibindung  – wie Ulrich Eith nachgewiesen hat  – bei jungen Menschen deutlich stabiler ist als das tatsächliche Wahlverhalten.89 Eben weil die Befragten noch mitten in ihrer politischen Sozialisation stecken, erklärt sich, warum beispielsweise vormalige AfD-Wähler/-innen beim nächsten Mal die Linkspartei oder vice versa wählen möchten oder auch, warum eine Befragte bei der kommenden Wahl der SPD ihre Stimme geben möchte und zuvor bekennende NPD-Wählerin war.

4.2.5  Konsumbürgerinnen und -bürger Obwohl hintergründig und implizit politische Themen und Bezüge die Deutungsmuster der jungen Menschen prägen, nehmen sie diesen Umstand keinesfalls aktiv wahr und würden sich mehrheitlich als politisch nicht besonders interessiert oder involviert bezeichnen. In den Gesprächen versuchen einige Befragte, sich auch hierfür eine gewisse Rechtfertigung zurechtzulegen. Man sähe schon ab und an ein paar Berichte in den Medien, aber die hätten so wenig mit dem eigenen Leben zu tun und gingen daher komplett an einem vorbei. Politik wird durch die Befragten eher konsumiert. Die jungen Menschen präsentieren sich als Konsumbürgerinnen und -bürger, aber nicht im Sinne eines politisierten Konsumverhaltens, sondern im Verständnis der »konsumierten Politik«90. Das heißt, sie nehmen Politik wie einen Selbstbedienungsladen wahr, man sucht sich heraus, was einem gefällt, was man gerade benötigt, aber verlässt dann auf kürzestem Wege wieder das Geschäft. Dabei werden auch nur solche Produkte wahrgenommen, die einem auf Augenhöhe präsentiert werden, nach denen man sich weder bücken noch strecken muss. Davon, dass sie die Regale einräumen oder gar das Sortiment mitbestimmen wollen, 88 | Vgl. zur Einstellung gegenüber P egida Kapitel 4.1., insbesondere zur Ablehnung der Bewegung 4.1.2 und 4.1.3. 89 | Vgl. Ulrich Eith, Parteibindungen bei jüngeren und älteren Erwachsenen in Westdeutschland, in: Edeltraud Roller u.a. (Hg.), »Voll normal!«, Der Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforschung, Wiesbaden 2006, S. 361-377, hier S. 375. 90 | Jörn Lamla und Sighard Neckel, Vorwort der Herausgeber, in: Dies. (Hg.), Politisierter Konsum – Konsumierte Politik, Heidelberg 2006, S. 7-8, hier S. 7.

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sind die befragten jungen Menschen weit entfernt. Die jungen Bürgerinnen und Bürger leiten, wie es Paul Nolte treffend beschrieben hat, ihre Ansprüche an die Politik deutlicher als in früheren Jahren, als Interessengruppen und Klassenzugehörigkeiten noch eine Rolle spielten, aus der privaten Lebensführung und der individuellen Lebenswelt ab.91 Der Begriff der Konsumbürgerin beziehungsweise des Konsumbürgers ist jedoch keinesfalls kritisch-anklagend gemeint, sondern soll auch darauf verweisen, dass die jungen Menschen in dieser  – letztlich ebenso ökonomisch geprägten  – Praxis des Konsums wie die der meritokratischen Leistungsbereitschaft scheinbar unentrinnbar gefangen sind, weil sie offenbar nur eine solche Beziehung zur Politik vorgelebt bekommen und sie deshalb adaptieren. Diese Feststellung ist keinesfalls ein Hinweis auf die implizite These, dass es »früher« anders oder »besser« gewesen wäre, sondern nur eine Andeutung, dass für die jungen Menschen im weiteren Deutungsrahmen keine Vorbilder präsent sind, sich anders denn als Konsumbürger/-innen zu verhalten. Die wenigen Aussagen über das Verhältnis von Sozialisationsinstanzen wie Freunden oder Eltern zur Politik deuten auf eine äußerst ähnliche Beziehung hin, wie sie hier mit dem Begriff der Konsumbürgerin beziehungsweise des Konsumbürgers affirmiert wird. Die Befragten scheinen in einem nicht-politisierten Kontext und Umfeld aufzuwachsen, ihnen werden kaum andere Beziehungen zu und Auffassungen von Politik vermittelt. Auch insofern ist die Annahme der Politikverdrossenheit der jungen Menschen unzutreffend, da es nicht um Frustration, sondern um Unberührtheit durch Politik geht. Politik kann durch sie höchstens in Häppchen konsumiert werden (Böhmermann) oder wird lediglich am Rande wahrgenommen, wie der Endstand des letzten Bayern-München-Spiels. Es spielt eine nicht unwesentliche Rolle, dass den jungen Menschen abseits privater Interessen ein gesellschaftspolitisches Ziel, auf welches sie ihre Positionen oder Meinungen ausrichten könnten, zu fehlen scheint. Eine Großkonfrontation, die als Politisierung der Gesellschaft im Zuge eines grassierenden Populismus jüngst immer wieder befürchtet wurde, ist demzufolge bei den hier befragten jungen Menschen nicht auszumachen. Die Flüchtlingskrise scheint diese Funktion sowohl im Guten wie auch im Schlechten für das Gros der Befragten nur in Teilen zu erfüllen. Wenn es zu einer direkten Konfrontation mit den »Fremden« kommt, die alltägliche Lebenswelt also unmittelbar berührt wird, scheinen sich politische Einstellungen reaktiv zu entwickeln. 91 | Vgl. Paul Nolte, Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2011, S. 422. Das dienstleistungsorientierte Verhältnis zwischen Politik und Jugend ist ähnlich beschrieben in Wilfried Ferchoff, Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile, 2. aktual. und überarb. Auflage, Wiesbaden 2011, hier vor allem S. 443-446.

4.  Politikdistanz und Polarisierungsresistenz

Selbst Pegida polarisiert offenbar die jungen Menschen entgegen aller Erwartungen nicht.92 Einzig an den Themen Flüchtlinge, »Fremde« und Islam lassen sich unterschiedliche Positionierungen erkennen. Aber auch hier beobachten wir eher unterschiedliche Meinungslager, aber keinen Streit, keinen Konflikt und keine Eskalation. Auch wenn dies größtenteils der Erhebungsmethode geschuldet war, in der die rekrutierten Teilnehmer/-innen nach ähnlichen Einstellungen zum Islam für je eine Diskussionsgruppe ausgewählt wurden, zeigt sich auch in den frei rekrutierten Gruppen beziehungsweise in den Realgruppen, dass bei widersprüchlichen Ansichten kaum hart in der Sache diskutiert wurde, da die politische Unberührtheit deutlich schwerer wog als der Konflikt.

4.2.6  Demokratie – was? Neben Politik interessierte uns auch das Verhältnis der jungen Menschen zur Demokratie. Auch hier wurden in der Jugendforschung bisher zahlreiche Befunde zusammengetragen, die jedoch nicht immer miteinander vereinbar sind. Eine gesicherte Erkenntnis scheint jedoch zu sein, dass die Zustimmung zur Demokratie als Idee abhängig ist vom Bildungsniveau. Je formal gebildeter eine Person sei, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, dass diese der Demokratie positiv gegenübersteht.93 Und dieser Zusammenhang sei in Ostnoch deutlicher ausgeprägt als in Westdeutschland.94 Demgegenüber scheint in Westdeutschland die Demokratiezufriedenheit durch eine positive Meinung von der politischen Gemeinschaft abgestützt zu werden, während Gert Pickel bei ostdeutschen Jugendlichen diesen Zusammenhang nicht nachweisen kann, sich hier die Idee einer Gemeinschaft also nicht förderlich auf das Demokratiebild auswirke.95 Ebenso klar scheint zu sein, dass die »Unzufriedenheit mit Aspekten der Lebenslage, und zwar sowohl in ökonomischer wie auch hinsichtlich der sozialen Sicherheit und der Einschätzung, politisch Einfluss nehmen zu können,« mit geringer Unterstützung der Demokratie einhergehe.96 Doch bei all diesen Aussagen ist unklar, was Demokratie den jungen Menschen eigentlich konkret bedeutet. Ist es mehr als eine Hülle und ein Si92 | Vgl. hierzu eingehender Kapitel 4.1. 93 | Wolfgang Gaiser u.a., Demokratielernen durch Bildung und Partizipation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 45/2009, S. 39-46, hier S. 44. 94 | Wolfgang Gaiser u.a., Jugendliche – Vergessene Adressanten der politischen Bildung?, in: Siegfried Frech und Ingo Juchler (Hg.), Bürger auf Abwegen? Politikdistanz und politische Bildung, Schwalbach/Ts 2011, S. 105-129,hier S. 106f. 95 | Gert Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit, S. 263. 96 | Wolfgang Gaiser u.a., Jugendliche – Vergessene Adressaten der politischen Bildung?, in: Siegfried Frech und Ingo Juchler (Hg.), Bürger auf Abwegen? Politikdistanz und politische Bildung, Schwalbach/Ts 2011, S. 105-129, hier S. 122.

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gnifikant für den »Willen des Volkes«, wie der Begriff der Demokratie häufig von den Pegida-Anhänger/-innen übersetzt worden ist? Demokratie meint für die Befragten, dass jede Stimme zähle, dass man gehört werde, dass jeder Bürger und jede Bürgerin über Rechte verfüge und man sich so organisieren könne, dass man Einfluss ausüben, seine Wünsche beispielsweise vermittels der Mitarbeit in einer bestehenden oder vermittels der Organisation einer neuen Partei artikulieren könne. Gerade die Forderung, Gehör finden zu wollen, ist in dieser Formulierung den Sentenzen von Pegida sehr ähnlich. Demokratie meint für die Befragten auch, dass die Gewaltenteilung, insbesondere zwischen Judikative und Exekutive, funktioniere. Und obwohl diejenigen, die über die EU und Demokratie sprechen, den Anspruch der Europäischen Union als einer demokratischen Institution zurückweisen, bewerten die Befragten die realisierte Demokratie in der Bundesrepublik doch weitgehend positiv. Demgegenüber finden die Pegida-Anhänger/-innen lediglich die Idee der Politik gut, während ihnen die Ausführung absolut mangelhaft erscheint, eine »echte Demokratie« in der Bundesrepublik nicht realisiert sei. Die jungen Menschen hingegen schätzen die Demokratie, insbesondere im direkten Vergleich mit anderen Ländern wie beispielsweise Russland oder der Türkei. So gebe es in der BRD eine »transparente« Demokratie oder auch eine Parteienvielfalt, während andere Länder diese Privilegien nicht genössen. Besonders auf den Status des Privilegs macht in diesem Zusammenhang ein Teilnehmer aufmerksam, wenn er bekundet, dass der Bundesrepublik die Demokratie geschenkt worden sei, während andere Nationen dafür haben kämpfen müssen. Eine aus dieser Feststellung ableitbare Forderung, wie beispielsweise, dass daher die politische Bildung eine herausgehobene Relevanz hätte oder das Geschenk besonders in Ehren gehalten werden müsse, zieht jedoch weder der erwähnte Befragte noch jemand anderes in der Fokusgruppe. Insbesondere im Vergleich zu den NoPegida-Aktivist/-innen haben die hier befragten jungen Menschen eine recht diffuse beziehungsweise dünne Vorstellung davon, was Demokratie ist oder demokratische Praktiken ausmachen könnte. So war einigen noch nicht einmal das Amt des Bundespräsidenten klar. Auf die Frage der Moderation an einen Befragten, der sich zuvor eine stärkere direkte Beteiligung der Bürger gewünscht hat, ob er denn den Bundespräsidenten, der im Februar 2017 gewählt würde, gerne selbst wählen würde, antwortete dieser: »Ja, ja. Ich habe keine Ahnung, ich weiß jetzt nicht, welche zur Auswahl stehen. Ich habe mich damit überhaupt nicht beschäftigt.« Demgegenüber bedeutet für die NoPegida-Demonstrant/-innen Demokratie die Organisation des Zusammenlebens mit dem Zweck, die verschiedenen Bedürfnisse und unterschiedlichen Ansprüche zusammen zu bringen. Sie denken Demokratie als reversiblen, dynamischen und langfristigen Aushandlungsprozess, in dem technokratische Zwänge und Parteieninteressen in den Hintergrund zu treten haben. Insbesondere die Schaffung von Möglichkeiten,

4.  Politikdistanz und Polarisierungsresistenz

dass alle gehört werden, nicht nur die Mehrheit, sondern auch die verschiedensten Minderheiten, führt zu einer kritischen Haltung der NoPegida-Demonstrierenden gegenüber Volksentscheiden.97 Während die »NoPegidist/-innen« davon überzeugt sind, dass sich an der Demokratie alle Bürger zu beteiligen haben und diese aktiv hergestellt und ausgehandelt werden müsse, denken die Pegida-Demonstrant/-innen Demokratie als etwas, das von oben, also von den Politikerinnen und Politikern bereitgestellt werden sollte. Und auch die direkte Demokratie bewerten Pegida-Anhänger/-innen deutlich positiver als ihre unmittelbaren Gegnerinnen und Gegner. Für die Pegida-Demonstrant/-innen ringen nicht unterschiedliche gesellschaftliche Interessen miteinander, sondern die Regierenden stellten sich gegen die Mehrheit des Volkes. Insofern stellten zusätzliche Elemente der direkten Demokratie ein vielversprechendes Instrumentarium zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen dar.98 Während selbst die Pegida-Anhänger/-innen Demokratie als langwierigen Prozess beschreiben, der durch Abwägen, Zuhören und tolerantes Agieren gekennzeichnet sei, scheint es so, als sei dieser prozedurale Charakter im Bewertungshorizont der hier befragten jungen Menschen überhaupt nicht präsent. Daniel-Pascal Zorn fragte jüngst, was das eigentlich für eine Demokratie bedeute, wenn die Bürger nicht mehr in der Lage seien, miteinander zu diskutieren. Für Zorn sind Demokratien auch deshalb in der Krise, weil die Citoyens keine Widersprüche mehr miteinander verhandeln könnten, sondern sich ausschließlich mit ihren Meinungen von vornherein »ins Recht setzen«.99 In diesem Sinne lässt sich hier auch deutlich erkennen, dass die Befragten – ebenso wie die Pegida-Anhänger/-innen  – eine Sehnsucht nach klaren Meinungen und Stellungnahmen auszeichnet. Sie wünschen sich, dass die Politikerinnen und Politiker endlich »Tacheles« redeten, schließlich hätten sie sie – auch diese Sentenz wurde vereinzelt aufgegriffen – als »das Volk« wahr- und ernst zu nehmen. Die jungen Menschen beziehen sich mit der seit dem Vormärz immer wieder aufgegriffenen und mit den Montagsdemonstrationen 1989/1990 zur Berühmtheit gelangten Parole jedoch nicht wie Pegida auf den Anspruch, dass ihre Meinung unmittelbar auf politisches Handeln durchschlagen müsse und nur sie und nicht die anderen zu »dem Volk« dazugehören, sondern darauf, dass man – eben weil man Teil des Volkes ist – ein Recht darauf habe, seine Meinung zu artikulieren. Da die jungen Menschen nichts von Interessen wissen oder gar der Legitimität, diese einzufordern, sind sie zwangsläufig darauf zurückgeworfen, so zu tun, als entsprächen ihre Belange dem Gemeinwohl. Ihnen steht kein anderes Kollektiv, wie die soziale Klasse, die Generation oder gar eine politische Institution der Meinungsaggregation und -repräsen97 | Vgl. hierzu Stine Marg u.a., NoPegida, S. 111f. 98 | Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 107. 99 | Daniel-Pascal Zorn, Logik für Demokraten. Eine Anleitung, Stuttgart 2017.

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tation zur Verfügung, das heißt, sie tauchen in ihren Deutungsrahmen als Option überhaupt nicht auf. Daher sind sie notgedrungen auf den Bezug des Gemeinwohls, das sie dann automatisch mit ihren Ansprüchen gleichsetzen, angewiesen. Doch trotz dieser impliziten Annahme, dass ihre Interessen dem Allgemeinwohl entsprechen und dieses dann von der Politik umzusetzen ist, stehen die in dieser Studie befragten jungen Menschen dem Ausbau der direkten Demokratie zwiespältig gegenüber. Nur wenige fordern – meist indirekt – einen Ausbau der Angebotsstrukturen für mehr direkte politische Beteiligung beispielsweise in Form von Bürgerdialogen. Und eine als beunruhigt rekrutierte Befragte führte aus, dass ausschließlich die direkten Beteiligungsmöglichkeiten es vermögen würden, »den Menschen« das Gefühl zu vermitteln, dass sie »etwas bewirken« können. Beinahe gleichlautend formuliert ein Befragter aus einer frei rekrutierten Gruppe: »Also, ich finde die Idee der direkten Demokratie sehr gut, weil es vor allem auch, denke ich, eine Möglichkeit ist, den Menschen mehr das Gefühl zu geben, halt nicht unwichtig zu sein und tatsächlich etwas bewirken zu können.« Demgegenüber äußern sich einige, jedoch ausschließlich als unbekümmert rekrutierte Befragte, kritisch über Volksentscheide oder ähnliche Prozeduren. Sie fürchten vor allem, dass hier der Manipulation der Uninformierten und Uninteressierten Tür und Tor geöffnet werde und dass die Wählenden lediglich zum Opfer »populistischer Strategien« gemacht würden. Wenn die Befragten jenseits der Einführung von Elementen direkter Demokratie über mögliche Verbesserungen des gegenwärtigen repräsentativen Arrangements der Bundesrepublik nachdenken, wird lediglich noch auf die Forderung nach mehr Transparenz Bezug genommen. Der Wunsch nach Umsturz oder radikalen Reformen (was möglicherweise ein Signum der Jugend sein könnte, da sich vorwiegend Individuen der jüngeren Generation »radikalisieren«) findet sich im Material nicht. Die jungen Menschen sind stark geprägt durch eine »Es ist wie es ist«-Haltung, ohne intensiven Wunsch, politisch etwas verändern zu wollen.

4.2.7 Gesellschaft Während sich für die Befragten Politik intuitiv erfassen lässt und idealerweise eindeutig präsentiert, assoziieren die jungen Menschen den Zustand der Gesellschaft (vordergründig) deutlich vielfältiger.100 So spricht sich beispielsweise ein Befragter positiv für die »Nischenkulturen« aus und lobt damit die Möglichkeit, dass heterogene Gruppen und Kulturen nebeneinander existieren könnten. Dennoch werden in dieser Konstruktion rasch Brüche sichtbar. So sind es beispielsweise jene, die durch starke fremdenfeindliche Ressentiments 100 |  Zur Vorstellungen über eine vielfältige Gesellschaft vgl. ebenso Kapitel 4.3.

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auffallen101, die im Zusammenhang von Diversität und Heterogenität eher von einer »Überfremdung der Gesellschaft«, »Parallelgesellschaften« oder auch verächtlich von »Spaßgesellschaft« sprechen, um zu demonstrieren, dass sie der Eindeutigkeit vor der Vieldeutigkeit den Vorzug geben. Überdies sind auch jene, die von Deutschland als multikultureller Gesellschaft sprechen, rasch der Ansicht, dass religiöse Praktiken oder Symbole nicht in die Öffentlichkeit gehörten und demzufolge völlig privat seien. Gerade weil die wenigsten eine praktische Vorstellung von Vielfalt besitzen, lässt sich in ihren Einstellungen ein Unterschied zwischen einer verbalisierten und einer gelebten Toleranz erkennen. Weil eine gelebte Toleranz eingeübt und praktiziert werden muss, vielen Befragten jedoch offenbar die sozialen Zusammenhänge zu fehlen scheinen, in denen sie das Aushalten des Andersseins ausprobieren könnten, bleibt es lediglich bei dem geäußerten Bekenntnis zur toleranten Haltung.102 Sobald die jungen Menschen über alltägliche Begebenheiten sprechen, wird deutlich, dass sie weit von der praktizierten Toleranz – wie sie beispielsweise bei den NoPegida-Anhänger/-innen erkennbar war – entfernt sind. Diese Hypothese ließe sich allerdings erst durch die konkrete Erforschung der Gemeinschaften der jungen Menschen wirklich prüfen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die jungen Menschen immer wieder den Wert der Gemeinschaft betonen, sich jedoch die wenigsten als ein Teil dieser Gesellschaft begreifen. Sie möchten eher als Individuen gesehen werden, die sich keineswegs einem übergeordneten Zusammenhang unterordnen wollen. Die Befragten sind damit aufgewachsen, dass es zu dem Bekenntnis zum »Multikulti-Land« keine gesellschaftlich goutierten Alternativen gibt. Doch erleben einige Befragte durch tägliche Begegnungen in der Schule oder dem Wohnviertel auch die mit kultureller Vielfalt und Heterogenität zusammenhängenden (sozialen) Probleme. Dennoch fehlt ihnen das entsprechende Vokabular, um diese Schwierigkeiten so benennen zu können, dass sie sich nicht dem Verdacht aussetzen, gegen die Prinzipien des »Multikulti-Staates« zu verstoßen. Auch wenn die Befragten sich eher weniger als aktiver Teil der Gesellschaft betrachten, sind sie doch mehrheitlich der Ansicht, dass sie im gesellschaftlichen Zusammenhang insofern bestehen, als dass sie sich hier zurechtfinden können und nicht verloren gehen. Dennoch hält die Gesellschaft keinerlei Versprechungen für sie bereit. Demgegenüber sind kleinräumige Gemeinschaften, wie insbesondere die Familie, Orte, an denen man sich wohlfühlt, an denen die gleichen Werte geteilt werden, die unterstützen und auf die man sich verlassen kann. Ein solches funktionales Netz sehen einige als unbe101 | Vgl. hierzu Kapitel 5.2. 102 | Vgl. zur Debatte der Befragten über Toleranz im Zusammenhang mit den P egida und N o P egida -Demonstrationen Kapitel 4.1.4.

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kümmert Rekrutierte nur noch auf dem Land und in dörflichen Gemeinschaften. Hier gebe es noch einen generationsübergreifenden Zusammenhalt, die Tafeln, die deutschlandweit Lebensmittel an bedürftige Menschen verteilten, platzten dort aus allen Nähten, während in der Stadt die Tische leer blieben. Das Thema des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist jedoch nicht nur in der Diskussion über die Unterschiede zwischen Stadt und Land sichtbar. Er zeigt sich auch im Sprechen über die geteilte Vergangenheit der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Die hier Befragten deuten diese  – bis auf wenige Ausnahmen – sowohl in Ost-, als auch in Westdeutschland als eine gemeinsame bundesrepublikanische Gesellschaft. Das heißt, dass in Sachsen zwar gelegentlich darüber geklagt wird, dass sich »die Wessis« ihnen gegenüber überheblich benehmen und mehr verdienen würden (wobei innerhalb der Gruppe sogleich der Einwand geäußert wurde, dass die Lebenshaltungskosten »im Westen« deutlicher höher wären als im Osten), darüber hinaus jedoch dem Thema des geteilten Landes und möglichen politisch-kulturellen Auswirkungen keinerlei Bedeutung beigemessen wurde. Dass die DDR historisch einmal nicht Teil der BRD war, scheint als sekundäre Teilungserfahrung durchaus präsent, jedoch keinesfalls als Teilungsgeschichte gegenwärtig und wirkmächtig zu sein. Auch wenn bei den wenigsten Befragten die Idee virulent war, dass ein »Riss« durch die Gesellschaft gehe, eine Metapher, die von den Pegida-Anhänger/-innen oft gebraucht wurde, offenbaren sich doch einige Ambivalenzen. Diese werden insbesondere im Sprechen über ihre Ängste deutlich.103 So haben sie Angst vor einer gesellschaftlichen Spaltung aufgrund der Flüchtlingskrise, vor einer Polarisierung zwischen »rechts« und »links«, vor einer Spaltung zwischen »arm« und »reich«, vor gesellschaftlichen Veränderungen insgesamt. Sie präferieren eher Bewahrung statt Veränderung und reagieren insofern ob jeglicher potenzieller Varianzen enorm unsicher.

4.2.8  Heimat: kein Begriff, aber ein Konzept Im Zusammenhang mit der Frage, inwiefern die hier befragten jungen Menschen auf das Phänomen Pegida reagiert und deren Interpretationen und Maßstäbe bereitwillig übernommen haben könnten, ist von Interesse, inwiefern Heimat als Thema verhandelt wurde.104 Udo Ulfkotte sprach bereits Anfang Januar 2015 vor knapp 20.000 Pegida-Anhänger/-innen davon, dass »wir ein Stück Heimat im Inland auf[geben], wenn wir immer mehr Kriegsflüchtlinge aufnehmen sollen«. Und seit dem Spätsommer 2015 rufen, wie schon dargestellt, Pegida-Redner/-innen explizit zum »Heimatschutz« auf, wobei 103 |  Vgl. hierzu Kapitel 4.1.2. 104 | Zum Thema Nationalstolz, das eng mit Heimat verknüpft ist, vgl. Kapitel 3.3.3.

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dieser nicht nur gegen die äußeren, sondern auch gegen die inneren Feinde zum Einsatz gebracht werden soll. Dabei wird die Verpflichtung zum Heimatschutz eng mit dem Patriotismus verknüpft, der hier reaktiviert werden soll. Zur Heimatdebatte gehören bei Pegida ebenso Reinhaltungsphantasien, nicht nur war »Ausmisten!« vorübergehend Pegida-Schlachtruf, sondern auch die Vorstellung, das eigene Land und die Kultur »sauber« zu halten, prägten das Sprechen von Pegida über Heimat. Auch daher ist der aus der Demonstrationsmenge gemeinschaftlich erklingende Ruf »Abschieben« seit 2015/2016 einer der gängigsten Rufe und hat Klassiker wie die »Lügenpresse« beinahe verdrängt. Diese imaginierte Reinhaltung der Heimat ist für Pegida symbolisch immens aufgeladen, was sich an den Insignien der Mistgabel und dem Wischmop zeigt, die das Organisationsteam gerne präsentieren. Auch die Anhänger/-innen der »Patriotischen Europäer« haben ein besonders Verhältnis zur Heimat. Dies wird nicht nur durch Plakate wie »Heimatverliebt« oder »Heimat statt transformatorische Siedlungsregion«105 – in Anspielung auf ein sozialdemokratisches Papier über die bundesrepublikanische Einwanderungsgesellschaft – deutlich, sondern zeigte sich auch in den qualitativen Erhebungen unter den Anhänger/-innen der »Patrioten« selbst. So werden von ihnen die Stadt Dresden und das Bundesland Sachsen mit einer spezifischen Bedeutung aufgeladen, die die Besonderheiten der Kultur und Natur betont. Dabei spielt die Verbundenheit und Überlegenheit der Sachsen gegenüber anderen »Stämmen« eine entscheidende Rolle. Die Sachsen zeichneten sich durch Vernunft, Wissen, Weitblick und Erfahrung aus, seien umtriebig, aufgeweckt und gescheit. Überdies ließen sich die Sachsen im Allgemeinen und Dresdner im Besonderen durch ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl charakterisieren, das mit den jüngsten Elbfluten in den Jahren 2002, 2006 und 2013 auf die Probe gestellt worden sei.106 Ob sich die hier befragten jungen Menschen für den Heimatdiskurs, der seit einigen Jahren wieder verstärkt vom rechten Rand in die gesellschaftliche Mitte drängt107, empfänglich zeigen, insbesondere, weil sich hier auch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit

105 | Diese Beobachtungen basieren auf in regelmäßigen Abständen durchgeführten Vor-Ort-Begehungen der P egida -Demonstrationen in Dresden sowie einer im Zeitverlauf beständig durchgeführte Sichtung des auf YouTube verfügbaren Livestreams der Protestveranstaltung durch die Autorinnen und Autoren. Der Slogan »Heimatverliebt« stammt aus dem Kreis der Identitären Bewegung. 106 |  Vgl. Lars Geiges u.a., P egida  – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 92-97. 107 | So ist es auch kein Zufall, dass sich eine Gruppe aus dem Umfeld der NSU Terrorzelle bereits seit Mitte der 1990er Jahre »Thüringer Heimatschutz« nennt.

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und Identität manifestiert108, ist allerdings zunächst noch offen. Und obwohl die Heimat seit Jahrhunderten unterschiedlich aufgeladen und gedacht wird, ist doch das Reden darüber spätestens seit 1945 niemals harmlos, denn durch das Sprechen über Heimat werden »immer auch Vorstellungen einer imaginären Gemeinschaft wie auch Abgrenzung gegen ein fremdes Außen hergestellt«.109 Ein solch ausgeprägter Heimatbezug wie bei Pegida-Rednerinnen und -Rednern beziehungsweise deren Anhänger/-innen findet sich bei den hier befragten jungen Menschen nicht. »Heimat« als Begriff scheint bei ihnen kaum zu verfangen, obwohl sich sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland Züge von Lokalpatriotismus erkennen lassen. Dieser ist jedoch zunächst durch architektonische Besonderheiten aufgeladen und weniger durch die Annahme spezifischer Werte oder eines kulturellen Raumes geprägt, der gegen Fremde verteidigt werden muss und durch einen exkludierenden und exklusiven Charakter geprägt ist. Insbesondere bei der als Einführung gedachten Assoziationsaufforderung im Zusammenhang mit den präsentierten Bildern wird beispielsweise auf die Nürnberger Burg, das Völkerschlachtdenkmal oder die Dresdner Elbbrücke Bezug genommen. Häufig werden jedoch auch die Bilder angesteuert, die eine idyllische Lavendelwiese oder einen beschaulichen Waldweg abbilden, und die zu einem spontanen Spaziergang einladen. Wald, Natur und die unmittelbare Umgebung als Chiffre für Heimat sollen der Entspannung im Alltag, dem »Abschalten« mit Freunden und der Unterhaltungsmöglichkeit der Familie und Kinder dienen. Insofern ist Heimat als inhaltliches Konzept bei den Befragten schon vorhanden. Hier wird deutlich, dass auch im Verhältnis zur Natur und Heimat die Befragten eine Konsumhaltung einnehmen. Die Heimat soll ihnen etwas bieten, Heimatpflege oder -schutz spielte demgegenüber keine Rolle. Darüber hinaus ist für einige junge Menschen aus Sachsen Heimat auch die sächsische Mundart und das individuelle Gefühl des Angenommen- und Angekommenseins. Heimat wird nur noch von den wenigsten als Ort gedacht, an dem man geboren wurde und aufgewachsen ist, sondern wird als Sehnsuchtsraum imaginiert, der mit dem Lebensraum zusammenfallen kann. Insofern werden auch, wie in der Literatur vielfach beschrieben, von den hier Befragten die gegenwärtigen Konzepte von Heimat pluralisiert, temporalisiert

108 |  Vgl. Joachim Klose, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Heimatschichten. Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses, Wiesbaden 2013, S. 11-15, hier S. 11. 109 |  Beate Binder, Beheimatung statt Heimat: Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit, in: Manfred Seifert (Hg.), Zwischen Emotion und Kalkül. ›Heimat‹ als Argument im Prozess der Moderne. Dresden 2010, 189-204, hier S. 222.

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und entlokalisiert.110 Heimat erscheint dann als »reines Gefühl«, das man dort empfindet, wo man sich kleinräumigen (unpolitischen) sozialen Gemeinschaften verschrieben hat innerhalb deren Rahmen man sich wohlfühlt. Heimat ist für die jungen Menschen also nicht, wie bei den Pegida-Anhänger/-innen, eine Art Kompensationsraum für gesellschaftspolitische Zumutungen und funktioniert als Begriff allein beziehungsweise als rechtspopulistisch aufgeladenes Konzept für die Jugend kaum. Dennoch lassen sich Hinweise darauf finden, dass die Befragten die Heimat punktuell als bedroht wahrnehmen. Während der Nahbereich, also Familie und Freunde, für sie relativ sicher, da kontrollierbar, erscheinen, wird die Heimat nicht durchweg als unzerstörbar eingestuft. So kommt beispielsweise eine Teilnehmerin aus einer frei rekrutierten Gruppe nach dem Sprechen über ihre Heimatstadt unmittelbar zu dem Schluss, dass es in dieser nun nicht mehr so sicher sei wie »früher«, also vor der Flüchtlingskrise. Es sind hier vor allem die Frauen, deren Sicherheitsgefühl durch die Veränderungen in der Heimat angegriffen wird. Auch der »Zubau der Grünflächen« oder der Anstieg der Immobilienpreise führten dazu, so der Tenor der Diskussion in einer anderen frei rekrutierten Gruppe, dass sich die Heimatstadt grundlegend verändere und somit das eigene Wohlgefühl gefährde. Auffällig ist, dass diejenigen, die in den Fokusgruppen bewusst eine positive Beziehung zur Vokabel »Heimat« offenbaren, sich gleichfalls als politisch Interessierte zu erkennen geben und im Gesprächsverlauf durch starke Abwertungen und menschenfeindliche Äußerungen auffallen. Diese meinen mit Heimat dann auch keinen Ort, an dem man sich selbst immer wieder neu beheimatet, sondern im traditionellen Begriffsverständnis den lokalen Zusammenhang, an dem sie ihre Kindheit und Jugend verbracht haben. Heimat ist dann der Ort, an dem man sich auskennt, gespickt mit Personen und Bezugspunkten, die Sicherheit vermitteln. Familie, Freunde, bekannte Gesichter, schöne Kindheitserinnerungen, Ereignisse, Rituale und Feste, also der räumliche Zusammenhang, in dem auch die eigenen Kinder aufwachsen sollen, wird von diesen als Heimat affirmiert. Insofern wird auch deutlich, dass der intensive Bezug auf die Heimat als lokaler Verwurzelung häufig eine positive Grundhaltung gegenüber Globalisierung und Weltoffenheit ausschließt.111

110 |  Karin von Waldher, Wo Heimat ist. Zur Konstruktion und Rekonstruktion von Heimat, Klagenfurt 2012, S. 88. 111 | Ähnlich auch: Victor Roudometof, Transnationalism, Cosmopolitanism and Glocalization, in: Current Sociology 53 (2005) 1, S. 113-135.

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Abb. 12: Zivilgesellschaftliches Engagement (»Sind Sie Mitglied in einem Verein/ einer Organisation?«) Technisches Hilfswerk 1,1%

andere 2,3%

keine Angaben 2,3%

n=88

Sportverein 21,6%

nein 64,8%

Schützenverein 1,1% Kleingartenverein 1,1% Kirchliche Organisation 3,4% Jugendarbeit 2,3% Gesangsverein 2,3% Freiwillige Feuerwehr 1,1% Fanclub 2,3% Betriebsgemeinschaft 4,5%

Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten der fragebogengestützten Erhebung im Anschluss an die Fokusgruppen

4.2.9  Junge Menschen als aktive Stützen der Zivilgesellschaft? Während – zusammenfassend – Heimat im Denken über die bundesrepublikanische Gesellschaft kein vordergründiges Deutungsmuster für die jungen Menschen ist, bleibt jedoch festzuhalten, dass die Idee einer multikulturellen Gesellschaft lediglich auf ritualisierten Verbalisierungen und kaum auf internalisierten Normen fußt, die handlungsleitend wirken könnten. Daher ist es bedeutsam, wie die Befragten ihre eigene Rolle als Bürgerinnen und Bürger innerhalb der Gesellschaft interpretieren beziehungsweise inwiefern sie gegebenenfalls gesellschaftspolitisch aktiv sind. Zunächst fällt auf, dass die Zivilgesellschaft als Begriff lediglich in einer frei rekrutierten Fokusgruppe in Sachsen thematisiert worden ist. In dem Zusammenhang wurde nicht etwa auf die Notwendigkeit des Engagements aller für eine funktionierende und lebendige Demokratie aufmerksam gemacht, sondern die vermeintliche Anforderung der Politik zurückgewiesen, dass diese im Rahmen der Flüchtlingskrise zu viel von der Zivilgesellschaft einfordere beziehungsweise die Krise ohne diese nicht ansatzweise gemeistert worden wäre. Untersucht man die Einbindung in Vergemeinschaftungszusammenhänge genauer, wird offenbar, was oben bereits mit der angesprochenen Vereinzelung der Befragten gemeint ist: Nur wenige engagieren sich in Vereinen, Institutionen oder Verbänden, Cliquen, subkulturellen Zusammenhängen oder anderen freien Assoziationen.

4.  Politikdistanz und Polarisierungsresistenz

Für einige scheint außerhalb des Klassenverbandes der (Berufs-)Schule gemeinschaftliches Leben nicht stattzufinden. Dies gilt insbesondere für die Befragten in Westdeutschland. Hier sind 71 Prozent der jungen Menschen aus unserem Sample in keinem Verein, Verband oder einer anderen zivilgesellschaftlichen Institution aktiv, während dies auf 61 Prozent der Befragten aus Ostdeutschland zutrifft.112 Demgegenüber wird im aktuellen Engagementbericht der Bundesregierung noch davon ausgegangen, dass die Zahl der jungen Menschen in zivilgesellschaftlichen Assoziationen bei rund 48 Prozent liege.113 Entweder ist die engagierte Jugend in unserem Sample unterrepräsentiert, oder – und darauf deuten auch eher die Argumentationsstrukturen in diesem Themenfeld hin – die Wahrscheinlichkeit, leichthändig Mitgliedschaften und Engagement zu simulieren ist in quantitativen Umfragen deutlich höher, als im Rahmen einer qualitativen Befragung ausführlich über konkrete Ausprägungen des eigenen Engagements zu sprechen. Dies wird auch an den Begründungen des Nicht-Engagements ersichtlich, die ähnlich stereotyp ausfallen, wie die Rechtfertigung für das fehlende politische Interesse. Man habe schlicht keine Zeit, da der Schichtdienst oder die Tätigkeit in der Gastronomie mit dem Vereinsleben nicht kompatibel oder das intensive Training nicht mehr mit der Ausbildung vereinbar gewesen sei. Dennoch ist auffällig, dass den hier Befragten keinesfalls ein Rechtfertigungszwang inhärent ist, das heißt man gibt unumwunden und ohne Begründung zu, sich einfach nicht zu engagieren. Damit ist aus ihrer Perspektive alles gesagt. Da sich in dem unmittelbaren Umfeld ohnehin nur eine kleine Minderheit zivilgesellschaftlich engagiert, scheint für sie die gesellschaftliche Passivität im Gegensatz zum Engagement eher die Normalität zu sein. Insofern erscheinen die Befunde der aktuellen Shell-Jugendstudie, in der geschlussfolgert wird, dass Jugendliche die Gesellschaft »mehrheitlich als Chance und positives Betätigungsfeld« begreifen würden, als zu optimistisch.114 Bei uns offenbarte sich lediglich eine distanzierte und gleichgültige Haltung der jungen Menschen gegenüber der Gesellschaft. Und selbst jene, die Mitglieder im Verein sind, oder sich in gesellschaftliche Initiativen einbringen, scheinen dies eher als eine Art Selbstverwirklichungsprojekt zu praktizieren denn als Verantwortung für die Gemeinschaft. So sind 21 Prozent der Befragten in Sachsen und 22 Prozent derjenigen aus 112 | Dies steht den Befunden quantitativer Erhebungen diametral entgegen, denen zufolge die Mitgliedschaft junger Menschen in Vereinen im Westen höher sei als im Osten. Vgl. Martina Gille (Hg.), Jugend in Ost und West seit der Wiedervereinigung, S. 248. 113 | Julia Vogel u.a., Freiwilliges Engagement und zivilgesellschaftliches Handel im Zeitvergleich, in: Dies. u.a. (Hg.), Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014, Berlin 2016, S. 83-147, hier S. 93. 114 |  Ulrich Schneekloth, Jugend und Politik, S. 193-200.

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Nürnberg und Duisburg in einem Sportverein aktiv. Ihnen geht es dort immer um »Ausgleich«, »fit bleiben«, »Spaß haben« und »Ablenkung«. Die Vereine sind also keine primären Orte des zivilgesellschaftlichen Engagements im klassischen Sinn, sondern eher Dienstleister, beinahe eine Art preisgünstigeres Fitnesscenter. So war es auch auffällig, dass sich in einer Ostdeutschen Stadt zwei Befragte als Mitglieder des gleichen Vereins identifizierten, jedoch erst im gegenseitigen Austausch über ihre Freizeitaktivitäten und keinesfalls im Wiedererkennen des Gegenübers. Personen, die dem Verein etwas zurückgeben, beispielsweise indem sie die Nachwuchsmannschaft trainieren, den Rasen mähen oder die Würstchen beim Spiel grillen, sind auch unter den rund zwanzig Prozent Vereinsmitgliedern eher die Ausnahme. Lediglich drei Befragte, zwei in ostdeutschen und einer in einer westdeutschen Fokusgruppe – und alle politisch interessiert – verbinden mit dem Verein auch Zusammenhalt, Einsatz und »megakrasse Gemeinschaft«. Bei den Erzählungen dieser Befragten, von denen zwei als beunruhigte und einer als unbekümmerter Forschungspartner rekrutiert wurden, zeigte sich, dass sie sich mit ihrer Zeit und Arbeitskraft in den Verein einbringen und hier die Assoziation bereichern, statt ausschließlich nach dem Prinzip der egoistischen Nutzenmaximierung von dieser zu profitieren. Daher erscheint die vielfach reproduzierte These von Vereinen als »Schule der Demokratie« für die hier befragten jungen Menschen eher fraglich.115 Sofern sie überhaupt zutrifft, dann sicherlich nicht im intendierten Sinne, sondern vielmehr als Entsprechung des Politikverständnisses: Als zügig konsumierbarer Inhalt eines Supermarktregals, ohne Blick für den logistischen, also demokratischen und realpolitischen Aufwand dahinter. Nach dem Verein ist die Zugehörigkeit zur Betriebsgemeinschaft die nächstgrößere Gruppe, in die insgesamt vier Befragte, drei davon aus Westdeutschland, involviert sind. Sprechen die Befragten über ihre Angaben auf dem Fragebogen hinaus über ihre Hobbys und Freizeitbeschäftigungen, erschienen diese eher individualistisch. Man spielt ein Instrument, »zockt mit der Konsole«, reitet oder geht zum Bogenschießen. Diese Tätigkeiten lassen sich womöglich unter einem breiten Engagementbegriff fassen,116 sind jedoch kein zivilgesellschaftliches Engagement im engeren Sinne, verstanden als Handeln auf freiwilliger, selbstorgansierter und nicht gewinnorientierter Basis, die gemeinschaftlich beziehungsweise kooperativ ausgeübt wird, im öffentlichen Raum 115 | Vgl. Wolfgang Gaiser u.a., Jugendliche – Vergessene Adressaten der politischen Bildung? In: Siegfried Frech und Ingo Juchler (Hg.): Bürger auf Abwegen? Politikdistanz und politische Bildung, Schwalbach/Ts 2011, S. 105-129, hier S. 111. 116 | Vgl. hierzu: Thomas Klie, Auftrag, Anliegen, Arbeitsweise der zweiten Engagementsberichtskommission, in: Ders. und Anna Wiebke Klie (Hg.): Engagement und Zivilgesellschaft. Expertisen und Debatten zum zweiten Engagementbericht, Wiesbaden 2018, S. 9-14, hier S. 10.

4.  Politikdistanz und Polarisierungsresistenz

stattfindet und gemeinwohlorientiert ist.117 Hierunter lassen sich letztlich nur die Tätigkeiten weniger Befragter subsumieren. Eine Teilnehmerin bekennt sich zu einer aktiven Mitgliedschaft bei Amnesty International, eine Befragte mit Migrationshintergrund organisiert – nachdem sie selbst positive Erfahrungen damit gesammelt und wertvolle »Erlebnisse« mitgenommen hat – einen Jugendaustausch nach Russland. Ein weiterer Befragter aus einer frei rekrutierten Gruppe, das einzige ostdeutsche Parteimitglied im Sample, trainiert in seinem Fußballverein die Kindermannschaft und zwei Befragte sind in der Flüchtlingshilfe aktiv. Daher scheint auch hier immer noch zu gelten, was Pickel bereits vor über fünfzehn Jahren feststellte: dass die traditionell-konventionellen Formen der politischen Beteiligung durch eine »diffuse Politikverdrossenheit« verhindert werden118 oder andersherum formuliert: Je positiver die jungen Menschen der Politik gegenüber eingestellt sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich in zivilgesellschaftlichen Assoziationen zusammenfinden. Im breiten Staatsbürgerschaftsverständnis der jungen Menschen ist der Gedanke der Selbstverpflichtung zum zivilgesellschaftlichen Engagement jedoch keinesfalls angelegt. Abb. 13: Politisches Engagement (»Sind Sie Mitglied in politischen Vereinigungen?«) NGOs (z. B. Greenpeace, Amnesty International, o. Ä.) 2,3%

Antifa; 1,1%

Hochschulgruppen 1,1% keine Angaben 1,1%

n=88

Gewerkschaft 1,1% SPD; 3,4%

nein 90,9%

Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten der fragebogengestützten Erhebung im Anschluss an die Fokusgruppen

117 |  Julia Simonson u.a., Einleitung. Freiwilliges Engagement in Deutschland, in: Dies. u.a. (Hg.), Freiwilliges Engagement in Deutschland, Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014, Berlin 2016, S. 25-44, hier S. 28. 118 | Gert Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit, S. 368.

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5. Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

5.1 »E go -S hooter «. Ü ber M it telschichtside ale , internalisierten M eritokr atismus und das   ökonomische P risma Die Frage nach dem Stellenwert materieller Lebensziele gehörte ursprünglich nicht zum Design dieser Studie. Im Gegenteil: Zu erwarten waren hybride Werthaltungsmuster, die sich aus den materialistischen wie postmaterialistischen Mentalitätsschichten der letzten Jahrzehnte zusammensetzen. Schließlich lautet so der Tenor der bereits referierten Werte- beziehungsweise Wertewandelsforschung.1 Sowohl die kleinbürgerlich dominierte Mittelstandsgesellschaft der 1950er/1960er Jahre als auch die Zeit der 1970er/1980er Jahre mit ihren emanzipativen Partizipations- und Selbstverwirklichungsmaximen seien passé, und damit auch die relative Homogenität normativer Bindungen.2 Demnach verzichteten insbesondere Jugendliche auf Selbstverwirklichungs- und Partizipationsmöglichkeiten, um sich stattdessen zunehmend auf Konzepte wie Ordnung, Gemeinschaft und »Luxus-Materialismus« (Einkommen als Grundlage von Selbstentfaltung) zu konzentrieren.3 »Reine« 1 | Vgl. hierzu die Kapitel 3.2. und 3.3. 2 | Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977 sowie die jüngere international vergleichende Studie in Ronald Inglehart, Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1998; Angelika Scheuer, Materialistische und postmaterialistische Werte, in: Internetpräsenz der Bundeszentrale für politische Bildung, 03.05.2016, online einsehbar unter www.bpb.de/ nachschlagen/datenreport-2016/226961/materialistische-und-postmaterialistischewerte (eingesehen am 02.10.2017). 3 | Vgl. Stefan Hradil, Der Wandel des Wertewandels. Die neue Suche nach Sicherheit, Ordnung und Gemeinschaft in einer individualisierten Gesellschaft, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP) H. 4/2002, S. 409-420, insbesondere S. 416.

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Materialist/-innen und Postmaterialist/-innen werden angesichts der Karriere des »Mischtyps« also immer seltener.4 Kennzeichen der Bürgerinnen und Bürger gegenwärtiger westlicher Demokratien sei nunmehr eine Mixtur aus Orientierungs- und Harmoniebedürfnissen, also dem Wunsch nach Sekurität, Ordnung und angemessenem Lebensstandard auf der einen Seite, aber auch der selbstbewussten Forderung nach politischer Repräsentation der eigenen Präferenzmuster, erweiterten Mitspracherechten sowie dem Schutz der eigenen Bürgerrechte auf der anderen. So weit, so einfach? In sozialstruktureller Hinsicht konnten wir nämlich durchaus davon ausgehen, ein Abbild des gesellschaftlichen Durchschnitts unter den jungen Menschen unserer Diskussionsgruppen vorzufinden; an überdurchschnittlich großer Armut oder extensiv prekären Beschäftigungsverhältnissen jedenfalls litten unsere ökonomisch heterogen aufgestellten Teilnehmer/-innen insgesamt nicht.5 Trotzdem ließen sich nur bei sehr wenigen der von uns Befragten – wie gezeigt – robuste postmaterialistische Züge auffinden. Im Gegenteil: Eine deutliche Mehrheit atmet  – über alle Einkommensunterschiede hinweg  – klassische »bürgerliche« und neokonformistische Werte6, versteht individuelle Selbstständigkeit und freizeitliche Freiräume vornehmlich als Ergebnis persönlicher Leistungsbereitschaft, lädt den Begriff der Bildung als Karrieremotor auch gegen Unwägbarkeiten geradezu magisch auf und sieht sich selbst als Manager/-in, gar Schöpfer/-in des eigenen Schicksals, kurz: möchte sich im individualistischen Alleingang in die Reihen einer grundsätzlich meritokratisch orientierten Mitte 7 durchkämpfen. Was der Blick auf das Relevanzsystem und die normativen Bindungen der von uns Befragten aufzeigte, nämlich den großen Stellenwert von »unteren« Hierarchiestufen der Bedürfnispyramide (materielle und kör-

4 | Vgl. ebd., S. 414. 5 | Mehr als die Hälfte von ihnen verfügt über ein monatliches Nettoeinkommen über 750 bis 1.000 Euro, ein gutes Drittel über mehr als 1.000 Euro. Bedenkt man, dass in der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen üblicherweise jeder zweite Beschäftigte eine Tätigkeit an der Niedriglohn-Grenze (maximal zehn Euro die Stunde) ausübt, es sich also um einen altersspezifischen Umstand handelt, liegt unser Sample kaum unter dem bundesrepublikanischen Durchschnitt. Vgl. dazu Statistisches Bundesamt, Verdienste auf einen Blick, 2017, online einsehbar unter, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/ Thematisch/VerdiensteArbeitskosten/Arbeitnehmerverdienste/BroschuereVerdienste Blick0160013179004.pdf?__blob=publicationFile (eingesehen am 02.10.2017), S. 10. 6 | Vgl. Andreas Rödder, Vom Materialismus zum Postmaterialismus? Ronald Ingleharts Diagnosen des Wertewandels, ihre Grenzen und Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen, Heft 3/2006, online einsehbar unter www.zeithistorische-forschungen. de/3-2006/id=4658 (eingesehen am 02.10.2017) 7 | Vgl. Stine Marg, Mitte in Deutschland, S. 175-182.

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perliche Sicherheit), findet sich auch im weiteren Verlauf der Gruppendiskussionen bestätigt. Explizite beziehungsweise »große« politische Themen wie die politische Repräsentation der eigenen Interessenlagen oder Reflexionen über Rolle und Rechte als Bürgerin und Bürger sind demgegenüber nur von peripherem Interesse, bilden nur mehr einen dünnen Firnis, liegen zum Teil gar völlig außerhalb ihres Aufmerksamkeitsradars. Dieser Befund irritierte uns, die politikwissenschaftliches Denken gewohnt sind, sich regelmäßig und intensiv mit politischen Themen auseinandersetzen und vor allem von einer explizit auf politische Präferenzen abzielenden Fragestellung (nach der Unterstützung von beziehungsweise der Ablehnung von Pegida) ausgingen. Erst allmählich schälte sich inmitten der jugendlichen Relevanzsetzungen ein thematischer Schwerpunkt heraus, der zunächst weder unserer Fragestellung noch unserem primären Analyseraster zuzurechnen war, aber dessen Konturen im Verlauf der Untersuchung deutlich hervortraten. Es stellte sich folgende Frage: Ist die Dominanz materieller Themen ein weiterer Indikator für eine besonders »unpolitische« Jugend 8 oder fanden wir hier das sogenannte »unsichtbare« Politikprogramm wieder, also die durchaus politisch relevante, aber von den in Rede stehenden Akteuren nicht als »politisch« wahrgenommene Beschäftigung mit alltäglich erfahrbaren Aspekten des sozialen Lebens (wie Beruf, Freizeit, Lebensstandard, Familie, Gemeinschaft usw.), wie sie bisher vor allem unter »bildungsfernen« Jugendlichen untersucht worden ist?9 Denn dass die jungen Menschen von Aspekten des Lebensstandards und Broterwerbs, den Vorstellungen leistungs- und bildungsbasierten sozialen Auf- beziehungsweise Abstiegs und auch von Fragen der gesellschaftlichen Verteilungsgerechtigkeit geradezu umgetrieben werden, ist deutlich zu erkennen. Dieses erklärungsbedürftige Phänomen, das nahezu alle unserer Diskussionsteilnehmer (über Rekrutierungsdifferenzen hinweg) einte, offenbart eine spezifische Grundhaltung, die wir »Ego-Shooter« nennen möchten. Denn analog zu vielen populären Ego-Shooter-Titeln aus dem Sektor des Online Gaming agieren auch unsere Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner auf dem Weg zu ihren Lebenszielen: Sie kämpfen sich bindungsarm-individualistisch durch, indem sie erst einmal nur die unmittelbar anstehenden Herausforderungen bewältigen, und sind ganz mit dem individuellen Fortkommen im Hier und Jetzt beschäftigt. Der Alltag will opportun gemanagt sein – eine Aufgabe, der man als Herrin beziehungsweise Herr des eigenen Schicksals naturgemäß auch gewachsen zu sein scheint. Dies ist der maßgebliche Aufmerksamkeitshorizont, ja: der Kompass der Jugendlichen in einer als 8 | Vgl. Kapitel 4.2.1. 9 | Vgl. Wiebke Kohl und Anne Seibring (Hg.), »Unsichtbares« Politikprogramm? Themenwelten und politisches Interesse von »bildungsfernen« Jugendlichen, Bonn 2012.

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unübersichtlich wahrgenommenen Welt. Er wird immer dann sichtbar, wenn sie über ihren Lebensweg, ihre Berufsaussichten und Zukunftspläne berichten, in denen sie als Protagonist und Heldenfigur, die Gesellschaft aber als Bühne erscheint. Gleichwohl: Souverän und selbstbewusst macht das die wenigsten. Auffällig ist nämlich ebenso, dass die zutage tretenden internalisierten meritokratischen Orientierungen gerade nicht als Säulen eines robusten Aufstiegsoptimismus fungieren, sondern vielmehr prekäre Platzhalter eines lebensweltlichen Kompasses sind, über den sie sonst nicht recht verfügen. Insofern ist den optimistischen Schlussfolgerungen des sonst präzise pointierten »Egotaktiker«-Theorems von Hurrelmann und Albrecht zu widersprechen: Die jungen Menschen bewegen sich im Zustand des permanenten Opportunismus eben nicht »wie ein Fisch im Wasser«10. Subkutan dominieren große Verunsicherung und latente Verzweiflung. Die Grundhaltung des Ego-Shooters soll folgend anhand von drei wiederkehrenden Aspekten erläutert werden: erstens dem teils anachronistisch anmutenden Wunsch, den klassischen Lebensstil der Mittelschicht zu erreichen beziehungsweise zu erhalten, zweitens der Berufung auf die Prinzipien von Leistung und (Aus-)Bildung zur Erlangung dieses Ziels, und drittens der Ausstrahlung ökonomischer Denkmuster und unterdrückter materieller Unsicherheitsempfindungen auf die Wahrnehmung gesellschaftlicher Problemlagen.

5.1.1  Fixpunkt und Lebensziel: Das klassische Mittelschichtsideal Noch einmal: Wenn sie nach Lebenszielen und Werthaltungen befragt wird, gibt die Mehrheit unserer Teilnehmenden zunächst einmal recht »erwartbare« beziehungsweise wenig überraschende Antworten, die mit der persönlichen wirtschaftlichen Situation, dem sozialen Hintergrund des Elternhauses oder dem individuellen Lebensstandard zusammenhängen. Wer härter um die Grundlagen der eigenen Existenz zu kämpfen hat, spricht offenbar auch freier über alltagsrelevante Themen wie Geld, Nebenjobs und Sozialhilfe, während Angehörige von eher sorgenfreien Elternhäusern – auch solche, die qua Studium in einer vorübergehend finanziell angespannten Situation leben – ihre Orientierungsmuster aus harmonischen Fernzielen wie Haus, Familie, Gesundheit im Alter und einer »gebildeten« Lebensführung be10 | »Doch die Generation Y hat trotz allem in ihrer Mehrheit die Erfahrung gemacht, immer irgendwie auf die Füße gefallen zu sein. Das macht sie immun gegen Ungewissheiten. Sie entwickelt einen pragmatischen Optimismus, dass es schon irgendwie weitergeht. Mittlerweile scheint sie diesen Zustand zu lieben und bewegt sich darin wie ein Fisch im Wasser. Immer mit dem großen Strom, aber mit List und Tücke und mit einer intuitiven Gewissheit, ein interessantes Leben zu führen.« Zit.n. Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht, Die heimlichen Revolutionäre, S. 41.

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

ziehen. So verweist eine in Weiterbildung befindliche Teilnehmerin auf die visuelle Darstellung von Geld mit dem Kommentar, dies sei ihr »als allererstes« ins Auge gesprungen, »und zwar deswegen, weil ich aus einer sozial schwachen Familie komme«. Sekundiert wird sie von anderen Diskussionsteilnehmer/-innen in ähnlichen Lebenslagen, die etwa darüber berichten, dass sie neben Ausbildung und Studium auf Zusatzverdienste aus geringfügiger Beschäftigung angewiesen seien: »Also selbst mit dem BAföG gehe ich auf 450 Euro, also auf dem Maximum, was ich verdienen darf, arbeiten. Selbst mit dem Höchstsatz ist es sonst nicht möglich.« Demgegenüber äußern sich Teilnehmende aus den Reihen kaufmännischer Berufe, (angehender) Angestellter und Lehramtsstudierende im Sinne höherer Konsum- und Besitzerwartungen, oft vermischt mit dem Drang, die eigenen Wünsche zu rationalisieren: »Also, keine Ahnung, ist ein bisschen Oma-mäßig, aber das ist halt so mein Traum, später mal in einem Haus zu wohnen und einen Garten zu haben auf dem Land.« Allerdings: Diese bodenständig-materiellen Orientierungen werden hin und wieder durch sozialethische und umweltsensible Bedenken durchbrochen, die wie latente Diskursübernahmen von klassischen Ökopax-Impulsen wirken. Auch unter jenen, denen es schwerfällt, ein attraktives Einkommen zu erzielen beziehungsweise die der biografischen Fixierung auf das ökonomische Fortkommen grundsätzlich distanziert gegenüberstehen, findet sich ein großes Bedürfnis nach kritischem Konsum und der Ref lexion des eigenen alltäglichen Handelns. So äußert ein teilzeitbeschäftigter Sozialarbeiter: »Also, ich meine: wir, die konsumieren, sind ja auch mit dafür verantwortlich, dass ein Öltanker durch die Gegend fährt und halt untergeht, ne?«, und gibt eine in Fortbildung befindliche Teilnehmerin, die mehrfach auf ihre finanziell schwierige Situation rekurriert, an, sich als aktives Mitglied bei der Tierschutzorganisation WWF zu engagieren und amalgamiert ihr »Interesse für Tiere« mit ihrem »Interesse für sozialbenachteiligte Menschen, halt auch wegen meiner Herkunft«, sozusagen als ein und dasselbe assoziative Gefüge. Der auffälligste Eindruck der Diskussionspassagen über Lebensstandard und materielle Themen aber ist die Fokussierung der mit Abstand meisten Befragten – über Bildungs- wie Erwerbsgrenzen hinweg – auf das klassische Mittelschichtsleben des »Golden Age of Capitalism«. Zentraler Orientierungsanker ist die Gesellschaft des Wirtschaftswunder-Nachkriegsbooms, der vielfach zum Klischee geronnenen deutschen Adaption des American Dream als »nivellierte Mittelstandsgesellschaft«.11 Das Aufstiegsversprechen dieser Ära – 11 |  Vgl. Helmut Schelsky, Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft, in: Ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf 1965, S. 331-336.

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sozialer Aufstieg, Familiengründung, eigene Immobilie und selbst erarbeiteter Wohlstand im Vorstadtidyll – reflektiert sich in den Sehnsüchten der von uns Befragten. Damit reproduzieren sie in einer Phase unsicher gewordener Erwerbsverhältnisse immer auch – freilich ohne diesen Ausdruck zu gebrauchen  – historisch aufgeladene Diskurse um den Sehnsuchtsort der »Mitte«, welche »stets mehr als eine soziale Ortsangabe« gewesen ist: »Sie galt und gilt in der öffentlichen Debatte als Stabilitätsanker, als Referenzpunkt gesellschaftlicher Normalität, als Integrationsinstanz und nicht zuletzt als Chiffre für soziale Durchlässigkeit und Aufstieg.«12 Die Sehnsucht nach dem überschaubaren und wohlgeordneten Mittelschichtsleben drückt sich in den Gruppengesprächen in zentralen, wiederkehrenden Lebenszielen aus. Da ist zum einen der Wunsch nach einem zureichenden (nicht unbedingt überdurchschnittlichen) Einkommen, welches finanzielle Selbstständigkeit und Planungssicherheit gewährleistet. Selbstbewusst, kühl, ja achselzuckend wird konstatiert, dass Geld die Grundbedingung individuellen Glücks sei. Dieses Geld muss auch für regelmäßige Urlaubsreisen genügen, die, wie bisweilen (und insbesondere von Frauen) obsessiv betont wird, in die entlegensten Winkel der Welt führen dürfen (»am liebsten weit weg«) und die Bekanntschaft mit »anderen« beziehungsweise »verschiedenen Kulturen« erlauben sollen. Zum wohlgeordneten Mittelschichtsleben gehört weiterhin eine tiefempfundene Sehnsucht nach einer klassisch-heterosexuellen Kleinfamilie, das heißt einer Eheschließung und dem Großziehen von Kindern, an welche man ererbte wie erworbene persönliche Werthaltungen weitergeben kann – und zwar vorzugsweise im Eigenheim beziehungsweise einer attraktiv gelegenen eigenen Immobilie.13 Dabei wird insbesondere der Wunsch nach Haus und Familiengründung unprovoziert als rechtfertigungsbedürftig empfunden, als bedürften emotionale Regungen und irrationale Motivationsquellen einer spezifischen Legitimation.14 Zur Erinnerung: »Ja, ein Haus. Ich bin auch in einem eigenen Haus groß geworden und von daher verbinde ich damit etwas.« »Die Vorstellung, dass man halt so etwas Eigenes hat… Ich kann es gar nicht richtig beschreiben. Das ist, glaube ich, mehr so ein Gefühlsding.« »Ja, das ist, glaube ich, auch erst in den letzten zwei Jahren entstanden, aber jetzt habe ich das Gefühl, das ist das, was ich immer haben will.«15 Übrigens unterscheidet ein kleines Detail die Befragten in unseren 12 | Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, S. 148. Vgl. außerdem Stine Marg, Mitte in Deutschland, S. 60. 13 | Vgl. zur Bedeutung der Familie Kapitel 3.2.1. 14 | Vgl. Kapitel 3.2.1. 15 | Ob dieser Rechtfertigungsdruck aus dem Wunsch resultiert, vor der Gruppe beziehungsweise den Forscherinnen und Forschern nicht als profaner »Materialist« zu gelten, oder bspw. eine grundlegendere Spaltung zwischen Rollenerwartung und Sehnsüchten

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

Diskussionsgruppen von der einstmaligen Generation X: Der Besitz eines statusträchtigen Pkw scheint überhaupt keine Rolle mehr zu spielen. Die Zentralität des Mittelschichts-Komplexes wird gestützt durch die Antworten über Lebensziele, welche man im Rentenalter erreicht zu haben wünscht. Freilich auch durch die Ermüdung nach zwei Stunden Diskussion bedingt, aber gewiss nicht entwertet, sind die hier geäußerten, fast schon stereotyp bis harmonistisch anmutenden Bestätigungen der erwähnten Grundmuster: Selbstverständlich ende man mit einem abgesicherten, erfüllten Berufsleben, habe (meist, nicht immer) gesunde und ihrerseits erfolgreiche Kinder und Enkelkinder großgezogen, und erfreue sich bester Gesundheit bis ins hohe Alter. Der Nachfrage indes, ob sie diese Lebensziele für erreichbar halten, ja, ob ihre Generation im Vergleich mit den Eltern und Großeltern gar vor besonderen Hürden stünde, begegnen die jungen Menschen durchweg mit demonstrativem Unverständnis, ja mit latenter Überforderung. Wie, so der Tenor, solle man denn durch das Leben gehen, wenn nicht optimistisch? Diese scheinbare Sorglosigkeit ist auch deswegen irritierend, weil durchaus einige unserer Diskutant/-innen die ungern thematisierte »Schattenseite« dieser Mittelschichtssehnsucht verdeutlichen. Hier wird klar, was es heißt, die Unbill von niedrigen Auszubildendengehältern, Studierendenjobs, geringfügiger Beschäftigung, Zeitverträgen und Weiterbildungsschleifen  – kurz: prekärer Beschäftigung – am eigenen Leib zu erfahren. Sie müssen sich mit einem schmalen Einkommen einrichten, suchen dieses durch Nebentätigkeiten aufzubessern (inklusive der Teilnahme an Fokusgruppen der Markt- und Meinungsforschung16), haben auch Erfahrungen mit Behördengängen bei der Bundesagentur für Arbeit. Viele geben an, sich fortbilden zu wollen, weil bisherige Jobs ihnen »nicht gefallen« haben (»Das hat mir aber nicht gereicht. Und ich dachte, jetzt orientiere ich mich nochmal um.«), versuchen spürbar, in höhere Karrierewege abzubiegen. Einige von ihnen bewältigen das in trotziger Manier und finden die vergleichsweise angenehmen Latenz- und Moratoriumszeiten vor dem Eintritt in ein Erwerbsleben trotzdem »halt schön, auch wenn es viel zu wenig Geld ist. Sicherlich bekomme ich nicht so viel BAföG, aber es reicht halt.« Vereinzelt aber gewähren vor allem jene, die bereits längere (Fort-)Bildungswege hinter sich haben, in weniger komfortablen Berufszweigen (wie dem Gastronomie-Gewerbe) tätig sind und sich phasenweise regelrecht durchkämpfen mussten, demgegenüber deutliche Einblicke in ein belastetes Selbstempfinden: »Also im Einzelnen abbildet, lässt sich auf Grundlage unseres Fokusgruppenmaterials nicht entscheiden. 16 |  Gegen die nun naheliegende Vermutung, dass es sich bei den hier diskutierten Phänomenen um einen reinen Rekrutierungseffekt handelt, spricht unter anderem die Tatsache, dass es auch in frei rekrutierten Gruppenzusammenhängen zu diesen Thematisierungen gekommen ist.

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wenn ich mal Mist baue und wenn mir ein Vortrag nicht gelingt, dann falle ich in ein tiefes Loch. Und das ist ganz schwer.« An der Situation der prekär Beschäftigten in unserem Sample ist also zweierlei abzulesen: Erstens verdeutlicht diese Gruppe gleichsam als Extrempunkt, wie stark – und vor allem: wie lange – der Eintritt in das Berufsleben von materieller und karrieremäßiger Unsicherheit und intergenerationeller »Statusinkonsistenz«17 gezeichnet ist. Zweitens lassen sich die Bewältigungsstrategien dieser alltäglichen Erfahrungsbasis hier besonders deutlich konturieren: Entweder werden Unsicherheiten der Wahrnehmung ferngehalten und stattdessen demonstrative Gelassenheit praktiziert (»Ich habe ursprünglich mal Ergotherapie gelernt, aber will mich jetzt auch umorientieren. Und ja, mal gucken. Vielleicht doch noch mal etwas studieren, oder so.«), oder aber die Offenheit des Lebenslaufs als Privileg, sich (noch) nicht festlegen zu müssen, zelebriert. Gerade zwischen Studierenden, die ihre sehr mageren Finanzen oft als zureichend bewerten, und Erwerbstätigen mit niedrigen Einkünften (die zudem oft in teuren Single-Haushalten wohnen), wird dieser Unterschied greifbar. Aber: Auch für die »Prekären« ist das klassische Mittelschichtsideal – wie fern auch immer in der Zukunft es liegen mag – unangefochtenes Lebensziel. Warum aber ist das klassische Mittelschichtsideal, zweifellos ein elementares Orientierungsschema, für die Jugendlichen so attraktiv? Eines der Hauptmotive für den Wunsch nach dem trauten Eigenheim und der Gründung einer Familie scheint die Suche nach einem Zustand der Ruhe, des »Wohlfühlens« und des »Sich-einrichtens« zu sein, ähnlich der Situation eines nach Krieg, Irrfahrten und Strapazen final in sein ihm zustehendes Reich zurückkehrenden Odysseus, die Belohnung nach bestandener Prüfung, in gewissem Sinne eine privatisierte Erlösungserzählung. Dies könnte die auffällige, salopp gesprochen: hollywoodhafte Stereotypie der Szenarien erklären, in denen man sich den Rückzug mit Frau beziehungsweise Mann und Kind in die (nicht selten als ländlich vorgestellte) Sesshaftigkeit ausmalt. Und auch manche Teilnehmerin, die sich zunächst als Globetrotterin präsentierte, schien das Reisen schließlich mehr als Konsumgut denn als alternative Lebensform aufzufassen, ja offenbarte grundlegende Sympathien mit einem häuslichen Lebensstil. Diese Konstellation lässt sich anhand einer zunächst eher ambivalent erscheinenden Teilnehmerin illustrieren, die sich in den frühen Zwanzigern befindet und im Einzelhandel tätig war: »[…] der Urlaub: Das ist halt Traum, Erholung, Abenteuer. Und das sind halt Ziele des Lebens, die ich jetzt habe. [… Außerdem], das ist ganz wichtig: Familie, Geborgenheit, Glück, Kind. Ja, gemeinsam durchs Leben halt gehen, vielleicht noch mit ’nem Hund oder so.«

17 | Vgl. Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht, Die heimlichen Revolutionäre, S. 27.

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Nur als singuläre Ausnahme begegnete uns eine rastlose Mentalität, die den Gedanken örtlicher und zwischenmenschlicher Bindungen geradezu mit Abscheu zurückweist, da sie sich nicht vorstellen könnte, ihre »Entscheidungen an, irgendwie, einen großen menschlichen Anhang« zu binden und es präferierte, dorthin zu ziehen, »wo ich hinziehen möchte, je nachdem, wie es mir gerade geht«. In dieses Bild des Mittelschichtslebens als letztem utopischem Fluchtpunkt fügt sich auf der anderen Seite die erweiterte Anspruchshaltung jener wenigen Diskussionsteilnehmer/-innen, die es bereits »geschafft« haben, das heißt, fest im Berufsleben stehen, schon geheiratet beziehungsweise eigene Kinder haben und sich auch den zureichenden Wohnraum dafür leisten können. Die Weltsicht, vormals auf die Zukunft gerichtet, konzentriert sich dann offenbar häufiger auf emotionale wie materielle Besitzstandswahrung; die eschatologischen Strebungen verwandeln sich, überspitzt formuliert, in viele kleine Alltagsmanien: Man fürchtet steigende Kriminalität durch die allgemeine Dichte von Menschen, die Beseitigung von Grünflächen und damit zusammenhängender Lebensqualität, zudem werde bezahlbarer Wohnraum aufgrund steigender Preise zunehmend rarer, und man müsse, »wenn man sich ein Grundstück kaufen möchte und es soll irgendwo im Rahmen bleiben, […] schon rausgehen« aus der Kernstadt – »und das ist schon schade«.18 Ebenso kritisieren sie eine »Kommerzialisierung« »ihres« Stadtfestes zulasten kultureller Qualitäten und familiärer Übersichtlichkeit: »Es wird alles nur noch vermarktet.« Hört man diesen Ausführungen zu, wird eine immanente Widersprüchlichkeit deutlich, die an die Argumentationsstruktur des aus dem Rahmen von lokalen Bürgerprotesten bekannten NIMBY (»Not In My Back Yard«) erinnert, eine Grundhaltung, die gesellschaftliche Veränderungen zwar mitunter grundsätzlich bejaht, doch nicht im eigenen näheren Umfeld realisiert sehen möchte: Diese Teilgruppe unseres Samples erwartet ein finanzierbares eigenes Haus beziehungsweise Grundstück in einem möglichst dünn besiedelten, begrünten Viertel, welches zugleich nah an einer belebten und bunten Innenstadt liegen soll, die andererseits aber auch nicht übervölkert und »kommerzialisiert« ist; das wirtschaftliche Wachstum der eigenen Region aber wird nicht beispielsweise als Garant für eine blühende Stadt, ja auch nur als potenzielle Einflussgröße für die persönliche Berufssicherheit anerkannt.19

18 | Hier spielt es sicher eine Rolle, dass die Teilnehmer unserer Gruppendiskussionen in großen Städten und Ballungszentren wohnen. 19 |  Es sei jedoch angemerkt, dass die überwiegende Mehrzahl unseres Samples (nahezu 90 Prozent) bisher kinderlos ist, diese Beobachtung sich also kaum erhärten lässt.

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5.1.2 Leistung und Bildung als goldene Prinzipien der Ego-Shooter im Kampf gegen die Abstiegsgefahr Deutet in Wirtschaft und Arbeitsmarkt also alles auf harmonische Jahre der intergenerationellen Verständigung hin, in denen sich der Nachwuchs fließend in den Lauf der Dinge eingliedert, Jahre, in denen eine aufstrebende und anpassungsorientierte Jugend ohne größere Konflikte das natürlicherweise freiwerdende Ruder übernimmt? Denn eigentlich, verfolgt man wissenschaftliche, politische und feuilletonistische Diskussionen der letzten Jahre, gilt die gesellschaftliche Mitte, die hier als neues altes Milieu anvisiert wird, durch die zunehmende Prekarisierung der Arbeitswelt und die Entstrukturierung von Erwerbsbiografien mittlerweile eigentlich als »gefährdet«.20 Die klassischen Motoren des sozialen Aufstiegs sind, so heißt es, im »Postwachstumskapitalismus« zunehmend lahmgelegt. Eine neue, wachsende Unterschicht sei von der Perspektive der Aufwärtsmobilität mittlerweile gänzlich abgekoppelt, während die etablierten bürgerlichen Schichten sich abschotteten, Aufstieg blockierten und ihren Nachwuchs durch ein rauer werdendes, von verschärfter Konkurrenz und zunehmender Bildungsexpansion geprägtes ökonomisches Klima treiben müssten. Die Expansion der höheren Bildung in Form von steigenden Abiturient/-innen- und Studierendenzahlen wird nicht selten als »Überakademisierung« oder »Akademikerschwemme« zulasten handwerklicher und kaufmännischer Berufe beklagt,21 da zugleich die Zahl der Ausbildungsverträge nachweislich sinkt.22 Für ein zureichendes oder gar komfortables Einkommen sei das Abitur mittlerweile Grundvoraussetzung.23 Diese Entwicklungen, so heißt es weiter, werden auf Seiten der Bevölkerung durch verschiedene Reaktionen quittiert, insbesondere durch Resignation im prekären »Unten« und zunehmende Statusängste beziehungsweise eine Furcht vor dem sozialen Abstieg in den Mittelschichten.

20 | Vgl. Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, S. 149. 21 | Vgl. dramatisierend Martin Greive und Thomas Vitzthum, »Wir leiden an Überakademisierung«, in: Welt Online, 23.05.2015, online einsehbar unter, https://www.welt.de/ print/welt_kompakt/print_politik/ar ticle139952581/Wir-leiden-an-Ueberakademi sierung.html (eingesehen am 09.10.2017); ferner abwägend Susmita Arp, Steht uns eine Akademikerschwemme bevor?, in: Spiegel Online, 15.10.2015, online einsehbar unter, w w w.spiegel.de/lebenundlernen/uni/studenten-in-deut schland-droht-uns-eineakademikerschwemme-a-1054629.html (eingesehen am 09.10.2017). 22 | Vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis) und Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (DIW Berlin), Datenreport 2016. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2016, S. 90 und 89. 23 | Vgl. Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, S. 154.

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

Gewiss sind solche Abgesänge und Jeremiaden stets unter Vorbehalt zu rezipieren, gerade angesichts der stark emotionalisierten Komponente des Stabilität und wohlige Durchschnittlichkeit repräsentierenden »Mitte«-Begriffs. Nicht nur wird die »Mitte« regelmäßig als Adressat parteipolitischer Kampagnen genutzt 24, auch handelt es sich bei ihr nicht allein um bestimmte Einkommensgruppen, sondern um einen »dynamischen Ort«25, maßgeblich mitgeprägt durch geteilte soziale Orientierungsmuster. Schließlich ist die Mitte, der sich die Mehrheit der bundesrepublikanischen Gesellschaft zugehörig fühlt, wie bereits erwähnt, auch Gegenstand von Sehnsüchten.26 Doch erstens ist hinlänglich bekannt, dass wirtschaftliche Transformationsprozesse in nationalem wie internationalem Maßstab tatsächlich die Arbeitsmärkte rekonfigurieren, die Qualifikations-Anforderungen steigen und die »Millennials« beziehungsweise die Mitglieder der Generation Y daher vor gänzlich anderen Herausforderungen stehen als ihre Eltern, die Generation X.27 Und zweitens stützen auch die Resultate unserer Fokusgruppen die Vermutung, dass die benannten Entwicklungen deutliche Spuren in Mentalitäten und Lebenshaltungen der jungen Menschen hinterlassen. Denn bei genauerem Hinsehen mischen sich Zweifel in die oft optimistisch getünchten Aspirationen unserer Gesprächspartnerinnen und -partner, die sie geradezu verbissen an den Maximen der Leistungsgesellschaft festhalten lassen. Um sich durch die Ungewissheiten von Weichenstellungen, Wunschbiografien, Zukunftsplanungen, Realisierungschancen wie -hürden, von Aus- und Weiterbildung, Studium, Berufseinstieg und Erwerbslücken zu navigieren, sind zweifellos spezifische Attitüden und Geisteshaltungen notwendig. Und so ist es auch ein wesentliches handlungsleitendes Einstellungsmuster der von uns Befragten, integer und fit zu sein, um dem ersehnten, mehr oder weniger fernen Lebensziel des saturierten Mittelschichtslebens näherzukommen. Dazu gehören Voluntarismus, Flexibilität, die Berufung auf die eigene biografische Autonomie, die Subjektivierung von Chancen und Barrieren sowie die Idealisierung der goldenen Prinzipien von Leistung und Bildung. Kurzum: Nahezu ausnahmslos teilen die jungen Menschen unserer Fokusgruppen eine meritokratische, genauer: internalisiert-meritokratische Grundhaltung. Damit ist gemeint, dass wesentliche Aspekte klassischer meritokratischer Überzeugungen zwar tief in Weltsicht und Charakterstruktur verankert sind, dadurch aber auch nicht als diskutable Positionierung erkannt werden. Sie erscheinen ihnen ganz einfach als Abbild der alternativlosen marktwirtschaftlich-konkurrenzbasierten Realität. 24 |  Vgl. Stine Marg, Mitte in Deutschland, S. 14-28. 25 | Vgl. ebd., S. 85. 26 | Vgl. ebd., S. 30. 27 |  Vgl. Gudrun Quenzel u.a., Jugend 2015.

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Der Gedanke der Meritokratie, in seiner modernen Variante begrifflich geprägt durch Michael Young28, gilt als wesentliche Integrationskraft industrialisierter beziehungsweise postindustrieller Leistungsgesellschaften. Bei Young als Satire konzipiert, trifft der Begriff »Meritokratie« ein wesentliches Moment der westlichen Aufstiegsgesellschaften der 1950er/60er Jahre29: Die lange Zeit empirisch plausible Überzeugung, dass Leistung und Anstrengung, entweder direkt oder in Zukunft mit entsprechender Entlohnung honoriert würden (IQ+Effort=Merit). Dieses Selbstverständnis moderner Gesellschaften enthält ein umfassendes Gerechtigkeits- und Aufstiegsversprechen, einen utopischen Kern universeller Chancengleichheit: Wer sich anstrengt, kann es – eine gewisse kognitive Ausgangskapazität vorausgesetzt – überallhin schaffen.30 Auf lange Sicht aber können meritokratische Überzeugungen nur für die flexiblen, gebildeten, ressourcenstarken Erwerbstätigen einer Gesellschaft attraktiv sein – denn die Unterstellung einer meritokratischen Gesellschaftsordnung legitimiert wesentlich soziale Ungleichheiten und erklärt sie zur Verantwortlichkeit der einzelnen Subjekte. Denn zu den Grundzügen der »meritokratischen Leitfigur« zählt der Soziologin Heike Solga zufolge auch die Naturalisierung sozialer Ungleichheit qua Vermischung angeborener und erworbener Leistungskapazitäten sowie die Nobilitierung von Ungleichheit als gesellschaftlichem Funktionserfordernis: Es müsse nun einmal »ausgesiebt« werden.31 Sie bietet demnach eine Erklärung, ja Legitimation persönlichen Scheiterns: Ein fehlendes Bildungszertifikat, mangelnde Begabung, eigene Unachtsamkeit bei der Berufssuche oder das Vertrödeln sich auftuender Chancen können verantwortlich gemacht werden. Dass fehlender Leistungswille aber nicht der monokausale Grund von immer auch strukturell bedingter Ungleichheit sein kann, zeigt schon ein Blick auf die Struktur der modernen Bildungsgesellschaft: Gering qualifizierte Bewerber haben auf dem Arbeitsmarkt im Vergleich zur Mittelstandsgesellschaft der 1950er Jahre nur mehr schlechte Aussichten; sie bilden aus volkswirtschaftlicher Sicht mittlerweile eine »normabweichende

28 | Vgl. Michael Young, The Rise of the Meritocracy, London 1961. 29 | Vgl. Olaf Groh-Samberg und Florian R. Hertel, Ende der Aufstiegsgesellschaft?, in: bpb.de, 27.02.2015, online einsehbar unter www.bpb.de/apuz/201649/ende-deraufstiegsgesellschaft?p=all (eingesehen am 05.02.2018). 30 | Vgl. Brigitte Aulenbacher u.a., Einleitung: Leistung und Gerechtigkeit – ein umstrittenes Versprechen des Kapitalismus näher betrachtet, in: Brigitte Aulenbacher u.a. (Hg.), Leistung und Gerechtigkeit. Das umstrittene Versprechen des Kapitalismus, Weinheim 2017, S. 9-26. 31 | Vgl. Heike Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft, Weinheim 2005a, S. 24-30.

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Minderheit«32  – von der wachsenden Bedeutung von Zufall, Herkunft und günstiger Gelegenheit ganz zu schweigen. Analytiker/-innen der jüngsten sozialstrukturellen Entwicklungen weisen darauf hin, dass das klassische meritokratische Aufstiegsversprechen in der Abstiegsgesellschaft seine objektiven Grundlagen einbüße und infolgedessen verblasse. Angeführt werden etwa eine zunehmende Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverteilung, ein Abflauen intergenerationeller Aufstiegsdynamiken, eine Flexibilisierung und Temporalisierung von Statuspositionen, eine damit zusammenhängende, praktisch lebenslange Verschärfung von Konkurrenzkämpfen auf dem Erwerbsmarkt sowie eine zunehmende Exklusion nachrückenden Nachwuchses.33 Die bereits zitierte Angst vor dem sozialen Abstieg beziehungsweise vor Statusverlust grassiert demnach breitenwirksam, Abitur und Hochschulabschluss werden in Zeiten der Bildungsexpansion fast schon als Grundbedingung attraktiver Lauf bahnen gehandelt, die Aussicht auf das »gute Leben« rückt für viele in die Ferne.34 Insofern leben wir genau genommen schon nicht mehr in Zeiten, in denen meritokratische Ideale »Sinn ergeben«, im Gegenteil: Sie werden zunehmend unplausibel. Das ist auch in unseren Gruppendiskussionen deutlich zu spüren. Denn verglichen mit den im eigentlichen Sinne meritokratisch orientierten Aufstiegsgenerationen der 1950er Wirtschaftswunder-Jahre oder des New-Economy-Hypes beziehungsweise des Aufschwungs der informationstechnischen Dienstleistungsunternehmen in den 1990er Jahren fehlen den jungen Menschen unserer Fokusgruppen belastbarer Zukunftsoptimismus und Auf bruchsstimmung.35 Auffällig ist vielmehr, dass niemand sich zum Ziel gesetzt hat, überdurchschnittlichen Wohlstand und finanziellen Reichtum zu erwerben. Die Utopie des großen Geldes pflegt nicht eine einzige Person. Automobile und teure Kleidung als Statussymbole haben ausgedient und sind offenbar kaum erstrebenswert. Bescheidenheit und redliches Bemühen dagegen stehen hoch im Kurs, ja scheinen einen Menschen erst zu berechtigen, ein komfortables Leben zu führen. Die Verweise auf die Imperative von Leistung und Chancen, die die jungen Menschen als Selbstverständlichkeit anbringen, wirken somit wie Versuche, 32 | Vgl. Heike Solga, Meritokratie – die moderne Legitimation ungleicher Bildungschancen, in: Peter A. Berger und Heike Kahlert (Hg.), Institutionalisierte Ungleichheiten: Wie das Bildungswesen Chancen blockiert, Weinheim 2005, S. 19-38, hier S. 23, ferner S. 30f. 33 | Vgl. Stephan Voswinkel, Das (schwindende) Versprechen des sozialen Aufstiegs, in: Brigitte Aulenbacher u.a. (Hg.), Leistung und Gerechtigkeit. Das umstrittene Versprechen des Kapitalismus, Weinheim 2017, S. 64-79, hier S. 69-72. 34 |  Vgl. ebd., S. 74-77. 35 | Vgl. vertiefend dazu das Kapitel 5.4.

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sich mit Hilfe der Vokabeln und Vorstellungen der eigenen Elterngeneration, die ihrerseits schon mitunter an der Geltung des Leistungsprinzips zweifelte,36 einen Reim auf die eigene, nach dem Ende der Religions- und Milieuzugehörigkeiten traditionslos gewordene Gesellschaft zu machen. Denn alternative Deutungsangebote, die die gesellschaftlichen Prozesse rational erklärbar machen, gibt es nicht. Kurzum: Die von uns befragten jungen Menschen sind durchaus meritokratisch gestimmt; nur sind sie es nicht aus robuster Überzeugung. Der Meritokratismus der Jugendlichen ist ein internalisierter Sozialisationseffekt, eine nicht reflektierte Selbstverständlichkeit, eine bloße und daher unumgängliche Spiegelung der harten Realität – kein Deutungsangebot neben anderen, das sich reflektieren und diskutieren ließe. Besonders fatal – und das ist der entscheidende Unterschied zur demografisch gesehen »alten« Mitte – ist der damit einhergehende Verlust politisch-sozialer Phantasie und eines utopistischen Überschusses.37 Die Legitimationsfunktion der meritokratischen Leitfigur sozialer Ungleichheit scheint selbst Zukunftsperspektiven, Hoffnungen und Träume zu präformieren: Dass sich weiter nichts fordern lässt als die hundertprozentige Chancengleichheit, verhindert bei der großen Mehrheit unserer Befragten die Konfrontation der Leistungsgesellschaft mit kritischen Einwänden, etwa einer politisch erstrebenswerten »anderen« Welt.38 Sicher ist das auch Ausdruck eines über verschiedene Legislaturperioden hinweg politisch lancierten Diskurses. Wohlgemerkt: Natürlich tauchen in unserem Sample auch jene auf, die seit kurzem oder längerem von Transferleistungen leben, etwa weil sie aufgrund ihrer Niedrigqualifizierung vom Arbeitsmarkt »abgehängt« sind. Hier spielt die Klage über empfundene und/oder tatsächliche Ungerechtigkeiten eine große Rolle. Doch insgesamt ist die internalisiert-meritokratische Grundhaltung der dominante Zug der jugendlichen Selbst- und Weltwahrnehmung. So wird der persönliche Lebensweg in ihren Erzählungen immer wieder als Summe der realisierten und potenziellen Chancen präsentiert, als Ausfluss der eigenen Leistungsbereitschaft oder der (Un-)Fähigkeit, das Gelegenheitsfenster des eigenen Glücks zupackend genutzt zu haben. So wird der alltägliche Existenzkampf subjektiviert beziehungsweise individualisiert: Wer sich in einer nachteiligen Situation befindet, schreibt das tendenziell fehlerhaften Entscheidungen oder ausgebliebenen Anstrengungen zu, weniger gesellschaftlich bedingten Ungleichheiten wie Startchancen, Herkunftsfamilien, lokalen Ge36 | Vgl. Stine Marg, Mitte in Deutschland, S. 175-182. 37 |  Dazu mehr im Verlauf des Kapitels. 38 | Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass manche utopistisch gestimmten »Dissidenten« der Leistungsgesellschaft in unserem Sample unterrepräsentiert geblieben sind – auch wenn das angesichts der Hegemonialität der hier referierten Deutungs- und Orientierungsmuster unwahrscheinlich erscheint.

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gebenheiten, Zufall usw. Die Ego-Shooter stilisieren sich so zu unangefochtenen Gestalter/-innen des eigenen Schicksals, zu geschickten Manager/-innen der eigenen Chancen. Das stiftet gerade genug Halt und Orientierung, um die Wechselfälle der Leistungsgesellschaft zu verwinden und Phasen der Unsicherheit als Möglichkeitsräume zu sehen – aber eben auch nicht mehr. Besonders gut sichtbar ist das unter den (bereits erwähnten) in Fort- beziehungsweise Weiterbildung befindlichen Teilnehmenden. Sie hat der Arbeitsmarkt bereits auf die Probe gestellt, ihnen erste Einkommens- und Belastungsgrenzen zugemutet, worauf sie mit trotzigem Durchhaltevermögen reagieren. Wer sein Fachabitur auf dem Zweiten Bildungsweg ablegt und parallel noch arbeitet, gibt sich selbst keinen Raum für Klagen und konstatiert lapidar, man habe eben »so ein bisschen Stress«. Wer mit dem erlernten Beruf noch nicht zufrieden ist, will sich »jetzt auch umorientieren«, auch wenn das neue Ziel, das immer auch von Gelegenheitsstrukturen abhängig ist, noch nicht klar ist. Und auch wer, wie oben beschrieben, unter der Last finanzieller und beruflicher Anforderungen eher zu ächzen hat, resümiert schließlich im Sinne seiner künftigen Meriten: »Na ja, Lernen, etwas für die Schule machen und Arbeit, da kommt schon etwas zusammen. […] Aber es funktioniert. Also, es wird klappen, auf jeden Fall.« Auch wer sich noch in der Ausbildungsphase befindet, also die Schule besucht, »Azubi« ist oder studiert, gibt sich souverän. Hier wurden erste Erfahrungen mit Jobbörsen gemacht, die einen keineswegs zu überfordern scheinen, sondern wo man sich, so heißt es, »umgeschaut« habe, »wie es halt so weitergehen soll«, und man ist sich recht sicher, dass man seinen Platz im Leben schon finden werde. Denn: »Jede Generation hat ihre Schwierigkeiten gehabt. Und kein Mensch weiß, was in der Zukunft kommt.« Nur den Studierenden scheinen die anpackenden Machbarkeitserzählungen etwas zu plump: Sie betonen vor allem die charakter- und gesellschaftsverändernde Kraft der Bildung, vor deren Wagen sie sich selbstbewusst spannen.39 Eher traditionalistisch orientierte Jugendliche stellen die eigene Leistungsorientierung gerne in den Zusammenhang familiärer Traditionslinien. Sie verweisen darauf, dass auch die eigene Kindheit nicht »Zucker im Po« bedeutet habe, sondern »Ziele, die man fokussiert hatte, dann auch selber schaffen« musste. Die »schulische und sportliche« Unterstützung durch die Eltern, die Prinzipien der Sparsamkeit und Bescheidenheit seien es dann auch gewesen, die auf ein bodenständiges Leben vorbereitet hätten. Und wer seine Prioritäten erst einmal an einer angemessenen Arbeitsmoral ausgerichtet habe, der dürfe schließlich auch »Freiheiten« genießen und »was in der Tasche« haben.

39 | Mehr dazu weiter unten.

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Am ehesten saturiert sind wohl die gestandenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unseren Fokusgruppen, die bereits ein komfortables Einkommen beziehen und denen es vergönnt ist, sich voll und ganz mit ihrem Beruf zu identifizieren. Sie strahlen eine große Ruhe aus, scheinen mehr als alle anderen über gefestigte Werthaltungen zu verfügen. Sie verzichten darauf, Souveränität, Robustheit und Willensstärke zu demonstrieren, diskutieren dafür stringenter und nähern sich Themen in bemerkenswert differenzierter Weise. Das Eintrittsbillett für das Erwerbsleben, die tiefgreifende Selbstdisziplinierung, aber haben auch sie gezahlt und das Leistungsprinzip gewissermaßen internalisiert. Besonders illustrativ für diese charakterliche Verwurzelung ist eine beruflich erfolgreiche IT-Fachkraft mit Personalverantwortung, die ihren Alltag nach der Maßgabe minimalistischer Maximen strukturiert: »Irgendwie bringt es im Endeffekt doch mehr, vielleicht lieber nur zwei Jacken [zu kaufen], aber dafür zwei Jacken, die man total gerne mag, die zu jedem Anlass, zu jedem Outfit passen, als 30 Jacken. […] Und das Gleiche [gilt für mich] dann auch bei Einrichtung und, ja, bei allen Dingen. […]«

Was hier zunächst als individueller Spleen erscheinen mag, erweist sich im Fortgang des Gesprächs als »Lerneffekt« einer hochflexiblen Erwerbsbiografie: »Ich bin auch sehr, sehr oft umgezogen in meinem Leben. Also, jetzt, glaube ich, schon mehr als 20 Mal. Und je mehr man hat, umso anstrengender ist es, habe ich gemerkt. Und jetzt steht bald wieder ein Umzug an, deswegen: Weniger ist besser.« Berufstätigkeit gilt nahezu durchweg als Grundvoraussetzung persönlicher Selbstständigkeit und Freiheit: »Durch meinen Job kann ich mir ein selbstständiges Leben leisten.« Denn »wenn das Finanzielle stimmt, dann ist alles ein bisschen leichter.« Daher gilt Geld für sehr viele »natürlich so ein bisschen als Ziel im Leben. Ein bisschen so für Freiheit.« Und wer im sozialen Bereich als Teilzeitkraft tätig ist, gleicht sein schmales Einkommen sozusagen mit einer Ergänzungs-Orientierung aus: »Aber vor allen Dingen ist es sinnstiftend. Es ist eine sinnvolle Sache, die ich da mache.« Daher sind die allermeisten in unserem Sample davon überzeugt, dass sie sich anstrengen, und haben zumindest den Anspruch, dass ihre Leistungen sich in monetärer Anerkennung auszahlen sollen. Und trotz gelegentlicher Zweifel erwarten sie durchaus (noch), den Lebensstandard ihrer Eltern einzuholen. Dass diese Erwartung zumindest als guter Glaube aufrechterhalten wird, dafür spricht der Bildungsimpetus unserer Gesprächsteilnehmerinnen und Gesprächsteilenehmer, der es ihnen gestattet, ihren Berufsweg stets als Weiterentwicklungs- und Selbstverbesserungsarena zu konzipieren. Dies gilt sowohl für die ehemalige stellvertretende Filialleiterin einer Supermarktkette, die ihr Fachabitur nachholt, als auch für den introvertierten jungen Mann, der mit 23 Jahren verschie-

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

dene ungelernte Tätigkeiten ausübte, um sich über ein Praktikum schließlich einen Ausbildungsplatz zu sichern, oder für die 29-jährige Realschul-Absolventin, die nun Auszubildende im öffentlichen Dienst ist. Wenig überraschend heben besonders die Akademiker/-innen, Student/-innen und Abiturient/-innen in den Fokusgruppen den Wert und die Wichtigkeit von Bildung mit besonderem Nachdruck und in beachtlichem Einvernehmen hervor.40 Im Gegenzug reden sie, die überwiegend als unbekümmert rekrutiert wurden, nicht gerne über die monetäre Bewältigung des Alltags oder über materielle Ziele. Dass sie ihnen deswegen nicht weniger wichtig sind, dafür spricht die fundamentale Übereinstimmung der Mittelschichts-Lebensziele zwischen allen Diskussionsteilnehmer/-innen. Allerdings lässt sich hier ein deutlicher Unterschied zur Leistungsorientierung der meisten anderen ausmachen, denn es handelt sich um ein Konzept, das stark begrifflich gedacht und verhandelt wird. Wer sich auf »Bildung« beruft, der nutzt auch explizit und passioniert das Wort mitsamt seinen konnotativen Ausstrahlungen: Die Spanne reicht von Ausbildung und Fortbildung bis hin zu klassisch-neuhumanistischen Vorstellungen von Bildung als Charakterschulung, als Auf klärung und gesellschaftsverändernde und -modernisierende Größe. Bildung, so scheint es, macht die Menschen nicht nur wettbewerbsfähig, sondern veredelt sie, verwandelt sie in höhere, sittlichere Wesen. So gerinnt »Bildung« zu einer nahezu magischen, transzendenten Kraft, ausgestattet mit umfassenden Problemlösungskompetenzen nicht nur für Biografien, sondern auch für gesellschaftliche Konflikte, ja als Schlüssel und Motor des menschlichen Fortschritts an sich.41 So eröffnen viele Studierende (und unter ihnen besonders die künftigen Lehrerinnen und Lehrer) die Diskussionsrunde mit diesbezüglichen Assoziationen, indem sie gleich zu Anfang festhalten: »Die Bildung […]  – ein wichtiger Begriff, wichtiger Bestandteil.« Oder: »Die Bildung von Kindern oder Bildung ganz allgemein. Sehr wichtig.« In der Freizeit schaut man Böhmermann auch deswegen, weil er neben guter Unterhaltung auch »Bildung« vermittelt.42 Fast alle loben an den bundesdeutschen Verhältnissen neben den sozialstaatlichen Sicherungsmechanismen vor allem den egalitären Zugang zu schulischer Bildung, zu Fortbildungs- und Hochschuleinrichtungen  – »dass es uns allen gleich möglich ist, Bildung zu erhalten«  – »meistens kostenlos oder bezahlbar für die meisten«. Beinahe fließend geht dieser 40 | Zur Bildung vgl. auch Kapitel 3.3.1. 41 | Zur Integration vormals systemkritischer Impulse in den kapitalistischen Akkumulationsprozess, etwa der Transformation emanzipativer Bildungsideale und horizontaler Organisationsprinzipien in wirtschaftsförderliche Kreativitäts- und Eigenverantwortlichkeitsideale vgl. Luc Boltanski und Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Köln 2006. 42 | Vgl. das Kapitel 5.3.

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anerkennende Blick auf »Chancen« über in die charakterbildnerischen Qualitäten von Bildung. Für eine angehende Lehrerin bedeutet Bildung etwa, sich Themen »kritisch gegenüberzustellen, zu hinterfragen«. Und eine Auszubildende im öffentlichen Dienst äußert euphorisch: »Bildung [ist] wirklich ein Tor zur Welt […] Auf klärung sowieso, weil das einfach dazu beiträgt. Auch ich wurde schon ganz oft belehrt und habe mich ganz oft geirrt.« Dementsprechend ist Bildung für eine 22-jährige Studentin der Geschichtswissenschaften nicht bloß Wissensvermittlung, sondern auch immanent pädagogisch, ein Werkzeug, welches eine Gebrauchsanleitung mit sich führt: Es spiele nämlich »die Erziehung mit rein. Eine Lehrerin hat ja nicht nur, also nicht mehr die Aufgabe, quasi nur als Wissensvermittlerin dazustehen, sondern gewissermaßen wirklich auch als Erzieherin.« So weitet sich der Begriff der Bildung vom Konkreten zum Abstrakten aus, umfasst schließlich auch eine aufgeschlossene Lebenshaltung, die bezeichnenderweise als lebenslanges Lernen identifiziert wird: »Also man hat nie ausgelernt in seinem Leben. Man kann, egal wie alt man ist, immer noch bei irgendwas dazulernen.« Dem pflichten dann auch viele Nichtakademiker/-innen bei, wie eine 20-jährige Verwaltungsfachangestellte in Ausbildung; Sie möchte »vielleicht das ein oder andere noch mit 70 dann auch lernen«. Und schlussendlich wird Bildung auch als gesellschaftsbestimmende beziehungsweise gesellschaftsverändernde Kraft wahrgenommen. So spricht eine Studentin das Foto eines Astronauten an »wegen der großen Leistung, wie weit wir Menschen mit unserer Bildung kommen können«. Beherrschung der Natur, menschliche Zivilisation – Das alles ist demnach ein Produkt von Bildung: »Ja, für mich ist, quasi, Wissen gleich Macht. […] wenn man sich was traut und Wissen erstrebt, kann man viele Dinge sehen, die man davor noch nicht gesehen hat und viele Dinge wissen, die man davor nicht gewusst hatte. Und das kann vieles in der Zukunft auch verändern. Technologie, Handys momentan. Früher hatten die so was jetzt nicht. Ist alles einfacher geworden.«

Auf die politische Kultur gewendet wird Bildung wiederholt auch als Patentrezept gegen rechte Mobilisierungsversuche herangezogen. So fordert ein graduierter Sozialwissenschaftler in Bezug auf Pegida: »Politische Bildung herausheben!« Schließlich seien die Komplexitäten gesellschaftlicher Verkehrsformen nur jenen begreiflich, die in das Arkanum der Universitäten eingeweiht wurden, manche hingegen »raffen« es unglücklicherweise nicht: »Also, es kann nicht jeder so aufgeklärt sein wie ein Akademiker, das ist natürlich klar, aber die Frage ist: Wie kann man dann dem Menschen mit dem einfachen Geist das erklären, dass er es auch versteht? Ich glaube, das ist gar nicht zu 100 Prozent möglich.« Feindseligkeiten und aggressive Proteste erscheinen

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

so als Angelegenheiten schlecht aufgeklärter, unzureichend gebildeter Aggressor/-innen, die beim gesellschaftlichen Fortschritt nicht haben mithalten können. Zwar gibt es hier, gerade vonseiten politisch aktiver Teilnehmer/-innen, auch Widerspruch, etwa in Form des Einwandes, ob die Bereitschaft zu Toleranz überhaupt eine Bildungsfrage sei; hegemonial unter den Student/-innen beziehungsweise Akademiker/-innen ist dennoch die grundlegende rationalistische Vorstellung, rechte Mobilisierung könnte durch politische Bildung – auch präventiv  – unterbunden werden. So erscheint Bildung hier insgesamt wie aus einer Perspektive entnommen, die sonst eigentlich als grauhaarige bildungsbürgerliche Kulturkritik gehandelt wird, nämlich wie »die Lösung aller Probleme und Widersprüche der Moderne«, wie ein »Religionsersatz der säkularisierten Gesellschaft«.43 Man ist versucht zu folgern, dass sich diejenigen jungen Menschen, die wesentliche Deutungshorizonte und Hoffnungen an den Bildungsbegriff knüpfen, in besonderer Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten befinden, da dessen postmaterialistische Gehalte (Entfaltung von Persönlichkeit und Charakter, Versittlichung des Menschen) Rückschläge auf dem eigenen Karriereweg abzufedern vermögen. Zumindest ist das Frustrationspotenzial wohl dort höher, wo die eigene Leistungsbereitschaft nicht zu den ersehnten Lebenszielen, nämlich Wohlstand und Komfort, führt, und keine Zuflucht im Feld intellektueller Befriedigungen zur Verfügung steht. Aber vielleicht sind sich die Akademiker/-innen unter den jungen Menschen, nach wie vor mit vergleichsweise guten Karriereaussichten ausgestattet44, auch gar keiner grundsätzlichen Risiken bewusst. Denn sicherlich stimmt: »Immer mehr junge Leute und ihre Eltern gehen davon aus, vor allem durch ein akademisches Studium den sozialen Status sichern zu können und einen möglichst sicheren, aber auch interessanten Arbeitsplatz zu erhalten.«45 Und so wird durchweg – trotz einzelnen kritischen Einwänden – der status quo, »dass jeder die Möglichkeit hat zu lernen, wenn er will«, gelobt. Chancengerechtigkeit erscheint mit Hilfe des Bildungssystems so im Großen und Ganzen als verwirklicht. Frappierend ist eine Konsequenz dieser Auffassung, die unsere Befragten zwar nie gezogen haben, aber die doch zwangsläufig daraus folgt:

43 | Vgl. Harun Maye, Adornisierungsfalle, in: der Freitag 41/2017, online einsehbar unter https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/adornisierungsfalle (eingesehen am 20.10.2017). 44 | Vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Arbeitslosigkeit unter Akademikern am geringsten. Presseinformation des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung vom 26.02.2013, online einsehbar unter www.iab.de/de/informationsservice/ presse/presseinformationen/kb0413.aspx (eingesehen am 20.10.2017). 45 | Gudrun Quenzel, Jugend 2015, S. 380.

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Wer nicht will, ist dann eben auch selbst schuld – und manch einer vielleicht sogar für sein eigenes Elend verantwortlich. Man ist versucht, den Jugendlichen und jungen Menschen ob ihres Leistungs- und Bildungsimpetus den Namen »Generation Agenda 2010« zu verleihen, da die geradezu arbeitgeberfreundliche Erwerbsmoral (die auch gegen andere gesellschaftliche Gruppen in Stellung gebracht wird46) passgenau mit den Slogans des »Förderns und Forderns« und des »lebenslangen Lernens« harmoniert. Denn in der Tat hat ja der größte Teil unserer Befragten Kindheit und Jugend in den Jahren nach 2003-2005, dem Zeitraum der Schröder’schen Regierungserklärung zu dem großen Reformprogramm Agenda 2010 und dessen Umsetzung, verbracht. Aus diesem Blickwinkel betrachtet sind sie in vielen Äußerungen Kinder der Sozialsystems- und Arbeitsmarktreformen, deren Maximen sie aufgesogen haben. Dass sie aber selbst, gleichsam unverschuldet, dem Konkurrenzkampf um attraktive Arbeitsplätze unterliegen könnten, da Bildung doch nach wie vor eine konstitutive Selektionsfunktion für den Arbeitsmarkt hat, scheint keine ernsthafte Befürchtung der Jugendlichen zu sein. Denn wir können bestätigen: »Sie verschwenden erst gar keinen Gedanken daran, die Lage auf dem Arbeitsmarkt politisch zu verändern. Stattdessen konzentrieren sie sich auf Schule, Studium und Ausbildung. Der Generation Y ist immer bewusst: Eine möglichst gute Bildung ist der einzige Parameter, den sie wirklich selbst beeinflussen kann, um die eigenen Karrierechancen zu verbessern.« 47

Dabei ist das mitunter trügerisch: Wirft man einen Blick auf jüngere gesellschaftspolitische Debatten der letzten Jahre, wird das Mantra der Bildung oft vor allem als (Selbst-)Verteidigungsinstrument der bürgerlichen Mittelschichten verhandelt. Angegriffen beziehungsweise erodiert sind die mittleren Einkommen demnach, weil eine steigende ökonomische Polarisierung zwischen wohlhabenden Teilen der Gesellschaft und neuen, wachsenden Unterschichten entstanden sei, die an der Substanz ebendieser mittleren Schichten nage.48 In der Sphäre der vermeintlich größten Selbstgewissheit kehrt hier der Topos der »gefährdeten Mitte« wieder: Bildung, sowohl im Sinne eines Gymnasialabschlusses als auch im nicht immer klischeehaften Musikunterricht, wird bereits seit Längerem als »tuning station« für den eigenen Nachwuchs wahr-

46 | Vgl. dazu das Kapitel 5.2. 47 |  Hurrelmann und Albrecht, Die heimlichen Revolutionäre, S. 34. 48 | Ebd., S. 154.

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

genommen, als Optimierung seiner Startchancen.49 Freilich entstammt fast niemand unserer Diskussionsteilnehmenden aus bildungsbürgerlichen oder besonders wohlhabenden Verhältnissen, dominant scheint eher eine »kleinbürgerliche« Herkunft (also unterer bis mittlerer Mittelstand) mitsamt der ihr traditionell zugeschriebenen Sicherheits- und Ordnungsorientierung und der Fixierung auf die umhegte Sphäre des persönlichen Besitzes (pejorativ »Spießbürgertum«) zu sein.50 Doch da sich die Mehrheit von ihnen über alle Einkommensdifferenzen hinweg per Selbstzuschreibung sowohl finanziell als auch politisch der wohlsituierten Mitte zugehörig wünscht, finden sich bei ihnen strukturell vergleichbare, wenn nicht identische Hoffnungen und Sorgen. Und obwohl die Vergabe von Arbeitsplätzen und attraktiven Positionen zu einem großen Teil von Zufall, situativem Glück und informellen Beziehungen abhängt  – in jedem Bewerbungstraining ist zu erfahren, dass nur ein bestimmter Prozentsatz freier oder freiwerdender Stellen in der Wirtschaft überhaupt offiziell ausgeschrieben werde – halten die Teilnehmenden unserer Fokusgruppen überraschend unbeirrt an der Geltungskraft meritokratischer Prinzipien fest. Leistung zahlt sich aus, und wird spätestens in der Zukunft angemessen entlohnt, oder eher: belohnt werden. Hierin hebt sich der Nachwuchs der Mittelschichten deutlich von seiner Elterngeneration ab, deren Leistungsideal durch die Irrationalitäten und Ungerechtigkeiten der Erwerbswelt in den letzten Jahren zunehmend Risse bekommen hatte.51 Es ist gut möglich, dass sich die jungen Menschen unserer Fokusgruppen in zehn oder zwanzig Jahren, je nach Erwerbsbiografie, dieser Reserviertheit angleichen werden. Leistung, Bildung, situatives Zupacken und Opportunismus: Viele Wesenszüge der »Ego-Shooter« sind auch von den Autoren der Shell-Studie beschrieben und dort als »Egotaktik« tituliert worden. Über weite Strecken wirken die einschlägigen Ausführungen daher wie ein Abbild unserer Ergebnisse: »Die Egotaktik ist der Mechanismus, mit dem die Generation Y jederzeit schnell im Alltag flexible Entscheidungen treffen kann. Sie nutzt eine Mischung aus Selbstbezug und sensiblem, strikt nach opportunen Gesichtspunkten ausgerichtetem, tastendem und taktierendem Verhalten, über das sie Chancen auslotet und Entfaltungsspielräume erkundet. Ideale, Normen und Prinzipien helfen da wenig. Oft kommt es auf Intuition an. Improvisation wird zum zentralen Element der Lebensführung. […] Bei der Fülle der Möglichkeiten und einem notorischen Überangebot an Informationen wird dieses Taktieren

49 | Vgl. Philipp Krohn und Philip Pickert, Die Abstiegssorgen der Mittelschicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.07.2010. 50 | Vgl. Heinz Schilling, Kleinbürger. Mentalität und Lebensstil, Frankfurt a.M. 2003. 51 | Vgl. Stine Marg, Mitte in Deutschland, S. 175-182.

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P egida -Effekte? zum obersten Gebot. Sich im falschen Moment festzulegen könnte verhängnisvoll für die Zukunft sein.« 52

Dass die wiederholte Erfahrung des Scheiterns, Einlenkens und Umdisponierens aber, wie Hurrelmann und Albrecht schreiben, zu einem »pragmatischen Optimismus« führe, dass die Jugendlichen diesen Zustand »lieben« und sich »darin wie ein Fisch im Wasser«53 bewegen, können wir hingegen nicht bestätigen. Und auch die medial vielfach kolportierte Vorstellung, dass die Generation Y mit neuem Selbstbewusstsein auftrumpfe und von ihren Arbeitgebern dieselbe Flexibilität einfordere, die sie selbst täglich beweisen müsse, das heißt familien- und freizeitgerechte Arbeitsverhältnisse verlange54, erscheint angesichts der deutlich spürbaren Verunsicherung unserer Diskussionsteilnehmer/-innen eher als optimistische Überzeichnung des opportunistisch-taktischen Moments. Uns scheinen die bedenklicheren Ausführungen aus dem Bericht der aktuellen Shell-Studie stärker zuzutreffen, denn hier werden vor allem soziale Entbindung und mangelnde Kalkulierbarkeit der eigenen Biografie als Ursache für die Fokussierung auf das alltägliche Taktieren genannt. Demnach »wachsen junge Menschen heute in einer Situation auf, in der klar vorgegebene Normen und Werte, feste Zugehörigkeiten zu Milieus, kalkulierbare und klare Abfolgen von persönlichen Lebensschritten und eindeutige soziale Vorbilder weitgehend fehlen. […] Unter diesen Umständen reagiert die junge Generation auf die als unsicher erfahrene Zukunft mit einer starken Fokussierung auf das Hier und Jetzt. Sie scheint sich kaum zu erlauben, sich selbst die Zukunft auszumalen sowie Idealen und Sehnsüchten nachzustreben, so wie es für die ›Generation X‹ charakteristisch war.« 55

Bis hierhin erscheinen die Orientierungsmuster der Ego-Shooter, die immer auch der Anpassung an die herrschende Realität und ihre Anforderungen geschuldet sind, in ihren engagierten Momenten oftmals schlagfertig und souverän, in ihren achselzuckenden insgesamt entspannt und abgeklärt. Doch lässt die Fokussierung auf das individuelle Durchkämpfen auch auf egozentrische, ja ignorante Züge schließen. Nicht nur erscheint die gegenwärtige Gesellschaft als »eingefrorene« ewige Gegenwart ohne historische, soziale oder politische 52 | Hurrelmann und Albrecht, Die heimlichen Revolutionäre, S. 32f. 53 | Vgl. ebd., S. 41. 54 | Vgl. exemplarisch zu den vermeintlich hohen Ansprüchen der Generation Y: o. V., Deutsche nicht die einzig Anspruchsvollen, in: faz.net, 28.03.2015, online einsehbar unter www.faz.net/aktuell/beruf-chance/beruf/gen-y-ansprueche-arbeitgeber-13510867. html?printPagedArticle=true#void (eingesehen am 20.10.2017). 55 | Gudrun Quenzel, Jugend 2015, hier S. 376 und 377.

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Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen56, auch scheint die Bindung zu anderen Personen primär oberflächlicher Natur zu sein. Um es zuzuspitzen: Die Menschen des sozialen Nahbereiches geraten in die Rolle von Statisten im eigenen Spielfilm namens Leben. So erleben die Ego-Shooter Kollektivität einerseits vornehmlich als teamplay, welches sich zum eigenen Vorteil nutzen lässt, während größere Verbindlichkeiten eher mit tiefsitzender Scheu bedacht werden. Denn überindividuelle Anstrengungen kosten Zeit und Mühen, sozusagen ein Surplus an Aufmerksamkeit, welches die meisten als Überforderung empfinden. Andererseits hat Kollektivität einen Regenerations- und Freizeitwert: Familien und Freundschaften sind hier vornehmlich Ausgleichsinstanzen, emotionale Tankstellen, auch Residuen des Träumens, in denen die ökonomischen Imperative von Zeit zu Zeit zur Ruhe kommen dürfen.

5.1.3 »Kein Mensch muss auf der Straße schlafen« – Über das ökonomische Prisma und den Umgang mit Unsicherheiten Dass es nach Auffassung der Jugendlichen durchaus Durchsetzungsfähigkeit und Tatkraft, salopp: Zähne und Klauen, erfordert, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, wird bei näherem Hinsehen deutlich. Und so lässt sich in vielen Fokusgruppen, genötigt durch den Diskussionsverlauf, inmitten des sonst sehr individualistisch verhandelten Themas doch eine sehr tiefgehende gesellschaftliche Dimension ausmachen. Dass viele mit wenig auskommen müssen, wird nämlich durchaus als soziale Grundproblematik wahrgenommen. Konfrontiert mit den Schattenseiten des Erwerbslebens, zeigen unsere Befragten Empathie für die Situation finanziell schlecht gestellter Personen, vor allem der arbeitenden unter ihnen. Denn angesichts der Entwicklung von Preisen und Lebenshaltungskosten scheinen Niedriglöhne eigentlich ein Skandal zu sein: »Keiner sollte unter Eins Fünf [1.500 Euro brutto, Anm. d. Verf.], eigentlich, nach Hause gehen, sage ich jetzt mal. Alles darunter ist eigentlich… Da kann man nicht mal ins Kino oder Theater, weil ja alles teurer wird.« Auf der anderen Seite aber fordert man von seinen Mitbürger/-innen unmissverständlich Leistungsbereitschaft auch in schwierigeren Lebenslagen. So mancher Arbeitsloser scheint demgemäß  – nicht immer, aber insgesamt doch tendenziell der Arbeitsunwilligkeit verdächtigt  – einen unverdienten Komfort zu genießen: »Was ich auch blöd finde: Wenn man eine Ausbildung macht, kriegt man – also ich zum Beispiel – erst am 15. des darauffolgenden Monats das Geld. Und man kriegt ja als Hartz-IV-Empfänger immer den Tag vor dem ersten des Monats das Geld.« Die Frage der gesellschaftlichen Distribution des Geldes beschäftigt die Jugendlichen unserer Fokusgruppen also 56 | Vgl. Kapitel 4.2.7.

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durchaus. Über wie viel jemand verfügt, wie tief jemand fallen kann, und was jene Gruppen bewegen könnte, die gefallen sind: Im Grunde sind diese Perspektiven die grundlegenden Analyseraster für gesellschaftliche Probleme, von Arbeitslosigkeit und Rente über Flüchtlinge und Asylbewerber/-innen bis hin zu frustrierten Ostdeutschen und rechtsgerichteten Aufmärschen wie Pegida. Kommt das Thema sozialer Konflikte zur Sprache, neigen die hier befragten jungen Menschen zu beinahe soziologischen Analysen: »Ja, das ist, glaube ich, generell die Angst, die halt viele Deutsche haben. Also, die müssen nicht mal aus einem anderen Land kommen, da reicht der Nachbar. Wenn der ein dickeres Auto fährt als man selber, ist es halt oft schon so: Wo hat denn der das her? Die haben das bestimmt schwarz verdient.« Gesellschaft wird so immer wieder durch eine ökonomische Brille, oder besser: ein ökonomisches Prisma betrachtet. Die Kategorien von Haben, Nichthaben, finanziellen Sorgen, Habgier oder materialistischem Neid fungieren so bisweilen als simpler, im Handumdrehen verfügbarer epistemologischer Schlüssel zur alltagstauglichen Erklärung sozialer Konflikte und politischer Ereignisse. So gibt es auch viele Ansatzpunkte zur Empörung über soziale Stratifikationen. Insbesondere Einkommensunterschiede geben den Jugendlichen und jungen Menschen zu denken und lassen sie gelegentlich an der Fairness gesellschaftlicher Organisation zweifeln. So genießen beispielsweise Friseur/-innen demnach ob ihres »Geschicks« und ihrer auch körperlich belastenden Arbeit Respekt, gerade weil sie »echt mega wenig« verdienen. Letztendlich aber sind es nur einzelne Teilnehmende, die unüberbrückbare Statusdifferenzen zwischen Berufsgruppen skandalisieren, die mithin eben nicht nur »Gerechtigkeitsprobleme« sehen, sondern das wirtschaftliche System insgesamt als fehlerhaft perzipieren. Da sind zum einen jene, die sich als »links« beziehungsweise als »politisiert« begreifen: So urteilt eine junge IT-Kauffrau zwar ohne Wut, aber doch entschieden und von der Diskussionsgruppe unterstützt: »Ich habe nur per Zufall den Gehaltscheck von meiner Chefin und von meinem Direktor gesehen. Und wenn ich diese Summen sehe und weiß, ein Arzt verdient deutlich weniger, finde ich das schon richtig unverschämt! Ich finde, da muss die Regierung was machen.« Personen wie sie sind es auch, die die »Schere zwischen Arm und Reich« per se als anstößig empfinden und eine Angleichung der Lebensverhältnisse fordern – oder die sich offen zeigen für fundamentale soziale Umstrukturierungen, etwa in Gestalt eines bedingungslosen Grundeinkommens. Und unter ihnen findet sich auch der seltene, oft stumme innere Sozialrebell, der sich den »Generalstreik« und alternative Lebensformen (auch ohne Geld) wünscht, der meint, dass seine Eltern und Großeltern als DDR-Bürger bar finanzieller Ängste »damals viel glücklicher waren«, und den gegenwärtigen Kampf der Mehrheit um Arbeitsplätze resigniert umgeht. Ihnen stehen, zum anderen, jene Einzelpersonen gegenüber, deren Äußerungen und Wahrnehmungen sich explizit mit der Rhetorik und den Meta-

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phern von Pegida decken. Frappierenderweise sind vor allem sie einer »Klassenperspektive« zugänglich (»Hast Du nichts, bist Du nichts«), amalgamieren diese aber mit populistischer Elitenfeindschaft und mit sozialchauvinistischen Kulturkampf-Motiven. So stipuliert ein über 30-jähriger Logistiker, der sich auf den klassischen Arbeiterstolz beruft: »Zechen wurden geschlossen, aber Moscheen müssen wir bauen! Das Bild, das gehört nicht hierher!« Stimmen wie die seine sind es dann auch, die die Vorstellung einer »Denkzettel«- beziehungsweise »Protestwahl« verfechten (und damit vermutlich Zweitstimmen für die AfD im Blick haben), der politischen Elite feindselig gegenüberstehen und der Auffassung sind, dass »kritische« Stimmen wie jene von Thilo Sarrazin und Eva Herrmann – trotz wiederholter medialer Präsenz und prominenter Platzierung auf der Spiegel-Bestsellerliste – »mundtot« gemacht würden. Insgesamt führt die zuweilen sehr plastische Vorstellungskraft in Bezug auf gesellschaftliche Ungerechtigkeiten aber nicht zu ernsthaften, ausdauernden Zweifeln, geschweige denn zu einer ausformulierten Kritik an der Segmentierung der Gesellschaft in Arme und Reiche. Dass die Gesellschaft in ökonomisch umrissene »Schichten« oder »Klassen« zerfalle, von fundamentaler Ungleichheit gezeichnet sei, scheint für die meisten eher den Charakter eines Naturgesetzes zu besitzen, Kritik daran müßig und unergiebig zu sein. Getilgt werden sowohl die geschichtliche als auch die politische Dimension dieser Frage; daher sind auch explizite Forderungen nach einer »sozialeren« wohlfahrtsstaatlichen Politik, geschweige denn nach einer Reformierung des marktwirtschaftlichen Systems der Verteilung von Gütern, Gehältern und Waren in seiner jetzigen Gestalt – welches ja notwendigerweise stets eine Konstellation von Gewinnern und Verlierern enthält – nicht wirklich zu hören. Und was als invariant erscheint, weckt auch nicht den Wunsch nach progressiver Veränderung; aus diesem Grund gibt es unter den hier befragten jungen Menschen so gut wie keine Ansätze solidarischer Organisationsformen. Gewiss ist dies auch einer politisch-kulturellen Situation geschuldet, in der es an sichtbarer Repräsentation einer solchen Grundsatzkritik, das heißt an parteipolitischen »Vorbildern« einer fundamental-egalitären Sozialpolitik in der Mitte des politischen Diskurses, mangelt, doch sollte darüber nicht vergessen werden, dass solche Ideen durchaus »in der Welt sind« und etwa von Protestbündnissen verfochten werden.57 Die jungen Menschen in unseren 57 | Dies taten jüngst beispielsweise die Teilnehmer der Proteste gegen den G7-Gipfel in Elmau und gegen das Freihandelsabkommen T TIP (beides 2015), unter denen einige Jugendliche und junge Menschen waren. Bei »Stop T TIP« sprachen sich knapp 40 Prozent für eine Reformierung des Kapitalismus und knapp 50 Prozent dafür aus, das kapitalistische Wirtschaftssystem »durch ein grundlegend anderes System« zu ersetzen. Vgl. Florian Finkbeiner u.a., Stop-T TIP-Proteste in Deutschland – Wer sind, was wollen und was motiviert die Freihandelsgegner?, Göttingen 2016, S. 57.

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Gruppengesprächen aber bemühten sich vielmehr, ihr eigenes Unwohlsein durch analytische Distanzierung und demonstrative Souveränität von sich fernzuhalten; das Ergebnis ist eine ungelöste emotionale und kognitive Konfliktsituation, ein leise brummender Grundton der Unsicherheit. Um diese Zusammenhänge – ökonomisches Prisma, Kritikabstinenz, innerer Konflikt – zu illustrieren, lohnt sich abschließend ein Blick auf das Lob, welches die sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme der Bundesrepublik genießen. Denn die Zuverlässigkeit von Sozialkassen wie Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, von Bildungsinstitutionen und Fördergeldern, von Arbeitslosenhilfe und Grundsicherung, werden geradezu als der entscheidende Vorteil des Lebens in Deutschland herausgestrichen. Diese Aspekte dominierten vor allem zwei, eigentlich weit auseinanderliegende, inhaltliche Komplexe, in denen wir a) nach Stolz auf die eigene deutsche Herkunft fragten und b) die Teilnehmenden aufforderten zu erläutern, was ihnen in beziehungsweise an Deutschland besonders gut gefalle, was gut funktioniere. Freilich ging es hier auch immer wieder um Konzepte wie liberale Grundrechte, »Weltoffenheit« und »Toleranz«, oder um die stereotypen kulinarischen Faktoren von Bratwurst, Brot und Bier. Doch dass die sozialen Auffangnetze im Grunde jede Bürgerin und jeden Bürger davor bewahrten, seine physische Existenzgrundlage zu verlieren, dass »niemand auf der Straße schlafen muss«, wird von den jungen Menschen als eigentliche Qualität der deutschen Gesellschaft identifiziert. So ist denn auch das Gesprächsmaterial an dieser Stelle überaus reichlich. Gefragt nach den positiven Aspekten der Bundesrepublik, äußerten verschiedene Teilnehmer/-innen über alle Fokusgruppen hinweg: »Die Sicherheit, die wirtschaftliche Lage, das Bildungssystem.« »Also, für mich, jetzt, die ausschlaggebenden Dinge sind halt einfach das Sozialsystem und die hohe Lebensqualität.« »Auf jeden Fall ist Deutschland eines der Länder, wo man sich glücklich schätzen kann, wenn man hier geboren ist.« »Ich finde in Deutschland halt die soziale Sicherung des Menschen sehr gut. Also dass jeder, wenn er es möchte und wenn er es in Anspruch nimmt, ein Dach über dem Kopf hat. Es sei dahingestellt in welcher Art und in welchem Ausmaß das ist, aber es muss niemand in Deutschland auf der Straße leben.« »Also, ich denke, das soziale Netz ist hier gut, da es viele Menschen auf jeden Fall auffängt. Und auch, dass Bildung sehr zugänglich ist – also kostenlos meistens oder bezahlbar für die meisten. Dass es halt viele staatliche Hilfen gibt.«

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster »Unser Sozialsystem ist Bombe. Das gibt’s nirgendwo anders auf der Welt.« »Jeder ist in Deutschland krankenversichert, jeder kann sich ärztlich behandeln lassen.«

Ob man stolz sei, Deutscher zu sein? »Ich würde das ehrlich gesagt umstellen. Ich würde sagen, ich bin froh, Deutsche zu sein. Also wenn man ins Ausland mal rumreist und sich mal anschaut, wie Systeme dort aufgebaut sind, [weiß man,] was es heißt, wenn man keinen Schutz hat. Oder was es heißt, wenn man Frau ist und arbeiten möchte. Oder was es heißt, mal krank zu werden und so weiter und so weiter. Dann sieht man, dass in Deutschland – auch so kompliziert manches ist – vieles sehr viel sicherer ist für uns. Und viel angenehmer.«

Da denkt mancher sogar rührselig-ironisch an Bismarck zurück: »Ich schließe mich dem an: Sozialsystem. Also vor fast über hundert Jahren, das war eine geile Idee. Das kann man einfach nur so sagen.«

Die besondere Fixierung auf die Vorstellung, bei drohender Armut und Obdachlosigkeit aufgefangen zu werden – als hätte man ein solches Szenario für sich persönlich schon einmal durchgespielt –, wird in jenen Passagen deutlich, wo das Lob des Sozialstaats sich auf die »Zuverlässigkeit« konzentriert, »dass man weiß, auch wenn jetzt vielleicht irgendwas nicht klappt, dass es trotzdem noch eine Alternative für einen gibt und dass man auf jeden Fall auch im sozialen Netz drin aufgefangen wird im Notfall«. Diese klaren Vorstellungen vom gesellschaftlichen »Unten«, vor allem aber die abwinkende und aufatmende Geste, mit der diese vielfach vorgetragen werden – so als drohte im Ernstfall immerhin nicht die ganz große Armut, als könnte man sich im Notfall auch mit der staatlichen Grundsicherung abfinden –, bilden einen starken Kontrast zu den doch eher soliden bis ambitionierten Lebenszielen von Eigenheim und Wohlstand. Diese Beobachtung fügt sich in prägnante Topoi der jüngeren Diskussion. Nicht nur für den US-amerikanischen Kontext wird das Abebben von Aufstiegsmobilitäten infolge einer sich abschottenden Mittelschicht und einer zunehmend abgehängten neuen Unterschicht seit längerem diskutiert 58, auch in Deutschland und Europa wird immer wieder die Statusangst der gesellschaftlichen Mitte hervorgehoben, der aufgrund der Transformation der vormaligen Industriestaaten in digitalisierte Dienstleistungsgesellschaften das Abrutschen in die Prekarität drohe. Das  – wenigstens gefühlte  – Antlitz des 58 | Vgl. Winand von Petersdorff, Der amerikanische Traum verblasst, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23.07.2017, S. 24-25.

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Horrors ist demnach der soziale Abstieg. Drastisch formuliert: »Vor allem die kommenden Generationen werden schlechtere Beschäftigungsbedingungen vorfinden und sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam auf das Niveau ihrer Vorgängergenerationen hocharbeiten können.«59 Dass die Jugendlichen heute mit einem grundlegenden Gefühl der »Statusinkonsistenz«60 fertigwerden müssen, erscheint im Lichte unserer Ergebnisse evident. Auch in unseren Fokusgruppen entsteht der Eindruck enormer und elementarer Unsicherheiten, die das Bewusstsein plagen. Ein ganz grundlegender Beweggrund der Omnipräsenz des Mittelschichtsideals und Fluchtpunktes für den eigenen Lebensweg könnte daher in der Präsentationsform dieses Wunschbildes, genauer gesagt: zwischen den Zeilen liegen: Wahrscheinlich ist das Mittelschichtsideal Platzhalter von Hoffnungen auf ein finales, doch ungewisses Zur-Ruhe-Kommen, weniger die logische Konsequenz der eigenen Berufstätigkeit. Die Jugendlichen zweifeln nämlich spürbar, ob der erstrebte Lebensstandard erreicht oder auch nur der aus dem Elternhaus gewohnte erhalten werden könne. Sie idealisieren ihre Elterngeneration, die in vergleichsweise saturierten und sicheren Verhältnissen und mit soliden Zukunftsperspektiven aufwachsen durfte. Und die hohe Ansprüche gegen den Staat geltend machte und dessen Funktionsfähigkeit und Performanz zuweilen unverhohlen kritisierte.61 Zwar haben sie die damit einhergehende, sukzessiv ausgebildete Entfremdung von den politischen Eliten ihren Kindern vererbt. Doch führt die Erfahrung ökonomisch prekärer Phasen und ungewisser Aussichten beim Nachwuchs der Mitte zu einer Glorifizierung des Staates – jener Instanz, die noch Auffangnetze und Refugien bereitzustellen scheint. Da der Staat aber als großer Vorsorge-Dienstleister, tatsächlich als gütiger wie strenger »Vater« wahrgenommen wird, erscheinen Subversion und die Suche nach politischen Alternativen vollends anachronistisch.62 Den jungen Menschen fehlen politische Ziele, gar utopistische Überschüsse nahezu völlig – und somit im Grunde auch die zentralen Triebfedern für ideengeleitete 59 | Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, S. 156. 60 | Vgl. Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht, Die heimlichen Revolutionäre, S. 27. 61 |  Vgl. Stine Marg, Mitte in Deutschland, S. 253-258. 62 | In Bezug auf das Erlöschen des partizipationsorientierten Deutungsanspruchs der »alternativen« Milieus und auf die Renaissance des »spießigen« Mittelmaßes als identitätsstiftende Norm vgl. auch Cornelia Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität?, S. 41f.: »Die Älteren fühlen sich von den Haltungen der Jüngeren oftmals provoziert. Ausgerechnet die von ihnen als junge Menschen abgelehnten Leitbilder der Mitte und des Mittelmaßes gewinnen für die Jüngeren heute wieder an Attraktivität. […] Doch bei genauerem Hinsehen müssten auch die Älteren zugeben, dass sich ihre gesellschaftlichen Alternativen und Utopien von damals inzwischen verbraucht haben – immer mehr Menschen haben sich von politischen Visionen verabschiedet.«

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Gesellschaftskritik sowie politische Veränderungs- und Engagementimpulse, kurz: für eine »politische« innere Haltung.63 Stattdessen kapriziert sich ihr internalisierter Meritokratismus auf wohlfahrtsstaatliche Verteilungsfragen. Dies ist ablesbar etwa an dem ökonomischen Prisma, das die Perspektive auf gesellschaftliche Themen bestimmt – und nicht zuletzt an der Enteignungsdrohung durch die Zuwanderung von Menschen, welche man in erster Linie als zusätzliche Leistungsbezieher/-innen wahrnimmt.64 Ihr »materialistischer« Fokus sowie die Instabilität des ökonomischen Sicherheitsempfindens sind somit auch aufschlussreich für die Frage nach künftigem gesellschaftlichem Konfliktpotenzial. Denn vollkommen harmonisch und ausgeglichen sind die jungen Menschen, ihren souveränen Selbstdarstellungen und ihrer Fixierung auf das Hier und Jetzt zum Trotz, nicht. Von robuster Überzeugtheit vom späteren »Platz an der Sonne« wird man kaum reden können; zu lange währt die Phase der beruflichen Einmündung, zu serpentinenhaft gestalten sich die Aussichten auf den karrieremäßigen Aufstieg.65 Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass die Erfahrungs- und Erwartungsgrundlage der jungen Menschen viel stärker von Ungewissheits- als von Sicherheitsempfindungen durchzogen ist. So lange alles »läuft«, scheint es aber gar keinen Bedarf zu geben, seinen unmittelbaren Privathorizont zu verlassen. Ganz genau so spricht es ein knapp 20-jähriger Studienabbrecher subjektiv harmlos, doch kompromisslos direkt, aus: »Also ich war immer zufrieden mit meinem Leben, deswegen hat mich Politik eigentlich nie interessiert.« Ohne jede Zurückhaltung berichtet er, abgesehen von einem sanften Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der AfD, über sein vollständiges politisches Desinteresse: »Bei Nationalstolz bin ich jetzt nicht so dabei, direkt. Aber sonst habe ich praktisch keine Ahnung von Politik. Also ich weiß nicht, wofür jede Partei steht, also gar nicht.« Somit lässt sich als Resultat eine fundamentale Ambivalenz der Jugendlichen gegenüber der Wirtschaftsordnung festhalten, die auch für die Frage politischer Orientierungen und potenzieller Auseinandersetzungen relevant ist: Einerseits mag sich im Falle einer wirtschaftlichen Rezession, einer Verschärfung der Arbeitsmarktbedingungen und/oder einer weiteren Schließung der Mittelschichten gegen nachwachsende Aufsteiger/-innen die Frustration desto heftiger politisch entladen, je privatistisch-individualistischer 63 | Vgl. dazu das Kapitel 4.2. 64 |  Vgl. dazu das Kapitel 5.2. 65 | So fanden wir in unseren Fokusgruppen zentrale Muster der von Hurrelmann und Albrecht beschriebenen, an »Statusinkonsistenz als Lebensgefühl« laborierenden »Generation Y« wieder, deren »intensivste Erfahrung« sei, im Unklaren darüber gelassen zu werden, »ob die Gesellschaft sie überhaupt braucht«, vgl. Hurrelmann und Albrecht, Die heimlichen Revolutionäre, S. 27.

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beziehungsweise politikferner man heute seinen Alltag bestreitet. Dann könnte die Attraktivität der Maximen von Leistung und Bildung, die schon für die aktuellen Unterschichten keinen Wert mehr besitzen, in Windeseile erodieren. Es mag sich dann eine Gruppe bilden, die in historischer Hinsicht schon oft eine wesentliche strukturelle Ressource sozialer Revolten bildete: eine Masse blockierter Aufsteiger und underdogs, die durch verknöcherte soziale Hierarchien nicht mehr absorbiert werden und denen systemimmanente Mobilitäten weitgehend versperrt sind.66 Andererseits aber spricht der hier betrachtete Zusammenhang zunächst deutlich für weiterhin grundlegend stabile politische Kräfteverhältnisse: Die Jugend erscheint im Lichte ökonomischer Themen gegenwärtig (und immer noch) viel zu alltagspraktisch orientiert, als in den Bann populistischer Agitatorinnen und Agitatoren geraten zu können. Vielleicht ist das der Schlüssel zum politischen Kompass der jungen Menschen, den wir bei der Diskussion der explizit politischen Themen nicht finden konnten.

5.2 D er »F remde « und der I sl am 5.2.1 Wie P egida -Redner/-innen und Anhänger/-innen »die Anderen« wahrnehmen »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« – der Name der Bewegung ist auch Programm. Die Bewertung von Menschen mit Migrationshintergrund, Migrant/-innen, Asylsuchenden und Geflüchteten nimmt innerhalb der von Dresden ausgehenden Proteste einen zentralen Platz ein. Mit der »Islamisierung« bekämpfen die Dresdner Patrioten die vermeintliche Regression deutscher oder »christlich-jüdischer« kultureller, gesellschaftlicher und politischer Werte im Sinne einer »islamistischen« Auslegung67 – was auch immer damit evoziert wird. Zahlreiche Beobachterinnen und Beobachter kommen zu dem Schluss, dass die pauschale Abwertung von Flüchtlingen und Asylsuchenden bei Pegida ohnehin Programm, die Bewegung mithin

66 | Vgl. Johan Galtung, Eine strukturelle Theorie der Revolution, in: Martin Jänicke (Hg.), Herrschaft und Krise. Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung, Opladen 1973, S. 121-167, insbesondere S. 163 und 166. 67 | Vgl. hierzu Paul Bey u.a., P egida im Spiegel der Medien. Vom »bürgerlichen Protest« zur »Bedrohung von rechts«, Duisburg 2016, S. 31, online einsehbar unter www. dis s-duisburg.de/wp-content /uploads/2016/12/DISS-Pegida-im-Spiegel-derMedien-2016.pdf (eingesehen am 10.01.2018).

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islamfeindlich sei.68 Diese pauschale Aussage muss jedoch etwas differen­ zierter betrachtet werden, da zwischen den Bewegungsunternehmerinnen und -unternehmern von Pegida einerseits (und hier wiederum zwischen ­Gastredner/-innen und Organisator/-innen69) sowie den Anhängerinnen und Anhängern andererseits unterschieden und gleichzeitig die Entwicklung der Bewegung selbst berücksichtigt werden muss. In der »Hype- und Hochphase« forderte Pegida in den wenigen Positionspapieren, die die Bewegung hervorgebracht hat, zwar, dass die »Eingriffe von religiösen Minderheiten zurückzudrängen« seien, womit man vornehmlich den Islam im Visier hatte, sowie die Integration und Zuwanderung gesetzlich zu regeln als auch die »christlich-­ jüdisch geprägte Abendlandkultur« zu schützen.70 Dennoch spielte das Thema auf den Protestveranstaltungen selbst eher eine gleichberechtigte Rolle neben anderen Motiven und wurde erst im Zuge der für die Öffentlichkeit überraschend starken Flüchtlingsbewegung nach Deutschland zwischen September 2015 und Ende 2016 verstärkt durch die Pegida-Rednerinnen und Redner aufgegriffen. In diesem Zusammenhang muss mit Volker Weiß darauf hingewiesen werden, dass es im Herbst 2014 Überlegungen gegeben habe, die Bewegung Pegada zu nennen, also »Patriotische Europäer gegen die Amerikanisierung des Abendlandes«. Schließlich sei der Universalismus, der sich im »Amerikanismus« manifestiere, der eigentliche, der »wirkliche Gegner«, während der Islam nur der konkrete Gegner sei, den es nicht grundsätzlich zu bekämpfen, sondern nur als »ethnische Bedrohung« vom eigenen Lebensraume fernzuhalten gelte. Insofern sei der Islam zwar ein Feind, habe jedoch als wirklicher Gegner für die »Neuen Rechten« keinesfalls das Judentum abgelöst.71 Allerdings konnte mit den vornehmlich in der ersten Bewegungsphase durchgeführten Befragungen unter den Anhängern der »Patriotischen Europäer« keine deutlich stärkere Ablehnung des Islams im Vergleich zur Gesamtbevölkerung festgestellt werden. Ob dies nun daran liegt, dass die Befragten die eindeutige Ablehnung umgingen, weil sie im- oder explizit wussten, dass dies die sozial unerwünschte Antwort sei und ihre Außenseiterposition weiter 68 | Piotr Kocyba, Wieso P egida keine Bewegung harmloser, besorgter Bürger ist, in: Karl-Siegbert Rehberg u.a. (Hg.), P egida . Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld 2017, S. 147-163, hier S. 163. Zu der These, dass die »Islamisierung« bei den Reden von P egida im Mittelpunkt gestanden hätten beziehungsweise stünden vgl. auch: Hans Vorländer u.a., P egida . Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden 2016, S. 80. 69 | Vgl. Kapitel 2.2. 70 | Zu den Forderungen aus P egida s 19- beziehungsweise 6-Punkte-Katalogen vgl. Lars Geiges u.a., P egida . Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 17. 71 | Vgl. hierzu: Volker Weiß, Die Autoritäre Revolte, S. 212-226.

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festigen werde72, oder ob in der anfänglichen Mobilisierungsphase die Ablehnung der politischen Klasse in toto im Vordergrund stand und der »Komplex der Islamisierung« eine eher untergeordnete Rolle spielte 73, lässt sich nunmehr kaum klären. Unsere qualitative Befragung der Pegida-Anhänger/-innen im Winter 2015 förderte jedoch bereits zutage, dass die Unzufriedenheit mit der politischen Klasse ein großes Antriebsmoment gewesen ist, die Thematik der »Fremden in unserem Land« und des Islams jedoch ebenso großen Raum einnahmen. So unterschieden die Befragten damals beispielsweise zwischen den »guten Zuwanderern« und den Flüchtlingen aus islamisch geprägten Regionen beziehungsweise Muslimen oder auch »Islamisten« und verwiesen damit auf eine vermeintliche kulturelle Rückständigkeit und besondere Gewalttätigkeit und die daraus abgeleitete extreme Gefahr für die Bundesrepublik.74

5.2.2  Allerorten abwertende Ungleichwertigkeitsaussagen Unter diesen Bedingungen ist eine Erkundung, wie die von uns befragten jungen Menschen »Fremde« im Allgemeinen und den Islam sowie Muslime im Besonderen wahrnehmen, von großer Relevanz. Dabei muss zunächst festgehalten werden, dass sich in allen Fokusgruppen abwertende Stereotype beobachten ließen, die sich verallgemeinernd auf ethnische oder religiöse Zugehörigkeiten beziehen. Dies gilt sowohl für die Gesprächsrunden mit den Mitgliedern eines Fußballvereins, als auch für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Jugendtreffs, welcher sich speziell an junge Menschen mit Migrationshintergrund richtet. Sie finden sich unter jenen, die im Fragebogen bekennen, Wählerinnen und Wähler der NPD oder AfD zu sein, oder unter Anhänger/-innen der Linkspartei, der Grünen und der Sozialdemokratie. Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss und geringem Haushaltseinkommen äußerten sie ebenso wie solche mit einem hohen Bildungsabschluss und (im 72 | Wie Piotr Kocyba annimmt, Vgl. Piotr Kocyba, Wieso P egida keine Bewegung harmloser, besorgter Bürger ist, in: Karl-Siegbert Rehberg u.a. (Hg.), P egida . Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld 2017, S. 147-163, hier S. 157. 73 | Vgl. hierzu: Lars Geiges u.a., P egida , S. 118f.; sowie: Hans Vorländer u.a., P egida . Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden 2016, S. 80. 74 | Lars Geiges u.a., P egida . Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, S. 123 sowie Institut für Demokratieforschung (Hg.), Die Büchse der Pandora? Insofern ist es fraglich, ob die Muslime tatsächlich als Projektionsfläche stellvertretend für die Ablehnung »alles Fremden« stehen, wie Vorländer u.a. feststellen. Vgl. Hans Vorländer u.a., P egida . Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden 2016, S. 80.

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

Verhältnis zum Lebensalter) höheren Einkommen, sie waren sowohl in Ostals auch Westdeutschland insofern ein dominantes Gesprächsmuster, als sich niemand diesen Pauschalisierungen, Abwertungen, Stereotypen, Ressentiments und zum Teil offenen Rassismen in den Weg stellte. In vielen durch die Gruppe präsentierten diskursiven Stränge gehören die Erzählungen von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten, dem Postulat einer Andersartigkeit der mitgebrachten Kultur, einer höheren Kriminalität, einem festgestellten Integrationsdefizit und der Forderung nach Anpassung an eine Mehrheitsgesellschaft zusammen und versinnbildlichen sich beispielsweise in der oft formulierten These, dass dort, wo Unterkünfte von Geflüchteten sind, die Kriminalität massiv ansteige. Der Grundtenor solcher hier zunächst zusammenfassend als abwertende Ungleichwertigkeitsaussagen bezeichneten Sentenzen war dabei fast immer gleich und erinnert stark an die Konstruktionen, mit denen Pegida-Anhänger/-innen in der Öffentlichkeit häufig beschrieben wurden, und die mittlerweile eine stehende Phrase für Comedians und in Memes, also viralen Internet-Inhalten, geworden sind: »Ich bin kein Nazi, aber…«. Die Befragten stellten zunächst klar, dass sie keinesfalls gegen Ausländer seien, sondern lediglich fordern, dass sich die in Deutschland Lebenden den hiesigen Gepflogenheiten anzupassen hätten. Nicht wenige verbanden diese Assimilationsforderung gleichzeitig mit einer Diskurskritik: Solche Äußerungen und Einstellungen führten dazu, dass man sie öffentlich als »Nazi« oder »Rassist« beschimpfe. Doch genau diese Aussagen müssen insbesondere für Dresden beziehungsweise Sachsen mit Vorsicht interpretiert werden, da doch zumindest einige Untersuchungen – wie oben ausführlich erläutert – auf den »Sonderfall Ost« und die damit angesprochene höhere Fremdenfeindlichkeit 75 beziehungsweise den »sächsischen Exzeptionalismus« hinweisen, der durch einen identitären Diskurs mit spezifischen wertkonservativen Traditionen und chauvinistische Rhetoriken geprägt sei.76 Unter diesen Bedingungen gilt es vorsichtig zu fragen, ob abwertende Ungleichwertigkeitsaussagen in Sachsen möglicherweise nicht alltäglicher sind als beispielsweise in Nürnberg oder Duisburg und durch diese Selbstinszenierung als Beinahe-Opfer im öffentlichen Diskurs den Aussagen eine größere Legitimation zugewiesen werden soll. Auch dies kann

75 | Vgl. exempl. Babka von Gostomski u.a., Fremdenfeindlichkeitkeit in den Bundesländern. Die schwierige Lage in Ostdeutschland, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 5, Frankfurt a.M. 2007, S. 102-128. 76 | Vgl. hierzu: Maria Steinhaus u.a., »So geht sächsisch!« P egida und die Paradoxien der ›sächsischen Demokratie‹, in: Tino Heim (Hg.), P egida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen P egida , Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2016, S. 143-197.

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durch die Analyse der Gesprächsverläufe in den jeweiligen Gruppen untersucht werden. Lediglich eine Minderheit von sieben Personen aus unserem 88 Befragte umfassenden Sample äußerte sehr eindeutige harte Ressentiments, die deutlich über das Maß der hier zentral beobachteten abwertenden Ungleichwertigkeitsaussagen hinausgehen und Hinweise auf verfestigte Weltbilder liefern. Von diesen sieben Befragten, vier Frauen und drei Männer, sind zwei Frauen und alle Männer überwiegend Ende 20 beziehungsweise Mitte 30, können zur unteren Einkommensmitte oder auch abstiegsbedrohten Mitte gezählt werden und bekennen sich mehrheitlich dazu, AfD beziehungsweise NPD zu wählen; sie alle stammen aus Ostdeutschland. Auf zwei Frauen, die durch die Äußerungen harter Ressentiments auffallen, treffen diese Kategorisierungen nicht zu. Sie sind eher Anfang 20 und Anhängerinnen der Grünen beziehungsweise der CDU und aus Nürnberg beziehungsweise Duisburg. Während diese sieben Personen, die sich durch gefestigte Weltbilder auszeichneten, eher zur prekären Mitte gehören, fällt auf, dass  – obwohl die in dieser Studie befragten jungen Menschen auf der Einkommens- und Prestigeskala eher unten stehen – von den anderen 81 Befragten kaum sozialchauvinistische Äußerungen getätigt werden. Soziale Ausgrenzung und Neid beziehungsweise die Vorstellung, dass der Fremde einem selbst etwas wegnehme, finden sich nicht als ausformulierte Argumente. Man könnte hier beinahe einen Lernprozess oder ein internalisiertes Muster unterstellen, dass die Befragten ahnen, dass diese Begründung in der Öffentlichkeit mittlerweile als zu plump gilt und sie dadurch das individuelle Risiko erhöhen, als »Nazi« identifiziert zu werden. Hier sollen keine Phänomene gemessen, sondern nur aktuelle Vorstellungen und Deutungsmuster der jungen Befragten im Zusammenhang mit den als fremd wahrgenommenen Menschen herausgearbeitet werden. Insofern können jedoch die »unscharfen Konturen [einer möglichen] Veränderung ›von unten‹ ausgehend von der Einstellung der Bürger« analysiert werden, wie es Wolfgang Aschauer im Kontext einer modernen soziologisch orientierten Integrationsforschung fordert.77 Daher ist auch die Frage nach den Ursachen und bestimmenden Faktoren von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus oder Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hier nicht zu erörtern, sondern sind Begriffsassoziationen und semantische Muster freizulegen, die Hinweise auf Bewertungsmaßstäbe und strukturelle Mechanismen der Wahrnehmung gesellschaftlicher Strukturen geben können. Folglich erscheint die allgemeine Frage nach der Sicht auf den Fremden beziehungsweise der all77 |  Wolfgang Aschauer, Die Wahrnehmung von Umbrüchen, Ungleichheiten und Unsicherheiten als neue Erklärungsfaktoren der Fremden- und Islamfeindlichkeit in Europa, in: Elisabeth Klaus u.a. (Hg.), Identität und Inklusion im europäischen Sozialraum, Wiesbaden 2010, S. 87-112, hier S. 91.

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gemeine Begriff der Fremdenfeindlichkeit, der mit den Worten von Corinna Kleinert insbesondere die »subjektive Wahrnehmung von Fremdheit« und ihre Konstruktion erfasst, und auf »dynamische Inhalte« fokussiert, hier angemessen.78 Kleinert hebt in ihrer Arbeit treffend hervor, dass der Konstruktion des Fremden zunächst eine allgemeine Entfremdung und instabilere Identitäten als Begleiterscheinung der Moderne und eine daraus resultierende Suche nach »Einheitssemantiken« vorausgehe. Insofern bedingten die Suche nach Zugehörigkeit und gesellschaftlicher Einheit und die Figur des Fremden einander wechselseitig. Kleinert trennt hierbei zwischen fremdenfeindlichen Einstellungen einerseits und daraus resultierenden Handlungen andererseits, wobei hier im Grunde nur ersteres untersucht werden kann.79 In diesem Sinne geht es um Fremdenfeindlichkeit, die »negative Einstellungen und Handlungsweisen [umfasst], die sich gegen Gruppen von Menschen oder gegen Mitglieder dieser Gruppen richten, die als nicht zugehörig zur eigenen Gruppe angesehen werden. Fremdenfeindliche Einstellungen bestehen aus Überzeugungen über die Gruppe der Fremden (Stereotypen), aus negativen Emotionen und Bewertungen (verbunden mit Stereotypen lassen sich diese als Vorurteile bezeichnen) sowie aus Handlungsprädispositionen gegenüber diesen Fremden. […] Die zugrunde liegende Konstruktion von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, von Eigenem und Formendem wird von den meisten Mitgliedern der eigenen Gruppe geteilt. Die Merkmale und Eigenschaften der Gruppen, anhand derer diese Konstruktion gebildet wird, sind zwar prinzipiell kontingent, schließen jedoch an gängige Selbstbeschreibungen der Gesellschaft an.« 80

Eben jene sich aufeinander beziehende kontingente Zuschreibungen und Konstruktionen der Fremd- und der Eigengruppe gilt es hier vor dem Hintergrund der Reichweite von Pegida für die jungen Menschen herauszuarbeiten. Und gerade weil, wie es Kleinert weiter formuliert, »Fremdenfeindlichkeit als individuelle Einstellung [erst dann entstehen kann], wenn die Gesellschaft eine Gruppen von Menschen zu Fremden erklärt, wenn sie einen Teil von Menschen als zusammengehörig und als eigen definiert und andere Menschen aus dieser Sphäre ausschließt« 81, erscheint es sinnvoll, diese sprachlichen Konstrukte innerhalb eines Gruppenzusammenhanges, in dem sich die

78 | Corinna Kleinert, Fremdenfeindlichkeit. Einstellungen junger Deutscher zu Migranten, München 2004, S. 77. 79 | Vgl. Colin Jerolmack und Shamus Kahn, Talk Is Cheap. Ethnography and the Attitudinal Fallacy, in: Sociological Methods & Research, Jg. 43, H. 2/2014, S. 178-209. 80 | Corinna Kleinert, Fremdenfeindlichkeit, S. 91. 81 | Ebd., S. 275.

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Sprechenden aufeinander beziehen und sich als temporäre Gemeinschaft verstehen, zu erheben. Insgesamt stimmen nur wenige Befragte, unabhängig davon, ob sie als Beunruhigte oder Unbekümmerte für die Untersuchung rekrutiert wurden, den in der Gruppe geäußerten Pauschalisierungen hinsichtlich der jeweiligen Fremdgruppe nicht zu. Sie verweisen auf das Verhalten jedes einzelnen Individuums, das eine spezifische Anpassungs- oder Integrationswilligkeit mitbringen müsse. Hier scheinen die jungen Menschen die eigene Individualität, die sie quasi als Ego-Shooter für sich selbst in Anspruch nehmen und einfordern, auch auf andere zu projizieren. Weil sie selbst nicht lediglich ein einfacher Teil einer übergeordneten Gesellschaft sein wollen und in dieser Funktion keinesfalls aufgehen möchten, sind in dieser Logik die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die damit einhergehende Identifizierung auch auf andere nicht übertragbar. Die Vorstellung davon, dass nicht alle Flüchtlinge, Migrant/-innen oder Ausländer gleich seien, wird jedoch nur von wenigen Befragten expliziert. Und dies in der Regel lediglich über den umgekehrten Mechanismus mit der Aufzählung der vermeintlichen Problemgruppen (junge Männer, Syrer, Iraker, Tunesier, »Täter aus der Silvesternacht in Köln«), zu der nicht alle gehörten. Lediglich ein Befragter in einer als besorgt rekrutierten Fokusgruppe in Westdeutschland stellt deutlich klar: »Es ist keinesfalls so, dass alles, was nicht Deutsch ist, schlecht ist, das ist Pegida-Denken.« Für die befragten jungen Menschen gibt es also nicht »den allgemeinen Ausländer« im Sinne von »dem Nichtdeutschen«, den man mit seinen Erzählungen beziehungsweise abwertenden Ungleichwertigkeitsaussagen adressiert. Jedoch treten »die Ausländer« oder Migranten und Flüchtlinge in den Diskursen häufig nicht als Individuen, sondern als Gruppe auf. Diese Gruppenzugehörigkeit wird nicht nur im Sinne einer spezifisch imaginierten Gemeinschaft gedacht und eine damit einhergehende Entindividualisierung beschleunigt. Vielmehr wird sie als sichtbare Gemeinschaft im öffentlichen Raum präsentiert. Während die bundesrepublikanischen Jugendgruppen in den letzten Jahrzehnten erfolgreich aus diesem Raum verdrängt wurden und tiefgreifende Makroprozesse unter dem Schlagwort der Individualisierung dazu führten, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum noch jugendliche Cliquen an Bushaltestellen, auf öffentlichen Plätzen oder in Parkanlagen gesichtet wurden, scheint die neuartige Präsenz der »jungen Männer«, die Präsenz der »Fremden« als Veränderung des öffentlichen Raums zu einer größeren Verunsicherung zu führen. Dies erklärt möglicherweise auch, warum die Wahrnehmbarkeit in der Sphäre des Öffentlichen, ausgedrückt in Sätzen wie diesen: »Also, was mich persönlich nervt, ist, wenn ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs bin, wenn die in ihrer Sprache laut reden«, als massive Störung empfunden wird. Auffällig ist darüber hinaus auch, dass all jene, die im Gesprächsverlauf deutlich machten, dass sie wüssten, was Deutschland

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Abb. 14: Aspekte der Bewertung »des Fremden«

Quelle: Eigene Zusammenstellung

ausmache, was zum essenziellen Kanon der bundesrepublikanischen Wertekultur gehöre, deutlicher und häufiger abwertende Ungleichwertigkeitsaussagen äußerten. Hier zeigt sich klar, dass ein gewisses Maß an Nationalismus und Chauvinismus Abwertungen und Ungleichwertigkeitsvorstellungen befördern können.82 Wie bereits angedeutet, wird die Perspektive der Befragten häufig an die Forderung gekoppelt, dass sich Flüchtlinge und Ausländer/-innen anzupassen haben. Doch statt Integration, die eigentlich als Einbeziehung von vormals ausgeschlossenen Menschen und Gruppen in die Gesellschaft gedacht wird, die Prozesse der Annäherung, Kommunikation und des wechselseitigen Austausches, vor allem die Beibehaltung der mitgebrachten kulturellen Praktiken impliziert, denken die von uns befragten jungen Menschen im Grunde ausschließlich an Assimilation als völlige Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft und Aufgabe eigener Werte, Praktiken, Symbole oder Traditionen. Sie 82 | Im Lichte dieser Befunde wäre die Frage danach, warum hier für den analytischen Zugriff auf den weitaus moderneren Begriff der Fremdenfeindlichkeit und nicht auf den der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zurückgegriffen wird. Für die vorliegende Untersuchung erscheint die analytische Stoßrichtung des Konzepts nicht so recht zu passen, wenn mit der Gruppenbezogenen Einstellung als komplexes messbares Syndrom überwiegend individuelle Einstellungen ohne weitere gesellschaftliche Bezüge – um die es ja gerade auch mit P egida hier gehen soll – nennenswert zu berücksichtigen. Vgl. hierzu auch: Iman Attia, Das Konzept der »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit«. Einige kritische Anmerkungen, in: Soziologische Revue H. 36/2013, S. 3-9, hier S. 4.

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fordern einseitige Anpassungsleistungen und die Aufgabe der eigenen Kultur. Einen Einstieg in diese Bringschuld-Debatte, da Anpassung die zentrale Voraussetzung für die Anerkennung innerhalb einer imaginierten Mehrheitsgesellschaft darstellt, bildet meist die als zentral erhobene Forderung, die deutsche Sprache zu erlernen. Selbst von sich vordergründig liberal gebenden Menschen mit Migrationshintergrund wird gefordert, dass das mitgebrachte »Brauchtum« nur in privaten, nichtöffentlichen Räumen praktiziert werden solle, um Reibungspunkte mit der sogenannten Mehrheitsgesellschaft zu umgehen. Zentral in diesen Formulierungen der Befragten ist dabei die Vokabel des »Sich-Benehmen«-Müssens. Damit wird die Forderung umschrieben, sich an hiesige Gesetze und Gepflogenheiten zu halten. Als Beispiele werden dafür häufig angeführt, dass keine Kinderehen eingegangen werden sollten, keine Gewalt gegen Frauen oder »Genitalverstümmelungen« ausgeübt und nichts »in die Luft gejagt« werden dürfe. Aber sie formulieren auch, dass die Fremden nicht nur unter sich bleiben sollten, sondern Freundschaften mit Deutschen einzugehen und Dorffeste zu besuchen hätten. Mit diesen Aussagen – und das ist den Befragten durchaus bewusst – wird im Umkehrschluss unterstellt, dass im Alltag der Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten Kinderehen, Rechtsverletzungen, Gewalt oder gar Terror alltäglich seien. Und viele äußern sich ähnlich und stellen heraus, dass es in den letzten Jahren vermehrt zu Exzessen gekommen, Ausländer/-innen sich »aufgeführt« hätten, als gehöre ihnen die Straße, und die Polizei als Reaktion nur noch machtlos »rechtsfreie Räume« hinterlassen könne. Ein zweiter starker Bezugspunkt im Rahmen der Integrations- beziehungsweise Assimilationsdebatte ist der Sozialstaat, der vor missbräuchlichem Verhalten der Migrant/-innen und Flüchtlinge zu schützen ist. In den Worten einer als unbekümmert rekrutierten Gesprächspartnerin aus Westdeutschland ausgedrückt: »Wenn dann solche ignoranten, blöden Leute offensichtlich einfach nur da sind, um irgendwelche Sozialleistungen zu beziehen; überhaupt keinen Bock haben, sich einzugliedern, geht das gar nicht!« In einer frei rekrutierten Realgruppe wurde mit sachlich völlig überdehnten Beispielen argumentiert, die in invertierter Lesart genau dieses Bild von den Geflüchteten und Migrant/-innen zeichnen, die mit dem Taxi quer durch Deutschland führen, weil es ihnen im »Flüchtlingsheim« nicht gefalle oder die in das heimische Syrien, aus dem sie geflohen seien, auf Kosten der deutschen Steuerzahlerin, des deutschen Steuerzahlers in den Urlaub geflogen würden.

5.2.3  Ablehnung aus ökonomischer Perspektive In der Analyse der Gruppengespräche, über Unbekümmerte, Beunruhigte und frei rekrutierte Jugendgruppen hinweg, wird deutlich, dass die Fremden durch einen präsenten ökonomisch geprägten Blick, das oben bereits ange-

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deutete Prisma83, wahrgenommen werden. Dieses wiederum erlaubt in Teilen einigen Befragten auch eine Differenzierung anstelle von Pauschalisierung. Den Ausgangspunkt in den Gesprächen bildet hier oftmals die implizite Differenzierung zwischen sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen, die gegen die Kriegsflüchtlinge ausgespielt werden. Während Syrer/-innen anerkannt seien, müssten Tunesier/-innen und Afrikaner/-innen »draußen bleiben«, wie es ein Befragter ausdrückte. Ist diese Differenz zwischen unterschiedlichen Flüchtlingstypen jedoch erst einmal gesetzt, wird in der sich daran anschließenden Diskussion kaum noch zwischen Flüchtlingen, Migrant/-innen, Ausländer/-innen, Asylsuchenden, Einwanderer/-innen oder Menschen mit Migrationshintergrund unterschieden. Auf diese vermeintliche Differenzierung weisen auch die Rednerinnen und Redner von Pegida immer wieder hin und versuchten in zahlreichen Wortbeiträgen oder Statements auf der Homepage, diese Denkfigur systematisch zu begründen. Während aus der Perspektive der hier Befragten die Kriegsflüchtlinge und in einem Fall auch die Flüchtlinge vor den Folgen des Klimawandels temporäre Hilfe erwarten könnten, nutzten die als Wirtschaftsflüchtlinge Verunglimpften ausschließlich den Sozialstaat aus und erwarteten, dass ihnen »die Tauben gebraten in den Mund« fliegen würden. Darüber hinaus ermöglicht den Befragten die semantische Trennung zwischen Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen die Argumentation mit dem Dublin-Abkommen. Eben weil jenes Land, in das die Asylbewerberinnen und -bewerber nachweislich zuerst eingereist sind, für das Asylverfahren zuständig sei, wäre es rechtlich kaum möglich, eine derart große Zahl an Geflüchteten aufzunehmen. Hier wird dem Recht vor der Menschlichkeit deutlich der Vorrang eingeräumt. Die ökonomische Sichtweise beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Differenzierung zwischen legitimen und illegitimen Fluchtursachen und damit im Grunde zwischen einer Daseinsberechtigung und einem Abschiebegrund, sondern ist auch Ausgangspunkt für die verbalisierte Perspektive, dass einige Migrantengruppen durchaus die hiesige Wirtschaft ankurbeln könnten. So stellt ein Gesprächspartner fest, dass in Zukunft gerade im medizinischen Sektor ausländische Arbeitskräfte dringend notwendig seien oder ein anderer führt den Ruhm des »Exportweltmeisters« Deutschland auf den »Handel mit Ausländern« zurück. Über die Arbeit erlerne man die Sprache, die gleichzeitig als eine Voraussetzung für den erwarteten Anpassungsprozess interpretiert wird. Deutlich wird in diesem Zusammenhang jedoch, dass bürokratische Hürden sowohl für die Migrant/-innen oder Geflüchteten, aber insbesondere für die Arbeitgeber/-innen, dieser Integration über Arbeit im Wege stünden und dass dies eine exzellente Vorbereitung durch die Politik erfordere. Diese wiederum traute kaum einer der Befragten den Politikerinnen und Politikern 83 | Vgl. Kapitel 5.1.3.

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zu, sodass in der Konsequenz einem Missbrauch der Geflüchteten durch die Wirtschaft als »billige Arbeitskräfte« Tür und Tor geöffnet sei. In diesem Kontext wurde lediglich vereinzelt von gering qualifizierten Befragten geäußert, dass »uns« die Ausländer »die Arbeit nicht wegnehmen« sollten. Flüchtlinge und Migrant/-innen werden demzufolge merklich über die Integration auf dem Arbeitsmarkt definiert. Das bedeutet in der gewendeten Semantik der Befragten: Gehen »die Fremden« arbeiten, strengen sie sich an, streben sie damit nach einem ähnlichen Lebensstandard und verfolgen sie einen ähnlichen Lebensstil wie sie selbst, werden sie akzeptiert und gelten als wertvoll für die Gesellschaft. Gehen sie jedoch nicht arbeiten, sondern »chillen« den ganzen Tag, und verfügen dennoch über Statussymbole wie »Markenklamotten« oder »teure Handys«, gelten sie als faul, unabhängig davon, ob sie arbeiten dürfen oder können. Der Verweis auf das aktuelle Smartphone wurde insbesondere von solchen Befragten, die ohnehin durch starke Ressentiments in den Gesprächsrunden auffielen, als Sinnbild dafür gedeutet, dass es »denen« doch gar nicht schlecht gehen könne und sie alles andere als hilfsbedürftig wären. Während sie selbst für das iPhone hart arbeiten müssten, bekämen »die« es geschenkt. Das Smartphone wird auch häufig von Pegida-Rednerinnen und -Rednern als Beispiel aufgegriffen und scheint sich mittlerweile als Symbol für die vermeintliche Dekadenz der Geflüchteten durchgesetzt zu haben. Insbesondere bei den als Beunruhigte rekrutierten Gesprächspartner/-innen lässt sich eine interne Logik identifizieren, nach der es einem Geflüchteten per se schlechter gehen müsse als ihnen selbst oder dem Großteil der bundesrepublikanischen Gesellschaft, wie sie ihn sich vorstellen. Werten die Befragten dies anders herum, also scheint es den Flüchtlingen und Migrant/-innen aus ihrer Perspektive besser zu gehen als ihnen, wird ihre Aufenthaltsberechtigung in Zweifel gezogen Ulrich Bröckling hat diesen Trend der Ökonomisierung der Gesellschaft als ein alle Gesellschaftsbereiche umgreifenden Prozess bereits im Jahr 2007 beschrieben. Mit Hilfe des Konzepts der Gouvernementalität nach Michel Foucault entwirft Bröckling ein sich selbst ständig um Optimierung und Aktivierung bemühtes Individuum, das sich permanent auf dem (Arbeits-)Markt behaupten müsse84 und konsequenterweise Erfolg und Misserfolg immer als persönliche Verfehlungen interpretiere. Das Selbstverständnis und die Grundprinzipien der Wettbewerbsgesellschaft – die Konkurrenz – werden als allgemeingültiges Prinzip institutionalisiert und generalisiert, bieten somit als Leitbild Orientierung, Motivation und Handlungsanleitung. Damit einher geht das Versprechen von Autonomie und Selbstverwirklichung ohne jegliche Beschränkungen, das zum Bezugspunkt allen Denkens und Handelns gerät. Im 84 | Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007, S. 56.

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Rahmen der von Wilhelm Heitmeyer geleiteten Langzeituntersuchungen zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit wurde nachgewiesen, dass die Abwertung von Langzeitarbeitslosen insbesondere in Gruppen mit hohem Einkommen enorm wirkmächtig sei und somit die Ökonomisierung der Gesellschaft für einen Teilbereich nachgewiesen.85 Für unseren Zusammenhang ist das grundlegende Verständnis der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit als Syndrom, in dem alle Elemente über einen gemeinsamen Kern der Ideologie der Ungleichwertigkeit zusammenhängen86, relevant. Eva Gross und ihre Co-Autoren schlussfolgern daher konsequent, dass der von Bröckling beschriebene unternehmerische Universalismus tendenziell zur Erklärung aller Syndromelemente, also auch Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie etc. beitragen könne.87 Insofern ist es nur folgerichtig, dass die ökonomische Bewertung – die hier jedoch in den unterschiedlichsten Perspektiven zu Vorschein kommt – den Fokus des Blickes auf den Fremden ausmacht. Der akzeptierte Status eines Geflüchteten oder Ausländers ist im Deutungsrahmen der von uns Befragten stark von der fragilen Unterstellung abhängig, fleißig zu sein, und den von ihnen selbst verfolgten meritokratischen Idealen nachzustreben.88 Sie fordern konsequent, dass sich die Fremden denselben Logiken zu unterwerfen haben, von denen sie ebenso abhängig sind. Auch auf »den Gastarbeiter«, der im Zusammenhang mit der ökonomisch fixierten Platzierung der Flüchtlinge und Migranten innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft häufig als Beleg für eine gelungene Integration über Arbeit angeführt wurde und in diesem Nützlichkeitsdiskurs als Legitimationsfigur diente, wurde in den Fokusgruppen häufig verwiesen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass alle Befragten – sowohl in den in Westdeutschland als auch in Ostdeutschland durchgeführten Fokusgruppen  – die Integration der Gastarbeiter/-innen als Erfolgsgeschichte ihres Landes interpretieren. Die Erfahrungsräume, hier sichtbar als gemeinsame Geschichte der Bundesrepublik, fallen für die befragten jungen Menschen demzufolge eindeutig zusammen. Sie denken größtenteils in der Tradition einer gemeinsamen Geschichte, die nicht aus einer Synthese der Systemvergangenheiten besteht, sondern sich ausschließlich aus der Vergangenheit der Bundesrepublik speist.

85 | Eva Gross u.a., Die Ökonomisierung der Gesellschaft. Ein Nährboden für Menschenfeindlichkeit in oberen Status- und Einkommensgruppen, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 9, Frankfurt a. M. 2010, S. 138-157. 86 | Wilhelm Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und empirischen Ergebnisse aus 2002 sowie 2003, in: Ders. (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 2, Frankfurt a.M., S. 13-32, hier S. 18. 87 |  Eva Gross u.a., Die Ökonomisierung der Gesellschaft, S. 138-157, hier S. 147. 88 | Vgl. Kapitel 5.1.2.

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Auffällig war, dass abwertende Ungleichwertigkeitsaussagen, jedoch nicht die harten Ressentiments mit Hinweisen auf verfestigte Weltbilder, dezidiert auch von Befragten mit Migrationshintergrund getätigt wurden, sowohl in den in Ostdeutschland als auch in Westdeutschland durchgeführten Gruppengesprächen. Sie empören sich, dass Tunesier/-innen, denen sie die berechtigten Fluchtursachen absprechen, weil ihre Heimat keine »Kriegszone« sei, nach Deutschland kämen, obwohl sie weder etwas »Sinnvolles« machten, noch etwas »aufbauen« würden. Sie sind davon überzeugt, dass alle, die »Stress machen«, sofort das Land verlassen sollten und viele nur kämen, um Sozialleistungen »zu kassieren«. Ein anderer Befragter mit osteuropäischem Migrationshintergrund beschrieb ein frühes Jugenderlebnis, als sein »Handy von jemandem abgezogen« wurde, dessen Herkunft er klar in einem »arabischen Land« verortete. Eine einzige Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang ein junger Mensch, der sich selbst als Armutsmigrant beschreibt, für Individualisierungen sowie gegen Pauschalisierungen argumentiert, und fordert, dass man grundsätzlich allen Fremden gegenüber offen sein und Hilfe anbieten sollte. Der öffentliche Diskurs im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise rückte verstärkt die Forderung nach einer Rückkehr in die Herkunftsländer und den geduldeten, zeitlich begrenzten Status der Nichtdeutschen in den Vordergrund. Personen mit Migrationshintergrund mögen diese Postulate im- und explizit möglicherweise als Konfrontation mit spezifischen neuartigen Diskriminierungserfahrungen wahrnehmen. Für sie entsteht im Zuge der Flüchtlingskrise der als Bedrohung empfundene Eindruck, als Nichtdeutsche möglicherweise nur auf Zeit geduldet zu sein. Dadurch lässt sich eine dezidierte Ablehnung all jener, die sich vermeintlich nicht in die Mehrheitsgesellschaft anpassen oder innerhalb ihres Deutungsrahmens kein Anrecht auf ein Bleiben haben, durch Menschen mit Migrationshintergrund teilweise erklären. Einig sind sich die Befragten in den Fokusgruppen meist darüber, dass Flüchtlinge  – sofern sie als legitim anerkannte Gründe vorweisen können  – gerne nach Deutschland kommen können, jedoch nicht als »Masse« oder »Millionenheer«. Die Zahl der Fremden müsse klar »im Rahmen bleiben«. Dabei wird die Furcht vor der Masse mit den eigenen Ängsten vor Terroristen und den Vorbehalten gegenüber vermeintlichen Wirtschaftsflüchtlingen begründet. Überdies ließen sich, so die Befragten, nur einzelne Menschen integrieren – in einer Realgruppe mit den Mitgliedern eines Fußballvereins wird das Beispiel eines »ballverliebte[n]« Syrers angeführt, von denen man innerhalb einer Mannschaft immer nur einen oder zwei spielen lassen könne –, keine Massen und überhaupt sollten die Flüchtlinge doch gerecht zwischen den Staaten aufgeteilt werden, sodass es gar nicht nötig sei, massenweise Menschen aufzunehmen. Einen großen Raum nimmt – neben der Bewertung der Flüchtenden vor dem Hintergrund der Sicherheit, Kultur und Ökonomie  – die einordnende

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Bewertung der Politik als handelnde Instanz ein. Da die Beurteilung der politischen Maßnahmen rund um Geflüchtete und Migrierte einen zusätzlichen Einblick in die Deutungsrahmen der jungen Menschen zum Thema Fremde in der Gesellschaft ermöglicht, wird dies vorwiegend hier und im Kapitel über die Politikwahrnehmungen nur am Rande behandelt. Auffällig ist zunächst, dass – obwohl Politik kaum eine zentrale Rolle für die Befragten einnimmt 89 – im Rahmen der Flüchtlingskrise der Staat und die Politik als handelnde und auch leitende Instanzen gedacht wurden. Das heißt, für die Befragten ist es vornehmlich und beinahe ausschließlich der Staat, der für die Aufnahme, Versorgung und Integration der Flüchtenden und Menschen mit Migrationshintergrund verantwortlich ist. Die Rolle der (Zivil-) Gesellschaft oder gar die individuelle Verantwortlichkeit innerhalb einer »postmigrantischen Gesellschaft«90 wird von den Befragten ignoriert. In diesem Zusammenhang befürwortet auch nur ein Befragter (aus der Gruppe jener, die durch manifeste fremdenfeindliche Äußerungen hervortreten), dass mit Hilfe von Volksentscheiden über die Flüchtlingspolitik beschieden werden sollte, während die überwiegende Mehrheit der Fokusgruppenteilnehmer/-innen davon überzeugt ist, dass dieses Thema der Politik überlassen bleiben müsse. Doch die geäußerte Erwartungshaltung und die von den Befragten beobachtete Realität fallen in Bezug auf die Flüchtlingspolitik eklatant auseinander. So werde im Handeln der Politik die Plan- und Hilf losigkeit mehr als überdeutlich. Man hätte es besser wissen können und demzufolge die Versorgung der »Flüchtlingsmassen« besser planen sollen. Stattdessen habe die Politik »dilettantisch« agiert und sehenden Auges zugeschaut, wie Deutschland »überrannt« werde. Obwohl klar gewesen sei, dass in Syrien Krieg herrsche und sich die zahllosen Menschen auf den Weg gemacht hätten, wurde weder die Bevölkerung der Bundesrepublik auf diesen »Ansturm« vorbereitet noch entsprechende Strukturen aufgebaut. Infolgedessen hätten Immobilienbesitzer/-innen und Bildungsträger/-innen erbarmungslos die Notsituation des Staates ausnutzen und als Anbieter für die Bedürfnisse der Gef lüchteten hemmungslos abkassieren können, so die Narrationen der Befragten. Die Bewertung der Flüchtlingspolitik durch die jungen Menschen ist eindeutig. Nur eine Person (mit Migrationshintergrund) stellt klar, dass die Maßnahmen zwar kostenintensiv sein mögen und den Sozialstaat außergewöhnlich 89 | Vgl. hierzu 4.2. 90 | Während die Theater-Intendantin Shermin Langhoff das Adjektiv »postmigrantisch« prägte, hat Naika Foroutan den Begriff in die wissenschaftliche Debatte eingeführt. Vgl. hierzu jüngst: Naika Foroutan, Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie, Bielefeld 2018.

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belasten würden, findet die Hilfe, die die Bundesrepublik dennoch leiste, aber wichtig und richtig. Demgegenüber ist die Haltung der anderen Befragten deutlich kritischer. So sei es unverständlich, dass die Politik das Geld hier und nicht in den Herkunftsländern investiere, da doch nur so die Fluchtursachen bekämpft werden könnten und ohnehin nicht Integration das Ziel sein dürfe, sondern die Rückkehr der Asylsuchenden oberste Priorität haben müsse. Auch ist für die Befragten unverständlich, warum offenbar die Politik die ihnen so wichtige Differenzierung zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen nicht übernehme, warum sich die Klärung des Aufenthaltstitels jahrelang hinziehen könne und warum, wenn die Flüchtlinge einmal im Land seien, die Unterbringungsmaßnahmen zu dilettantisch seien und die Arbeitsaufnahme durch bürokratische Hürden erschwert würde. Dass sich mittlerweile »meritokratische Prinzipien« wie ein »roter Faden« durch die jüngsten flüchtlingspolitischen Maßnahmen zögen und die Leistungen der Asylsuchenden statt ihr Schutzbedarf im Vordergrund stehe, wie es Hannes Schamman analysiert hat91, nehmen die hier befragten jungen Menschen überhaupt nicht wahr. Neben der Kritik dieser die Legislative betreffenden Bereiche wird auch die exekutive Politik beanstandet. So seien Sportplätze und -hallen den Schulen und Vereinen weggenommen und nach der Nutzung durch die Geflüchteten und der erfolgten dezentralen Unterbringung nicht wieder rückübergeben worden. Bei einer Fahrkartenkontrolle in der Straßenbahn müsse die arme »deutsche Oma« die Schwarzfahrt teuer bezahlen, während sich die Kontrolleure mit »den Ausländern« nicht verständigen könnten und diese infolgedessen unbehelligt weiterfahren dürften. Oder, so die Erzählung in zwei Gruppen, es seien kleine Dörfer mit Massenunterkünften »überschwemmt« worden, sodass der sich so entwickelnde »Hass« mehr als verständlich sei. Aus Sicht der Befragten hätte die bundesrepublikanische Gesellschaft, also sie selbst, die Konsequenzen dieses politischen Dilettantismus zu tragen. So führe der – so eine Interpretation in einer frei rekrutierten Jugendgruppe  – verstärkte Zuzug von Gef lüchteten auf dem ohnehin schon angespannten Immobilienmarkt zu einer zusätzlichen Verteuerung vormals bezahlbaren Wohnraums. Oder ein Arbeitssuchender beklagt sich, dass seine Betreuerin nunmehr nicht mehr für ihn, sondern für Migranten zuständig sei, sich um ihn  – so die Botschaft  – niemand mehr kümmere. Durch die Fehler der Politik in der Flüchtlingskrise komme es, so die Perspektive vieler Befragten, zu einer überbordenden Belastung des Sozialstaates. So wird beispielsweise behauptet, dass eigene Schulen für Migranten eröffnet würden, damit ihnen in ihrer Heimatsprache Unterricht erteilt 91 | Hannes Schammann, Eine meritokratische Wende? Arbeit und Leistung als neue Strukturprinzipien der deutschen Flüchtlingspolitik, in: Sozialer Fortschritt H. 66/2017, S. 741-755, hier vor allem S. 755.

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werden könne, und im Vergleich dazu das deutsche Schulsystem chronisch unterfinanziert sei. Während die Politik in der Bundesrepublik in der Bewertung der Befragten offenbar alles falsch mache, was falsch zu machen sei, wird in einigen Fokusgruppen die Behauptung aufgestellt, dass andere Länder eine funktionalere Flüchtlingspolitik praktizierten. In Kanada, so eine Befragte, müsse man erst das Land kennen, sowie die Sprache lernen und sich »eingliedern«, bevor man als Migrationskandidat infrage komme. In eine ähnliche Richtung geht auch die Bewertung der Flüchtlingspolitik der meisten Befragten: Man dürfe nicht alle nach Deutschland lassen, sondern müsse ähnlich planvoll wie in den USA vorgehen, die – wie es eine Teilnehmerin erzählte – somalischen Flüchtlingen einen Flug bezahlte, Kindern einen Schulplatz, den Eltern eine Arbeitsstelle und der Familie eine feste Wohnung zuweise. Den Geflüchteten werden Ressourcen für die Eingliederung zur Verfügung gestellt, die diese im Erfolgsfall auch wieder zurückzahlen müssten. Sie belasteten demzufolge das Aufnahmeland nicht, auch weil ihnen in dieser Logik problemlos bei Versagen die dauerhafte Aufnahme verwehrt werden könne. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch das Begründungsnarrativ, das sich sowohl Befragte aus Ost- als auch Westdeutschland für die Flüchtlingspolitik der offenen Grenzen zugelegt haben: Die Politiker hätten keinesfalls aus humanitären Gründen agiert, sondern ausschließlich aus der historischen Verantwortung heraus, die hier als »Belastung« und »Phase« gedeutet wird, der man sich gegenwärtig keinesfalls mehr zu schämen habe oder die als Rechtfertigung herhalten dürfe. Seit der Flüchtlingskrise wird oftmals von einer tiefen Spaltung des Meinungsklimas oder gar der Gesellschaft gesprochen, die sich in dem Ausdruck der »Willkommenskultur« manifestiere.92 Während die einen Verständnis und Mitleid äußern, die Geflüchteten freundlich empfangen haben, verbinden die andere überwiegend Ängste und Probleme mit den Fremden. Demgegenüber finden sich in der Analyse der Fokusgruppen die Muster von Verständnis und Mitleid eher selten. So äußern beispielsweise beinahe ausschließlich Befragte mit Migrationshintergrund oder jene, die ein Ehrenamt ausüben, dezidiert Mitleid mit all jenen, die vor Leid und Krieg fliehen, um in Deutschland Hilfe und Schutz zu suchen. Lediglich eine Befragte aus einer frei rekrutierten Jugendgruppe in Dresden missbilligt genau diesen Umstand. Sie beobachte eine »Entmenschlichung«, die sich allein in dem Wort 92 | Vgl. exempl. Sigrid Graumann, Überlegungen zu einer ethisch vertretbaren Flüchtlingspolitik, in: Gerhard K. Schäfer u.a. (Hg.), Geflüchtete in Deutschland. Ansichten – Allianzen – Anstöße, Göttingen 2016, S. 64-77; Michael Haller, Die »Flüchtlingskrise« in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information, Studie der Otto-Brenner-Stiftung, Frankfurt a.M. 2017, hier insbesondere S. 103.

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Flüchtling zeige und beklagt einen allgemeinen gesellschaftlichen Verlust der Empathie. Deutlich wird, dass Menschenrechte und Humanität weder begrifflich noch in Umschreibungen im Erfahrungshaushalt der in dieser Studie befragten jungen Menschen präsent sind. Von Humanität spricht keiner der 88 Befragten, werden die Vokabeln der Menschlichkeit und Zwischenmenschlichkeit verwendet, beziehen sie sich nie auf Flüchtlinge oder Asylsuchende, sondern immer auf den Wunsch nach der Schaffung oder Absicherung eines eigenen harmonischen Nahbereiches, in dem sich die Menschen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft im Alltag untereinander freundlicher und aufmerksamer begegnen könnten.93 Auch Verständnis für die Situation der Fliehenden beziehungsweise für die Fluchtursachen wird überwiegend in den frei rekrutierten Jugendgruppen beziehungsweise bei den als unbekümmert rekrutierten Befragten, kaum jedoch bei jenen, die als beunruhigte Studienteilnehmer/-innen ausgewählt wurden, geäußert. Lediglich eine weibliche Befragte äußert beispielsweise Verständnis dafür, dass Menschen, für die es zu Hause »scheiße« ist, sich auf den Weg machen und sich ein besseres Leben in einem neuen Land auf bauen möchten. Und ein anderer Befragter aus einer westdeutschen Fokusgruppe sprach davon, dass jeder – unabhängig davon, wo er geboren sei – ein Recht darauf habe, menschenwürdig zu leben. Angesichts dieser vereinzelten Äußerungen ist es nur konsequent, dass lediglich zwei weibliche Befragte (aus Ostdeutschland) angaben, in der Flüchtlingshilfe aktiv zu sein. Während Nächstenliebe wenig bis kaum thematisiert wurde, fanden sich Berichte über gelungene Integrationsprozesse in den Aussagen der von uns befragten jungen Menschen etwas häufiger. Jedoch bewegen sich auch diese innerhalb der oben bereits angedeuteten Spannungsfelder Assimilation und ökonomische Anerkennung. So berichtet eine Befragte von ihrer ehemaligen Mathelehrerin, die Nachhilfeunterricht erteile und in diesem Zusammenhang auf motivierte Migranten und unmotivierte Deutsche gleichermaßen treffe. Da wird von »fleißigen« Arbeitskollegen mit Migrationshintergrund erzählt, oder von Familien, die sich im Heimatdorf prima integriert hätten. Ein Heimtechniker gibt seine Erfahrung wieder, dass die »Ausländer« einen »nie wegließen«, ohne Gebäck und eine Tasse Tee angeboten zu haben, während die Deutschen noch nicht einmal bei heißestem Wetter ein Glas Leitungswasser offerierten. Auch Kontakte zu und alltägliche Begegnungen mit »netten«, »freundlichen«, »höflichen, vor allem »dankbaren« Fremden werden sporadisch geschildert.

93 | Vgl. Kapitel 3.4.

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5.2.4  Ablehnung aus der Perspektive des Sicherheitsbedürfnisses Nochmal: Mitleidsbekundungen oder Verweise auf Menschenwürde tauchen im Rahmen der Debatte über die Flüchtlingskrise sehr selten, Verständnis für die Fliehenden selten, auf und werden durch die anderen Gesprächsteilnehmer nicht aufgegriffen. Demgegenüber stehen die Ängste, die mit den Fremden verbunden werden und als »Sicherheitsaspekt« bezeichnet werden können, deutlich im Vordergrund. Diese Ängste94 beziehen sich zunächst auf die Befürchtung der Befragten, dass die Flüchtlinge dazu beitragen würden, die Gesellschaft zu verändern und auch zu spalten. In diesem Rahmen äußern auch einige Befragte großes Verständnis für jene, die sich möglicherweise davor fürchten und sich dagegen wehren wollen. Auch die Kausalitäten sind für viele Befragte klar: Weil es die Flüchtlinge in unserem Land gibt, wird sich die Gesellschaft »nach rechts« verschieben. Und überhaupt könne man die ökonomischen Bedenken gegen den Zuzug der Geflüchteten durchaus nachvollziehen, weil es doch immerhin viele gäbe, die über wenig verfügten. Wenn denn aufgrund des »Familiennachzuges und der Problematik eines unsicheren »Flüchtlingsdeals mit der Türkei« noch »mehr ins Land kommen«, würden sich die Ängste potenzieren, so die Erzählung der Befragten. Zygmunt Bauman hat dieses Verhältnis in seinem Essay über »Migration und Panikmache« mit den Worten Bertolt Brechts treffend beschrieben: Das massive und plötzliche Erscheinen des Fremden auf der Straße ist weder von uns verursacht worden noch stehe es unter unserer Kontrolle, eben deshalb würden die ständig neu eintreffenden Immigrant/-innen als »Boten des Unglücks« empfunden, die den »Zusammenbruch der Ordnung«, die »ihre Bindungskraft verloren hat«, verkörperten.95 Während sich die befragten jungen Menschen also in der individuellen Rechtfertigung von dem Neid-Argument fernhalten, führen sie es quasi durch die Hintertür wieder in die Debatte ein, indem sie es externalisierend »der Gesellschaft« beziehungsweise den Anderen zuschreiben, und hierfür Verständnis äußern. Diese Einstellung erklärt, warum in der handlungspraktischen Konsequenz (nicht nur in den Gruppen, sondern auch in realen gesellschaftlichen Zusammenhängen) der Widerstand gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit so gering ausfällt, warum Verachtung und Stereotypisierung hingenommen werden. Viel radikaler schienen die hier befragten jungen Menschen in der Mehrheit in Rahmen alltäglicher Diskussions- und Handlungszusammenhänge jedoch nicht zu werden, weiter scheinen sie nicht gehen zu wollen. Sie fürchten sich zwar vor einer 94 | Vgl. dazu ausführlich Kapitel 5.4. Daher soll hier die Problematik nur im Rahmen des »Sicherheitsaspektes« andiskutiert werden. 95 | Zygmunt Bauman, Die Angst vor den Anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, Frankfurt a.M. 2016, S. 20.

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gesellschaftlichen Polarisierung und entschuldigen die Ressentiments ihrer Mitbürger/-innen, wären demzufolge auch nicht überrascht, wenn es irgendwann »knallt« in Deutschland, lehnen jedoch Gewalt gegen Geflüchtete und auch Gewaltlegitimationen dezidiert ab. Neben diesen diffuseren Ängsten hinsichtlich der die Gesellschaft betreffenden Veränderungen steht der »Sicherheitsaspekt« auch für ein eindeutigeres Bedrohungsgefühl, das die Befragten in den Fokusgruppen schildern. Wenn also zwanzig männliche Flüchtlinge im »Treppenhaus rumlungern«, traue sich dort niemand mehr rein, Sicherheitskräfte müssten Bahnhöfe und öffentliche Plätze vor den kriminellen Handlungen der Migranten beschützen und seitdem viele Flüchtlingsfamilien im Mehrfamilienhaus einer Befragten lebten, fühle sie sich nicht mehr wohl, ihre Tochter allein mit dem Fahrstuhl fahren zu lassen. Auffällig sind in diesem Zusammenhang zahlreiche Berichte über sexuelle Belästigung, Beinahe-Übergriffe oder sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Diese Erzählungen finden sich sowohl in den frei rekrutierten Jugendgruppen als auch bei den als unbekümmert oder beunruhigt ausgewählten Gesprächspartner/-innen, sie werden durch Männer und Frauen verbalisiert, unabhängig von sozioökonomischen Merkmalen oder Parteineigung. Sexuelle Belästigungen in Form des »Hinterherlaufens« oder anzüglicher Bemerkungen sowie »penetrantes Glotzen am helllichten Tag« werden oftmals aus dem eigenen Erleben geschildert, während Berichte über sexualisierte Gewalt fast immer ausschließlich der Kategorie Hörensagen zugeordnet werden können. Der Sicherheitsaspekt wird demzufolge stark über die Unversehrtheit der »deutschen Frau« gedacht und in Erzählungen, die stereotyp überzeichnet wirken, verpackt. In diesem Zusammenhang wird oftmals äußerst unkritisch die Rolle der Frau als Opfer »der Ausländer« aufgrund ihrer Weiblichkeit verhandelt. Biologische Differenzen und normierende Geschlechterbilder werden unter der jungen Generation unkritisch übernommen und tradiert. Es ist immer die Frau oder das junge Mädchen, das als prädestiniertes Opfer gilt, und Schutz bedarf, mithin nicht in der Lage ist, selbstständig auf das vermeintliche »Anstarren« zu reagieren. Es sind auch immer die jungen, gutaussehenden und in einer weiteren Steigerung: blonden Frauen (»Blond ist für ›die‹ ein Juwel!«), die als typisches Opfer »der Ausländer« gezeichnet werden. Es wird also eine Erzählung tradiert, in der Frauen in die Opferrolle gedrängt oder zu diesen gemacht werden – also eine Viktimisierung der Frau.

5.2.5 Ablehnung aus kultureller Perspektive – der Fokus auf »den Islam« Schließlich ist für den Bewertungshintergrund der Befragten für den Fremden der kulturelle Aspekt von zentraler Bedeutung. Im Folgenden wird dieser mit »dem Islam« zusammen dargestellt, weil dieser Konnex auch bei unseren Ge-

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sprächspartnern und -partnerinnen über alle Fokusgruppen hinweg intensiv hergestellt worden ist. Neben der oben geschilderten Differenz zwischen den Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen gibt es im Deutungsrahmen der jungen Menschen offenbar eine Zwei-Klassen-Ausländer/-innengesellschaft. Es gibt die »Guten« und die »Schlechten«, die nicht nur hinsichtlich der ökonomischen Position, sondern auch hinsichtlich ihrer Herkunftsregion klassifiziert werden, also Menschen aus islamisch geprägten Ländern, und solche aus quasi islamfernen Regionen. Im Grunde ist diese Zerlegung der Flüchtlinge in einerseits die, die beispielsweise aus Bosnien kommen und »sich ganz anders verhalten«, und andererseits in die »syrischen oder afrikanischen… Wesen« und deren imaginierte kulturelle Differenz, eng mit der oben bereits beschrieben Forderung nach gesellschaftlicher Assimilation verknüpft. Sie nimmt im Bewertungsmaßstab der Befragten jedoch einen solch großen Raum ein und ist darüber hinaus ebenso für Pegida und insofern für die Frage, inwiefern die Bewegung und ihre Frames die Jugend prägen, relevant, sodass hier eine separate Darstellung erforderlich scheint.96 Grundsätzlich wird der Islam bei allen Befragten problematisiert. Hinzu kommt, dass sie kaum über Wissen über die Religion und die mit ihr verbundenen Praktiken oder gar unterschiedlichen Strömungen verfügen, woraus sich ein eindimensionales statt ausdifferenziertes Meinungsbild ergibt. Das ist umso relevanter, da die Strömungen und Auslegungen der Religion und ihre kulturelle Verortung derart heterogen sind, dass Pauschalisierungen lediglich in die Irre führen. Jene hier beobachteten vereinfachten Annahmen und das simplifizierende Halbwissen bildet offenbar die Grundlage für Vorurteile und Ressentiments. Die Problematisierung des Islams erfolgt zunächst über die Postulierung einer kulturellen Differenz zwischen der westlichen und islamischen Welt sowie einer damit einhergehenden kulturellen Unvereinbarkeit. Dabei wird dem Islam unterstellt, die Auflösung der Religionsfreiheit in der Bundesrepublik voranzutreiben, Gewalt und Terror zu befördern oder grundsätzlich »unmodern« zu sein, was sich insbesondere in seinem frauenverachtenden Geschlechterbild zeige. Ausführliche Auseinandersetzungen mit religiösen Formen und Praktiken spielen demzufolge kaum eine Rolle. Lediglich die Burka oder das Kopftuch als religiöse Symbole werden thematisiert. Vordergründig kommt es in diesem Zusammenhang zu billigenden Äußerungen, aber sobald das Kopftuch oder die Burka mit bestimmten Verhaltensnormen in Widerspruch geraten, wie etwa der amtlichen oder polizeilichen Identitätsfeststellungen, wird den 96 | Zur besonderen Rolle der »Islamophobie« innerhalb der Fremdenfeindlichkeit vgl. auch die Ergebnisse von: Jürgen Leibold und Steffen Kühnel. Islamophobie. Sensible Aufmerksamkeit für spannungsreiche Anzeichen, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 2, Frankfurt a.M. 2003, S. 100-119, hier S. 105.

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Muslimas die Berechtigung zum Tragen der Verschleierung aberkannt. Religion, auch der Islam, gehört für die Befragten ausschließlich in den privaten Bereich. Insbesondere mit dem Verweis auf die Religionsfreiheit in Deutschland, der bei vielen einen Hinweis auf die Fortschrittlichkeit der hiesigen Gesellschaft impliziert, sei es jeder und jedem gestattet, zu glauben, wie es ihr oder ihm beliebe. Sobald religiöse Praktiken und Symbole, wie beispielsweise das Minarett, Störungen im öffentlich-gesellschaftlichen Raum verursachten, habe sich die Religion immer zurückzuziehen und der imaginierten säkularisierten Gesellschaft unterzuordnen. Hier geht es dann auch immer um eine Anpassung an nationale Verhaltensweisen und Kulturtechniken, denen von den Befragten oberste Priorität eingeräumt wird. Das Wort der »Überfremdung« verwendet hingegen lediglich ein Befragter, der als einer der Vertreter der harten Ressentiments und verfestigten Weltbilder identifiziert wurde. Wenn auch kaum konkrete Vorstellungen über Praktiken von Muslimen und Muslimas bestehen, führen die befragten jungen Menschen jedoch immer die durch den Islam vorgegebene Geschlechterdifferenz, die als Beispiel für die kulturelle Unvereinbarkeit zwischen Okzident und Orient angeführt wird, ursächlich auf die Religion zurück. Im Islam sei die Rolle der Frau grundsätzlich nicht gleichberechtig, diese werde unterdrückt und als Objekt behandelt, sei Opfer von Zwangsheirat und körperlicher Gewalt. Hier sind eine Perpetuierung der Geschlechterbilder, die oben in der schwachen, deutschen, blonden Frau herausgearbeitet wurde, sowie ein Bruch zur modernen Perspektive auf die eigene Gesellschaft sichtbar. Schließlich ist die Angst vor islamisch begründeten Anschlägen durch Terrorist/-innen ein präsentes Motiv, das die Befragten mit Religion verknüpfen. Sie machen offenbar den Islam für den Terror, der sie mittlerweile nicht mehr nur im Ausland, sondern auch im Inland treffen kann, per se verantwortlich. Auch Gert Pickel und Alexander Yendell stellen in ihren Untersuchungen fest, dass sich die Ablehnung des Islams vornehmlich darauf begründe, dass er als genuine Bedrohung wahrgenommen werde.97 Für die Befragten bringt die postulierte Gefährdung der inneren Sicherheit darüber hinaus eine individuelle Freiheitseinschränkung mit sich. Die Angst vor Anschlägen und Selbstmordattentätern führe dazu, dass man sich nicht mehr »wie früher« frei und ungezwungen im öffentlichen Raum bewegen könne. Sie ist jedoch eher ein Thema in den sächsischen Fokusgruppen, während nur in einer als unbekümmert rekrutierten Gruppe in Westdeutschland dieser Zusammenhang hergestellt wurde. Neben der Verhandlung des islamisch basierten Terrors ist die verbalisierte Relativierung – also, dass der Islam nicht umstandslos zu Terror 97 |  Vgl. Gert Pickel und Alexander Yendell, Islam als Bedrohung? Beschreibung und Erklärung von Einstellungen zum Islam im Ländervergleich, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft H. 10/2016 3-4, S. 273-309, hier S. 288.

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führe – ein völlig singuläres Muster. Indes wird die Angst vor Terror und Gefährdung der persönlichen Unversehrtheit auch von jenen aufgegriffen, die sich nicht über den Islam äußern, sondern lediglich über Flüchtlinge und Ausländer im Allgemeinen sprechen. Hier sind es dann eher die als beunruhigt rekrutierten und weniger die als unbekümmert ausgewählten Gesprächspartner/-innen, die Sorgen vor in der Flüchtlingskrise unrechtmäßig eingereisten Terrorist/-innen artikulieren. Während die diffuse Angst vor islamischen Terrorist/-innen präsenter ist, wird die Angst vor dem politischen Islam deutlich seltener geäußert, und klargestellt, dass der Islamische Staat und der »Hass«, der »dort versprüht wird«, nichts mit dem Islam an sich zu tun hätten. Während Zukunftsvisionen von den Befragten98 recht spärlich geäußert werden, ist demgegenüber die Befürchtung einer zukünftigen gesellschaftlichen Veränderung durch den imaginierten Einfluss des Islams auf hiesige kulturelle Praktiken immens. So ist beispielsweise ein Gesprächspartner aus einer frei rekrutierten Jugendgruppe der Meinung, dass in Leipzig ein »Volksaufstand« angezettelt werde, wenn in der Stadt regelmäßig der Gebetsruf der Muezzins zu hören wäre. Die Freistellung muslimischer Kinder vom Schwimmunterricht, die Umbenennung des Weihnachts- in Wintermarkt oder des St. Martins- in Lichterfest und die kopftuchtragende Lehrerin stehen dabei symbolisch für den Beginn des mutmaßlich großen kulturellen Wandels. Diese dichotome Konstruktion einer Inkompatibilität zwischen der »westlichen Welt« auf der einen und dem »islamischen Kulturkreis« auf der anderen Seite knüpft mit den Kreuzzügen an weit zurückliegende historische Ursprünge an und »reaktiviert und revitalisiert Stereotype, die sich tief im kollektiven Bewusstsein verankert haben«.99 Während die Befragten von Migrant/-innen aus nichtmuslimischen Regionen ausgehend eher wenige Veränderungen befürchten, gehen aus der Perspektive der jungen Menschen zahlreiche negative gesellschaftliche Tendenzen auf das Konto des Islam. Dabei wird jedoch keinesfalls plump argumentiert, sondern eher die Ängste auf andere Träger projiziert, für die dann wiederum aus den unterschiedlichsten Gründen Verständnis geäußert wird. Es sind also eher die verbalisierten Ängste der anderen und weniger die eigenen Ängste, die in der gesellschaftspolitischen Debatte bedient würden: »Und zweitens auch finde ich, dass die Medien auch zu wenig davon berichten, dass wenn jetzt direkt Flüchtlinge kriminell geworden sind, was ja ziemlich oft eine Sorge von Menschen ist, dass da irgendwie gehandelt wird. […] Aber es kommt halt auch zu wenig

98 | Vgl. Kapitel 3.2. 99 | Vgl. Achim Bühl, Islamfeindlichkeit in Deutschland: Ursprünge, Akteure, Stereotype, Hamburg 2010, S. 15 und S. 135.

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P egida -Effekte? davon zum Ausdruck, was halt auch ja die Meinung der Leute ziemlich nach rechts schieben könnte, was ich auch dann im Nachhinein auch nachvollziehen kann.«

Dieses Muster ermöglicht den Befragten, sich selbst indirekt nicht als schwache gesellschaftliche Individuen zu stigmatisieren, sondern ihr Selbstbild über ihre starke und autonome Rolle aufrecht zu erhalten. Angesichts dieser Befunde muss konstatiert werden, dass auch für unsere Befragten gilt, was Heiner Bielefeldt in einer Untersuchung über das Islambild in Deutschland im Jahr 2010 festgestellt hat, nämlich, dass hier »zahlreiche Menschen leben, die sich als Muslime verstehen und gleichzeitig zu freiheitlichen Verfassungsprinzipien bekennen und ein solches Bekenntnis mit völliger Selbstverständlichkeit auch lebenspraktisch realisieren, wird durch die leitende Vorstellung eines ›eigentlich‹ antiliberalen Islam aus dem Zentrum der Wahrnehmung abgedrängt. Diese Semantik der ›Eigentlichkeit‹ im Diskurs über den Islam stellt ein Haupthindernis für die differenzierte Wahrnehmung des Islam und der Muslime dar. Sie sorgt jedenfalls dafür, dass Differenzierungen, sofern sie vorgenommen werden, oft abstrakt und folgenlos bleiben, als seien sie letztlich ohne Belang.«100

Sind die hier befragten jungen Menschen also mehrheitlich »islamfeindlich«? Trotz einer intensiven Forschung zu diesem Bereich seit Beginn des neuen Jahrtausends werden die Islam-Bindestrich-Wörter immer noch uneinheitlich verwendet. Neben der »Muslimfeindlichkeit« finden sich Begriffe wie »Islamophobie«, »Antimuslimismus«, »Muslimabwertung«, oder eben die »Islamfeindlichkeit«, aber auch »antimuslimischer« oder »antiislamischer Rassismus«. Auch changiert ihre Relevanz in der Debatte. »Muslimabwertung« spielt eher eine marginale Rolle und auch »Islamophobie« wird nur noch in wenigen aktuellen Studien verwendet. Hier hat sich jüngst mehrheitlich die Argumentation durchgesetzt, dass diese Begrifflichkeit einerseits die Ablehnung durch die vordergründige Thematisierung der Feindlichkeit als Angst pathologisiere und somit verharmlose101 und andererseits die »Islamophobie« als Kampfbegriff ins Feld geführt werde, mit dem jegliche Kritik am Islam verunmöglicht werden soll. Schließlich sei es gerade ein Signum offener und moderner Gesellschaften, dass (Islam-)Kritik möglich sein und gegenüber einer (Islam-)Feindlichkeit

100 |  Vgl. Heiner Bielefeldt, Das Islambild in Deutschland, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, 2. akt. und erw. Auflage, Wiesbaden 2010, S. 173-206, hier S. 176. 101 | Vgl. hierzu: Michail Logvinov, Muslim- und Islamfeindlichkeit in Deutschland, Wiesbaden 2017, S. 9; ähnlich auch: Thorsten Gerald Schneiders, Wegbereiter der modernen Islamfeindlichkeit, Wiesbaden 2015.

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klar abgegrenzt werden sollte.102 So fand auch der sich auf den Menschen fokussierende Begriff der »Muslimfeindlichkeit« Eingang in die Debatte. »Muslimfeindlichkeit« betone die menschenrechtliche Perspektive – also den Anspruch auf Würde, Freiheit und Gleichberechtigung – und stehe somit für den Schutz der Religionsfreiheit und nicht den Schutz der Religion.103 Demgegenüber argumentiert Schneiders, dass man keinesfalls den Islam ablehnen könne, ohne gleichzeitig allen Muslimen gegenüber feindlich eingestellt zu sein. Daher eigneten sich die auf die Muslime fokussierten Begrifflichkeiten nicht, da gerade die »Islamfeindlichkeit« die »Instrumentalisierung von undifferenzierter Kritik an der Religion des Islam und deren Anhängern zum Zwecke der Verfolgung eigener, oftmals ideologischer Interessen« offenbare.104 Logvinov hingegen stellt auf Basis der Arbeiten von Kurt Möller unterschiedliche Grade von Ablehnung zwischen den einzelnen Begriffen fest und definiert »Muslimfeindlichkeit« als härteste Orientierung, mit der ausgedrückt werde, dass in einem ersten Schritt die Muslime als Träger universeller Menschenrechte abgelehnt und erst in einer daraus folgenden Orientierung Praktiken und Symbole des Islam zurückgewiesen würden. »Muslimabwertung« ist dann die »pauschalisierende Abwertungskonstruktion hinsichtlich der Ungleichwertigkeit von Muslimen«, die sowohl kulturalistisch als auch biologisch-rassistisch begründet werden könne. Und schließlich ist die »Islamfeindlichkeit« die Ablehnung eines kulturrelevanten Wertekanons mit pauschal zugeschriebenen Eigenschaften wie beispielsweise Expansionsdrang oder Gewaltlegitimation.105 Insofern stellt auch Bielefeldt fest, dass es zu viele Begriffsdifferenzierungen gäbe, die aber oft »eigentümlich folgenlos bleiben. Allem Anschein nach gibt es […] eine Diskrepanz zwischen mittlerweile weithin bekannten und akzeptierten theoretischen Differenzierungen und einer praktischen Irrelevanz solcher Differenzierungen für die generellen Einstellungen gegenüber dem Islam.«106 102 | Vgl. Erhart Körting u.a., Was ist zu tun? Deutschland zwischen islamistischem Extremismus und Islamfeindlichkeit. Fortschreibung der Handlungsempfehlungen einer FES-Kommission, Berlin 2017, S. 32. 103 | Vgl. Heiner Bielefeldt, Muslimfeindlichkeit, Ausgrenzungsmuster und ihre Überwindung, in: Muslimfeindlichkeit – Phänomen und Gegenstrategien, Beiträge der Fachtagung der Deutschen Islam-Konferenz am 4. und 5. Dezember 2012 in Berlin, Berlin 2013, S. 23-34, hier S. 23-25. 104 | Vgl. Thorsten Gerald Schneiders, Wegbereiter der modernen Islamfeindlichkeit, Wiesbaden 2015, S. 10. 105 | Vgl. Michail Logvinov, Muslim- und Islamfeindlichkeit in Deutschland. Wiesbaden: 2017, S. 7-9. 106 | Vgl. Heiner Bielefeldt, Das Islambild in Deutschland, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. 2., akt. und erw. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 173-206, hier S. 176.

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Indes: All diese Begriffsdifferenzierungen mögen auf der theoretischen Ebene ihre Berechtigung haben und machen auf den relevanten Umstand aufmerksam, dass die feindliche und abwertende Haltung gegenüber Muslimen oder dem Islam unterschiedliche Ursachen und Ausprägungen haben kann. In den hier beobachteten Debatten, die die alltäglichen Verhandlungen der Fremden durch die Befragten reflektieren, machen diese Variationen jedoch kaum einen Unterschied. Im Diskurs ist es zunächst irrelevant, ob die geäußerten Stereotype und Verallgemeinerungen einen essentialistischen, konkurrenzbasierten, realitätsverweigernden oder willkürlichen Hintergrund haben. Sobald sie unwidersprochen bleiben, an tradierte und somit verfestigte Denkfiguren (wie die Leistungsgesellschaft, die vermeintlich kulturelle Unvereinbarkeit zwischen Orient und Okzident, das Bedürfnis nach Statussicherheit und gemeinschaftlicher Harmonie) andockfähig sind, beginnen sie ihre Relevanz zu entfalten und werden mithin handlungsleitend. Schließlich ist die Suche nach Abgrenzung, die der Intoleranz und Ausgrenzung vorausgeht, mithin in vielen der hier eingefangenen Äußerungen präsent. Insofern wird diese sich auf den Islam und die Muslime beziehende spezifische Konstruktion des Fremden, die gerade bei den hier befragten jungen Menschen auch immer eine Suche nach der eigenen Wir-Gruppe ausdrückt, als Islamfeindlichkeit beziehungsweise Fremdenfeindlichkeit verhandelt. Im Rahmen einer durch die Bertelsmann-Stiftung finanzierten repräsentativen Erhebung wurde im Jahr 2015 festgestellt, dass sich beinahe jeder zweite Befragte »durch Muslime wie ein Fremder im eigenen Land« fühle.107 Hartmut Rosa hat zurecht darauf hingewiesen, dass die Frage offen für Interpretationen sei, da nicht eindeutig klar sei, ob die Muslime im Fokus stünden oder ob es um das Gefühl der Fremde und Entfremdung gehe. Da die Zustimmung zur Frage in solchen Gebieten am höchsten sei, wo die geringste Quote an Muslimen zu verzeichnen sei, hält Rosa die Muslime lediglich für eine »willkommenen Projektionsfläche« für die Befragten, die eigentlich an spezifischen in der Moderne erlittenen Entfremdungserfahrungen, auch »Resonanzverlusten«, leiden, die sich eher auf die perforierte Beziehung zwischen Regierten und Regierenden, also ein »Verstummen repräsentativdemokratischer Politik«, beziehen können und weniger ursächlich dem Islam zuzurechnen seien.108 In eine ähnliche Stoßrichtung argumentiert Naime Çakir. Sie sieht seit den 1980er Jahren eine zunehmende Ethnisierung der gesellschaftlichen Konflikte und erklärt diese mit einem »Bedarf an Ungleichheit«, da der Zugang zu natürlich knappen Gütern bestimmten Bevölkerungsgruppen streitig ge107 | Vgl. Kai Hafez und Sabrina Schmidt, Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland. 2. Aufl., Gütersloh 2015, S. 8. 108 |  Vgl. Hartmut Rosa, Fremd im eigenen Land?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.04.2015.

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macht werden müsse, um selbst das Gefühl zu erlangen, dass einem genug bleibe.109 Den Umstand, dass der Fremde vordergründig nicht mehr über die Nationalität, sondern einer »ethnisch-verstandenen Religionszugehörigkeit« gedacht werde, bezeichnet Çakir mit Oliver Roy als »Neo-Ethnizität«.110 Die dafür notwendige Konstruktion einer globalen muslimischen Identität gelinge, weil der Islam vom jeweiligen Herkunftsland abgekoppelt und auf transnationale und universelle Merkmale fixiert werde.111 Interessant ist der von Çakir festgehaltene Umstand, dass sich diese Differenzkonstruktion und die damit implizierten Vorurteile und Ressentiments keinesfalls immer in ideologisch verfestigten Einstellungen und Haltungen zeigen müssten, sondern dass auch eine scheinbare Anerkennung der jeweiligen kulturellen Unterschiede, möglicherweise sogar eine tolerante Haltung gegenüber den fremden Muslimen mit der Klarstellung einer vermeintlichen »Unvereinbarkeit der Lebensweisen unterschiedlicher Kulturen und Ethnien«112 zusammengehen könnten. Ähnliche Muster beziehungsweise widersprüchliche Aussagen lassen sich auch in den hier durchgeführten Fokusgruppen beobachten. Während die befragten jungen Menschen einerseits im Laufe der Debatte eine tolerante Einstellung gegenüber dem Islam beziehungsweise gegenüber Muslimen formulieren, stimmen sie wenige Minuten später Stereotypisierungen und abwertenden Ungleichwertigkeitsaussagen zu, beziehungsweise fallen selbst durch geäußerte Ressentiments auf. Ebenso ist die bisher präsentierte Argumentation auf Basis der semantischen Trennung der Befragten zwischen »Flüchtlingen« und »Muslimen« fraglich. Denn nur, weil die Teilnehmenden der Fokusgruppen nicht »Islam« oder »Muslime« sagen, sondern von »Flüchtlingen« und »Ausländern« sprechen, heißt es nicht, dass für sie – insbesondere seit der Flüchtlingskrise – »der Flüchtling« nicht mit »dem Islam« zusammengedacht wird. Denn gerade die ähnliche Thematisierung »der Flüchtlinge« und »der Muslime« entlang der Aspekte Sicherheit, Ökonomie und Kultur weist darauf hin, dass der Islam im Deutungsmuster der hier befragten jungen Menschen einen großen Platzhalter innerhalb der Konstruktion der Fremdgruppen einnimmt. Eine offensichtliche Nähe zwischen der Bewegung der »Patriotischen Europäer« oder den Deutungsrahmen der hier befragten jungen Menschen bestünde dann, wenn die Begriffe »Abendland«, »Islamisierung« und »Patrioten« in dem Zusammenhang mit der Deutung von Fremden einen großen Raum einnähmen. Das »christlich-jüdische Abendland« ist zwar, wie Wolfgang Benz herausarbeitet, eine recht neue Formel, doch wurde die »Vereinnahmung des Jüdischen 109 | Vgl. Naime Çakir, Islamfeindlichkeit. Ethnisierung des Fremden am Beispiel des Islam, Bielefeld 2014, S. 131-133. 110 |  Vgl. ebd. S. 149. 111 | Vgl. ebd., S. 157. 112 | Vgl. ebd. S. 151.

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für die Abwehr des Islam« schon am Beginn des 21. Jahrhunderts geprägt.113 In unserer Untersuchung zeigt sich deutlich, dass die Vokabel des »Abendlandes« von den Befragten ausschließlich dann aufgegriffen wird, wenn sie durch die Moderation der Fokusgruppen explizit aufgefordert wurden, zu Pegida Stellung zu nehmen. »Abendland« wird eher spöttelnd und in Abgrenzung zum eigenen Denken verwendet, ist demzufolge nicht im Begriffshaushalt der jungen Menschen verankert. Ein ähnlicher Mechanismus ist im Umgang mit den Wörtern »Patrioten« oder »patriotisch« zu beobachten. Auch diese (Selbst-)Bezeichnung wird selten aufgegriffen und immer im Zusammenhang mit der Bewegung thematisiert. Die einzige Ausnahme bildet eine als beunruhigt rekrutierte Gruppe in Leipzig. Hier wurde »Patriotismus« als Empfindung behandelt, zu der man sich doch heutzutage noch bekennen können sollte. Und eine weitere als beunruhigt rekrutierte Person aus Dresden spricht dezidiert davon, dass sie den »Patriotismus« wieder positiv besetzen möchte. Hier könnte bei aller Vorsicht geschlussfolgert werden, dass das Bekenntnis zum Patriotismus vornehmlich ein Thema von jungen Menschen in Ost- denn in Westdeutschland ist und hier die Sehnsucht nach einem nationalen Zugehörigkeitsgefühl zumindest eher verbalisiert wird, möglicherweise aber auch stärker ausgeprägt ist. Demgegenüber ist die Verwendung der Bezeichnung »Islamisierung«  – und auch das ist wieder ein Hinweis auf die besondere Rolle der Religion  – nicht mehr ganz so eindeutig zu verorten. Auch diesen Begriff verwenden die meisten Befragten zwar zunächst im Zusammenhang mit Pegida oder dem Kampf dagegen als eine wesentliche Zuschreibung zum Protest. Dennoch wird im Reden über die Bewegung der »Patriotischen Europäer« mindestens ebenso klar, dass einige  – auch die frei und als unbekümmert rekrutierten Gesprächspartner – diesen Begriff mitunter übernehmen und keinesfalls immer kritisch darauf rekurrieren oder sich davon abgrenzen, wie es deutlich bei »Abendland« und etwas weniger akzentuiert im Sprechen über »Patriotismus« sichtbar ist. So nutzen beispielsweise eine in der katholischen Kirchgemeinde aktive Befragte und ein sich zur römisch-katholischen Religionsgemeinschaft bekennender Student dezidiert den Begriff der »Islamisierung«, um gesellschaftliche Veränderungsprozesse oder ihre »Betroffenheit« von Ausländern zu beschreiben. Dieser Zusammenhang zwischen Religionszugehörigkeit der Befragten und der undifferenzierten Verwendung »Islamisierung« mag zufällig sein, fällt jedoch insofern ins Auge, als lediglich 28,4 Prozent der Befragten angaben, Mitglied einer Religionsgemeinschaft zu sein. Die oben bereits zitierte Umfrage der Bertelsmann-Stiftung löste mit ihren deutlichen Befunden im Jahr 2015 eine alarmistische Stimmung aus. 113 | Vgl. Wolfgang Benz, Deutschlands Muslime im Spiegel des Antisemitismus, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Verhärtete Fronten. Der schwere Weg zu einer vernünftigen Islamkritik, Wiesbaden 2012, S. 15-23, hier S. 15.

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In den Kommentaren überschlugen sich oftmals diejenigen, die all dies der »islamfeindlichen« Bewegung der »Patriotischen Europäer« zuschreiben wollten. Die Zahlen schienen ihnen recht zu geben, da die Ablehnung gegen Muslime auf hohem Niveau von 53 Prozent im Jahr 2012 auf 57 Prozent im Jahr 2015 gestiegen sei,114 weil sie im Osten mit 66 Prozent höher ist als im Westen der Republik mit 55 Prozent, und weil die Zustimmung mit 78 Prozent zur Aussage, dass man sich »durch die Muslime fremd im eigenen Land fühle«, in Sachsen am höchsten sei, während sie in Nordrhein-Westfalen mit 46 Prozent am niedrigsten ausgeprägt sei. Dies bestätigte im Grunde die bereits vielfach zitierte Kontakthypothese, dass jene, die häufiger Kontakt zu Muslimen haben, ihnen gegenüber positiver eingestellt seien.115 Dabei ist die Ablehnung des Islam und der Muslime in Deutschland mitnichten ein erst seit 2015 bekanntes und breit diskutiertes Phänomen. Während vielfach die Behauptung aufgestellt wurde, dass die Anschläge auf das World Trade Center der Beginn einer vertieften Ablehnung des Islam gewesen sei, wurde an anderer Stelle argumentiert, dass der Islam in Deutschland seit den 1990er Jahren ein Feindbild sei, sich die Lage jedoch »fundamental« erst mit dem Anschlag auf Theo van Gogh am 2. November 2004 geändert hätte und auch die Stimmung in Deutschland in »moralische Politik« umgeschlagen und die Integrations- und Ausländerdebatte »islamisiert« worden sei.116 Demgegenüber zeigten Jürgen Leibold und Steffen Kühnel bereits früh, dass der Anschlag auf das World Trade Center keine besondere Auswirkung auf die Ausprägung der »Islamophobie« als ein Element der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hatte.117 Während die terroristischen Aktionen offenbar wenig an den individuellen Einstellungen gegenüber dem Islam änderten, scheinen die Medien einen deutlich größeren Einfluss auszuüben. Empirische Studien weisen darauf hin, dass der Islam einen großen Raum in der medialen Berichterstattung ein-

114 |  Vgl. Kai Hafez und Sabrina Schmidt, Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland. 2. Aufl., Gütersloh 2015, S. 8. 115 | Ähnlich auch in: Alexander Yendell, Muslime unerwünscht? Zur Akzeptanz des Islam und dessen Angehörigen. Ein Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland, in: Gert Pickel (Hg.), Religion und Politik im vereinigten Deutschland. Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen?, Wiesbaden 2013, S. 221-248, hier S. 245. 116 | Vgl. Michail Logvinov, Muslim- und Islamfeindlichkeit in Deutschland, Wiesbaden 2017, S. 11f. 117 |  Vgl. Jürgen Leibold und Steffen Kühnel, Islamophobie. Sensible Aufmerksamkeit für spannungsreiche Anzeichen, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 2, Frankfurt a.M. 2003, S. 100-119.

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nehme118 und Strukturmerkmale der Medienberichterstattung darauf schließen ließen, dass ein »hochgradig selektives und negativ vereinheitlichtes Islambild« vorherrsche.119 Problematisch werde es dann, wenn die Einstellung gegenüber Muslimen stark durch die negative Darstellung beeinflusst werde, worauf einige Untersuchungen hindeuten.120 Insofern mag auch die teilweise positive Rezeption des Buches von Thilo Sarrazin »Deutschland schafft sich ab« im Jahr 2010 und die sich daran anschließende – u.a. über die Medien ausgetragene – bundesrepublikanische Debatte121 als Ausdruck einer »mediopolitischen Kampagne«122 die Islamfeindlichkeit befeuert haben. Die Ablehnung des Islam in der Bundesrepublik ist demzufolge deutlich vor Pegida oder der Flüchtlingskrise ein Thema gewesen, wobei jedoch die in den quantitativen Studien gemessenen Ausprägungen der Ablehnung über den Zeitverlauf hinweg schwanken.123

5.2.6 Der schmale Grat zwischen abwertenden Ungleichwertigkeitsaussagen und harten Ressentiments – Zwischenfazit Insgesamt beobachten wir in den durchgeführten Fokusgruppen unterschiedlichen Arten der Thematisierung und abweichende Assoziationsketten im Rahmen der Konstruktion des Fremden durch die Befragten. Auch die Akzeptanz der abwertenden Diskursstrategien beziehungsweise die hypo118 | Vgl. Kai Hafez und Carola Richter, Das Islambild von ARD und ZDF, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 5H. 4/2007 26-27, S. 40-46. 119 | Vgl. Kai Hafez, Mediengesellschaft – Wissensgesellschaft?, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2010, S. 101-119. 120 | Vgl. Nadina Müller u.a., Medien und Islam – eine gefährliche Mischung?, in: Wolfgang Frindte und Nico Dietrich (Hg.), Muslime, Flüchtlinge und P egida . Sozialpsychologische und kommunikationswissenschaftliche Studien in Zeiten globaler Bedrohung, Wiesbaden 2017, S. 139-157, hier. S. 153. 121 |  Vgl. Wolfgang Frindte und Nico Dietrich, Einstellungen zum Islam und zu Muslimen I., in: Dies. (Hg.): Muslime, Flüchtlinge und P egida . Sozialpsychologische und kommunikationswissenschaftliche Studien in Zeiten globaler Bedrohungen, Wiesbaden 2017, S. 43-87, hier S. 44. 122 | Vgl. Hannah Schultes und Siegfried Jäger, Rassismus inklusive – das ökonomische Prinzip bei Thilo Sarrazin, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Verhärtete Fronten. Der schwere Weg zu einer vernünftigen Islamkritik, Wiesbaden 2012, S. 97-117, S. 110. 123 | Vgl. hierzu auch: Jürgen Leibold u.a., Mehr oder weniger erwünscht? Entwicklung und Akzeptanz von Vorurteilen gegenüber Muslimen und Juden, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), in: Deutsche Zustände, Folge 10, Frankfurt a.M. 2012, S. 177-198, hier S. 193.

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thetischen Räume für alternative, tolerantere oder abweichende Deutungen variieren von Fokusgruppe zu Fokusgruppe. So ist die Analyse hier keineswegs so zu verstehen, dass die Teilnehmer unmittelbar mit abwertenden oder fremdenfeindlichen Stereotypen herausplatzen. Ganz im Gegenteil: Es gibt diesen Reflex, dass viele zunächst formulieren, inwiefern eine multikulturelle Gesellschaft ihre Vorteile haben mag (so könne man beispielsweise in verschiedenen Restaurants essen gehen) oder auch der Islam zu Deutschland gehöre (schließlich gäbe es hier Religionsfreiheit und es könnten Moscheen errichtet werden). Doch diese vor sich hergetragene vermeintlich liberale und tolerante Haltung wird im Diskussionsverlauf rasch brüchig und durch andere Aussagen perforiert. Es ist sozusagen nur ein Statement, von dem die Teilnehmer/-innen wissen, dass es von ihnen erwartet wird – sei es in einer solchen Befragungssituation oder sei es im gesellschaftlichen Diskussionszusammenhang, den sie zunächst noch tastend erkunden müssen. Doch gerade weil – so ein zentrales Ergebnis der Analyse – die Werte der Vielfalt und Toleranz in den konkreten lebensweltlichen Erzählungen unmittelbar verblassen und Ressentiments, Pauschalisierungen, also abwertende Ungleichwertigkeitsaussagen, an ihre Stelle treten, können für die jungen Befragten Menschenwürde und Gleichwertigkeit kaum handlungsleitende oder normierende Werte sein. Im Untersuchungsdesign wurden die vier Fokusgruppen in Westdeutschland nachträglich erhoben124, um zu überprüfen, inwiefern die Ergebnisse aus den zuerst durchgeführten Gruppendiskussionen in Leipzig und Dresden eine sächsische beziehungsweise ostdeutsche Spezifik aufweisen oder möglicherweise allgemeine Aussagen über die Wirkmächtigkeit von Pegida zulässig sind. In Bezug auf die Deutung der Fremden konnten wenig konkrete Anhaltspunkte für eine dezidiert ost- oder westdeutsche Perspektive der jungen Menschen gefunden, stattdessen lediglich ein paar Auffälligkeiten festgestellt werden. Die Frage ist, ob bei all jenen beobachteten Diskussionszusammenhängen, in denen der Schleier der Bejahung einer multikulturellen Gesellschaft und Gleichwertigkeit rascher, härter und unerwarteter fällt, die Toleranz der Gesprächspartner/-innen einfach erschöpft ist (weil sie sich beispielsweise täglich in der Schule mit zahlreichen Integrationsanforderungen konfrontiert sehen, die Konflikthaftigkeit der divergierenden Lebensstile im Alltag des Mehrfamilienhauses aushalten müssen oder sich durch das wiederkehrende Ringen um staatliche Leistungen verausgabt haben) oder ob ihre Hemmschwellen und Diskursschranken für eine abwertende Sprache grundsätzlich geringer sind. Vermutlich ist es ein Zusammenspiel aus beiden Aspekten. In 124 | Diese Planung war auch einer in der Logik von akademischen Drittmittelprojekten liegenden notwendigen Begrenzung der finanziellen und zeitlichen Ressourcen geschuldet.

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den sächsischen Fokusgruppen gibt es einen deutlich größeren Raum für die Behauptung und Ausführung, dass beispielsweise der Islam nicht zu Deutschland gehöre, oder dass man sich von Menschen mit braunen Augen, dunkler Haut und schwarzen Haaren bedroht fühle. Härtere Aussagen, unmittelbare Abwertungen und geteilte Stereotype  – dafür scheint es in den sächsischen Gruppen deutlich mehr Kapazitäten zu geben. Nicht so sehr in den einzelnen Aussagen selbst, sondern vielmehr im Zusammenspiel der Gesprächspartner/-innen, in den Andeutungen oder fehlenden Relativierungen. So denken beispielsweise einige der befragten jungen Menschen in Westdeutschland den Begriff der »Flüchtlingswelle« in Anführungszeichen, wissen um die damit einhergehende Konnotation, während eine solche sprachliche Sensibilität in keiner der acht ostdeutschen Gruppen beobachtet werden konnte. Darüber hinaus ist in den hier beobachteten westdeutschen Diskurszusammenhängen mehr Raum, sich als Mitglied der islamischen Glaubensgemeinschaft zu bekennen, um darauf hinzuweisen, dass die Kämpfer des Islamischen Staates selbstverständlich die Religion völlig falsch verstünden und missbrauchten. Dennoch: Das unter den Flüchtlingen »Vergewaltiger« und »Mörder« seien, sie sich »hemmungslos besaufen« und »Frauen angrapschen« würden, überall ihren Müll hinterließen, in den Hausflur urinierten und alles mit »Füßen treten« würden, was ihnen hier »geschenkt« werde, blieben in allen zwölf Fokusgruppen ungestrafte Aussagen. Es gab keinerlei verbalisierte Sanktionen der anderen Gesprächsteilnehmer/-innen gegen abwertende Äußerungen – obwohl die Gesprächssituation dies sozial sicherlich prämiert hätte. Dies spricht eindeutig für die Wirkmächtigkeit und Relevanz der hier zusammenfassend präsentierten Bilder und Vorstellungen. In diesem Zusammenhang ist es ebenso auffällig, dass semantische Unsicherheiten rund um die Begrifflichkeit »Flüchtling«, »Ausländer« und »Migranten« beobachtet werden konnten, während im Zusammenhang mit »dem Islam« oder »den Muslimen« offenbar alles klar zu sein scheint. Daraus muss im Umkehrschluss der Befund gezogen werden, dass allein die gesellschaftliche Kontrolle der Einhaltung von Diskursregeln und Sensibilisierung für abwertende Formulierungen keine offene Gesellschaft produziert, sondern die Befolgung gesellschaftlich (noch) geteilter Muster lediglich als Tarnung der fremdenfeindlichen oder zumindest intoleranten Grundhaltung genutzt werden kann. Dabei ist das Muster gleichzeitig derart verinnerlicht, dass die deutliche Abwertung durch die Befragten kaum bis gar nicht realisiert wird. So erklären sich auch solche widersprüchlichen Behauptungen, dass man doch selbstverständlich für die Aufnahme von »echten Flüchtlingen« sei, aber es auch genauso viele gebe, die es sich hier »gemütlich« machten und »Schmarotzer« seien. Ein anderes auffälliges Muster ist das der Externalisierung, wenn es um das Problem von Fremden- und Islamfeindlichkeit geht. Es sind in vielen präsentierten Erzählungen die anderen, die rassistisch sind, sei es die ältere

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Generation (ein Muster in den westdeutschen Fokusgruppen) oder auch die ostdeutsche Gesellschaft (Äußerung von nach Sachsen Zugezogenen). Diese Entschuldung funktioniert auch im doppelten Sinne, weil sie erstens gewachsen sei, sich so in Zukunft von selbst erledigen werde (wenn die Generation weggestorben sei oder die Ostdeutschen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft aufgegangen seien) und als ein Tatbestand wahrgenommen werden, gegen den man nicht vorgehen könne, sich Engagement und ein Reden dagegen also kaum lohne. Und zweites ist diese Strategie der Fremdzuweisung durchaus funktional in dem Sinn, dass man so unmöglich Teil derjenigen sein kann, die fremden- und islamfeindlich auftreten. Die Befragten sind im Modus dieser Selbstexkulpation nicht fremdenfeindlich, sondern liberal und tolerant, was wiederum die unreflektierten und unsanktionierten abwertenden Stereotypisierungen und Assoziationsketten erklärt.

5.3 U ngl aubwürdig und manipul ativ ? 5.3.1  Das Medienbild der jungen Menschen Die »Lügenpresse« ist keine Erfindung von Pegida, sondern eine Schlagwort, mit dem unliebsame Journalist/-innen und kritische Berichterstattung diffamiert werden sollen, das spätestens seit dem Ersten Weltkrieg eine weite Verbreitung fand.125 Zunächst insbesondere in konservativen und katholischen Kreisen in Gebrauch, bedienten sich auch bald nationalsozialistische Agitatoren der anschaulichen Begrifflichkeit. Die »Lügenpresse« wurde zwar als ein »Lieblingswort von Joseph Goebbels« 126 enttarnt, ist jedoch als »bürgerliche Lügenpresse« gelegentlich auch von Sozialist/-innen oder Kommunist/-innen verwendet worden.127 Und obwohl der Kampf begriff seit dem Jahr 2015 keine Neuentwicklung darstellt, hat diese Vokabel im Fahrtwind von Pegida eine intensive öffentliche sowie alltägliche Debatte über die machtpolitischen Einflussmöglichkeiten der Medien ausgelöst. »Lügenpresse« wird dabei häufig als ein Symptom für eine Vertrauens- und Reprä-

125 |  Vgl. Rolf van Raden, Feindbild ›Lügenpresse‹, Über ein massenwirksames verschwörungstheoretisches Konstrukt, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, (2017) 2, S. 201-212, hier S. 202. 126 |  Vgl. Sonja Vogel, »Lügenpresse«, in: taz, 13.1.2015. 127 | Vgl. Alexander Michel: Von der Fabrikzeitung zum Führungsmittel. Werkzeitschriften industrieller Großunternehmen von 1890 bis 1945. Beiträge zur Unternehmensgeschichte Bd. 96; Neue Folge, Bd. 2, Steiner 1997, S. 113 und 124.

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sentationskrise128 gedeutet, da das Wort allein Misstrauen in die »etablierten Medien« subsumiere129. In diesem Zusammenhang überschlagen sich seit dem Jahr 2015 die Umfragen, die eine sinkende Glaubwürdigkeit der Medien oder eine unzulässige Verzerrung in der Berichterstattung attestieren. Eine Dimap-Umfrage stellte beispielsweise fest, dass bereits 42 Prozent der Befragten Medien für unglaubwürdig halten und 37 Prozent davon ausgehen, dass in letzter Zeit das Vertrauen in die Medien insgesamt gesunken sei.130 Auch eine Allensbach-Umfrage deutet darauf hin, dass 39 Prozent der Befragten den Medien unterstellen, Sachverhalten zu verdrehen und Tatsachen zu verheimlichen, also der Meinung sind, am Pegida-Vorwurf der »Lügenpresse« könnte etwas dran sein.131 Im Osten der Republik fanden das sogar 44 Prozent der Befragten. Die dezidierte Kritik an der Berichterstattung von Presse, Rundfunk und Fernsehen war ein zentrales Antriebsmoment der Dresdner Pegida-Demonstrierenden gewesen. Dabei bezogen sich die Vorwürfe auf wissentliche Falschmeldungen und gar Fälschungen, die fehlende Unabhängigkeit sowie die mangelnde Kontextualisierung der präsentierten Informationen. Für die Pegida-Anhänger/-innen repräsentieren die »Mainstreammedien« einen wiederkehrenden »Einheitsbrei«, dem es mit »alternativen Angeboten« wie Compact, Junge Freiheit oder Politically Incorrect zu entkommen gelte.132 Demgegenüber schätzen die von uns untersuchten NoPegida-Anhänger/-innen die für politische Willensbildungsprozesse und öffentliche Diskurse unerlässliche Funktion der Medien. Aus Perspektive der Pegida-Gegner und -Gegnerinnen nehmen die Medien eine vermittelnde Rolle im doppelten Sinne ein: Sie informieren, klären auf, tragen zur Meinungsbildung bei und sie sorgen zwischen oppositionellen Parteien für Verständigung und Ausgleich. Die Befragten NoPegida-Akteur/-innen schätzen dabei vor allem die Süddeutsche Zeitung, die taz oder die Zeit. Kritik üben sie jedoch  – insbesondere gegenüber lokalen und landesweiten Medien  – an der breiten Aufmerksamkeit für die 128 | Vgl. Uwe Krüger und Jens Seiffert-Brockmann, »Lügenpresse« – Eine Verschwörungstheorie? Hintergründe, Ursachen, Auswege, in: Hektor Haarkötter und Jörg-Uwe Nieland (Hg.), Nachrichten und Aufklärung. Medien- und Journalismuskritik heute: 20 Jahre Initiative Nachrichtenaufklärung, Wiesbaden 2018, S. 76-87. 129 | Vgl. Nora Denner und Christina Peter, Der Begriff Lügenpresse in deutschen Tageszeitungen, Eine Framing-Analyse, in: Publizistik, 62 (2017) 3, 273-297. 130 |  Infratest Dimap, Glaubwürdigkeit der Medien, online einsehbar unter https://www. infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/glaubwuer digkeit-der-medien/ (eingesehen am 23.01.2018). 131 | Renate Köcher, Mehrheit fühlt sich über Flüchtlinge einseitig informiert, Allensbach-Studie, in: Frankfurter Vgl. Allgemeine Zeitung, 16.12.2015. 132 | Vgl. Lars Geiges u.a., P egida , S. 100-106.

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Dresdner Patriot/-innen und die verkürzte Darstellung ihrer eigenen Aktionen und Positionen. Die von den NoPegida-Anhängerinnen und -Anhängern vorgetragenen Bemerkungen über die Medien waren jedoch in der Mehrzahl differenziert und sachlich. Überdies verwiesen sie in der Argumentation stets auf die Selbstregulierungskräfte der Medien, vertrauen demzufolge auf ein intaktes System, das tendenziöse Formate, fehlerhafte Artikel oder gegen das Berufsethos verstoßendes Verhalten sanktioniere.133 Auch bei den hier befragten jungen Menschen spielen Medien eine Rolle. Es fällt zunächst auf, dass es ihnen deutlich leichter fällt, sich über Medien und die gesellschaftspolitische Rolle des Journalismus zu äußern, als über Politik zu sprechen. Außerdem können sie sich über Medien austauschen, ohne zuvörderst in eine kritische Haltung zu verfallen. Dabei spielen die Mediennutzung oder bestimmte Formate eine Rolle, wobei die explizite Thematisierung durch die Befragten von Unterhaltungsmedien wie beispielsweise YouTube oder Sendungen, die man jüngst gesehen hat, im Vorfeld der Erhebung deutlich stärker erwartet worden war. Lediglich Jan Böhmermann, der im Rahmen der Erhebung visualisiert wurde und dem durch sein Schmähgedicht auf den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan im Erhebungszeitraum eine große öffentliche Wahrnehmung zuteilwurde, griffen die Befragten positiv auf. Nur die als Beunruhigte rekrutierten Gesprächspartner/-innen bezogen sich nicht auf den Satiriker. Böhmermann wurde vor allem von den als unbekümmert ausgewählten Befragten als kritischer Kopf interpretiert, der sich weder einschüchtern noch einschränken lasse. Grundsätzlich sind Medien ein wichtiger Bezugspunkt der Befragten, die es insgesamt auch als ihre Bürgerpflicht begreifen, sich mit Hilfe von Fernsehen, Zeitung und Rundfunk zu informieren und sich eine eigene Meinung zu bilden. Dass die Medien indes aktiv die Meinungsbildung der Bevölkerung unterstützten, gegebenenfalls sogar durch Vorgaben von Meinungen, also durch Kommentare, Glossen, oder Leitartikel prägen, erwartet nur eine Minderheit der Befragten. Berichte, seriöse Aufklärung und Quellenrecherche, mithin Informationen, die die individuelle, eigenständige Meinungsbildung sekundieren, wünscht hingegen die Mehrzahl. Auffällig ist, dass die Selbstverpflichtung zum Medienkonsum implizit an jene einen geringschätzigen Vorwurf enthält, die dieser Anforderung nicht nachkommen. Es reiche demzufolge nicht, um im Beispiel eines Befragten zu bleiben, nur »Bauer sucht Frau« zu schauen, sondern es müsse sich vielseitig und umfassend informiert werden, notfalls – so der Tenor einer Befragten  – insbesondere mit englischsprachigen Medien, da zentrale Informationen, die man im Original zur Kenntnis nehmen müsse, überwiegend im angloamerikanischen Sprachraum produziert würden. Doch das könnten 133 | Vgl. Stine Marg u.a., NoPegida, S. 119-123.

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oder wollten viele nicht. Somit fehlten ihnen Informationen aus erster Hand und ernsthafte Beurteilungsmaßstäbe. Ein ähnliches Muster konnte auch bei den NoPegida-Anhänger/-innen beobachtet werden, die die Nichtinformierten jedoch unmittelbar im gegnerischen Lager, also bei den »Patriotischen Europäern«, vermuteten. Aber auch hier ging es um die Zurückweisung der Gleichberechtigung am öffentlichen Diskurs mit der Begründung, dass eine allumfassende Informiertheit nicht gegeben sei. Aus der Perspektive der hier befragten jungen Menschen besteht nicht nur eine Verpflichtung zur umfänglichen Unterrichtung durch die Medien, sondern auch zur Rezeption und Verwertung der vielfältigen medialen Angebote. Insbesondere diejenigen mit einem höheren formalen Bildungsabschluss nehmen für sich in Anspruch, die durch die Medien präsentierten Informationen und Meinungen kritisch gewichten und hinterfragen zu können. Dabei stellen zwei Befragte auch deutlich heraus, dass es die Wahrheit nicht gebe, dass letztlich alles konstruiert und subjektiv sei, sich einige Medien jedoch durchaus um Neutralität bemühten und einem schließlich noch die Möglichkeit bleibe, verschiedene Quellen zu rezipieren. In der Selbstwahrnehmung der Gebildeten führt die heterogene Medienlandschaft also nicht zu einer individuellen Überforderung. Notfalls müsse man eben »linke und rechte Nachrichten« lesen und »davon halt den Konsens rausnehmen«. Die Vielfalt und die damit zusammenhängenden Möglichkeiten, sich »alternativ« zu informieren, werden also dezidiert gelobt – zumindest von jenen, die sich mit Ressourcen aus dem Bildungssektor gut ausgestattet sehen. Auffällig ist, dass diese oftmals proklamierten alternativen Informationsmöglichkeiten sich nicht auf die Differenz von Meinungen bei gleicher Faktenlage beziehen, sondern dass die Medien nur dann als »alternativ« wahrgenommen werden, wenn sie andere Informationen bereithalten, mithin »alternative Fakten« präsentieren. Insofern ist es nur konsequent, dass die Befragten an keiner Stelle den Unterschied zwischen einzelnen Formaten wie beispielsweise Bericht, Reportage, Analyse oder Meinungsartikel diskutieren. Dass diese Formen in der Vorstellung der jungen Menschen verwischen, offenbart eine Kluft zwischen einer für sich selbst in Anspruch genommenen Fähigkeit zur kritischen Medienanalyse und dem tatsächlichen Umgang mit den Medien selbst. Ähnlich verhält es sich mit dem Medienkonsum. Die Befragten sprechen beispielsweise davon, »Zeitung zu lesen« und »Tagesschau« zu sehen, meinen damit jedoch die Wahrnehmung von Überschriften auf den unterschiedlichsten Plattformen im Internet beziehungsweise in den diversen Apps der sozialen Netzwerke. Sie halten diese rudimentäre Draufsicht nicht nur für eine selbstverständliche und alltägliche Praxis, sondern nehmen darüber hinaus implizit an, dass dies ihrem selbst formulierten Anspruch, sich umfassend zu informieren, gerecht werde. Fragen die Moderatoren dann dezidiert danach, welche Zeitung rezipiert werde,

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herrscht Ratlosigkeit, verweisen die jungen Menschen auf Zeitmangel und die fehlende Praktikabilität des Formats und postulieren, dass sich einem im Alltag nirgendwo die Gelegenheit biete, eine Tageszeitung erwerben zu können. Lediglich ein Befragter, bekennendes Parteimitglied, kritisiert die Praxis des Medienkonsums über die sozialen Netzwerke, die ihren Nutzern Informiertheit und Belesenheit vorgaukelten und überdies die Verweildauer der User auf ihrer Plattform durch aufmerksamkeitserregende Überschriften erhöhen würden. Dieser, von dem Befragten als »Sensationsjournalismus« bezeichnete »Trick« wurde jedoch innerhalb der sächsischen Fokusgruppe nicht weiter aufgegriffen und verhandelt. Das zeigt, dass ein vorsichtiger und kritischer Umgang mit der Informationsverbreitung über die sozialen Netzwerke kaum im Deutungsrahmen der hier befragten jungen Menschen präsent ist. Indes werden die Medien nicht nur gelobt, es wird auch Kritik geübt. So diskutieren die Befragten die Medienvielfalt mitunter auch ambivalent. Sie stellen beispielsweise fest, dass die Fülle und Vielfalt der Medienangebote überfordernd sein kann, dass es zu viele Informationen gebe, es nicht immer leicht sei, alles zu verwerten. Insbesondere von jenen, die über ein geringeres Bildungszertifikat und mithin über weniger bildungsbezogene Ressourcen verfügen. Überdies verliere man, weil eben kaum etwas eindeutig ist oder gleiche Informationen verbreitet würden, den Überblick darüber, was denn nun »genau richtig« sei. Es fehlten die »richtigen Fakten«. Daher lasse man sich im schlimmsten Fall nur noch berieseln, verfolgt die Timeline und nimmt die Pushnachrichten wahr. Auffällig ist, dass sowohl das Lob als auch die Kritik an der vielfältigen Medienlandschaft eher ein Thema in den in Westdeutschland erhobenen Fokusgruppen war. Das grundsätzliche Verständnis von einer vielfältigen, bunten, heterogenen, jedoch teilweise komplementär ergänzenden und somit insgesamt starken Medienlandschaft in der Bundesrepublik scheint als Deutungsmuster bei den in Ostdeutschland befragten jungen Menschen eine deutlich geringere Rolle zu spielen. Neben der Vielfalt, die einige bis zur Unübersichtlichkeit irritieren kann, ist bei den Befragten ein grundsätzliches Bewusstsein dafür vorhanden, dass nicht alles, worüber in den Medien berichtet wird, die Wahrheit sein muss. Es scheint durchaus die Angst vorhanden zu sein, Opfer medialer Fälschungen zu sein. Dabei geriet insbesondere die Berichterstattung im Rahmen der Flüchtlingskrise in den Fokus der Befragten. Während die Glaubwürdigkeit von Technik- oder Wirtschaftsjournalist/-innen an einer Stelle angezweifelt wurde, waren die jungen Menschen am skeptischsten, ob immer korrekt, ausgewogen und vorurteilsfrei über die Geflüchteten und gegebenenfalls die von ihnen begangenen Straftraten berichtet wurde. In diesem Zusammenhang äußerte ein Befragter sogar dezidiert die Befürchtung, dass die als polarisierend

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wahrgenommene Berichterstattung einen »Keil« in die Gesellschaft treibe und so zu ihrer tiefgreifenden Spaltung beitrage. Doch bei aller Kritik: Die Mehrzahl der Befragten bleibt auf einer sachlichen Ebene, kann Formate benennen, denen sie vertraut und grenzt sich mit der Zuweisung des Begriffs »Lügenpresse« an Pegida eindeutig von diesem ab. Auch andere Vokabeln wie »Meinungsdiktatur«, »Gesinnungsterror« oder »politische Korrektheit«, die sowohl auf Pegida-Demonstrationen häufig zu hören sind, als auch den Pegida-Anhängern leicht von den Lippen kommen, wurden bei den hier befragten jungen Menschen nicht vernommen. Lediglich vier Frauen, drei in Ost- und eine in Westdeutschland, verwenden diesen Begriff zur Charakterisierung der Presselandschaft. Auffällig ist, dass hier das Themenfeld nicht heterogen ist, sondern dass es bei allen vier Formulierungen um die Behauptung geht, dass insbesondere im Rahmen der Flüchtlingskrise nicht ehrlich berichtet worden sei, dass die Überzahl der »jungen Männer« und das Fehlen der Familien in den Medien ebenso unerwähnt geblieben wäre wie die nationale Herkunft der Sexualstraftäter in der Kölner Silvesternacht 2015/2016. Interessant ist auch, dass gerade die Befragten, die sich der »Lügenpresse«-Vokabel bedienen, am stärksten einen Einfluss der Medien auf die Meinungsbildung einfordern  – beinahe schon Meinungsvorgaben durch Journalist/-innen verlangen –, während jene von ihnen lediglich Unterstützung bei der Ausbildung eigener Ansichten erwarten, sich von dieser Kampfvokabel fernhalten. Mit einer höheren, möglicherweise auch überzogenen Erwartung an Zeitungsartikel, Fernsehbeiträge oder Nachrichten lässt sich auch eine größere Enttäuschung und mithin daraus resultierende Unzufriedenheit insgesamt erklären. Rolf van Raden machte darüber hinaus jüngst darauf aufmerksam, dass sich der Topos »Lügenpresse« nicht lediglich auf eine inkorrekte Berichterstattung bezieht, sondern ein Bündel von Aussagen aktiviert, die die Glaubwürdigkeit der Medien insgesamt untergräbt und das »deutschlandfeindliche Establishment«, das ein »Meinungsmonopol« durchsetzen möchte und »Gehirnwäsche« betreibe, immer mittransportieren und vermitteln würde.134 In der Tat bedienen diese vier Befragten, wie unten noch zu zeigen sein wird, bestimmte Verschwörungskonstrukte und meinen mehr als nur eine Kritik an der bundesrepublikanischen Medienlandschaft, sondern verweisen dezidiert auf einen gesellschaftspolitischen Komplex, bei dem ihrer Meinung nach so einiges im Argen liegt. Die vier jungen Frauen sind jedoch nicht in einem dezidiert paranoiden Denken verfangen, das sie in alternative globale Erklärungszusammenhänge drängt. Und es sind auch eher diese wenigen An134 | Vgl. Rolf van Raden, P egida -Feindbild »Lügenpresse«. Über ein massenwirksames verschwörungstheoretisches Konstrukt, in: Helmut Kellershohn und Wolfgang Kastrup (Hg.): Kulturkampf von rechts. AfD, P egida und die Neue Rechte, Münster 2016, S. 162179, hier vor allem S. 172f.

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

hängerinnen und Anhänger der medialen Verschwörungskonstrukte, die die Glaubwürdigkeit der Medien grundsätzlich leugnen, während die Mehrzahl der Befragten darauf hinweist, dass es durchaus Formate gibt, die ihr Vertrauen genießen, dass »das Fernsehen« verlässlicher sei, als »das Internet«, dass die Tagesschau integrer sei als die Bildzeitung. Daher ist die Verwendung der Vokabel »Lügenpresse« durch die vier Befragten möglicherweise ein Symptom für eine ideologische Nähe zum »Lügenpresse-Komplex«, aber – eben, weil es weder bruchlos noch allumfassend ist – keinesfalls das Signum einer »unheiligen Allianz« oder Assimilation der Befragten mit dem »Pegida-Lager«. Für diese Argumentation spricht ebenso, dass die Deutung einer Gefährdung der Glaubwürdigkeit der Medien aufgrund ihrer existentiellen Abhängigkeit von Werbemaßnahmen und einer damit unterstellten Steuerung durch die Wirtschaft kaum in den hier geführten Fokusgruppen beobachtet werden konnte. Lediglich ein Befragter in einer in Westdeutschland durchgeführten Fokusgruppe stellt fest, dass hinter den Inhaberstrukturen der Tageszeitungen »gewisse Tendenzen« steckten, die zu ihren Gunsten Schlagzeilen nuancieren und Themen lancieren würden. Demgegenüber ist das Deutungsmuster der medialen Abhängigkeit von der Wirtschaft ein dominantes Motiv bei den von uns befragten Pegida-Anhänger/-innen gewesen und auch repräsentative Bevölkerungsumfragen deuten darauf hin, dass die Glaubwürdigkeit von Rundfunkt, Presse und Fernsehen nicht nur von dem Medium und den öffentlich-rechtlichen oder privaten Strukturen abhängig ist, sondern auch von der Idee, dass diese Vorgaben aus der Wirtschaft oder der Politik erhalten würden. Während im Dezember 2016 im Rahmen einer repräsentativen Dimap-Umfrage immerhin 42 Prozent der Meinung sind, dass die Politik Vorgaben für die Medienberichterstattung macht135, ist bei der vorliegenden Erhebung dieses Muster nur am Rande und ausschließlich in den in Sachsen durchgeführten Fokusgruppen sichtbar geworden. Dennoch: Obwohl die befragten jungen Menschen einen deutlich oberflächlicheren Umgang mit der vielfältigen Medienlandschaft der Bundesrepublik pflegen und die Verbreitung der Informationen über Dritte wie Facebook oder Twitter erkennbar unkritischer rezipieren, als sie selbst von sich behaupten – und daher sich selbst keinerlei Nachholbedarf attestieren –, kann von einem allgemeinen Verdruss über die Medien keine Rede sein. Im Gegenteil: Beinahe allen Befragten ist die Macht der Medien als vierte Gewalt im Staate durchaus bewusst. Ihnen sind Fernsehen, Radio, Presse und die im Netz verfügbaren Nachrichtenproduzent/-innen quasi die Relevanzsetzer der Gesellschaft. Was dort verhandelt wird, hat Gewicht, und umgekehrt gilt, dass nur diese Themen, die dort Erwähnung finden, auch von Bedeutung sind. Es mag zwar nicht allen immer leichtfallen, sich in dieser

135 | Vgl. Infratest Dimap, Glaubwürdigkeit der Medien 2016.

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Gemengelage mit Hilfe der Medien zu orientieren, aber das Gros gibt sich vertrauensvoll und zuversichtlich.

5.3.2 Über Russland und 9/11: Verschwörungskonstrukte der Befragten Dort, wo die Komplexität undurchschaubar, die Kontingenz unerträglich und der Überblick unmöglich wird, gedeihen Spekulationen über einflussreiche Mächte, die im Dunklen operieren, nach Profitmaximierung streben oder durch Zerstörungswut angetrieben werden. Diese umgangssprachlich als »Verschwörungstheorien« bezeichneten Denkfiguren sind keinesfalls neu oder ein Signum der (Post-)Moderne. Bereits vor hunderten von Jahren erzählte man sie sich als »Schauermärchen« weiter und in jüngerer Gegenwart hat die antisemitische Verschwörungsideologie über die »jüdischen Weltherrschaft« im (rechten) Denken furchtbarste und folgenreichste Ausprägung gezeitigt. Während Phasen von tiefgreifender ökonomischer und politischer Verunsicherung einen spezifischen Nährboden für diese »Verschwörungstheorien« zu bilden scheinen,136 unterstützen gegenwärtig ebenso spezifische technische Rahmenbedingungen ihre rasante Ausbreitung. Über das Internet lassen sich »Fake News«, »Verschwörungstheorien« oder »alternative Fakten« problemlos viral verbreiten137 und, unterstützt durch vielfältige Möglichkeiten der Manipulation an Bild und Ton, eine höhere Glaubwürdig erzeugen. Darüber hinaus scheint gegenwärtig der Anschlag auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 ein Auslöser für das jüngste Wuchern solcher auf Letzterklärung und Ursachenfindung fokussierenden Erzählungen darzustellen. Auch die hier befragten jungen Menschen formulieren dezidiert solche »verschwörungstheoretischen« Fragmente. Das ist insofern relevant, weil diese quasi nur »Beifang« unserer Ehrhebung sind, wir also nicht explizit danach gefragt haben oder dies im Rahmen der Untersuchung intendierten. Unter diesen Bedingungen ist es erstaunlich, dass sich in allen Gruppen solche hier als Verschwörungskonstrukte zu bezeichnenden fragmentarischen Erzählungen finden und lediglich in einem Gespräch diese als irrationale und unglaubwürdige Geschichte enttarnt und zurückgewiesen wurde. Die Bezeichnung der 136 | Vgl. Helmut Reinalter, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Verschwörungstheorien. Theorie – Geschichte – Wirkung, Innsbruck u.a. 2002, S. 9-13. 137 | Ähnlich auch Schetsche, der argumentiert, dass mit dem Anwachsen der machtpolitischen Bedeutung von Informationen in Gesellschaften auch die strukturelle Bedeutung von Geheimnissen beziehungsweise Annahmen über solche Geheimnisse zunehmen. Vgl. Michael Schetsche, Die ergoogelte Wirklichkeit. Verschwörungstheorien im Internet, in: Kai Lehmen und ders. (Hg.), Die Google-Gesellschaft. Vom digitalen Wandel des Wissens, 2. Aufl., Bielefeld 2008, S. 113-120.

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

Verschwörungskonstrukte wird hier gewählt, da – wie noch gezeigt wird – die Befragten keine umfassenden und ausführlichen Erzählungen präsentieren, sondern lediglich mit Halbsätzen oder Bildern als Bedeutungsträger auf diese Konstrukte anspielen.138 Aufgrund dieser punktuellen, sich größtenteils in Metaphern und Andeutungen vollziehenden Konstrukte wird auf eine ausdifferenzierte Begrifflichkeit an dieser Stelle verzichtet. So argumentiert beispielsweise Pfahl-Traughber, dass man in der Analyse unterscheiden müsse zwischen Verschwörungshypothese, also der Annahme einer Verschwörung, die weiterhin für Gegenbeweise zugänglich ist, einer Verschwörungsideologie, der »festgefügten monokausalen und stereotypen Einstellungen«, die durch Empirie nicht mehr korrekturfähig ist, sowie einem Verschwörungsmythos, als Übersteigerung der Verschwörungsideologie, wobei die Gruppe der Verschwörer nicht einmal mehr real existieren müsse, sondern in Gänze der Fantasie entspringen könne. Gleichzeitig lehnt er aufgrund der suggerierten szientistischen Nähe die Begrifflichkeit der »Verschwörungstheorie« ab139, wohingegen Bartoschek in einer ausführlichen Untersuchung an jener Begrifflichkeit festhält, um auf die Errichtung eines »pseudowissenschaftlichen Gedankengebäudes« aufmerksam zu machen. Aber auch für Bartoschek sind unterschiedliche Aktivitätsgrade von »Verschwörungstheoretikern« erkennbar. Am Anfang stehe der Verschwörungsglaube als generelles latentes Misstrauen gegen eine andere Gruppe, gefolgt von einer Verschwörungslegende, ein konkretisierter Verschwörungsglaube, der weitergegeben und tradiert wird, der wiederum durch die »Verschwörungstheorien« abgelöst wird, die sich durch eine Ausdifferenzierung der Legende und wechselseitige Bezüge auszeichnet.140 Dennoch erscheint diese Trias nicht überzeugend, da nicht jedes Misstrauen zu Verschwörungsglauben führen muss. Auch die Differenzierungen von Pfahl-Traughber mögen ihre Berechtigung haben, aber in der vorliegenden Studie wissen wir beispielsweise nicht, ob die als Beifang gesammelten Verschwörungskonstrukte noch für Gegenbeweise zugänglich oder

138 | Da es also nicht um »Welterklärungsmodelle« geht, wird sich hier lediglich an die semantisch gleiche der »Verschwörungskonstruktionen« von Rolf van Raden angelehnt. Vgl. Rolf van Raden, P egida -Feindbild »Lügenpresse«. Über ein massenwirksames verschwörungstheoretisches Konstrukt, in: Helmut Kellershohn und Wolfgang Kastrup (Hg.), Kulturkampf von rechts. AfD, P egida und die Neue Rechte, Münster 2016, S. 162-179. 139 |  Vgl. Armin Pfahl-Traughber, »Bausteine« zu einer Theorie über »Verschwörungstheorien«. Definition, Erscheinungsform, Funktion und Ursachen, in: Helmut Reinalter (Hg.), Verschwörungstheorien. Theorie – Geschichte – Wirkung, Innsbruck u.a. 2002, S. 30-44. 140 |  Vgl. Sebastian Bartoschek, Bekanntheit von und Zustimmung zu Verschwörungstheorien, 2. Aufl., Münster 2015.

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bereits ideologisch fundiert sind und halten daher an der Begrifflichkeit der Verschwörungskonstrukte fest. Insgesamt formulierten 18 Befragte Verschwörungskonstrukte, denen imoder explizit im Rahmen der Gruppendiskussion zugestimmt wurde. Auffällig ist, dass diese Erzählungen überwiegend von Männern sowie den älteren Personen (25-35 Jahre) unseres Untersuchungssamples präsentiert wurden. Lediglich ein knappes Viertel der Verschwörungskonstrukte wurde von Frauen in das Gespräch eingeführt. Überdies begegnete uns das Phänomen zwar in den in Ost- sowie in Westdeutschland durchgeführten Gruppendiskussionen, war jedoch in den Gesprächszusammenhängen in Sachsen deutlich häufiger und ausgeprägter, das heißt in längeren Gesprächssentenzen, präsent. Über die Hälfte der Verschwörungskonstrukteur/-innen können ein Abitur oder höherwertiges Bildungszertifikat vorweisen und verfügen damit im Durchschnitt über einen höheren Bildungsabschluss als das Gesamtsample. Im Vergleich zu diesem sind die hier befragten Vertreterinnen und Vertreter von Verschwörungskonstrukten eher Einzelkinder, alleinlebend und Single, keine Mitglieder von Konfessionsgemeinschaften und Vollzeit berufstätig. Sie unterscheiden sich jedoch nicht hinsichtlich des Organisationsgrades in zivilgesellschaftlichen oder politischen Vereinigungen oder des Wahlverhaltens. In der Literatur über »Verschwörungstheorien« sind die Befunde hinsichtlich der Zusammenhänge von soziodemografischen Merkmalen oder prägnanten Einstellungen und Orientierungen auf der einen und einem starken Verschwörungsglauben auf der anderen Seite recht widersprüchlich. Während in der jüngsten umfassenden Arbeit im deutschsprachigen Raum argumentiert wird, dass sich die Anhänger von »Verschwörungstheorien« eher unter Frauen, Menschen mit niedriger Bildung und niedrigen Einkommen finden lassen beziehungsweise dass Religiosität und Extremismus die Wahrscheinlichkeit senkt, kein/-e Anhänger/-in von »Verschwörungstheorien« zu sein,141 konnten andere Untersuchungen diese Befunde nicht bestätigen. Auf Basis einer Studie mit 348 Teilnehmenden aus New Jersey fanden die Autor/-innen Hinweise darauf, dass »belief in conspiracies« eng mit einem mangelnden Vertrauen beziehungsweise gesellschaftlicher Anomie zusammenhängen.142 Ähnliche Verbindungen zwischen »Verschwörungstheorien« und einer Statusunsicherheit sieht auch Michael Butter, der überdies schlussfolgert, dass die Anhänger/-innen solcher »Theorien« häufiger im Osten der Republik zu finden seien.143 141 |  Vgl. ebd. S. 5. 142 | Vgl. Ted Goertzel, Belief in Conspiracy Theories, in: Political Psychology, 15 (1994) 4, S. 731-742, hier S. 735f. 143 | Vgl. o. V., Verschwörungstheorien und Religion, Interview mit Michael Butter, online einsehbar unter http://faktenfinder.tagesschau.de/hintergrund/verschwoerungstheorien-religion-101.html (eingesehen am 19.01.2017).

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

Doch im Kontrast zu vielen theoretischen Spekulationen wurde in einer repräsentativen US-weiten vergleichenden Studie festgestellt, dass »conspiracism« nicht direkt mit Autoritarismus oder politischem Konservatismus zusammenhänge,144 jedoch dort gut gedeihe, wo Menschen einer manichäischen Sicht auf die Welt anhängen und sie sehen wollen, was andere nicht sehen, also in einem gewissen Überlegenheitsgefühl verfangen sind. In der vorliegenden Untersuchung begegnen uns Verschwörungskonstrukte anhand von sechs genuinen Themenfeldern, die mit Medien, Terrorismus, 9/11, Flüchtlinge, Weltpolitik und Kapitalismus umschrieben werden können. Verschwörungskonstrukte, die im Zusammenhang mit den Medien postuliert werden, beziehen sich größtenteils auf die Angst vor beabsichtigter und unabsichtlicher Manipulation. Hier sind es ausschließlich Männer, die raunen, dass man ohnehin nie wisse, was die Wahrheit sei, dass sich letztlich alle Fakten auch anders interpretieren ließen, Beweise sich fälschen ließen oder Menschen – also Journalist/-innen und Reporter/-innen – nicht objektiv sein könnten. Man habe schließlich schon häufiger aus eigener Anschauung oder aufgrund eigenem Wissen feststellen müssen, dass die Berichterstattung fehlerhaft gewesen sei und/oder Tatsachen verdreht worden wären. In einer weiteren Überzeichnung steht die Überzeugung, dass Journalist/-innen ohnehin keine Wahl hätten, worüber sie mit welchem Tenor schreiben dürften, da Verleger/-innen und die dahinterstehenden monetären Interessen ihnen die Richtung vorgeben würden. Während hinsichtlich der Medien Misstrauen und Lüge das zentrale Leitmotiv bildet, sind die Verschwörungskonstrukte, die sich um Terrorismus drehen, äußerst heterogen. Ein männlicher Befragter behauptete beispielsweise, dass die Terroranschläge im November 2015 der französischen Regierung äußerst gelegen gekommen seien, da diese die allgemeine Verwirrung und Hilflosigkeit, aber auch Ablenkung der Bevölkerung genutzt habe, um die umstrittene Arbeitsmarktreform »durchzudrücken«. Wieder ein anderer beharrte darauf, dass deutsche Importunternehmen Wegegeld an die IS zahlen und so die Terrororganisation indirekt unterstützen würden. In einer in Westdeutschland durchgeführten Fokusgruppe thematisierte ein Befragter mit Migrationshintergrund das Versagen der Sicherheitsbehörden im Fall Anis Amri. Er bezweifelte, dass hier die Öffentlichkeit richtig informiert worden sei, weil man doch nicht seinen Ausweis mitnehme, wenn man einen Anschlag in dieser Größenordnung durchführen wolle. An dieser Stelle ist von einer engagierten eher linksliberal argumentierenden Befragten auch der einzige dezidierte Widerspruch vernehmbar. Mit dem Hinweis, dass »wir« nun alle zu »Verschwö144 | Vgl. J. Eric Oliver und Thomas J. Wood, Conspiracy Theories and the Paranoid Style(s) of Mass Opinion, in: American Journal of Political Science, H. 58/2014 4, S. 952-966.

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rungstheoretikern« werden, wies sie mit einer überlegenen Haltung darauf hin, dass man sich doch nicht in wilde Behauptungen und unsinnige Spekulationen versteigen solle. Interessant im Zusammenhang mit dem Themenfeld Terror ist jedoch, welche Verschwörungskonstrukte nicht erwähnt werden. So spielt beispielsweise der NSU oder mögliche Verstrickungen des Inlandsgeheimdienstes im Unterstützernetzwerk des Nationalsozialistischen Untergrunds überhaupt keine Rolle in den Gruppendiskussionen. Ein anderer, die jüngste Geschichte und Gegenwart der westlichen Welt prägender, Terroranschlag wurde demgegenüber in mehreren Gruppengesprächen thematisiert. Der Anschlag auf das World Trade Center in New York im September 2001 wurde von mehreren Befragten als ein durch die US-Regierung inszeniertes Ereignis gedeutet, damit diese »an Öl kommen« oder einen Vorwand haben, dem »Ostblock mal ordentlich einzureiten«. Und drei weitere Befragte sind dezidiert der Meinung, dass bei diesem Vorfall nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, Betrug im Spiel sei, Informationen verfälscht worden wären und maßgebliche Zusammenhänge die allgemeine Öffentlichkeit nicht erreicht hätten. Ein als ängstlich rekrutierter Befragter ging zunächst auf den Anschlag auf die New Yorker Zwillingstürme ein, indem er von »Blendung« und einem Signum für die Macht einiger Regierungen sprach, zögerte dann jedoch und führte das Verschwörungskonstrukt nicht weiter aus. Möglicherweise scheint hier die Furcht vor einer sozialen Sanktionierung dieser Erzählung eine Rolle gespielt zu haben. So zeigen sich auch Grenzen der Anerkennungswürdigkeit dieser Konstrukte innerhalb der hier rekrutierten Gesprächszusammenhänge. Auch in diesem Rahmen ist es wieder auffällig, was nicht in Form von Verschwörungskonstrukten in den Fokusgruppen zu Tage trat. So wird beispielsweise in beliebten »Verschwörungstheorien« über den Bürokomplex in Mannhatten oft die Erzählung präsentiert, dass »die Juden« die »Nutznießer« und »Drahtzieher« seien oder die »jüdische Weltfinanz«, deren Vertreter auf wundersame Weise vor dem Einsturz aus den Gebäuden entkommen seien, eigentlich hinter den Anschlägen steckten.145 Diese antisemitischen Verschwörungskonstrukte fanden  – trotz einer verhältnismäßig häufigen Thematisierung von 9/11  – keinen Eingang in die Debatte. Auch dezidierte antimuslimische Verschwörungskonstrukte werden nicht bedient. Die Idee der islamischen Verschwörung, ein durch Pegida-Redner/-innen häufig bedientes Narrativ, findet sich nicht. Jedoch wird das Thema »Flüchtlinge« von drei Befragten aufgegriffen. Hier waren es jedoch überwiegend diejenigen, die in der Debatte ohnehin durch manifeste fremdenfeindliche Aussagen auffielen, die die an die Flüchtlingsthematik andockenden Verschwörungskonstrukte aufriefen. So seien die 145 | Vgl. hierzu: Tobias Jaecker, Hass, Neid, Wahn. Antiamerikanismus in den deutschen Medien, Frankfurt a.M./New York 2014, S. 42f.

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

Geflüchteten durch »Propagandafilme« nach Deutschland gelockt worden und mit Hilfe von Organisationen in die Bundesrepublik gelangt, die »durch den Westen« finanziert würden. Schließlich wäre auch die Tatsache, dass die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln 2015/2016 mehrheitlich durch »Nordafrikaner« begangen worden seien, tagelang durch die Medien vertuscht worden. Doch tauchen diese Verbindungen zur Flüchtlingsthematik nur gelegentlich auf, während die Komplexe der Weltpolitik und des Kapitalismus einen deutlich größeren Raum einnehmen. Dies sind auch die einzigen Themen, bei denen sich die befragten Frauen an den Verschwörungskonstrukten beteiligen. Auch hier sind die Erzählungen komplex und heterogen. Während ein Student der Politikwissenschaft zu Protokoll gibt, dass es Zusammenhänge gibt, »die wir alle nicht verstehen«, lobt ein anderer Befragter die Funktion von Whistleblowern und Anonymous, die »Missstände« aufdeckten, die sonst nicht an die Öffentlichkeit kämen. Jener, der sich bereits über Anis Amri geäußert hatte, stellt die These auf, dass die Europäer mit ihren »Geldtransfers« ohnehin bestimmten, wer in Afrika Präsident werde. Hierauf geht jedoch niemand in der Fokusgruppe ein. Demgegenüber ist das Russland-Thema, das auch von neurechten Medien und Pegida immer wieder verhandelt wird, bei mehreren Befragten präsent. Die Aussagen reichen dabei davon, dass die Bundesrepublik die Großmacht nicht korrekt behandle, beziehungsweise dass hier – durch die Politik gesteuert – mit Putin ein Feindbild aufgebaut werde bis hin zum Umstand, dass man nicht verstehen könne, warum sich Merkel immer nur an den USA orientiere und Putin die kalte Schulter zeige. Schließlich ergänzt ein Befragter, dass diese Angelegenheit ohnehin bald irrelevant sei, da die alten Großmächte untergehen und in naher Zukunft durch China überholt werden würden. Hier deutet sich eine Verbindung zu den Verschwörungskonstrukten rund um das Thema Kapitalismus an. Mehrere Befragte über alle Gruppen hinweg befürchten, dass Deutschland durch Konzerne gesteuert und manipuliert werde und demgegenüber der Bürger an sich kaum über Entscheidungsbefugnisse verfügt. Und es sind eher Frauen, die argwöhnen, dass hinter jedem Politiker ein »Pharmakonzern« stecke und wir ohnehin nur von der »Walstreet regiert« würden. Diese Zusammenschau der geäußerten Verschwörungskonstrukte macht ihren sporadischen und größtenteils unterentwickelten Charakter deutlich. Es sind weder ausdefinierte Überzeugungssysteme noch komplexe Theorien oder gefestigte Glaubenshaltungen, sondern lediglich Bilder und Versatzstücke, die im Diskursraum herumwabern und mitunter bei den anderen Gesprächspartnern andockfähig sind. Dezidierte Anhängerinnen und Anhängern von »Verschwörungstheorien«, -mythen oder -ideologien können demnach nicht ausfindig gemacht werden. Es lassen sich lediglich Praktiken der Memefizierung identifizieren. Doch was sagt das über die hier befragten jungen Menschen aus? Zunächst ist festzustellen, dass keinesfalls davon ge-

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sprochen werden kann, dass die hier Befragten an einer pathogenen Störung leiden. Dies ist zwar eine veraltete Interpretation des Phänomens, taucht jedoch als Erklärung für »Verschwörungstheoretiker« gelegentlich noch auf. So stellt Pipes beispielsweise fest, dass »Verschwörungstheorien« Ausdruck einer »Paranoia-Haltung seien«146, auch Groh zieht strukturelle Elemente der klinischen Paranoia als Erklärungsmodell für kollektiv geteilte (auch orthodoxe)147 »Verschwörungstheorien« heran.148 Ebenso zählt Pfahl-Traughber eine spezifische individuell ausgeprägte »Verschwörungsmentalität« neben sozialen Faktoren wie gesellschaftliche Umbrüche beziehungsweise politischen Faktoren zu den Ursachen von Verschwörungsideologien und -mythen.149 Für ihn ist die »Verschwörungsmentalität« eine »ständig präsente individuelle Neigung zur Akzeptanz von Konspirationsauffassungen«, die auch als »latent vorhandene Einstellung« fortbestehen kann. Dabei werde die »Möglichkeit zum Übergang der latenten zur manifesten Einstellung […] durch den direkten oder indirekten Druck auf Individuen, wie er sich aus Umbruchsituationen im kulturellen, politischen oder sozialen Bereich ergibt« erhöht. Ebenso die These, dass jene, die sich »Verschwörungstheorien« bedienen, diese als ein globales Erklärungsphänomen heranziehen würden, um sich alle gesellschaftspolitischen Zusammenhänge damit zu erklären,150 trifft auf die hier Befragten ebenso wenig zu. Die Deutung als Memefizierung schließt diese Annahme bereits aus. Auch konnten wir in den Verschwörungskonstrukten keinen grundsätzlichen

146 | Vgl. Daniel Pipes, Verschwörung. Faszination und Macht des Geheimen, München 1998. 147 | Für Schäfer, Schetsche und Walter besteht der Unterschied zwischen orthodoxen und heterodoxen Verschwörungstheorien darin, dass letztere ein »Überzeugungssystem oder Erklärungsmodell« für »aktuelle oder historische Ereignisse, kollektive Erfahrungen oder die Entwicklung einer Gesellschaft« infolge einer Verschwörung interpretiert werden, die »von der Mehrheit der Bevölkerung, den Leitmedien oder anderen gesellschaftlich legitimierten Deutungsinstanzen nicht anerkannt wird«, während bei orthodoxen Verschwörungstheorien deren Anerkennung vorliegt. Andreas Schäfer, Michael Schetsche und Michael K. Walter, Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, Wiesbaden 2014, S. 14. 148 | Vgl. Dieter Groh, Anthropologische Dimensionen der Geschichte, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1991, S. 267-305. 149 | Vgl. Armin Pfahl-Traughber, »Bausteine« zu einer Theorie über »Verschwörungstheorien«, S. 35. 150 | Vgl hierzu: R. X. Dentith, When Inferring to a Conspiracy might be the best Explanation, in: Social Epistemology, H. 30/2016 5-6, S. 572-591.

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

»science denialism« erkennen, wie er als grundlegender Zusammenhang mit »Verschwörungstheorien« oftmals postuliert wird.151 Und obwohl die Befragten nicht grundsätzlich wissenschaftsfeindlich argumentieren und sich keinesfalls dem rationalen Diskurs verschließen, wird doch deutlich, dass die von ihnen geäußerten Verschwörungskonstrukte durchaus als Ausdruck der »gefühlten Wahrheit« gedeutet werden können. Und so scheint, mit Michael Schetsche argumentiert, das »(ursprünglich wissenschaftliche) konstruktivistische Denken« in der Gesellschaft und der alltäglichen Lebenswelt zur Auflösung der Unterscheidung zwischen »tatsächlich«, »wahrscheinlich« und »vorstellbar« zu führen.152 Nun könnte man einerseits mit Marie-Christine Kajewski befürchten, dass genau dieser Verlaust von Wahrheit die demokratische Gesellschaft bedrohe,153 da in einem Fakten leugnenden und Postfaktizität belohnenden gesellschaftlichen Diskurszusammenhang Wahrheitssuche und Verständigung verunmöglicht werden. Andererseits scheint das Raunen über konspirative Zusammenhänge, allmächtige Organisationen oder einfach der Argwohn gegenüber den Absichten der wirtschaftlichen und politischen Eliten ein Signum der Zeit und insofern eher etwas Alltägliches denn etwas Besonderes zu sein. Zunächst können die hier beobachteten Verschwörungskonstrukte als Ausdruck des Misstrauens gedeutet werden, das bereits vielfach beschrieben wurde.154 So trägt die zunehmende Komplexität, Unvorhersehbarkeit und Interdependenz wie auch das täglich für den Einzelnen realisierte Unvermögen des Durchschauens zu einem zunehmenden Misstrauen bei.155 Nun drückt sich dieses Misstrauen keinesfalls permanent in demokratischen Formen und Handlungsmodi aus, wie sie Pierre Rosanvallon analysiert hat, sondern scheint das mulmige Gefühl hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Zusammenhänge zu repräsentieren, vielleicht auch ein Stück weit der Hilfslosigkeit der hier befragten jungen Menschen Ausdruck zu verleihen. Es scheint für diejenigen, die hier dezidiert Verschwörungskonstrukte formulieren, keine andere Möglichkeit zu geben, ihre Kritik und Beunruhigung auszudrücken. Somit sind 151 | Vgl. John Grant, Denying Science. Conspiracy theories, media distortions, and the war agains reality, New York 2011. 152 | Vgl. Michael Schetsche, Die ergoogelte Wirklichkeit. Verschwörungstheorien im Internet. 153 | Vgl. Marie-Christine Kajewski, Wahrheit und Demokratie in postfaktischen Zeiten, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, H. 64/2017 4, S. 454-467. 154 | Vgl. exempl. Franz Walter, Bürgerlichkeit und Protest in der Misstrauensgesellschaft. Konklusion und Ausblick, in: Ders. u.a. (Hg.), Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die Protestbewegungen?, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 301-342. 155 | Vgl. hierzu grundlegend jüngst auf theoretischer Ebene: Pierre Rosanvallon, Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter des Misstrauens, Hamburg 2017.

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die politischen Verschwörungskonstrukte auch Ausdruck eines Vertrauensverlustes zwischen den Befragten und den Regierenden. Dies erklärt möglicherweise auch, warum die Themen Weltpolitik und Kapitalismus, im Gegensatz zu den anderen Inhalten, den größten Raum einzunehmen vermögen. Denn gerade die für die hier befragten jungen Menschen relevanten sozioökonomischen Zusammenhänge können – wie im Kapitel 5.1 ausgeführt – enorm belastend für die Individuen sein. Durch Verschwörungskonstrukte nehmen sie sich selbst auch den Handlungsdruck beziehungsweise entlasten sie ihre eigene Rolle, indem sie – im Fall der Erfolglosigkeit auf dem Arbeitsmarkt oder des Verharrens auf einer relativ niedrigeren Statusposition  – die Verantwortung hierfür den im Hintergrund agierenden Mächten zuweisen können. Insofern sind es auch eher die etwas älteren Befragten, die bereits länger im Berufsleben stehen und hier womöglich erste Enttäuschungen erleben mussten, die die kapitalistischen Verschwörungskonstrukte ansprechen und bedienen. Gleichzeitig ist gerade die in der Verschwörungserzählung präsentierte »Hyperrationalität«156 mit der sich die Komplexität reduziert und Bausteine zusammengesetzt werden, die eigentlich nicht passen (können), die zur Entlastung führt und Handlungsmacht verspricht. Ganz in diesem Sinne ist auch die in Kapitel 3.4.1 beschriebene Suche der Befragten nach Wahrheit zu verstehen. Denn gerade in dem Gefühl, alles durchschaut zu haben, erscheint das Leben nicht mehr so gnadenlos und unentrinnbar, nicht mehr so zufällig und kontingent, wie es die Unheil verkündende Unsicherheit androht.157 Insofern ist der Glaube an »Verschwörungstheorien« auch nicht zwangsläufig als Regression zu deuten, sondern eine Begleiterscheinung der Moderne, ausgelöst durch die Erwartung und Vorstellung, jenseits göttlicher Vorhersehung oder eingeborener sozialer Lagen, sein Leben selbst in die Hand nehmen zu können.158 Das Alltägliche der Verschwörungskonstrukte zeigt sich also nicht nur im Misstrauen, sondern in der Struktur der Gesellschaft selbst. Der Sozialpsychologe Serge Moscovici erklärt ausgehend von der historischen Situation des 20. Jahrhunderts, die durch Verfolgungswahn und Völkermorde geprägt war, dass 156 | Zur These, dass »Verschwörungstheorien« eigentlich nicht bloß irrational sind, sondern einer Vernunft in dem Sinne folgen, dass all die wahrgenommenen gesellschaftlichen Widersprüche und gegenläufigen Tendenzen argumentativ aufeinander abgestimmt und in einer »hyperrationalen« Geschichte dargestellt werden, vgl. Manfred Schneider, Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin 2010. 157 | Eine Idee, die Adorno am Beispiel des massenhaften Zuspruchs zur Astrologie beschrieb: »Zugleich setzt die Einbildung, die Sterne böten Rat, wenn man nur in ihnen zu lesen vermöchte, die Furcht vor der Unerbittlichkeit der sozialen Prozesse herab.« Theodor W. Adorno, Aberglaube aus zweiter Hand, in: Ders., Soziologische Schriften, Frankfurt a.M. 1972, zuerst erschienen 1962, S. 147-174, hier S. 153. 158 | Vgl. Theodor W. Adorno, Aberglaube aus zweiter Hand.

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

es unvermeidlich zu einer Art gesellschaftlichen Zwang für Beschuldigungen und Anklagen komme, da das selbstsichere auf seine persönlichen Rechte insistierende Individuum seine eigene Unschuld und Unfehlbarkeit am wirkmächtigsten unter Beweis stellen könne, wenn durch eine forcierte Anklage das Versagen oder die Täterschaft eines anderen Individuums herausgestellt werden könne.159 Diese individuelle konspirative Mentalität setze sich gesellschaftlich insofern durch, als die Konflikte innerhalb einer Gruppe, also innerhalb einer Gesellschaft, nach außen in einen Konflikt zwischen einer Mehrheit mit einer Minderheit verlegt würden. Insofern bildet dieser Dualismus nach Moscovici (und ähnlich, aber aus dem Naturzustand abgeleitet, finden sich auch die Beschreibungen von Assoziation und Dissoziation der Menschen bei Carl Schmitt, also die klassische Freund-Feind-Unterscheidung) die Basis der modernen Gesellschaft: »I propose that conspiracy can be understood as the figurative or imaginary core of a social representation.«160 Auch Bartoschek analysiert, dass »Verschwörungstheorien« eine Art »Musterentdeckung« der Individuen sind, die als das Suchen und Finden von Strukturen eine überlebenswichtige Eigenschaft von Menschen sei. Diese habe sich jedoch mittlerweile so verselbstständigt (und sich zunächst überwiegend im Religiösen ausgeprägt), dass selbst dort nach Mustern gesucht werde, wo keine vorhanden seien.161 Insofern schlussfolgert Bartoschek auch, dass ein »mittleres Maß« an Verschwörungsglauben eher unproblematisch sei und erst ein »hohes« Ausmaß zu Intoleranz, missionarischem Eifer und Gewaltbereitschaft führe.162 In diesem »mittlere Maß« können auch die hier beobachteten Verschwörungskonstrukte eingeordnet werden, denn immerhin sind, allen in der Erhebung forcierten Thematisierung des Islams und der Muslime zum Trotz, die Verschwörungskonstrukte in diesem Bereich recht spärlich ausgeprägt und scheinen in diesen Verantwortung zuweisenden Erzählsträngen kaum als Legitimation zur Ausgrenzung von Muslimen herangezogen zu werden. Demgemäß treten die Verschwörungskonstrukte, die hier – insbesondere im Vergleich zur Befragung der Pegida-Anhänger/-innen – selten kraftvoll vorgetragen und de159 | Hierfür und im Folgenden: Serge Moscovici, The Conspiracy Mentality, in: Carl F. Graumann und ders. (Hg.), Changing Conceptions of Conspirary, New York u.a. 1987, S. 151-169. 160 | Vgl. ebd., S. 151-169, hier S. 154. Ähnlich, dass »Verschwörungstheorien« ein »Triebbedürfnis« moderner Gesellschaften bedienen auch: Bradley Frank u.a., Conspiracy Theory as quasi-religious mentality. An integrated account from cognitive science, social representations theory, and fram theory, in: Frontiers in Psychology, 3 (2013) 4, 1-12. 161 | Vgl. Sebastian Bartoschek, Bekanntheit von und Zustimmung zu Verschwörungstheorien, S. 191. 162 | Vgl. ebd., S. 192.

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rer sich eher sporadisch bedient wurde, eher als »normale Entlastungsstrategie« auf. »Normal«, weil sie alltäglich sind und kaum Erstaunen innerhalb des Gesprächszusammenhangs auslösen, »normal« aber auch, weil sie insofern normierend wirken, als sie eher dem eigenen Gefühl entsprechen, in dem beobachteten Diskurszusammenhang verbale und nonverbale Zustimmung erzeugen und sich so ausweiten. Somit zeigt auch gerade das, nach den Themen Kapitalismus und Weltpolitik, dominante Verschwörungskonstrukt zum Anschlag auf das World Trade Center, dass wir eher Rationalisierungsmuster beobachten konnten, die das Unfassbare fassen möchten und das plötzlich auftretende Ereignis erklären sollen, um es verarbeiten zu können. Die Befragten sind mitnichten in rechten »Verschwörungstheorien« verfangen, jedoch strukturell offen für Verschwörungskonstruktionen. Bieten sich hier keine alternativen Erklärungen und Deutungen an oder werden keine Maßnahmen angeboten, mit denen Kontingenz ausgehalten werden kann, muss der hier erhobene Befund keinesfalls auch in Zukunft gelten.

5.4 S icherheit in der U nsicherheit. D ie S icht auf   die Z ukunf t und die A mbivalenz von Ä ngsten und  S orgen Haben die Jugendlichen und jungen Menschen Sorgen und Ängste vor einer sich verändernden Gesellschaft und könnten diese Empfindungen zu einer größeren Zustimmung zu politischen Bewegungen führen, welche einen restriktiven bis autoritären Politikwandel fordern? Diese Frage mag für sich betrachtet sensationshungrig wirken, ist aber von aktuellen Entwicklungen im Gefolge der europäischen Flüchtlingskrise seit 2015 motiviert, sozusagen à jour gerichtet. Es gibt zwei Gründe, ihr nachzugehen. Erstens begleitet die Frage nach dem Konnex von Angst und Politik aktuell fast zwangsläufig Untersuchungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik und zu möglichen Kräftereservoirs rechter Mobilisierung. In der politikwissenschaftlichen Forschung über die Ursachengeflechte (rechts-)populistischer Parteien und Bewegungen, aber auch im Rahmen demokratietheoretischer Debatten reüssiert bereits seit einigen Jahren die Diagnose einer wachsenden Distanzierung der Bürger/-innen von den repräsentativen Institutionen der bundesrepublikanischen Demokratie, auch infolge von Aushöhlungstendenzen demokratischer Prozesse hin zu einem bloßen »Management« von alternativlosen Handlungszwängen.163 Ein Klima fundamentalen Misstrauens 163 | Diese Diagnose wird, je nach Forschungszusammenhang und Akzentsetzung, mit verschiedenen Schlagwörtern verhandelt. So ist beispielsweise von einer Krise der Repräsentation beziehungsweise einer politischen oder demokratischen Legitimations-

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habe sich in den ehemaligen westlichen Industriestaaten ausgebreitet und das populistische Ausspielen des »Volkswillens« gegen eine vermeintlich selbstgefällige politische Klasse164 plausibler gemacht. Dies diene schließlich auch als Humus einer neuen rechten Offensive, die den Wunsch nach einem systemverändernden »Klassenkampf« auf verhasste Fremdgruppen (Flüchtlinge, Migranten, Moslems, Juden) und Institutionen (z.B. Europäische Union, Großbanken) projiziere165 – so geschehen bei Pegida und den erdrutschartigen Wahlerfolgen der AfD nach Bernd Lucke 2016-17. In einer solchen Situation, insbesondere im Falle manifester sicherheitspolitischer oder wirtschaftlicher Krisen, so die Überlegung, könnte steigende öffentliche Unruhe beziehungsweise Unsicherheit ein Kairos-Moment für Verschiebungen der bisherigen Einstellungsmuster bieten und den daran hängenden politischen Kräfteverhältnissen einen Ruck versetzen. Gerade in situative Angst versetzte Wählerinnen und Wähler gelten daher als instrumentalisierbar durch eine im entscheidenden Moment zupackende Rechte beziehungsweise »rechte Mitte«; oft wird der Erfolg der sogenannten »Konservativen Revolution« in der Weimarer Republik dafür auch als historische Referenz angeführt.166 Zwar setzen sich allzu voreilige historische Vergleiche und Kassandra-Rufe über den drohenden Rechtsruck rasch der Kritik aus, müssen sie doch immer auch Differenzen des soziologischen und politischen Kontextes übergehen: »Berlin ist nicht Weimar.«167 Und gewiss ist das hier suggerierte simplifizierende Schema von Legitimationsdefizit (Ursache), Krise (Brandbeschleuniger) krise die Rede, von »Postdemokratie«, »Misstrauensgesellschaft« u.a. Vgl. allgemein etwa Danny Michelsen und Franz Walter, Unpolitische Demokratie. Zur Krise der Repräsentation, Frankfurt a.M. 2013 sowie Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008; bezogen auf neuere Bürgerproteste seit Stuttgart 21 vgl. Franz Walter u.a., Die neue Macht der Bürger sowie Ingolfur Blühdorn, Simulative Demokratie, Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Frankfurt a.M. 2013. 164 | Vgl. Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Frankfurt a.M. 2016 sowie Ivan Krastev, Die Stunde des Populismus, in: eurozine.com, 18.09.2007 (zuerst in: Transit 33, 2007), online einsehbar unter www.eurozine.com/die-stunde-des-populismus/ ?pdf (eingesehen am 06.11.2017). 165 | Claus Leggewie, Populisten verstehen. Ein Versuch zur Politik der Gefühle, in: Karl-Rudolf Korte (Hg.), Emotionen und Politik, Baden-Baden 2015, S. 137-154, S. 150. 166 | Vgl. Andreas Speit, Bürgerliche Scharfmacher, Deutschlands neue rechte Mitte – von AfD bis P egida , Zürich 2016, insbesondere S. 17-20 sowie Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014. 167 | Vgl. Jürgen W. Falter, Wie viel NSDAP steckt in der AfD?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.06.2017, online einsehbar unter www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/ weimarer-verhaeltnisse-5-wie-viel-nsdap-steckt-in-der-afd-15066430.html?print PagedArticle=true#void (eingesehen am 06.11.17) sowie Florian Finkbeiner und Julian

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und rechtem Aufmarsch (Folge) auch in Zweifel gezogen worden, etwa durch den Einwand, populistische beziehungsweise anti-institutionelle Affekte hätten stets zum Wesen demokratischer Gesellschaften gehört.168 Doch scheinen aktuelle Dynamiken der These der »bürgerlichen Scharfmacher« (Speit) aus der Mitte der Gesellschaft erst einmal recht zu geben, sofern man einen Blick wirft auf die drastischen Stimmenzugewinne der AfD im Jahr 2016 bei den Landtagswahlen in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg und schließlich bei der Bundestagswahl 2017, nachdem die Partei Ende 2015 die Opposition zu Merkels Flüchtlingspolitik als thematisches Flaggschiff in Stellung brachte. Zweitens: Es ist zwar ein wesentliches Resultat unserer Studie, dass das Protestphänomen Pegida keinen direkten Einfluss auf die Jugendlichen ausübt, ja für sie kaum eine Rolle spielt. Zur Erinnerung: Weder gehen sie energisch auf Distanz zu deren tragenden Akteuren, noch nehmen sie sie als attraktive Bewegung wahr. Zugleich aber stellte sich heraus, dass einige der allgemein geteilten Deutungsmuster unserer Befragten Anknüpfungspunkte mit Pegida aufwiesen, zum Teil auch latent mit zentralen Motiven der Dresdner Proteste übereinstimmen.169 Somit stellt sich die Frage, ob die Jugendlichen in Dresden, Leipzig, Nürnberg und Duisburg – allesamt Städte, in denen Pegida und die entsprechenden Ableger zahlenstarke Proteste vorweisen konnten – Ängste haben, die auch das neue rechte Milieu um Pegida, AfD, Identitäre Bewegung & Co.170 ansprechen, um Anhänger/-innen zu gewinnen. Sozialwissenschaftlich nach Ängsten zu fragen, stößt allerdings auf analytische Probleme. Denn das Wort »Angst« ist vieldeutig:171 Angst im »eigentlichen« Sinne bezeichnet eine affektive, auf unmittelbare, konkrete (reale oder empfundene) äußere Gefahren gerichtete Empfindung. Sie ist strikt situationsgebunden und setzt sich damit ab von psychologischen und soziologischen Phänomenen, die Einfluss auf politische Orientierungsmuster und Mentalitätsströme ausüben können. So lässt sich psychologisch die »Realangst« von der »neurotischen Angst« unterscheiden, welche sich – etwa in Form von Pho-

Schenke, Analyse statt Alarmismus!, in: Die neue Unordnung. Jahrbuch des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, Göttingen 2016, S. 106-110. 168 | Vgl. Herfried Münkler, Populismus, Eliten und Demokratie. Eine ideengeschichtlich-politiktheoretische Erkundigung, in: Totalitarismus und Demokratie Nr. 8, Göttingen 2011, S. 195-219. 169 | Vgl. Kapitel 4.1. 170 |  Zum Schulterschluss dieser zunächst disparaten Gruppen vgl. das Kapitel »Stand der Forschung zum Protestphänomen P egida«. 171 |  Vgl. Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1969, S. 410.

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bien – auf verschiedenste Objekte heftet.172 In soziologischer Hinsicht wird die bereits skizzierte »konkrete Angst« beziehungsweise »Furcht« von der sogenannten »Kontingenzangst« unterschieden, welche durch den Verlust »epistemischer Kontrolle« über die eigene Umwelt gekennzeichnet ist, das heißt durch das Unvermögen, kausale Entwicklungen im sozialen Nahbereich oder in der Gesellschaft kognitiv zu bewältigen.173 In dieser Unterscheidung aber fehlen die materiellen Sorgen und Statusängste, die sich im Rahmen der Auswertung als wichtige Einflussgröße von Orientierungen und Einstellungen erwiesen haben.174 Daher erscheint eine Feindifferenzierung von Zygmunt Bauman gewinnbringend: Dieser unterscheidet unter Bezug auf die Bedeutungsvielfalt des Englischen drei Elemente von Sicherheit als »Bedingungen für Selbstvertrauen und Selbstsicherheit«175: »Security« (das Gefühl, Erworbenes und Erreichtes zu behalten), »Certainty« (das Gefühl der sicheren Kenntnis der Umwelt) und »Safety« (das Gefühl physischer Geschütztheit).176 Werden diese Empfindungskomponenten parallel gestört  – was Bauman zufolge in der entgrenzten und flexibilisierten »postmodernen Welt« tagtäglich geschieht, entsteht ein Gemisch aus Unsicherheit, welches den eigenen Erfahrungsraum beeinflusst und beschränkt:177 »Den Beschäftigten gleich welcher Position bleibt nicht viel zu tun, wenn ihre Firma kurzentschlossen oder ohne jede Vorwarnung entscheidet, das Unternehmen irgendwo anders hin zu verlegen oder eine neue Runde sogenannter Rationalisierung durch Verschlankung, durch Verringerung der Arbeitskräfte, durch Senkung der Verwaltungskosten oder durch Abstoßung beziehungsweise Abwicklung nicht gewinnbringender Geschäftszweige einzuleiten.«178

Die politische Ausbeutung dieser Ängste, etwa in Form eines repressiven Verständnisses öffentlicher Sicherheit, benennt er dabei als eines der größten unmittelbaren Risiken für eine moderne demokratische Gesellschaft. Kurzum: Wenn in diesem Kapitel nach »Angst« gefragt wird, sind stets gesellschaftlich bedingte und mit der Entwicklung der politischen Kultur zusammenhängende Phänomene gemeint, nämlich einerseits die Angst vor einem epistemischen 172 | Vgl. ebd., S. 408ff. 173 | Vgl. Max Dehne, Soziologie der Angst, Wiesbaden 2017, S. 35-39, insbesondere S. 36. 174 | Zur Bedeutung dieser Ängste vgl. das Kapitel »Ego-Shooter«. 175 | Vgl. Zygmunt Bauman, Die Krise der Politik. Fluch und Chance einer neuen Öffentlichkeit, Hamburg 2000, S. 31. 176 |  Vgl. ebd., S. 30f. 177 |  Vgl. ebd. S. 75-82. 178 | Ebd., S. 75f.

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Kontrollverlust angesichts sozialer, politischer und ökologischer Veränderungen (Kontingenzangst), andererseits die Angst vor der unmittelbaren Verschlechterung der persönlichen Situation (oder derjenigen der eigenen Kinder und Angehörigen) in der Zukunft, die ihren Grund in der persönlichen ökonomischen Prekarität oder einer physischen Gefährdungslage hat. Aber auch aus einem anderen Grund sollte die Auswertung von Ängsten und Sorgen besonders sorgfältig vorgehen. Denn schon oft haben Politik, Wissenschaft und Medien im Kontext der Frage, wie mit den lautstarken bis aggressiven Protesten von rechts umzugehen ist, darauf hingewiesen, dass der Rekurs auf »Sorgen« und »Ängste« mitunter trügerisch sei:179 Der Verweis auf individuelle oder kollektive Angstempfindungen (etwa vor Einwanderung, dem Islam etc.) kann eine instrumentelle beziehungsweise taktische Funktion erfüllen, tritt Angst doch als rein subjektive und daher per se zu respektierende Empfindung auf, die rational zu durchdringen, ja infrage stellen zu wollen schnell als entmündigende Verfehlung gebrandmarkt werden kann. Der Verweis auf Ängste kann somit einen (diskurs-)taktischen Wert haben. Gerade die Selbstbezeichnung von Pegida- und AfD-Demonstrant/-innen als »besorgte Bürger« kann auch dazu dienen, demokratiefeindliche Positionen zu legitimieren.180 Dieser Problemzusammenhang soll zunächst anhand der konkreten Berichte der Jugendlichen über Zukunftserwartungen und Ängste (sowohl über ihre eigenen als auch über die anderer) erläutert werden. Immer wieder zeigt sich hier eine grundlegende Demarkationslinie zwischen der optimistisch gestimmten Sicht auf die persönliche Zukunft und einer grundlegenden Unruhe angesichts gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen. Zudem werfen die hier ausgewerteten Passagen Licht auf die Frage, inwieweit die befragten jungen Menschen tatsächlich an Kontingenzängsten und Zukunftssorgen leiden, oder aber ihre Berichte und Kommentare taktisch einsetzen, um eine dominante Sprecherposition zu erringen beziehungsweise um politisch anstößige Positionen zu legitimieren. Sie erlauben die Bündelung der Beobachtungen zu einer vorsichtigen Hypothese: Die grundlegendsten Unsicherheiten liegen gerade dort verborgen, wo unsere Gesprächspartnerinnen und -partner Ängstlichkeit am entschiedensten von sich weisen  – während die offensive Betonung von

179 |  Vgl. Adam Soboczynski, »Wir müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen«, in: Zeit Online, 04.10.2017, online einsehbar unter www.zeit.de/2017/41/sprache-politikfloskeln-gebaerde (eingesehen am 06.11.2017). 180 | Vgl. Samuel Salzborn, Demokratieferne Rebellionen. P egida und die Renaissance völkischer Verschwörungsphantasien, in: Wolfgang Frindte u.a. (Hg.), Rechtsextremismus und »Nationalsozialistischer Untergrund«. Interdisziplinäre Debatten, Befunde und Bilanzen, Wiesbaden 2016, S. 359-366, hier S. 363-365.

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persönlicher Angst und Besorgnis nicht selten der Rechtfertigung flüchtlingsund einwanderungskritischer Positionen dient.

5.4.1  Sorgen und Sicherheiten: Die persönliche Zukunft Im Hinblick auf die Zukunftserwartungen von Jugendlichen zeichnet die einschlägige Forschung gegenwärtig ein grundsätzlich asymmetrisches Muster. So fällt die Einschätzung der persönlichen Zukunft und der individuellen Chancen auf ein glückliches Leben grundsätzlich optimistisch aus, während die Zukunft der deutschen Gesellschaft, wahrgenommen als Konstellation zahlloser komplizierter Probleme und großer Konfrontationen, Stirnrunzeln provoziert.181 Dieses zweiteilige Bild wird durch unsere qualitativen Resultate zwar gestützt, muss jedoch insbesondere hinsichtlich der Ambivalenz persönlicher Zukunftserwartungen differenziert werden. Vor dem Hintergrund unserer Gruppengespräche wird deutlich, dass es durchaus Quellen von Verunsicherung gibt. Dabei ist hervorzuheben, dass Auskünfte über die unangenehmen Aspekte der eigenen Lebenssituation nur reserviert gegeben werden. Gerade Unsicherheiten bezüglich der beruflichen Aussichten oder der Erfüllungschancen privater Wünsche machen sich nur auf explizite Nachfrage hin geltend. Unklar blieb, ob die Jugendlichen und jungen Menschen solche Gedanken und Zweifel meiden, um sich als souveräne Persönlichkeit zu präsentieren, oder es sich um ungewollte Störsignale handelt, die man im Rhythmus des Alltags sonst erfolgreich auszublenden vermag. Wie unangenehm solche inneren Konflikte sein können, wird in einem geradezu eskapistisch »gelösten« Einzelfall deutlich, einer explizit christlich geprägten Schülerin, die ihre spirituelle Zuversicht vorschiebt: »Also, mein Glück oder meine Freunde, […] das hängt jetzt nicht davon ab, ob ich jetzt gleich den Studienplatz bekomme oder dann gut einen Job finde, sondern von meinem Glauben. […] Und deswegen habe ich nicht so Probleme mit Unsicherheit.« Ist der Damm einmal gebrochen, berichten ganz verschiedene Diskutant/-innen über ihre Wahrnehmung von strukturellen Problemen in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. So stelle es sich als überaus schwierig dar, überhaupt »einen Grundstein« für die eigene Existenz, für Vermögen und Kapitalbildung zu legen, da die allgemeinen Qualifikationsanforderungen für ein attraktives Einkommen so sehr gestiegen seien – während beispielsweise, »wenn man jetzt mal ein paar Jahre, also 10 Jahre, zurückguckt«, schon ein Realschulabschluss für den gehobenen Dienst genügt habe. Und nicht zuletzt haben wir auch mit jenen Jugendlichen und jungen Menschen gesprochen, die durchaus private Sorgen haben, gar um ihr Auskommen kämpfen oder 181 | Vgl. Gudrun Quenzel u.a., Jugend 2015, S. 378.

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zerrüttete Familienverhältnisse verwinden müssen, und daher gesellschaftliche Barrieren und Hürden aus eigener Erfahrung kennen. Indes: Niemand gibt zu, Angst vor (unverschuldeter) Arbeitslosigkeit zu haben. Der berufliche Wettbewerb scheint doch eher als Rennen um die komfortablen Plätze wahrgenommen zu werden, nicht unbedingt als harter Existenzkampf. Geht es also um die Einschätzung der persönlichen Zukunft, stützt die vorliegende Studie den bereits erwähnten Befund optimistischer Erwartung – jedoch nur auf den ersten Blick. Den verstreuten Sorgen zum Trotz präformieren zwar insgesamt, wie bereits deutlich wurde,182 vor allem meritokratische Ideale die wesentlichen Orientierungsmuster. Solange das soziale und gesellschaftliche Umfeld stabil bleibt, »funktioniert«, scheint das Schicksal letztlich in der eigenen Hand zu liegen und ist das persönliche Glück – bei ausreichender Leistungsbereitschaft  – erreichbar. Diese Ideale aber, insbesondere ihre optimistisch-tatkräftigen Züge, bieten auch eine dringend benötigte Zuflucht vor den erwähnten Unsicherheiten, mit denen umzugehen stets erhebliche Schwierigkeiten birgt. Insofern erscheint es zweifelhaft, ob die äußerlich bekundete Zuversicht in die eigene Zukunft auch wirklich tief empfunden wird.

5.4.2 A box full of fears: Gesellschaftliche Probleme und die ungewisse Zukunft Diese Zweifel erhärten sich angesichts der Ausführungen über die gesamtgesellschaftliche Zukunft. Die überdeutliche Präsenz schier unlösbarer Problemkomplexe einer sich verändernden Umwelt illustriert, dass nahezu sämtliche politische und ökonomische Zusammenhänge, die naturgemäß den persönlichen Nahbereich überschreiten, die Jugendlichen fundamental verunsichern, ja sie im Grunde überfordern. Freilich äußerten nicht alle Jugendlichen Ängste und Sorgen. Konkret geäußert wurden Ängste beziehungsweise Sorgen, die sich in vier Kategorien zusammenfassen lassen: a) die Angst vor dem Verlust ökonomischer Sicherheiten und einem Zusammenbruch der Sozialkassen (das heißt um Erhalt oder Ausbau des eigenen Lebensstandards), b) die Angst vor gewalttätigen oder sexualisierten Übergriffen durch Migranten und Flüchtlinge und vor der Präsenz »Fremder« im öffentlichen Raum bis hin zur »Überfremdungsangst«, c) die Angst vor dem Verlust der gesellschaftlichen Eintracht und dem Zerbrechen der Bundesrepublik in polarisierte, unversöhnliche Personen und Gruppen sowie d) eine generelle, schwer fixierbare Angst vor persönlicher Ohnmacht, einem Ausgeliefertsein angesichts gesellschaftlicher Großveränderungen wie politischer Spaltung, Sicherheits- und Wirtschaftskrisen, dem drohenden Verlust von Sicherheiten und Freiheiten etc. Generell gilt: Der größte Teil der Dis182 | Vgl. das Kapitel 5.1.

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kussionssequenzen kreist um das Thema »Flüchtlinge«, einer der zum Erhebungszeitpunkt auch öffentlich präsentesten kontemporären Konflikte.

a) Angst vor dem Verlust ökonomischer Sicherheiten und einem Zusammenbruch der Sozialkassen Ein zentrales Motiv der Gruppengespräche ist die Labilität des sogenannten Generationenvertrags. So sind zahlreiche Diskussionssequenzen über das Rentensystem von expliziten Zweifeln an der persönlichen Situation im Alter durchsetzt oder von Anfang an durch sarkastische bis zynische Untertöne grundiert. Das Problem der Altersarmut wird oft geradezu als unvermeidliches persönliches Schicksal wahrgenommen.183 So wird von einer 27-jährigen Mediengestalterin in kühler Selbstverständlichkeit konstatiert, dass angesichts einer alternden Gesellschaft »das Rentensystem so nicht mehr gehalten werden kann«. Denn, so eine 20-jährige Verwaltungsfachangestellte in Ausbildung aus einem anderen Gruppengespräch, der Beitragssatz für Arbeitnehmer/-innen steige irgendwann ins Unermessliche: »Je mehr Leute man halt finanzieren muss oder decken muss, desto mehr Geld muss man ja auch irgendwie hineinzahlen. Ob dann der Arbeitnehmer noch so viel Geld [hat], dass es gerade mal für ihn reicht, ist halt auch fraglich.« Ein junger Bauarbeiter moniert, dass sein Lohnniveau voraussichtlich nicht für eine zureichende Rente genügen wird: »Ich werde dann noch mit 80 irgendwann da unten hocken und meinen Bagger fahren und dann habe ich, was weiß ich, Freitagabend Feierabend und sterbe am Samstag. Was habe ich da von der Rente?« Abgesänge auf die Rente bilden ein wiederkehrendes Motiv in den Gruppengesprächen; fast scheint es Konsens zu sein, dass »mit der Bevölkerungsentwicklung, die wir haben, das Rentensystem so nicht mehr gehalten werden kann, wie es ja mal vorgesehen war in den Sechzigerjahren«. Zu den absehbaren Strukturkrisen mit ihrer Aussicht, »dass da dann am Ende nichts übrig bleibt«, gesellt sich das Szenario einer schweren wirtschaftlichen Rezession, ausgelöst durch schicksalhafte Verhängnisse oder in personifizierter Gestalt, etwa durch »Machenschaften von großen Währungsbanken, die mal wieder irgendwas entwerten oder irgendwelche Blasen entstehen lassen«. Ob hier der potenzielle Erwerbsverlust oder eine Hyperinflation avisiert ist, wird allerdings nicht klar; im Zentrum steht die Vorstellung eines plötzlichen und unverschuldeten Verlusts von Arbeitsplatz und Eigentum. Hier scheint bezeichnenderweise nur die ersehnte Immobilie noch in der Lage zu sein, vor den unwägbaren Gezeiten der Kapitalströme zu schützen: »Deswegen ist mein Ziel auch absolut das Eigenheim, weil: Das ist krisenfest.« Und zustimmend heißt es: »Nimmt dir keiner weg.« Hieraus geht deutlich hervor, 183 | Diese Perspektive könnte allerdings durch periodisch wiederkehrende politische und mediale Diskussionsmuster mitbedingt sein.

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wie konstitutiv die klassischen mittelständischen Eigentumskonzeptionen als Generatoren von Sekuritätsempfindungen für die jungen Menschen sind.184

b) Angst vor gewalttätigen oder sexualisierten Übergriffen durch Flüchtlinge und Migranten und der Präsenz Fremder im öffentlichen Raum Diskussionen um die Entwicklung der Kriminalitätsraten beziehungsweise der anwachsenden oder nachlassenden Schwere krimineller Taten und um die Präventionskompetenz der inneren Sicherheitsbehörden sind ein periodisch wiederkehrendes Phänomen. Ein gutes Drittel unserer Teilnehmerinnen berichtet über eigene beziehungsweise von Freundinnen gemachte Viktimisierungserfahrungen, etwa qua »permanente[m] Glotzen am hellichten Tag«. Ob diese teils stereotyp wirkenden Berichte Folge einer tatsächlich gestiegenen Gefährdungslage sind, ist an dieser Stelle nicht zu beantworten, insbesondere weil das Verhältnis von subjektiv-empfundener zu objektiv-messbarer Sicherheit historisch variiert und stark vom politisch-kulturellen Klima abhängt.185 Entscheidend ist vielmehr die Beobachtung, dass die Diskussion gesellschaftlicher Kriminalität in unseren Fokusgruppen primär an den Personengruppen der Flüchtlinge, Asylbewerber und Migranten (die, wie bereits erwähnt, zumeist differenzlos zusammenfielen)186 klebte – und zwar sowohl in anklagender wie abwehrender Hinsicht. Der Themenkomplex (steigender) Kriminalität verschwimmt in den Diskussionen fließend mit der Wahrnehmung einer raumfordernden Ausbreitung von Personengruppen mit Migrationshintergrund. In Bezug auf die Drogendealer-Szene, heißt es, dass diese Form von Kriminalität, auch durch Zuwanderung, zunehmend zu einem gesellschaftlichen Problem gerate: »Es werden halt immer mehr. Aus mehreren Ländern kommend, werden es immer mehr Leute auf der Straße.« Und auch wenn sich, wie es heißt, viele Integrationswillige an zivilisierte Umgangsformen halten, so expandierten doch die Zonen, 184 | Vgl. das Kapitel 5.1. 185 | »Die Furcht vor Kriminalität ist immer auch eng mit anderen relevanten gesellschaftlichen Problemen und Themen verbunden, wie etwa der Integration von Minderheiten, dem Vertrauen gegenüber ›Fremden‹ und Migranten sowie dem Vertrauen in Staat, Justiz und Polizei.« Zit.n. Dina Hummelsheim-Doss, Objektive und subjektive Sicherheit in Deutschland. Eine wissenschaftliche Annäherung an das Sicherheitsgefühl, in: bpb.de, online einsehbar unter www.bpb.de/apuz/253609/objektive-undsubjektive-sicherheit-in-deutschland?p=all (eingesehen am 25.11.17). Vgl. ferner hier und im Folgenden das Kapitel »Der Fremde und der Islam«. Vgl. auch Karl-Heinz Reuband, Steigende Kriminalitätsfurcht – Mythos oder Wirklichkeit?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 45/1994, S. 214-220. 186 | Vgl. Kapitel 5.2.

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in denen sich »die Polizei nicht mehr alleine mit einem Mannschaftswagen durch traut«. Diese fatalistische Sichtweise hat, insbesondere in den Leipziger Gruppen, viele Fürsprecher. Dort heißt es gleich mehrfach: »Es wird immer schlimmer!« Insgesamt ist – nicht selten auch von jenen, die sich für eine multiethnische »one world« aussprechen  – oft die Sorge zu hören, Deutschland habe 2015 einen Fehler damit begangen, »die Tore aufzureißen«, und damit unabsehbares Chaos herauf beschworen. Die Gründe für das Empfinden einer »Überflutung« sind dabei so reichlich wie stereotyp.187 So sei die Zusammenballung integrationsunwilliger Migrant/-innen, die sich isolierten und Ghettos beziehungsweise »Parallelgesellschaften« bildeten, schon länger ein Problem, eine »tickende Zeitbombe«. Migration erscheint immer wieder als (medial und politisch schlecht verhüllter) Zustrom junger Männer, welche sich in der deutschen Öffentlichkeit unzüchtig verhalten. Pointiert stellt das eine junge Mutter, selbst mit osteuropäischem Migrationshintergrund, heraus: »Gerade bei den syrischen oder afrikanischen männlichen Wesen – hört sich böse an – finde ich es sehr dreist, weil man es auch auf der Straße und in Bädern oder was man so ein bisschen mitkriegt, finde ich unter aller Sau.« Viele andere Befragte stimmen in diesen Chor der Reserviertheit, ja Fremdenfeindlichkeit ein. So geraten Flüchtlinge und Migrant/-innen mal explizit, mal unterschwellig zu Usurpatoren des öffentlichen Raumes. Zumeist wird diese Problemwahrnehmung auf nicht näher erörterte »kulturelle« Gründe zurückgeführt, doch vereinzelt bricht sich eine biologisch anmutende Argumentationsweise Bahn, wie sie infolge der Sarrazin-Debatte etwa über »Fortpflanzungsstrategien«, aber auch jüngst vom AfD-Politiker Björn Höcke zu hören war. Die hier häufig verhandelte Vorstellung, dass die deutsche Bevölkerung aufgrund differenter »Fertilitätsstrategien« schleichend durch Zuwanderung verdrängt zu werden drohe, ließ sich auch in einer Diskussionssequenz auffinden: »Und wenn man das halt mal hochrechnet, eine deutsche Frau bekommt im Schnitt halt nur 0,3 Kinder, gefühlt, ja? Und das ist auch nur eine Kulturfrage. Die haben halt auch viele Kinder, sage ich mal, ja? Kriegen vier, fünf, sechs Kinder, ja? Und wenn du das hochrechnest, was ist das mal in 30 Jahren, ja? Das verschiebt sich dann halt alles.«

Eine wiederkehrende, fast schon perfide fremdenfeindliche Spielart dieser Dramatisierungen ist das Lamento einer »Justizkrise« beziehungsweise »Zweiklassenjustiz« zugunsten Zugewanderter, welches sowohl in offener als auch in verdeckter Gestalt ertönt. So ist über vermeintlich nicht hart genug 187 | Über die Wahrnehmung von Flüchtlingen und Migrant/-innen allgemein vgl. das Kapitel 5.2.

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bestrafte Migrant/-innen entweder nur über die Erfahrungen Dritter zu schließen: »Ich habe Freunde, die sehr links sind, Freunde, die auch eher rechts sind und teilweise sprechen aber beide auch so von so ’ner Justizkrise. Sozusagen, dass dann der Justiz nicht mehr getraut wird, dass beide Menschengruppen gleichbehandelt werden.« Oder aber man erfährt dergleichen über das persönliche »Gefühl« beziehungsweise den »Eindruck« eines Teilnehmenden (beides Empfindungen, deren man sich sozusagen nicht erwehren kann): »Es vermehren sich ja sexuelle Übergriffe gegenüber Frauen, Diebstähle, Drogenhandel und sowas. […] Und ich habe auch das Gefühl, dass vor dem Gesetz mit zweierlei Maß gemessen wird. Also, wenn ich als Deutscher zum Beispiel eine Straftat begehe, werde ich teilweise härter bestraft, habe ich den Eindruck, als wenn jetzt einer von den Flüchtlingen, die gekommen sind… Also, da sind teilweise Urteile gefallen, da bin ich mir sicher, wenn ich das gemacht hätte, wäre ich für zwei Jahre ins Gefängnis gegangen – und der hat ein halbes Jahr auf Bewährung gekriegt!«

So entpuppen sich auch die deutschen Behörden qua unterlassener Strafverfolgung als mitschuldig an einer vermeintlichen Selbstbedienungs- und Vorurteilserschleichungs-Mentalität von Flüchtlingen und Zugewanderten, etwa wenn eine Gruppe junger Nordafrikaner in der U-Bahn schwarzfährt und mit Hilfe mangelnder Sprachkenntnisse eine Fahrkartenkontrolle zu umgehen vermag – »und die deutsche Oma, die daneben stand […], die muss jetzt 60 Euro bezahlen, und die anderen sind einfach weiter gefahren!« Das zentrale Motiv der Klagen über »Überflutung«, »Überfremdung« und die Usurpation der Öffentlichkeit durch Parallelgesellschaften scheint der Vorwurf des staatlichen Kontrollverlusts zu sein. Indes: Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt wurde,188 kann von einem geschlossen fremdenfeindlichen Weltbild unter den Jugendlichen  – allen bedenklichen Beobachtungen zum Trotz – keine Rede sein. Oft tragen die Äußerungen Züge des Gerüchts oder der oberflächlich adaptierten Meinung, treten in der Regel fragmentarisch auf, wirken im Vergleich zu den sonstigen Äußerungen der jeweiligen Personen in der überwiegenden Zahl der Fälle kaum als fester Bestandteil grundlegender Überzeugungen, so drastisch sie im Einzelnen auch auftreten mögen. Auffällig schwach aber wirken auch die konkurrierenden Sichtweisen, allen voran Relativierungsversuche der Tätergruppe »Migranten/Flüchtlinge«. Schließlich habe jede Stadt eben ihre Problemgruppe, »da sind’s die Neonazis und hier die Libanesen«. Ja, im Grunde sei der Anteil Krimineller so etwas wie ein ehernes Naturgesetz mit variierenden Protagonisten, denn »die relative Arschlochdichte ist überall gleich«. Sorgen um seine Partnerin, die des Nachts den Heimweg antritt, habe man sich schon immer machen müssen, denn auch 188 | Vgl. das Kapitel 5.2.

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unter den autochthonen Deutschen hätte es schon immer Vergewaltiger und zwielichtige Gestalten unter dem immer schon »asozialen« Bahnhofspublikum gegeben. Mit Blick auf die nun hinzustoßenden Flüchtlinge, die eben nur »eine neue Herausforderung« darstellten, lässt sich daher sagen: »Da fallen die schon gar nicht mehr auf.« Und: Ein sichtbarer Teil unserer Diskutanten äußert Freude über einzelne Aspekte der multikulturellen Gesellschaft, etwa über die Auffrischung der Speisekarten oder die generelle »Bereicherung«, die durch den Kontakt mit »fremden Kulturen« entsteht. Was jedoch diejenigen, die Pauschalisierungen kritisch gegenüberstehen, mit jenen eint, die auf ein stereotypes Bild der »Ausländer« fixiert sind, ist der Zweifel an der Effektivität (sicherheits-)politischer Gegenstrategien: »Es sind immer wieder Fälle dabei, von denen man liest und sich dann denkt: Okay, ich habe das jetzt nicht studiert, aber trotzdem, von meinem Gefühl her, läuft da gerade was völlig falsch im Strafmaß.« Interessanterweise lösen sich strukturanalog auch die Assoziationsketten von gewalttätigen Übergriffen, der gefährlichen Aura von Männergruppen beziehungsweise Fremden und der allgemeinen Präsenz von Menschen mit Migrationshintergrund im Falle einer Teilnehmerin schließlich von ihrem Ursprungsgegenstand: Hier heißt es, die Menschen legten ganz allgemein eine größere Bereitschaft zu gewalttätigen Handlungen (auch von rechts) an den Tag. Der Umgang mit fremden Personen, gleich welcher Herkunft, werde zunehmend unberechenbarer, weil man nicht wisse, »wie weit die gehen«. Dies lässt die Vermutung zu, dass, allen berichteten Einzelerlebnissen und bedenklichen Stereotypien zum Trotz, es nicht das Gewaltpotenzial bestimmter Gruppen, sondern eher die diffuse Vorstellung einer insgesamt unsicherer werdenden Umwelt ist, die die Jugendlichen und jungen Menschen umtreibt. Dafür spricht auch, dass verschiedene Probleme, die im Zusammenhang mit der Flüchtlingsthematik angesprochen werden, auch jene ganz generell beschäftigen, die als Verteidiger einer offenen Gesellschaft auftreten, sich mithin der Dramatisierung von Zuwanderungseffekten prinzipiell verwahren. Hierzu zählt nicht nur die Wahrnehmung ansteigender Kriminalität oder schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalts, sondern auch etwa die personelle Unterbesetzung der Polizei: Im Falle eines Einbruchs 13 Minuten auf einen Beamten warten zu müssen beziehungsweise am Telefon mit Ratschlägen vertröstet zu werden, sei demnach kaum zumutbar – während ein prospektiver Einbrecher »an der Tür über 25 Minuten rumgemacht hat«. Ja, auch die Klagen über die von verschiedenen Ländern ausgehende »Überfremdung« und die damit zusammenhängende ansteigende Unübersichtlichkeit mag sich zu einem guten Teil aus der Quelle allgemeiner Überbevölkerungsempfindungen speisen. Denn die Furcht, Individualität und Lebensraum einzubüßen, tritt in einzelnen Diskussionssequenzen auch selbstständig auf: Dann heißt es, die Welt werde allgemein »immer voller«, die Innenstädte dichter besiedelt,

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die Zahl der Wolkenkratzer und Autos nehme zu. Das Verlangen nach Übersichtlichkeit und planbarer Sekurität findet, so scheint es, in der Angst vor der Präsenz »Fremder« im öffentlichen Raum ein Vehikel, ist aber nicht zwangsläufig durch sie motiviert.

c)  Angst vor dem Verlust der gesellschaftlichen Eintracht Dass ein harmonisches Zusammenleben in Deutschland gefährdet ist, lässt sich für manche vor allem am Wandel von Umgangsformen ablesen. Sie beklagen, dass die Menschen allgemein auf Distanz zueinander gehen, höfliche Umgangsformen vernachlässigen und sich zunehmend voneinander isolieren.189: »Wenn ich hier mittlerweile jemanden frage: Wollen wir einen Kaffee trinken gehen? [Dann erhalte ich die Antwort:] Um Gottes Willen, was will der von mir?« 190 Oft, aber nicht nur, wird diese Entwicklung dann auch Menschen mit Migrationshintergrund zulasten gelegt, die sich nicht in die Gepflogenheiten der Ankunftsgesellschaft fügen. So beurteilt ein Teilnehmer die sozialen Verhältnisse in seinem favorisierten Imbiss wie folgt: »Die sind zwar freundlich, grüßen und laden dann auch mal zu was zum Essen ein. […] Aber dieses Mehr, darüber hinaus, diese unverbindliche Freundlichkeit, kenne ich eigentlich so auch nicht. Die bleiben dann lieber unter sich.« Und auch ein anderer Diskutant moniert  – auch, wenn man es »irgendwo verstehen« könne –, »dass sich irgendwie so Parallelgesellschaften« bildeten, sodass sich zwangsläufig eine gesellschaftssprengende babylonische Verwirrung ergebe: »Wir verstehen die nicht und die verstehen uns nicht.« Und da die Fertilitätsraten von Zugewanderten die der deutschen Bevölkerung überstiegen – so derselbe, bereits oben zitierte Teilnehmer –, bleibt dem Zuhörer angesichts der solche Darstellungen zumeist tolerierenden Gruppensituationen nur noch die Schlussfolgerung zu ziehen, dass der gesellschaftliche Frieden in mittelferner Zukunft durch Massen von Zuwandernden gesprengt werden wird. Doch auch und gerade das gärende politische Klima seit 2015 versetzt viele Jugendliche und junge Menschen in Unruhe. Hier sind es dann die autochthonen Deutschen selbst, die nach dem Vorbild von 1933 eine rechte Tendenzwende beziehungsweise gar einen autoritären Umsturz der politischen Ordnung herbeiführen könnten. »Ich sehe halt die Gefahr, dass durch diese angebliche Islamisierung, durch Terrorismus und so weiter die demokratischen Rechte eingeschränkt werden. Oder aber eben auch solche [rechten] Gruppierungen 189 | Vgl. hierzu Kapitel 3.4. 190 |  Auch hier mag die überwiegend großstädtische Wohn- und Lebenssituation unserer Diskussionsteilnehmer/-innen eine Rolle spielen, da städtische Interaktionsformen generell anonymer und distanzierter ausfallen als solche in kleinstädtischen oder ländlichen Gemeinden.

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an die Macht kommen […]« Der Weg von fremdenfeindlichen Vorbehalten zu einem Weimarer Szenario des erodierenden bürgerlichen Konsenses in Deutschland und/oder Europa erscheint als kurz: »Die sehen anders aus als wir, also wird das auch so schnell zugeschrieben. Das ist die Gefahr. Daraus entsteht Hass, ne? […] Meine größte Angst ist einfach die politische Entwicklung [namens] AfD. Pegida auch.« Befragte mit Migrationshintergrund berichten darüber, dass die autochthone Bevölkerung seit kurzem vorurteilsbelasteter agiere: »Da waren wir auch irgendwann mal spazieren. [Von außen betrachtet:] Da sind halt Ausländer. Die Ausländer waren halt unterwegs in so einer Gegend, wo in der Nähe eine Flüchtlingsunterkunft war. Und da haben uns alle Leute komisch angeguckt, weil die wahrscheinlich gedacht haben, dass wir Asylanten oder Flüchtlinge sind.«

d) Diffuse Angst vor persönlicher Ohnmacht in quasi-apokalyptischen Szenarien Angstempfindungen – oder besser: aus der Ungewissheit der Zukunft resultierende Sorgen und Befürchtungen – sind also spürbar präsent und richten sich auf viele verschiedene Gegenstände. Die konkret geäußerten Ängste von a) bis c) weisen in ihren Verästelungen immer wieder starke projektive Züge auf, die sich von ihrem unmittelbaren Bezugspunkt lösen und in der Vorstellung quasi-apokalyptischer Situationen beziehungsweise eines kommenden »großen Krachs« münden. So wächst die einzelne, jeweils konkret benannte Gefahr im Laufe der Diskussion stetig an, weckt trotz beschwichtigender Einsprüche stets neue Assoziationen, Erfahrungsberichte oder aufgeschnappte Gerüchte – bis nahezu jedes gesellschaftliche Problem sich zu einer unverhältnismäßig dramatischen Gewitterfront zusammenzieht. So erhalten sowohl die Angst vor einem Kollaps der Sozialkassen, vor einem Überhandnehmen der Gewalt, vor einem drohenden (Bürger-)Krieg, einem taumelnden ökologischen Gleichgewicht oder vor einem Versagen der Justiz- und Exekutivbehörden letztlich immer wieder den Charakter einer Kristallisation von grundlegendem Unsicherheitsempfinden. Zugleich kann hier kaum von einem »Hineinsteigern« die Rede sein, reden sich in den Gruppendiskussionen nur wenige in Rage oder emotionalisieren einen zuvor nüchtern betrachteten Gegenstand in übersteigerter Weise. Im Gegenteil: Hat man sich erst einmal darauf verständigt, dass es mit der jeweiligen Entwicklung einfach nicht mehr so weitergehen kann, wirken die Jugendlichen und jungen Menschen erleichtert; man ist mit seinem Unwohlsein nicht allein. Die Zungen lösen sich genau dann, wenn die Diskutant/-innen sich ihrer Sorgen nicht mehr schämen müssen – daher können Extrempositionen (Dramatisierungen, Zynismus usw.) in diesen Passagen, mehr als in allen anderen, womöglich als Verdichtungen allgemeiner Tendenzen gelesen werden.

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Es scheint, als bedeuteten die Ereignisse des Spätsommers 2015 so etwas wie einen Signalpunkt, einen Einbruch der Weltgeschichte in das Herz eines befriedeten, konf liktarmen Europas, der ganz grundlegende Ref lexionen auf den Zustand der Gesellschaft provoziert. Ähnlich prägnante Ereignisse mögen die Finanzkrise ab 2008/2009, die Eurokrise ab 2010, die Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 oder andere mehr gewesen sein – die jedoch allesamt in den hier durchgeführten Fokusgruppen nicht thematisiert wurden. Derlei tagespolitische Extremsituationen, die den Eindruck erwecken, auch die gewöhnlichen Bürger/-innen in eine gesellschaftliche Krisendynamik zu saugen, sorgen freilich selten für kontinuierliche Erregung; zum Zeitpunkt ihres Auftretens aber setzen sie die Gemüter in Bewegung: So spült der aufscheuchende Effekt der Flüchtlingsthematik mehrfache Großthemen in das Sammelbecken der Ungewissheiten. Die hierdurch entstehende Konfusion ist besonders gut ablesbar in Bemerkungen, die die diffuse Erwartung sich verschärfender gesellschaftlicher Konf likte anzeigen, ohne ein konkretes Problem zu benennen – »weil man oft hört, dass viele Konfrontationen kommen«. So ist auch die Drohung des Krieges zu den diffusen Ängsten zu zählen, da die Rollen von Aggressor und Verteidiger (USA versus Russland, USA versus Nordkorea, Russland versus EU, Erdogan versus Deutschland) sowie der Stellenwert von Ursachenbündeln (Ressourcenkampf, Expansionsdrang) und Triggerfaktoren (Provokationen, Stellvertreterkriege, Bündnisverpf lichtungen) austauschbar sind. Und: Als nicht minder gefährlich als klassische bewaffnete Konf likte gilt manch einem die neue digitale Offensive: »Ich persönlich finde, das mit dem Krieg ist nicht die größte Bedrohung, sondern dass halt gerade die mit dem Laptop und der Maus, heutzutage, die größte Macht haben.« Es geht hier keinesfalls darum, Ängste als irrational zu brandmarken beziehungsweise die Möglichkeit militärischer Eskalationen in Abrede zu stellen, doch lohnt es sich hervorzuheben, dass die individuell verschiedenen Sorgenträger/-innen ein grundlegendes Muster der Kriegsfurcht teilen, welches sie offenkundig stark beschäftigt. Für die Auseinandersetzung mit diesem Thema mangelt es den Jugendlichen und jungen Menschen an Begriffen und Orientierungsschablonen, weswegen sie hier besonders häufig auf Verschwörungskonstrukte, etwa in Form von geheimen Machenschaften beziehungsweise der »Planung« von Kriegen durch Supermächte und Regierungen, zurückgreifen. Aktuellen beunruhigenden Geschehnissen kann so ein Quäntchen Sinn abgetrotzt werden: »Um das Volk in Schach zu halten, ist so ein Terroranschlag meines Erachtens manchmal nicht so schlecht.« 191

191 | Vgl. das Kapitel 5.3.2.

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Natürlich ist die Gefahr von Terroranschlägen ohnehin Brennpunktthema im Relevanzsystem unserer Befragten gewesen. Schließlich sind islamistisch motivierte Anschläge in den letzten Jahren auch in Deutschland Realität geworden. Die drohende unverschuldete Gefährdung des eigenen Lebens, der wahllos und zufällig hereinbrechende Tod verunsichert, verursacht ein auch tagesaktuell bedingtes mulmiges Gefühl. So geben viele an, ihre negativen Gedanken nur noch schwerlich kontrollieren zu können: »Ja, also der Terror ist bei mir angekommen. Leider, muss ich ehrlich gesagt gestehen. […] Ich saß neulich in meinem Lieblings-Dönerladen am Hauptbahnhof. Es kamen zwei arabisch aussehende Männer rein. Der eine hatte so eine Sturmhauben-ähnliche Kopf bedeckung an und ich dachte mir: Fuck.« Gleichwohl gibt es aber auch jene, die die nötige Distanz aufzubieten vermögen, dieses neue Risiko mathematisch-statistisch zu betrachten: »Ich meine, wenn was passiert, passiert’s, kann man nicht mehr verhindern.« Besser sollte man genau wie vorher »halt sein Leben leben und Spaß dabei haben«. Und natürlich befürchten nicht wenige von denen, die sich von der Drohung des Terrors nicht aus der Ruhe bringen lassen, die bereits erwähnten antidemokratischen beziehungsweise antipluralistischen Reaktionsbildungen, also den Aufmarsch der Empörten, Wütenden und Verführten von rechts. Nicht zuletzt herrscht generell, wie bereits erwähnt, schon über die übliche Praxis von Sicherheitsbehörden und Strafverfolgung Konfusion. Im Anschluss an eine Passage über die »Justizkrise« verlagert ein Teilnehmer das Gespräch weg von migrantischen Gruppen und hin zu einer sehr autoritären Wunsch-Auslegung des Retributivrechts: »Na, ich denke eher, dass es eine allgemeine Krise gibt mit den Bestrafungen. Also, so habe ich den Eindruck. Also, manchmal kann man das nicht nachvollziehen, wer jetzt eine Strafe kriegt oder in welchem Ausmaß. Und oft wird dann eben gesagt: Okay, Unzurechnungsfähigkeit – ab in die Psychiatrie. Und nach guter Führung darf man vielleicht sogar raus. Also das ist jetzt so mein Eindruck, dass einfach die Gesetze teilweise viel zu lasch sind.«

Den Gipfelpunkt der Dramatisierungen markiert die selten geäußerte Vorstellung eines »großen Krachs«, also eines vollständigen Zusammenbruchs der gesellschaftlichen Ordnung. Bezeichnenderweise erscheinen Vorahnungen dieser Art in den Gruppendiskussionen hochgradig ambivalent. Denn freilich birgt eine solche quasi-apokalyptische Situation diverse Schrecken, verheißt zu Ende gedacht – in dieser Radikalität nicht explizit von den jungen Menschen ausformuliert – eine Bilderwelt brennender und geplünderter Innenstädte und des chaotischen Ausnahmezustands. Doch ist unverkennbar, dass sich die zuweilen überfordernde Komplexität der politischen, sozialen und ökonomischen Zusammenhänge im Konzept der Stunde Null auflöst.

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Dieser Fixierung auf den Abgrund steht allerdings auch immer wieder eine distanzierte Haltung zu Ängsten und Sorgen gegenüber. Angst mitsamt dem daraus resultierenden Hass dient dann häufig auch als Analysekategorie für das Verhalten der Mitmenschen oder der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit im Allgemeinen. Diejenigen, die das tun, gehen dabei stets auf Distanz zu den Medien: Hier lautet der Vorwurf, Zeitungen und Berichterstattende würden stets einseitige und überzeichnete Darstellungen liefern und Themen wie den Flüchtlingsandrang künstlich »hochpushen«. Gesellschaftliche Angst und kochende Wut resultierten, so vor allem die Unbekümmerten, nicht zuletzt aus dem massenmedialen Auf bau von Geflüchteten und Migrierten zum universellen Feindbild, sei eine Konsequenz von Filterbubbles der großen Presse-Imperien  – oder sie sei, so argumentieren zum Teil dieselben Personen, Ausfluss begründeter Skepsis der Bürger/-innen angesichts eines stillen Schweige-Kodizes der Vierten Gewalt, was die Häufigkeit und Schwere krimineller Taten von Flüchtlingen und Migrant/-innen betrifft: »Man fühlt sich ein bisschen verarscht.« In diesen Erwägungen wird der subjektive Faktor, das heißt das, was man selbst denkt oder empfindet, ausgeblendet zugunsten einer kausal-deduktiven Argumentation. Die Analyse des sozialen Verhaltens anderer Personen und Gruppen scheint daher auch ein probater Weg zu sein, eigene Unsicherheiten dem Blickfeld zu entziehen. Kurzum: Die Fokussierung auf die Thematik zeigt, dass die Jugendlichen und jungen Menschen in unseren Gruppendiskussionen offenbar große Probleme haben, mit ihrer tiefsitzenden Kontingenzangst fertig zu werden. Ob Wirtschaftskrisen, überhandnehmende Kriminalität, politische Umbrüche, (Bürger-)Kriege oder massenhafte Migration: In ihren Darstellungen scheint die Welt aus den Fugen zu geraten – so vehement man auch Panik und Alarmismus von sich zu weisen versucht. Wie zu Zeiten des Kalten Krieges mit seiner permanent empfundenen Drohung des Atomschlags scheint der Untergang elementarster gesellschaftlicher Verkehrs- und Lebensformen durch den einen entscheidenden Stimulus stets nah zu sein. Der nächste Konflikt im Mittleren Osten, ein Einbruch des Finanzmarktes, die plötzliche Revolte zornerfüllter Gruppen, der ökologische Super-GAU (bis 1989 war das noch vor allem der Atomschlag zwischen Ost- und Westblock per Knopfdruck) – All das kann den status quo ins Nichts auflösen, sodass jede Errungenschaft im Hier und Jetzt immer schon vergänglich anmutet. Am deutlichsten wird dies geäußert im Rahmen des Gedankenexperiments erreichter Lebensziele im Alter von 70 Jahren: »Na ja, unsicher. Weil Krieg und alles kann jeder Zeit… Also wenn Erdogan jetzt plötzlich denkt: Ja nee, ich habe jetzt keinen Bock mehr auf euch, dann marschiert er, dann fängt er mal einen großen Krieg an und dann … Die Zukunft ist einfach komplett unsicher. Klar, es wäre schön. Aber planen kann man da eh nichts.«

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Und angesichts eines solchen »ehrlichen« Defätismus in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht mag der Rückzug in eine private optimistische Grundhaltung als durchaus vernünftiger modus vivendi erscheinen. Gleichwohl soll mit dieser kondensierten Darstellung nur eine allgemeine Tendenz herausgearbeitet werden; ihr stehen selbstverständlich auch gegenläufige Züge gegenüber. Keineswegs sind die Jugendlichen und jungen Menschen durchweg von heilloser Panik ergriffen, sondern nehmen sich häufig genug selbst zurück, relativieren allzu drastische und polemische Skizzierungen. Ein achselzuckender Gestus, ein Abwinken, ein seufzendes »Na ja« oder ein Schuss Ironie beendet dann den Ausflug in bedrückende Erwägungen oder nihilistische Räsonnements, geradezu als Königsweg der Kontingenzbewältigung. Und traten nicht wenige Befragte ruhig und gefestigt auf, rangen weder um übergroße Redeanteile noch tolerierten sie die Dramatisierungen ihrer Diskussionspartner. Hier ist – ohne jeden destruktiven Beiklang – zu hören, dass es die rundum sichere und risikofreie Gesellschaft nun einmal nicht gebe, dass überhöhte Anspruchshaltungen nicht weiterführen, und dass der plötzliche Tod durch einen Terroranschlag statistisches Pech darstelle, gleich einem als ebenso wahrscheinlich eingeschätzten Verkehrsunfall oder Blitzeinschlag. Insbesondere in Deutschland drohe keine existenzielle Gefahr jenseits von Wohnungseinbrüchen und Handtaschendiebstahl. Daher, so weiter, sollten besser die bestehenden persönlichen Freiheiten genutzt werden, um das Leben, wie es ist, zu genießen. Man könnte diese Personen, die ihre Kontingenzangst offenbar bewältigt haben, als robuste, gefestigte, stressresistente, kurz: resiliente oder auch »ambiguitätstolerante«192 Jugendliche und junge Menschen bezeichnen.

5.4.3 Angstrhetorik versus Angstempfindung? Zwischenfazit – Versuch »Bezüglich meiner Zukunft: Das mit den Flüchtlingen, und so. Ich habe da voll Angst vor.« Dieser Satz ist die Antwort eines solchen resilienten Diskussionsteilnehmers auf die Frage, welche politischen Themen ihm aktuell als besonders wichtig erscheinen. Seine Äußerung wirkt authentisch, wie die eingestandene  – und verständliche  – Ungewissheit eines jungen Menschen, der sich einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung gegenübersieht, deren 192 | Mit »Ambiguitätstoleranz« bezeichnete die Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik die Fähigkeit eines Individuums, positive wie negative Eigenschaften eines Gegenstandes – hier Politik und Gesellschaft – parallel erkennen zu können, ohne der einen oder anderen Perzeptionweise zu erliegen, vgl. Else Frenkel-Brunswik, Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable, in: Journal of Personality 18, H. 18/1949, S. 108-143.

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Konsequenzen er nicht absehen kann. Seine Vorbehalte haben auch deswegen Gewicht, weil er in verschiedenen Gesprächskontexten zu eher linksliberalen Positionen neigt, wenn er etwa Putins Russland ein »veraltetes« patriarchales Frauenbild vorwirft und die dortige Mentalität als »recht homophob« kritisiert. Und auch sonst steht er Geflüchteten und Migrierten eher empathisch gegenüber, berichtet über positive persönliche Erfahrungen mit gelungener Integration am Arbeitsplatz, und kritisiert die einseitige mediale Abdeckung von Problemfällen, denn: »Jene, die Deutsch lernen und arbeiten gehen, von denen wird ja nicht berichtet.« Aggressiveren Diskutanten hält er entgegen: »Stell dir vor, uns würde es hier so gehen und die würden alle ihre Grenzen dichtmachen!« Als eigentliches, elementares Problem – der Grund, warum er von »Angst« spricht  – nennt er, dass Immigrant/-innen in Deutschland isolierte Zirkel bilden könnten, in denen sie etwa Scharia-konforme Regelwerke durchsetzen und sich den Ge- und Verboten der deutschen Umgangsformen entziehen. Gleichwohl relativiert er auch diese Anmerkung durch das Zugeständnis, dass flüchtende Deutsche im Ausland sicher selbst Grüppchen und Ghettos bilden würden – und distanziert sich nachdrücklich vom »Pegida/Legida-Zeug«. Kurzum: Seine Äußerungen repräsentieren die wenigen differenzierten Charaktere in unserem Sample, die zwar kompromisslos direkt zum Punkt kommen und aktiv konträre Positionen herausfordern, aber sich gegen Simplifizierungen zur Wehr setzen. Angesichts seines Verzichts auf Agitation innerhalb der Gruppe ist zu vermuten, dass die von ihm angegebene Angst vor Flüchtlingen eingestandene und verbalisierte Kontingenzangst ist, die nicht mit Hilfe fremdenfeindlicher Motive gelöst wird. Indes: Vollends klären lassen sich diese Motivlagen nicht. Denn auch die wiederholt auftauchenden Äußerungen, die sich als diskurstaktische Muster fassen lassen könnten, da das Reden über »Ängste« und Empfindungen hier vornehmlich der Selbstpositionierung und -inszenierung innerhalb der Gruppe dient, bleiben zunächst nur Beobachtungen. Dennoch scheinen sich, überspitzt formuliert, die Jugendlichen an diesem Punkt dann doch zu polarisieren und, trotz einhelliger Distanzierung vom Dresdner Protestphänomen, in Gruppen zu spalten, in denen die Empfänglichkeit für rhetorische Muster von Pegida eindeutig stärker überwiegt, oder aber faktisch nicht verfängt.193 Denn auf der einen Seite sprachen so manche Gesprächspartner/-innen extensiv über ihre persönlichen Befindlichkeiten, insbesondere ihre demokratische und multiethnische Grundauffassung, um zu Sorgen und Bedenklichkeiten überzugehen und daraus fremdenfeindliche bis ethnopluralistische Schlüsse zu ziehen. Dann entpuppte sich nicht Angst, sondern beispielsweise Wut auf die Moschee und auf »muslimische Klingelschilder« im eigenen Stadtbild (In193 |  Zur Übereinstimmung der Argumentations- und Orientierungsmuster der Unbekümmerten und den Aktivisten von N o P egida vgl. Stine Marg u.a., NoPegida.

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dikatoren einer arabischen »Überfremdung«) als eigentliches Motiv, oder wurde das Bekenntnis zu einem weltoffenen Miteinander in zornige Aggression gegenüber sogenannten integrations-»unwilligen« Flüchtlingen verwandelt: »Ich muss sagen, hätte ich irgendwas zu melden, ich hätte den persönlich aus dem Land geschmissen, ganz ehrlich!« Zudem schienen manche der extensiv und detailreich geschilderten Berichte über persönliche Sorgen, Ängste und Viktimisierungserfahrungen (respektive über Stalking und sexuelle Belästigung von Freunden und Bekannten) dazu zu dienen, eine Alpha-Rolle in der Gruppensituation zu erlangen und sich als informierter Experte zu inszenieren. Diese Gruppe von Personen zeigten mehrfach die stärksten inhaltlichen und rhetorischen Übereinstimmungen im Sinne einer sekundären Anschlussfähigkeit mit und an Pegida.194 Ihr gegenüber steht eine linke beziehungsweise linksliberale »Gegenseite«, die durch die Neigung auffällt, Problemthemen in Gänze zugunsten humanistischer Prinzipien zu entscheiden. Das Auftreten von Pegida wird von ihnen tendenziell als Angelegenheit unbelehrbarer Mittfünfziger wahrgenommen, einer »Generation über 50, dieser Lehrerstand, der auch wirklich, dann, für andere Kulturen wirklich null offen ist«. So wird der Themenkomplex von Migration, Integration und Flucht stur positiv besetzt, negative Äußerungen (auch eigene) in teils widersprüchlichen Argumentationsfiguren relativiert. Gerät etwa die Frage nach der Übergriffigkeit arabischstämmiger Männer infolge der Kölner Silvesternacht 2015/2016 ins Zentrum der Diskussion, wird nicht selten von den Befragten geäußert, dass man, obwohl man »sehr feministisch« sei, sich »wirklich« des Nachts »öfter unsicher« fühle, häufiger verfolgt werde und laszive Sprüche erdulden müsse. Doch da diese Feststellung äußerlich multiethnischen und kosmopolitischen Überzeugungen zu widersprechen scheint, wird entweder eilig angefügt, es sei »affig, zu behaupten, dass es auf irgendeine Nationalität oder Hautfarbe zurückzuführen ist«, da der Anteil autochthoner Täter ebenso hoch sei – oder aber Sensibilität für fremde Kulturkreise gefordert, deren Angehörige die hiesigen Gepflogenheiten erst noch erlernen müssten: »Ich würde sagen, die können einfach nichts dafür, wenn sie in einer Kultur groß werden, wo einfach ein sehr anderes Rollenverständnis herrscht.« Das Auffällige ist hier weniger der Widerspruch zwischen Verleugnung des Problems und der (dann eigentlich nicht mehr nötigen) Entschuldigung prospektiver Täter, sondern die Verbindlichkeit des relativistischen Konsenses, der die Diskussion innerhalb dieser Personengruppe zumeist beendet: »Man kann als Deutscher ein Arsch sein oder als Afghane oder Namibianer.« Auch Diskussionen über die Religionsgemeinschaft des Islam werden, ganz analog, in abstrakte Gewissheiten aufgelöst: »›Der Islam gehört zu Deutschland?‹ Es sagt ja auch niemand: ›Der Buddhismus gehört zu 194 | Vgl. Kapitel 4.1.

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Deutschland!‹ Ich sage, Religion gehört zu Deutschland, zur deutschen Gesellschaft  – basta!« Aber dennoch: Ein solcher felsenfest zementierter Universalismus wird paradoxerweise nicht selten von kulturrelativistischen Tönen begleitet, die Umgangsformen, Kochstile etc. in exotistischer Manier zunächst als unverrückbare Attribute von Migrantengruppen zu stilisieren, um sie dann als »Kulturbereicherung« begrüßen zu können. Diese Begeisterung für das Außereuropäische und Fremde übernimmt dabei fremdenfeindliche Stereotype und invertiert deren negative Zuschreibungen in Positive. So erscheinen etwa die »edlen Wilden«, in einer Fokusgruppensituation das Foto einer schwarzafrikanischen Dorfgemeinschaft, als beneidenswerter Hort der Ursprünglichkeit: »In solchen alten Kulturen, diese Werte von denen, da könnte man sich noch viel von abschauen.« Das Lager jener, die sich gegenüber den Rhetoriken von Pegida als widerstandsfähiger erwiesen haben, scheint Schwierigkeiten damit zu haben, sich zwischen einem auf klärerischen Universalismus und Multikulturalismus zu entscheiden. Selbstverständlich ist es im Rahmen einer qualitativen Auswertung nicht möglich, die Motive Einzelner zweifelsfrei zu klären oder aber mit entlarvender Geste ihr »eigentliches« Denken zu enthüllen. Auch kann es nicht darum gehen, in die Diskussionsverläufe einzugreifen oder den Wahrheitsgehalt einzelner Auffassungen und Statements zu beurteilen. Eine entscheidende Beobachtung aber ist, dass sich die grundlegenden politischen Orientierungsmuster gemäß der sekundären Anschlussfähigkeit an Pegida-Topoi oder ihrer weitgehenden Abwesenheit in unserem Sample mit der eingangs erwähnten Auswahlfrage sortieren ließen. Gruppen aus beunruhigten Teilnehmenden, die große bis sehr große Angst vor dem Islam angaben (Werte 4-5), neigten in der Diskussion stärker zu flüchtlingsfeindlichen und somit zu Pegida-anschlussfähigen Positionen. Zugleich fanden die Unbekümmerten, die wenig bis keine Angst vor dem Islam zu Protokoll gaben (Werte 1-2), trotz zum Teil grob stereotypen Denkmustern schnell zu einem linken bis linksliberalen Konsens  – während Parameter wie Bildungsstand und Alter versagten. Die Chiffre »Angst vor dem Islam« führte also zur internen Homogenisierung und äußeren Kontrastierung der beiden genannten Lager – und das, obwohl in den Diskussionen sehr viel weniger von Moslems und den Lehren des Koran als von Flüchtlingen die Rede ist. Dies lässt eine vorsichtige Hypothese zur Unterscheidung der oben beschriebenen Ausprägungsformen von Kontingenzangst im Gegensatz zu taktisch-rhetorischen Verwendungsweisen von »Ängsten« und »Sorgen« zu. Geht man davon aus, dass das Reden über Flüchtlinge und über damit zusammenhängende Ängste auch ein Vehikel der diskursiven Grenzabsteckung politischer Konfrontationen beziehungsweise Polarisierungen ist, so lässt sich eine zweiteilige Schlussfolgerung ziehen:

5.  Politisch-soziale Orientierungs- und Deutungsmuster

1) Die sekundär an Pegida-Topoi anschlussfähigen »Diskurstaktiker/ -innen« (und insbesondere die sozioökonomisch Prekären unter ihnen), neigen dazu, ihre Ängste und Sorgen offensiv vor sich herzutragen und sich damit im Gruppengespräch ein Vorrecht auf das Vorurteil zu erkaufen. Damit ist nicht gemeint, dass sie keine bisweilen großen Ängste und Unsicherheiten hegten, deren Artikulation ihnen Resonanz und Solidaritätserfahrungen durch die Gruppe verschaffen könnten; durchaus aber geht es um eine bestimmte Konstellation, die dieses Sprechverhalten trennscharf von den sonstigen Gepflogenheiten in unseren Fokusgruppen abhebt: Während nämlich das Gros der Befragten Wert darauf legt, sich als autonomes und souveränes Individuum zu präsentieren, das mit den komplizierten Anforderungen der marktwirtschaftlich organisierten Alltagsrealität fertig wird, bricht die Berufung auf persönliche Angstempfindungen aus den raumfordernden und mitteilungsbedürftigen Diskurstaktikern impulsiv und oft auch aggressiv hervor. Bezeichnenderweise richtet sich die von ihnen bekundete Furcht stets auf Menschen mit Migrationshintergrund. Und nicht zuletzt wenden diese Personen ihre Sorgenbekundungen schlussendlich stets in Richtung des Graubereichs politischer Korrektheit, oft auch darüber hinaus. So äußert eine junge Teilnehmerin gleich zu Beginn eines Gesprächs, sie komme sich infolge schlechter Erfahrungen von Bekannten »hier nicht mehr sicher vor. Ich habe richtig Angst teilweise«, um kurzerhand eine »Überfremdung« der Deutschen zu beklagen. Man könnte daraus folgern, dass (rechts-)populistische Diskursmuster, die fremdenfeindliche Motive in ein demokratisches beziehungsweise sentimentales Gewand hüllen, für einen Teil der Jugendlichen attraktiv sind – und somit deutliche inhaltliche und rhetorische Brücken zu Pegida schlagen. 2) Dagegen bildet der Nachwuchs der harmonieorientierten Kleinbürger – also die Mehrheit der Mitte und unteren Mitte, die sich weniger ökonomisch bestimmt als durch geteilte politische und soziale Einstellungsmuster wie der Selbstzuordnung zur gesellschaftlichen Mitte und einer grundlegenden Bevorzugung der privaten Erfahrungswelt von Familie, Freunden und Wohnort gegenüber der öffentlichen und großen politischen Sphäre195 – die große Gruppe der durch die Kontingenz politischer, sozialer und ökonomischer Entwicklungen Verunsicherten. Dass sie bisweilen ratlos und orientierungsbedürftig wirken, lässt sich nicht nur an den durchaus besorgten Momenten in unseren Gruppendiskussionen ablesen, sondern auch – und vielleicht zuvörderst – an den Bewältigungs- und Beschwichtigungsversuchen allzu sinistrer Gedanken: Ironisierung, Relativierung, Abbruch der gedanklichen Assoziation wirken, als redeten sich die eher harmoniebedürftigen Personen ihre Ängste und 195 | Berthold Franke, Die Kleinbürger. Begriff, Ideologie, Politik, Frankfurt a.M./New York 1988, insbesondere S. 215.

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Unsicherheiten aus. Am prägnantesten tritt dieser Zusammenhang unter den (meist studierenden) Postmaterialist/-innen, das heißt den hedonistisch und alternativ veranlagten Befragten hervor. Sie nämlich legen den größten Wert darauf, Ruhe und Bedachtsamkeit auszustrahlen, ja als Fels der Weisheit in der Gischt sozialer Erregung zu stehen – doch zugleich neigen sie gerade deswegen, besonders bei Problemthemen, zu eskapistischen Ausflüchten, sind trotz ihres zumeist hohen Bildungsniveaus sowie ihrer digitalen Versiertheit latent orientierungslos und überaus anfällig für verschwörungstheoretische Denkfragmente. Vorurteilen und Stereotypen stehen die Kleinbürger distanziert gegenüber, ja insgesamt verachten sie die Extreme, welche sie über aggressives Auftreten identifizieren und denen sie finstere Absichten unterstellen. Fremdenfeindliche und sozialchauvinistische Motive empfinden sie  – zumindest gegenwärtig – als plump, anrüchig, als durchschaubare Agitation. Schwer absehbar ist aber, wie sich gerade diese grundsätzlich zufriedenen, an Privatheit, Ruhe und Sicherheit orientierten Personen aus tendenziell sorgenfreien Elternhäusern entwickeln könnten, wenn eine schwere Wirtschaftskrise die Attraktivität der Maximen von Leistung und Bildung schlagartig entwertet. Angstempfindung und Angstrhetorik stehen also in einem komplizierten Verhältnis. Während die Sphäre des Gefühls nicht immer direkt sicht- und lokalisierbar ist, mag die rhetorische Berufung auf das Gefühl ein wesentliches Vehikel der Vereinnahmung einer demokratischen Diskussionskultur für antidemokratische Zwecke sein. Freilich berührt dieser Problemzusammenhang grundlegende Fragen der politischen Kultur, insbesondere den Zustand der demokratischen Öffentlichkeit und die Entwicklungstrends politischer Mentalitäten. Insofern sind diese Schlussfolgerungen zum Verhältnis von allgemeiner Kontingenzangst, Sorge um die persönliche Zukunft und partiell variierender Angstrhetorik kein zweifelsfrei belegtes Resultat, im Gegenteil: Sie erfordern vertiefte wissenschaftliche Untersuchung.

6. Fatale Verständigung im Zeitalter des »hilflosen Antipopulismus«? Die Aporie des Dialogs am Beispiel eines Dresdner Stadtteils

Wie komplex und undurchsichtig sich Angstrhetorik und Angstempfinden auf der einen Seite und die Zurschaustellung von Ruhe, Bedachtsamkeit und Übersichtlichkeit auf der anderen Seite miteinander verweben und verkeilen können, soll im Folgenden exemplarisch anhand eines realen Konfliktes nachgezeichnet werden. Dieser reproduziert, so viel sei hier vorweggenommen, im Wesentlichen die Demarkationslinie zwischen (sekundärer) Anschlussfähigkeit an Pegida auf der einen Seite und einer entschiedenen Anschlussrenitenz auf der anderen Seite. Um deutlich zu machen, wo die Diskursgrenzen verlaufen und welche eingeübten Praktiken ineinandergreifen, die mitunter die Situation noch verschärfen können, soll dabei im Sinne der eingangs angedeuteten Methode der politischen Kulturforschung das Milieu direkt vor Ort erkundet und ausgeleuchtet werden. Auch wenn es derzeit still geworden ist zwischen der Dresdner Heide und dem Schloss Moritzburg, kochte zwischen dem Winter 2014 und dem Frühjahr 2017 noch die Stimmung. Da platzten Kirchen und Ratssäle aus allen Nähten, es sollte der Tunesier nach Klotzsche kommen, wie die Zeit titelte – denn irgendwo musste er ja unterkommen.1 Die Frage nach der Unterbringung Geflüchteter hat die Stadtgesellschaft und Lokalpolitik über mehrere Jahre hinweg beschäftigt, Unmut und Proteste provoziert, aber auch Hilfsbereitschaft, Engagement und Dialoginitiativen hervorgebracht. Dieser Stadtteil im Norden der Elbstadt ist ein Ort, wie es sie vermutlich hundertfach gibt und gegeben hat: Proteste gegen die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften, gegen die

1 | Vgl. Lenz Jacobsen und Anne Hähnig, Wenn der Tunesier nach Klotzsche kommt, in: Zeit Online, 16.12.2014, online einsehbar unter www.zeit.de/gesellschaft/ zeitgeschehen/2014-12/pegida-dresden-klotzsche-asylbewerberheim (eingesehen am 15.11.2017).

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Aufnahme von Flüchtlingen allgemein, gibt es nicht nur dort, sondern auch an anderer Stelle, sei dies nun in Dresden-Laubegast, Hamburg-Wandsbek oder auf den Göttinger Zietenterrassen – um einige medienpräsente oder auch lokale Beispiele zu nennen –, oder eben in Dresden-Klotzsche. Vielerorts produziert die Notwendigkeit, Asylsuchende menschenwürdig unterzubringen, Konflikte innerhalb eines lokalen Sozialzusammenhangs. Um die Frage, wie eine Gemeinde, eine Lokalgesellschaft, eine solche Polarisierung bearbeitet, mit ihr umgeht und sie zu überwinden sucht, sollen sich die folgenden Seiten drehen: Wie bearbeitet die Gesellschaft vor Ort in Klotzsche den Konflikt um die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften? Wie wird die Situation von den Bewohnerinnen und Bewohnern vor Ort wahrgenommen, bewertet und schließlich bewältigt?

6.1 G enese einer L ok alinspek tion Doch, zunächst von Anfang an: Warum eigentlich Klotzsche? Hierzu ist es notwendig, an die an die Thesen zu erinnern, die die vorliegende Studie ursprünglich motiviert und angestoßen haben. Die salopp formulierte Leitfrage des Forschungsprojektes, ob sich die Jugend im Bann von Pegida befinde, wurde dabei aus der Beobachtung geboren, die sich im Zuge einer Demonstrationsbefragung im November 2015 ergeben hatte: Pegida als Protestbewegung auf der Straße war im Vergleich zum Januar 2015 deutlich älter geworden.2 Auf die Beobachtung folgte die Frage: Wohin sind die »Jungen«, wohin ist die »Jugend« verschwunden? Erklärungsansätze wurden diskutiert, plausibilisiert und zum Teil auch wieder verworfen: Ist das Ergebnis der geänderten Umfragemethodik geschuldet, hatten am Ende also bloß mehr ältere Menschen an der postalischen Umfrage im November 2015 teilgenommen als an der Online-Umfrage im Januar 2015? Und war zugleich die Bereitschaft der jüngeren Kohorten, Papierfragebögen auszufüllen, einzutüten und abzuschicken einfach geringer als sich durch eine Online-Umfrage zu klicken? Parallel zu dieser Erkenntnis und der Diskussion ihrer Ursache(n) häuften sich Berichte über Bürgerinitiativen und Bürgerwehren, die in immer mehr Städten und Regionen Deutschlands, vorzugsweise aber in Sachsen, »auf Patrouille« gingen, um das »deutsche Volk« vor den »Invasoren« zu beschützen; die also den von Pegida geforderten »Heimatschutz« betrieben. Auch verzeichneten die Kriminalstatistiken zu dieser Zeit ein Hoch an (Brand-)Anschlägen auf be-

2 | Vgl. Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora?, S. 14; Reuband, KarlHeinz, P egida im Wandel?

6.  Fatale Verständigung im Zeitalter des »hilflosen Antipopulismus«?

stehende oder geplante Flüchtlingsunterkünfte.3 Dies führte zu einer ersten, durchaus wagemutigen These: War dies bloß Zufall, Korrelation, oder steckte mehr dahinter? Waren die Jungen und Jugendlichen womöglich von Pegida aktiviert und motiviert worden, das neu geweckte politische Engagement in die eigenen Wohnviertel zu tragen? Zog es die eher Jüngeren in Bürgerwehren und Bürgerinitiativen, während die Älteren auf dem Neumarkt, Altmarkt oder Theaterplatz, verbleiben und weiter »Volksverräter«, »Lügenpresse« und »Widerstand« skandierten? Mit anderen Worten: Waren die jungen Leute, die auf einmal bei Pegida fehlten, entweder gelangweilt und begnügten sich damit, dem Patriotismus in slacktivitischer4 Manier zu fröhnen? Oder liefen ganz real durch die Straßen der (ostdeutschen) Städte und verteidigten – womöglich auch manifest – »Abend- und Vaterland« gegen »muslimische Invasoren«? Wir gingen also auf die Suche nach Städten und Stadtteilen mit Bürgerwehren und Bürgerinitiativen (»XY sagt Nein zum Heim«), die sich gegen die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften in ihrer Umgebung engagierten. Das war das ursprüngliche Vorhaben, das die Suche nach geeigneten Forschungsobjekten definiert hat. Schnell hat sich jedoch herausgestellt, dass der Zugang zu derartigen Phänomenen durchaus problematisch ist: Zum einen schien sich das Phänomen der Bürgerwehren, zumindest was die mediale Präsenz anging, schnell wieder zu verflüchtigen. Und zum anderen gestaltete sich der Zugang zu den Akteuren jener Protestinitiativen als äußert schwierig und ist am Ende auch gescheitert. Allerdings ermöglichte dieses Scheitern sogleich neue Perspektiven und eröffnete neue Möglichkeiten. Dies ist wohl einer der unbestreitbaren Vorteile der Forschung vor Ort, des »ins-Feld-Schreitens«: Es ist faktisch unmöglich, nichts zu beobachten und nicht zu forschen. Und dort, wo die Beobachtung von Sozialverhalten möglich ist, ist auch schließlich die Interpretation und Analyse von Sozialverhalten möglich. Sozialforschung dieser Art ist nur schwerlich planbar, hat aber den unbestreitbaren Vorteil, dass sie tatsächlich unerwartete Erkenntnisse produziert. Der vorliegende Text ist also auch ein Eingeständnis des Scheiterns in dem Sinne, als der Zugang zum ursprünglich beabsichtigten Feld nicht sichergestellt, den ursprünglichen Fragen nicht 3 | Vgl. Paul Blickle u.a., Es brennt in Deutschland, in: Zeit Online 03.12.2015, online einsehbar unter www.zeit.de/politik/deutschland/2015-11/rechtsextremismusfluechtlingsunterkuenfte-gewalt-gegen-fluechtlinge-justiz-taeter-urteile (eingesehen am 01.02.2018). 4 | Der Begriff ist ein Kofferwort aus »Slacker« (so etwas wie eine »faule Socke«) und dem Begriff »Aktivismus« und beschreibt den Mausklick-Aktivismus vom heimischen PC aus. Vgl. Evgeny Morozov, From slacktivism to activism, 05.09.2009, online einsehbar unter http://foreignpolicy.com/2009/09/05/from-slacktivism-to-activism/ (eingesehen am 09.02.2016).

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nachgegangen werden konnte. So wurden aus Bürgerwehren schließlich Bürgerinitiativen und letztlich, da auch hier kein Kontakt zustande kommen wollte, zu einer Beschreibung einer lokalen Konflikt-Mediation. Der folgende Text ist somit auch das Resultat unerwarteter Erkenntnisproduktion. Er verdichtet die Beobachtung lokaler Sozialzusammenhänge und von expliziten Beobachtungssituationen, sowie Gespräche mit Akteuren in Lokalpolitik und Zivilgesellschaft, erhoben und gewonnen in insgesamt sechs Kurzaufenthalten und Tagesausflügen zwischen August 2016 und April 2017. Im Zuge dieser Aufenthalte war es möglich, den Verlauf einer solchen Konfliktsituation um die Unterbringung von Asylsuchenden zu begleiten. Dieser Konflikt selbst hat sich, wie weiter unten ausgeführt wird, zum Teil gravierend gewandelt. Der erste Aufenthalt fiel in eine Situation, in der es noch wahrscheinlich schien, dass eine Ernstaufnahmeeinrichtung für mehrere hundert Flüchtlinge in der Nähe des Flughafens in Betrieb genommen werden sollte. Im Verlauf der späteren Erkundungen hatte sich der Konfliktherd jedoch verschoben: Im Zentrum des Konflikts stand nunmehr eine Unterkunft für unbegleitete minderjährige Geflüchtete im Zentrum des Stadtteils. So geht es im Folgenden zwar nicht um jugendliche Akteure, sondern um die Konfliktmuster, jedoch werden hier einige oben behandelte Themen der jungen Menschen aufgegriffen und am Beispiel Klotzsche dargelegt. Überdies hat der Gegenstand einen Jugendbezug  – im Zentrum des Konfliktes steht ein Heim für die Unterbringung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (UMF).

6.2 A rchitek tur der W idersprüche Widersprüchlich, polarisiert, mitunter gespalten – so wirkt Klotzsche. Gründerzeitvillen stehen neben Plattenbauten. Auf der einen Seite erstreckt sich die Dresdner Heide als Naherholungsgebiet, auf der anderen Seite steht mit der Moritzburg  – dem Schloss aus dem Filmklassiker »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« ein Symbol für kulturelles Schaffen. Die Gebäude der Gartenstadt Hellerau, einst ein Prestige- und Pilotprojekt der Lebensreformbewegung – einer Reaktion auf die beschleunigte gesellschaftliche Modernisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts – und heute eine Schlüsselinstitution bei den Integrationsbemühungen der Asylsuchenden, steht in unmittelbarer Nachbarschaft zum Dresdner Flughafen und den Infineon-Werken Dresden, und sind damit ein Zentrum für Mikroelektronik – den Inbegriffen von Globalisierung und telekommunikativer Revolution. Die Architektur der Widersprüche ist das Terrain, auf dem sich der Konflikt abspielt und diesen womöglich nicht unwesentlich in gewisse Handlungsbahnen lenkt. Diese Gleichzeitigkeit von verschiedenen kulturellen Traditionsbeständen scheint somit etwas zu sein, das Klotzsche prägt.

6.  Fatale Verständigung im Zeitalter des »hilflosen Antipopulismus«?

Dresden-Klotzsche, so scheint es auf den ersten Blick, hat den Widerspruch in sich einverleibt. Die Gleichzeitigkeit der Widersprüche und Unvereinbarkeiten, der Paradoxien und Nebenfolgen scheint bereits in der Struktur und Architektur des Stadtteils und seiner unmittelbaren Umgebung angelegt und festgeschrieben. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Konfrontationslogik der sich einander in Klotzsche gegenüberstehenden Lager als eine Repräsentation dieser Widersprüche gelesen werden könnten: Auf der einen Seite stünden dann die Befürworter/-innen von Progressivität, Flexibilität und Kosmopolitismus, während auf der anderen Seite das Lager jener steht, die ihre Heimat schützen wollen und denen eine grenzenlose Welt eher ein Graus zu sein scheint. Allerdings: Diese Konfrontationslogik gibt es selbstverständlich nicht nur deshalb in Klotzsche, weil sie sich in dieser projektiven und stark überzeichneten Zuschreibung von Gegensätzen wiederfinden lässt. Wohl aber können solche Polarisierungen Andeutungen für die kulturelle Beschaffenheit einer Kommune beinhalten. Einen Fingerzeig, innerhalb welcher Handlungsrahmen Konflikte bearbeitet oder bewältigt werden könnten. Diese situativen Gegebenheiten produzieren, mit dem Vokabular der Stadtsoziologie gesprochen, eine Eigenlogik, die, auch wenn sie keine Handlungen determiniert, doch zumindest gewisse Handlungsoptionen plausibilisiert. Oder, anders gesagt: Eigenlogiken können dazu führen, dass bestimmte Handlungsmöglichkeiten auf einer vorreflexiven Ebene als passender oder angemessener markiert werden und dadurch das Optionsrepertoire in gewisser Art und Weise vorsortiert werden. Eigenlogiken produzieren und werfen Handlungsschatten, wodurch Optionen entweder habituell verdeckt werden und dadurch schwieriger zugänglich sind oder aber als normale und selbstverständliche Handlungsmuster ins Alltagshandeln eingesunken sind.5

6.3 K lot zsche im K urzportr ait Doch wie stellt sich die Situation in Klotzsche jenseits dieser Zuspitzung dar? Wenn von Klotzsche die Rede ist, kann damit einerseits der Ortsamtsbereich Klotzsche andererseits aber auch Stadtteil Klotzsche gemeint sein, der zusammen mit den Ortsteilen Hellerau/Wilschdorf den Ortsamtsbereich als kommunale Verwaltungseinheit bildet. Wenn im Folgenden von Klotzsche die Rede ist, ist damit der Ortsamtsbereich gemeint. Einerseits, weil die Trennung vor Ort wenig betont wurde und andererseits der die politisch und verwaltungsrechtlich 5 | Vgl. Martina Löw, Eigenlogische Strukturen – Differenzen zwischen Städten als konzeptionelle Herausforderung, in: Helmuth Berking und Martina Löw (Hg.), Die Eigenlogik der Städte: Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt a.M. 2008, S. 33-53.

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relevanten Akteure der Ortsbeirat und die Ortsamtsbereichsleitung darstellen. Weiterhin wird die Gartensiedlung Hellerau beispielsweise als ein wichtiger Teil von Klotzsches Kultur- und Freizeitangebot angesehen, auch von Leuten, die im Kernbereich von Klotzsche im Stadtteilsinne leben. Und auch weil sich die verschiedenen politischen Aktionen, die sich strenggenommen auf den Ortsamtsbereich beziehen, nicht jedoch unbedingt auf den Stadtteil selbst, örtlich überlagern, ist eine Trennung zunächst nicht sonderlich sinnvoll.

6.3.1  Soziodemografische Merkmale Verschiedene Kennzahlen weisen darauf hin, dass Klotzsche zu den besser situierten Stadtteilen in Dresden gezählt werden kann. Von den 20.004 Einwohnerinnen und Einwohnern im Jahr 2014 für den Ortsamtsbereich sind 49,7 Prozent männlich und 50,3 Prozent weiblich. Der Anteil von Ausländer/-innen beziehungsweise Deutschen mit Migrationshintergrund beträgt jeweils 2,5 Prozent. Interessant ist an dieser Stelle vielleicht auch die Altersverteilung: Diese weist im Vergleich zum städtischen Schnitt eine leichte Überrepräsentation (0,5 Prozent) von Kindern und Jugendlichen zwischen von 4-20 Jahren auf, während im Mittel bis zu 2,5 Prozent weniger Menschen im Alter zwischen 20 und 35 Jahren in Klotzsche leben als im Rest der Stadt. Von der Altersgruppe der 40- bis 44-Jährigen bis hin zu den 70bis 74-Jährigen liegt Klotzsches Altersverteilung jedoch konstant 0,5 Prozent über dem Dresdner Mittel. Demzufolge ist das Durchschnittsalter mit 45,7 Jahren im Vergleich zum Stadtmittel (43,0 Jahre) leicht erhöht. Vor allem die ersten Begehungen vor Ort haben den Eindruck vermittelt, dass Klotzsche im Hinblick auf seine Wohnsituation, trotz der charakteristischen Plattenbauten, ein eher »besseres Wohnviertel« ist. So sind die Wohnungen in Klotzsche nicht nur überdurchschnittlich groß, sie sind auch knapp 7m² größer als im Dresdner Mittel. Weiterhin sind viele Wohngebäude überwiegend nicht als »große Wohngebäude« ausgewiesen, das heißt die Mehrheit der Wohnhäuser in Klotzsche hat weniger als sieben Wohneinheiten, während die Eigentumsquote bezüglich der Wohnung oder des Hauses in Klotzsche ebenfalls bei annähernd 50 Prozent liegt. Diese überdurchschnittlichen Werte spiegelt sich auch in den Mietkosten wider: Laut Kommunaler Bürgerumfrage (KBU) von 2014 beträgt die Miete in Klotzsche (inkl. der Stadtteile Weixdorf und Langebrück) 6,05€/m². Teurer sind die Mieten lediglich in der Neustadt (6,06€/m²), Blasewitz/Striesen (6,12€/m²) und in Loschwitz/Schönfeld-Weißig (6,25€/m²).6

6 | Vgl. Landeshauptstadt Dresden. Die Oberbürgermeisterin (Hg.), Kommunale Bürgerumfrage 2014. Tabellenteil, Dresden 2014.

6.  Fatale Verständigung im Zeitalter des »hilflosen Antipopulismus«?

Abb. 15: Übersicht Klotzsche im Vergleich zur Stadt Dresden und ausgewählten Stadtteilen Wahl zum…

Bundestag

Landtag

Partei

22.09.2013

31.08.2014

43,7

39,1

CDU

Stadtrat

Bundestag

25.05.2014

24.09.2017

32,1

24,1

SPD

13,1

12,8

9,4

9,2

Linke

18,4

17,6

19,4

16,7

Grüne

6,7

8,4

12,9

6,6

AfD

7,5

9,4

7,6

26,3

FDP

3,2

4,4

6,2

10,5

Sonstige

7,4

8,3

12,6

6,5

Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten der Kommunalen Bürgerumfrage 2014 in Dresden

Aber auch im Maßstab finanzieller Kennzahlen ist Dresden-Klotzsche ein eher wohlhabender Stadtteil im Dresdner Vergleich: Die KBU 2014 weist für Klotzsche ein personenbezogenes Äquivalenzeinkommen mit einem Median von 1450 bis unter 1550 Euro im Monat aus. Damit ist Klotzsche im oberen Drittel angesiedelt. Dies deutet darauf hin, dass Klotzsche, zumindest gemäß ökonomischer Kennzahlen kein Stadtteil ist, der von einem akuten Deprivationsrisiko betroffen zu sein scheint. Dazu trägt auch der Bauboom, getragen von Familien mit Kindern, Pendlerinnen und Pendlern sowie Pilotinnen und Piloten, die sich in der Nähe des Flughafens niederlassen, bei.7 Und auch die amtliche Statistik weist Klotzsche als einen Stadtteil aus, in denen verhältnismäßig wenige Haushalte von Armut bedroht sind: Als solche gelten Haushalte mit einem Äquivalenzeinkommen von 60 Prozent des Medianeinkommens, während wohlhabende Haushalte bei einem Einkommen ab 150 Prozent hiervon datiert werden. Im Falle Klotzsche bedeutet dies: Ca. 9 Prozent der Haushalte sind von Armut bedroht, während auf der anderen Seite 21 Prozent zu den wohlhabenden Haushalten zählen. Dies ist ein sehr solider Wert, auch im Vergleich zu solchen Stadtteilen wie Prohlis (7 Prozent wohlhabend, ca. 31 Prozent von Armut bedroht), der in einem der Expertengespräche als rechte Hochburg in Dresden benannt wurde. Auch im Vergleich zum Ortsamtsbereich Leuben (hier gelten jeweils ca. 15 Prozent der Haushal7 | Vgl. Sarah Grundmann, Klotzsche ist Neubau-Hochburg, in: Sächsische Zeitung, 07.02.2017, online einsehbar unter www.sz-online.de/nachrichten/klotzsche-istneubau-hochburg-3606990.html (eingesehen am 02.02.2018).

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te wohlhabend resp. von Armut bedroht), in den der Stadtteil Laubegast fällt, steht Klotzsche besser da.8

6.3.2  Politische Situation vor Ort Wechselt der Fokus von demografischen und sozioökonomischen Eckdaten zu politischen Kennziffern, so sind die Zahlen für Klotzsche zunächst nicht überraschend. Für den Konflikt vor Ort hat es jedenfalls – so viel kann hier vorweggenommen werden – zunächst keine erkennbare Rolle gespielt, dass sowohl der regierende Erste Bürger, Dirk Hilbert, seinen Wohnsitz in Klotzsche hat, als auch der CDU-Kreisvorsitzende und innenpolitische Sprecher der sächsischen CDU Landtagsfraktion, Michael Hartmann, sein Wahlkreisbüro in Klotzsche betreibt. Mit Blick auf Wahlergebnisse herrschen in Klotzsche auch die »sächsische Verhältnisse«: Bis zur Bundestagswahl 2017 reüssierten vor allem Christdemokraten, mit deutlichem Abstand dominiert ihr Anteil am Elektorat, während die Linkspartei konsequent die zweitmeisten Stimmen auf sich vereinigen konnte. Allerdings schwindet diese Dominanz mit jeder zu wählenden Ebene mitunter deutlich: Im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 büßte die CDU bei der Wahl zum Stadtrat im Mai 2014 zehn Prozent ein. Diese sächsischen Verhältnisse durcheinandergerüttelt hat wiederum die Bundestagswahl 2017: Die AfD wurde in Sachsen stärkste Kraft – ein Ergebnis, das sich auch in Dresden-Klotzsche zeigt: Im Schnitt über alle zehn Unterwahlgebiete in Klotzsche des Wahlkreises 160 »Dresden II – Bautzen II« konnte die AfD 26,3 Prozent aller Zweitstimmen auf sich vereinigen. Damit liegt sie einerseits knapp über ihrem Wert für den gesamten Wahlkreis (23,3 Prozent)9 und andererseits ziemlich im Mittel zum Zweitstimmenergebnis der Partei in ganz Sachsen.10

8 | Vgl. Landeshauptstadt Dresden. Die Oberbürgermeisterin (Hg.), Kommunale Bürgerumfrage 2014. Hauptaussagen, Dresden 2014. 9 | Stadt Dresden, Bundestagswahl 2017. WK 160 Dresden II – Bautzen II, online einsehbar unter http://wahlen.dresden.de/2017/btw/uebersicht_wahlkreis-160-wk_160_ dresden_ii_-_bautzen_ii_gesamt.html (eingesehen am 18.01.2017). 10 | Vgl. Der Bundeswahlleiter, Bundestagswahl 2017. Sachsen, online einsehbar unterhttps://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/2017/ergebnisse/bund-99/ land-14.html (eingesehen am 18.01.2018).

6.  Fatale Verständigung im Zeitalter des »hilflosen Antipopulismus«?

Abb. 16: Wahlergebnisse in Prozent im OA Dresden-Klotzsche 11 Gliederung

Durchschnittsalter

Alters-/

Ausländer/Deutsche mit

Jugendquotient

Eigenheimquote /

Migrationshintergrund

Durchschnittliche

Quote große

Wohnfläche

Wohngebäude

Mietwohnungen/ Durchschnittliche

Raumanzahl Dresden

43,0

33 / 21

5,1% / 3,6%

53,1 % / 28,0 %

68,2 m² / 2,8

Klotzsche

45,7

40 / 25

2,5% / 2,5 %

77,6 % / 8,6 %

76,3 m² / 3,2

Neustadt

35,1

13 / 21

7,6% / 4,3 %

18,5 % / 55,4 %

66,1 m²/ 2,6

Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten der Kommunalen Bürgerumfrage 2014 in Dresden

Abb. 17: Ortsbeirat Klotzsche: Sitzverteilung 12

SPD 1

CDU 4 Die Linke 3

FDP 1

Die Grünen 2 Bündnis Freie Bürger 1

AfD 1

Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten des Ratsinformationssystems der Landeshauptstadt Dresden, Wahlperiode 2014-2019

Der Umschwung in der politischen Großwetterlage, die sich in Sachsen mit der Bundestagswahl vollzogen und zum Rückzug Stanislaw Tillichs als Mi11 |  Vgl. Landeshauptstadt Dresden, Kommunale Statistikstelle (Hg.), Bevölkerung und Haushalte 2014, Dresden 2014, S. 268. 12 | Vgl. Ratsinformationssystem der Landeshauptstadt Dresden, Ortsbeirat Klotzsche, Wahlperiode 2014-2019, online einsehbar unter http://ratsinfo.dresden.de/ kp0040.php?__kgrnr=43 (eingesehen am 26.08.2016).

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nisterpräsident geführt hat, hat sich also auch in Klotzsche niedergeschlagen. In diesem Sinne stellt der Schwerpunkt der Untersuchung eine gewöhnliche sächsische Kommune dar. Ein Blick auf die Mandatsverteilung des Ortsbeirats lässt jedoch erahnen, dass dieser, gemessen am Bundestagswahlergebnis womöglich keine sehr passgenaue Repräsentanz der Stimmungslage vor Ort mehr darstellt. Es sind jedoch die politischen Kräfteverhältnisse, die damit betraut sind, die Beschlüsse der Dresdner Stadtversammlung, die von einer Kooperation zwischen SPD, Linkspartei, Grünen und Piraten gestaltet wird, umzusetzen.13

6.4 A sylunterkünf te in K lot zsche  – eine C hronologie von P l änen und E reignissen Die Ereignisse in Klotzsche beginnen lange vor dem ersten Feldbesuch im August 2016. Die Geschichte über die Unterbringung von Asylsuchenden in Klotzsche und Umgebung beginnt bereits im Januar 2013. Die damalige Oberbürgermeisterin veröffentlicht die Vorlage Nr. V2077/13. Der Gegenstand des Textes ist »Errichtung eines Wohnheimes für besondere Bedarfsgruppen als öffentliche Einrichtung im Objekt ›Zur Wetterwarte 34‹ in 01109 Dresden«. Die Rede ist von 60 Plätzen in einem ehemaligen Gymnasium bei voraussichtlichen Kosten von 450.000€.14 Das Gebäude an der Wetterwarte, ein ehemaliges Militärhospital in der Nähe des Flughafens, war zwischenzeitlich als Schule genutzt worden und sollte nunmehr in eine Asylunterkunft umgewandelt werden. Im Verlauf des Januars und Februars 2013 stimmen die Kommunalparlamente von Klotzsche (beratend) und Weixdorf (federführend) über die Vorlage der Stadt ab und lehnen diese ab.15 Im Zuge dessen veröffentlicht der 13 | Vgl. o. V., Neue Perspektiven für Dresden. Kooperationsvereinbarung der Fraktionen DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD im Dresdner Stadtrat, online einsehbar unter http://xn--dresden-fr-alle-7vb.de/wordpress/wp-content/uploads/2014/08/14_08_12_abschliessender_Entwur f_Kooperationsvereinbarung. pdf (eingesehen am 18.01.2018). 14 | Landeshauptstadt Dresden. Beschlussfertigung., Errichtung eines Wohnheimes für besondere Bedarfsgruppen als öffentliche Einrichtung im Objekt »Zur Wetterwarte 34« in 01109 Dresden, Vorlage Nr. V2077/13, 22.01.2013. 15 | Vgl. Vgl. Landeshauptstadt Dresden. Ortschaftsrat Weixdorf: Niederschrift zum öffentlichen Teil der 41. Sitzung des Ortschaftsrates Weixdorf (OSR WX/041/2013) am Montag, 25. Februar 2013, 18:00 Uhr in der Verwaltungsstelle Weixdorf, Sitzungssaal, Weixdorfer Rathausplatz 2, 01108 Dresden. Niederschrift (OSR WX/041/2013) 2013, Landeshauptstadt Dresden. Die Oberbürgermeisterin: Niederschrift zum öffentlichen Teil der 34. Sitzung des Ortsbeirates Klotzsche (OBR Kl/034/2013) am Montag, 18.

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sächsische Landesverband der NPD eine Pressemitteilung und reklamiert das Ergebnis der Abstimmung im Ortsbeirat Klotzsche als einen Verdienst ihres zu dieser Zeit noch im Ortsbeirat vertretenen Abgeordneten. Gleichzeitig ist von der Verteilung von Flugblättern mit dem Titel »Kindergarten statt Asylantenheim« in Klotzsche die Rede.16 In diesem Zusammenhang sei versucht worden, so die retrospektive Deutung in einem unserer Expertengespräche, das Thema bewusst kleinzuhalten: Verwaltungsmitarbeitende hätten versucht, das Thema  – auch im Hinblick auf anstehende kleinere und größere Wahlen – auszusitzen: Die Anfrage der Dresdner Stadtverwaltung an die Ortsteile, geeignete Immobilien auszuweisen sei womöglich nicht hinreichend und auch zu spät kommuniziert worden: Diskussionen konnten so nicht geführt werden und die Entscheidungen der Stadt trafen die Bürgerinnen und Bürger deshalb unvorbereitet. Einen weiteren Monat später, im März 2013, fasst der Dresdner Stadtrat entgegen dem Votum der Kommunalvertretungen den Beschluss zum Bau der Asylunterkunft an der Wetterwarte.17 Die Pläne zur Errichtung werden jedoch im September 2013 vorläufig fallen gelassen und auf Eis gelegt. Begründet würde dies, so die antifaschistisch orientierte Webseite alternative dresden news (addn) mit Verweis auf eine nicht länger verfügbare Einlassung der Stadt Dresden: Die Baukosten seien gestiegen und Brandschutzbestimmungen würden die Inbetriebnahme ohnehin verzögern, statt Januar 2014 wäre ohnehin nur noch der November 2014 realistisch gewesen. Auch sei es bisweilen – und hier ist der Text leider nicht ganz eindeutig, ob dies auch eine Verlautbarung der Stadt Dresden ist – zu Verwüstungen innerhalb der geplanten Unterkunft gekommen.18 Diese beinah beiläufige Erwähnung von Verwüstungen lässt natürlich aufhorchen, gerade auch mit den Erfahrungen der Jahre 2015 und 2016, als es vielerorts zu »Verwüstungen« und Brandstiftung in und bei (geplanten) Asylunterkünften kam. Der Widerstand gegen die Errichtung des Gebäudes jedenfalls war schon vorher offenbar geworden. Die addn sprechen hier, gemäß

Februar 2013, 19:00 Uhr im Ortsamt Klotzsche, Bürgersaal, Kieler Straße 52, 01109 Dresden. Niederschrift (OBR Kl/034/2013). 16 |  Vgl. Thorsten Thomsen, Dank der NPD: Klotzsche sagt NEIN zum Asylbewerberheim!, in: npd-sachsen.de 20.02.2013, online einsehbar unter npd-sachsen.de/dankder-npd-klotzsche-sagt-nein-zum-asylbewerberheim/ (eingesehen am 02.08.2013). 17 |  Vgl. Landeshauptstadt Dresden. Beschlussfertigung. Errichtung eines Wohnheimes für besondere Bedarfsgruppen als öffentliche Einrichtung im Objekt »Zur Wetterwarte 34« in 01109 Dresden. 18 | Vgl. Paul, Pläne für Asylsuchendenunterkunft in Klotzsche gestoppt, in: addn.me 15.09.2013, online einsehbar unter www.addn.me/news/plaene-fuer-asylsuchenden unterkunft-in-klotzsche-gestoppt/ (eingesehen am 03.08.2016).

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ihres Duktus von einer Demonstration von »30 Nazis«, die im Juli 2013 in der Nähe des Flughafens gegen die geplante Asylunterkunft demonstriert hätten.19 Zunächst kehrt mit der Ankündigung, den Bau nicht fortzusetzen, zunächst wieder etwas Ruhe ein, auch wenn es bereits – anderthalb Jahre vor der ersten Pegida-Demonstration und zwei Jahre vor »Merkels Grenzöffnung«20 im September 2015 – erste Proteste gegeben hat. Zwar hat der AfD-Stadtratsabgeordnete Stefan Vogel im Mai 2015 eine Anfrage an den Rat der Stadt Dresden gestellt, in der er in Erfahrung bringen wollte, ob ein Kindergarten geschlossen und in eine Flüchtlingsunterkunft umgewidmet werden sollte. Dabei hat er – wissentlich oder nicht – die Metaphorik der NPD-gelenkten Proteste und Agitation fast zwei Jahre zuvor übernommen und aktualisiert.21 Dieser Vorfall bleibt zunächst relativ vereinzelt, die Thematik wiederum gewinnt erneut an Dynamik, als die Landesdirektion Sachsen zu einer Zeit, als die täglichen Asylgesuche einen Höchststand erreicht haben, am 1. Oktober 2015 bekannt gibt, dass ein ehemaliger Parkplatz in eine kurzfristige Asylunterkunft für bis zu 500 Asylsuchende umgewandelt werden solle.22 Zu diesem Zeitpunkt ist die politische Debatte in Deutschland bereits hochgradig polarisiert. Im Rahmen der AfD-Herbstoffensive rufen die AfD und die Bürgerinitiative »Klotzsche sagt NEIN zum Heim« (der Name der Initiative reproduziert nahezu identisch den Wortlaut der NPD-Pressemitteilung vom August 2013) dann schließlich Mitte Oktober zu einer Demonstration gegen eine Asylunterkunft am Dresdner Flughafen auf. Die ca. 700 Teilnehmenden (lt. Veranstaltern) zogen dabei durch die Stadt. Im Rahmen der Demo kam es zu Übergriffen auf ein freies Filmteam, das daraufhin seine Berichterstattung abbrach.23 Es kommt zu 19 | Vgl. Paul, Rassistische Kundgebung in Klotzsche, in: addn.me, 25.07.2013, online einsehbar unter www.addn.me/nazis/rassistische-kundgebung-in-klotzsche/ (eingesehen am 03.08.2013). 20 | Georg Blume u.a., Was geschah wirklich?, in: Zeit Online, 22.08.2016, online einsehbar unter www.zeit.de/2016/35/grenzoeffnung-fluechtlinge-september-2015-wochenendeangela-merkel-ungarn-oesterreich/komplettansicht (eingesehen am 02.02.2018). 21 | Vgl. Stefan Vogel, Kindergartenschließung/Asylbewerberheim-Eröffnung Dresden-Klotzsche. Anfrage, 27.05.2015, online einsehbar unter www.afd-fraktiondresden.de/unsere-anfragen/articles/af056115.html (eingesehen am 18.01.2018). 22 | Vgl. Landesdirektion Sachsen (LDS): Ehemaliger Parkplatz am Flughafen Dresden wird Flüchtlingsquartier, lds.sachsen.de, vom 01.10.2015, online einsehbar unter https://www.lds.sachsen.de/index.asp?ID=9559&art_param=705 (eingesehen am 03.08.2016). 23 | Vgl. AfD Dresden, Asyl-Demo am Do., 15.10.2015, 19.00 Uhr vor dem Rathaus in Dresden-Klotzsche (Ecke Karl-Marx-Str./Kieler Straße), in: adf-dd.de, ohne Datum, online einsehbar unter afd-dd.de/events/asyl-demo-am-do-15-10-2015-19-00-uhr-vordem-rathaus-in-dresden-klotzsche-ecke-karl-marx-str-kieler-strasse/ (eingesehen am

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Demonstrationen. Fackelmärschen von den Gegnerinnen und Gegnern, Lichterketten und Mahnmachen von den Befürworterinnen und Befürwortern. Auf der einen Seite wird eine Melange aus AfD-Aktivist/-innen und Pegida-Sympathisant/-innen als wesentlicher Antrieb der Proteste ausgemacht, während auf der Gegenseite, auch aus einer anfänglichen Position der Unterlegenheit und des notwendigen Organisations- und Vernetzungsvorlaufs, eine weltoffene Bürgerschaft, aber auch vor allem Schülerinnen und Schüler, die sich sehr engagiert gezeigt hätten, als Antrieb gelten können. So zumindest die Deutung von einer Person aus der örtlichen Lokalpolitik. Im Herbst und Winter 2014 werden die Ortsratssitzungen faktisch überrannt. Die Säle platzen aus allen Nähten. Kommunale Mandatsträger und Ehrenamtliche werden diese Szenen später sehr eindrücklich beschreiben. Von Beklemmung und Sorge wird später in einem unserer Hintergrundgespräche die Rede sein. Von Wut und Aggressivität. Von Erlebnissen, die man in dieser Art so in der eigenen politischen Arbeit nicht für möglich gehalten hätte und so auch nicht erlebt habe: Das »Anti-Verhalten« der Gegnerinnen und Gegner, die es fertiggebracht hätten, die Ortsbeiratssitzung massiv zu stören, das demokratische Procedere zu missachten, ja gar zu ignorieren. Damit erreicht der Konflikt um die Errichtung von Asylunterkünften ihren vorläufigen Höhepunkt. In Klotzsche treffen sich mehrere hundert Menschen zum Protest, während zugleich, nur einige Kilometer weiter, die ersten Pegida-Züge durch die Stadt ziehen und schnell mehr Beteiligte anziehen – stellenweise sogar an den gleichen Tagen. Und vor Weihnachten sind es bereits um die 15.000, die sich zum Weihnachtsliedersingen im Schatten der Frauenkirche versammeln. Es ist aber auch die Zeit der ersten Kommunikations- und Dialogversuche: »Die schöne Christuskirche jedenfalls ist so voll wie lange nicht mehr. 350 Anwohnerinnen und Anwohner drängen sich auf den harten Bänken. Bürgerinnen und Bürger, die wegen der Tunesier/-innen und des neuen Asylbewerberheims, das hier gebaut werden soll, besorgt sind, wie man so sagt. Und noch mehr Bürger, die wiederum wegen der besorgten Bürger besorgt sind.« 24

03.08.2015); Andreas Szabo, Zustrom bei Demo in Klotzsche, in: Radio Dresden, 15.10.2015, online einsehbar unter www.radiodresden.de/nachrichten/lokalnachrichten/ zustrom-bei-demo-in-klotzsche-1172034/ (eingesehen am 03.08.2016); Paul, Übergriff auf Journalisten bei AfD-Veranstaltung, in: addn.me, 16.10.2015, online einsehbar unter www.addn.me/nazis/uebergriff-auf-journalisten-bei-afd-veranstaltung/ (eingesehen am 03.08.2016). 24 |  Jacobsen und Hähnig, Wenn der Tunesier nach Klotzsche kommt.

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Hier gehen Meinungen und Beobachtungen auseinander: Ist es eine Dialog-Veranstaltung, oder eine Belehrung? Andererseits ist davon die Rede, dass man sich hinter den ganzen Offiziellen versteckt hätte, die Diskussion somit verweigert hätte. Andererseits werden Funktion und Wirkung der Kirche betont: Dort, unter dem Dachfirst eines Gotteshauses, da herrsche eine andere Stimmung, dort hörten die Leute vielleicht sogar zu. Die Einschätzungen unserer Expertisen widersprechen sich an diesem Punkt also bis zu einem gewissen Grad. Dennoch, so konstatieren journalistische Beobachter/-innen in ihrem Text, herrsche eine »beleidigte Entschlossenheit«. Vor die Tatsachen gestellt, bleibe nicht mehr viel, außer die Anwesenden auf »ihre Seite der Realität« zu holen.25 Mit dieser erhitzen Stimmung geht der Protest in Klotzsche 2014 zunächst in die Winterpause. Er ist jedoch keineswegs abgeklungen, sondern nur auf Leerlauf gestellt. Er verbleibt bis dato ungelöst und unausgesprochen in der Mitte der Stadtgesellschaft, womöglich notdürftig dadurch befriedet, dass die Erstaufnahmeeinrichtung am Flughafen zwar fertiggestellt wurde, aber nie in Betrieb genommen wurde. Die Ankündigung, Asylunterkünfte in Klotzsche bereitzustellen, provoziert also lautstarken Widerspruch und führt zu massiven Protesten. Zugleich lässt sich einem Dokument des Ortsbeirates Klotzsche entnehmen, dass zum Höhepunkt der Proteste gerade einmal 17 Asylsuchende im Verwaltungsbereich des Ortsamtes Klotzsche untergebracht waren.26 Mit einem Beschluss des Ausschusses für Wirtschaftsforderung im Februar 2016 im Zentrum von Klotzsche ein Asylbewerberheim im Systembauweise zu errichten, beginnt nunmehr eine Art dritte Plateauphase der Konflikte rund um die Errichtung und den Bezug von Asylunterkünften in Klotzsche.27

25 | Ebd. 26 | Vgl. Landeshauptstadt Dresden. Der Oberbürgermeister, Niederschrift zum öffentlichen Teil der 15. Sitzung des Ortsbeirates Klotzsche (OBR Kl/015/2016) am Montag, 11. Januar 2016, 18:30 Uhr im Ortsamt Klotzsche, Bürgersaal, Kieler Straße 52, 01109 Dresden. 27 | Landeshauptstadt Dresden. Der Oberbürgermeister, Niederschrift zum öffentlichen Teil der 22. Sitzung des Ausschusses für Wirtschaftsförderung (WF/022/2016) am Mittwoch, 3. Februar 2016, 16:00 Uhr im Neuen Rathaus, Beratungsraum 4, 4. Etage, Raum 13, Dr.-Külz-Ring 19, 01067 Dresden.

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6.5 D as R ingen um D ialoge , V erständigungen und  L ösungen Soweit die kurze Chronologie des Ereignisvorlaufs in Klotzsche. Wie weit die Geschichte von Protest, Konflikt und Polarisierung in Klotzsche zurückreichte, wurde erst im Verlauf einer Ereignisrekonstruktion offenbar. Zum Zeitpunkt des ersten Feldbesuchs in Klotzsche, zweimal Anfang August 2016, war von dieser bewegten Protestgeschichte in Klotzsche zunächst nicht viel zu spüren. Eine der ersten direkten Beobachtungen vor Ort befasste eine Ortsbeiratssitzung, die die Asylunterkünfte (auch jene an der Wetterwarte, die offenbar reaktiviert werden sollte), als Tagesordnungspunkte aufführte. Das Interesse an der Ratssitzung war überschaubar. Der Raum war fast leer und bildete damit einen starren Kontrast zu früheren Ratssitzungen zu dem Thema, wie es uns eine Gesprächspartnerin später retrospektiv geschildert hat: Der Raum sei bisweilen so voll gewesen, dass die Leute hinter den Mandatsträgern (diese sitzen in einem zum Publikum offenen U angeordnet an der Stirnseite des Raumes) an den Wänden gestanden hätten. Nicht wissen und sehen zu können, wer dort hinter einem stehe, hätte die Sitzung sehr unangenehm gemacht. Es sei die Anwesenheit eines Wachdienstes nötig gewesen, der sicherstellen konnte, dass der Ortsamtsleiter sein Hausrecht und seine Sitzungsleitung durchsetzen könne. Davon ist bei dieser Ratssitzung nichts zu sehen und nichts zu spüren. Ein Teil der Tagesordnung: Die Unterkunft »Zur Wetterwarte 34«. Vorgestellt wurde das Projekt von einem Vertreter des städtischen Bauamts, das Sozialamt hatte trotz Bemühungen des Ortsamts niemanden geschickt. Das Bauamt betont, das Gebäude an der Wetterwarte sei als »Übergangsheim oder beliebige soziale Einrichtung« gedacht, eine alternative Nutzungsmöglichkeit, die mehrfach betont wird. Auch im weiteren Verlauf der Sitzung ging es um die räumliche Gestaltung. Nachfragen der CDU/FDP-Fraktion: Wird das Heim eingezäunt? Das sei nicht geplant.  – Andere Sicherheitsvorkehrungen? Nein. Gibt es einen Betreiber, ein Sicherheitskonzept? Nein. Es folgen Getuschel und eine Vertagung des Themas. Währenddessen fragt die Grünenfraktion, ob es Gemeinschaftsräume gibt, also Orte, an denen sich die Bewohner/-innen gemeinsam aufhalten können – die Diskussion verläuft im Sande. Ein Stadtrat aus dem Publikum meldet sich und merkt an, dass es nahe des Heims einen Fußweg gäbe, den die Ortsbewohner/-innen nutzen. Dieser dürfe von dem Zaun auf keinen Fall betroffen werden. Wenn das Heim fertig sei, gehe es in Standby, sodass man gar nicht wisse, ob es gebraucht werde, »die Flüchtlingszahlen sind ja rückläufig«. Insgesamt werden etwa 15 Minuten auf das Thema verwendet. Doch diskutiert und gestritten wurde darüber nur wenig: Da das alte Gebäude ein ehemaliges Militärhospital darstellte, waren viele Zimmer mit Zugang zu einer Terras-

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se versehen, ein Umstand, der für Irritationen sorgte. Aber diese Irritationen reichten nicht daran heran, was den Löwenanteil der Ratssitzung strukturierte und dominierte. Die Eingabe einer Grünen-Stadträtin, die ein neues Konzept zur Räumung von Radwegen auch im Winter vorstellte, wurde dann im Verlauf der Ratssitzung über eine Stunde hinweg intensiv, kontrovers, emotional und auf brausend diskutiert. An der vordergründig profan erscheinenden Frage, ob, wie und welche Radwege im Winter geräumt werden sollten, kollidierten scheinbar ganze Wertvorstellungsordnungen und Lebensführungskonzepte: Konservativ-bürgerliche und progressiv-ökologische Sichtweisen prallten, ja prasselten aufeinander, tauschten Hiebe aus. Die Diskussion endete faktisch damit, dass die Radfahrer doch einfach auf die Straßenbahn umsteigen sollten, Radfahren im Winter sei ja ohnehin unbegreiflich, der leibhaftige Ausweis des Irrsinns. Und irgendwo müsste der Schnee von den Straßen und Schienen ja hin – da gäbe es ja bloß noch den Radweg. In dieser Diskussion über Radwege im Winter reproduzierten – genauer gesagt: verlegten sich die Lager aus der Diskussion um die Flüchtlingsunterkünfte: Allerdings wurde der Konflikt, der zuvor vermieden, mitunter sogar aktiv ausgeklammert wurde, nunmehr mit offenem Visier ausgetragen. Schauplatz der Auseinandersetzung war das Ringen um die sozusagen eigenen lebensweltlichen Komfortzonen, die als einander inkommensurabel gegenübergestellt wurden. Wenn bereits die Räumung von Radwegen im Winter einer derartigen Logik der Konfrontation erzeugt, wie sollen dann die Widerstände und Meinungsverschiedenheiten rund um Asylunterkünfte beigelegt werden? Die »Initiative Brücken schaffen«, die als Gegenpol zur Bürgerinitiative »Klotzsche sagt Nein zum Heim« gilt, hat sich die Hilfestellung für Geflüchtete ebenso zur Aufgabe gemacht wie die Überwindung der Widersprüche und Konflikte innerhalb der Klotzscher Bevölkerung. Diese gilt als gespalten oder zumindest polarisiert: Das Thema Flüchtlinge werde, so zumindest unser Gesprächspartner, in Familien zum Teil einfach vermieden, weil es zu viel Potenzial in sich trage, Zusammenkünfte einfach zu sprengen: Doch wenn der Riss bereits durch Familien und zwischen Nachbarn verläuft, wie ist es aus dieser Situation heraus vorstellbar, wieder eine gemeinsame Basis für die Auseinandersetzung zu finden?

6.5.1  Echo-Kammer oder diskursives Vakuum? Diese Übereinkunft, das Thema zu vermeiden, hat sicherlich auch damit zu tun, dass das Terrain für eine Diskussion vergiftet ist. Das Thema wird noch immer umgangen und in gewisser Weise wenig kommuniziert: Die Baustelle im Zentrum, an der Hauptstraße ist offen sichtbar. Und dennoch, fast so, als sollte nicht offenbar werden, worum es sich dabei handele, als wollte nicht zugegeben werden, was dort gebaut werden solle, gibt es keinerlei Informationen über den Bauträger oder das Bauobjekt. Keine der berühmten Hinweistafeln,

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die sonst so gerne an die Umzäunungen von Projekten öffentlicher Träger geheftet werden, um im vorauseilenden Gehorsam den Unbill über die Unannehmlichkeiten der Baustelle zu mindern. Nichts dergleichen. Stattdessen herrscht eine Art Verleugnungsstrategie: ein Bauprojekt, nicht nur umzäunt, sondern mit einem Wachhäuschen an der Zufahrt. Passanten und sogar Bauarbeiter, die vorgeben, nicht zu wissen, was dort in ihrer Nachbarschaft gebaut werde, woran sie gerade selbst mitwirken. Beides wirkt, als müssten nur alle Beteiligten aufrichtig genug daran glauben, dass dort keine Asylunterkunft entstehe und dann würde sie auch nicht entstehen. Und doch lässt es sich nicht umschiffen, sondern schwebt noch immer wie ein Damoklesschwert über der Klotzscher Gemeinde: Die Risse, entstanden bevor Pegida die politische und soziale Topografie die Stadt stellenweise erheblich aus den Angeln gehoben hat und im Verlauf der Bewegung zu Gräben geronnen, sind zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht wieder verschüttet.

6.5.2  Klotzsche hört sich zu Das ist der Zeitpunkt, zu dem die Verwaltung in die Offensive geht: Sie lädt zum Dialog. Vertreter/-innen der Ortsamtsleitung hatten zu dieser ersten von drei geplanten Veranstaltungen im November 2016 geladen. Das Ziel war die Herstellung eines Dialogs in der gegenwärtigen Atempause im Verlauf der Flüchtlingskrise. So wurde in der Begrüßung der Riss in der Bürgerschaft thematisiert, der bloß dadurch, dass es nunmehr ruhiger geworden, mitnichten kleiner geworden sei. Ort der Veranstaltung waren die Werkstätten in Hellerau. Schon die Wahl des Ortes, ein wenig abgelegen, in den Räumen der Hochkultur atmenden und ausstrahlenden Werkstätten, waren ein Zugeständnis an ein linksbürgerliches Wohlbefinden und – wie einer der Moderatoren des Dialogs im Anschluss bemerken sollte – ein Ausweis des sonderbaren Demokratieverständnisses vor Ort, wenn eine so wohlhabende Gemeinde in Klotzsche keine anderen Räume hätte, um eine solche Veranstaltung zu ermöglichen. Die Wahl der Räumlichkeiten reflektierte in diesem Sinne genau die Intention, die auch schon bei der Kirche betont wurde: Eine Atmosphäre zu schaffen, die das Zuhören durch eine Aura der Maßregelung und Zurücknahme hervorzurufen sollte. Die geweißten Wände, die hohen Decken, der Echtholzboden und der Blick aus großformatigen Fenstern auf das Gelände der Werkstätten waren jedenfalls nicht per se geeignet, Berührungsängsten und Fremdheitsgefühlen proaktiv entgegenzutreten. Hinzu kam, dass der doppelreihige Stuhlkreis, der zunächst den ganzen Raum einnahm und vor Beginn der Veranstaltung dann schließlich doch zu einer einzigen, riesigen Fishbowl umfunktioniert wurde, die Atmosphäre eines archetypischen Schlüsselkompetenzseminars verlieh. Diese offene Art der Anordnung, die Redehierarchien bereits durch die Anordnung der Sitzplätze weitgehend auflösen sollte, formuliert jedoch zugleich auch eine Art

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»Redeerwartung«, der einige der Teilnehmenden womöglich gelassener entgegenblicken konnten als andere. Nach der Begrüßung stellten sich die Moderatoren des Dialogs vor und präsentierten den sicherlich dreißig anwesenden Bürgerinnen und Bürgern damit die Agenda und Zielvorstellung des Abends: Einmal ein pensionierter Richter, der in seiner Zeit im Beruf gelernt hätte, dass es das Wichtigste sei, zuzuhören und Charles Rojzmann, ein Sozialpsychologe aus Marseille und Entwickler der thérapie sociale, einer Methode, die speziell zur Konfliktbewältigung unversöhnlicher Lager entwickelt worden sei. Diese habe er aus den Erfahrungen von Gewalt, Spannung, Konflikt und Rassismus entwickelt, und festgestellt, dass ein wütender Dialog immer noch besser sei als die Fortsetzung des Dialogs mit gewalttätigen Mitteln. Jedoch konnte die Methode an diesem Abend nicht den intendierten Effekt hervorrufen. Bereits in diesen ersten 15 Minuten des Dialogs wurde deutlich, dass es ein deutliches Ungleichgewicht in der Gruppenkonstellation gab: Jene Menschen, die man mit diesem Dialogangebot erreichen wollte – die Teile der Gesellschaft jenseits des eingangs zitierten Risses, jene, die als die »beleidigten Entschlossenen« betitelt wurden, waren in der Unterzahl. Die ersten drei von ihnen verließen bereits nach dieser ersten Phase des Dialogs sichtlich konsterniert die Veranstaltung. Grundsätzlich mangelte es in dem Dialog einer Würdigung der Gegenposition. Den Personen, die sich durch eine ablehnende Haltung zur Asylpolitik auszeichneten, gelang es nicht, ihrer Position im Laufe des Abends Relevanz und Repräsentation zu verschaffen. Besonders eindrücklich wurde dies am Beispiel eines Herren, der als erster gezwungen war, sich in der vorhergegangenen Diskussionsphase zu seiner »kritischen« Haltung zu bekennen und seine Bedenken zu artikulieren. Dieser blieb in der bestehenden Gruppenkonstellation völlig außen vor und in seiner Eigenschaft als einzelner Kritiker unter Befürworter/-innen isoliert, bevor er die Runde und den Dialog schließlich verließ, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Der Dialog war durch Selbstzentrierung des integrationsoffenen Bürgertums gekennzeichnet, die in dem Beschluss und Fazit des Dialogs gipfelte, dass es akut keine Probleme in Klotzsche gäbe: Wenn die Asylunterkunft öffnete, müsse man womöglich etwas tun. Ansonsten sei es kaum möglich, etwas gegen die »falschen Wahrnehmungen« der Leute, also der besorgten Bürger zu unternehmen. Somit lief der Diskussionskonsens dieses ersten Bürgerdialogs darauf hinaus, dass sich die Verbliebenden des Abends die Frage stellten, was denn wohl die Probleme der »besorgten Bürger« sein könnten, so sie denn existierten – ganz so, als wären all jene, die gekommen waren, die ihre Bedenken geäußert hatten, sich auf das Format und den Modus des Dialogs eingelassen hatten, am Ende nicht einmal anwesend gewesen. So gesehen war das Resultat am Ende

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des ersten Bürgerdialogs, dass die Formulierung der Probleme und weiteren Agenda am Ende völlig ohne die Beteiligung jener stattfand, die man eigentlich für den Dialog hatte gewinnen wollen. Polemisch gesprochen hat sich die Veranstaltung im Laufe des Abends zu einer Selbstbestätigungsinstanz für die Befürworter/-innen gewandelt. Ermöglicht wurde dies durch eine Verkettung von verschiedenen Faktoren. Einer der Moderatoren betonte in einem Anschlussgespräch, dass zum Teil relevante Ziel-oder auch Diskurs- und schlichtweg Meinungsgruppen nicht zum Dialog erschienen seien, weil sie den Dialog miteinander schlichtweg verweigerten. Diese Feststellung deckt sich mit einer Bekanntmachung aus dem März 2016 des Netzwerkes »Dresden für Alle«: Dieses Netzwerk hatte das Projekt der Bürgerdialoge zunächst unterstützt, schließlich aber die Unterstützung eingestellt, und dies mit dem problematischen Format des Dialogs begründet. Wer gegen »Geflüchtete, gegen Freiwillige, gegen Journalist/-innen oder gegen Politiker/-innen hetzt oder solche Hetze verharmlost« könne aus Sicht des Netzwerks nicht Partner/-in in einem Dialog sein.28 Dies ist dieselbe diskursive Delegitimationsstrategie – vulgo: die »Nazi-Keule« –, die bereits bei der Beschreibung und Charakterisierung von Pegida manifest geworden ist und auch die Struktur dieser Dialoge prägt.29 Die Hetze gegen Flüchtlinge, Journalist/-innen und Politiker/-innen wird hierbei zurecht zurückgewiesen. Allerdings funktioniert das Argument rhetorisch auch so, dass jede Kritik an der Politik und an der medialen Darstellung der Asylpolitik und eine Abwehrhaltung gegen Flüchtlinge per se als Verharmlosung dieser Position gedeutet werden könnte. Im Zuge dieser Delegitimation wird die Diskursfähigkeit an die Annahme und Akzeptanz – womöglich auch Unterwerfung – der eigenen diskursiv-moralischen Haltung geknüpft: Dies hat zur Folge, dass die derart markierte Diskurspartei dabei effektiv aus der Debatte entfernt wird oder ihre eigene Position von vornherein aufgeben müsste, respektive die Debattenposition als ungerechtfertigt angesehen wird.

6.5.3  Handfestes Misstrauen beim Tag der offenen Tür Im April 2017 war die Asylunterkunft schließlich soweit eingerichtet, dass der Bezug der Jugendlichen unmittelbar bevorstand. Somit bot sich noch einmal die Gelegenheit, anlässlich eines Tags der offenen Tür, noch einmal das Terrain zu sondieren und dem im Anschluss an die Begehung angebotenen dritten Bürgerdialog zu beobachten.

28 | Netzwerkrat Dresden für Alle, Dialogkonzepte, online einsehbar unter https:// dresdenfueralle.de/2016/03/20/dialogkonzepte/ (eingesehen am 23.01.2018). 29 | Vgl. Kapitel 4.1.

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Die Möglichkeit, die Räumlichkeiten, über die vorher so viel geredet wurde, einmal in Augenschein zu nehmen, wurde durchaus rege in Anspruch genommen. Genaue Zahlen sind schwierig zu beziffern, da die Räumlichkeiten selbst verwinkelt waren, und die Verweildauer der Gäste durchaus höher war. Nach eigener Schätzung waren im Verlauf der anderthalb Stunden Besichtigungszeit bis zu 300 Personen anwesend (beim späteren Dialog war von bis zu 500 Gästen die Rede). Bei Kaffee und Kuchen bemühte sich ein Verbund aus Ehrenamtlichen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltung, vor allem dem Jugendamt, und Angestellten des privaten Trägers der Einrichtung darum, Informationen bereitzustellen, Fragen zu beantworten und wenn möglich, Bedenken zu begegnen. Gesprächsfetzen lassen darauf schließen, dass die Skepsis in Klotzsche weiterhin groß ist. Überdies fiel auf, dass die Fragen sich im Endeffekt immer wieder um ähnliche Punkte drehten, die auch immer wieder während des Bürgerdialogs im Anschluss geäußert wurden: Die Fragen nahmen Bezug auf die »Freizügigkeit« der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF), also inwiefern den Jugendlichen erlaubt werde, abends und nachts das Haus zu verlassen. Die Standardantwort aller Beteiligten, dass das Haus nicht verschlossen werde, aber natürlich die üblichen Bedingungen des Jugendschutzes gelten, an die sich die Jugendlichen zu halten hätten, schien die Anwesenden bedingt zufriedenzustellen. Auffällig war: Die Antworten auf diese Fragen werden dabei auch offensiv eingefordert, die Ansprechpersonen waren eigentlich beständig in Gespräche verwickelt. Ansonsten waren, vor allem während der Besichtigung der Zimmer viele Wortwechsel zu vernehmen, die auf die Einrichtungsqualität des Gebäudes abzielten. So sei die Qualität der Küche durchaus beneidenswert und der Platz für die Jugendlichen üppig bemessen, mitunter größer als die eigene Wohnung. So als ob einfache Holzbetten, schmucklose Regale und gebrauchte Kleiderschränke sowie zusammengenwürfelte Schreibtische eine überflüssige Aufwendung für diese Leute darstellte, die sich überdies zu viert ein von zwei Zimmern aus zugängliches Badezimmer mit je einer Toilette und einer Dusche teilen mussten. Exemplarisch für die Haltung mancher Besucher/-innen könnte eine Gruppe (zwei Männer und eine Frau) stehen, die ebenfalls die Unterbringung besichtigen wollten. Ihre T-Shirts mit dem Aufdruck Pegida ließen im Vorfeld nur wenig Zweifel an der allgemeinen Haltung zu. Die drei Personen traten durchaus selbstgewiss auf, wurden aber auch nicht offensiv von den Gastgebern angesprochen, erregten also bei den Beobachtenden scheinbar mehr Aufmerksamkeit als bei den Besucherinneren und Besuchern. Auf die Nachfrage, warum sie da wären, meinten sie, sie wollen sich anschauen, wie ihre Steuergelder verschwendet würden und was man alles für die Ausländer tue, während es den eigenen Leuten schlecht ginge. Hierin offenbaren sich also eine eindimensionale Vorstellung des Gemeinwohls und eine egozentrische

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Ausdeutung staatlicher Daseinsfürsorge, die mit dem monetären Fokus beinahe einen Dienstleistungscharakter annimmt. Dieser Fokus ist sowohl aus dem Kontext der Gruppengespräche mit Pegida-Aktivist/-innen bekannt als auch Teil einer Ordnungs- und Politikvorstellung der im Rahmen dieser Studie befragten Jugendlichen und jungen Menschen.30 Das stellt das zugespitzte Kondensat auch anderer Gesprächsfetzen dar: Es ging jenen, die gekommen waren, hauptsächlich darum, ihre Meinung zu bestätigen, und eher selten um das Heim an sich. Vielfach wurde in dem Gebäude stattdessen ein Symbol für die Politik von Bundeskanzlerin Merkel gesehen, mit der man total unzufrieden sei, über die man nicht befragt werde. Die Unterkunft für UMF in Klotzsche tritt in diesem Fall als konkretes Problem zurück, da es für die Anwesenden auch um die Flüchtlingsthematik in Gänze ging. In dieser Perspektive wird die Einrichtung vor allem zu einem Symbol für eine Verschwendung von Steuergeldern. Geldern, die am Ende dann nicht für die einheimische Bevölkerung zur Verfügung stünden. Seltener, aber nicht völlig singulär, waren die Bedenken bezüglich der Schülerinnen des naheliegenden Gymnasiums zu hören. Die angesprochene Frau im Pegida-T-Shirt habe ihre Enkelinnen auf der Schule und sei nun voller Angst um sie. Die Enkelin müsste jeden Tag hier vorbei und man kenne die Zustände doch aus anderen Einrichtungen. Wieder andere Bedenken wurden hinsichtlich der angrenzenden Kleingartenanlage geäußert, da würden Zigaretten und Flaschen rüber fliegen, den Garten könne man nur noch verschenken, der wäre gar nichts mehr wert, überhaupt: dass die einen in den Garten schauen könnten, sei eine Zumutung, die kaum aushaltbar schien. Andere wiederum forderten, dass doch unbedingt der Sichtschutzzaun vor dem Gebäude wieder entfernt werden müsste, damit man Einblicke in die Zustände des Heims erhalte. Mit einer vermutlich ähnlichen Logik wurden die Räumlichkeiten zum Zeitpunkt der »Auslieferung« zum Teil mit Hilfe von Fotos dokumentiert, um den erwarteten Verfall der Einrichtung schließlich dokumentieren zu können. Ob sich durch die Möglichkeit, die Unterkunft zu besichtigen am Ende die Bedenken zerstreut oder verfestigt haben, ist natürlich durch die bloße Beobachtung nicht zu beantworten. Auffällig ist, wie sich beide Seiten regelrecht in der Diskussion im Kreis drehten: Auf die Frage, ob man die Jugendlichen nachts im Haus behalte, folgt der Verweis auf das Jugendschutzgesetz, das auch für die künftigen Bewohner/-innen der Einrichtung gelte, was wiederum von vielen als zu lasch angesehen wird. An dieser Stelle wird dann oft mit deutschen Jugendlichen und den Sanktionsmöglichkeiten ihnen gegenüber argumentiert, was zunächst als Argument akzeptiert, häufig aber auch

30 | Vgl. Kapitel 3.4.3 und Kapitel 4.2.5.

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sogleich wieder verworfen wird, um erneut zu fragen, wie man die UMF zu sanktionieren gedenke. Unabhängig also davon, ob die Möglichkeit der Besichtigung nun Klarheit geschaffen oder Unsicherheiten beseitigt hat, konnte bis hierhin zumindest kein Zweifel daran bestehen, dass es noch immer eine tiefe Kluft in der örtlichen Bevölkerung gab. Es wurde auch deutlich, dass Jugendliche und junge Menschen kaum als ein Teil dieser Kluft anzusehen sind. Sie waren bei der Besichtigung eindeutig unterrepräsentiert. Ihre Interessen wurden eher treuhänderisch vertreten, als dass sie sich selbst gezeigt, geschweige denn geäußert hätten. Der Konflikt in Klotzsche erscheint somit als ein Konflikt der älteren Jahrgänge. Ein Eindruck, der vom ersten Bürgerdialog, über die Besichtigung bis hin zum finalen Bürgerdialog beständig bekräftigt werden konnte.

6.5.4  Patenschaft und Aperçu – der dritte Bürgerdialog Der Bürgerdialog fand dieses Mal nicht im erhabenen Ambiente der Hellerauer Werkstätten statt, sondern in der Mensa einer nahen Schule. Dadurch war der Ort zum einen deutlich zentraler gewählt und zum anderen nicht so stark hochkulturell aufgeladen wie der Austragungsort beim ersten Bürgerdialog in Hellerau – ein Lerneffekt, wie ein Moderator im Anschlussgespräch später anmerkte. Das auch dieser Saal jedoch seine Tücken hatte, wurde recht schnell erkennbar, als es schließlich darum ging, in den Bürgerdialog einzusteigen: Dieser war sehr gut besucht, im Kreis saßen am Schluss sicherlich sechzig Leute, teilweise, und auch gegen das Konzept, in zwei Reihen. Als jedoch die Moderatoren ihre Moderationstechniken anwenden wollten – aufstehen, umhergehen, vorstellen, Diskussionen in Kreisgruppen –, deren Erfolg schon bei dem ersten Bürgerdialog in Zweifel gezogen werden konnte, gingen weite Teile der Anwesenden, vornehmlich die Kritikerinnen und Kritiker der Asylunterkunft, auf die Barrikaden: Zum einen hatten sie sich instinktiv als eine Art Block formiert, der den übrigen Anwesenden in einer Art Frontstellung gegenübersaß. Jetzt jedoch verweigerten sie offen die Kooperationsbereitschaft und meinten, sie befänden sich nicht länger in der zweiten Klasse, wo man im Kreis laufend diskutieren müsste – und hier verweist der Ort des Dialogs zugleich negativ auf die Dialogerfahrung und Dialogpraxis zurück: Die Assoziation des belehrenden Verhaltens wird hier sogleich mit der Schule als Ort der Belehrung verknüpft. In diesem Moment drohte der Dialog zu scheitern. Der Versuch, weiterhin den üblichen Dialogmodus zu oktroyieren, führte bereits dazu, dass die ersten Leute den Saal wieder verließen. Es war der Intervention einer Mitarbeiterin der Asylunterkunft zu verdanken, die anregte, das Format zu ändern, da die Mehrheit der Leute offenbar gerne sitzen bleiben und sich entsprechend nicht exponieren wolle.

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Hier stellte sich im Anschluss schnell heraus, dass entweder die Pressemitteilung des Ortsamts schlecht von den Medien wiedergegeben oder sie von vielen Teilnehmenden falsch verstanden wurde: Viele der Anwesenden waren offenbar fest davon ausgegangen, dass der Sozialbürgermeister Dresdens, Hartmut Jungjohann, beim Dialog anwesend sein würde, den viele der Anwesenden offensichtlich – um eine alte Metapher aus den Ritualen der Piratenpartei zu bemühen  – grillen wollten. Dieser war tatsächlich während der Besichtigungszeit im Heim anwesend und hat mit einigen anwesenden Bürgerinnen und Bürgern zum Teil hitzig im Ton, aber doch relativ gemäßigt in der Sache, diskutiert, am Dialog nahm er jedoch nicht mehr teil. Lediglich das Angebot von drei Mitarbeitenden aus der Einrichtung – der Leiter, Geschäftsführer des privaten Trägerunternehmens und die zuvor intervenierende Mitarbeiterin, eine Psychologin –, auf die Fragen der Anwesenden in einer Art Fragestunde zu begegnen, rettete hier zwar nicht den Dialog, aber zumindest die Veranstaltung. Damit hatte es die Contra-Fraktion durch Blockade geschafft, der Runde die eigene Agenda aufzuzwingen. Im Streit der Beharrungskräfte haben sie sich gegenüber der Moderation schließlich durchgesetzt und sie mit Hilfe derselben Beharrung schließlich übervorteilt und sie, um in der Metaphorik der Schule zu verbleiben, schließlich eines »Besseren belehrt«. Im Verlauf dieser Fragerunde wurde schnell erkennbar, dass die skeptischen Anwesenden und Anwohner/-innen immer wieder von denselben Themen umgetrieben wurden. Diese lassen sich auf die Begriffe Ruhe, Ordnung und Sicherheit reduzieren: Ein Thema war, wie bereits zuvor bei der Besichtigung, das Thema Bewegungsfreiheit der künftigen Bewohner. Immer wieder wurden Fragen zum Ausgang und der Freizügigkeit, gestellt. Die Fragen drehten sich um die Sexualität der Jugendlichen, ihre Suche nach »Verbindungen«. Würde dies von den Sozialpädagogen begrüßt oder verhindert? Auffällig ist auch: Rhetorisch wurde immer wieder eine Mauer zwischen »den deutschen Jugendlichen« und »den Migranten und Flüchtlingen« eingezogen: Der Verweis auf die Herkunft und den Flüchtlingsstatus relativierte somit immer wieder erfolgreich die Klassifikation der zukünftigen Bewohner als Jugendliche. Diese mehr oder weniger direkte Reproduktion einer gesichtslosen und – unausgesprochen, aber latent vorhanden – potenziell vergewaltigenden Horde, ein Bild, das spätestens seit den Ereignissen der Kölner Silvesternacht 2015/2016 vor allem im Kontext von Pegida popularisiert wurde, war somit ein dominanter Topos in diesen Fragen. An dieser Diskussion wurde auch sogleich ein anderes Muster deutlich, das die Gegner/-innen von den Befürworter/-innen unterschied – wobei sich die Klassifikation als »Befürworter/-in« im Laufe des Abends noch einmal relativieren sollte: Die Gegner/-innen gaben sich immer wieder als lokal Betroffene zu erkennen. Zumindest artikulierten sie eine solche Betroffenheit, dass

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sie selbst oder Verwandte in der Nähe des errichteten Heimes wohnten und dadurch Probleme in ihrer täglichen Lebensführung – für sich selbst oder ihre Verwandten, vorzugsweise Kinder oder Enkelkinder – befürchteten. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die Befürworter/-innen im Verlauf von beiden beobachteten Bürgerdialogen mit keiner einzigen Wortmeldung auf eine räumliche Nähe zu der Einrichtung rekurrierten. Stattdessen dominierten in diesen Wortmeldungen oft und gerne Erzählpassagen von selbstgewählten und selbstbestimmten Involvierungen: Das ehrenamtliche Engagement, das hier als wesentliche Erfahrungsquelle für die Befürworter/-innen und Mediator/-innen diente, zeichnet sich vor allem durch diese freiwillige Konfrontation aus: Es scheint ihnen jederzeit möglich, ihr Engagement zu widerrufen und einzustellen. Aus ihren Wortmeldungen heraus lässt sich nicht schließen, dass sie jenseits dieses Ehrenamtes eine Konfrontation oder Begegnungen mit Flüchtlingen nicht zu erwarten hätten. Ganz anders als eben die Gegnerinnen und Gegner dieser Einrichtung, denen diese Konfrontation in dieser Weise tatsächlich fremdbestimmt erscheinen kann, weil es den Wortmeldungen nach einen handfesten Einfluss auf die eigene Lebensführung haben könnte, weil man mitunter Zaun an Zaun mit den zukünftigen Bewohner/-innen leben wird. Einen Einfluss, den man nicht hinnehmen möchte. Anhand solcher Wortwechsel ließ sich auch ein weiterer sehr interessanter Aspekt beobachten: Das Maß, in dem soziales und kulturelles Kapital, also ein Habitus im engeren Sinne,31 eine Diskussion strukturieren und dominieren können und auf zum Teil grundverschiedene Lebensumstände hinzuweisen scheinen, ist in dieser Deutlichkeit überaus beeindruckend. Am deutlichsten wurden diese habituellen Differenzen tatsächlich in der schließlich konkreten Diskussionsführung: Die Fragen und Wortmeldungen der Bedenkenträger waren meist in sprachlich eher kurzer und einfacher Form und Gestalt gehalten; zusätzlich dazu sprachen nahezu alle, die eine kritische Nachfrage an die Betreiber der Einrichtung stellten, in sächsischer Mundart. Die Befürworter/-innen auf der anderen Seite wiederum hielten oft lange, elaborierte Redebeiträge, die zum Teil den Charakter von Kurzreferaten oder Stegreifvorträgen annehmen konnten. Weiterhin waren ihre Wortmeldungen frei von Mundart. Im Rahmen dieser Referate lenkten die Vertreter/-innen der Initiative und der Heimbetreiber die von den Gegner/-innen thematisierten Fremdheitsempfindungen und Betroffenheitsnarrative stets auf die Integration der Jugendlichen, die es zu bewältigen und zu gestalten gelte, um. Das Argument lief immer darauf hinaus, dass die Ängste und Fremdheitsempfindungen wegmoderiert werden sollten, indem das Problem (die Anwesenheit der UMF) bis hin 31 | Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987.

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zur Unsichtbarkeit integriert wird. Gerade zynisch war an dieser Stelle der immer wieder betonte Hinweis, ja geradezu die Aufforderung, die Gegner/-innen sollten die Patenschaft für Flüchtlinge in Betracht ziehen, weil diese Dankbarkeit hervorrufen und Selbstbestätigung vermitteln könnte. Es herrscht eine gewisse, nicht direkte, aber doch latente Ignoranz der Befürworter/-innen gegenüber den Relevanzkategorien der Gegner/-innen vor. Diese drückte sich im Redebeitrag eines Teilnehmers aus, der mit Verweis auf drohende Parallelgesellschaften mit Hilfe eines »Wehret den Anfängen!«-Narrativs argumentierte und aus dieser Perspektive heraus die Einrichtung für die Flüchtlinge grundsätzlich ablehnte. Darauf wurde ihm von einem Teilnehmer des Dialogs Pessimismus vorgeworfen, was noch mit einer Anekdote versehen wurde: »Ein Pessimist ist ein enttäuschter Optimist, aber das ist ein Aperçu.« Nach dieser sehr distinkten Eröffnung, die habituelle Statusunterschiede markieren sollte, folgte eine der erwähnten Stegreifvorträge: Nachdem also ein formaler Disclaimer formuliert wurde, der betonte, dass es legitim sei, anderer Meinung zu sein, folgte eine lange, elaborierte Erklärung, weshalb die andere Meinung letztlich doch unzulässig sei. Dies deutet auf einen zum Teil tiefgreifenden biografischen Zusammenhang hing, der diesen Konflikt auf einer latenten Ebene womöglich maßgeblich mitstrukturiert. Zusätzlich zu vereinzelten Selbstaussagen im Rahmen der Bürgerdialoge ist es vor allem die Einschätzung in einem Hintergrundgespräch, die darauf hindeutet, dass das ehrenamtliche Engagement im Rahmen der Flüchtlingshilfe in einem hohen Maße von Zugezogenen geleistet werde und in Dresden respektive Klotzsche geborene oder aufgewachsene Menschen seltener in diesem Bereich des zivilgesellschaftlichen Engagements involviert zu sein scheinen. Dies wird unter anderem dadurch gestützt, dass einer unserer Gesprächspartner explizit darauf hingewiesen hat, dass die Arbeit in der lokalen Initiative in überwiegendem Maße von Zugezogenen übernommen wurde. Auch während der Forschung zum Protestphänomen NoPegida war die Häufung von Zugezogenen aus den alten Bundesländern, respektive die relative Abstinenz von gebürtigen Dresdnerinnen und Dresdnern auffällig.32 Auch waren in beiden Erhebungssituationen – also sowohl bei den NoPegida-Erhebungen als auch bei der Feldforschung in Klotzsche – Erzählungen über Distanzierungserfahrungen seitens der Zugezogenen die Rede: Vielleicht könnte an dieser Stelle sogar von Ankunftsschwierigkeiten gesprochen werden. Demgegenüber ist es spannend, dass die Perspektive von einer Person, die um Klotzsche herum geboren und aufgewachsen ist, in dieser Hinsicht völlig in die andere Richtung geht. Statt von Parallelgesellschaften ist von einer sehr guten Durchdringung und Durchmischung die Rede – wenn auch 32 | Vgl. Stine Marg u.a., NoPegida.

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im konkreten Fall vornehmlich auf die Wohnsituation bezogen. Wo auf der einen Seite sehr viel über die mangelnden Betätigungsmöglichkeiten für Jugendliche die Rede war, wurde auf der anderen Seite die Vielfalt an Angeboten und Möglichkeiten hervorgehoben. Wenn in puncto Engagement auf die Dominanz der Zugezogenen und die Bedeutung der Kirche verwiesen wird, hieß es in dem anderen Fall, dass es gerade die herkömmlichen, althergebrachten Vereine seien, an und in denen die Menschen erreicht und zum Zuhören bewegt werden können, denn: »Der Dresdner liebt so’n bissl das Traditionelle.« Deshalb werden hier vor allem Wander- und Heimatvereine, aber auch Klettervereine als Möglichkeiten des Kontakts und der politischen Arbeit vor Ort hervorgehoben. Es scheint also nicht sonderlich abwegig, für den Konflikt in Klotzsche jenseits offizieller Beschäftigung, sondern rein auf Ebene der Zivilgesellschaft, von einer Gegenüberstellung von Alteingesessenen und Hinzugezogenen (auch wenn diese zum Teil schon jahrelang dort leben) auszugehen. Damit könnte in Klotzsche ein Phänomen Wirkmächtigkeit erlangen, was Norbert Elias und John L. Scotson einmal eine Etablierte-Außenseiter-Figuration genannt haben.33 Im Rahmen einer solchen Figuration geht es um das Verhältnis von zwei gesellschaftlichen Gruppen, die entlang einer trennenden und identifizierenden Komponente, im Falle des ursprünglichen Fallbeispiels der Wohndauer vor Ort, mit Gruppenschließungs- und Ausgrenzungsprozessen konfrontiert werden: Die alteingesessenen, also etablierten Bewohner/-innen schließen ihre Reihen gegenüber den Neuen und machen sie damit zu Außenseitern, die durch Elemente sozialer Kontrolle auch dazu gebracht werden, diese Außenseiterrolle zu spüren.34 Das Besondere am Fallbeispiel in Klotzsche ist nun vielmehr, dass es sich bei den Verhältnissen vor Ort tatsächlich um ein solches Konfigurationsverhältnis von Etablierten zu Außenseitern handeln kann, das aber zugleich ein doppeltes und damit in gewisser Weise kontrafaktisches und sich somit selbst verstärkendes Konfigurationsverhältnis ist: Damit ist gemeint, dass jene, die somit Außenseiter qua Zuzug sind, die Existenz von Parallelgesellschaften konstatieren und zugleich weitgehend exklusiv in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe tätig sind, zugleich auf habitueller und kultureller Ebene gesellschaftspolitische Verfechter etablierter Elitenpositionen sind, also Vertreter einer gesellschaftlich etablierten Diskurshegemonie sind, während die lokal Etablierten in dieser Hinsicht gesellschaftspolitisch und kulturell eine Außenseiterposition einnehmen. In einem Interview mit der Berliner Zeitung bezeichnete der Direktor für die Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, die Dominanz westdeutscher Sozialisation bei den Funktionseliten 33 | Norbert Elias, John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Berlin 2016. 34 | Ebd., S. 7-9.

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in West- und Ostdeutschland als »kulturelle Hegemonie« und »kulturellen Kolonialismus«.35 Der Frage nach dem ob und wie der Flüchtlingsintegration könnte aus dieser Perspektive noch einmal zusätzlich durch diese komplexe, sich durchdringende und gegenseitig verstärkende Etablierte-Außenseiter-Figuration verstärkt werden. Wenn also die Befürworter/-innen als Teil (oder zumindest Sinnbild) zugewanderter Funktionseliten im lokalen Zusammenhang eher als Außenseiter gelten, führt die Tatsache, dass sie eine gesamtgesellschaftlich potenziell etablierte Position, die der Flüchtlingsintegration, befürworten und aktiv unterstützen, zu einer doppelten Betonung dieses Spannungsverhältnisses. Rhetorische Muster, die also grundsätzlich auf eine Ablehnung der Flüchtlinge und der Zuwanderung beharren, argumentieren aus dieser Perspektive also nicht nur gegen Flüchtlinge, sondern auch gegen jene empfundene kulturelle Dominanz in Gestalt der Außenseiter. Die Befürworter/-innen wiederum verfestigen mit ihrer Hinwendung zu den Flüchtlingen nicht nur diese kulturelle Dominanz, sondern könnten sich dieser Tätigkeit auch deshalb zuwenden, weil sie im lokalen Zusammenhang wenig Zugriff auf das soziale Gefüge haben und sich mitunter ja tatsächlich als Außenseiter fühlen. Vieles spricht dafür, dass eine solche Struktur den Konflikt in Klotzsche wie mit einer Art Fundament unterlegt und die Konfliktsituation weiter verstärkt. Durchbrochen wird dieses auch nur an zwei Stellen. Einmal in dem Sinne, dass es vor allem die Schülerinnen und Schüler des örtlichen Gymnasiums waren, die sich im Verlauf der Proteste sehr deutlich für die Integrationsposition und die Betonung der Willkommenskultur stark gemacht haben sollen. Das ist insofern bemerkenswert, als ja von Seiten der Gegnerinnen und Gegner vor allem mit dem Wohlergehen der Schülerinnen und Schüler argumentiert wird. In einem zweiten Fall handelt es sich um eine rhetorisch zentrale Figur der Gegenposition. Rhetorisch zentral deshalb, weil diese Person im Verlauf der beiden beobachteten Bürgerdialoge es geschafft hat, der ablehnenden Position rhetorische und argumentative Geltung auf der Ebene der Befürworter/-innen zu verschaffen. Sie wendete die Diskussion vor allem auf die Metaebene, ganz ähnlich wie zuvor mit dem »Wehret den Anfängen!«-Argument, indem sie globale Aussagen tätigte: »Wollen wir das, wollen wir die Leute in diesem Land?« Die Person ergänzte ihre Rhetorik darum, dass es ihr bei der Ablehnung der Flüchtlinge nicht um sie und ihr eigenes Wohl ginge, sondern um das der Flüchtlinge und ihrer Heimatländer. So würden die syrischen Ärzte schließlich vor allem in Syrien und nicht in Deutschland 35 | Markus Decker, bpb-Chef über westdeutsche Dominanz: »Es fehlen Übersetzer kultureller Differenzen«, in: Berliner Zeitung, 31.10.17, online einsehbar unter www. berliner-zeitung.de/politik/bpb-chef-ueber-westdeut sche-dominanz--es-fehlenuebersetzer-kultureller-differenzen--28746484 (eingesehen am 25.01.2018).

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gebraucht. Die Person fühle sich im Endeffekt von der Politik verlassen und verraten und müsse die Situation nun vor Ort retten, was sie als Erpressung seitens der Politik betrachte. Dieser Punkt produzierte schließlich die Erkenntnis, dass es auch Friktionen zwischen den einzelnen Meinungspolen gibt: So sagte der Herr, dessen Aperçu-Aussage zitiert wurde, mehr oder weniger wörtlich zum Sinn und Zweck seines Engagements für die Flüchtlinge, dass es zwingend notwendig sei, dass diese arbeiteten, damit sie bei längerem Aufenthalt nicht den Sozialstaat belasteten und das dies den Sinn seines Engagements maßgeblich befeuere. Dies stellt eine Thematisierung und Kondensierung der meritokratischen Flüchtlingspolitik dar, wie sie besser, treffender und pointierter kaum formuliert werden könnte.36 Eine bessere Verwirklichung des meritokratischen Ideals ist an dieser Stelle kaum denkbar, hat aber nur noch wenig mit einer humanitären Grundhaltung zu tun, sondern ist äußerst zweckrational gedacht. Flankiert wurde dieses ökonomische Argument dabei zwar immer wieder von der persönlichen Bereicherung (im emotionalen Sinne: die Dankbarkeit, die einem entgegenschlage, wenn man sich engagiere); aber an der grundsätzlich utilitaristischen Natur des Arguments ändert dies nichts. Wenn sich weiterhin von derselben Person mit Stolz darauf berufen wird, dass nirgendwo besser und effektiver abgeschoben würde als in ihrer bayerischen Heimat, dann relativiert dies mitunter schon die Perspektive auf die Initiative, die bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschend war. Gesteigert wird dies noch dadurch, dass der eloquente Fürsprecher der Gegenposition ebenfalls im Rahmen der Initiative engagiert ist. Der Name der Initiative »Brücken schaffen«, ein Projekt engagierter Christen, lässt sich also nicht nur als eine Handreichung gegenüber den Flüchtlingen auffassen, sondern auch als eine Möglichkeit zur Kommunikation und zum Austausch zwischen den einander konträr gegenüberstehenden inhaltlichen Positionen. Es ist also möglich, aus gesellschaftlicher Verpflichtung heraus, aus Nächstenliebe tätig werden, was jedoch nicht mit einer Unterstützung der Flüchtlingspolitik einhergehen muss. Es schließt sich offenbar auch nicht zwingend aus, Teil der Initiative zu sein und im Verlauf von Bürgerdialogen aus Positionen heraus zu argumentieren, die man auch auf Pegida-Veranstaltungen erwarten könnte. Es ist möglich, sich zu engagieren, um das Schlimmste zu verhindern und trotzdem Ausländer/-innen abzulehnen. Und es ist problemlos möglich, rational zu dem Schluss zu kommen, dass jeder in seinem Land am besten aufgehoben sei, man sich aber vor Ort darum kümmern müsse, dass die Verfehlungen der Politik eingehegt werden könnten. Das Ende des Dialogs half schließlich noch einmal dabei, die wesentlichen Spannungspunkte in der Gemeinde zu betonen: Einige der Gegner/-innen 36 | Vgl. Kapitel 5.1.2.

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nutzten die Gelegenheit der Schlussworte dazu, ihre grundsätzliche Ablehnung von Flüchtlingen auszudrücken, die man nicht nur in Klotzsche, sondern auch generell nicht haben wolle. Diese Kritik sei aber nicht artikulierbar, weil man sonst sofort als »Nazi« markiert würde. Einige wenige zeigten sich durch die Informationen, dadurch, dass sie beispielsweise die Heimleitung kennenlernen konnten und die dort geltenden Regel erklärt bekamen, zumindest etwas beruhigt. Immerhin seien 23 Jugendliche besser als die sechzig Männer, von denen einst die Rede gewesen sei. Man hoffe, dass alles friedlich bleibe, aber Zustände wie auf der Prager Straße wolle man keinesfalls und aufgrund bisheriger Erfahrungen sei man ohnehin gegen »Multikulti«. Die Befürworter/-innen wiederum werteten diesen Dialog als erfolgreich. Es seien zwar Bedenken zur Sprache gekommen, die man aber größtenteils habe zerstreuen können, indem man hätte aufzeigen können, dass die erwarteten Jugendlichen ganz normale Jugendliche seien, während die Befürchtungen doch als überzogen benannt worden seien.

6.6 V on synchronen M onologen als N ebenfolge des  A ntipopulismus An dieser Stelle wird zugleich mit besonderer Wirkmächtigkeit erkennbar, was sich im Verlauf der Dialogveranstaltungen gezeigt hat: Es ist grundsätzlich infrage zu stellen, ob und inwiefern bei diesen Veranstaltungen tatsächlich ein Dialog mit dem Ziel des Austauschs und der Verständigung stattgefunden hat. Vielmehr ist deutlich geworden, dass die beiden, einander diametral gegenüberstehenden inhaltlichen Positionen zwei voneinander faktisch völlig losgelöste Diskurse geführt haben: Jene, die die Asylunterkunft ablehnen, argumentieren zwar zumeist aus einer potenziellen persönlichen Betroffenheit heraus, möchten aber auf grundsätzlicher Ebene darüber sprechen, ob man Geflüchtete aufnehmen sollte und wenn ja, unter welchen Bedingungen dies geschehen zu habe. Der Fall und die Situation in Klotzsche dient also mehr als Chiffre und Vehikel, um die Flüchtlingspolitik in Gänze zu diskutieren, Kritik zu artikulieren und ihre gegenwärtige Verfassung umfassend abzulehnen. Die Befürworter/-innen hingegen stellten klar, dass ein zivilgesellschaftliches Engagement dringend und zwingend notwendig sei, da die Aufnahme der Flüchtlinge ohne ihr Engagement gar nicht funktionieren könne. Es geht also in dem Sinne überhaupt nicht um das Ob einer Flüchtlingspolitik, sondern allenfalls um das bestmögliche Wie. Dies wurde in beiden Dialogen besonders anschaulich erkennbar, als die Fraktion der Befürworter/-innen nicht in der Lage war, in der Situation in Klotzsche überhaupt eine Problematik zu identifizieren, solange die Einrichtung nicht gebaut und die Flüchtlinge noch nicht angekommen seien, weil die Gegenposition überhaupt nicht als valide Position

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angesehen wurde, die man hätte problematisieren und der man lösungsorientiert hätte begegnen müssen. Insofern kann hier von einem Dialog keineswegs die Rede sein. Vielmehr muss hier stattdessen von zwei synchronen Monologen ausgegangen werden. Diese vollziehen sich innerhalb zweier voneinander faktisch abgekoppelter Resonanz- und Echokammern, die eine Auseinandersetzung über die eigene Diskursdiaspora hinweg faktisch unmöglich macht. Beide Seiten verharren in einem kommunikativen Vakuum, unfähig, die Grenze zur Verständigung ernsthaft zu überschreiten. Beide Diskursparteien kreisen in einem engen Orbit um die eigene Position und sind zu keinem Wechsel der argumentativen Umlauf bahn in der Lage. Zwischen beiden Diskursen herrscht im Endeffekt eine Verständnisunfähigkeit, über die hinweg die Übertragung und Nachvollziehbarkeit der gegenläufigen Relevanz- und Ordnungskategorien nicht vermitteln konnte. Nun wäre es möglich, diesen Fall als ein Spezifikum von Klotzsche und seiner besonderen, auf Konfrontation und Polarisierung hin angelegten politischen Kultur anzusehen. Es gibt allerdings gute Gründe, das Scheitern dieses Dialogs – oder genauer: das Scheitern, eine Dialogsituation überhaupt erst herzustellen  – als Sinnbild für eine gesamtgesellschaftlich relevante Problematik zu begreifen. Schließlich ist der Dialog, der rationale Austausch, der mittels Deliberation hergestellte Konsens in gewisser Weise zum heiligen Gral der politischen Auseinandersetzung avanciert. Dialogorientierte Verfahren der Partizipation gelten als ein Zukunftsmodell einer in Bedrängnis geratenen repräsentativen Demokratie.37 Spätestens seit der Dialogveranstaltung zu Stuttgart 21, bei dem die »Wutbürger« zu »Inputbürgern« wurden, ist das Format des Dialogs und des runden Tisches, der Mediation von Widerspruch, ein Breitbandintstrument gegen Performanceschwächen des demokratischen Prozesses. Das Beispiel in Klotzsche hat aber zugleich nachdrücklich vorgeführt, inwiefern ein solcher deliberativer Austausch auch schlichtweg an seinen inneren und äußeren Voraussetzungen und Implikationen scheitern kann. Ein wesentlicher Grund des Scheiterns war die Inkommensurabilität der Debattenpositionen, die eine verständige Auseinandersetzung verhindert hat. Vielmehr war es nicht nur eine Unvereinbarkeit, die ein Übereinkommen in der Sache blockiert hat, sondern auch und vor allem die subtilen Mechanismen, mit denen der Eintritt in Debattenpositionen mitunter überhaupt gestattet und als legitim erachtet wird.38 Im Verlauf der organisierten Dialoge wurde 37 |  Vgl. Hans J. Lietzmann, Die Demokratisierung der Repräsentation. Dialogische Politik als neue Form der repräsentativen Demokratie, in: Manuela Glaab (Hg.), Politik mit Bürgern – Politik für Bürger, Wiesbaden 2016, S. 41-57. 38 | Vgl. hierzu auch Philip Manow, »Dann wählen wir uns ein anderes Volk …«. Populisten vs. Elite, Elite vs. Populisten, in: Merkur, Jg. 72 (2018) H. 827, S. 5–14, hier S. 6.

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deutlich, inwiefern allein die Form und die Formalität der Dialogveranstaltung ein Instrument der Machtausübung und Argumentationslegitimation darstellen. Diese können sehr subtil erscheinen und subkutan wirken. Die rein äußerliche Form des Dialogs, die Anordnung in einem großen Kreis, die Wahl des Veranstaltungsortes: All dies sind unwillkürlich erscheinende Mittel, die einer eher akademischen und bildungsbürgerlichen Debattenkultur entspringen und entsprechende biografische Gewohnheiten mit solchen Mustern der Auseinandersetzung präferieren.39 Neben diesen äußerlichen Faktoren gibt es aber auch inhaltliche Punkte, die die Annäherung in der Sache verhindern können. Es geht im Endeffekt um die Markierung des Gegenübers als Gesprächskontrahent; gerade der argumentative Verlauf des ersten Bürgerdialogs hat gezeigt, dass die Argumente der Gegner/-innen als non-existent behandelt werden: Das Versprechen des Dialogs wird in dem Moment schal und inhaltsleer, in dem die nicht ausverhandelten und unhinterfragten Zugangsvoraussetzungen zum Dialog nicht eingehalten werden. Oder anders: Als Gesprächspartner, mit dem verhandelt werden kann, gilt nur, wer sogleich die impliziten, die eigenen Prämissen teilt. Die Polarisierungsfrage (Multikulturelle Gesellschaft: Ja/Nein), die im ersten Dialog zur Klärung der Lager und Verhältnisse dienen sollte, war insofern keine Polarisierungsfrage, weil jedes Argument gegen den Multikulturalismus gleichzeitig ein Ausweis darstellte, dass diese Meinung als »falsch«, »dumm« oder »verängstigt« markiert werden konnte und somit nicht weiter ernst genommen werden musste.40 In der Folge musste die Meinung nicht gewürdigt werden, weil sie die Akzeptanzschwellen der Diskutant/-innen unterlaufen hat. Demnach konnten diese Debattenpositionen schlichtweg übergangen werden, wodurch sich die Auseinandersetzung schließlich in die Selbstthematisierung verlagerte. Wenn also eine Dialogveranstaltung den Dialog nicht herstellt, erweist sie dem Vertrauen in politische Prozesse in gewisser Weise auch einen Bärendienst. Sie produziert Frustration und Enttäuschungserfahrungen, möglicherweise vor allem bei jenen, die Hoffnung in den Dialog gesetzt haben, um überhaupt ihre Sichtweise in die Debatte einzubringen. Das Scheitern des Dialogs ist somit in Teilen bereits in seiner Struktur und in seinen Voraussetzungen angelegt. Er zielt von vornherein auf die asymmetrische Durchsetzung des Status quo und hat in keiner Weise eine Veränderung oder sogar Revision der Zustände im Blick. Der Dialog dient somit, gesellschaftspolitisch betrachtet, keineswegs einem Ziel der Verständigung, sondern der Vermittlung und Durchsetzung von Outputs. Es geht um die Herstellung von Akzeptanz. Die Konzeption eines solchen Dialogs, so wie er im Idealfall ablaufen soll, ist damit eine Realisierung dessen, was Ingolfur Blüh39 | Vgl. Dirk Jörke, Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte H. 1-2/2011, S. 13-17, hier S. 15f. 40 | Vgl. Philip Manow, »Dann wählen wir uns ein anderes Volk …«, S. 7 f.

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dorn simulative Demokratie genannt hat.41 Der Begriff beschreibt ein komplexes Arrangement demokratischer Aushandlungsprozesse, die in ihrer Wirkungsweise auf der Ebene der Simulation verbleiben und keine konkrete Wirkung und Veränderung jenseits eines Gefühls gefühlter Resonanz erzeugen sollen. Das Ziel ist die gegenseitige und reziproke Zusicherung aller Beteiligten, dass die institutionellen Arrangements der Demokratie weiterhin funktionsfähig sind, während das Wissen um die Dysfunktionalität der demokratischen Arrangements ein derart offenes und allgemein bekanntes Geheimnis ist, dass es keiner weiteren Thematisierung mehr bedarf. Eben dieser Prozess der Simulation würde dann zu einer Stabilisierung der Institutionen und eine Erneuerung demokratischer Versprechungen führen, um die grundlegende Auseinandersetzung über den Zustand der Demokratie abzuwenden.42 Eine Situation, wie sie in Klotzsche zu beobachten war, zeigt aber auch die Grenzen der Simulation auf: Sie funktioniert nur solange sie im gegenseitigen Einvernehmen stattfindet. Also solange die Bedürfnisse jenseits (oder besser: hinter) der Simulation solche Ergebnisse produzieren, die den Bürgerinnen und Bürgern zupasskommen.43 Dieses Arrangement der Simulation wird also brüchig. Womöglich auch deshalb, weil die Meinungen darüber, was angemessene und gewünschte Ergebnisse sind, die es zu simulieren gilt, offenbar fundamental auseinandergehen. Das vorliegende Beispiel lässt, im Vergleich zu anderen Evaluationen,44 grundsätzliche Zweifel an der Funktionsfähigkeit von derlei Dialogveranstaltungen vor allem auch für die Zukunft aufkommen. Sie sind möglicherweise das Resultat von Entwicklungen, die sich womöglich erst im Laufe der letzten Jahre in der politischen Kultur der Bundesrepublik soweit verdichtet haben, dass sie schließlich in einem »Backlash gegen die Grenzenlosigkeit«45 manifest geworden sind, gleichwohl sie einen langen Vorlauf haben.

41 | Vgl. Ingolfur Blühdorn, Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin 2013. 42 | Vgl. ebd., 183f. 43 | Vgl. ebd., S. 186. 44 | Vgl. Isabel Schneider u.a., Evaluation des Bürgerdialogs Zukunftsthemen. Evaluationsergebnisse zu den Bürgerdialogen »Energietechnologien für die Zukunft«, »Hightech-Medizin« und »Demografischer Wandel«, Stuttgart 2013; Johannes Erhard u.a., Do unconventional forms of citizien participation add value to the quality of democracy in Germany? A case study of the Bürgerdialog Energietechnologien für die Zukunft, in: Andrea Römmele, Henning Banthien (Hg.), Empowering Citizens, Baden-Baden 2013, S. 17-105. 45 | Albrecht von Lucke, 50 Jahre APO, 5 Jahre AfD. Von der Revolte zur »Konterrevolution«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik H2/2018, S. 41-49, hier S. 42.

6.  Fatale Verständigung im Zeitalter des »hilflosen Antipopulismus«?

Das Scheitern des Dialogs liegt zu einem Gutteil auch darin begründet, dass beide Dialogparteien der Haltung ihres Gegenübers im Endeffekt die Anerkennung der jeweiligen Meinung als legitime Debattenposition versagt haben  – wodurch sich die Notwendigkeit der Debatte faktisch erübrigt hat. Der rationale Diskurs im Sinne der Deliberation, die notwendige Basis eines Dialogs46  – in gewisser Weise das Betriebssystem der Simulation  – scheitert folglich bereits an seinen eigenen Voraussetzungen, genauer gesagt, an der Tatsache, dass er keinesfalls rational, sondern hochgradig moralisch aufgeladen ist. Eine »Kultur des Kompromisses«, wie Volker Boehme-Neßler dies zum Jahresbeginn 2018 mit Blick auf gescheiterte und holprige Sondierungsgespräche formuliert hat, gerät dabei immer mehr aus dem Blick. Das Königsinstrument der Demokratie drohe daran zu scheitern, dass eine Wahrheit zu der Wahrheit werde und dass die Grenzen eigener Toleranzfähigkeit unhinterfragt verabsolutiert würden. Die roten Linien, so könnte man Boehme-Neßlers Argument vielleicht übersetzen, würden immer dicker und dichter, ihr Radius dafür hingegen immer enger und kleiner.47 Boehme-Neßler macht die Vereinheitlichungstendenz von social network sites dafür verantwortlich. Der Filterblasen-Effekt,48 wie dies gerne genannt wird, führe zu einer Komfortzone der Selbstbestätigung und ausbleibenden Irritationen, wodurch Kompromisse überflüssig würden. Auch wenn einiges für diese Deutung spricht, so übersieht sie jedoch, dass soziale Medien nicht nur die Lebenswirklichkeit der Menschen prägen, sondern zugleich auch durch diese Lebenswirklichkeiten der Menschen geprägt werden. Sie stehen in einem komplexen Verhältnis von sozialisierender zu sozialisierter Instanz.49 Die dahinter liegende Tendenz ist jedoch nicht zwingend ein Produkt sozialer Medien, noch sind sie genuin auf diese beschränkt: Diskursräume werden vermehrt ideologisiert und als solche polarisieren sie den politischen Diskurs: »Statt sich in einer Diskussion aneinander anzunähern, reproduzieren sich Meinungen und Werthaltungen gleich einem Fraktal der Selbstbestätigung und unterminieren den Raum für Konsensfindung.«50 Die deutlichste Ausformung – geschlossen fundamentalistische Weltbilder – einer solchen Diskussions- und Debattenkultur hat Russel Hardin einmal eine 46 | Vgl. Johannes Erhard u.a. Empowering Citizens. 47 | Volker Boehme-Neßler, Kultur des Kompromisses, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Januar 2018, S. 13. 48 | Vgl. Eli Pariser, Filter Bubble. Wie wir im Internet entmündigt werden, München 2012. 49 | Vgl. Christopher Schmitz, Wahlkampf in (a)sozialen Netzwerken. Oder: Hate Speech jenseits politischer Extreme, in: Demokratie Dialog Jg. 1 H. 1/2017, S. 10-14, hier S. 12. 50 | Ebd.

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»crippled epistemology« genannt. Der Begriff beschreibt eine selbstzentrierte Weltsicht, unfähig zur Konsensfindung oder Kritikfähigkeit der eigenen Positionen, also letztlich gerade die Abwesenheit jedweder Debattenkultur.51 Wenn nunmehr politische Kontrahent/-innen aufeinandertreffen, die mit den Ansätzen einer ausgeprägten konfrontativen Weltsicht ausgestattet sind, verkommt das, was als Dialog bezeichnet wird, in letzter Konsequenz tatsächlich zu einer Abfolge von Monologen.

6.7 D ie K rise der L inken als K rise der D emokr atie ? Im Zuge dieser Entwicklung kommt es zu der durchaus paradoxen Situation, dass solche Debattenpositionen zwar als »links« und »rechts« markiert werden, und einen Konsens und Ausgleich zum Ziel haben, sie aber praktisch und faktisch auf der moralischen Eben eines »richtig« oder »falsch« agieren. Diese Einordnung zieht eine Positionierung nach sich, die eine Diskurs- und Dialogverweigerung unter Berufung auf die eigenen roten Linien erlaubt. Solche Prozesse hat Chantal Mouffes oftmals und an verschiedenen Stellen dezidiert kritisiert. Sie nimmt dabei Prinzipien liberaler Konsensdemokratien in den Blick.52 Mouffe konstatiert eine »postdemokratischen Krise« und lokalisiert den Grund hierfür wesentlich in einer Übermacht eines Konsenses der Mitte. In diesem Konsens werde die neoliberale Hegemonie nicht länger infrage gestellt, seitdem sich die Parteien (hauptsächlich der Sozialdemokratie) in einer »neuen Mitte« gefunden hätten.53 Mouffes Kritik richtet sich dabei vornehmlich auf die Konzepte einer reflexiven Moderne, wie sie vor allem von Ulrich Beck und Anthony Giddens beschrieben und soziologisch ausgedeutet wurden.54 Ein wesentliches Merkmal der reflexiven, oder auch anderen Moderne sei die neu gewordene Relevanz von Subpolitik: Damit ist gemeint, dass das Politische jenseits formaler Zuständigkeiten und Hierarchien Risse bekomme und brüchig werde. Wesentliche Kategorien des Industriekapitalismus würden insofern tendenziell depolitisiert – das bedeutet maßgeblich, dass beispielsweise die Politisierung des Cleavages von Kapitel und Arbeit zurückgedrängt wird –, 51 |  Vgl. Russel Hardin, The Crippled Epistemology of Extremism, in: Albert Breton u.a. (Hg.), Political Extremism and Rationality, Cambridge 2002, S. 3-22. 52 | Vgl. Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt a.M. 2007, S. 11f. 53 | Chantal Mouffe, »Postdemokratie« und die zunehmende Entpolitisierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Jg. 61 H.1-2/2011, S. 3-5. 54 |  Vgl. Ulrich Beck u.a. (Hg.), Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M. 1996.

6.  Fatale Verständigung im Zeitalter des »hilflosen Antipopulismus«?

während vormals unpolitische Kategorien politisiert und ins Zentrum der Auseinandersetzung gerückt würden.55 Subpolitik zeichne sich dadurch aus, dass dadurch auch Akteure außerhalb des verfestigten politischen Systems zur Geltung kämen und dass dadurch vor allem auch Individuen politischen Gestaltungsanspruch für sich beanspruchen könnten.56 Sie sind somit das Resultat von Flexibilisierung, Liberalisierung und Individualisierung der (westlichen) Gesellschaften seit der Mitte des 20. Jahrhunderts.57 Ein wesentlicher Aspekt sei hierfür die Unterminierung einer Unterscheidung zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit gewesen, die vor allem von der Frauenbewegung infrage gestellt worden sei.58 Dieser Paradigmenwechsel, der auch als Politik der ersten Person bezeichnet wird, beschreibt die Politisierung der persönlichen, individuellen Lebensverhältnisse.59 Für Heinz Bude sind »die Klagen des Selbst im Gefolge von 1968 zu einem legitimen Gegenstand politischer Forderungen geworden. Jedenfalls kann seitdem alles, was mit dem Selbstsein zu tun hat, als Politik bezeichnet werden. Man spricht von einer Politik der Geschlechter, der Lebensstile oder gar des Körpers.«60 Diese Identitätspolitik im Schlepptau von 1968 und der Frauenbewegung hat dabei zweifellos immense emanzipatorische Erfolge erzielt, die auch sicherlich noch nicht ausgeschöpft sind  – erst recht und gerade nicht in einer Zeit zunehmender gesellschaftlicher Regression. Es ist retrospektiv betrachtet somit nun weniger Zufall als vielmehr eine Konsequenz aus der Entwicklung westlicher Gesellschaften, dass sich die Auf brüche in die Subpolitiken mit jenem Datum überschneidet, das Colin Crouch in seiner berühmten Diagnose der Postdemokratie als das Ende des goldenen Zeitalters der Demokratie konzipiert sowie konstruiert hat und nicht zuletzt auch stark idealisiert gegen die Postdemokratie abgrenzt.61 55 | Vgl. Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. 1. Auflage, Frankfurt a.M. 1993 (= Edition Suhrkamp; 1780 = N.F., 780), S. 156f. 56 | Vgl. ebd., S. 162. 57 | Vgl. Jörke, Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie, S. 14. 58 | Vgl. Ulrich Beck, Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne, in: Ulrich Beck, Anthony Giddens, Scott Lash (Hg.), Reflexive Modernisierung: Eine Kontroverse, Frankfurt a.M. 1996, S. 19-112, hier S. 71. 59 | Sebastian Haunss, Antiimperalismus und Autonomie – Linksradikalismus seit der Studentenbewegung, in: Roland Roth und Dieter Rucht (Hg.), Die sozialen Bewegungen in Deuschland seit 1945: Ein Handbuch, Campus 2008, S. 447-473, hier S. 462. 60 | Heinz Bude, 1968 und die Soziologie, in: Soziale Welt Jg. 45 (1994) H. 2, S. 242253, hier S. 248-249. 61 |  Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, S. 11ff.

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Mit Blick auf den gescheiterten Bürgerdialog in Klotzsche und perspektivisch für die Gesellschaft in Gänze sollte jedoch die Frage erlaubt sein, ob sich dieses Prinzip einer Politik der ersten Person nicht auch zum Teil gegen ihre Mütter und Erfinderinnen wendet. Diese Frage hat Nancy Fraser bereits mehrfach aufgegriffen und zur Disposition gestellt: Fraser geht dabei der Frage nach, ob eine Ausbreitung emanzipatorischer Politiktechniken, die auf die Frauenbewegungen zurückzuführen sind, nicht auch integraler Bestandteil einer gesellschaftlichen Transformation sein könnten, die nicht intendierte und zum Teil kontrafaktische Ergebnisse produziere und hervorbringe.62 Verallgemeinert und überspitzt bedeutet dies: Strategien der »Neuen Linken«, nämlich Identitätspolitiken der Anerkennung und Emanzipation haben – um einen Begriff von Ulrich Beck zu entlehnen – Nebenfolgen: Frasers Kernargument basiert darauf, dass sich die Linke von ihren ursprünglichen Kernbegriffen wie ›Ausbeutung‹, ›Umverteilung‹ und (Klassen-)›Interesse‹ entfernt und sie durch Begriffe wie ›Identität‹, ›Differenz‹, ›kulturellen Dominanz‹ und ›Anerkennung‹ ersetzt habe63 und sich diese Konzepte zugleich in die Logik eines hyperindividualisierten Neoliberalismus eingefügt hätten.64 Die wesentliche Nebenfolge derart gewendeter Identitätspolitiken auf Basis eines Identitätsliberalismus bestehe zum Teil darin, dass er potenziell das Gegenteil von dem produziere, was er eigentlich anstrebe: Statt zu einer Inklusion gesellschaftlicher Subgruppen im Sinne einer integralen Kraft über die Rhetorik von subpolitischer Anerkennung wirke er stattdessen zentrifugal und verstärke die Abkopplungseffekte, indem singuläre Aspekte zum Teil existentiellen Charakter zugewiesen bekämen, die jenseits persönlicher und biografischer Betroffenheit keine Gemeinsamkeiten mehr herstellen könnten. In seiner Generalabrechnung mit dem Identitätsliberalismus in den USA fällt Mark Lilla ein vernichtendes Urteil in diesem Sinne: »Identity liberalism has ceased being a political project and has morphed into an evangelical one.«65 Lillas Kritik fußt darauf, dass der Identitätsliberalismus sich von einem wesentlichen Prinzip des Liberalismus entfernt und sich deshalb wesentlich entkernt hätte. Es könne keinen Liberalismus ohne eine gemeinsame, universelle Basis 62 | Vgl. Nancy Fraser, Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte, in: Blätter für deutsche und Internationale Politik (2009) H. 8, S. 43-57, hier S. 44. 63 | Vgl. ebd. 64 | Vgl. Nancy Fraser, Die halbierte Gerechtigkeit. Gender Studies, Frankfurt a.M. 2001, S. 23f. 65 | Mark Lilla, The Once and Future Liberal. After identity politics, New York 2017, S. 14; vgl. auch Mark Lilla, The End of Identity Liberalism, in: New York Times, 18.11.2016, online einsehbar unter https://www.nytimes.com/2016/11/20/opinion/sunday/theend-of-identity-liberalism.html, 21. Dezember 2017 (eingesehen am 21.12.2017).

6.  Fatale Verständigung im Zeitalter des »hilflosen Antipopulismus«?

geben: Für Lilla ist diese gemeinsame, universelle Basis die citizenship, also Staatsbürgerschaft.66 Lilla aktualisiert damit eine Deutung der Neuen Linken, die Richard Rorty  – auch für die amerikanische Linke  – bereits in den frühen 1990er Jahren formuliert hat. Und auch Rorty sah in der Betonung der Staatsbürgerschaft als Gemeinsamkeit einen Ausweg aus der Betonung von Differenzen und ihrer identitätspolitischen Verabsolutierung.67 Die Folge eines solchen kompromisslosen Identitätsliberalismus stellt dann das Scheitern der gesellschaftlichen Verständigung an einem multiplen Anerkennungsversagen dar. Wenn Axel Honneth davon spricht, dass die Verfügbarkeit über Rechte immer weniger bedeute, »sich einer wechselseitig eingeräumten Ermächtigung zur individuellen Freiheit zu erfreuen« und stattdessen darauf abziele »die Begehrlichkeiten anderer mit legitimen Mitteln zurückweisen zu können«, dann bringt dies die Dilemmata des identitätspolitischen Liberalismus und seine gesellschaftlichen Sollbruchstellen prägnant auf den Punkt.68 Nun soll hiermit nicht angedeutet werden, dass das Problem gegenwärtiger Demokratien primär in Konzepten des Identitätsliberalismus und von Politiken der Anerkennungen liege und es nur einer Rückkehr zu den ursprünglichen Konzeptionen des Politischen bedürfe, um die Probleme zu lösen. Nicht zuletzt wäre die völlige Aufgabe solcher Werthaltungen ein Kotau vor der neuen politischen Rechten und ihrer politischen Agenda. Im Gegenteil wäre eine hastig vollzogene Abkehr von Prinzipien des Identitätsliberalismus fatal, auch da argumentiert werden kann, dass sich die Neue Rechte genau diese Momente von Identitätspolitik im Sinne einer politischen Mimikry als wesentliche Strategie zur Artikulation ihrer politischen Agenda übernommen hat. Auch die Neue Rechte führt gerne Debatten über Identität, Differenz und kulturelle Dominanz und artikuliert dies mit einem Impetus der und einer Forderung nach Anerkennung. Durch diese personalisierte Agenda werden die eigentlich emanzipatorischen Methoden der kulturellen Linken für eine reaktionäre Wende – auf einer strategischen, wenn auch nicht inhaltlichen Ebene – dienstbar gemacht: Die Folge ist der identitätspolitische Rekurs auf eine biografische Betroffenheit in einem ethnonationalen Sinne.69 So werden beispielsweise, wie im Falle des Bürgerdialogs in Klotzsche, Überfremdungsängste und die Ablehnung von Multikulturalismus einfach subjektiviert und personalisiert und dadurch gegen Kritik immunisiert. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, Ressentiments beispielsweise in eine persönlich empfundene und erfahrene 66 | Vgl. ebd., S. 15. 67 |  Vgl. Richard Rorty, Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus, Frankfurt a.M. 1999, 96f. 68 | Axel Honneth, Verwilderungen. Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Jg. (2011) H. 1-2, S. 37-45, hier S. 45. 69 | Vgl. Kapitel 5.4.3.

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Überfremdungsangst zu übersetzen und sie somit in einem ethno-identitären Sinne zu politisieren, womit ihre Anerkennung erzwungen werden soll. Gegenstrategien, die auf einer Zerstreuung dieser geäußerten Ängste basieren, indem sie beispielsweise auf soziodemographische Zusammenhänge und Zahlenverhältnisse verweisen, die die Ängste als irrational und somit ungerechtfertigt markieren sollen, laufen insofern ins Leere, weil sie eine kategoriale Verschiebung der Auseinandersetzung darstellen. Zugleich kann diese Zerstreuungsstrategie jedoch auch zu einer Delegitimierung des Gegenübers und zu einer Selbstvergewisserung führen und die Basis für die konstruktive Auseinandersetzung auf lange Sicht nachhaltig unterminieren. Beide Seiten haben dadurch ihr Ziel erreicht, ohne jedoch einer Verständigung auch nur ein Stück näher gekommen zu sein. Insofern treffen Analysen wie jene von Jörke und Selk, die den zeitgenössischen antipopulistischen Strategien eine gewisse Hilflosigkeit bescheinigen, weil sie sich moralisiert hätten und in Selbstreferentialität verfallen seien, durchaus einen wahren Kern.70 Eben weil sie auf der moralischen Ebene verbleiben, perpetuieren sie die Rückkopplungsschleife gegenseitiger Anerkennungsforderungen und vertiefen die Herausbildung der jeweiligen crippled epistmology. Das Resultat sind vertiefte Gräben zwischen gesellschaftspolitischen Lagern. Statt die abgewertete Diskurspartei, die in diesem Moment gerade keine Diskurspartei mehr ist, als eine solche zu delegitimieren, kann sie den Vorwurf mit Hilfe identitätspolitischer Mimikry in eine Diskursposition umwandeln, die nach Geltung in einem Sagbarkeitskontinuum verlangt. Dadurch verliert die Strategie an Schärfe, weil sie dazu tendiert, die Sagbarkeitsgrenzen durch die delegitimierende Zuschreibung zu erneuern. Ressentiments werden mit einem Male auf einmal sagbar und nur schwierig einer Zurückweisung zugänglich, was im Endeffekt zu einer Aufweichung von sogenannten Sagbarkeitsgrenzen führen kann. Was in Klotzsche im Kleinen erkennbar wird, deutet auf gesellschaftlicher Ebene in gewisser Weise auf das Ende, oder zumindest eine strukturelle Krise, einer linksliberalen, genauer gesagt identitätspolitischen Weisheit hin, die seit der Frauenbewegung hegemonial war: Die Strategien zur Herstellung und Aufrechterhaltung von zunächst kultureller und politischer Relevanz und schließlich gesellschaftlicher Hegemonie über die Kategorie der persönlichen Betroffenheit werden porös, weil sie ihre Exklusivität eingebüßt haben. Die bisherige Reaktion darauf besteht gegenwärtig in einer weiteren Intensivierung dieser subpolitischen Topoi. Innerhalb der spezifischen politischen Komfortzonen dominiert das Lamento über die Schieflage des politischen Gemeinwe70 | Vgl. Dirk Jörke und Veith Selk, Der hilflose Antipopulismus, in: Leviathan Jg. 43 (2015) H. 4., DOI 10.5771/0340-0425-2015-4-484, S. 484-500; René Cuperus, Wie die Volksparteien (fast) das Volk einbüßten.

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sens. Es bestehen gute Gründe daran zu zweifeln, ob die fortlaufende Aneinanderreihung von Lamento und Gegenlamento in dieser Hinsicht zu einer wesentlichen Verbesserung des Status Quo beizutragen vermag.71

71 | Vgl. hierzu grundsätzlich auch Dirk Jörke, Die populistische Herausforderung der Demokratietheorie, oder unliebsame Gemeinsamkeiten zwischen deliberativen und agonistischen Modellen der Demokratie, in: Claudia Landwehr, Rainer Schmalz-Bruns (Hg.), Deliberative Demokratie in der Diskussion. Herausforderungen, Bewährungsproben, Kritik, Baden-Baden 2014, S. 369–391.

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7.  Die Jugend – im Bann von P egida?

Was folgt aus der vorliegenden Studie? Bevor der Bogen zurück zur Ausgangsfragestellung gespannt werden kann, erscheint es ratsam, die wesentlichen Teilresultate zu rekapitulieren und gebündelt darzustellen – gerade angesichts der Vielfalt der behandelten Themen, Einzelbeobachtungen und aufgeworfenen Fragen. Im Anschluss an diese Zusammenschau sollen die Resultate dann eingeordnet und bewertet, offen gebliebene Fragen und Forschungsdesiderata benannt und diskutiert werden. Zu guter Letzt stellt sich die Frage nach politischen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in Bezug auf die Jugend.

7.1 Z usammenfassung der Teilresultate Dass das Auftreten von Pegida im Herbst 2014 die öffentliche wie wissenschaftliche Aufmerksamkeit etwa zwei Jahre lang gebunden hat, ist einleitend deutlich geworden. Zugleich sperrte sich das Protestphänomen trotz intensiver Beforschung zum zahlenmäßigen Zenit der Demonstrationen in den ersten Monaten des Jahres 2015 der leichtfertigen Erklärung oder Einordnung in bestehende sozialwissenschaftliche Kategorien; um die Einschätzung und Bewertung von Pegida ist vielmehr eine engagierte Diskussion entstanden. Erst im Laufe der Jahre 2015 und 2016, als eine wachsende Nähe zur Partei der AfD zu beobachten war, setzte sich – abgesehen von Differenzen bezüglich der politischen Bewertung – die Einschätzung durch, dass die Dresdner »Patriotischen Europäer« als früher Indikator einer erstarkenden »Neuen Rechten« beziehungsweise »schmutzigen Seite der Zivilgesellschaft« anzusehen sind, mithin als Symptom eines tiefgreifenden politisch-kulturellen Wandels, der sich auch über Dresden hinaus breitenwirksam durchsetzt. Neben dieser Bedeutung als Initialzündung und Vorfeldorganisation einer nunmehr organisatorisch stärker geschlossenen »Neuen Rechten« beziehungsweise eines Bestandteils einer sozialen Bewegung ist der – wenn auch mit stagnierenden Teilnehmendenzahlen – noch immer stattfindende Dresdner Protest heute professionalisiert und normalisiert, kurz: ein eingeschliffenes Ritual, das nur noch wenig öffentliche Aufmerksamkeit erfährt, jedoch für die Teilnehmenden vor Ort eine evidente alltagsweltliche Bedeutung einnimmt.

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Die fortgesetzte Analyse der Narrative, Topoi und Deutungsmuster der Pegida-Demonstrationen hat die zentrale Funktion von Selbstbezug und Selbstvergewisserung für das Einschwören der eigenen Anhänger/-innen herausgearbeitet. Zum einen sind daher die Durchhalteparolen, das Bekräftigen des langen Atems durch das Organisationsteam sowie die Weihung Dresdens zur »Hauptstadt des Widerstands« durch externe Rednerinnen und Redner dominante Züge der ritualisierten Protestchoreografien. Die Demonstrationen sind Happenings eines Protestkollektivs, die nach innen kohärenz-, sinn- und identitätsstiftend wirken. Überdies bieten die verhältnismäßig großen Demonstrationen gerade den kleineren Organisationen und Zusammenhängen der »Neuen Rechten« eine große Bühne, um Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit zu erlangen  – wie beispielsweise für Martin Sellner, der Chef der Identitären Bewegung, der auf dem dritten Protestgeburtstag den Ausfall der Lautsprecheranlage mit einer unterhaltsamen Versteigerung der Pflastersteine überbrückte. Mit dem guten Abschneiden der AfD bei der Bundestagswahl 2017 sieht Pegida überdies eine neue Rolle in der Unterstützung, aber auch Kontrolle der AfD. Man ist so selbstbewusst, diesen Erfolg auch für sich zu verbuchen und leitet daraus die Notwendigkeit, Aufgabe und vor allem Berechtigung ab, als das außerparlamentarische Korrektiv der AfD zu wirken. Zum anderen wird ein hoher Redeanteil auf rechtspopulistische Rhetorikstile verwendet. Als Aufhänger dienen regelmäßig die Aussagen von Politikerinnen und Politikern, die in den jeweiligen Redekontext eingepasst werden. Über diese Referenzen werden dabei auch die präferierten Themen angesteuert. Diese konzentrieren sich auf die Feindbilder Islam, Flüchtlinge und Muslime, wobei diese Begriffe mehr oder weniger synonym verwendet werden – und Pegida tatsächlich die Religion meint, wenn sie von der Religion spricht. Besonders auffällig ist hierbei ein Phänomen, das die kommunikative Logik von Pegida maßgeblich bestimmt und das als Memefizierung des Diskurses bezeichnet werden kann: Gerade solche Signalwörter dienen als Erkennungszeichen, erfüllen für die sprechende Person eine Selbstzuordnungsfunktion, die die Affinität zu Pegida-Positionen eindeutig markieren. Dadurch unterscheidet sich das expressive Reden Pegidas noch einmal von den mit dieser Expression transportierten Themen. Um eine direkte Anschlussfähigkeit und Sympathie für Pegida zu ermitteln, ist die Suche nach diesem spezifisch kodierten Vokabular ein vielversprechender Weg, sind doch »Insider«-Kenntnisse erforderlich, um diese memefizierten Codes zu beherrschen. Darüber hinaus transportiert Pegida jedoch auch jenseits dieser spezifischen Sprechmuster Inhalte, deren Betrachtung nach Relevanz und Anschlussfähigkeit nicht dadurch erledigt sind, dass sie nicht expressiv und memefiziert auftreten. Für die Beobachtung des breiten gesellschaftlichen Diskurses mit Hilfe von Fokusgruppen mit den Jugendlichen und jungen Menschen ist die Analyse der latenten Anknüpfungspunkte also fast noch wichtiger, um zu klären, inwiefern diese »schmutzige Seite der

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Zivilgesellschaft« und ihre Themen und Narrative in den Deutungsrahmen der Jugendlichen und jungen Menschen eingesickert sind oder auf fruchtbaren Boden fallen, oder auch völlig funktionslos verkümmern. Die Durchführung der Gruppendiskussionen produzierte ein reichhaltiges Material, das breite Einsicht in die Werthaltungen, Deutungsmuster und Befindlichkeiten der Jugendlichen und jungen Menschen gibt. Die Suche nach dem normativen inneren Kompass führte uns zur überraschenden Dominanz konventionalistischer »Wertetypen«. Enorm wichtig für die überwiegende Mehrheit unserer Gesprächsteilnehmerinnen und Gesprächsteilnehmer sind Anpassungs- und Ordnungswerte sowie Kollektivwerte (wie Familie und Zusammenhalt). Sie spielen nach den Regeln, sind heimatnah, verwurzelt, risikofern und durchaus patriotisch eingestellt. Sie gehen im Leben auf Nummer sicher und wünschen sich körperliche Unversehrtheit ebenso wie materielle Absicherung, schlagen mit Freude eine »Normalbiografie« ein, die durchaus auch als Ideal überhöht wird. Im Gegensatz zur Werteforschung, die als gesellschaftlichen Durchschnittstypus den »aktiven Realisten« ausmacht, der anpackend und entschlossen Leistungs- und Pflichtethos mit Partizipationsund Selbstverwirklichungsansprüchen verbindet, kaprizieren sich die von uns befragten jungen Menschen sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland auf kleinschrittige und zurückhaltende biografische Entwürfe. Wohl ist das Gros unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer leistungsorientiert; sie gestalten ihr berufliches Leben entsprechend, doch tun sie dies eben nicht als dynamisch anpackende, selbstbewusste Individuen, sondern vielmehr, um für sich in bescheidenem Rahmen das Beste zu erreichen – und aus konformistischem Sekuritätsbestreben, salopp: weil eben alle es so machen. Vor allem das Innovationsbedürfnis geht den meisten völlig ab: Veränderungen werden, wenn sie sich nicht vermeiden lassen, in Kauf genommen, oder wenn, dann in bescheidenem Umfang aus einer gesicherten Komfortzone heraus gewagt, wenn es eine ausreichende Absicherung gibt, die Rückwege jedenfalls offenbleiben. Tatendrang tritt hier zuvörderst als aufgenötigte Flexibilität auf, als ein »Ich-muss-also-mache-ich-halt« und begrenzt sich auf die unmittelbaren Ziele der näheren Zukunft. Insofern liegt auch die Perspektive einer aktiven Gestaltung der Gesellschaft oder Politik für die meisten außerhalb des Wünschens- und Erstrebenswerten. Das Interesse für die Mitmenschen begrenzt sich auf den sozialen Nahraum, intensiv kann nur die eigene Familie mit aufrichtig empfundener und tief verankerter Bindung rechnen. Das Weltbild ist weder besonders offen noch prinzipienfest, sondern pragmatisch und situativ zusammengesetzt, Angstpotenzial latent vorhanden. Dieser grundlegende Konventionalismus prägte den Diskussionsstil über alle Themen hinweg und ist einer der wesentlichen Ursachen der privatistischen Orientierung am persönlichen Nahbereich, mithin der Politikdistanz und Polarisierungsresistenz der jungen Menschen. So erwies sich auch das

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Thema Pegida selbst als unpopulär, ja irrelevant; engagierte Parteinahme für oder gegen das Protestphänomen war kaum zu vernehmen, vielmehr dominierten Augenrollen und Achselzucken. Man verwendet und versteht die oben beschriebenen memefizierten Signalwörter nicht. Die Pegida-Demonstrationen stellen vielmehr eine letztlich unnötige Störung der präferierten Stromlinienförmigkeit des gesellschaftlichen Alltags dar. Sie kosten (Steuer-)Gelder, die für andere Dinge ausgegeben werden könnten, und sie stören den reibungslosen Ablauf des eigenen Arbeitstages. Primäre Gründe der Ablehnung Pegidas sind bei den als Beunruhigte rekrutierten Gruppen vor allem die Einschränkungen in der Mobilität des öffentlichen Nahverkehrs; die als Unbekümmerte rekrutierten Gruppen in Dresden und Leipzig dagegen, ebenso nahezu alle Gruppen in den westdeutschen Städten, argumentierten pseudosoziologisch, indem sie die Demonstrant/-innen als kulturell rückständige und heillos frustrierte Ex-DDR-Bürger pathologisierten. Dies ist Ausdruck einer Abwehrhaltung, die jede Verantwortung für und Verstrickungen in Fremdenfeindlichkeit und rassistische Haltungen weit von sich weisen soll. Pegida als Label und Protestformation hat insofern keinen guten Stand bei unseren Jugendlichen und jungen Menschen. Jenseits dieser Disclaimer, die als eine Art Haftungsausschluss formuliert wurden, ließen sich jedoch in vielen Gruppen (wenn auch schwerpunktmäßig bei den Beunruhigten) unterschwellige Sympathien für Pegida entdecken. Diese erschöpfen sich nicht lediglich in einer Billigung der Proteste, sondern umfassen auch zum Teil ausprägte latent-inhaltliche Anknüpfungspunkte. Aber: Jenseits dieser verdeckt-offenen Sympathien bestehen diese Anknüpfungspunkte auch in weiten Teilen unseres Samples. Auch Politik ist, ebenso wie Pegida, bei den befragten jungen Menschen kein präsentes Thema. Insbesondere jene, die keinerlei Alltagsbezug zur Politik herstellen können – und das sind etwa zwei Drittel der Befragten –, sind ihr gegenüber völlig leidenschaftslos und unbeteiligt. Die Pegida-Anhänger/-innen hingegen sind stark an Politik interessiert, kennen sich bei zahlreichen politischen Themen aus und haben ein profundes Wissen über Politiker/-innen und Parteien. Wir fanden nicht nur politische Abstinenz bei einer Mehrzahl der jungen Befragten auf der einen, sondern auch eine hohe Zufriedenheit über das Funktionieren der bundesrepublikanischen Gesellschaft und der sie tragenden Institutionen auf der anderen Seite. Insofern erscheint uns der Begriff der »Politikverdrossenheit« zur Charakterisierung des Verhältnisses dieser jungen Menschen zur Politik unpassend, da wir bei jenen, die sich vordergründig durch politisches Desinteresse auszeichnen, keine Verdrossenheit oder weitreichende Unzufriedenheit über das politische Personal oder öffentliche Institutionen feststellen konnten. Wir fanden jedoch die weit verbreitete Vorstellung, dass die Gesellschaft und alle sie ermöglichenden Prinzipien, automatisch funktionieren. Die Befragten interpretieren das funktionstüchtige Gemeinwesen weder als Ver-

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dienst der gesellschaftspolitischen Eliten noch sehen sich selbst in der Verantwortung, hierfür einen Beitrag zu leisten. Die jungen Menschen nehmen eine Perspektive der Naturalisierung ein und setzen die Funktionalität sowie Professionalität der Abläufe und Institutionen stets voraus. Normen, Organisationen oder Sicherungen werden demzufolge nicht hergestellt oder gestaltet, sondern sind einfach existent. Insofern bedeuten ihnen Reformen oder andere Veränderungen auch immer eine Verschlechterung der Ausgangsperspektive und haben keinen positiven oder verheißungsvollen Klang. Die einzigen relevanten handlungsmächtigen Akteur/-innen sind aus ihrer Perspektive die Unternehmen und Managerinnen beziehungsweise Manager. Dies wird jedoch keinesfalls als Kritik geäußert, sondern ist eine präsente Rahmenerzählung, die sich bruchlos in ihren internalisierten Meritokratismus einfügt und in der Forderung nach der Umsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien in der Politik sichtbar wird. Trotz allem wäre es jedoch verfehlt, den jungen Menschen eine in Gänze unpolitische Haltung zuzuschreiben. Sie nehmen einerseits zwar eine distanzierte Position ein, auch weil Politik ihnen als Trigger erscheint, der sie zurückschrecken lässt, da es keinen alltagsweltlichen Bezug gibt und sie mangelnde eigene Kompetenz auf diesem Feld befürchten. Andererseits machen sie sich Gedanken um den Zustand der Gesellschaft und reflektieren die Situation ihrer unmittelbaren Lebenswelt. Dabei agieren sie jedoch eher als Konsumbürger/-innen. Sie wählen bestimmte Inhalte und Themen aus dem politischen Angebot aus, welches sie jedoch weder sondieren noch reflektieren. Ebenso wenig sind sie aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt, schließlich sind weit über die Hälfte der Befragten weder in einem Verein noch in einer anderen zivilgesellschaftlichen Institution organisiert und der überwiegende Teil derjenigen, die aktiv sind, suchen als Mitglieder in Sportvereinen eine individuelle Befriedigung. Zivilgesellschaftliches oder gar gesellschaftspolitisches Engagement kommt nur den wenigsten Befragten in den Sinn. Sie agieren eher als einzelne Individuen. Eben weil die jungen Menschen kaum in Vergemeinschaftungszusammenhängen aktiv sind, mangelt es ihnen an einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive. Ihnen fehlt ein gesellschaftspolitisches Ziel oder politisches Interesse, auf das sie mögliche politische Positionen oder Meinungen ausrichten können. Insofern ist das Verhältnis zur Politik eher durch Unberührtheit gekennzeichnet. Und diese Unberührtheit schlägt sich ebenso in ihren Vorstellungen darüber, was Politik sein kann, nieder. Politik begegnet ihnen dann erstens als Staat, also mit all jenen Ämtern, Organisationen und Institutionen, die zum Funktionieren des Gemeinwesens beitragen. Politik bedeutet den Befragten, zweitens, Gefühl. Politiker/-innen oder Parteien werden nicht danach beurteilt, für welche Themen oder Projekte sie stehen, sondern lediglich danach, ob man ihnen vertraut oder Glauben schenkt. Es ist eine Stimmungslage, die

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hier zum Ausdruck kommt, die sich möglicherweise auch rasch ändern kann, aber die ebenso wenig durch spezifische Neuregelungen oder Reformen oder gar Klientelpolitik beeinflusst werden kann. Und, drittens, bedeutet Politik für die jungen Menschen Entscheidung. Im Glauben, dass sich individuelle Interessen zu einem abstrakten Gemeinwohl kumulieren, welches für alle das Beste sei, gehen sie davon aus, dass lediglich die guten und »richtigen« Lösungen gefunden und umgesetzt werden müssen. Die Notwendigkeit von Verhandlungen, Kompromissen oder dem Austarieren verschiedener gruppenbezogener Interessenlagen spielt in diesem Deutungsrahmen keine Rolle. Das bedeutet auch, dass eine Polarisierung – die vor allem in der räumlichen Nähe zu Pegida erwartet worden war – nicht beobachtet werden konnte. Auch die Flüchtlingskrise polarisiert die befragten jungen Menschen kaum, lediglich dort, wo »der Fremde« und die Geflüchteten in den Alltag der Befragten eindringen, brechen gegensätzliche Wertfundamente auf. Während sich das Gros der Fokusgruppenteilnehmer/-innen eher durch eine Distanz zur Politik auszeichnet, konnte ein knappes Drittel der Befragten als genuin politisch interessiert identifiziert werden, das heißt, sie bezogen sich ständig auf politische Themen, wie beispielsweise die Familien- und Flüchtlingspolitik oder die Umwelt- sowie Außenpolitik und räumten Politik von sich aus einen hohen Stellenwert in ihrem Alltag ein. Auffällig war dabei das durchaus positiv geäußerte Verhältnis zur EU und die überwiegende Kritik an Donald Trump, das den europafeindlichen Haltungen und Bewunderungen des amerikanischen Präsidenten durch die Pegida-Anhänger/-innenschaft diametral entgegensteht. Gerade diese politisch Interessierten sind auch jene, die in Vereinen oder zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen assoziiert sind. Aber gerade sie zeichnen sich auch durch eine ausgesprochen harsche Kritik gegenüber der Politik aus. Sie sind diejenigen, die enttäuscht sind und das Agieren der Politiker/-innen, insbesondere in der Flüchtlingspolitik, hart verurteilen. Neben den genannten unpopulären Themen sind auch solche Orientierungs- und Deutungsmuster zutage getreten, die die jungen Menschen sichtlich bewegen  – und die durchaus politisch sind, auch wenn das von ihnen selbst nicht so rubriziert wird. Gerade im Hinblick auf die Wahrnehmung ökonomischer Themen und Verteilungsfragen erwiesen sich die jungen Menschen als »Ego-Shooter«. Damit ist ein grundlegender Wesenszug gemeint, der sich in einer selbstbezüglichen, leistungsorientierten Lebensführung und Wahrnehmungsschablone ausdrückt. Man konzentriert sich darauf, die unmittelbar anstehenden Herausforderungen zu bewältigen und ist ganz mit dem individuellen Fortkommen im Hier und Jetzt, mit dem opportunen Management des Alltags beschäftigt. Solidarische Organisationsformen und kollektive Ziele spielen demgegenüber eine marginale Rolle. Die auffällige Fixierung auf das klassische Mittelschichtsideal sowie die Berufung auf »Leistung« und »Bildung« als wesentlichem Denk-, Planungs-, Erwartungs- und

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Hoffnungshorizont präformiert auch Träume und Zukunftswünsche. Trotzdem kann, wie schon die Beschäftigung mit den Werthaltungen erwies, von robustem Aufstiegs-Optimismus keine Rede sein. Es handelt sich eher um Residualformen von Orientierung und Sinn, die auch eskapistischen Zwecken dienen: Sie ermöglichen es, am gesellschaftshistorisch brüchig gewordenen Optimismus auf ein attraktives Einkommen und eine erfüllende Tätigkeit, auf Eigenheim und Familie festzuhalten. Subkutan jedoch nagt der Zweifel: Man ist sich fundamental unsicher, was die Zukunft für die eigene Biografie bereithalten mag. Der Meritokratismus der Jugendlichen und jungen Menschen ist insofern ein internalisierter Sozialisationseffekt, eine nicht reflektierte Selbstverständlichkeit, eine bloße und daher unumgängliche Spiegelung der harten Realität – kein Deutungsangebot neben anderen, das sich reflektieren und diskutieren ließe. Besonders fatal  – und das ist der entscheidende Unterschied zur demografisch gesehen »alten« Mitte – ist der damit einhergehende Verlust politisch-sozialer Phantasie und utopistischen Überschusses. Stattdessen wird ein ökonomisches Prisma angelegt, das die Perspektive auf gesellschaftliche Probleme wesentlich präformiert beziehungsweise kanalisiert. Sicherheit vermittelt allein der Gedanke, dass im ärgsten Notfall ein starker Staat die Sicherungsnetze aufspannt. Darüber hinaus berührt sie Politik im haptischen Sinne kaum, staatliche Leistungen und Institutionen sind ein Supermarktregal, aus dem man sich das herausgreift, was man gerade braucht, um die nächste Runde im Ego-Shooter-Modus zu überstehen. Die Fremden- und Islamfeindlichkeit ist sowohl bei den Pegida-Redner/-innen und -Anhänger/-innen ein dominantes sowie bestimmendes Antriebsmoment, als auch bei den hier befragten jungen Menschen durchaus ein präsentes Deutungsmuster. Während zunächst in allen Gruppen vordergründig der Wert der multikulturellen Gesellschaft betont wurde, verblasst dieses Ideal in den selbstläufigen Diskussionen rasch. Die liberale Vorstellung und die positive Sicht auf Vielfalt und Zusammenhalt werden im Diskussionsverlauf mit den jungen Menschen schnell brüchig. Es werden abwertende Ungleichwertigkeitsaussagen freigelegt, die unabhängig vom Bildungshintergrund, Geschlecht, Alter, Berufsstand, Parteipräferenz oder der Herkunft von allen Befragten bedient werden. Dabei widersetzt sich kaum einer der jungen Menschen im Diskussionszusammenhang der Pauschalisierung und Abwertungen gegenüber »den Fremden«. Neben der ubiquitären Präsenz der abwertenden Ungleichwertigkeitsaussagen fielen sieben Befragte durch harte Ressentiments und Verunglimpfungen auf, die deutlich über das allgemein beobachtete Maß hinausgingen. Auffällig war, dass die vordergründig betonte Werthaltigkeit einer multikulturellen Gesellschaft in den in Sachsen durchgeführten Fokusgruppen deutlich schneller Risse bekam, dass unmittelbare Abwertungen und harte Stereotype hier im Diskussionsverlauf sich unmittelbarer Bahn brachen und auch völlig unwidersprochen hingenommen wurden.

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Eben weil die Befragten oberflächlich die vielfältige Gesellschaft loben, fehlt ihnen jeglicher Blick für die eigene Verantwortung für die abwertenden Ungleichwertigkeitsaussagen beziehungsweise fällt ihnen die Widersprüchlichkeit ihrer Aussagen nicht auf, lässt sich der eigene Rassismus deutlich leichter ignorieren. Die Fremdenfeinde sind in den Augen der Befragten daher auch immer die anderen. Es sind entweder die Pegida-Anhänger/-innen, die ältere Generation oder eben die Ostdeutschen. Diese Selbstexkulpation von fremdenfeindlichen Haltungen durch die Befragten führt auch dazu, dass sie ein Eintreten gegen Rassismus selten für relevant halten, da es ohnehin nicht Teil ihrer unmittelbaren Lebenswelt ist, sie Stereotype oder Vorurteile auch bei anderen nicht erkennen oder sie davon ausgehen, dass sich das Problem – durch Integration in die bundesrepublikanische Gesellschaft oder das Aussterben der Alten – von selbst erledigen wird. Die Bewertung »der Fremden« fand durch die Befragten im Kontext der Themen Sicherheit, Kultur und Ökonomie statt. Im Zusammenhang mit dem Sicherheitsaspekt wurden immer wieder Ängste über die individuelle körperliche Unversehrtheit, insbesondere der »deutschen Frau«, geäußert, sowie die Angst vor Terrorismus betont. Im Zusammenhang mit der Kultur spielten die Wahrnehmung der fremden Sprache im öffentlichen Raum sowie der Islam eine Rolle. Insgesamt betonten alle Befragten, auch solche mit Migrationshintergrund, vehement, dass zuvörderst eine Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft stattzufinden habe und eigene kulturelle Praktiken eher in die Privatsphäre gehörten. Das gezeichnete Bild vom Islam ist durch Eindimensionalität, Klischees und simplifizierendes Halbwissen geprägt. Die jungen Menschen setzen sich weder ausführlich mit den religiösen Formen noch den dazugehörigen Praktiken und Symbolen auseinander, sind jedoch mehrheitlich skeptisch, was deren Präsenz in der Öffentlichkeit angeht. Auch wenn die Befragten dem typischen Pegida-Vokabular in diesem Zusammenhang ablehnend gegenüberstehen und Begriffe wie Beispielsweise »Abendland« lediglich in der Zuschreibung zu den »Patriotischen Europäern« verwenden, sind sie doch in toto deren Deutungsmustern über »die Fremden«, also Asylbewerber/-innen, Flüchtlinge, Menschen mit Migrationshintergrund etc. sehr ähnlich. Dies trifft insbesondere auf die Bewertung des ökonomischen Aspekts zu. Hier spielen die Angst vor der Ausnutzung des Sozialstaates, die Bewertung der Geflüchteten über ihre Tauglichkeit auf dem Arbeitsmarkt und ihre Bildungsbereitschaft eine entscheidende Rolle. Auch die klare Vorstellung von legitimen und illegitimen Fluchtursachen, ausgedrückt in der Unterscheidung von Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen offenbart diese zentrale Perspektive der Ökonomisierung als eines entscheidenden Bewertungsmaßstabs. Insgesamt werden »die Fremden« von den Befragten jungen Menschen mehrheitlich als Gruppe wahrgenommen. Die Perspektive, die sie als Ego-Shooter für sich selbst in Anspruch nehmen, als Individuum zu gelten

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und sich nicht in Gesellschaftszusammenhänge einzupassen und dadurch einhegen zu lassen, gilt für Geflüchtete, Asylbewerber/-innen oder Menschen mit Migrationshintergrund nicht. Hier werden nur Gruppen oder Massen erkannt. Das präsente Wahrnehmungsmuster ist demzufolge die Perspektive der Entindividualisierung. Insofern sind Verweise auf die Tragik individueller Schicksale in den Gesprächen äußerst selten. Überdies spielen Humanität oder der Verweis auf Menschenwürde im Sprechen über die Flüchtlingskrise keine Rolle. Kaum jemand äußert Mitleid über individuelle Schicksale oder plädiert für die Aufnahme mit dem Argument der Menschlichkeit. Schließlich ist die Rede von der »Lügenpresse«, also der abwertende Blick auf die Medienlandschaft der Bundesrepublik, ein zentrales Thema von Pegida. Daher galt es auch, das Verhältnis der jungen Menschen zu Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehsendern zu eruieren. Auffällig ist hier, dass die Befragten zunächst ausführlich über Medien sprechen können, ohne in einen negativistischen Duktus zu verfallen. Sie loben durchaus das vielfältige Angebot und postulieren, dass man sich umfassend informieren und verschiedene Formate zur Kenntnis nehmen muss. Im weiteren Diskussionsverlauf wird jedoch deutlich, dass die Befragten eben diese Formate häufig nur über das Sekundärangebot in den sozialen Netzwerken konsumieren. Wenn sie beispielsweise behaupten, Zeitung zu lesen oder eine Sendung gesehen zu haben, meinen sie oftmals Überschriften und Teaser, die sie bei Facebook wahrgenommen haben oder kleinere Videosequenzen, die ihnen im Internet über den Weg gelaufen sind. Zu einer dezidierten Auseinandersetzung mit Reportagen, Kommentaren und Meinungen oder Berichten sind sie demgegenüber nicht in der Lage. Ebenso wenig sind sie jedoch in der Mehrzahl an »alternativen Fakten« beziehungsweise »alternativen Medien« interessiert. Während Pegida-Anhänger/-innen sich gar nicht mehr auf Informationen aus etablierten Medien verlassen, sondern ihre Informationen aus Politically Incorrect, Compact, Epoch Times oder der Jungen Freiheit beziehen, spielen diese Medien aus dem Umfeld der Neuen Rechten für die hier befragten jungen Menschen keine Rolle. Demzufolge sind auch rechte Verschwörungstheorien über eine »jüdische« oder »islamische« Weltherrschaft oder über die angebliche Hoffnung der Bundesregierung auf eine stabile demografische Entwicklung dank der »Massenmigration« kein Thema. Ein Fünftel der Befragten äußerte jedoch im Rahmen der Diskussion über Medien, Terrorismus, 9/11, Flüchtlinge, Weltpolitik oder Kapitalismus eindeutige Verschwörungskonstrukte. Als Verschwörungskonstrukte werden hier Annahmen über Verantwortliche, Betrug oder Manipulation begriffen, die in den Gruppen  – bis auf eine Ausnahme  – unwidersprochen hingenommen wurden, denen man in einem gewissen Rahmen durchaus Glauben schenkt, aber die im Vergleich zu »Verschwörungstheorien« einen eher unterentwickelten und kaum ausdefinierten Charakter haben. Die

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Verschwörungskonstrukte sind daher auch eher »gefühlte Wahrheiten« und ein weiteres Indiz für den Vertrauensverlust zwischen den Befragten auf der einen und den politischen Eliten auf der anderen Seite. Besondere Aufmerksamkeit verdiente die Frage nach Sorgen und Ängsten der jungen Menschen, ist große Verunsicherung doch ein Indikator schwindenden gesellschaftlichen Integrationsstoffs. Hier wurde deutlich, dass die Befragten hinsichtlich der persönlichen Zukunft einen oberflächlichen Optimismus pflegen, der bei näherem Hinsehen unterschwellige Zweifel verdeckt, während der Blick auf die gesellschaftliche Zukunft deutlich konsterniert und sorgengetragen ausfällt. Über alle Themen und Gruppenzusammensetzungen hinweg waren schwer zu lokalisierende Insekuritäts- und Angstempfindungen zu beobachten. Zwar hefteten sich diese stets an verschiedenste Themen, doch insgesamt existiert kein klar abgrenzbarer Gegenstand, kein distinktes, bestimmtes Problem, an dem die jungen Menschen laborieren. Zudem erwies sich der Rekurs auf »Ängste und Sorgen« als strukturell ambivalent. In jenen Passagen, die auf die taktische Überformung von Angstrhetorik schließen ließen, erwiesen sich die Positionierungen der Befragten zwar als partiell anschlussfähig an Pegida. Von einem politisch »agitierbaren« Publikum aber, das sich um bestimmte Themen formiert und eine geschlossene Weltsicht besitzt, kann nicht die Rede sein. Es sind womöglich insbesondere der Mangel an gesellschaftspolitischen Zielen als auch an verbindlichen Orientierungen, die das grundlegende Problem ausmachen. Es fehlt schlicht an Anlässen für Aufbruchsstimmung: Hier böten sich politische Kommunikationsofferten, Fahrpläne und Marschrichtungen an. Deutschland und Europa erscheinen seltsam passiv, als bloße Rezipienten des Geschehens, während die weltgeschichtlichen Entwicklungen über sie hinwegfegen. Im Verlauf des Forschungsprozesses stießen wir auf den lokalen Konflikt um die Einrichtung einer Asylunterkunft im Dresdener Stadtteil Klotzsche. Der Versuch, die dortige öffentliche Erregung mit Hilfe politisch lancierter Bürgerdialoge zu schlichten, demonstriert nach unserer Auffassung in nuce die Schwierigkeiten, fremdenfeindlicher Empörung mit einem Gesprächsmodus zu begegnen, dessen Form von öffentlicher Seite bestimmt wird, und der mithin das wechselseitige Unverständnis vertieft. Die Verständigungsschwierigkeiten scheinen selbst dann noch kaum überwindbar, wenn beide Konfliktparteien zu einem Dialogversuch bereit sind. Aber auch dann sind die Gefahren des Scheiterns hoch. Eine expertokratische, outputorientierte und auch deliberativ konzipierte Demokratie gerät hier schließlich an ihre Grenzen. Ihre Aushandlungs- und Verständigungskapazitäten drohen sich zu erschöpfen und zu versiegen  – und damit ein zentraler Quell von demokratischer Legitimation. Die Emergenz von Pegida und die fortschreitende Etablierung und Normalisierung der AfD, zwei Phänomene, die in einer gewissen Opposition zu den bewährten demokratischen Aushandlungsmodi stehen, lassen darauf

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schließen, dass die Überzeugungskraft der demokratischen Prozesse insgesamt weiter erodiert – so wie das Vertrauen in die Parteien beispielsweise auch.

7.2 F a zit : B edeutung für D emokr atie und  Z ivilgesellschaf t ? Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war die Frage, ob das vom Institut für Demokratieforschung seit Ende 2014 kontinuierlich beforschte Protestphänomen Pegida Spuren in der politischen Kultur jener Städte hinterlassen hat, in denen die Gegner/-innen der »Islamisierung des Abendlands« (-gida) demonstrieren beziehungsweise demonstriert haben, genauer: ob sich diese Spuren in den Orientierungsmustern und Wahrnehmungsschemata der nachwachsenden Generation niederschlagen. Ausgewählt wurden neben den sächsischen »Hauptstädten« des Pegida-Protests Dresden und Leipzig, vergleichend die westdeutschen Großstädte Nürnberg und Duisburg. Dort sprachen wir mit Jugendlichen und jungen Menschen in unterschiedlich rekrutierten Fokusgruppen. Damit verbunden war die Frage nach den Aussichten und Modi des künftigen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Denn was die jungen Menschen denken und empfinden, für wahr halten, anstreben und ablehnen, kurz: welchen Kompass sie für das eigene Denken und Handeln entwickeln, gibt Aufschluss über die Integrations- und Fliehkräfte der Gesellschaft. Würde sich die zivilgesellschaftliche und politische Polarisierung der letzten Jahre, als deren Indikator der Aufschwung von Pegida und AfD gehandelt wird, in den Reihen der Jugend fortsetzen, hätte das seismografische Bedeutung für künftige Konfliktpotenziale und Bruchlinien der bundesrepublikanischen Demokratie. Im Verlauf der Studie stellten wir fest, dass Pegida selbst im lebensweltlichen Erfahrungsraum von Jugendlichen und jungen Menschen keine Rolle spielt und in den Gruppengesprächen kaum Resonanz, weder positiver noch negativer Natur, hervorrief. Vielmehr distanzierte sich die Mehrheit der Jugendlichen  – auch jene, die dem Protestphänomen Inhaltliches abgewinnen können  – von den »Patriotischen Europäern«. Dies lag jedoch nicht an den Inhalten, sondern eher am Format. Protest wird von jungen Menschen einerseits nicht als Option des eigenen Handels begriffen und andererseits im öffentlichen Raum eher als Störung und Zumutung interpretiert. Während die Befragten zur Bewegung an sich also eher auf Distanz gingen, wurde zugleich deutlich, dass entscheidende Denkmuster und Vorstellungen, die von Pegida kolportiert werden, in latenter Form durchaus in den Fokusgruppen auftauchen, dann so gut wie nie angefochten werden, ja manche von ihnen sogar strukturieren. Nun lässt sich als erste Schlussfolgerung konstatieren, dass von einer fundamentalen Polarisierung der Jugend nicht die Rede sein kann. Dazu fehlt – zu-

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mindest momentan  – das Empörungspotenzial, das aus einem tiefempfundenen Ungenügen an der gesellschaftlichen Realität fließen müsste. Im Gegenteil: Der jugendliche Konventionalismus und Privatismus scheint weiter erhebliche Barrikaden gegen jede Form von Politisierung zu errichten. Ein Großteil der Befragten wird nicht berührt von aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Die zum Teil bedenklich offensiv auftretende Fremdenfeindlichkeit und das nahezu einhellige Urteil einer verfehlten Asylpolitik mögen zwar inhaltliche Schnittmengen zu rechtspopulistischen Formationen aufweisen, verdichten sich jedoch nur selten zu einer geschlossen rechtsextremen Weltsicht. Außerdem fehlt es schlicht an Sympathien und Nähe zu Protestakteuren wie Pegida: Gerade diese verfügen mit ihren Mythen, Ritualen, Codes und Choreografien zwar über eine beachtliche Organisations- und Mobilisierungskompetenz, sind aber über ihr umgrenztes Milieu hinaus für die Mehrheitsbevölkerung nicht anschlussfähig. Kurzum: Nichts deutet auf ein Anwachsen antidemokratischer Kräftereservoirs unter Jugendlichen und jungen Menschen hin. Jedoch finden sich auch wenige Anzeichen eines ausgeprägten Bürger/-innenbewusstseins. Während zwar die Mehrzahl der Befragten eine gewisse Wahlnorm internalisiert haben mag, sind darüber hinausgehende Selbstverpflichtungen und Praktiken als aktive Bürgerinnen und Bürger eines modernen demokratischen Gemeinwesens völlig unterentwickelt. Ob Parteien wie die AfD künftig in der Lage sein werden, die Migrationsskepsis in Wähler/-innenstimmen umzusetzen und somit die beobachtete Politikdistanz der Jugend abzubauen, erscheint insgesamt zumindest fraglich – aber auch nicht völlig ausgeschlossen. Dennoch sind, zweitens, auch Probleme zu benennen, die künftig von erheblichem Gewicht für das demokratische Gemeinwesen sein können. So ist es auffällig, wie verbreitet und hegemonial (da zumeist unangefochten) fremdenfeindliche Stereotypisierungen in den Gruppendiskussionen aufgetreten sind und gerade auch von jenen geäußert wurden, die sich zu den Prinzipien von Vielfalt, Weltoffenheit und Toleranz bekannten. Mehr noch: Ein solches Bekenntnis erwies sich im Gesprächsverlauf nicht selten als Ouvertüre heftiger Verurteilungen bestimmter Gruppen, zumeist Geflüchteter aus dem arabischen Raum. Infolge dieses doppelbödigen Resultates, das einer quantitativen Erhebung verborgen geblieben wäre, muss mit Nachdruck die Frage aufgeworfen werden, inwieweit kosmopolitische und demokratische Werte unter jungen Menschen, aber auch in der Gesamtbevölkerung tatsächlich als normativ bindend empfunden werden und vor allem: inwieweit sie auch handlungsleitend wirken können. Zweifelhaft bleibt, inwieweit Toleranzbekenntnisse tatsächlich als handlungspraktisch bindend aufgefasst werden. Unsere Ergebnisse deuten vielmehr darauf hin, dass die Jugendlichen und jungen Menschen mitunter Strategien entwickeln, ihre zum Teil tiefsitzende Vorurteile unter einem Schleier der Toleranzbekenntnisse zu verbergen. Es könnte daher eine potenziell antidemokratische »Gegenöffentlichkeit« existieren und unbemerkt wachsen, die

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nur in der verbalen Auseinandersetzung und infolge wechselseitiger Bestätigung mit anderen Personen überhaupt zutage tritt. Ohne Zweifel wäre das eine Gefahr für gelingende Integrationsbemühungen der kommenden Jahre und ein Indikator für künftige gesellschaftliche Polarisierungsdynamiken. Schwer einzuschätzen ist darüber hinaus die künftige Entwicklung von Angehörigen junger Altersgruppen, die sich nicht mehr recht zu einer Generation zusammenfassen lassen, die keinen distinkten Erfahrungsraum mehr teilen, die Gegenwart nicht mehr als geschichtliches Produkt und politisch (mit-)hervorgebrachten und somit auch nicht als praktisch veränderbaren Zustand wahrnehmen. Wie sich überdeutlich gezeigt hat, verbergen sich hinter dem Konventionalismus und Pragmatismus der Ego-Shooter fundamentale Zweifel. Bestehenden Sicherheiten stehen vielgestaltige Ängste gegenüber. Weder den politischen Eliten, deren Namen weithin unbekannt sind, noch den Nachrichtendienstleister/-innen dieser Republik schenken sie ihr Vertrauen. Die von uns befragten Jugendlichen und jungen Menschen führen ein von der Sphäre der Politik weithin abgetrenntes Leben. Die gesellschaftliche Gegenwart erscheint ihnen nicht als politisch (mit-)gestaltete, potenziell – auch durch eigene Praxis – veränderliche Größe. Politisches, vor allem themenbezogenes Interesse existiert zweifellos, doch die traditionelle Parteipolitik macht sie ratlos; sie erklärt sich in ihren Augen nicht. Das gesellschaftliche große Ganze lässt sie faktisch unberührt zurück und sie machen keine Anstalten, diese Berührungspunkte aufzubauen. Politik erscheint ihnen wie ein undurchdringliches Spiel nationaler und internationaler Machtzirkel. Das schafft immer auch Raum für Räsonnements und Spekulationen. Große Probleme und Hürden erleben sie persönlich nicht, aber eben auch keinen Zukunftsoptimismus, geschweige denn Auf bruchsstimmung. Sie nehmen größere politische Entwicklungen wie Mentalitätsveränderungen in der Bevölkerung, Protestereignisse, Parlamentswahlen im In- und Ausland, Migrationsströme oder das Schicksal internationaler Bündnisse zwar durchaus interessiert wahr, scheinen ihnen aber nur selten direkte Konsequenzen auf die wie in einem Vakuum schwebende persönliche Zukunft zuzugestehen. Verblüffenderweise wird jedoch auch diese Sphärentrennung bei näherem Hinsehen nicht durchgehalten; subkutan dominiert, allen kernigen Selbstdarstellungen zum Trotz, fundamentale Verunsicherung. Es fehlt an Zielen und Fluchtpunkten für die künftige Entwicklung der bundesrepublikanischen Demokratie, die kognitive oder normative Orientierungen zuließen. Anlässe für Selbstorganisation und Engagement existieren daher auch nicht, Kollektivität insgesamt ist unattraktiv und wird eher als Ballast mit geringem biografischem Nutzen behandelt. Das verbindliche Engagement in festen Organisationen wie Vereinen und Parteien ist – wie auch die einschlägige Forschungsliteratur bestätigt – nur für eine Minderheit attraktiv, die von Kindesbeinen an, etwa in Form von Partei- oder Kirchenorganisationen, in sie »hineinsozialisiert« worden ist. Die zivilgesellschaftlichen

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Strukturen der Republik – Vereine, Verbände und Assoziationen – können also nicht mehr auf ihren Kadernachwuchs zählen. Überspitzt könnte man sagen: Der internalisierte Meritokratismus, die Vorstellung, qua persönlicher Anstrengung, Bescheidenheit und pflichtbeflissen wenigstens die Chancen im eigenen Lebenslauf zu optimieren, ist die letzte Überzeugung, die noch ohne existenzielles Fragezeichen verfochten wird. Da jedoch letztlich auch sie brüchig ist – waren in den letzten Jahren doch Zweifel an der Gültigkeit des Leistungsprinzips in der Elterngeneration der »Mitte« deutlich spürbar1 –, ist es nicht ausgeschlossen, dass auch diese letzte Orientierung in den nächsten Jahren zerrinnt. Was dann folgen könnte und welche Auswirkungen dieses Szenario auf kommende Generationen haben mag, ist im hier gesteckten Rahmen freilich nicht zu beantworten. Es ist jedoch dringend angeraten, diese Entwicklungen im Blick zu behalten. Drittens ist im Anschluss an diese Ergebnisse und an die aufgeworfenen Fragen dringender Forschungsbedarf aufzuzeigen. Denn die Frage, ob der deutschen »Mitte« der Gesellschaft eine fortgesetzte kulturelle beziehungsweise identitätspolitische Tribalisierung droht, das heißt ein zunehmender Deutungsanspruch von rechts auftritt, kann vor dem Hintergrund der vorliegenden Studie nicht letztgültig beantwortet werden. Ein Problem ist etwa, dass im Rahmen einer politischen Öffentlichkeit und eines staatlich-institutionellen Gefüges, in dem das explizite Bekenntnis zu fremdenfeindlichen Einstellungen moralisch sanktioniert wird, rhetorische Umwege wie die suggestive Berufung auf eigene »Ängste und Sorgen« als Sprachregelung für Vorurteile herhalten müssen. Auch in unseren Fokusgruppen fiel es daher schwer, die verbreitete Kontingenzangst, die Besorgnis über die eigene sowie die gesellschaftliche Zukunft von der teils diskurstaktisch anmutenden Angstrhetorik klar zu trennen. In dem hier untersuchten Fallbeispiel Klotzsche hat sich gezeigt, wie ein Konflikt zwischen Gegnerinnen und Gegnern auf der einen und Befürworterinnen und Befürwortern einer Asylbewerberunterkunft auf der anderen Seite gerade dann in einer konfliktiven Verhärtung mündet, wenn rhetorische Rücksichten von vornherein nicht geübt werden: Je expliziter und unverblümter der Unmut auftritt, desto verständnisloser fällt mitunter die politische Reaktion aus; die Dialogangebote werden zwar ausgebaut, Vorstellungswelt und Sprache der Empörten jedoch verfehlt. Indes erstreckt sich dieses Problem auch auf den Gegenpol der Migrationsbefürworterinnen und -befürworter: Die Resultate der von uns durchgeführten Gruppendiskussionen machen deutlich, dass selbst die vermeintlichen Säulen der offenen Gesellschaft – jene Personen und Gruppen, die Migration verbal befürworten und sich zu Toleranz und Vielfalt bekennen  – angesichts als verbindlich empfundener Diskursregeln 1 | Vgl. Stine Marg, Mitte in Deutschland, S. 175-182.

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ebenso stereotype Denkschablonen und massive, jedoch versteckte Vorbehalte pflegen können. Politische Auseinandersetzungen werden, so die naheliegende Vermutung, offenbar zunehmend über Sprachregelungen, Labelling, Kodifizierungs-, und Deutungshoheits-Kämpfe geführt. Worin der inhaltliche Streitpunkt einer Sache liegt, ist dann meist schwer zu entschlüsseln  – was demokratische Auseinandersetzungen deutlich erschwert. Es erscheint daher dringend notwendig, das Verhältnis von »offizieller« Rhetorik beziehungsweise Ideologie zum tatsächlichen Denken und Handeln gesellschaftlicher Gruppen empirisch breit zu untersuchen: Was sind die tatsächlich handlungsleitenden Orientierungen und Paradigmen? Was zeichnet diese aus? Wie gewinnen sie ihre normative Kraft? Was geben die Menschen als Selbstverständnis an, inwiefern inszenieren sie politische Positionen taktisch  – und wie handeln sie tatsächlich? Diese Fragen zu klären ist entscheidend, um die Verankerung demokratischer und antidemokratischer Überzeugungen in ihrem Verhältnis zueinander bestimmen und gegenwärtige wie künftige Entwicklungen einordnen zu können. Sie zu verfolgen, könnte auch zu einer methodologischen Innovation führen, die neben der am Institut für Demokratieforschung erprobten Erforschung von Deutungs- und Orientierungsmustern auch die Erforschung des tatsächlichen Alltagshandelns der Bürgerinnen und Bürger als Aspekt der politischen Kultur wissenschaftlich zugänglich macht.

7.3 P r ak tische A nknüpfungspunk te und  H andlungsempfehlungen Den Jugendlichen und jungen Menschen in Deutschland scheint ein gesellschaftliches Projekt, ein Fluchtpunkt oder Fahrplan für die Zukunft der Bundesrepublik zu fehlen, ein Ziel, vor dem sich die parlamentarische Arbeit ausweist und rechtfertigt. Die Politik wird derzeit mehr »verwaltend« als »gestaltend« wahrgenommen. Anhand der Flüchtlings- und Integrationsdebatte wird das deutlich: Die viel beklagte Planlosigkeit des deutschen Staates seit 2015 mag so Ausdruck einer grundlegenderen Empfindung bundesrepublikanischer Ziellosigkeit und mangelnder politischer Führung sein. Deutschland und Europa erscheinen in den Gesprächssequenzen generell als seltsam passiv, als bloße Rezipienten des Geschehens, während die weltgeschichtlichen Entwicklungen über sie hinwegfegen. Hier bedarf es nicht nur politischer Kommunikationsofferten, sondern vor allem auch einer engagierten Formulierung gesellschaftlicher Aufgaben und Zukunftsvisionen, deren Nutzen, aber auch Kosten in einer allgemein verständlichen Form offengelegt werden. Zudem erscheint es notwendig, die Leitwerte einer demokratischen Debattenkultur nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern stärker selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung zu machen, ohne sie dabei aufzugeben.

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Das Nachspiel des lokalen Konflikts in Klotzsche hat eindrücklich gezeigt, dass Konfrontationen nicht als Gefährdung eines wesenhaft deliberativen, dialogorientierten Verfahrens gewertet und verurteilt werden dürfen, sondern zu den strukturellen Besonderheiten der Demokratie gehören. Denn diese ist nicht unbedingt primär ein Forum für Empathie und Verständnis, sondern immer auch die Arena eines Interessenkampfes um politische Herrschaft, in der verschiedene politische Deutungskulturen (Karl Rohe) miteinander ringen. Demokratische Prozesse dienen der Aushandlung von gruppenbezogenen Interessen, dazu gehören aber auch konfrontative und unharmonische, ja aggressive Auseinandersetzungen, die nicht paternalistisch »mediatisiert« werden können. Gerade einer orientierungsbedürftigen Jugend sollte daher stärker vermittelt werden, dass demokratische Diskussionskultur nicht zwangsläufig voraussetzt, die komplizierten Regularien einer idealen Debattenführung zu beherrschen – die im Falle eines »echten Konflikts« offenbar auch alle anderen Altersgruppen strukturell überfordert – sondern dass es vor allem darum geht, die eigenen Interessen, Hoffnungen, Wünsche und Ängste offen zu artikulieren. Wenn diese nämlich wahrnehmbar gemacht werden, könnten auch junge Menschen die Erfahrung machen, dass Parteien sowie Politikerinnen und Politiker gemäß ihrer Funktion die Bündelung dieser Äußerungen und Präferenzen im Rahmen politischer Interessenrepräsentation wahrnehmen. So mag sich das Vertrauen in die intermediären Instanzen einer parlamentarischen Demokratie schrittweise regenerieren. Insofern ist es auch ratsam, das sich abzeichnende Dilemma identitätspolitischer Überformung der politischen Auseinandersetzung zu adressieren. Dieser Modus der politischen Auseinandersetzung hat sich, auch als Folge einer Auflösung von alten kollektiven Vergesellschaftungsstrukturen, zwar als sehr nützlich erwiesen, droht sich jedoch nunmehr in einer toxischen Weise gegen das offene demokratische Gemeinwesen zu wenden, das hervor- und weiterzubringen es maßgeblich mitgeholfen hat. Dies kann und soll nicht bedeuten, jede Meinung oder Haltung im Gewand von singulärer oder subjektiver Betroffenheit bedenkenlos anzuerkennen. Noch soll jede Referenz auf das eigene Empfinden von vornherein abgeblockt werden. Die Schwierigkeit der demokratischen Auseinandersetzung liegt darin, in der gegenteiligen, auch unbequemen Meinung nicht sofort den Grund für den Abbruch der Verständigung zu suchen und die Flucht in die Selbstbestätigung anzutreten. Vielmehr ist es notwendig, den mitunter schmerzhaften Prozess auf sich zu nehmen, die gemeinsame Basis für eine Auseinandersetzung jenseits der Meinungsverschiedenheit zu suchen. Notwendig wäre daher eine offene Debatte darüber, ob und inwieweit miteinander in Konflikt stehende Auffassungen des Gemeinwohls wieder in eine Arena der politischen Auseinandersetzung überführt werden können, die auch in der gemeinsamen Basis gegenseitiger Anerkennung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten fundiert sind.

Anhang A) A bschliessend : E in B eispiel Dieses Phänomen lässt sich anhand einer Diskussion mit einer der Realgruppen zeigen. Wesentlich ist an dieser Stelle, dass die Argumentation sehr eng an Dresden und das Leben in Dresden und mit dem Thema verbunden ist. Fernab von einer Thematisierung Pegidas, auf die Frage nach Veränderungen in der Heimat, äußerte sich ein Teilnehmer der Realgruppe Dresden wiefolgt: 1: »Ich glaube, dass die Stimmung, also, zumindest für die mittlerweile knapp elf Jahre die ich hier bin, hat sich die Stimmung unter den Menschen eigentlich nicht großartig geändert, muss ich sagen. Es ist eigentlich so wie immer. Es gibt immer ein paar Leute, die unzufrieden sind, die das dann auch irgendwo öffentlich darlegen. Aktuell vielleicht ein bisschen mehr als früher, vor noch elf Jahren, aber da gab es auch eine Zeit vor dreißig Jahren, da war das gang und gäbe und dementsprechend muss man den Leuten natürlich auch irgendwo ihren Freiraum lassen, wenn sie das gerne machen möchten. Aber ansonsten die Grundstimmung in der Stadt, es gibt immer was zu meckern, natürlich, nie ist immer überall alles super, aber trotzdem sind die Leute schon recht zufrieden mit ihrer Stadt. Was das für jeden persönlich privat usw. angeht, das kann immer anders sein, das ist klar.«

Hier stellt sich durchaus die Frage an den Text, wen oder was der Teilnehmer meint, wenn er davon spricht, dass »Leute meckern« und dass man diesen »Freiraum lassen« müsse. Eine besondere politische Konnotation ist hier noch nicht erkennbar. Was an dieser Stelle auffällt, sind eine gewisse Teilnahmslosigkeit und ein Desinteresse gegenüber einem derartigen Meckern. Bemerkenswert ist, dass sich im Verlauf des Gesprächs Verschiebungen in der Konnotation und Aufladung von Begriffen ergeben: So ändert sich die Zuschreibung und Konzeption des Begriffes Heimat, von dem kleinen Dorf, aus dem man stammt hin zum Verständnis von Heimat als Nationalstaat. Dieser Wechsel wird von allen Teilnehmer/-innen unwidersprochen hingenommen und verläuft fließend. Darüber wird dann schließlich, während über die

380

P egida -Effekte?

Unzufriedenheit mit der Politik gesprochen wird, das Thema Pegida angesteuert und in der Diskussion etabliert: 2: »Richtung Politik nicht, nein. Weil es gibt immer, gerade bei solchen Sachen, ich habe meine Meinung, gibt es genau jemanden, der da eine andere Meinung hat, von daher. Joa, das ist halt mein subjektiver Eindruck, dass, so wie die das gerade machen, dass ich das nicht so positiv finde. So ist es halt.« MODERATION: »Ja, ist ja klar. Unterschiedliche Meinungen, haben wir vorhin ja auch gesagt, dass das gar kein Problem ist. Haben die anderen auch so ein komisches Gefühl im Bauch, wenn es um die Politik geht, in Deutschland gerade?« 3: »Komisches Gefühl nicht, aber man fühlt sich irgendwo akzeptiert ab[unverständlich], aber wo es bestimmt nicht gut gemeint ist, wie zurzeit gerade die Dresdner oder die Sachsen, wo darauf rumgegängelt[??] wird, dass wir ja die bösen Rechtsradikalen alle sind.« MODERATION: »O.K.« 3: »Ja, das ist überhaupt nicht so. Und es wird alles verallgemeinert zurzeit in Deutschland und das ist halt schade.« MODERATION: »O.K.« 3: »Und es wird halt auch niemals die eigene Meinung angehört. Auch gerade die, die zu P egida mitgehen, da sind auch viele von hier oben dabei…« MODERATION: »Ja?« 3: »…Das sind alles hochstudierte Leute.« MODERATION: »O.K.« 3: »Mediziner, TU-Professoren gehen dort mit… und die werden halt als dumm hingestellt. Dabei ist das halt nun mal die einzige Bewegung, wo man mal seine kontroverse Stimme erheben kann.«

Die Sequenz endet schließlich damit, dass Pegida als die einzige Möglichkeit angesehen wird, über die es möglich sei, Widerspruch zu formulieren. Von den Sinnbezügen Heimat und Deutschland über »Was gefällt einem nicht in Deutschland?« geht es nahtlos zu Pegida als einzige Instanz, bei der »wo man mal seine kontroverse Stimme erheben kann«. An dieser Stelle ergibt sich nun-

Anhang

mehr auch der Anschluss an die obige Sequenz von 1, der davon geredet hat, dass man Möglichkeiten lassen müsse, sich aufzuregen, und der jetzt an diese Sequenz direkt anschließt: 1: »Weil das in den Medien natürlich auch immer so dargestellt wird. Also, da steht natürlich irgendwo eine Kamera und da laufen dann, was weiß ich wie viele hundert oder tausende Leute, laufen dort durch das Bild. Jeder dritte gibt seinen Kommentar ab und da sagen eben vier von fünf Leuten irgendeinen intelligenten Satz und die BILD-Zeitung postet natürlich das Video von dem, der wirklich den dämlichsten Satz von allen rausholt. Wahrscheinlich jemand, dem es vielleicht, aus irgendwelchen Gründen, nicht so gut geht, sozialschwach, der vielleicht noch ein bisschen mehr Grund hat, auf irgendeiner Art und Weise ein bisschen hier loszumeckern. Und dann kommt da manchmal nicht das Sinnvollste bei raus aus dem Mund. Das ist einfach so. Und das wird dann natürlich publiziert. Und dann entstehen natürlich diese Bilder. Das ist etwas, was mich sehr ärgert in Deutschland. Die Medien sind in erster Linie nicht mehr darauf aus, Nachrichten ordentlich zu verbreiten, sondern es gibt nur noch einen Sensationsjournalismus […]«

Die hier formulierte Medienkritik ist explizit und läuft darauf hinaus, dass die mediale Berichterstattung auf die problematischen und streitbaren Äußerungen vereinzelter Demonstrationsteilnehmender basiere und dadurch die Demonstranten in Gänze diskreditiere. Dadurch erfährt das Protestbündnis zunächst eine erste Banalisierung. Darüber hinaus führt diese Medienkritik zu einer ersten Andeutung von Schuldumkehr, indem die Medien als alleinverantwortlich für die Bilder und Äußerungen Pegidas in der Öffentlichkeit dargestellt werden, während die Rolle der Demonstrant/-innen bei Pegida hierbei fast in Gänze von den Inhalten abgekoppelt wird. Die Reden, die bei Pegida gehalten werden (und die Vita der Leute, die sie halten), finden an dieser Stelle ebenso wenig eine Erwähnung, wie der Jubel und die Zustimmung, mit der diese Reden überwiegend aus dem Publikum bedacht werden. Mehr noch: Im Verlauf der Diskussion wird diese Absolution der Pegida-Demonstrant/-innen, die sich zunächst gegen die Instrumentalisierung durch die mediale Berichterstattung richtete, schließlich auch benutzt, um sie als Distanzierung gegen das Organisationsteam zu wenden: 1: »Ich habe mir von dem Bachmann mal einige offene Briefe, die der so in unglaublicher Vielzahl schreibt, mal durchgelesen. Und, ja, das ist schon irgendwo Hirnwäsche, was der so betreibt. Also das ist Propaganda vom Feinsten und das hatten wir vor vielen Jahren schon mal. Das Hauptthema, was der Name ›P egida‹ ja eigentlich ausdrücken soll, das kommt für mich, in den ganzen Sachen, die der Bachmann dann am Ende von sich gibt, nicht mehr so rüber. MODERATION: Was ist das Hauptthema von P egida , Ihrer Meinung nach?

381

382

P egida -Effekte? 1: Ich kriege es gar nicht zusammen, was das ausgesprochen heißt. Auf jeden Fall geht’s so… Für mich macht das Ganze Sinn, wenn es heißt: ›Menschen, die hier herkommen, können sich auch ein bisschen anpassen‹. Das war ursprünglich der Tenor. Mittlerweile ist es ja aber doch schon so, dass es absolut ins Fremdenfeindliche reingeht und das ist natürlich dann nicht in Ordnung. Warum ich sage, dass sich die Leute, die hier herkommen, gerne anpassen: Also, ich bin in einem internationalen Unternehmen. Wir arbeiten mit vielen Ausländern zusammen. Wir haben auch Flüchtlinge jetzt aufgenommen. Das sind alles super Menschen. Jeder, der sich hier integriert, ist natürlich herzlich willkommen. Das ist überhaupt kein Problem. Man muss aber auch mal überlegen: Wenn wir jetzt in die Türkei gingen und sagen, ›Wir wollen gerne z.B. unser Christentum da ausleben‹, da kann man auch mal erleben, was da los ist. Deswegen sage ich, so ein bisschen Integration mehr sollte schon sein. Aber das, was P egida vom Stapel lässt, das geht ja weit über das hinaus. Das ist wirklich Fremdenhass. In meinen Augen.«

Diese sehr deutliche Absage an Pegida ist in dieser Eindeutigkeit einmalig in unseren Erhebungen. Diese Benennung von Pegida und der Methoden Pegidas als Propaganda schafft einen großen Distanzierungsraum. Auffällig ist jedoch, wie stark diese Ablehnung dabei auf die Personen der Organisator/-innen und Redner/-innen – im konkreten Fall Lutz Bachmann – bezogen wird. Entscheidend hierbei ist, dass das Publikum von dieser Ablehnung quasi ausgenommen ist. Hier findet einerseits eine sehr eindeutige Distanzierung von Pegida statt. Dem Protestbündnis wird Fremdenfeindlichkeit, Gehirnwäsche und Propaganda unterstellt. Jedoch, und das ist hier entscheidend, wird dieses Urteil hierbei lediglich auf das Bühnenteam Pegidas bezogen. Fremdenfeindlich ist Lutz Bachmann als Gesicht der Pegida-Organisator/-innen, Rednerinnen und Redner. Die Protestierenden und Zuhörenden werden an dieser Stelle nicht erwähnt. Als sie schließlich zur Sprache kommen, wird ihre Rolle als Publikum, das die Reden bejubelt, keineswegs hinterfragt, sondern vielmehr in Schutz genommen – und zwar vor Bachmann und seinen Reden: MODERATION: [an 3 gerichtet:] »Wenn Sie sagten, manche Ansichten kann man teilen, manche nicht: Haben Sie da Beispiele?« 3: »Zum Beispiel, wo man eben gefordert hatte, dass die Zuwanderung begrenzt wird erst mal. Joa, das hatte P egida als erstes mit gefordert gehabt. [unverständlich: Ich weiß nicht, ob es dann jemand aufgegriffen hat. [?]) Die Frau Merkel hat es ja bis jetzt noch nicht umgesetzt. Da ist sie eben groß zurückgerudert und sich mittlerweile freut, dass die Zahlen gesunken sind. Gut, solche Aussagen halt. Und was RGDD#1 eben sagte, es ist wirklich so, manchmal geht es wirklich in Fremdenhass über. Manche Aussage, die hat jetzt nichts mit der politischen Situation zu tun, die ist einfach bloß [jeder wie er will, ein Wunsch[?] [unverständlich]]«

Anhang 1: »Das ist aber das Problem auch, dass eben in dieser großer Masse, man muss es so sagen, dass da eben auch Dummköpfe dabei sind, die man immer in einer großen Masse haben wird, die sich eben von solchen Worten auch beeinflussen lassen und dann natürlich, in irgendeiner Art und Weise, Sachen von sich geben, die eben in die Richtung gehen. Das wird man aber auch beim Fußball erleben, das wird man bei großen Demonstrationen immer erleben. Da sind, wie RGDD#3 sagt, auch schlaue Leute dabei. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dort jeder immer alles mitruft und mitbrüllt.«

Die Menge der Demonstrant/-innen wird an dieser Stelle faktisch geteilt: Teile von ihnen, nämlich jene, die auf die Parolen Bachmanns reagieren und den Medien und ihrer verfälschenden Berichterstattung die gewünschten Parolen in die Mikrofone brüllten, werden hierbei fast wie Trittbrettfahrer konzipiert, damit die Schutzbehauptung für die Bürger/-innen, die lediglich ihre »kontroverse Stimme« erheben wollen, erhalten bleibt: 3: »Definitiv nicht. Aber das ist halt die einzige Bewegung, wo man eben auch gegen die Politik Stimmung machen kann«. 1: »Ja, das stimmt.« 3: »Die gehen halt lieber dort mit, die tun sich auch als rechtsradikal beschimpfen lassen, auch der Herr Doktor um die Ecke, ist es aber nicht«. MODERATION: »O.K.« 3: »Aber ihm ist es halt wichtig, dass er dort seine Meinung kundtun kann, dort irgendwo mit dabei sein kann.«

383

384

P egida -Effekte?

B) F r agebogen Sie sind … weiblich

männlich

Alter … 16 bis 18 Jahre 19 bis 21 Jahre 22 bis 25 Jahre 26 bis 30 Jahre 31 bis 35 Jahre Als wievieltes Kind wurden Sie geboren? als Einzelkind als Kind _____ von insgesamt ____ Kindern Bitte nennen Sie Ihren höchsten erreichten Bildungsabschluss: noch Schüler/-in Schule beendet ohne Abschluss Volks- bzw. Hauptschule, POS mit Abschluss 8. oder 9. Klasse Mittlere Reife, Realschulabschluss bzw. POS mit Abschluss 10. Klasse abgeschlossene Berufsausbildung Fachhochschulreife/Abitur noch Student/-in Universitätsabschluss/Fachhochschulabschluss Studienfach:_______________ Promotion/Habilitation Üben Sie daneben weitere Nebenjobs aus? Wenn ja, welche? Sie … sind Single leben in einer Partnerschaft sind verheiratet sind geschieden sind verwitwet leben getrennt von ihrem Partner

Anhang

Haben Sie Kinder? Nein Ja Wie viele und in welchem Alter? Mit wie vielen Menschen leben Sie zusammen? ich lebe allein mit 1 Person mit 2 Personen mit 3 Personen mit 4 Personen mit 5 Personen mehr als 5 Personen Sind Sie Mitglied einer Konfessionsgemeinschaft? nein

ja, und zwar:

Üben Sie eine berufliche Tätigkeit aus? nein

ja, und zwar:

In Vollzeit In Teilzeit Auf 450-€-Basis Wie viel Geld steht Ihnen im Monat durchschnittlich zur Verfügung? unter 300€ 300€ bis 500€ 500€ bis 750€ 750€ bis 1.000€ 1.000€ bis 1.500€ 1.500€ bis 2.000€ 2.000€ bis 2.500€ Über 2.500€ keine Angaben

385

386

P egida -Effekte?

Als Sie 15 Jahre alt waren, welche berufliche Tätigkeit übte Ihr VATER damals aus? Berufliche Tätigkeit: Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr) berufstätig. Als Sie 15 Jahre alt waren, welche berufliche Tätigkeit übte Ihre MUTTER damals aus? Berufliche Tätigkeit: Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr) berufstätig.

Sind Sie Mitglied in einem Verein/einer Organisation? nein

ja, und zwar:

Betriebsgemeinschaft Fanclub Freiwillige Feuerwehr Gesangsverein Heimatverein Jugendarbeit Kirchengemeinde/Kirchliche Organisation Kleingartenverein Schützenverein Sportverein Technisches Hilfswerk Tierzuchtverein andere, und zwar: keine Angaben Sind Sie Mitglied einer politischen Vereinigung? nein SPD CDU Bündnis 90/Die Grünen FDP AfD Die Linke

ja, und zwar:

Anhang

Piratenpartei NPD Gewerkschaft Parteijugend: __________________________ Bürgerinitiativen Nicht-Regierungsorganisationen (z.B. Greenpeace, Amnesty International o.Ä.) Antifa Hochschulgruppen andere, und zwar: keine Angaben Waren Sie Mitglied einer politischen Vereinigung, sind aber ausgetreten? Austrittszeitpunkt

politische Vereinigung

Was haben Sie bei der letzten Bundestagswahl gewählt? CDU/CSU SPD FDP Bündnis 90/Die Grünen Die Linke Piratenpartei AfD NPD Ich war nicht wählen. andere, und zwar: Welcher Partei geben Sie bei der nächsten Wahl Ihre Stimme? CDU/CSU SPD FDP Bündnis 90/Die Grünen Die Linke Piratenpartei AfD

387

388

P egida -Effekte?

NPD Ich werde nicht wählen gehen. andere, und zwar: Haben Sie Anmerkungen oder Vorschläge zum Gespräch beziehungsweise zum Fragebogen?

Anhang

C) W örterliste Häufigkeit der Worte aus dem Korpus der Befragten in den Fokusgruppen Erstellt mit MaxQDA (nur Worte ab einer Länge von drei Zeichen und einer Häufigkeit von mindestens fünfzig Mal im Korpus berücksichtigt). Wort

Häufigkeit

%

ich

9217

4,01

die

7309

3,18

und

7076

3,08

das

6943

3,02

ist

5197

2,26

auch

4898

2,13

nicht

3842

1,67

also

3620

1,58

man

3188

1,39

der

2848

1,24

dann

2742

1,19

aber

2532

1,10

halt

2336

1,02

jetzt

2327

1,01

dass

2263

0,99

was

2243

0,98

ein

1941

0,85

oder

1876

0,82

wenn

1674

0,73

weil

1583

0,69

mal

1561

0,68

mit

1552

0,68

habe

1518

0,66

wir

1510

0,66

sind

1503

0,65

haben

1416

0,62

sich

1404

0,61

389

390

P egida -Effekte? Wort

Häufigkeit

%

hat

1354

0,59

wie

1262

0,55

schon

1206

0,53

immer

1166

0,51

einfach

1145

0,50

den

1144

0,50

kann

1124

0,49

eine

1089

0,47

auf

1080

0,47

noch

1068

0,47

für

1052

0,46

mich

1050

0,46

war

1046

0,46

bin

1026

0,45

hier

1003

0,44

sie

967

0,42

mir

966

0,42

von

953

0,42

finde

906

0,39

nur

821

0,36

gibt

795

0,35

irgendwie

794

0,35

sagen

787

0,34

wirklich

738

0,32

wird

716

0,31

aus

707

0,31

dem

684

0,30

sehr

684

0,30

eigentlich

672

0,29

bei

655

0,29

muss

632

0,28

als

631

0,28

mehr

612

0,27

Anhang Wort

Häufigkeit

%

ganz

601

0,26

alles

595

0,26

zum

575

0,25

bisschen

574

0,25

meine

567

0,25

weiß

553

0,24

viel

548

0,24

glaube

543

0,24

deutschland

536

0,23

leute

531

0,23

machen

523

0,23

alle

512

0,22

einen

504

0,22

beispiel

488

0,21

vielleicht

479

0,21

gesagt

478

0,21

viele

477

0,21

gut

459

0,20

uns

459

0,20

wieder

441

0,19

denke

424

0,19

sein

422

0,18

nichts

412

0,18

unverständlich

410

0,18

eben

390

0,17

geht

390

0,17

genau

390

0,17

natürlich

388

0,17

gerade

387

0,17

gar

380

0,17

diese

380

0,17

werden

379

0,17

würde

378

0,17

391

392

P egida -Effekte? Wort

Häufigkeit

%

keine

376

0,16

nach

356

0,16

können

344

0,15

doch

339

0,15

dort

333

0,15

land

294

0,13

vor

286

0,13

menschen

276

0,12

deswegen

276

0,12

damit

275

0,12

leben

274

0,12

macht

270

0,12

kommt

269

0,12

andere

267

0,12

nee

266

0,12

sagt

262

0,11

waren

260

0,11

über

258

0,11

anderen

252

0,11

kommen

247

0,11

mein

245

0,11

familie

241

0,11

will

240

0,11

denen

235

0,10

irgendwo

234

0,10

jeden

234

0,10

gehen

234

0,10

einem

233

0,10

jeder

233

0,10

wichtig

232

0,10

zwei

228

0,10

sowas

225

0,10

meinung

224

0,10

Anhang Wort

Häufigkeit

%

flüchtlinge

223

0,10

klar

219

0,10

okay

219

0,10

gemacht

218

0,10

selber

211

0,09

wurde

211

0,09

wollen

206

0,09

sondern

206

0,09

sachen

206

0,09

sage

206

0,09

erst

205

0,09

dieses

205

0,09

wäre

203

0,09

thema

202

0,09

dazu

201

0,09

ihr

200

0,09

eher

196

0,09

meiner

195

0,09

einer

194

0,08

problem

194

0,08

sozusagen

193

0,08

sag

193

0,08

fall

190

0,08

sehe

189

0,08

durch

189

0,08

hatte

185

0,08

überhaupt

185

0,08

gerne

183

0,08

tun

181

0,08

jahre

181

0,08

heimat

180

0,08

soll

180

0,08

gehört

176

0,08

393

394

P egida -Effekte? Wort

Häufigkeit

%

richtig

173

0,08

warum

170

0,07

egal

169

0,07

kein

167

0,07

müssen

165

0,07

nie

162

0,07

sonst

161

0,07

geld

160

0,07

jahren

160

0,07

hast

160

0,07

irgendwas

159

0,07

ganzen

159

0,07

politik

158

0,07

sollte

157

0,07

passiert

157

0,07

dafür

156

0,07

medien

155

0,07

dresden

154

0,07

anders

151

0,07

deutsche

150

0,07

zeit

147

0,06

hab

146

0,06

kinder

145

0,06

mache

141

0,06

gegen

141

0,06

komme

141

0,06

bild

141

0,06

stolz

139

0,06

weiter

139

0,06

angst

137

0,06

ganze

137

0,06

arbeiten

137

0,06

schule

136

0,06

Anhang Wort

Häufigkeit

%

paar

135

0,06

möchte

135

0,06

denn

134

0,06

heißt

133

0,06

hätte

131

0,06

nein

130

0,06

einmal

129

0,06

sieht

128

0,06

deutschen

128

0,06

trotzdem

128

0,06

irgendwann

128

0,06

gesehen

128

0,06

religion

126

0,06

gab

125

0,05

meinem

125

0,05

keinen

125

0,05

schön

124

0,05

dieser

122

0,05

wer

121

0,05

frage

121

0,05

Pegida

120

0,05

ahnung

120

0,05

denken

120

0,05

stadt

120

0,05

selbst

120

0,05

zwar

120

0,05

seine

119

0,05

lacht

118

0,05

deutsch

118

0,05

gehe

117

0,05

leipzig

116

0,05

jemand

115

0,05

frau

115

0,05

395

396

P egida -Effekte? Wort

Häufigkeit

%

leuten

113

0,05

wählen

112

0,05

meinen

112

0,05

früher

111

0,05

vom

110

0,05

seit

110

0,05

persönlich

109

0,05

überall

108

0,05

echt

108

0,05

total

108

0,05

ihre

107

0,05

oft

107

0,05

islam

107

0,05

wollte

107

0,05

diesen

107

0,05

zur

106

0,05

weg

106

0,05

bis

106

0,05

krieg

106

0,05

etwas

105

0,05

sehen

105

0,05

besser

105

0,05

welt

104

0,05

jahr

103

0,05

darf

102

0,04

wahrscheinlich

101

0,04

dabei

99

0,04

unsere

99

0,04

ehrlich

98

0,04

drei

97

0,04

dir

97

0,04

genommen

97

0,04

quasi

96

0,04

Anhang Wort

Häufigkeit

%

gefühl

96

0,04

könnte

95

0,04

drauf

94

0,04

zusammen

94

0,04

schwierig

93

0,04

davon

93

0,04

mensch

93

0,04

gleich

93

0,04

straße

93

0,04

solche

92

0,04

steht

92

0,04

hatten

91

0,04

manchmal

90

0,04

kannst

90

0,04

wissen

90

0,04

ziemlich

89

0,04

nehmen

88

0,04

genauso

88

0,04

wegen

87

0,04

lassen

87

0,04

teilweise

87

0,04

direkt

86

0,04

bist

86

0,04

generell

86

0,04

anderes

86

0,04

unbedingt

85

0,04

gewesen

85

0,04

kenne

84

0,04

damals

84

0,04

zuhause

83

0,04

bekommen

83

0,04

weniger

82

0,04

welche

82

0,04

397

398

P egida -Effekte? Wort

Häufigkeit

%

arbeit

82

0,04

daher

81

0,04

beim

81

0,04

gelächter

81

0,04

keiner

81

0,04

her

81

0,04

unter

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heute

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0,04

ausländer

79

0,03

bloß

79

0,03

sollen

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0,03

dich

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0,03

stimmt

79

0,03

ach

78

0,03

freunde

78

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tag

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dadurch

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komplett

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kurz

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77

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ohne

76

0,03

interessiert

76

0,03

dinge

75

0,03

wohne

75

0,03

alt

75

0,03

meisten

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0,03

würden

75

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sache

75

0,03

raus

75

0,03

lange

74

0,03

glauben

74

0,03

geboren

74

0,03

rein

73

0,03

Anhang Wort

Häufigkeit

%

seite

72

0,03

länder

72

0,03

hin

72

0,03

frauen

72

0,03

polizei

72

0,03

stehen

72

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leider

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allen

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nochmal

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irgendwelche

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0,03

ländern

70

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super

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hört

70

0,03

drüber

70

0,03

bleiben

70

0,03

schlecht

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0,03

verstehe

69

0,03

recht

69

0,03

mittlerweile

68

0,03

fünf

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0,03

ins

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0,03

bildung

68

0,03

geben

67

0,03

eltern

66

0,03

volk

66

0,03

diesem

66

0,03

vorher

66

0,03

nürnberg

66

0,03

kam

65

0,03

flüchtling

65

0,03

kriegen

65

0,03

aufgewachsen

65

0,03

sprechen

65

0,03

399

400

P egida -Effekte? Wort

Häufigkeit

%

zumindest

65

0,03

momentan

64

0,03

verein

64

0,03

ging

64

0,03

lernen

64

0,03

richtung

63

0,03

große

63

0,03

großen

63

0,03

nem

63

0,03

flüchtlingen

62

0,03

spaß

61

0,03

manche

61

0,03

fällt

61

0,03

kultur

61

0,03

darüber

61

0,03

vater

61

0,03

wenig

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0,03

punkt

59

0,03

werde

59

0,03

reden

58

0,03

geworden

58

0,03

allgemeine

58

0,03

mann

57

0,03

letzten

57

0,03

braucht

57

0,03

sprache

57

0,03

gedacht

56

0,02

nummer

56

0,02

worden

56

0,02

stark

56

0,02

sicher

56

0,02

wurden

56

0,02

verstehen

56

0,02

Anhang Wort

Häufigkeit

%

erheiterung

56

0,02

dürfen

56

0,02

schlimm

56

0,02

allgemein

55

0,02

freunden

55

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tatsächlich

55

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geschichte

55

0,02

runde

55

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fußball

55

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gruppe

55

0,02

ähm

55

0,02

probleme

54

0,02

meistens

54

0,02

fand

54

0,02

allem

54

0,02

gewohnt

54

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konnte

54

0,02

gewählt

54

0,02

wort

54

0,02

gute

54

0,02

dagegen

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0,02

gehabt

53

0,02

mitbekommen

53

0,02

merkt

53

0,02

staat

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0,02

relativ

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0,02

darauf

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0,02

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drin

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hause

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grund

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0,02

401

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P egida -Effekte? Wort

Häufigkeit

%

daran

52

0,02

freund

51

0,02

teil

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0,02

ihn

51

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eigene

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gutes

51

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eigenen

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sitzen

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passieren

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wohnen

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musst

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ausbildung

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0,02

voll

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miteinander

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0,02

fast

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kleinen

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0,02

obwohl

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Anhang

D) A bbildungsverzeichnis Abb. 1: Altersspanne der Samples ausgewählter Jugendstudien | 27 Abb. 2a)-j): Fokusgruppenbilder mit Variationen für die West-Gruppen | 34 Abb. 3: Struktur des Untersuchungssamples mit Erhebungszeiträumen | 45 Abb. 4: Alter der Befragten | 46 Abb. 5: Höchster erreichter Bildungsabschluss der Befragten | 47 Abb. 6: Persönliches Nettoeinkommen der Befragten | 47 Abb. 7: Die vier Phasen von Pegida | 88 Abb. 8: Schema des Wertewandels | 109 Abb. 9: Wahlbeteiligung zur Bundestagswahl nach Altersgruppen in Prozent | 204 Abb. 10: Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2013 (»Was haben Sie bei der letzten Bundestagswahl gewählt?«) | 205 Abb. 11: Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2017 (»Welcher Partei geben Sie bei der nächsten Wahl ihre Stimme?«) | 206 Abb. 12: Zivilgesellschaftliches Engagement (»Sind Sie Mitglied in einem Verein/einer Organisation?«) | 218 Abb. 13: Politisches Engagement (»Sind Sie Mitglied in politischen Vereinigungen?«) | 221 Abb. 14: Aspekte der Bewertung »des Fremden« | 259 Abb. 15: Übersicht Klotzsche im Vergleich zur Stadt Dresden und ausgewählten Stadtteilen | 329 Abb. 16: Wahlergebnisse in Prozent im OA Dresden-Klotzsche | 331 Abb. 17: Ortsbeirat Klotzsche: Sitzverteilung | 331

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Großerzählungen des Extremen Neue Rechte, Populismus, Islamismus, War on Terror April 2018, 214 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4119-6 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4119-0 EPUB: ISBN 978-3-7328-4119-6

Winfried Brömmel, Helmut König, Manfred Sicking (Hg.)

Populismus und Extremismus in Europa Gesellschaftswissenschaftliche und sozialpsychologische Perspektiven 2017, 188 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3838-7 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3838-1 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3838-7

Werner Schiffauer, Anne Eilert, Marlene Rudloff (Hg.)

So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch 90 wegweisende Projekte mit Geflüchteten 2017, 344 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3829-5 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3829-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3829-5

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Politikwissenschaft Werner Schiffauer, Anne Eilert, Marlene Rudloff (Hg.)

So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch Bedingungen für die nachhaltige Projektarbeit mit Geflüchteten. Eine Bilanz Februar 2018, 318 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3830-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3830-5

Ines-Jacqueline Werkner

Gerechter Frieden Das fortwährende Dilemma militärischer Gewalt Januar 2018, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4074-8 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4074-2

Dominik Hammer, Marie-Christine Kajewski (Hg.)

Okulare Demokratie Der Bürger als Zuschauer 2017, 198 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4004-5 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4004-9

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