Doing Democracy in indigenen Gemeinschaften: Politischer Wandel in Zentralmexiko zwischen Transnationalität und Lokalität 9783839430705

Democratization in Central Mexico - this volume analyzes the subtle negotiation of political and social change in the co

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German Pages 348 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Mexiko – Land politischer Transformation, sozialen Wandels und transnationaler Verflechtung
2. Die Untersuchung eines sensiblen Themas in einem komplexen sozialen Feld
3. Die Comunidad–Ort des Wandels und sozialer Fixpunkt
4. Der Alltag der dörflichen Organisation
5. Lokalpolitik: Die Dorfgemeinschaft als politische Arena
6. Politische Interaktion an Interfaces zu höheren Ebenen
7. Jenseits von Dorfgemeinschaft und politischer Gemeinde
8. Doing Democracy im Valle del Mezquital: Die Herstellung demokratischer Handlungsmodi in zwei transnationalisierten indigenen Dorfgemeinschaften
Literaturverzeichnis
Glossar fremdsprachlicher Begriffe und Abkürzungen
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Doing Democracy in indigenen Gemeinschaften: Politischer Wandel in Zentralmexiko zwischen Transnationalität und Lokalität
 9783839430705

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Gilberto Rescher Doing Democracy in indigenen Gemeinschaften

Global Studies

in Liebe für Frida, Mateo und Lupe und Laurita und Hupsy

Gilberto Rescher (Dr. phil.) ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lateinamerika Zentrum der Universität Hamburg sowie Koordinator der Hamburger Lateinamerika-Studien. Zuvor hat er an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Bielefeld gelehrt. Längere empirische Forschungsaufenthalte absolvierte er bisher in Mexiko, Nicaragua, den USA und auf den Philippinen. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen (Lokal-)Politik, Entwicklung, Migration, Transnationalität/Translokalität, indigene/ethnische Gruppen, Gender und qualitative Methodologie.

Gilberto Rescher

Doing Democracy in indigenen Gemeinschaften Politischer Wandel in Zentralmexiko zwischen Transnationalität und Lokalität

Dissertation an der Universität Bielefeld im Jahr 2014.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Gilberto Rescher, Mexiko-Stadt, 2005 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3070-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3070-5 https://doi.org/10.14361/9783839430705 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 1. Mexiko – Land politischer Transformation, sozialen Wandels und transnationaler Verflechtung | 9

1.1 Ein endlich demokratisches Land? | 10 1.2 Zentrale Themenkomplexe | 15 1.3 Das Valle del Mezquital: Ein frühes Feld der Forschung und Entwicklungspolitik | 43 2. Die Untersuchung eines sensiblen Themas in einem komplexen sozialen Feld | 55

2.1 Methodologische Vorgehensweise | 56 2.2 Vorgehen und Position im Feld | 66 2.3 Analyse als zirkulärer Prozess | 73 3. Die Comunidad – Ort des Wandels und sozialer Fixpunkt | 77

3.1 Soziale und kulturelle Logiken der Gemeinschaft – Indigene Dorfgemeinschaft als mehrdimensionales gesellschaftliches Konstrukt | 78 3.2 Migration und Transnationalisierung der Dorfgemeinschaft | 96 3.3 Transnationalisierte Dorfgemeinschaften | 118 4. Der Alltag der dörflichen Organisation | 121

4.1 Heterogenität und Diskontinuität der Gemeinschaftslogik | 121 4.2 Inszenierung und Perfektionsansprüche der Dorfgemeinschaft | 138 4.3 Konflikte | 149 4.4 Positionierung „neuer“ Gruppen – Hierarchien und Macht innerhalb der Dörfer | 154 4.5 Líderes an den Interfaces von Dorfgemeinschaft und „Außenwelt“ | 160 5. Lokalpolitik: Die Dorfgemeinschaft als politische Arena | 171

5.1 Eine Wahlkampfveranstaltung in El Thonxi | 172 5.2 Politik im Valle del Mezquital | 186 5.3 Widerstreitende Politiklogiken und -modi | 198 5.4 Dorfgemeinschaft als Basis des politischen Systems | 216

6. Politische Interaktion an Interfaces zu höheren Ebenen | 221

6.1 Autonomie – ein grundlegendes Element am Interface von Dorfgemeinschaft und Staat | 221 6.2 Lokale Konzepte von Politik | 241 6.3 Entwicklung als bedeutende Arena politischer Interaktionen | 250 6.4 Nueva Alianza – Neuausrichtung der lokalen Líderes | 259 7. Jenseits von Dorfgemeinschaft und politischer Gemeinde | 263

7.1 Widersprüchliche Handlungslogiken | 263 7.2 Die Bedeutung neuer (partei-)politischer Akteure | 272 7.3 „Politische“ Geschlechterverhältnisse auf verschiedenen Ebenen – Frauen als Agentinnen des Wandels | 277 7.4 Die unmittelbare Ansprache bundesstaatlicher Instanzen | 280 7.5 Die (Nicht-)Organisation der MigrantInnen in Hidalgo | 284 8. Doing Democracy im Valle del Mezquital: Die Herstellung demokratischer Handlungsmodi in zwei transnationalisierten indigenen Dorfgemeinschaften | 301

8.1 Demokratisierungsprozesse in transnational vernetzten indigenen Dorfgemeinschaften | 302 8.2 Indigenität als Hintergrund politischen Wandels: Gemeinschaft, Bürgerschaft, Autonomie und die Abwesenheit von MigrantInnenorganisationen | 309 8.3 Demokratisierung oder „modernisierter transnationaler Klientelismus“? | 317 Literaturverzeichnis | 321 Glossar fremdsprachlicher Begriffe und Abkürzungen | 341

Im Text genannte InformantInnen | 345 Im Text genannte Beobachtungsprotokolle und Memos | 346

Danksagung

Diese Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne vielfältige Arten von Hilfe und Unterstützung und ich möchte allen Beteiligten dafür danken. Zuallererst danke ich meiner Familie Frida und Mateo und vor allem Maria Guadalupe Rivera Garay für fortwährende moralische, emotionale und zentrale wissenschaftliche Unterstützung und ebenso meinen Eltern Laurita Gomes Silva Rescher und Hupsy Rescher. Dann danke ich allen Personen, die mir im Feld bei der Datenerhebung zur Verfügung standen, insbesondere den Mitgliedern der Comunidades in denen ich geforscht habe, MigrantInnen an verschiedenen Orten in den USA, sowie den SchlüsselinformantInnen für ausgiebige Diskussionen, die ich aus Gründen der Anonymisierung hier nicht mit Namen nenne. Dazu kommen diverse Angehörige relevanter Institutionen, wie des CSH, der CDI und ein ehemaliger Büroleiter der FriedrichEbert-Stiftung. Für vielfältige Diskussionen die mir bei Einordnung und Kontextualisierung meines Materials halfen danke ich Mitgliedern der Familie Rivera Garay, insbesondere Alma Susana, Maricela, Dolores, Angel und Pedro. Für die intensive akademische Diskussion zunächst meines Forschungsvorhabens und dann meines empirischen Materials und der Forschungsergebnisse danke ich besonders Gudrun Lachenmann und Thomas Faist. Weiteren KollegInnen aus der Wissenschaft bin ich für Diskussionen und viele relevante Informationen und Ratschläge zu Dank verpflichtet. Dies sind in Mexiko insbesondere Veronika Kugel und Manfred Kaindl, die Angehörigen des Instituts für Demographie und Soziologie der Universidad Autónoma del Estado de Hidalgo, besonders Silvia Mendoza Mendoza, Lydia Raesfeld, Socrates Lopez Perez, Maria Felix Quesada, Tomas Serrano und Danú Fabre, die Organisatorinnen und TeilnehmerInnen des Coloquio Internacional Otopame, sowie Susana Vargas, Abddel Camargo, Delphine Prunier und Richard Ramsay. In bzw. aus den USA Peggy Levitt, Leah Sarat, Ella Schmitt und Lilian Chavez. In Deutschland danke ich besonders Eva Gerharz, Sandrine Gukelberger, Margit Fauser, Hye-Young Haubner, Barbara Schütz

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und Anna Spiegel, sowie Olaf Kaltmeier und Sebastian Thies und anderen Angehörigen des Centre for Interamerican Studies (CIAS) und der Arbeitsgruppe E Pluribus Unum am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZIF) in Bielefeld. Nicht zuletzt danke ich den Kolleginnen aus dem Arbeitsbereich Entwicklungssoziologie/Sozialanthropologie und später Transnationalisierung und Entwicklung an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld sowie den TeilnehmerInnen an den Kolloquien bei Gudrun Lachenmann und Thomas Faist. Der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk danke ich für die finanzielle Förderung meiner Promotion und der Forschungsaufenthalte in Mexiko. Schließlich danke ich Gabi van Sterkenburg für die Lektorierung und Ratschläge zum Manuskript, sowie Tina-Alena Schumann und Anna-Maria Nunenmann für die Unterstützung bei der Erstellung des endgültigen Manuskripts.

1. Mexiko – Land politischer Transformation, sozialen Wandels und transnationaler Verflechtung

Mexiko findet sich in den letzten Jahren häufig im Fokus des weltweiten Interesses, wofür Schlagworte wie Demokratisierung, Drogenkrieg, Migration, Menschenrechtsverletzungen und (indigene) Rebellionen stehen. Auch wenn vordergründig zwischen mehreren dieser unterschiedlichen Facetten der mexikanischen Realität keine Verbindung besteht, sind sie doch miteinander verwobene Elemente größerer gesellschaftlicher Prozesse. Die vorliegende Arbeit ist ein Beleg dafür, denn auch wenn es hier nicht explizit um den sog. Drogenkrieg, aufsehenerregende Menschenrechtsverletzungen oder gewaltsame Aufstände geht, zeigt sie durch die Analyse empirischer Fallstudien grundlegende soziale Prozesse und Phänomene, die auch für die stärker von der Öffentlichkeit wahrgenommenen Vorgänge relevant sind bzw. Erklärungsansätze liefern können. Dazu gehört die Auflösung scheinbarer Paradoxe wie die Herstellung demokratischer Perspektiven in als klientelistisch begriffenen politischen Zusammenhängen, die durch Dorfgemeinschaften praktizierte Autonomie in als regierungstreu angesehenen Regionen oder die hohe Mobilität der meist als isoliert und lokal gebunden angesehenen indigenen Bevölkerung, aber auch die Erklärung vorgeblich neuer Phänomene. Dies wird durch einen breiteren, auch historisch fundierten analytischen Blick ermöglicht, der u.a. erlaubt soziale Kategorisierungen zu hinterfragen und sie dabei von der Last vorurteilsbehafteter Sichtweisen zu befreien. So kann bspw. berücksichtigt werden, dass Mobilität und kulturelle Aneignungsprozesse offenbar seit Jahrhunderten eine wichtige Dimension der sozialen Praktiken indigener Gruppen sind. Und auch bestimmte Facetten des Drogenkrieges, die oft als neu und beispiellos gelten, können in einem anderen Licht gesehen werden. Dies trifft aktuell besonders auf die Entstehung von autonomer Dorfpolizei und Bürgerwehren zu, die viel Aufmerksamkeit erhalten, aber gleichzeitig als unangemessen problematisiert werden. Sie sind jedoch nicht so neu und unerklärlich, wie es scheint,

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denn die betroffenen Dörfer und Kleinstädte blicken auf eine lange Tradition (indigener) Selbstorganisation zurück, die durch die historische Erfahrung gestärkt wurde, dass vom Staat kaum etwas zu erwarten, sondern man auf sich selbst gestellt ist. So wird verständlich, welche Handlungslogiken den gegenwärtigen Aktivitäten der Bevölkerung zugrunde liegen, die darin den einzig möglichen, aber eben auch realisierbaren und erfolgversprechenden Weg sehen, mit einer alltäglichen Bedrohungssituation umzugehen, in der sie sonst keine Hilfe erfahren. Ähnliches gilt für politische und zivilgesellschaftliche Mobilisierung im Umfeld der Präsidentschaftswahlen des Jahres 2012 sowie im Vorfeld der Wahlen von 2018, die in der Regel unerwartet war, aber doch auf Prozesse zurückzuführen ist, die sich seit Langem subtil vollziehen, ohne angemessen wahrgenommen zu werden. Meine Arbeit befasst sich mit ganz ähnlichen Prozessen und Phänomenen, die gemäß entsprechenden Logiken ablaufen, und zeigt, wie ein anderer Blick auf politische und soziale Prozesse zu einem tieferen Verständnis der Vorgänge in unterschiedlichen Bereichen der mexikanischen Gesellschaft beitragen kann.

1.1 E IN ENDLICH DEMOKRATISCHES L AND ? Nach 71-jähriger Herrschaft der De-Facto-Staatspartei Partido Revolucionario Institucional (PRI)1 gewann im Jahr 2000 erstmals offiziell ein oppositioneller Kandidat, Vicente Fox Quezada, die Präsidentschaftswahlen. Zudem errang seine Partei PAN2 die Mehrheit der Parlamentsmandate. Der Amtsantritt der Regierung Fox wurde als Ereignis von historischer Tragweite und Krönung des Demokratisierungsprozesses in Mexiko dargestellt. Aus dieser Perspektive waren die Demokratisierungsbestrebungen weiter Bevölkerungsteile endlich zu einem glücklichen Ende geführt worden und der Machtwechsel im Mexiko des Jahres 2000 wurde als Punkt angesehen, an dem die Demokratisierung des Landes endgültig vollzogen war. Dieses Bild wurde von der neuen Regierung verbreitet, aber auch von der unterlegenen PRI getragen, die sich nach der verlorenen Wahl als politische Kraft inszenieren wollte, die durch

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Die PRI entstand 1929 in Folge der mexikanischen Revolution als Einheitspartei, welche die revolutionären Kräfte zusammenführen sollte. Daraus erklärt sich ihr Name „Partei der institutionellen Revolution“. Die Position der PRI kann bis zum Verlust der Wahlen im Jahr 2000 als die einer Staatspartei bezeichnet werden und sie war, wenn ihre Vorgängerparteien mitgezählt werden, die Partei, welche am längsten an der Macht blieb, länger als die KPdSU in der Sowjetunion. In vielen Bundesstaaten regiert sie weiter und gewann 2012 auch wieder die Präsidentschaftswahlen.

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Partido de la Acción Nacional – konservative Partei, die vom Jahr 2000 bis 2012 die Regierung auf nationaler Ebene stellte und zuvor die älteste Oppositionspartei war.

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freie und faire Wahlen den Machtwechsel ermöglicht hatte, und damit als eigentlichen Akteur der Demokratisierung. Diese Darstellung wurde auch durch nationale und internationale Medien vermittelt und von der mexikanischen wie der globalen Öffentlichkeit aufgenommen. Selbst Angehörige von Gruppen, die sich bspw. in Europa kritisch mit der Situation Mexikos auseinandersetzten, sahen den Regierungswechsel positiv und hofften auf eine Verbesserung insbesondere der politischen Situation. Es herrschte die Ansicht vor, dass Mexiko einen großen Schritt auf dem Weg zu demokratischen Verhältnissen vorangekommen sei. Zwar hatte nicht ihr Wunschkandidat gewonnen,3 trotzdem wurde angenommen, dass zumindest verkrustete Strukturen aufbrechen und vieles in Bewegung geraten würde. Durch die fortan bestehende Möglichkeit realer Regierungswechsel4 würden letzten Endes viele Missstände auf Druck der WählerInnen beseitigt werden. Es gab aber auch kritische Stimmen, die dazu rieten zunächst abzuwarten, welche Politik die neue Regierung umsetzen und welchen Politikstil sie pflegen würde. Eine große Befürchtung war, dass sich frühere Anhänger der PRI umorientieren und die PAN zuvor PRI-treue Klientelnetze in eigene Netzwerke integrieren würde. So hätte es lediglich einige Veränderungen auf nationaler Ebene gegeben, ansonsten wären aber Personen und Politik weitgehend gleichgeblieben. In dieser Konstellation traf also freudige Hoffnung, die in Mexiko anfangs Züge einer breiten Aufbruchsstimmung hatte, auf tiefe Skepsis und Zweifel, die sich aus Einschätzungen des politischen Systems Mexikos, dem Profil der neuen Regierungspartei und nicht zuletzt aus der Person des zukünftigen Präsidenten speisten. Der Machtwechsel an sich hatte verschiedene Gründe, die u.a. in der politischen Geschichte Mexikos liegen, auf die ich weiter unten genauer eingehe. Dazu gehören die verbreitete Kenntnis des (vermuteten) Wahlbetrugs im Jahr 1988, in dem die PRI vermutlich nicht gewonnen hatte (Boris/Sterr 2002, 28; Maihold 2000, 131; Braig 2008) und wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die u.a. durch verschiedene Krisen in den 1980er und 90er Jahren (Boris 1996) und die im Nachhinein bekannt gewordenen Betrügereien des Präsidenten Carlos Salinas de Gotari (1988– 1994) angeheizt worden war. Hinzu kamen Aktivitäten der Demokratiebewegung, die ausgehend vom Erdbeben 1985 in Mexiko-Stadt immer weiter erstarkt war und sich zu weiteren teils sehr alten Protestbewegungen gesellte, sowie die öffentliche Präsenz verschiedener sozialer Konflikte, die insbesondere durch den zapatistischen Aufstand 1994 versinnbildlicht wurden.5 Dies führte zur langsamen Herausbildung 3

Solidaritätsgruppen in Europa sympathisierten tendenziell eher mit den Kandidaten der linksliberalen PRD (s.u.).

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Zuvor hatten zwar die Präsidenten gewechselt, aber immer zur PRI gehört, die damit ihre

5

Siehe zum Aufstand der (Neo-)Zapatisten und seiner Bedeutung für Mexiko Muñoz

Macht behielt. Ramírez/Carlsen/Reyes Arias (2008), Kerkeling (2006) und Las Topitas (1994).

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und Stärkung einer breiten Zivilgesellschaft, die einen Machtwechsel anstrebte. Dazu kam die Öffnung des politischen Systems durch die PRI, die sowohl parteiintern als auch in der nationalen Politik gewisse Freiheiten und begrenzt demokratischere Verfahrensweisen zuließ. Dazu gehörte, dass einige wenige Bundesstaaten, insbesondere im Norden, durch die PAN regiert werden konnten6 und in Mexiko-Stadt als Distrito Federal 1997 erstmals freie Wahlen zum Bürgermeisteramt sowie zum Stadtparlament abgehalten wurden.7 Hier war die Demokratiebewegung besonders stark und die linksliberale PRD8 populär. Da diese „oppositionellen“ Regierungen trotz diverser Behinderungen9 erfolgreich waren, wurde der nationalen Öffentlichkeit verdeutlicht, dass nicht nur die PRI Regierungsverantwortung übernehmen konnte. In diese Situation fiel die, durch interessierte Unternehmerkreise unterstützte, Aufstellung von Vicente Fox Quezada als Kandidat der PAN. Dieser Politiker, der ursprünglich nicht zu den Favoriten der Partei gehörte, hob sich von typischen Vertretern der PAN ab, die meist konservativ, bieder und in gewissem Sinne kraft- und machtlos wirkten. Fox verkörperte dagegen einen neuen Politikertypus und schaffte es, sich von dem Bild zu lösen, das der PAN anhaftete. Diese wurde aufgrund ihrer Geschichte nämlich als Erfüllungsgehilfin der PRI und demokratisches Feigenblatt angesehen, nicht aber als wirkliche demokratische Alternative. Dazu kam, dass die PAN den meisten WählerInnen, insbesondere im „einfachen Volk“, aufgrund ihrer politischen Ausrichtung fremd war. Sie hatte wenig mit ihrem Leben und Anliegen zu tun und galt vielen als realitätsferne Partei der erfolgreichen konservativen (Groß)Unternehmer. Vicente Fox gelang es, ein diametral entgegengesetztes Bild von sich selbst zu generieren und in der öffentlichen Wahrnehmung zu verankern. Er stellte sich als lebens- und volksnah dar, als jemand, der ein offenes Ohr für die einfachen Menschen hatte, ihre Sorgen kannte und diese beseitigen wollte (Boris/Sterr 2002, 107f.). Gleichzeitig inszenierte er seinen Hintergrund als erfolgreicher Unternehmer und Manager und betonte, dass er nicht aus der politischen Klasse stamme. Dadurch umgab er sich mit einem Nimbus des Erfolgs und verhinderte, mit der als korrupt angesehenen Politik identifiziert zu werden. Dies legte die Grundlage für das zentrale Element seines Wahlkampfes. Fox präsentierte sich als jemand der anpacken konnte, dabei erfolgreich war und so auch die Wahlen sicher gewinnen würde. Dieses Bild 6

Maihold sieht darin das Ergebnis einer unausgesprochenen Allianz zwischen PRI und PAN

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Mexiko-Stadt hat seitdem einen Status, der weitgehend dem eines Bundesstaates ent-

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Partido de la Revolución Democratica (Partei der demokratischen Revolution) – sie ent-

als Reaktion auf den eigentlichen Wahlerfolg der PRD (2000, 131). spricht. stand Ende der 1980er Jahre aus einer Abspaltung der PRI, gilt als linksliberal und war lange die einzige reale größere Oppositionspartei. 9

So wurde die Regierung von Mexiko-Stadt plötzlich mit extrem überzogenen Stromschulden konfrontiert (vgl. Kap. 6.2 zu Entsprechungen auf lokaler Ebene).

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wurde durch eine umfassende Medienkampagne getragen und fortwährend den WählerInnen vermittelt (vgl. ibid., 102f.; Huffschmid 2001, 189; Maihold 2000, 131f.). Während Fox als Siegertyp auftrat, hing dem einzigen anderen ernst zu nehmenden Oppositionskandidaten, Cuauhtémoc Cárdenas, nach mehreren Kandidaturen der Ruf des ewigen Verlierers an. Zudem konnte er sich ebenso wenig wie der PRI-Kandidat Francisco Labastida mit Vicente Fox’ Fähigkeiten der medialen Vermittlung messen. Beide wirkten im Vergleich eher blass und kraftlos und wurden zudem durch Fox´ aggressive Kampagne privat angegriffen. Darüber hinaus präsentierte sich die PAN mit ihrer konservativen und wirtschaftsfreundlichen Ausrichtung als sichere Alternative, während der PRD vorgeworfen wurde, eine aufrührerische Partei zu sein, die nicht realisierbaren linken Ideologien anhinge. So gewann Fox durch den sog. Voto útil (nützliche Wahlstimme), da ihm am ehesten ein Sieg über die PRI zugetraut wurde (Boris/Sterr 2002, 93). Mexikanische Politik als Forschungsthema Aus den divergierenden Einschätzungen des Regierungswechsels, politischer Veränderungen und grundsätzlich der Lage der Demokratie in Mexiko erwuchs meine ursprüngliche Forschungsfrage, die ich ausarbeitete, als sich die Amtszeit von Vincente Fox bereits dem Ende zuneigte. Der Demokratisierungsdiskurs wurde von der Regierung weiter aufrechterhalten, auch wenn die Bewertung vieler BeobachterInnen mittlerweile skeptisch ausfiel, da nur wenig tatsächliche Veränderungen zu konstatieren waren (vgl. Boris/Sterr 2002, 243f.). Die Perspektive der Skeptiker wurde nun im Inund Ausland oft geteilt. Manchen ging der versprochene Wandel nicht schnell genug, andere sahen eine Kontinuität früherer Politik oder sogar Verschlechterungen im sozialen und ökonomischen Bereich. Dieser Widerspruch zwischen anfänglicher Euphorie und späterer Skepsis machte deutlich, dass es nötig war Ausmaß und Art des politischen Wandels, so es ihn denn gab, empirisch zu ergründen. Ich setzte mir daher zum Ziel, jenseits der Transformation nationaler politischer Institutionen sowie der Diskurse und Wahlergebnisse zu analysieren, ob es einen politischen Wandel in Mexiko gab und wie er von unterschiedlichen Akteuren mit eigenen Handlungslogiken und Strategien ausgehandelt wurde.10 Dazu plante ich, Fallstudien in Regionen durchzuführen, die kaum mit Veränderung oder demokratischer Politik assoziiert wurden. Ein Aspekt, der besonders auf die kommunale Ebene im ländlichen Raum zutraf, wo meist weiterhin die PRI regierte. Für diese Regionen wurde eine weitgehende politische Stagnation angenommen. Ich hielt es für offensichtlich, dass es an Orten wie Mexiko-Stadt Demokratisierungsprozesse gab, während entsprechende Untersuchungen in anderen Regionen weitgehend fehlten. Als exemplarisch für diesen Typ von Regionen wählte ich das Valle del Mezquital11 im Bundesstaat Hidalgo. 10 Siehe Kap. 2.1.1 zum Konzept der Aushandlung. 11 Valle del Mezquital bedeutet Tal des Mezquitenhains.

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Zunächst erwartete ich kaum Veränderungen und noch weniger als demokratisch zu bezeichnende politische Strukturen. Trotz meiner Skepsis wurde ich aber im Laufe der Forschung eines Besseren belehrt, als ich feststellte, dass sich unter einer scheinbar ruhigen Oberfläche sehr viele oft subtile Veränderungen und Neuaushandlungen verbargen, die tatsächlich einen bedeutenden Wandel der Politik darstellten. Dazu gehörten Elemente einer größeren politischen Teilhabe und insbesondere die Ablösung ausgeprägt klientelistischer Beziehungen und entsprechender Handlungslogiken. Ausgehend von einer „pessimistischen“ Annahme erfuhr ich im Feld eine „positive“ Überraschung, was durch meine mehrmonatigen Forschungsaufenthalte möglich wurde. Meine Perspektive wurde auf Grundlage der forschungsbegleitenden Analyse des erhobenen Materials breiter und verschiedene soziale Prozesse, die mit der politischen Transformation in Zusammenhang standen, gelangten in den Fokus. Dies mündete in der Frage, wie sozialer und politischer Wandel zueinander im Verhältnis stehen und sich gegenseitig befördern. Für die Datenerhebung und -analyse in diesem komplexen Feld war die Anwendung eines entwicklungssoziologischen Paradigmas und einer entsprechenden Forschungsperspektive entscheidend. Durch eine offene Annäherung, die breitere Akteurskonstellationen und den Hintergrund des untersuchten Felds einbezieht, können auch subtile Prozesse gesellschaftlichen Wandels erfasst werden, wobei die Analyse immer wieder auf die konkrete soziale Realität Bezug nimmt (vgl. Lachenmann 2010; 2009, 7).

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Abbildung 1: Politische Gliederung Mexikos

Quelle: Kooperation International

1.2 Z ENTRALE T HEMENKOMPLEXE Im Folgenden werde ich auf verschiedene Themenkomplexe eingehen, die für diese Arbeit besonders relevant sind. Diese kurzen Abrisse legen zum einen die theoretischen und kontextuellen Grundlagen für die Analyse in der weiteren Arbeit und zeigen zum anderen auf, zu welchen Debatten sie einen Beitrag leisten kann. Konkret werde ich auf Politik in Mexiko eingehen und dabei Indigenität, Migration und transräumliche Konfigurationen sowie Selbstorganisation, Gemeinschaft und Bürgerschaft besonders hervorheben. 1.2.1 Mexikanische Politik aus entwicklungssoziologischer Perspektive Als Einleitung in den Komplex mexikanischer Politik und (lokaler) Demokratisierungsprozesse werde ich zunächst die historische Entwicklung des politischen Systems in Mexiko darstellen, um dann auf die entwicklungssoziologische Perspektive

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auf Politik einzugehen. Beides ist grundlegend für die Analyse im Rahmen dieser Forschung. Entstehung und Wandel des politischen Systems Mexikos In Mexiko etablierte sich in Folge der Revolution von 1910 nach und nach ein politisches System, das zunächst auf den Ausgleich der Interessen der diversen beteiligten Gruppierungen und Strömungen ausgerichtet war. Dabei wurden zum einen Forderungen bestimmter Bewegungen aufgenommen, selbst wenn diese in internen Machtkämpfen besiegt worden waren. Ein Beispiel dafür sind von den Zapatisten getragene Forderungen, die als Agrarreform in die neue Verfassung eingingen. Dies sollte als Zugeständnis an betroffene Bevölkerungsgruppen die Macht der neuen Regierungen absichern. Zum anderen wurde sichergestellt, dass Revolutionsführer am Staat beteiligt wurden und damit ihren Anteil der erkämpften Macht erhielten. Die so gewonnenen Ämter und Ressourcen verteilten sie an Gefolgsleute, so dass auf Caudillos ausgerichtete Klientelbeziehungen ein zentrales Element mexikanischer Politik wurden.12 Diese Praktiken wurden durch die Gründung der Vorläuferparteien der PRI institutionalisiert. Sie boten nämlich den überlebenden Revolutionsführern eine gemeinsame Basis, um sowohl den Staat als auch die interne Verteilung der Pfründe zu kontrollieren.13 Daraus entstand, nach der Niederschlagung oppositioneller Bewegungen wie des von der katholischen Kirche motivierten Cristero-Aufstands (1926– 29 und 1932–38) (Meyer 1979; vgl. auch Boyer 2003, 154f.),14 schließlich ein politisches System, das zum einen darum bemüht war fortwährend interne Machtinteressen auszugleichen und zum anderen eine breite Verankerung in der Gesellschaft zu erreichen. Innerhalb der Machtelite geschah dies dadurch, dass niemand ein politisches Amt länger als eine Amtszeit innehaben durfte. Diese Praxis, die auf der revolutionären Forderung „Sufragio efectivo – no reelección!“ (Effektive Stimme – keine

12 Vgl. zur (heutigen) Relevanz des Caudillismo Hamill (1992) und Beezley (1969). 13 Durán (1995) argumentiert, dass in der Folge der ursprüngliche Caudillismo in einen parteizentrierten „strukturellen Populismus“ überging, der das politische System Mexikos nachhaltig prägte. Vgl. zu einem beispielhaften Fall der Aushandlung der Position regionaler Caudillos in der Revolutionszeit Garner (1985). Caudillos waren „starke Männer“, die als charismatische Anführer eine große Anhängerschaft begeistern konnten, was ihnen politisches (oder militärisches) Gewicht gab. Caudillismo war in Lateinamerika weit verbreitet und ist als Konzept breit diskutiert worden, oft auch in Bezug auf die charismatischen populistischen Politiker der Gegenwart. 14 Dass auch vor der Revolution religiös inspirierte bzw. gerahmte Rebellionen existierten zeigt Vanderwood (2003).

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Wiederwahl)15 beruhte, ermöglichte, dass unterschiedliche parteiinterne Gruppen alternierend Präsidenten stellen konnten. Zwar bestimmte formal der regierende Präsident den nächsten Amtsinhaber durch den berühmten „Dedazo“ (Fingerzeig), dabei wurde aber auf einen Ausgleich der Interessen geachtet. Dies geschah zunächst aus den Erfahrungen mit postrevolutionären, blutig geführten internen Machtkämpfen, trug aber dazu bei, das System langfristig zu stabilisieren. Die gesellschaftliche Akzeptanz und Verankerung wiederum sollte dadurch erreicht werden, dass möglichst viele gesellschaftliche Gruppen einbezogen wurden. So existierten nicht nur starke Staatsgewerkschaften, sondern auch parteiaffine Organisationen, die diverse Gruppen organisieren sollten.16 Es gab bspw. Organisationen der Kraftfahrer oder der Kleinbauern (CNC – Confederación Nacional Campesina), die oft noch heute fortbestehen und politische Kontrolle ausüben. Oft wird der klientelistische und kooptative Charakter hervorgehoben, aber diese Institutionen boten allen einbezogenen BürgerInnen tatsächlich auch eine gewisse Teilhabe am Staat und seinen Ressourcen, sowie eine Form der Vertretung, die über Klientelketten vermittelt wurde (Boris/Sterr 2002, 21f.; Braig 2008). Dadurch wurden größere Teile der Bevölkerung ruhiggestellt, was sich bis heute in den politischen Handlungslogiken zeigt (s. Kap. 4.5.1). Durch diese beiden Strategien konnte das politische System für mehrere Jahrzehnte stabilisiert werden, so dass die PRI zur Quasi-Staatspartei wurde. Dazu trug auch der Aufbau eines postrevolutionären mexikanischen Nationalismus mit der Instrumentalisierung und Folklorisierung volksnaher Revolutionshelden wie Emiliano Zapata und Pancho Villa bei, die von den überlegenen Gruppen besiegt und ermordet worden waren. So war es möglich, dass erst unter dem Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934– 40) soziale Reformen umgesetzt wurden, darunter eine Agrarreform, in der viele Ejidos, d.h. kollektive Einheiten der Landnutzung (s. Kap. 3.1.2), geschaffen wurden, und eine Bildungsreform mit der Gründung einer Vielzahl ländlicher Schulen. Vargas Llosa bezeichnete dieses System einmal treffend als perfekte Diktatur. Die gesellschaftliche Verankerung und der fortwährende Ausgleich interner Machtinteressen führten dazu, dass Mexiko eine stabile Regierung hatte und als einziges lateinamerikanisches Land nie von einer Militärdiktatur regiert wurde. Nichtsdestotrotz kam es zu großen gesellschaftlichen Brüchen und sozialen Konflikten. Ab den 1960er Jahren nahmen sie größere Ausmaße an, nachdem zuvor eine eher optimistische Stimmung geherrscht hatte, die auf Mexikos Fortschritt und Pros-

15 Diese Parole drückte im Wahlkampf von 1910, der schließlich zum Ausbruch der Revolution führte, den politischen Protest gegen Porfirio Díaz aus. Dieser hatte sich über seine gesamte Amtszeit hinweg regelmäßig in Scheinwahlen wiederwählen lassen. 16 Inspiriert wurde dieses System zum einen durch sozialistische Vorstellungen, aber auch durch das Vorbild faschistischer Staaten, denn eine große Zahl mexikanischer Politiker und Intellektueller sympathisierte anfangs mit diesen Systemen in Europa.

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perität vertraute. Kennzeichnend dafür sind das verstärkte Aufkommen von Guerillabewegungen in verschiedenen Regionen und die intensivierte staatliche Repression Andersdenkender, die bis hin zu Massakern führte. Ein Beispiel dafür ist das Massaker von Tlatelolco, bei dem im Vorfeld der olympischen Spiele von 1968 protestierende Studierende von Militär und Polizei eingekesselt und hunderte von ihnen ermordet wurden. Dadurch gelang es dem Staatsapparat zunächst, die Macht der PRI zu sichern (Boris/Sterr 2002, 23 u. 27f.). Ab dem Jahr 1980 war ihre Herrschaft aber auf andere Art bedroht. Mexiko hatte sich in Entwicklungsfragen auf die Beratung durch internationale Organisationen verlassen und daher insbesondere in den Ausbau seines Erdölsektors investiert. Dieser war unter Cárdenas verstaatlicht worden und wurde nun in Folge der Ölkrise unter Aufnahme von Krediten modernisiert und erweitert. Anfang der 1980er Jahre stellte sich jedoch heraus, dass die zugrundeliegenden Berechnungen durch einen starken Preisverfall nicht eintraten. Mexiko konnte seine Schulden nicht wie geplant aus den Erlösen der Erdölförderung zurückzahlen und steckte, wie viele Entwicklungsländer in der Folge auch, in der sog. Schuldenfalle, was mehrere Wirtschafts- und Währungskrisen zur Folge hatte, auf die mit Strukturanpassungsprogrammen reagiert wurde. Diese neoliberalen Reformen trafen im Verbund mit weiteren Krisen einen Großteil der Bevölkerung ökonomisch schwer. Dadurch entstand eine breite Unzufriedenheit mit der Regierung (Thumser 1986, 237f.).17 In dieser Situation wurde Mexiko-Stadt 1985 von einem schweren Erdbeben erschüttert, das weite Teile des Zentrums zerstörte. Dieses bis heute traumatische Ereignis gewann politische Relevanz, weil sich der Staat aus Sicht der betroffenen BürgerInnen als unfähig erwies, angemessen zu reagieren. Tatsächlich blieb über mehrere Tage hinweg organisierte staatliche Hilfe aus. Dadurch wurde zum einen das Vertrauen der BürgerInnen in Staat und Regierung erschüttert und zum anderen begannen sich viele zu organisieren, um selbst Hilfe zu leisten. Dies wird als Schlüsselereignis für den mexikanischen Demokratisierungsprozess angesehen. Erstmalig kamen unter breiteren Bevölkerungsteilen nachdrücklich Zweifel am politischen System auf und die Gruppen, die Hilfe leisteten, machten ermutigende Erfahrungen mit demokratischer Selbstorganisation. Aus ihrer Perspektive hatte der Staatsapparat nicht bloß versagt, sondern es hatte sich gezeigt, dass er in dieser Form kaum von Nutzen war. So entwickelten sich Keimzellen zumindest der städtischen Demokratiebewegung (Boris/Sterr 2002, 23f.; Thumser 1986). In den folgenden Jahren wandten sich gerade in Mexiko-Stadt immer mehr BürgerInnen von der PRI ab und Nachbarschaftskomitees wie auch soziale Bewegungen und Protestorganisationen erlebten großen Zulauf. Zudem bildete sich ein Wahlbündnis kleinerer Parteien, die Frente Democrático Nacional (Nationale Demokratische

17 Ähnlich erging es den Menschen in vielen Ländern Lateinamerikas, sodass erst nach dem Jahr 2000 wieder ein Lebensstandard wie in den 1970er Jahren erreicht wurde.

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Front), die im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen des Jahres 1988 für die Demokratisierung des Landes und die Ablösung der PRI-Herrschaft kämpfte. Ihr gehörten viele Politiker an, die dieser Partei aus Kritik am neoliberalen Kurs bereits den Rücken gekehrt oder der kritischen Corriente Democrática (demokratische Strömung) in der Partei angehörten hatten. Besonders prominent war Cuathémoc Cárdenas, der als unabhängiger Kandidat gegen die PRI antrat. Als Sohn des früheren Präsidenten genoss er große Sympathien, da dieser als Symbol für die Umsetzung sozial-revolutionärer Reformen galt (s.o.), die Wahl selbst ging aber durch offensichtlichen Wahlbetrug verloren.18 Dies hatte zwei wichtige Folgen. Zum einen wurde das Vertrauen in die Regierung weiter erschüttert und es kam zu monatelangen Protesten, was zivilgesellschaftlichen Gruppen und der jungen Demokratiebewegung einen wichtigen Impuls gab. Zum anderen wurde 1989 die gemäßigt linke PRD durch Abspaltung der Corriente Democrática von der PRI gegründet und Cárdenas war für lange Zeit deren Vorsitzender. Sie fand insbesondere in Mexiko-Stadt viele Anhänger. Die PRD war die erste echte größere Oppositionspartei in Mexiko. Zwar gab es schon seit 1939 mit der PAN als konservativer und durch die katholische Kirche beeinflusster Partei eine nominelle Opposition, über einen langen Zeitraum hinweg hatte sie aber zunächst keinen nennenswerten Einfluss und wurde später sogar zu einem Feigenblatt für das politische System. So soll ihr im Vorfeld einer Präsidentschaftswahl sogar von der PRI Geld geboten worden sein, damit sie einen eigenen Kandidaten aufstellte und so der Schein der Demokratie gewahrt blieb. Später wurde aus ähnlichen Erwägungen heraus zugelassen, dass die PAN 1989 zunächst in Baja California und 1992 in Chihuahua die Gouverneurswahlen gewann. Von da an weitete sie die Herrschaft insb. über nördliche Bundesstaaten aus. Zu dieser Zeit erlangte auch die PRD ihren ersten Erfolg bei Gouverneurswahlen in Michoacán. Hier traf die Partei auf große Sympathien, weil die Familie Cárdenas aus diesem Bundesstaat stammt, ein Hinweis darauf, dass auch die PRD von politischen Handlungslogiken profitierte, die auf politischer Führerschaft und dem Caudillismo beruhten. So wurde erstmals die vollständige Herrschaft der PRI durchbrochen, wenn auch in engen Grenzen. Denn letztlich können diese „Wahlniederlagen“ als strategische Antwort des flexiblen PRI-Systems auf eine veränderte politische Stimmungslage gesehen

18 In der Wahlnacht stürzte das Computersystem, mit dem die Stimmen gezählt wurden, ab. Nachdem es wieder hergestellt war, wurde der PRI-Kandidat zum Sieger erklärt. Eine geforderte spätere Neuauszählung der Wahlzettel konnte nicht stattfinden, da diese bei einem Brand vernichtet wurden (vgl. Maihold 2000, 131). Thumser verweist auf eine Vielzahl von Wahlbetrügereien in den 1980er Jahren, die als „Alchemie der PRI“ bezeichnet wurden und zu Unruhen, aber auch der Entstehung einer Demokratiebewegung, führten (Thumser 1985, 241).

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werden, durch die sie ihre Macht zunächst absichern konnte.19 Dies trifft auch auf eine Verfassungsänderung im Jahr 1996 zu, durch die Mexiko-Stadt einen gewählten Regierungschef erhielt. Bis dahin war er durch die Zentralregierung bestimmt worden. Das Amt gewann seitdem immer die PRD, und Cuathémoc Cárdenas war das erste frei gewählte Stadtoberhaupt. Dies ist von großer Bedeutung für die PRD, weil dieser Posten eine starke nationale Präsenz mit sich bringt und ein Großteil der mexikanischen Bevölkerung in Mexiko-Stadt (ca. 10%) und dem umliegenden Ballungsraum (20–25%) lebt und so ein wichtiges Wählerpotenzial darstellt. Die formale Demokratisierung der Stadtregierung ist als Konzession in einer politisch angespannten Phase zu sehen. Die PRI versuchte so, den sozialen und politischen Druck in der Bevölkerung zu senken. Nach dem Wahlbetrug von 1988 hatte es nämlich unter dem neuen Präsidenten Salinas de Gotari zunächst eine Phase wirtschaftlicher und politischer Stabilität gegeben. Es gelang ihm, Mexiko als aufstrebendes Schwellenland zu inszenieren, das sich auf dem Weg in die „Erste Welt“ befand. Da Wirtschaftskrisen ausblieben, breitere Teile der Bevölkerung von Sozialprogrammen profitierten und Mexiko 1994 tatsächlich in die OECD aufgenommen wurde, sank die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Die meisten MexikanerInnen träumten einen „Traum von der Ersten Welt“ und das zuvor vorhandene kritische zivilgesellschaftliche Engagement schlief weitgehend ein. Dieses Bild brach aber mit dem Regierungswechsel 1994 schlagartig zusammen. Es wurde deutlich, dass die Regierung Salinas mit großem Geschick Krisen vermieden und In- sowie Ausland geblendet hatte, die reale ökonomische Lage aber sehr schlecht war. Zudem wurden unter Salinas viele staatliche Unternehmen privatisiert, meist mit negativen Auswirkungen auf ArbeitnehmerInnen, die jetzt sichtbar wurden. Die Privatisierungsgewinne dagegen wurden von Salinas und anderen Mitgliedern seiner Machtgruppe veruntreut. Es folgte eine sehr schwere Wirtschaftskrise mit tiefgreifenden Folgen für die mexikanische Gesellschaft, die zunächst dem zapatistischen Aufstand angelastet wurde. Dieser führte zusammen mit der Wirtschaftskrise und einem anderen Ereignis, dem Mord am Präsidentschaftskandidaten Colosio, zum Wiederaufleben der Demokratisierungsbewegung und zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. Colosio war für die PRI angetreten und hatte während des Wahlkampfs angekündigt, dass er den Dedazo abschaffen würde. Er wurde im März 1994 unter ungeklärten Umständen bei einer Wahlkampfveranstaltung in Tijuana erschossen. Allgemein wird angenommen, dass ihn parteiinterne Gruppen als Gefahr für das interne PRI-System ansahen. In der Bevölkerung wurde er dadurch zu einem Helden der Demokratisierung, obwohl er

19 Zu den widersprüchlichen Entwicklungen demokratischer Öffnung des politischen Systems und stärkerer Kontrolle durch PRI und Zentralregierung siehe Boris (1996, 184 f.)

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de facto nicht an der Vorherrschaft der PRI rütteln wollte (Boris 1996; Maihold 2000, 131).20 Bereits am ersten Januar 1994, dem Tag der Aufnahme in die OECD, hatten Aufständische des Ejercito Zapatista de Liberación Nacional (EZLN – Zapatistische Befreiungsarmee) mehrere Städte im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas besetzt. Sie protestierten damit gegen die neoliberale Politik, die sich ihrer Ansicht nach nahtlos in die vorherige Diskriminierung von Indigenen und Kleinbauern in allen gesellschaftlichen Bereichen einreihte, und forderten eine Demokratisierung des Landes. Das überraschende Auftreten dieser Guerillabewegung erlangte national und international große mediale Aufmerksamkeit. Einerseits hing dies mit der bis dahin gültigen Annahme politischer Stabilität zusammen, andererseits mit der Tatsache, dass dort Indigene aktiv wurden. Militärisch wurde der Aufstand innerhalb weniger Tage zurückgeschlagen und die mexikanische Armee schickte sich an, die EZLN und ihre Unterstützungsbasen zu vernichten. Dies konnte jedoch eine ungewöhnlich schnelle nationale und internationale Mobilisierung verhindern, als sich weltweit linke Bewegungen solidarisierten. (Gabbert 2001, 72f.). Durch diese Aufmerksamkeit sah sich die Regierung gezwungen in Verhandlungen einzutreten, an deren Ende ein Abkommen stand, das aber letztlich von ihr abgelehnt wurde (idib., 70; Grenz 1999, 64). Dennoch hatten diese Ereignisse eine starke zivilgesellschaftliche Aktivität zur Folge und brachten Mexiko auch international unter Beobachtung. Beides war grundlegend für den Demokratisierungsprozess des Landes (Boris/Sterr 2002, 65f.). Zunächst konnte sich die PRI aber 1994 erneut in den Wahlen durchsetzen und zwar diesmal offenbar ohne (direkten) Betrug. Nach den Erfahrungen von 1988 hatte es sehr viele freiwillige WahlbeobachterInnen gegeben, die konstatierten, dass die PRI tatsächlich die Mehrheit der Stimmen erhalten haben dürfte. In der herrschenden wirtschaftlichen und politischen Krisensituation wollten viele MexikanerInnen nicht das Wagnis eines Regierungswechsels eingehen. Insbesondere bestand nach dem Aufstand der EZLN die Befürchtung, dass ein Regierungswechsel bzw. eine unklare politische Lage einen Bürgerkrieg nach sich ziehen könnte (Maihold 2000, 131). So gewann die PRI erneut und blieb insgesamt 72 Jahre an der Macht. Im Jahr 2000 kam es dann aber zum angesprochenen Regierungswechsel. In einer Stimmung steigender Unzufriedenheit war es Vicente Fox gelungen, sich als idealen Kandidat für einen Wechsel zu inszenieren (s.o.). Aufgrund der großen Siegesgewissheit, die er ausstrahlte, stimmten auch viele PRD-SympathisantInnen für ihn, um eine Ablösung der PRI zu erreichen. In Mexiko existiert kein zweiter Wahlgang, so-

20 Dieser politische Mythos trug auf unterschwellige Weise zur Festigung von Demokratisierungswünschen und -perspektiven bei und ist heute noch von Bedeutung, was sich u. a. darin zeigt, dass auf Mauern und Hauswänden aufgemalte Wahlkampfwerbung für Colosio oft erhalten und sogar erneuert wird.

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dass der Kandidat mit den meisten Stimmen direkt als Sieger aus den Wahlen hervorgeht. Einerseits wurde so deutlich, dass politische Alternativen erfolgreich sein können und es entstand eine relativ große Parteienvielfalt, während die PRI versuchte ihr Image aufzubessern, indem sie sich als „Nuevo PRI“, als neue PRI, präsentierte und bspw. interne Vorwahlen inszenierte. Andererseits belegen viele Ereignisse, dass Mexiko noch weit davon entfernt ist, in einem umfassenden Sinne demokratisch zu sein. So scheint die neue Regierung viele Netzwerke der PRI übernommen und ähnliche politische Handlungslogiken angewandt zu haben. Zudem fielen in die insgesamt 12-jährige Herrschaft der PAN heftige soziale Konflikte, in denen es auch zu staatlichen Übergriffen kam, die zwar unter PRI-Gouverneuren stattfanden, aber von der Zentralregierung gestützt wurden. Darunter stechen zwei Ereignisse hervor, wie zum einen die Auseinandersetzungen um den geplanten Flughafenneubau bei Atenco im Bundesstaat Mexiko, durch den der überlastete internationale Flughafen von Mexiko-Stadt ersetzt werden sollte. Dort wehrten sich BewohnerInnen gegen die unrechtmäßige Enteignung ihres Ejidos (Stolle-McAllister 2005, 206f.; Alcayaga 2002). Dieser Konflikt ist beispielhaft für den Widerspruch zwischen zentral geplanten Großprojekten und lokalen Ansprüchen. Der Bau wurde zwar verhindert, es kam aber in der Folge zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, bei denen hunderte Menschen verletzt und mehrere getötet wurden und es von Seiten der Polizei zu unrechtmäßigen Verhaftungen, sexuellen Übergriffen und Folterungen kam (CCIODH 2006; OMCT 2006, 10f.). Noch extremer verlief die Auseinandersetzung zwischen der Staatsmacht und verschiedenen oppositionellen Gruppen, die sich im Bundesstaat Oaxaca zur Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (APPO – Volksversammlung der Völker Oaxacas)21 zusammengeschlossen hatten, um den Rücktritt des korrupten Gouverneurs zu erreichen. Die Ereignisse eskalierten und Oaxaca-Stadt wurde mehrere Monate lang von der APPO besetzt (Esteva 2010). Auch hier folgte eine extreme, zum großen Teil rechtlich nicht legitimierte Repression durch staatliche und paramilitärische Kräfte, mit einer Vielzahl Verletzter und gezielter Morde (Stidsen 2007, 99f.; Williams/Willis/Meth 2009, 204 f.). Daneben gab es in ganz Mexiko weitere Konflikte, die zu großer Mobilisierung führten, so u.a. im Bildungsbereich, bei der Privatisierung staatlicher Unternehmen und von Teilen der Infrastruktur. Obwohl sich die Staatsmacht letztlich weitgehend durchsetzte, zeugen diese Ereignisse davon, dass viele BürgerInnen mittlerweile bereit sind für ihre Rechte einzutreten, und sich nicht mehr mit staatlichen Interventionen abfinden. 21 Die APPO entstand 2006 als Zusammenschluss insb. von gewerkschaftlichen, kleinbäuerlichen, indigenen und studentischen Organisationen. Ausgangspunkt war ein Streik von LehrerInnen, die einer kritischen Strömung innerhalb der Staatsgewerkschaft, bei der Mitgliedschaftszwang besteht, angehören. Als eine zentrale Kundgebung durch die Polizei angegriffen wurde, vertrieben Demonstranten und EinwohnerInnen die Polizei aus dem Stadtzentrum.

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In der Legislaturperiode von 2006 bis 2012 begann jedoch auch der sog. Drogenkrieg mit einer Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen durch alle Seiten. Er stellt eine Bedrohung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und von Protestbewegungen dar, denn unter dem Deckmantel des Vorgehens gegen Drogenkartelle nehmen Angriffe der Staatsmacht auf soziale Bewegungen zu. Sie werden entweder direkt als Teil der Drogengewalt dargestellt, obwohl es sich wie im Fall ermordeter JournalistInnen häufig um von Politikern angeordnete Übergriffe handelt. Oder die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Drogenkrieg wird genutzt, um weitgehend unbemerkt die Repression in vielen Regionen Mexikos zu verstärken. Dies zeigt die Intensivierung vieler lokaler Konflikte und das Wiedererstarken paramilitärischer Gruppen (DMRKM 2011; generell zum Drogenkrieg Hoffmann 2009; Huffschmid 2011; Velasco 2005). Trotz vielfältiger Versuche, diese Bandbreite von Ereignissen in den staatstreuen Medien entweder zu verschweigen oder umzudeuten, tragen sie partiell zu weiteren Vorbehalten gegenüber dem Staat bei. Dazu gehören auch Erfahrungen mit Wahlmanipulationen durch die PAN bei der Präsidentschaftswahl 2006, von denen auch einer meiner Informanten berichtete. Auch bei den Wahlen des Jahres 2012, die zur Rückkehr der PRI an die Macht führten, wurde über Unregelmäßigkeiten berichtet. Dabei geht es nicht wie in früheren Zeiten vorrangig um Wahlfälschung, sondern um diverse Formen der Manipulation, die klassischen Wahlkampfstrategien in Mexiko entsprechen. Wichtige Elemente waren die übermächtige Medienpräsenz des PRI-Kandidaten sowie manipulierte (bestellte) Umfrageergebnisse, in denen er stets mit über 50% der Stimmen als sicherer Sieger geführt wurde, während sie den Kandidaten der PRD als weit abgeschlagen präsentierten. Tatsächlich trennten beide nach offiziellen Angaben22 am Ende nur etwa 6,5 Prozent.23 Flankiert wurde dies durch konkrete Maßnahmen, bspw. wurden vielen BürgerInnen Einkaufsgutscheine für ihre Stimme angeboten.24 Entsprechende Strategien sind bereits auch im Präsidentschaftswahlkampf 2018 zu beobachten. Gleichzeitig entstanden im Umfeld der Wahlen aber neue soziale Bewegungen, die ein größeres Potenzial für den Demokratisierungsprozess bieten könnten. Dazu gehören Morena (Movimiente de la Renovación Nacional – Bewegung der nationalen Erneuerung), die von der PRD enttäuschte Kräfte bündelt und angeführt durch den ehemaligen PRD-Kandidaten Andrés Manuel López Obrador eine zivilgesellschaftliche Alternative bieten will, sowie „Yo soy #132“, eine Bewegung, die spontan, und 22 Siehe: https://prep2012.ife.org.mx/prep/NACIONAL/PresidenteNacionalVPC.html 23 Wobei auch diese Zahlen in Zweifel gezogen werden, siehe: http://www.latinospost.com/ articles/1713/20120702/mexico-elections-2012-ife-fraud-number-manipulation.html 24 bspw. http://noticias.terra.com.co/internacional/latinoamerica/marchan-miles-en-mexicopara-condenar-resultado-electoral,b256c303f8368310VgnVCM10000098cceb0aRCRD. html

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für die Mehrheit der BeobachterInnen völlig überraschend, von Studierenden gegründet wurde und sich v.a. virtueller sozialer Netzwerke bedient. Federführend waren Studierende der Universidad Iberoamericana in Mexiko-Stadt, die den PRI-Kandidaten Enrique Peña Nieto während einer Wahlkampfveranstaltung an dieser jesuitischen Elite-Universität mit Fragen zum Massaker von Atenco konfrontiert hatten. Sie waren nicht nur darüber empört, dass er die Übergriffe guthieß, sondern auch darüber, dass die großen Medienkonzerne dieses Ereignis zunächst verschwiegen und später als Provokation von Morena-AktivistInnen darstellten, welche die Veranstaltung infiltriert hätten. In einem Internetvideo zeigten sie daraufhin ihre 131 Studierendenausweise und organisierten sich, um gegen die Medienmanipulation im Wahlkampf zu protestieren.25 Es bleibt aber abzuwarten, ob es zu einer breiteren und nachhaltigen landesweiten Vernetzung solcher Bewegungen kommt. Entwicklungssoziologische Theoretisierung von Politik Nach dieser Schilderung der Entwicklung des politischen Systems Mexikos sowie des Demokratisierungsprozesses auf nationaler Ebene werde ich kurz die von mir angewandte entwicklungssoziologische Perspektive auf politische Prozesse erläutern. Studien, die sich mit Politik oder Demokratisierung in Entwicklungsländern befassen, verfolgen häufig institutionelle oder rechtliche Fragestellungen und versuchen entsprechende Veränderungen zu konstatieren (vgl. zur Kritik daran Lachenmann 1997). Diese Sichtweise möchte ich hier explizit nicht anlegen. Es geht mir weniger darum, wie sich bspw. rechtliche Grundlagen verändern, sich Parteiprogramme weiterentwickeln oder welchen Schwankungen Sitzverteilungen in Parlamenten unterliegen. Mein Fokus liegt im Sinne einer akteurszentrierten Analyse auf dem Wandel politischer Handlungslogiken und Interaktionsmodi (vgl. Lachenmann 2006, 4; 1997). Dabei werden die untersuchten Phänomene zur Analyse in einen größeren Kontext gestellt und Prozesse außerhalb des strikt politischen Raumes berücksichtigt. Durch eine übergreifende Betrachtung wird zudem eine zu starke Trennung unterschiedlicher Ebenen sozialer und damit auch politischer Organisation verhindert. Statt also bspw. nur die Entwicklung auf kommunaler Ebene zu betrachten, geht es hier um ein umfassendes Bild, das sowohl den breiteren Hintergrund einbezieht als auch Prozesse über verschiedene Ebenen hinweg betrachtet, nicht zuletzt auch in der Verflechtung lokaler und globaler Prozesse (Lachenmann 2006, 4; 1997, 188). Damit möchte ich Kurzschlüsse einer rein institutionell orientierten Betrachtung von Politik vermeiden, die zu der Einschätzung führen können, dass in Entwicklungsländern vorwiegend mangelhafte Demokratisierungsprozesse ablaufen. Ein offener

25 Der Name Yo soy #132 (ich bin Nr. 132) rührt daher, dass sich viele Menschen als symbolische 132. Person mit den Studierenden solidarisierten.

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Blick kann nämlich zeigen, dass es trotz problematischer Vertretungssysteme, mangelhafter Rechtssicherheit und oft undemokratisch erscheinender politischer Strategien andere Institutionen, Praktiken und Interaktionsformen geben kann, die sehr wohl Demokratie fördern oder zumindest Perspektiven der Demokratisierung eröffnen, auch wenn entsprechende Prozesse oft widersprüchlich wirken. Anstatt bspw. als zentrales Kriterium zu sehen, dass mexikanische Politik von klientelistischen Netzwerken durchdrungen ist, geht es mir vielmehr darum zu untersuchen, wie klientelistische Handlungslogiken möglicherweise abgewandelt oder mit anderen Praktiken so verbunden werden, dass Raum für Demokratisierungsprozesse entsteht. Dazu ist es nötig, eine oft vorhandene Nord-Perspektive auf politische Prozesse abzulegen oder zumindest zu reflektieren, um stattdessen lokale Institutionen und Handlungsrationalitäten nachzuvollziehen und angemessen einzuordnen (vgl. Lachenmann 2009, 5ff; Grosfoguel 2011). Durch eine offene entwicklungssoziologische Herangehensweise soll also eine den spezifischen Situationen angemessene Konzeptualisierung von Politik und Demokratisierung erreicht werden. Des Weiteren wird in vielen Studien das Demokratisierungspotenzial von Entwicklungsländern eher im städtischen Raum verortet. Durch die (implizite) Übernahme modernisierungstheoretischer Vorstellungen wird angenommen, dass Demokratisierung nur in einem „modernen“ Umfeld stattfinden kann, das sich auf Städte beschränkt, da ländliche Gebiete als eher rückständig und traditionalistisch angesehen werden. Die Konsequenz daraus ist ein politisches Panorama von Entwicklungsländern, in dem Bewegungen und Institutionen in großen Städten als „Leuchttürme“ möglicher Demokratisierung gelten, die Vermittlung entsprechender Werte an den Großteil der Bevölkerung auf dem Land aber nicht gelingt. Studien zeigen jedoch, dass es im ländlichen Raum sehr wohl Potenzial zu politischer Veränderung gibt, eine Erkenntnis, der ich hier Rechnung trage. Während also in Arbeiten zu politischen Prozessen üblicherweise ein institutioneller oder rechtlicher Fokus im Vordergrund steht, Demokratisierungsprozesse eher als städtisch verankertes Phänomen betrachtet werden oder eurozentrische Demokratievorstellungen unhinterfragt als Norm wirken, setze ich aus einem entwicklungssoziologischen Paradigma heraus einen anderen Schwerpunkt. Dazu wende ich die genannten Perspektiven gerade auf solche Bereiche wie indigene Regionen im ländlichen Raum an, um festzustellen, welche Entwicklungen sich dort vollziehen, wo zunächst kein politischer Wandel vermutet wird. Somit soll diese Arbeit einen Beitrag zur Erweiterung der wissenschaftlichen Debatte über Politik in Entwicklungsländern und speziell in Mexiko leisten. Nicht zuletzt da an Transnationalisierungsprozessen (Faist 1998; 2000; Pries 1997; 2001b; Faist/Fauser/Reisenauer 2013) oft die ländliche und die indigene Bevölkerung beteiligt sind. So nutze ich hier Ansätze und Konzepte, welche die oben angesprochene alternative Konzeptualisierung politischer Prozesse, nicht nur in Entwicklungsländern, er-

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möglichen. Zuallererst sind dies solche, die der exklusiven Betrachtung institutioneller Politik das Konzept der Alltagspolitik gegenüberstellen. Politik wird hier als etwas verstanden, das nicht auf Parlamente, Parteien u. Ä. beschränkt ist, sondern vor allem im Alltag der BürgerInnen stattfindet. Dabei geht es aber nicht bloß um Auswirkungen auf den Alltag, sondern darum, wie politische Aushandlungsprozesse in ganz alltäglichen Situationen stattfinden. Es gibt verschiedene Ansätze, die eine solche Perspektive einnehmen und jeweils spezifische Schwerpunkte setzen. Dazu gehören erstens dezidiert entwicklungssoziologische Perspektiven, wie sie Lachenmann (2004; 1997; 1993; 1991), Gerharz (2012; 2009), Neubert (2004), Bierschenk/Sardan (1997), Bierschenk (2010; 1999), Elwert-Kretschmer/Elwert (1991) und Elwert (1997) anwenden.26 Diese sind akteurszentriert und handlungsorientiert und stellen somit die Aushandlung von Politik ins Zentrum der Analyse. Zweitens existieren Ansätze, die bestimmte Dimensionen einer alltäglichen oder informellen Politik zum Ausgangspunkt ihrer Analyse machen. Dazu gehören Konzepte wie Politics of Place (Harcourt/Escobar 2005), Politics of the Belly (Bayart 2009), über strategische Gruppen (Evers 1997; Berner 2001; Schubert/Tetzlaff/Vennewald 1994) und Mittler/Makler (Bierschenk/Sardan 2003; Bierschenk/Chaveau/Sardan 2001), neben anderen, teils dezidiert alltagspolitischen Sichtweisen auf Politik wie bei Scott (2009; 1998; 1990; 1985), Pfaff-Czarnecka (2005; 1999), Vincent (2002) und Nugent/Vincent (2004). Diese sind auch anschlussfähig in Hinsicht auf offenere Konzeptualisierungen von Bürgerschaft (s.u.) oder Konzepte wie transnationale Politik (vgl. Bakker/Smith 2003; Goldring 2002; Smith/Bakker 2007; Smith 2006). Damit ist Politik auch ein zentrales Feld für die Betrachtung gesellschaftlicher Entwicklung. Sie ist mit anderen Prozessen verbunden und hat Auswirkungen auf verschiedenste Bereiche, auch des Alltagslebens. Diese zentrale Stellung werde ich in meinen Fallstudien herausarbeiten. 1.2.2 Indigenität in Mexiko: Die politische Bedeutung einer sozialen Kategorisierung In dieser Arbeit werden ethnische Kategorisierungen als „indigen“ von großer Bedeutung sein. Daher werde ich kurz die Ursprünge dieser Kategorie darstellen und aufzeigen, wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Ein Schwerpunkt wird auf der sozialen Wirkmächtigkeit dieses Konzepts und den aktuellen Veränderungen liegen, denn sie bilden einen bedeutenden Teil des sozialen Kontextes, in dem die hier untersuchten Prozesse stattfinden. Während nämlich in Mexiko formal das Sprechen einer indigenen Sprache als Hauptkriterium für die Definition Indigener gilt, ist die

26 Siehe des Weiteren zur entwicklungssoziologischen Perspektive Goetze (2002, insb. 15f.) und Schulz (1997).

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gesellschaftliche Konstruktion von Indigenität mit einer häufig einhergehenden Abwertung deutlich komplexer (Stavenhagen 2002, 26f.; 2002b; Wade 2005; Scheuzger 2007). Die Kolonialzeit – Allianzen und Subordination Die ursprüngliche Konzeptualisierung des Bevölkerungsteils, der heute als Indigene bezeichnet wird, geht auf die Eroberung Amerikas durch die europäischen Kolonialmächte zurück. Bereits bei seinem ersten Kontakt bezeichnete Kolumbus die Bewohner Amerikas als Indios27, da er bekanntermaßen annahm, er sei nach Indien gelangt. Dieser Begriff wurde nach der Etablierung der (zunächst prekären) kolonialen Herrschaft auf alle „ursprünglichen“ Bewohner der Territorien des spanischen und des portugiesischen Kolonialreichs und ihre Nachfahren angewandt. Es erfolgte eine klare soziale Abgrenzung von europäisch- sowie später afrikanischstämmigen Gruppen in diesen Gebieten, was Implikationen für die gesellschaftliche Positionierung hatte. So wurde im spanischen Kolonialreich eine rassistische Einteilung, nach der diverse mögliche Kombinationen der Abstammung kategorisiert wurden, zu einem wichtigen Element, das über sozialen Status, Arbeitsmöglichkeiten und individuelle Rechte bestimmte. Sie wurden eigens schematisch in sog. Pinturas de Castas festgehalten (vgl. López Beltrán 2008, 296f.). In dieser Hierarchie konnten bspw. hohe Verwaltungsposten ausschließlich von im spanischen Mutterland geborenen Personen übernommen werden, während indigene und afrodeszendente Menschen niedrige Positionen einnahmen und ihnen mit Vorurteilen begegnet wurde (ibid.). Allerdings erlangten manche indigenen Gruppen in Mexiko trotz aller Ausbeutung und Herabsetzung eine wichtige Position und oftmals einen gewissen Grad von Autonomie. Denn das Vizekönigreich Neu-Spanien war anfangs militärisch auf indigene Alliierte angewiesen, um sein Territorium zu sichern und die Expansion voranzutreiben.28 Von Beginn an war damit verbunden, dass indigene Gruppen zur Kolonisierung und Besiedlung weiterer, vor allem nördlich gelegener Gebiete eingesetzt wurden und gleichzeitig eine wichtige Stütze der kolonialen Ökonomie waren. Indigene Adlige, Anführer und Kaziquen wurden zu Alliierten der spanischen Herrscher und erhielten im Gegenzug eine relativ privilegierte Stellung für sich und ihre Gefolgsleute.29 So sind viele koloniale Stadtgründungen, wie im Fall Queretaros, eigentlich indigen-kolonialen Ursprungs. Da die Kolonialherren in grundlegender Weise 27 Im Folgenden werde ich ausschließlich den aus heutiger Sicht angemesseneren und weniger belasteten Begriff „Indigene“ verwenden. 28 Ein Beispiel dafür ist die sogenannte „Guerra Chichiméca“, die fast zum Zusammenbruch des Vizekönigreichs geführt hätte (Powell 1984; Wright 1988; Tutino 2012, 47f.). 29 Darin begründet sich bspw. der Sonderstatus, den die indigene „Republik“ Tlaxcala im Gegenzug für ihre Unterstützung bei der Zerschlagung des Aztekenreiches und später bei der Kolonisierung nördlicher Territorien erhielt. Dies ist heute noch daran zu erkennen,

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auf die Kooperation dieser Gruppen angewiesen waren, konnten sich diese in der Anfangszeit größere Privilegien und eine gewisse Autonomie erstreiten bzw. bewahren. Zwar wurden europäische und europäischstämmige Mitglieder der Kolonialgesellschaft bevorzugt behandelt, sodass sie sich bspw. fruchtbares Land und Wasserquellen aneignen konnten. In anderen Gebieten mit einem niedrigen europäischstämmigen Bevölkerungsanteil wurden aber lange Zeit Freiräume gewahrt, in Orten wie Queretaro begannen sich sogar europäische Kolonisten an das indigene Umfeld anzupassen (Tutino 2012, 46f.; 2011; Kugel o.J.).30 Für die Kolonialverwaltung war zunächst entscheidend, dass die Ökonomie im Sinne des Mutterlandes funktionierte. Dies bedeutete, dass insbesondere Gold- und Silberminen Erträge erbringen mussten, die nach Spanien geschafft wurden. Die Kolonialökonomie war darauf ausgerichtet und versorgte die Minen mit Lebensmitteln und Gütern wie Seilen, Werkzeugen und Holzkohle. Da eine völlige Kontrolle in den ersten Jahrzehnten unmöglich war, wurde ein autonomes Leben indigener Gruppen unter der Herrschaft der alliierten Kaziquen akzeptiert, solange dies weder die spanische Oberherrschaft noch das Funktionieren der Wirtschaft gefährdete. Dazu wurden u.a. sog. Repúblicas de Indios („Indianerrepubliken“) eingerichtet, die eine eigenständige administrative Einheit darstellten, innerhalb derer Indigene sich selbst verwalteten (Escobedo Mansilla 2002; Mentz, 1988, 88f.; Jiménez Gómez 2008). Da sie über die betreffenden Ländereien verfügen konnten, kann hier ein Ursprung der bis heute bestehenden Formen kollektiven Landbesitzes in Mexiko sowie der dörflichen Selbstorganisation gesehen werden, die für diese Arbeit von großer Bedeutung ist. Das unabhängige Mexiko – Indigene als „die Anderen“ Mit der Zeit wurden Rechte und Handlungsspielräume der indigenen Gruppen aber immer weiter eingeschränkt. Insbesondere nach der Unabhängigkeit Mexikos veränderte sich ihre Situation. Zwar wurde einerseits die rassistische Kategorisierung der Bewohner Mexikos formal fallen gelassen und nicht mehr administrativ erfasst. Andererseits wurde in der Republik ein Nationalwerdungsprojekt eingeleitet, in dem Idealbürger als hellhäutige, städtische, im Handel tätige Männer und damit bewusst als Gegenpol „zum Indigenen“ konstruiert wurden. Sie stellten die neue politische Elite dar, die sich auf ihr ökonomisches Gewicht stützen konnte. Indigene galten seitdem implizit als „die Anderen“, die gewissermaßen außerhalb der Gesellschaft standen (Stavenhagen 2002, 24f.).31 Obwohl Indigene einen größeren Teil der Kämpfe im Unabhängigkeitskrieg sowie gegen Invasoren wie Franzosen und US-Amerikaner dass Tlaxcala ein eigenständiger, für mexikanische Verhältnisse relativ kleiner Bundesstaat ist. 30 Tutino (2011) argumentiert sogar, dass diese besondere Konstellation in Queretaro einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung des transatlantischen Kapitalismus hatte. 31 Vgl. zur generellen Konstruktion des Anderen, insb. des „Wilden“, Bartra (1997).

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bestritten, wurde ihre soziale Stellung deutlich abgewertet und es entstanden Vorurteile über Indigene, die bis heute fortbestehen. Vor allem aber verfestigte sich durch den dichotomen Charakter dieser Konzeptualisierung eine im Vergleich zur Kolonialzeit deutlichere Trennung zwischen Indigenen und den Mestizos (s.u.). Von 1861 bis 1872 gab es mit Benito Juárez zwar einen Präsidenten, der als indigen galt und unter dessen Präsidentschaft die französische Intervention (1861– 1867) zurückgeschlagen wurde. Dies veränderte aber nicht die gesellschaftliche Stellung Indigener, denn u.a. ging Juárez als liberaler Reformer gegen kollektiven Landbesitz vor und verfolgte den diversen ethnischen Minderheiten gegenüber eine Politik der Benachteiligung.32 Dieser Prozess verschärfte sich in der Zeit des Porfiriats, der Herrschaft des Diktators Porfirio Díaz (mit kurzer Unterbrechung von 1876 bis 1911). Während dieser Phase wurde die Industrialisierung und „Modernisierung“ Mexikos vorangetrieben. Dies ging oft zu Lasten indigener Gruppen bspw. durch den Entzug von Landrechten zur Etablierung von privaten Großplantagen. Darüber hinaus wurden Indigene mit ihren Lebensweisen und Wirtschaftsformen, die oft dem Modernisierungsgedanken entgegenstanden, immer mehr als rückständig und unzivilisiert angesehen. So verschärften sich bestehende negative Konzeptionen erheblich in dieser Phase der mexikanischen Geschichte. In der Folge kam es zu Konflikten, in denen indigene Gruppen versuchten, Land und Lebensweise zu verteidigen. Beispielhaft dafür sind der Krieg gegen die Yaqui in Nordmexiko33 und die sog. Kastenkriege auf Yucatán, die umfangreiche Auseinandersetzungen waren und genozidären Charakter aufwiesen. Im postrevolutionären Mexiko – das „Verschwinden“ der Indigenen Nach der mexikanischen Revolution von 1910 und der sich anschließenden Phase bis 1921/24 wurde die untergeordnete Position Indigener zementiert, obwohl gerade indigene MexikanerInnen die Revolution getragen und viele zentrale Forderungen formuliert hatten (s.u.), wobei sie aber nicht als Indigene wahrgenommen wurden (Knight 1990, 76 f.). Im postrevolutionären Mexiko verstärkte sich die Vision einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung des Landes. Dazu gehörte der Aufbau einer geschlossenen nationalen Identität. Im Gegensatz zur Konzeption nach der Unabhängigkeit wurde aber nicht ein Gegenpol gesucht, sondern die Vermischung aller Bevölkerungsgruppen propagiert. So entstand die Ideologie des Mestizaje, in der es als Ideal angesehen wurde, dass sich das europäische und indigene 32 Bezeichnenderweise soll der von den Franzosen eingesetzte mexikanische Kaiser Maximilian von Habsburg eine Politik verfolgt haben, die Indigenen entgegengekommen wäre. Allerdings wurden entsprechende Gesetze aufgrund der französischen Militärherrschaft nie umgesetzt. 33 Siehe zu ersten Rebellionen indigener Gruppen im Bundesstaat Sonora und deren auch später gültigen Grundlagen Comel (1973).

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„Erbe“ miteinander verbanden.34 Daraus sollte das neue, moderne Mexiko entstehen. José Vasconcelos, einer der mexikanischen Vordenker dieser Ideologie, entwickelte die Vision der „Raza Cósmica“. Diese neue „Rasse“ sollte weltweit die besten Elemente aller Kulturen aufnehmen und sie zu einer neuen überlegenen, einheitlichen Kultur verbinden. Vasconcelos sah die mexikanischen Mestizen als Vorreiter der „Raza Cósmica“, denn hier hätten sich das Erbe präkolumbianischer Hochkulturen und europäische Einflüsse verbunden. Dadurch sollte es keinen Unterschied mehr zwischen europäischstämmigen Mexikanern und solchen indigener Abstammung geben (s. Vasconcelos 1925; Vasconcelos/Jaén 1997). Trotz des inklusiven Anspruchs hatte diese Ideologie die verstärkte Abgrenzung gegenüber indigenen Gruppen zur Folge. Denn diese galten nun als Modernitätsverweigerer, als traditionalistische Gruppen, die der einheitlichen mexikanischen Nation entgegenstanden.35 Diese „zurückgebliebenen“ Bevölkerungsteile sollten durch Assimilierung in die Nationalgesellschaft integriert werden. Die dazu entwickelten Politiken werden als Indigenismo bezeichnet und finden sich in vielen Staaten Lateinamerikas in ähnlicher Weise (Stavenhagen 2002, 27f.). Dem Indigenismo geht es entgegen seinem Namen nicht um die Förderung des Indigenen, sondern im Gegenteil darum, Indigene durch spezielle Programme, u.a. im Bildungsbereich, immer stärker an die Nationalgesellschaft anzupassen, bis sie schließlich ganz in dieser aufgehen (ibid.; Korsbaek/Sámano Rentería 2007; Sánchez 1999, 19f.).36 Mit der Präsidentschaft von Cárdenas wurde es aber auch zum politischen Ziel des Indigenismo, die Situation

34 Wie Knight (1990, 73) zeigt, ist Mestizaje trotz oft gegenteiliger Annahmen nicht als biologischer, sondern als rein sozialer Prozess zu verstehen, der oft mit dem Whitening inbes. von Eliten verbunden ist. Vgl. zu dieser dynamischen Konstruktion auch Wimmer (2008; 1994). 35 Die Vorstellung des Verrats an der Nation wird in der Verschränkung mit Gender-Stereotypen am Mythos der Malinche deutlich, der mit dem Aufkommen des mexikanischen Nationalismus geprägt wurde. Malinche entstammte einem indigenen Adelshaus und war in Sklaverei geraten. Sie bot Cortés in der Conquista ihre Hilfe als Übersetzerin an. Da Malinche als Geliebte Cortés’ gilt, wird sie zu einem vielschichtigen Symbol des Verrats, indem eine indigene Frau das Vaterland und sich selbst dem fremden männlichen Invasor hingibt. 36 Verschiedene Autoren werfen dem Indigenismo vor, ein negatives Bild von Indigenen, die assimiliert werden mussten, vertreten zu haben (vgl. Dawson 2000, 282 f.), während andere wie Favre (1998) und Dawson (2000) den Indigenismo positiver bewerten, da sie ihm zuschreiben, Räume für die Integration Indigener und ihrer Kultur in die Nationalgesellschaft eröffnet zu haben. Zur politischen Bedeutung und Entstehung des staatlichen Indigenismo im Rahmen nationalistischer Anstrengungen zur Formung einer eigenständigen (inklusiven) mexikanischen Nation siehe Dawson (2004), Knight (1990) und Brading (1988).

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Indigener zu verbessern (Dawson 2004). Er betonte wiederholt, dass es sein „heißestes Anliegen“ sei, die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern und insbesondere die Misere „unserer indigenen Klasse“ zu bekämpfen (Boyer 2003, 188f.). So wurden zunächst Congresos Regionales Indígenas einberufen, die es Indigenen ermöglichen sollten, ihre Bedürfnisse und Forderungen zu artikulieren. Im Gegenzug dafür erwartete der Präsident politische Unterstützung, wodurch die populistisch und paternalistisch geprägte Haltung des postrevolutionären mexikanischen Staates gegenüber den Indigenen begründet wurde (vgl. Dawson 2004, 96f.). Später wurden unterschiedliche Behörden und Organisationen ins Leben gerufen, die in ihrem Namen oft Bezug auf eine bestimmte Ethnie oder auf Indigene generell nehmen. Meist sind sie für Entwicklungs- und Bildungsfragen zuständig oder präsentieren sich als Fürsprecher bzw. Vertretung indigener Gruppen. Beispiele dafür sind das frühere „Instituto Nacional Indigenista“ (Nationales Indigenistisches Institut – INI) als nationale Institution für die „Entwicklung“ der indigenen Bevölkerung, bilinguale Bildungsprogramme und das früher in meiner Forschungsregion existierende Patrimonio Indígena del Valle del Mezquital (PIVM) als regionale Entwicklungsorganisation.37 All diese sind bis heute für die gesellschaftliche und politische Positionierung Indigener relevant.38 Aktuelle Prozesse der Aufwertung von Indigenität Während im vor- und zunächst auch im postrevolutionären Mexiko die Kategorie „indigen“ eine große Bedeutung hatte, schien sie ab den 1940er Jahren tatsächlich langsam zu verschwinden. Damals trat Campesino (Kleinbauer) als sozioökonomische Kategorie in den Vordergrund. Die Entwicklungsprobleme auf dem Land wurden nicht mehr als ethnisch bedingt, sondern als Folge der Situation der Campesinos und insbesondere als Ergebnis ihrer Produktionsweise angesehen. Dazu trugen ab den 1970er Jahren auch wissenschaftliche Studien bei, die aus neo-marxistischer Perspektive die Position im Produktionsprozess als entscheidende Kategorie sozialer Ungleichheit ansahen (z.B. Bartra et al. 1975). De facto wurden Campesino und Indígena aber oft gleichgesetzt, so wandelte sich „indigen“ von einer ethnischen zu einer sozioökonomischen Kategorie (Marroquín 1972, 8 [nach Stavenhagen 2002, 26]), wobei gleichzeitig das Konzept Campesino kulturalisiert wurde (Boyer 2003, 16f.). Erst in den 1990er Jahren trat wieder die ethnische Kategorisierung offen in den Vordergrund. Entgegen einer rein abwertenden Gebrauchsweise wie zuvor wurde „indigen“ jetzt aber auch als Selbstbezeichnung genutzt und positiv belegt. 37 „Indigenes Erbe des Valle del Mezquital“ – Es wurde auf Grundlage eines präsidialen Dekrets von 1951 und eines Parlamentsbeschlusses von 1952 geschaffen und existierte bis 1990, nach einer Umstrukturierung im Jahr 1982. 38 Vgl. zu Arbeiten, die formal über den Indigenismo verfasst wurden, aber gleichzeitig diese Strömung mitbestimmten, Aguirre Beltrán (1991 [1964]) und Villoro (1984 [1950]).

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Dies hing mit verschiedenen nationalen und globalen Prozessen zusammen, wie ich kurz erläutern werde. Erstens existiert seit Langem ein international vernetzter indigener Aktivismus, der sich internationaler Konferenzen, z.B. im Rahmen panamerikanischer Verbünde, und in jüngerer Zeit virtueller Kommunikationsformen bedient, um weltweit auf die Situation indigener Bevölkerungsgruppen und ihre Forderungen aufmerksam zu machen. Dies schlug sich nicht zuletzt im UN-Jahr der indigenen Völker 1993 und der anschließenden UN-Dekade der indigenen Völker der Erde (1999–2004) nieder, die wiederum die Anliegen dieser AktivistInnen bekannter machten und denen sich eine zweite UN-Dekade anschloss (2005–2015). Im Jahr 2014 fand schließlich eine WeltKonferenz zu indigenen Völkern statt. Diese Aufwertung im internationalen System und auf globaler Ebene schlug sich auch in formalen Abkommen nieder. So legte die ILO-Konvention 169 im Jahr 1989 rechtsverbindliche Ansprüche indigener Völker auf eine Vielzahl von Grundrechten fest und wurde damit zum Referenzpunkt für AktivistInnen. Im Jahr 2007 wurde dann die Erklärung der Vereinten Nationen zu den Rechten indigener Völker verabschiedet. Zweitens existiert(e) eine Vielzahl von (Bewegungs-)Organisationen, deren Mitglieder entweder Indigene sind oder sich mit der Thematik befassen. Sie setzen sich oft auf regionaler oder lokaler Ebene erfolgreich für die Belange indigener Gruppen und gegen Diskriminierung ein und führen bspw. ökonomische, juristische und Bildungsprojekte oder Informationskampagnen durch. Es gab auch Versuche der nationalen und internationalen Vernetzung. So wurde auf nationaler Ebene bspw. der Congreso Nacional Indígena (CNI) gegründet und von unterschiedlichen Ebenen wurden Abgesandte in internationale Gremien und zu Konferenzen entsandt (vgl. López Bárcenas 2005). Auf lokaler und regionaler Ebene gab es teils beachtenswerte Erfolge in Bezug auf die Thematisierung von Problemen und die Stärkung einer positiven Konnotation und Selbstidentifikation mit Indigenität. Dies geschah u.a. durch die praktische Widerlegung vieler Vorurteile. Ein gutes Beispiel dafür ist die Arbeit der indigenen Frauenkooperative Maseualsihuamej Mosenyolchicauanij in Cuetzálan (Puebla) und der sie beratenden Organisation (Rivera Garay, 2004). Auf nationaler Ebene fanden diese Aktivitäten allerdings nur einen geringen politischen Widerhall. Einen deutlichen Aufmerksamkeitsschub sowohl in Mexiko als auch weltweit erfuhr das Thema der Indigenität und der Situation dieser Gruppen, als sich 1994 die EZLN in Südmexiko erhob und für einige Tage mehrere Städte besetzte (vgl. Schulz 2002, 58). Zwar wurde diese bewaffnete Bewegung von der mexikanischen Armee zurückgeschlagen, u.a. führte aber eine geschickte Nutzung von Internetkommunikation und medialer Präsenz dazu, dass sich national wie international schnell Solida-

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rität und Protest formierten. Dies verhinderte, dass die zapatistische Bewegung endgültig gewaltsam zerschlagen wurde (Gabbert, W. 2001, 72f.).39 Abgesehen davon, dass dies als Weckruf für die mexikanische Zivilgesellschaft gilt (s.o.), wurde das Thema der Position Indigener jetzt öffentlich diskutiert. Die EZLN definiert sich nämlich explizit als indigen und begründet ihren Kampf indem sie auf die historische Erfahrung und aktuelle Situation Angehöriger indigener Gruppen in Mexiko verweist. Damit gelang ihr, was die oben genannte Organisationen und AktivistInnen nicht in diesem Ausmaß erreichen konnten. Schließlich gab es weitere Prozesse, die langwieriger und subtiler waren, deren Einfluss auf die gesellschaftliche Neuaushandlung von Indigenität aber nicht unterschätzt werden darf. So ist die Instrumentalisierung von Indigenität durch politische Parteien und Regierungsstellen, aber auch durch Unternehmen, ein vierter Aspekt dieser Entwicklung. Dabei wird versucht, Indigene unter diesem Label anzusprechen, um sich ihre Gefolgschaft (bzw. Kundschaft) zu sichern. Dies hing damit zusammen, dass indigene Bevölkerungsgruppen als eigener Sektor in das politische System eingebunden werden sollten (s.o.). Ein Beispiel dafür sind Organisationen wie der Consejo Supremo Hñähñu (s. Kap. 1.3.2). Ein fünftes Element ist die Etablierung staatlicher bilingualer Bildungsprogramme im Rahmen der Educación Indígena (Indigene Bildung), die aus dem Indigenismo hervorgeht. Obwohl es sich zunächst um eine eher assimilatorische Strategie handelte, führte der Aktivismus von Maestros Bilingües (bilingualer indigener Lehrer), die als Mittler zwischen der „modernen“ mexikanischen Gesellschaft und indigenen Gruppen dienen sollten (s. Kap. 4.5.1), oft zu einer Aufwertung ihrer Sprachen und Kultur und dazu, dass indigene Gemeinschaften trotz aller weiterhin bestehenden Probleme begannen, Indigenität nach und nach positiv zu wenden.40 Als letztes wichtiges Element einer veränderten Konstruktion von Indigenität in der mexikanischen Gesellschaft sind die umfassenden Prozesse von Migration und transnationaler Verflechtung zu nennen (s.u.). Durch die Fremdheitserfahrung in den USA suchen viele MigrantInnen das Eigene, um sich zu positionieren und reagieren damit gleichzeitig auf vielfältige oft negative Fremdzuschreibungen, denen sie an verschiedenen Orten ausgesetzt sind. In der Konfrontation mit unterschiedlichen sozialen Grenzen (vgl. Stephen 2007) besinnen sich die MigrantInnen auf ihre Indigenität als besonderes Merkmal, das sie von ihren mexikanischen Landsleuten abhebt. Dies wird zum einen dadurch erleichtert, dass sie in der Kategorisierung durch die US-amerikanische Gesellschaft nicht im Vordergrund steht. Denn hier werden diese

39 Sehr wohl setzte aber ein sog. Krieg niedriger Intensität ein, wie er für die Aufstandsbekämpfung typisch ist. Dieser wird bis heute fortgeführt. 40 Vgl. zum Verhältnis zwischen Indigenen und Staat nach dem Machwechsel im Jahr 2000 und der Fortführung aber auch Anpassung der bisherigen Politik Hernández (2004).

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MigrantInnen gemäß dem methodologischen Nationalismus (Wimmer/Glick-Schiller 2003; vgl. auch Chernilo 2006) primär als MexikanerInnen wahrgenommen. Die in Mexiko erfahrenen negativen Konnotationen einer Zuschreibung als Indigene finden sich daher nicht in gleichem Ausmaß. Zum anderen haben Zugehörigkeit und Zusammenhalt unter den MigrantInnen in den USA eine große Bedeutung als Gegenpol zum fremden sozialen Umfeld. Dies stärkt die Kohäsion innerhalb der Gemeinschaft, die in der Regel als indigen und auf den Herkunftsort bezogen definiert wird. In diesem Prozess kommt es zur Rekonstruktion von Indigenität und oft zu Neotraditionalisierung. Die Betonung und Aufwertung der eigenen indigenen Zugehörigkeit wird als Teil transnationaler Flüsse in die Herkunftsorte übermittelt und stößt auch dort eine veränderte Konzeptualisierung an (vgl. Fox/Rivera-Salgado 2004). Auf der Grundlage dieser vielfältigen Aushandlungsprozesse ist Indigenität derzeit in Mexiko wie in anderen Ländern Lateinamerikas ein zentrales Element gesellschaftlicher Positionierung und eine soziale Kategorie, die nicht ignoriert werden kann. Durch den positiven Selbstbezug und einen Wandel der gesellschaftlichen Konstruktion dieser Kategorie hat sich ihr negativer und problembehafteter Charakter abgeschwächt, auch wenn er fortbesteht und sich u.a. in alltäglicher Diskriminierung äußert. Alternative Perspektiven auf Indigenität Nach der gängigen Sichtweise werden Indigene allerdings weiterhin über einen vermeintlichen Gegensatz zur Nationalgesellschaft konzeptualisiert. Die im Indigenismo verankerte Vorstellung der Andersartigkeit und Abgrenzung von der übrigen Gesellschaft besteht als zentrales Element fort. Auch wenn dies oft unreflektiert geschieht, werden über einen dominanten gesellschaftlichen Diskurs Stereotype aufrechterhalten und die gesellschaftliche Subordination bestärkt und zwar gerade auch durch Gruppen, die Indigene in ihren Anliegen unterstützen möchten, dabei aber sehr paternalistisch sind. Daher ist es unerlässlich alternative Perspektiven hervorzuheben. Denn sowohl aus Schriften verschiedener Theoretiker als auch der empirischen Analyse lässt sich die Erkenntnis gewinnen, dass Indigene keineswegs isoliert und rückständig sind. Vielmehr ist der weitaus größte Teil indigener Gruppen in vielerlei Hinsicht klar in ihre respektive Nationalgesellschaft eingebunden, aber eben oft aus einer spezifischen untergeordneten Position heraus. Zudem sind ihre Formen sozialer Organisation sehr flexibel und möglicherweise zeichnen sich ihre Kulturen durch eine ausgeprägte historisch gewachsene Anpassungsfähigkeit aus. Dies wird auch in meinen Untersuchungen deutlich (s. Kap. 3.1.4 und 3.3). Verschiedene Theoretiker betonen, dass Indigene seit der Kolonialzeit eine Grenzposition einnehmen, die aber evtl. älter ist (vgl. Kaltmeier 2004). Wie bereits angesprochen, waren indigene Gemeinschaften zum einen flexibel und gewohnt, sich an neue Verhältnisse anzupassen und zum anderen oft sehr mobil (s.o.). Beides mag

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durch historische Zwänge befördert worden sein, hat aber eine wichtige Grundlage für ihr aktuelles kulturelles Handlungsrepertoire gelegt. Im Falle der Hñähñu41 hatte dies eine besondere Bedeutung. Erstens waren sie bereits zu präkolonialen Zeiten mobil. Sie lebten einerseits halbnomadisch, u.a. um teilweise der aztekischen Herrschaft zu entgehen, und andererseits gehörten sie zur Bevölkerung unterschiedlicher prähispanischer Staaten (Wright 1988). Zweitens befand sich ihr klassisches Siedlungsgebiet an der Grenze zwischen Mesoamerika, in dem die bekannten Hochkulturen mit ihren Städten beheimatet waren, und dem Norden, der eher von (halb-) nomadischen Gruppen besiedelt wurde. Diese Grenze wurde bereits damals als Kulturgrenze angesehen und den Völkern aus dem Norden mit Vorurteilen begegnet, da sie als wild und barbarisch galten. Tatsächlich handelte es sich wohl eher um einen fließenden Grenzraum, denn es fand offensichtlich ein Austausch statt und auch im Norden gab es städtische Kulturen. Die Hñähñu bzw. ihre Vorläufer hatten in dieser Grenzregion vermutlich Verbindungen zu beiden Seiten und wirkten so als Kulturmittler. Dann dürften sie über große „interkulturelle“ Erfahrungen und Fähigkeiten verfügt haben, die ihnen zu Gute kamen, als sie in der Kolonialzeit neue Gebiete für die Spanier erschlossen und damit in immer neuen Grenzräumen gelebt haben (s.o.). Ähnliches zeigt Kaltmeier (2004, 54f.) in Bezug auf die Mapuche im heutigen Chile, deren Gebiet durch eine anerkannte Grenze vom spanischen Kolonialreich getrennt war. So könnte als ein wesentliches Merkmal von Indigenität die Fähigkeit angesehen werden, mit kulturellen Schnittstellen umzugehen, sich externe kulturelle Elemente anzueignen und sie in die eigene Kultur zu integrieren. Boccara (1999; 1996) und Kaltmeier (2004, 33f.) bringen in diesem Sinn am Beispiel der Mapuche die indigene Fähigkeit zur Integration externer kultureller Elemente sogar mit Praktiken wie Krieg und Exokannibalismus in Zusammenhang. Dabei stellt Boccara fest: „Die indigene soziale Maschinerie [Sozialstruktur, G.R.] erlaubt nicht nur die Vermischung, sondern sie braucht sie. D.h. sie braucht die Mestizaje, sie speist sich aus dem Anderen (über kriegerische oder schamanische Institutionen) um ihr Selbst zu bilden. Das Mestizische ist in diesem Fall das Indigene.“ (Boccara 2000, 28 [zitiert nach Kaltmeier 2004, 37]). Dies äußert sich weiterhin in einer gewissen Gewöhnung an den Umgang mit Transkulturalität innerhalb der eigenen Lebenswelt und in einer Flexibilität, mit der sowohl auf äußere Einflüsse reagiert als auch eine Anpassung an neue 41 Dies ist die Selbstbezeichnung der indigenen Gruppe, die im Valle del Mezquital und angrenzenden Regionen lebt. Teilweise wird sie noch mit dem früher üblichen Namen Otomí bezeichnet, was allerdings eine pejorative ursprünglich aztekische Fremdbezeichnung ist. Linguistisch wird dieser Name aber weiterhin für eine Teilgruppe der Otopame-Sprachen genutzt. Als solche sind sie nach Maya- und Nahuatl-SprecherInnen eine der größten indigenen Gruppen Mexikos. Siehe zu Geschichte und Kultur dieser Gruppe Lastra (2006), Dow (1975) und Granberg (1970).

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Kontexte erreicht werden kann. Besagte Grenzräume dürfen aber nicht rein territorial gedacht werden, sondern es geht immer auch um Sozialräume. Gerade unter heutigen Bedingungen wachsender globaler Verflechtung und der Transnationalisierung von Vergesellschaftungsprozessen gewinnt diese Dimension an Relevanz. Denn Indigene sind fortwährend mit „fremden“ sozialen Kontexten konfrontiert, in denen sie sich Fremdzuschreibungen gegenüber positionieren müssen. Sobald sie ihren eigenen sozialen Raum verlassen, werden sie zur Aushandlung von Identität und Positionierung gezwungen, da sie in Räume mit mehr oder weniger abweichenden sozialen Regeln und kultureller Logik eintreten. Dieser Prozess setzt bspw. bei Verlassen ihrer Dorfgemeinschaft ein und gewinnt in internen wie grenzüberschreitenden Migrationsprozessen an Komplexität, ein Aspekt, den Stephen (2007) in ihrem Transborder-Ansatz aufnimmt. Gleichzeitig erkennen viele Angehörige indigener Gruppen in Interaktionen an diesen Interfaces, welchen Wert die Quasi-Autonomie ihrer eigenen Gemeinschaften haben kann (vgl. Kap. 6.1.2). Sie bietet nicht nur einen Rückzugsraum, in dem ihre eigenen Handlungslogiken gelten, sondern dort kann die kulturelle Aneignung ausgehandelt werden. Dieser für meine Arbeit wesentliche Aspekt führt in der Verbindung von Autonomie und Transnationalität zur Erweiterung des kulturellen Hintergrunds indigener Gruppen bzw. ihres kulturell bedingten sozialen Handlungsrepertoires, auch wenn dies den indigenen Akteuren selbst eher selten bewusst ist. Paradoxerweise wird der gesellschaftlich marginalisierte Eigenraum indigener Gruppen so im Alltag zu einem Ort kulturellen Austausches und identitärer Neubewertung. 1.2.3 Migration und transräumliche Konfigurationen Ein weiteres wichtiges Element für sozialen und politischen Wandel in meinem Untersuchungsfeld sind diverse Arten von Migrationsprozessen sowie neue transräumliche soziale Formationen. Grundsätzlich sind Migration und Transnationalisierung von großer Bedeutung in Mexiko. Bereits seit der Kolonialzeit gab es größere Migrationsströme und später wurde Migration für viele Menschen Teil ihres Alltags indem sie bspw. regelmäßig zu Arbeitsmöglichkeiten in Städte oder zur Erntesaison in landwirtschaftliche Gebiete zogen. Eine besondere Dimension erhielt Migration in Mexiko durch die Beziehungen zu den USA. In Folge der Annexion eines Großteils des mexikanischen Territoriums im Jahr 1848 durch die USA nach dem Krieg zwischen beiden Ländern, entstanden grenzüberschreitende Beziehungen, die durch Migrationsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert verstärkt wurden. Seit etwa drei Jahrzehnten hat diese Migration deutlich zugenommen und einen verstärkt transnationalen Charakter gewonnen. So wird in diesem Kontext mittlerweile von einer transnationalen Vergesellschaftung gesprochen. Mit der sozialen geht eine große ökonomische Bedeutung einher, denn auch wenn die Remissen aufgrund der Wirtschaftskrise

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in den USA in den letzten Jahren zurückgehen, sorgen sie doch weiterhin für den größten Devisenzufluss nach Tourismus und Erdölproduktion. Besonders für viele Menschen im ländlichen Raum stellen diese Geldüberweisungen einen zentralen Bestandteil ihres Einkommens dar. Daraus ergibt sich eine politische Dimension, die im Kern dem ursprünglichen Konzept des Transnationalismus entspricht (Basch/GlickSchiller/Szanton-Blanc 1994; Glick-Schiller/Basch/Szanton-Blanc 1992). Politiker bemühen sich, eine Abkehr der MigrantInnen von ihrer „Heimat“ zu verhindern, nicht zuletzt um ökonomische Vorteile zu wahren oder politisch von der Situation zu profitieren. Dazu gehören Programme, die MigrantInnen einen Anreiz bieten sollen, in Mexiko zu investieren oder Projekte durchzuführen, um die Entwicklung ihrer Heimatregionen zu fördern. Gleichzeitig werden aber auch MigrantInnen im Rahmen transnationaler Politik aktiv und transnationale Flüsse von Ideen, Vorstellungen und Werten erleichtern Veränderungen der Politik in Mexiko, insbesondere der Lokalpolitik. Eine transräumliche Perspektive, die sich nicht durch gesellschaftlich konstruierte Grenzen einschränken lässt, ist notwendig, um die Vielfalt der Prozesse zu erfassen, die über vorgeblich lokal oder national beschränkte Einheiten hinausreichen. Mit ihr kann ein Container-Denken überwunden und soziale Prozesse entdeckt werden, welche die Grenzen dieser vorgeblich weitgehend abgeschlossenen Einheiten durchstoßen (Faist 2012; Pries 2001; 2008a). Diesem Denken in fest umrissenen Einheiten waren Gesellschaftswissenschaften aus wissenschaftshistorischen Gründen lange verhaftet. Dies traf gerade auch auf die Soziologie und die Sozialanthropologie zu, in denen mittlerweile ein Umdenken stattfindet. Erstere verstand sich sehr lange als eine Soziologie von Nationalgesellschaften und blieb damit im Denkschema des methodologischen Nationalismus (Wimmer/Glick-Schiller 2003), gemäß dem die Welt in abgeschlossenen nationalen Einheiten organisiert ist, die jeweils über eigene Nationalgesellschaften, -territorien und -kulturen verfügen. Soziale, kulturelle, ökonomische u.a. Prozesse wurden damit als vorrangig auf einen nationalen Kontext beschränkt betrachtet und alles, was dessen Grenzen überwand, wurde als Spezialfall oder Abweichung angesehen. In der (Sozial-)Anthropologie wiederum existierte anfangs eine Vorstellung von lokal begrenzten Forschungsfeldern, die oft als autochthone Einheiten ohne Bezug zu der sie umgebenden Welt angesehen wurden. Dies erwuchs ursprünglich aus einer Perspektive, in der die „Beforschten“ a priori als gegensätzlich zu europäischen Gesellschaften, als das exotische Andere definiert wurden. Dabei wurden sie oft entsprechend der Annahme eines zivilisatorischen Entwicklungsstandes in Bezug auf Europa eingeordnet. So entstand die Vorstellung von authentischen, weitgehend isolierten sozialen und kulturellen Einheiten, die auf ihren spezifischen Charakter hin untersucht werden konnten. Zwar trat die eurozentrische Selbstbestätigung der vorgeblichen kulturellen Überlegenheit in den Hintergrund, aber statt bspw. universelle Muster zu suchen, wurden die beforschten Gruppen weiter essentialisiert. Allerdings forschten auch sozialanthropologische Klassiker wie

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Malinowski, Evans-Pritchard und Barth bereits mobil oder berücksichtigten Verbindungen aus der Lokalität heraus. Sie brachen aber nicht grundlegend mit der lokal gebundenen Konzeptualisierung ihrer Forschungsfelder (Rescher 2010). Jedoch begannen Angehörige der Disziplin, ihre Forschungs- und Analyseansätze kritisch zu hinterfragen, wodurch heute SozialanthropologInnen Prozessen untersuchen, die lokale Begrenzungen durchbrechen. In diesen Forschungsfeldern wird immer deutlicher, dass keine isolierten Lokalitäten und Gruppen existieren, erst recht nicht in Zeiten fortschreitender globaler Verflechtung. Einen wichtigen Ausdruck fand die Notwendigkeit der Untersuchung solch grenzüberschreitender Phänomene in den aufkommenden Transnationalismus-Ansätzen, die anfangs aus einer Kombination beider Disziplinen erwuchsen. So war der ursprüngliche Transnationalismus-Ansatz eine von Glick-Schiller, Basch und Szanton-Blanc (1992) unter Rückgriff auf Wallersteins Weltsystemtheorie entwickelte Forschungsperspektive. Sie sollte Migrationsphänomene erklären, die mit klassischen Konzepten und Vorstellungen nicht ausreichend zu analysieren waren. Dieser Ansatz wurde breit rezipiert und aus unterschiedlichen Perspektiven angewandt. Transnationalisierung fokussiert bspw. Prozesse transnationaler Vergesellschaftung und Transnationalität Ausprägungen existierender Phänomene. Aus diesem theoretischen Hintergrund heraus wird eine Vielfalt an konkreten Feldern bearbeitet, wie z.B. transnationale Migration, Gemeinschaften, Arbeitsverhältnisse, Politik, Familienbeziehungen, Fragen von Integration, Organisationen, soziale Bewegungen usw. Obwohl die so entstandenen Ansätze eine Vielfalt an Transnationalitätskonzepten widerspiegeln und daher nicht von einem einheitlichen Theoriekorpus oder einer übergreifenden Transnationalismus-Theorie gesprochen werden kann, existieren doch wichtige Gemeinsamkeiten. Entscheidend ist ein analytischer Blick, der nicht an nationalstaatlichen Grenzen endet. Unter diesem ist es möglich, ganz unterschiedliche Phänomene unter Berücksichtigung ihrer grenzüberschreitenden Vernetzungen zu untersuchen. Daher wird letztlich auch der Anspruch formuliert, dass jegliche Sozialwissenschaft diese transnationale Dimension berücksichtigen müsse, damit die Forschungsperspektive nicht künstlich eingeschränkt und damit wichtige Prozesse übersehen werden (Faist 2012). So fordern Glick-Schiller und Levitt bspw. dazu auf, allgemein die Simultanität von Prozessen an verschiedenen geographischen Orten zu berücksichtigen (Levitt/Glick-Schiller 2004).42 Eine solche Perspektive kann gut mit der beschriebenen entwicklungssoziologischen Herangehensweise kombiniert werden, die sich nicht künstlich einengen lässt, sondern immer Verbindungen und Schnittstellen zu anderen Orten und v.a. Ebenen sozialer Organisation sucht. Denn diese müssen einbezogen werden, um untersuchte

42

Siehe zum Wandel der (sozialwissenschaftlichen) Konzeptualisierung von Migration Pries (2001a).

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Prozesse angemessen einordnen und beurteilen zu können. Diese Erkenntnis ist zentral für Translokalitätsansätze, die erstens die Bedeutung von (sozialen) Lokalitäten für die Konstruktion größerer Phänomene betonen (Appadurai 1995; Freitag/Oppen 2009; Lachenmann/Dannecker 2008). Sie gehen davon aus, dass Interaktionen und Aushandlungsprozesse, die übergeordnete Strukturen schaffen und verändern, immer an konkreten Lokalitäten stattfinden. Da sie viele der zu beobachtenden Vernetzungen eher als Verflechtung von Lokalitäten sehen, werden diese hervorgehoben statt vorrangig auf Nationen zu rekurrieren. Zweitens begreifen Translokalitäts-Ansätze Lokalitäten nicht nur in einem geographisch räumlichen Sinn oder als bloße lokale Verankerung von Sozialräumen. Lokalitäten werden auf allen Ebenen sozialer Organisation gesehen und damit bspw. auch an „Orten“, die der nationalen oder globalen Ebene zugerechnet werden. So entsteht ein multidimensionales Geflecht der Verbindungen diverser Arten von Lokalitäten an geographischen und sozialen „Orten“ auf verschiedenen Ebenen (Lachenmann 2010; 2012). Eine ähnliche Perspektive liegt auch dem oben genannten Transborder-Ansatz zugrunde, wobei dieser weniger an einer raumtheoretischen Diskussion interessiert ist und sich vor allem auf die Positionierung von Akteursgruppen konzentriert (Stephen 2007). In der vorliegenden Arbeit werden die drei genannten Arten von „Trans-Ansätzen“ für die Analyse herangezogen, je nachdem welche der vorrangig theoretisierten Zusammenhänge in der Interpretation eines Prozesses relevant sind. So ist in manchen Fällen entscheidend, dass nationale Grenzen gekreuzt werden oder nationale Aktivitäten jenseits der Grenzen der entsprechenden Nation stattfinden. Für andere soziale Prozesse ist aber wiederum die lokal basierte Verflechtung oder die soziale Positionierung in konkreten Interaktionssituationen und -kontexten relevanter. Beiträge zu Migrationsstudien und Trans-Ansätzen Bei der Rezeption der Transnationalitätsansätze wird des Öfteren eine angeblich zu positive Sichtweise auf die zugrunde liegenden Prozesse bemängelt. So wurde während meiner Forschung bei einer Diskussion an der Universidad Autónoma del Estado de Hidalgo (UAEH) die Kritik geäußert, dass solche Ansätze zwar eine wichtige Perspektive eröffneten und sicherlich Phänomene ins Blickfeld rückten, die sonst übersehen würden. Allerdings sei es doch eine Art „Disneyland der Migration“, eine rosarot gefärbte Sichtweise, in der positive Aspekte im Vordergrund stünden, während alles Negative und insbesondere das Leid der MigrantInnen ausgeblendet würde. In Bezug auf manche Studien, die es versäumen, ihre Ergebnisse ausreichend zu kontextualisieren, ist diese Kritik sicher berechtigt. Der Großteil besonders der theoretisch grundlegenden Schriften tappt allerdings nicht in diese Falle. So beschreibt bspw. das klassische Konzept des Transnationalismus nach Glick-Schiller et al. wie versucht wird, politische Macht abzusichern und ggf. Migration zu instrumentalisieren. Diese Ansätze stehen aber einer rein negativen und problemfixierten Sichtweise auf Migration entgegen, in der MigrantInnen keine Handlungsmacht (Giddens 1992)

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zugestanden wird. Ein solche Perspektive, in der MigrantInnen eher als Opfer der Verhältnisse und Migration als Quelle einer Vielzahl von Problemen konzeptualisiert werden, war in Mexiko lange verbreitet und spiegelte sich in öffentlichen, politischen und akademischen Diskursen wider. Dementsprechend soll diese Arbeit einen Beitrag zur differenzierteren Analyse von Migrationsprozessen in transnationalen und -lokalen Räumen leisten. Darüber hinaus will die vorliegende Studie daran mitwirken, auf empirisch fundierter Grundlage Migrationsstudien, auch solche aus transnationaler Perspektive, in verschiedene Richtungen zu erweitern. Trotz der relativ großen Themenvielfalt in der Migrations- und der Transnationalisierungsforschung sind bestimmte Bereiche wenig untersucht worden, während es einen starken Fokus auf andere gibt. So ist erstens festzustellen, dass sich viele Studien auf Migrationsprozesse zwischen sogenannten Entwicklungsländern und Ländern des globalen Nordens konzentrieren. Reine SüdSüd-Migration wird eher außer Acht gelassen, obwohl sie den größten Teil der weltweiten Migrationsflüsse und damit wohl auch der migrationsbasierten transnationalen Prozesse umfasst. Zudem wird in der Untersuchung von Süd-Nord-Migration oft eine Nord-Perspektive deutlich. Viele Studien setzen trotz des transnationalen Ansatzes analytisch eher aus Richtung der Ankunftsstaaten und -regionen an, was sicherlich in der eigenen Verortung der WissenschaftlerInnen, den Möglichkeiten Zugang zu gewinnen und in Interessen und Anliegen der Forschungsförderung begründet ist. In dieser Arbeit wurde bewusst der umgekehrte Weg gewählt und die Studie ausgehend von längeren Feldforschungsaufenthalten in Mexiko angelegt, die erst später durch Einblicke in die Situation in den USA ergänzt wurden. Zweitens lässt sich feststellen, dass bestimmte Migrationskomplexe oder Regionen zu bevorzugten Untersuchungsgegenständen geworden sind, die als bekannte und in der Literatur präsente Felder eher zum Schwerpunkt neuer Untersuchungen werden, wie eben die Migration zwischen Mexiko und den USA. Denn gerade im Feld transnationaler Migration gelten sie als paradigmatisch, da viele Ansätze auf ihrer Grundlage entwickelt wurden. Aber auch innerhalb bestimmter Migrationsprozesse bestehen Schwerpunkte, wie z.B. im Fall Mexikos die Regionen Oaxaca und Zacatecas, oder bei der Migration von Indigenen die Otavalos in Ecuador und die Mixteken in Mexiko. So können manche transnationalen Räume zwar als überforscht gelten, liefern aber in jedem Fall den Hintergrund für einen wichtigen Paradigmenwechsel. Problematisch ist es, wenn solche Fälle als allgemeingültig betrachtet und ohne systematischen Vergleich Schlüsse auf andere Gruppen bzw. Regionen gezogen werden. Mittlerweile fächert sich das Forschungsinteresse aber weiter auf, wozu auch diese Arbeit beitragen soll, indem eine wenig untersuchte Region als Forschungsfeld gewählt wurde. Ein dritter Punkt, an dem diese Studie bisherige Annahmen erweitern möchte, bezieht sich auf die Betrachtung der Organisationsformen von MigrantInnen. In den

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Transnationalitätsstudien wurde lange ein starker Fokus auf formale MigrantInnenorganisationen als Ausdruck transnationaler politischer Betätigung, einer Verstetigung transnationaler Netzwerke sowie als Grundlage für Entwicklungsförderung durch MigrantInnen gelegt (vgl. Kap. 7.5).43 Um die dabei gewonnenen bedeutenden Erkenntnisse zu ergänzen, ist die Analyse anderer Organisationsformen und deren Bedeutung für politische und Entwicklungsprozesse ein Schwerpunkt dieser Arbeit. Und schließlich stellt die Beschäftigung mit der Migration von Angehörigen ethnischer Gruppen ein besonders Feld dar. Zu diesem Forschungsfeld existieren relativ wenig Studien, die aber darauf hindeuten, dass Migrationsprozesse und die Entstehung transnationaler bzw. translokaler Gemeinschaften bei MigrantInnen aus indigenen Kontexten Besonderheiten aufweisen, die sich von entsprechenden Prozessen bei anderen MigrantInnengruppen unterscheiden. Dazu gehört einerseits die besondere gesellschaftliche Kategorisierung, die in der Migration meist erhalten bleibt, translokal übermittelt wird (s.o.) und sich mit anderen Ungleichheitskategorien verbinden kann. Daher sind indigene MigrantInnen öfter einer multidimensionalen Diskriminierung ausgesetzt. Andererseits wird ihr kultureller Hintergrund als bedeutende Ressource angesehen, die von MigrantInnen genutzt wird, um erfolgreich translokale Verbindungen aufrecht zu erhalten, sich schneller im Ankunftsland zu etablieren und besonders dichte translokale Räume zu schaffen. Oft wird dies mit einem nicht näher bestimmten kulturellen Element begründet, das genauer zu analysieren bleibt. Meine Forschung weist darauf hin, dass möglicherweise der hohe Stellenwert von Gemeinschaft und eine alltägliche Gewöhnung indigener MigrantInnen an deren transnationale Dimension zu den in der Literatur beschriebenen Prozessen führen. Entsprechend ist es gerade in diesem Feld notwendig, nicht nur formale Migrantenorganisationen, sondern weniger formalisierte, teils alltägliche Formen von Organisation und Vergemeinschaftung zu untersuchen. 1.2.4 Gemeinschaft und Bürgerschaft Zwei weitere für diese Arbeit relevante Aspekte sind Konzepte von Gemeinschaft und von Bürgerschaft. Beide werden aktuell bspw. in der allgemeinen Soziologie und der Transnationalisierungsliteratur (s. Faist 2011; 1998, 221f.; Portes 2000; 1996; Pries 2008a, 190f.) diskutiert, stellen aber gerade im Fall der Gemeinschaft auch klassische soziologische Debatten dar (vgl. John 2008). Die Sichtweisen in der mexikanischen Gesellschaft entsprechen durchaus Annahmen der klassischen Soziologie. So wie verschiedene Klassiker, insbesondere Tönnies (1912), davon ausgehen, dass die Gemeinschaft in sog. modernen Gesellschaften an Bedeutung verliert und in diesen aufgeht, so werden speziell indigene Gemeinschaften in Mexiko oft als traditionelles Relikt angesehen, das nach erfolgreicher Assimilation der Indigenen verschwinden 43 Siehe zur Bedeutung dieser Studien die Beiträge in Pries (2008b)

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wird. Allerdings beruhen viele politische und administrative Prozesse gerade auf der sozialen und quasi-administrativen Einheit der Comunidad44, sodass sie de facto anerkannt ist. Trotzdem haftet ihr ein Stigma mangelnder Modernität an. Demgegenüber stellen einige aktuelle Theoretiker, allen voran die Communalistas, Gemeinschaft ins Zentrum ihrer Überlegungen zu gesellschaftlicher Entwicklung und sehen sie als Basis der Suche nach einer alternativen sozialen Ordnung. Auf einer abstrakteren Ebene sind sie mit sog. dekolonialen Ansätzen verbunden, die sich bei dem Versuch, eigene Entwicklungen des globalen Südens herauszuarbeiten, auch auf die Bedeutung „lokaler“ Gemeinschaften beziehen (s. Esteva 2010; Grosfoguel 2011). Zudem zeigen diverse Studien, welche Bedeutung Gemeinschaft in Mexiko in unterschiedlichen, insbesondere migrantischen und indigenen Kontexten hat (s. Lisbona 2005; Martínez 2006; Sierra 1987; Smith 2006; Velasco Ortiz 2002). Gerade in Mexiko haben Debatten über Gemeinschaft als zentrales Element von Gesellschaft eine lange Tradition. Entsprechende Vorstellungen wurden bereits im vorrevolutionären Kontext um die vorletzte Jahrhundertwende diskutiert. Dazu zählen eher praktische Ansätze wie die der (ursprünglichen) Zapatisten, die als (indigene) Kleinbauern in Dorfgemeinschaften organisiert waren. Ihr revolutionäres Engagement erwuchs besonders aus der Verteidigung dieser Organisationsform und ihrer Lebensweise. Die ihnen oft zugeschriebene programmatische Parole „Tierra y Libertad!“45 übernahmen sie jedoch von Ricardo Flores Magón, einem Theoretiker und Aktivisten, der sich in seinen philosophischen Schriften auch mit der Vision einer auf kleineren Gemeinschaften beruhenden sozialen Organisation befasste, bei denen er sich indigene Dorfgemeinschaften zum Vorbild nahm. Der nach ihm benannte Magonismo wird in den letzten Jahren wieder stärker rezipiert (Magón 1980; Magón/Bufe/Verter 2005; Magón/Zertuche 1995). Wie die Konzepte von Gemeinschaft wird auch Bürgerschaft sowohl allgemein theoretisch, als auch im Kontext von Migrationsbewegungen diskutiert. In Studien zu Transnationalität gilt sie häufig als Indiz einer Institutionalisierung von Transnationalität sowie als Mechanismus, der diese fördert, da formale gesellschaftliche Mitgliedschaften ermöglicht werden. Ein Beispiel dafür ist der erleichterte Erwerb doppelter Staatsbürgerschaften (Faist 2011; Kivisto/Faist 2007). In verschiedenen Studien, die sich mit der Position von MigrantInnen in den USA befassen, geht es insbesondere darum, Situationen zu analysieren, in denen de facto eine Art Bürgerschaft praktiziert wird, obwohl sie keine formale Grundlage hat. So entstanden Konzepte von flexibler Bürgerschaft (Ong 1999) oder kultureller Bürgerschaft (Ong 1996; Rosaldo 2003; 1997), um der sozialen Realität von Minderheiten gerecht zu werden.

44 Comunidad bedeutet allgemein Gemeinschaft, hier aber konkreter (indigene) Dorfgemeinschaft. 45 „Land und Freiheit!“

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Dadurch inspiriert entstand in Mexiko eine kleinere Debatte, bei der es um das Verhältnis indigener Bürgerschaftsmodelle zur nationalstaatlichen Bürgerschaft geht (Peña 1995; 1999b; Tamayo 2006). Diese Diskussion wird oft als Teil einer breiteren Debatte über den Umgang mit Rechtspluralismus in Mexiko geführt, da die spezifischen Rechte an die jeweilige Bürgerschaft gekoppelt sind (s. Calvo/Méndez 1995). In dieser Arbeit sind sowohl Gemeinschaft als auch Bürgerschaft in ihren Ausprägungen bei indigenen Gruppen von Bedeutung, wo sie im Zentrum des untersuchten sozialen und politischen Wandels stehen. So kann diese Studie mit einem Perspektivwechsel einen Beitrag zu den entsprechenden Debatten leisten.

1.3 D AS V ALLE DEL M EZQUITAL : E IN FRÜHES F ELD DER F ORSCHUNG UND E NTWICKLUNGSPOLITIK Das Valle del Mezquital wurde, obwohl es eine Debatte um seine genaue Ausdehnung gibt, zum Sinnbild für Armut. Es galt lange Zeit als marginalisiert, arm und unterentwickelt und war das Ziel vielfältiger Entwicklungsinterventionen und -experimente des mexikanischen Staates. Der Grund hierfür liegt zum einen darin, dass es unter den als unterentwickelt kategorisierten Regionen Mexiko-Stadt am nächsten liegt und dadurch den Städtern präsenter war als andere. Armut wurde hier für die Angehörigen der städtischen Mittelschicht sichtbar. Gängigen Stereotypen entsprechend wurde diese oft mit dem ethnischen Hintergrund in Verbindung gebracht, da die meisten Bewohner der Region der indigenen Gruppe der Hñähñu angehören. Zum anderen gab es seit den 1960er Jahren soziale Bewegungen in der Region. Deren erhebliche soziale Sprengkraft sollte u.a. durch Entwicklungsprogramme und -projekte und spezielle Organisationen entschärft werden, die der Logik des mexikanischen politischen Systems entsprechend sowohl als Instanz für die Vertretung und Unterstützung der ländlichen Bevölkerung, als auch ihrer Kooptation dienen sollten. So entstand ein Bild vom Valle del Mezquital als einer der Staatspartei PRI stark verbundenen und von klientelistischen Netzwerken durchdrungenen Region. Die wichtigsten ökonomischen Tätigkeiten waren in der Vergangenheit die Fertigung handwerklicher Produkte, in manchen Gebieten Zuarbeit für lokale Minen, Eisenverarbeitung und Handel. Darin ist deutlich das Erbe der Kolonialwirtschaft zu erkennen. Aufgrund der ungünstigen klimatischen und geographischen Bedingungen kam der Landwirtschaft oft nur eine nachgeordnete Bedeutung zu (s.u.). Zugleich arbeiteten viele Bewohner in den nächstgrößeren Städten, besonders in MexikoStadt, auf dem Bau und als Hausmädchen. In den letzten Jahren sind diese Tätigkeiten

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durch die Migration in die USA und in kleinerem Ausmaß den Verkauf von Kunsthandwerk und touristische Angebote, wie z.B. Schwimmbäder mit Thermalquellen, ergänzt bzw. abgelöst worden. 1.3.1 Das Valle del Mezquital als Forschungsfeld Aufgrund seiner exemplarischen Bedeutung als unterentwickelte Region, die zum Versuchsfeld nationaler Entwicklungspolitik wurde, zog das Valle del Mezquital auch wissenschaftliches Interesse auf sich. Dieses lässt sich in unterschiedliche Phasen unterteilen. Wie bereits erwähnt bestand in den 1950er Jahren anfänglich ein vorwiegend journalistisches Interesse, das sich aus der Empörung über die Situation der Bevölkerung speiste. Als dann erste Entwicklungsprogramme aufgelegt wurden, begleiteten ethnologische Studien diesen Prozess, vorwiegend aus dem Geist des Indigenismo (s.o.) heraus, die in den 1960er Jahren in ein breites wissenschaftliches Interesse für die Region mündeten. WissenschaftlerInnen mit neomarxistischem Hintergrund befassten sich mit Lebens- und Produktionsbedingungen in der Region, der kleinbäuerlichen Landbevölkerung, sozialen Konflikten und den Folgen der Entwicklungsinterventionen. Darunter fanden sich viele prominente WissenschaftlerInnen, die heute mit anderen Regionen Mexikos in Verbindung gebracht werden, aber hier ihre Laufbahn als ForscherInnen begannen. So fanden bspw. viele Summer Schools zum Erwerb praktischer Forschungserfahrungen statt. Diese wurden durch Angehörige der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM), aber auch durch US-amerikanische Universitäten organisiert. Diese Phase dauerte bis in die 1980er Jahre an, wobei seit den 1970er Jahren das Interesse für Alltagsleben, Organisationsformen, Politik und Machtbeziehungen sowie die Kultur wuchs. Zum einen spielten hier linguistische Interessen eine Rolle, besonders seitens Trägerorganisationen wie dem protestantischen „Summer Institute for Linguistics“. Zum anderen wurde eine Vielzahl an lebensweltlich (Schütz/Luckmann 1975) und narrativ-biographisch orientierten Studien in der Tradition von Fritz Schütze (1977) u.a. von mehreren deutschen WissenschaftlerInnen durchgeführt (z.B. Appel 2005; 2001; Bögemann-Hagedorn 1998, Nadig 1997). Aus dieser Zeit stammen auch aufschlussreiche Texte von Maestros Bilingües, die unter Reflexion ihrer eigenen Position die Lage der LandbewohnerInnen in der Region analysierten (Claro/Botho 1982). Diese Situation intensiver Forschungstätigkeit, wenn nicht gar Überforschung, spiegelt sich in dem damals geläufigen Scherz wider, dass eine typische Familie im Valle del Mezquital aus Vater, Mutter, Kindern und einem Anthropologen bestehe. Seit den 1980er Jahren schwand das sozialwissenschaftliche Interesse an der Region, die Zahl der Studien sank und schließlich wurde das Valle del Mezquital vorwiegend zu einem prominenten Forschungsfeld für Naturwissenschaftler, die sich mit den Folgen der künstlichen Bewässerung befassten. In der Gegenwart besteht eine

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wichtige Neuerung darin, dass Menschen aus dem Valle del Mezquital nicht mehr nur „Forschungsobjekte“, sondern selbst als WissenschaftlerInnen eingebunden sind. Aktuell sind die Forschungsinteressen differenzierter und beziehen sich meist auf einzelne Bereiche, unter denen die Beschäftigung mit Migration, Tourismus, demographischer und ökonomischer Entwicklung hervorstechen. Allerdings finden sich kaum Studien aus einer übergreifenden Sichtweise, die mehrere Elemente verbindet bzw. eingehend kontextualisiert. Dies ist u.a. darauf zurückzuführen, dass im Vergleich zu früheren Forschungen kaum auf Erhebungsverfahren zurückgegriffen wird, die wie ein ethnographisches Vorgehen eine längere Kopräsenz und damit eine stärkere Annäherung an das Feld beinhalten. Zudem liegen bspw. vielen Untersuchungen zu Migration oder Entwicklung eher klassische Ansätze zugrunde. Hier soll die vorliegende Arbeit dazu beitragen, den analytischen und theoretischen Rahmen der Studien im Valle del Mezquital zu erweitern. 1.3.2 Die gesellschaftliche Konstruktion des Valle del Mezquital: die Relevanz unterschiedlicher Bilder Die gesellschaftliche Wahrnehmung und Konstruktion des Valle del Mezquital lässt sich in drei teils miteinander verwobene Richtungen unterteilen, die für den hier untersuchten Themenkomplex relevant sind. Das bereits angesprochene Bild einer armen und unterentwickelten bzw. rückständigen Region führt politisch zur Vorstellung eines Gebiets, das von klientelistischen Netzwerken durchzogen ist und in dem Politik auf un- oder sogar antidemokratische Weise praktiziert wird. Ein weiteres Bild scheint auf den ersten Blick in Widerspruch zu den ersten beiden zu stehen. Es zeichnet das Valle del Mezquital als Ort sozialer Konflikte, Proteste und sogar der Rebellion. Diese Vorstellungen beeinflussen einerseits, wie soziale Akteure in der Region konzeptualisiert werden, andererseits entstanden sie nicht zuletzt in Aushandlungsprozessen mit der lokalen Bevölkerung. Sie sind also auch Ergebnis politisch relevanter Interaktionen und Selbst-Repräsentationen und wurden im Rahmen der Handlungslogiken und Strategien lokaler Akteure in öffentliche Diskurse eingebracht. Dies geschah, obwohl der Bevölkerung in einer stereotypen Betrachtungsweise Handlungsmacht abgesprochen und die genannten Bilder als eine rein externe Zuschreibung betrachtet werden. So können diese voreingenommenen Sichtweisen dazu führen, dass ein mögliches „Klima des Wandels“ übersehen wird. Die arme Region Dieses ist sicherlich die am weitesten verbreitete und damit bekannteste Vorstellung. Sie hängt eng mit den geographischen und klimatischen Bedingungen in der Region zusammen. Externe Beobachter haben in der Regel zunächst den Eindruck eines tro-

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ckenen und eher unfruchtbaren Landstrichs. Diese Trockenheit ist trotz der künstlichen Bewässerung sichtbar und weite Teile der Region können aufgrund ihrer Höhe nicht bewässert werden. Dort finden landwirtschaftliche Aktivitäten vorwiegend als Subsistenzlandwirtschaft statt, die von unregelmäßigen Regenfällen abhängt und durch die bergige Landschaft sowie geringe Größe der Parzellen eingeschränkt ist. Obwohl die hier praktizierte Form der Bewirtschaftung in Mischkulturen, den sogenannten Milpas, in Kombination mit Kleinviehhaltung, den topographischen und klimatischen Bedingungen gut angepasst ist, wurde sie unter dem Einfluss der modernistischen Agrarpolitik, die eine Industrialisierung der mexikanischen Landwirtschaft anstrebt, als rückständig stigmatisiert. Darauf beruht die Vorstellung, dass ein erfolgreiches Wirtschaften nur im Einflussbereich der Bewässerungssysteme in den Tallagen möglich ist. Gerade dies ist aber problematisch, da die Bewässerung, lange Zeit ein Sinnbild für Modernität und Entwicklung in der Region, mit stark belasteten Abwässern aus Mexiko-Stadt stattfindet, die ein Gesundheitsrisiko darstellen. Zudem hat die künstliche Bewässerung zu Versalzung und Verarmung des Bodens sowie Versumpfung einiger tiefgelegener Gebiete geführt. So ist hohe ökologische Belastung Teil des Bildes der armen Region. Gleichzeitig existiert kaum Industrie, rechnet man den Bereich um die Stadt Tula nicht zum Valle del Mezquital, sogar gar keine. Diese Konzeptualisierung führt zu der o.g. Position des Valle del Mezquital als Laboratorium für staatliche Entwicklungsprojekte. Die entsprechenden Programme waren immer wieder durch die vorherrschende Sichtweise der Beziehung zwischen Nationalgesellschaft und indigenen Gruppen geprägt. Denn die Ethnizität der lokalen Bevölkerung hatte wie oben diskutiert eine starke politische Dimension gewonnen. Dazu gehörte, dass die Region seit den 1930er Jahren aus Perspektive des Indigenismo als sogenannte Región de Refugio (Rückzugsraum) im Sinne Aguirre Beltráns (1991 [1967]) betrachtet wurde. Damit war die Auffassung verbunden, dass sich indigene Gruppen hierher zurückgezogen hatten, um zunächst den europäischen Kolonisatoren und später den Einflüssen des mexikanischen Staates zu entkommen. Aus dieser Annahme heraus versuchte die indigenistische Politik Indigene in die Gesellschaft einzubinden, wobei beachtet werden muss, dass eigentlich gerade das Valle del Mezquital zu den Regionen gehört, in denen bereits früh Beziehungen zwischen Kolonisatoren und Indigenen verfestigt wurden (s.o.). Die ersten größeren Aktivitäten zur „Entwicklung“ der Region fanden im Rahmen des Indigenismo statt und verfolgten daher immer auch das Ziel einer Assimilation. Dies geschah aufgrund einer direkten Intervention des Staatspräsidenten Cárdenas und hing mit der Verbreitung eines bestimmten Bildes der Region durch die Novelle „La nube esteril“ (Die sterile Wolke) (Rodríguez 1952) zusammen.46

46 Bezeichnenderweise fand der erste der weiter oben angesprochenen Congresos Regionales Indígenas im September 1936 in Ixmiquilpan im Valle del Mezquital statt (Dawson 2004,

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Diese Phase führte aber auch zu Veränderungen, die der Bevölkerung langfristig nutzten. So wurden zu verschiedenen Zeitpunkten Landreformen in der Region umgesetzt, von denen viele KleinbäuerInnen noch heute profitieren. Des Weiteren wurde das PIVM als Organisation gegründet, die speziell die Entwicklung des Valle del Mezquital fördern sollte. Für die damalige Zeit eher unüblich handelte es sich um eine dezentrale und damit weitgehend eigenständige Institution, die formal direkt der nationalstaatlichen Ebene unterstand. Dadurch war sie weitgehend unabhängig und konnte weder von regionalen noch lokalen Politikern für ihre Zwecke instrumentalisiert werden. Zudem verfügte das PIVM über ein zeitweise sehr hohes Budget, das die Mittel der bundesstaatlichen Entwicklungsbehörde deutlich überstieg. Dies ermöglichte einerseits eine relativ erfolgreiche Arbeit, die zu bestimmten Verbesserungen im Valle del Mezquital führte, wenn auch nur in manchen Gebieten, da vorrangig Projekte in den Ixmiquilpan47 am nächsten gelegenen Dörfern unterstützt wurden. Trotzdem ist das PIVM vielen Menschen in der Region noch in Erinnerung und gilt als (idealisiertes) Sinnbild einer unabhängigen staatlichen Organisation, die sich für das Wohl der Menschen eingesetzt hat. Andererseits zogen ihre Ressourcen und Machtfülle den Neid führender Politiker des Bundesstaates Hidalgo auf sich und sie wurde aufgrund ihrer relativen Unabhängigkeit als Gefahr angesehen. Dies führte letztlich zur Zerschlagung. In beiderlei Hinsicht ähnelt ihr heute die Position der Nachfolgerin des INI, der Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas (CDI)48, die ebenfalls eine bundesstaatliche Institution ist. Des Weiteren initiierte die Politik des Indigenismo die bilinguale Bildung, die darauf abzielte, die indigenen Gruppen des Landes in die mestizische Gesellschaft des „modernen“ Mexiko zu integrieren (s.o.). Dazu wurden Grundschulen in indigenen Dörfern gebaut und Maestros Bilingües ausgebildet.49 Diese sind für diese Arbeit bedeutend, da sie seit den 1980er Jahren sowohl ein wichtiges Verbindungsglied der Dorfgemeinschaften zum politischen und administrativen System, als auch wichtige politische Akteure sind. Trotz des ursprünglich klar assimilatorischen Charakters wurden mit der Zeit Curricula und Materialien des bilingualen Bildungsprogramms neu konzipiert, und durch die Aktivitäten einiger LehrerInnen erfuhren indigene 97). Eine Aufstellung der Aktivitäten diverser Ministerien, Behörden und anderer Institutionen aus dem Jahr 1939 zeigt, mit welchem Nachdruck die Region entwickelt werden sollte (ibid., 167f.). 47 Ixmiquilpan wird als Hauptort des Valle del Mezquital angesehen. 48 „Nationale Kommission zur Entwicklung der Indigenen Völker“. 49 Ein bedeutender Vorläufer waren bereits in den 1930er Jahren die Internados Indígenas (Indigene Internate), in denen Indigene eine weiterführende Schulbildung erhalten konnten. Dahinter stand das Anliegen, soziale Anführer heranzubilden, die indigene Gemeinschaften von innen erneuern konnten (Dawson 2004, 34f.). Einige meiner InformantInnen, die heute LehrerInnen sind, hatten solche Institutionen noch in den 1980er Jahren besucht.

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Sprachen eine lokale Aufwertung. Dies traf gerade auf das Valle del Mezquital zu, wo eine Bewegung von Maestros Bilingües über die Sprache hinaus auch ein verändertes Selbstbild der ethnischen Gruppe anstieß und bspw. den Terminus Hñähñu als „korrekte“ Bezeichnung dem früher gebräuchlichen pejorativen Ausdruck Otomí entgegenstellte. So trug die bilinguale Bildung in dieser Region letztlich dazu bei, die indigene Identität und den Gebrauch der Sprache Hñähñu zu festigen. Die Entwicklungsanstrengungen hatten keinen umfassenden Erfolg und das Valle del Mezquital wurde weiter als arme und unterentwickelte Region abgestempelt. Die Verantwortung dafür wurde u.a. bei der Bevölkerung gesucht, denn das Bild der rückständigen Region ist von Vorurteilen gegenüber Indigenen geprägt. Das paternalistische Argument aus der Zeit des Indigenismo, dass diese „hilflosen Menschen“ unterstützt werden müssten, trat nach dem Scheitern der Entwicklungsinterventionen etwa ab den 1980er Jahren in den Hintergrund. Ihr ausbleibender Erfolg wurde auf Basis stereotyper Sichtweisen erklärt, die Indigenität mit Rückständigkeit, Traditionalismus und Modernisierungsfeindlichkeit verbinden. Dadurch wird das Valle del Mezquital indirekt als kaum entwicklungsfähig angesehen. Bestärkt wird diese Vorstellung durch in der Region übliche Lebensweisen und ökonomische Strategien, die geläufigen Vorstellungen von Modernität in Mexiko entgegenstehen. So wird die genannte kleinbäuerliche Produktion auf Milpas als ineffizient und unökonomisch betrachtet, obwohl es mittlerweile Stimmen gibt, die argumentieren, dass diese Produktionsform mehr Menschen ernähren kann und nachhaltiger ist als die industrielle Landwirtschaft (Esteva/Marielle/Galicia García 2003). Sie ist zudem als Teil einer größeren ökonomischen Strategie zu betrachten, in der unterschiedliche Einkommensquellen miteinander kombiniert bzw. verflochten werden (vgl. Elwert/Evers/Wilkens 1983; Bennholdt-Thomsen 1984; Bennholdt-Thomsen/ Mies 2000). Letztlich ist diese Art der Landwirtschaft an die regionalen geographischen und klimatischen Bedingungen angepasst und nimmt trotz der großen Bedeutung von Remissen der MigrantInnen weiter einen wichtigen Platz in lokalen ökonomischen Strategien ein. Dies zeigt sich u.a. darin, dass Familien von MigrantInnen ihre Milpas wieder bestellen. Aus einer makrostrukturellen, am finanziellen Profit orientierten Betrachtungsweise werden diese Aspekte jedoch nicht wahrgenommen. Die mit dieser Wirtschaftsweise einhergehende ausgedehnte Siedlungsweise, extensive Landnutzung und der geringe Urbanisierungsgrad, die einem an die lokalen Gegebenheiten angemessenen Siedlungsmuster entsprechen, werden ebenfalls als Zeichen von Rückständigkeit bewertet, was eng mit modernistischen Vorstellungen verbunden ist. Mit der Einschätzung als arme Region ist auch die vorherrschende Bewertung der Migrationsprozesse verbunden.50 Das Valle del Mezquital ist in umfassende Migrationsströme eingebunden und stellt mit den Gemeinden Zimapan, Cardonal, Pacula 50 Ein klassisches Beispiel dafür findet sich bei Godínez/Martín (1991).

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und Ixmiquilpan seit geraumer Zeit einige der mexikanischen Munizipien mit der höchsten offiziell erfassten Rate interner sowie internationaler Migration (Rivera Garay/Quezada Ramírez 2011, 90f.; Serrano Avilés 2006a). Entsprechend war Migration bei meiner Forschung in Teilen der Municipios51 von Cardonal und Ixmiquilpan ein allgegenwärtiges Thema, denn in fast allen Familien besteht Migrationserfahrung. Trotz der Verwurzelung im Alltag wird Migration im öffentlichen und politischen Diskurs jedoch meist negativ bewertet und als deutliches Indiz für die Unterentwicklung der Region und die angebliche Perspektivlosigkeit ihrer Bewohner betrachtet. Eine unvoreingenommene Betrachtung der Migrationsprozesse und ihrer Auswirkungen ist daher dringend nötig. Die „demokratieferne“ Region Ein weiteres Bild des Valle del Mezquital bezieht sich auf die politische Kultur der Region. Es ist Ausdruck der Vorstellung, das klassische politische System Mexikos (s.o.) bestünde hier quasi unverändert fort. Diese Sichtweise fußt auf der langjährigen Herrschaft der PRI, die auf Ebene des Bundesstaates bis heute anhält. Das alte System soll hier mit klientelistischen Netzen, welche die Region durchziehen und Grundlage des politischen Handelns sind, überlebt haben. Auch Behörden und Verwaltungseinrichtungen sollen fest in Hand der PRI und deren lokaler und regionaler Machtcliquen sein. Aufgrund der Annahme einer absoluten Kontrolle des Staates und der Politik durch die PRI wird das Valle del Mezquital als zutiefst undemokratische Region betrachtet, in der keinerlei Potenzial für politischen Wandel besteht. Dazu gehört die Vorstellung von politischer Ignoranz und Rückständigkeit der Bevölkerung, die dem beschriebenen Bild einer unterentwickelten Region entspricht und wie diese mit stereotypen Vorstellungen über Indigene verwoben ist. Diese Perspektive wurde nach Wahlerfolgen der Opposition bei den Kommunalwahlen 2005 relativiert, besteht jedoch im Kern fort. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass diese Sichtweise der Politik im Valle del Mezquital unangemessen ist, denn viele relevante Prozesse laufen so subtil ab, dass sie der öffentlichen Wahrnehmung entgehen. Einerseits ist es in der Tat so, dass verbreitet Klientelbeziehungen bestehen und die entsprechende politische Handlungslogik weiterhin Strategien und konkrete Interaktionen beeinflusst, sodass bis heute klassische politische Strategien sowie Formen politischer Herrschaft angewandt werden. Ebenso sind die Bedeutung der PRI und ihre große (politische) Macht in der Region zu konstatieren, die sich rückblickend u.a. darin zeigt, dass es bis zur Jahrtausendwende keine effektive parteipolitische Opposition im Valle del Mezquital gab. Andererseits gab es in der Region eine Vielzahl politischer Konflikte, die zu 51 Die kommunale Ebene wird in Mexiko von politischen Gemeinden (Municipios) gebildet, die sich über größere Gebiete ausdehnen und mehrere Dörfer umfassen. Die beiden hier erwähnten Gemeinden umfassen jeweils ein Gebiet von etwa 600 km² und 40-60 Dörfer.

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teils heftigen Auseinandersetzungen führten. Spätestens seit den 1970er Jahren sind Proteste und oppositionelle Aktivitäten belegt, die allerdings gewaltsam unterdrückt wurden. In den 1990er Jahren entstand dann eine Bewegung, die sich gegen Missstände in der Region einsetzte (s.u.). Später wurde sie zwar politisch instrumentalisiert und verlor an Kraft, brachte aber zu ihrer Zeit Bewegung in die lokale Politik und ließ Alternativen denkbar werden. Begünstigt wurde ihr damaliges Anwachsen durch die Gründung der oppositionellen PRD sowie den offensichtlichen Betrug bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1988 (s.o.). So zeigt sich die Vernetzung mit der nationalen Ebene, was auch auf die Aktivitäten der 1970er Jahren zutrifft, die in eine Zeit großer sozialer Spannungen fielen, die sich in anderen Landesteilen in der Entstehung von Guerillabewegungen bzw. der gewaltsamen Niederschlagung friedlicher Proteste manifestierten (s.o.). Opositionelle Aktivitäten trotz ihres lokalen Charakters immer in größere politische Kontexte eingebunden und über konkrete Akteure oft sogar direkt mit nationalen Bewegungen verflochten. Ein gutes Beispiel für die Zwiespältigkeit von Politik in der Region sind wiederum die Maestros Bilingües sowie lokale Anführer, die sogenannten Líderes. Diese entstammen in der Regel dem klassischen politischen System, haben sich aber sehr oft an der Suche nach Alternativen beteiligt (s. Kap. 4.5). Ort der Konflikte Die angesprochenen oppositionellen Aktivitäten haben zu der Vorstellung geführt, dass in der Region soziale Unruhe herrscht, die Menschen rebellisch sind und jederzeit soziale Konflikte ausbrechen können. Diese Sicht betont aber weniger die Fähigkeit der BewohnerInnen des Valle del Mezquital als selbstständige Akteure für ihre Rechte einzustehen, sondern vielmehr Zweifel an ihrer Bereitschaft, sich auf Recht und Ordnung einzulassen und die Autorität der Staatsgewalt anzuerkennen. Auf die soziale Unruhe in der Region wurde in einer für Mexiko typischen Weise der Integration reagiert, die aber auch Kontrolle bedeutete. Die Gründung des PIVM gehörte dazu. Daneben wurde der Consejo Supremo Hñähñu (CSH) geschaffen, der als eine Art Sprachrohr der indigenen Bevölkerung fungieren sollte, jedoch von Beginn an einen kooptativen und paternalistischen Charakter hatte. Dem stand seit den 1970er Jahren die verstärkte Aktivität von Nichtregierungsorganisationen mit der Gründung von Kooperativen, Bildungsangeboten, Bewusstseinsarbeit und Ähnlichem gegenüber. Dies ging aber später durch interne Friktionen und eine problematische Positionierung früherer Protagonisten zurück. Das Potenzial für kritische Organisationen blieb jedoch bestehen und in den 1990er Jahren entwickelte sich die oben angesprochene soziale Bewegung aus mehreren Dorfgemeinschaften heraus. Dabei war eines der Dörfer, in denen ich forschte, Barranca Empinada, besonders beteiligt. Gemäß den InformantInnen im Ort waren Höhepunkte der Proteste mehrmalige Sperrungen der Panamericana, die das Valle del Mezquital durchzieht und eine wichtige Verkehr-

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sachse zwischen Mexiko-Stadt und der Grenze zu den USA bei Laredo darstellt, Besetzungen des Rathauses in Ixmiquilpan und schließlich das Niederbrennen des regionalen Sitzes der Bundespolizei. Diese Ereignisse wurden durch die Medien verbreitet und trugen zur Entstehung dieses dritten Bildes bei. Zudem darf nicht vergessen werden, dass es auch Berichte über gewaltsame Repression in der Vergangenheit gibt. Dies wurde mir von zwei Informanten bestätigt [Paco; Brandt]. Vermutlich wird das Valle del Mezquital nur deshalb nicht als die rebellische Region des Bundesstaates Hidalgo angesehen, weil in der Huasteca noch härtere Auseinandersetzungen stattfanden. So gilt diese bis heute als Problemregion des Bundesstaates und nicht das Valle del Mezquital. Aus taktischen Erwägungen werden diese Ereignisse oft von verschiedenen Seiten dramatisiert und die zugrunde liegenden sozialen Probleme ausgeblendet. So konnte ich feststellen, dass diese (historischen) Proteste in der Region bekannt sind und allgemein eher kritisch betrachtet werden. Selbst Personen, die unter den Missständen leiden, gegen die sich die Proteste richteten, hielten das Vorgehen für unangemessen oder grundlegend falsch. Dies erleichterte die politische Stigmatisierung der beteiligten Gruppen, denn in der mexikanischen Öffentlichkeit wird alles „Rebellische“ sofort als negativ betrachtet. Es gibt in der Region aber nicht nur Konflikte mit Politikern, dem Staat und seinen Einrichtungen, sondern auch fortwährend um den Zugang zu Land und Wasser. Sie führen oft zu Auseinandersetzungen zwischen benachbarten Dörfern und werden teils gewalttätig ausgetragen. Aufgrund der Bedeutung dieser Ressourcen werden sie erbittert geführt, dienen aber gleichzeitig oft der Mobilisierung und Kohäsion von Dorfgemeinschaften. Diese versuchen ihre Autonomie und Handlungsfähigkeit zu wahren, nicht nur dem Staat, sondern auch anderen Dörfern gegenüber. Da solche Auseinandersetzungen allgemein bekannt sind, wird an vielen Orten großer Wert darauf gelegt, gute Nachbarschaft mit anderen Dörfern zu pflegen, um die Eskalation möglicher Konflikte zu vermeiden (vgl. Kap. 4.1.2). Hier wird eine Konstante der Auseinandersetzungen von Dorfgemeinschaften mit der „Außenwelt“ erkennbar, sei es der lokale Staat oder benachbarte Dörfer, denn im Kern geht es sehr oft um den Status der Dorfgemeinschaften. So berichteten ältere InformantInnen bspw., dass es früher viel Willkür der Sicherheitskräfte gab, insbesondere der Polizei des Municipios. Sie schilderten die ersten Proteste als eine Bewegung gegen deren unangemessenes Vorgehen und die Überschreitung ihrer Kompetenzen. Infolgedessen wurde in einigen um die Stadt Ixmiquilpan herum gelegenen Dörfern die bis heute gültige Anerkennung der Autonomie und Selbstverwaltung in den Dorfgemeinschaften erstritten. Eines ihrer zentralen Elemente ist, dass Polizei und Militär bei dem Dorfsprecher Erlaubnis einholen müssen, bevor sie das Territorium eines Ortes betreten. Dies ist eine Vereinbarung, die den Menschen sehr wichtig ist und die weiterhin verteidigt wird (s. Kap. 6.1.2).

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In den letzten Monaten und Jahren speist sich die Vorstellung einer rebellischen Region immer stärker aus Konflikten, die nicht mit Protestbewegungen zusammenhängen, sondern andere Ursachen haben. Dabei stehen als religiös konstruierte Konflikte im Fokus, die in der Öffentlichkeit stark diskutiert werden. Daraus speist sich u.a. die häufig artikulierte öffentliche Empörung über die Usos y Costumbres (Sitten und Gebräuche), die internen Regeln des dörflichen Zusammenlebens, die sehr oft als Inbegriff von Rechtlosigkeit, Intoleranz und der Unterdrückung individueller Rechte gesehen werden. Auch dieser Diskurs über das Valle del Mezquital ist stark von Vorurteilen über seine indigene Bevölkerung geprägt. Er geht mit der Annahme einher, dass die Menschen in der Region nicht Willens oder sogar nicht in der Lage seien, sich für formale, korrekte Politik und Verwaltungsabläufe zu öffnen. Stattdessen würden sie auf veralteten traditionalistischen Formen der Selbstorganisation beharren, durch die Minderheiten innerhalb der Gemeinschaft unterdrückt würden. Dabei wird nicht beachtet, dass bspw. die angesprochenen religiösen Konflikte meist andere Ursachen haben und politisch instrumentalisiert werden. So passt auch dieses Bild letztlich zu den ersten beiden, denn von den Menschen in der Region wird ein diffuses Bild als „arme, rückständige und ungebildete“ Personen gezeichnet, die weder über die nötige Offenheit noch die Kenntnisse verfügen, sich auf eine formalisierte demokratische Politik einzulassen. Wie ich zeigen werde, entspricht diese Vorstellung kaum der Realität. Bei den hier dargestellten Bildern des Valle del Mezquital handelt es sich um zugespitzte, vereinfachende und durch indifferenzierte Stereotype über eine angeblich traditionale, rückständige Region und Gesellschaft beeinflusste Sichtweisen. Nichtsdestotrotz finden sie sich aber in alltäglichen Interaktionen wieder, insbesondere zwischen Mitgliedern von Dorfgemeinschaften und Vertretern staatlicher Institutionen, und haben somit eine nicht zu unterschätzende Bedeutung in den Aushandlungsprozessen in Politik und Entwicklung sowie des Status der Dorfgemeinschaften. 1.3.3 Die Fallstudien Nach dieser Einführung in die gesellschaftliche Konstruktion des Valle del Mezquital werde ich im Folgenden kurz auf die beiden Orte eingehen, von denen meine Fallstudien ausgehen. Dabei werde ich insbesondere ihre abweichenden Charakteristika innerhalb der gleichen Region hervorheben, durch die sie ideal für eine kontrastierende Untersuchung sind. Barranca Empinada Dieser Ort befindet sich im tiefer gelegenen Teil des Valle del Mezquital, dessen regionales Zentrum die Stadt Ixmiquilpan bildet. Diese ist zugleich Hauptort des Municipios, zu dem Barranca Empinada gehört. Der Ort liegt in einer trockenen Region,

M EXIKO – L AND

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in der es zwar immer Trinkwasserquellen gab, das Wasser aber nicht für eine landwirtschaftliche Bewässerung ausreichte. Seit Beginn der 1980er Jahre existiert jedoch ein künstliches Bewässerungssystem, für das Abwässer aus Mexiko-Stadt genutzt werden. Barranca Empinada hat etwa 1000 Einwohner. Die Migration in die USA begann hier Anfang der 1980er Jahre und hat schnell ein großes Ausmaß erreicht. Viele der MigrantInnen konnten aufgrund ihres relativ frühen Migrationszeitpunktes von dem Legalisierungsgesetz52 im Jahr 1986 profitieren. Daher besitzt ein größerer Teil der MigrantInnen legale Aufenthaltspapiere. Gleichzeitig weist der Ort ein hohes Bildungsniveau auf, was auf seine zentrale Lage und eine große lokale Wertschätzung formaler Bildung zurückzuführen ist. Eine weitere Besonderheit ist, dass das Dorf in den 1990er Jahren in die oben erwähnte, relativ starke Protestbewegung eingebunden war. So ist es heute politisch gut vernetzt und einige Politiker, z.B. Abgeordnete des Bundesstaates, stammen aus Barranca Empinada. Allerdings brachte diese Bewegung auch eine Spaltung der Dorfgemeinschaft mit sich, da sich ein Teil der BewohnerInnen benutzt fühlte, sich nicht mehr an Protesten beteiligte und den Anführern ihre Unterstützung verweigerte. Diese warfen ihnen im Gegenzug Verrat vor. Diese ursprüngliche Spaltung wurde mit der Zeit vielschichtiger und wird insbesondere in den dörflichen Institutionen ausgetragen, sodass kaum noch eine Zusammenarbeit im Rahmen der dörflichen Selbstorganisation (s. Kap. 3.1.2) stattfindet. Aufgrund der intensiven Einbettung in politische Prozesse, des früheren Protestpotenzials und der internen Konflikte, war dieser Ort ein idealer Fall für meine Untersuchung. El Thonxi Im Gegensatz zu Barranca Empinada liegt El Thonxi in dem höher gelegenen, bergigen Teil der Region, auf ca. 2600 Meter Höhe. In diesem Teil des Valle del Mezquital sind Niederschläge sicherer. Sie reichen allerdings selten für eine ertragreiche Landwirtschaft aus und aufgrund der Höhe und Topographie ist es unmöglich, Felder künstlich zu bewässern. In El Thonxi leben über 300 Personen, von denen etwa die Hälfte Erwachsene sind. Die ersten Dorfbewohner migrierten Mitte der 1980er Jahre in die USA, zu einem Massenphänomen wurde die Migration hier aber erst in den 1990er Jahren. Bis auf zwei Personen handelt es sich um irreguläre MigrantInnen. Ähnlich verhält es sich mit dem Bildungsniveau, denn erst in den letzten 15 Jahren begann eine größere Zahl Jugendlicher weiterführende Bildungseinrichtungen zu besuchen, oft finanziert durch die Remissen der MigrantInnen. Die politische Einbindung El Thonxis findet vorwiegend über einige wenige Vertreter des Ortes statt. Diese haben allerdings keine wichtige Stellung in den politischen Netzwerken. El Thonxi wird als eher unbedeutender Ort angesehen, der aber früher wie jeder andere

52 Immigration Reform and Control Act of 1986.

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in die klientelistischen Netzwerke der Staatspartei und ihrer Organisationen eingebunden war. So tun sich die BewohnerInnen nicht wie in Barranca Empinada durch politischen Aktivismus hervor, sondern sind eine alltägliche klientelistische Politik gewöhnt.

2. Die Untersuchung eines sensiblen Themas in einem komplexen sozialen Feld

Bei den Überlegungen vor meinem Feldaufenthalt, auf welche Art meine Forschungsfrage angemessen zu untersuchen war, kam mir meine bisherige empirische Forschungserfahrung zugute. Diese umfasst demokratierelevante Fragestellungen, wie Dezentralisierung und Bürgerbeteiligung in Nicaragua (Rescher 2003) sowie (gewerkschaftliche) Organisationsstrategien von ArbeiterInnen auf Zuckerrohrplantagen auf den Philippinen, wodurch ich eine gewisse Erfahrung mit komplexen Untersuchungssituationen erworben hatte. Der neue Untersuchungsgegenstand war jedoch relativ abstrakt und ich musste annehmen, dass er im Feld ein sensibles Thema war. Dazu kam, dass der zunächst geplante institutionell orientierte Feldzugang scheiterte. So war ich gezwungen, eigene Zugänge zu finden, wodurch auch das Forschungsthema selbst offener und abstrakter wurde, da ich nicht die Tätigkeit einer konkreten Organisation zum Ausgangspunkt nehmen konnte. In dieser Situation musste ich bisherige Vorannahmen anpassen, um mir ein neues Feld zu erschließen. Dabei kam mir der Umstand zugute, dass ich in einer Region forschen konnte, die ich bereits aus privaten Zusammenhängen kannte (s.u.). Es ging darum, das sich als immer komplexer herausstellende Thema angemessen zu untersuchen, es in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen und gleichzeitig „Neues“ zu entdecken. Ein zentrales Element meiner Forschung war daher die grundlegende ethnographische Offenheit und Neugier, mit der ich auf die veränderte Situation reagieren und dem entstandenen Zwang zur Flexibilität gerecht werden konnte. Teil dieses Prozesses war sogar, von der ursprünglichen Fragestellung zu Demokratisierungsprozessen im ländlichen Raum Mexikos zunächst abzurücken, um sie später aus der Relevanz für das Feld heraus wiederaufzunehmen.

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2.1 M ETHODOLOGISCHE V ORGEHENSWEISE Als ich meine Feldforschung plante und ein Forschungsdesign entwickelte, identifizierte ich im Vorfeld zwei vielversprechende Regionen und suchte Organisationen, die im Bereich von Lokalpolitik oder ländlicher Entwicklung aktiv waren, um über diese Zugang zum Feld zu erhalten. Während entsprechende Zugänge bei meiner vorherigen Forschung in Nicaragua schnell eröffnet werden konnten, gab es in Mexiko Probleme, die diese Art von Feldeinstieg behinderten. In einer explorativen Forschungsphase 2004 hatte ich als möglichen Fall die Region Huasteca besucht, die sich auf die Bundesstaaten Hidalgo, Veracruz und San Luis Potosí aufteilt, und dort mit Vertretern von Kleinbauernorganisationen und anderen NROen gesprochen. Diese Region war bis in die 1990er Jahre hinein Schauplatz heftiger sozialer Auseinandersetzungen gewesen, an denen insbesondere Kleinbauern und Tagelöhner beteiligt waren, und die regelmäßig zu militärischen Einsätzen führten. Daher galt die Huasteca als Fokus von Rebellion und Konflikten in den genannten Bundesstaaten. Als ich dort eintraf, herrschte jedoch eine gespannte Ruhe, und die zivilgesellschaftlichen Akteure schienen weitgehend neutralisiert worden zu sein, sodass die Bedingungen für eine Feldforschung zu Demokratisierung schwierig waren. Als kontrastierenden Fall plante ich ein Projekt der deutsch-mexikanischen Entwicklungszusammenarbeit zu untersuchen, was sich allerdings als nicht möglich erwies. Während ich mich zunächst weiter bemühte Zugang zu möglichen Forschungsfeldern zu erlangen, hatte ich im Valle del Mezquital, der Region, in der ich mich privat aufhielt, damit begonnen, Material zum Vergleich mit meinen eigentlichen Fällen zu erheben. Zunächst bestanden diese Daten aus Gesprächen und eher zufälligen Beobachtungen, aber mit der Zeit systematisierte ich die Erhebung und begann formale Interviews zu führen. Ich hatte festgestellt, dass ich diese Region, aus der meine Frau stammt, bei Weitem nicht so gut kannte wie angenommen. Darum begann ich, bestehende Kontakte und Zugänge systematisch zu nutzen und mir das Feld durch das Theoretical Sampling (Glaser/Strauss 1967) zu erschließen (s.u.). Dabei stieß ich auf politische Prozesse, die für mein Thema sehr relevant waren, was mich zu einer Abkehr von den geplanten Fallstudien in Campeche und der Huasteca bewog. Stattdessen wählte ich einen zusätzlichen Fall im Valle del Mezquital mit abweichenden Charakteristika, um diesen mit meinem ersten zu kontrastieren. Durch mein ethnographisches Vorgehen und die Anpassung meines Designs an die veränderten Umstände stieß ich auf demokratisierungsrelevante soziale Prozesse im Valle del Mezquital, die ich so nicht erwartet hatte. Diese Region „entdeckte“ ich so als aufschlussreiches Forschungsfeld zu politischen Prozessen sowie der Herstellung demokratischer Perspektiven und konnte mir das „Doing Democracy“ der dortigen Akteure erschließen.

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2.1.1 Methodologische Grundlagen Der sensible Themenkomplex erforderte ein methodologisches Vorgehen, das mir die Offenheit und Flexibilität ließ, Unerwartetes im Feld zu entdecken und mein Material in den gesellschaftlichen Kontext einzuordnen. Auf Grundlage eines komplexen Forschungsdesigns, das sich an verschiedenen methodologischen Ansätzen orientierte, griff ich auf die Kombination unterschiedlicher konkreter Forschungs- und Erhebungstechniken zurück (vgl. Lachenmann 2012; 2010; 1995).1 Dadurch stellte ich zum einen sicher, in jeder Forschungssituation eine angemessene Form der Datensammlung zur Verfügung zu haben und zum anderen die unterschiedlichen Arten von Daten analytisch miteinander kontrastieren und mittels Triangulation (Flick 2000) überprüfen zu können. Meine methodologischen Grundlagen bildeten die Interface-Analyse (Long 1989; Lachenmann 2010; Gerharz 2014), ergänzt um allgemeine ethnographische Grundannahmen (s. Hammersley/Atkinson 2010), Elemente der Global Ethnography (Burawoy 2000) sowie der Multi-Sited Ethnography (Marcus 1995), und sie orientierten sich gerade im praktischen Vorgehen an der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967, Strauss/Corbin 1998). Letztere sollte mir „entdeckendes“ Forschen und eine gegenstandsbezogene, also in der sozialen Realität fußende, Theoretisierung mittlerer Reichweite ermöglichen. Diese Forschungshaltung wurde zudem von der allgemeingültigen geertzschen Forschungsfrage „What the hell is going on here?“ inspiriert (Geertz 1973). Es ging darum zu erfassen, welche Prozesse in der sozialen Realität des Feldes ablaufen. Durch Vorüberlegungen versuchte ich mir eine Vorstellung von meinem Forschungsfeld zu schaffen, um explizite Vorannahmen zu diversen relevanten Aspekten zu erarbeiten. Üblicherweise geschieht dies im Vorfeld des Feldaufenthalts, durch die spezielle Situation der Neu-Orientierung war mir dies aber erst im Feld möglich. Als ich dann auf viele mir unbekannte Facetten der lokalen sozialen Realität traf, wurde mir bewusst, wie wenig zutreffend meine Vorstellungen an bestimmten Punkten waren. Daher konnte ich die Vorannahmen bereits im Entstehungsprozess immer weiter anpassen. So waren meine Annahmen zu politischen Prozessen sehr skeptisch, da sie erstens durch kritische Diskurse zu Politik insbesondere im ländlichen Mexiko, zweitens durch meine bisherige Erfahrung mit mexikanischer Politik und nicht zuletzt durch die vom Valle del Mezquital existierenden Bilder geprägt waren (s.o.) So ging ich zunächst davon aus, dass nicht von Demokratisierung gesprochen werden

1

Diese methodische Herangehensweise entspricht weitgehend der einer Gruppe in der Entwicklungssoziologie /Sozialanthropologie an der Universität Bielefeld (s. Publikationen wie Peleikis 2003; Rodenberg 1999 und Spiegel 2010). Sie ist vor allem durch die Ausbildung bei Prof. Gudrun Lachenmann geprägt worden und entspricht in weiten Teilen ihrem Ansatz.

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konnte. Bald stellte ich jedoch fest, dass es sehr wohl eine Bandbreite formal- als auch alltagspolitischer Aktivitäten gibt, an denen „einfache“ Bürger beteiligt sind. Ausgehend von dieser Erkenntnis, die durch den Kontrast zu meinen Vorannahmen besonders deutlich wurde, konnte ich den subtilen politischen Wandel analysieren, der im Valle del Mezquital fest verankert ist. Dieser wird durch eine potenzielle Teilhabe unterschiedlicher sozialer Akteure auf lokaler Ebene getragen, ein Prozess, den ich als Doing Democracy konzeptualisiere. Daher war es entscheidend, sich dem Thema aus lebens- und alltagsweltlicher Perspektive anzunähern, um auch Lokalbzw. Alltagspolitik als politischen Prozess erfassen zu können. Mein Forschungsdesign passte ich also im Feld an und verfeinerte es, wozu das Theoretical Sampling beitrug. Diese explorative Vorgehensweise ermöglichte, unerwartete Phänomene im Feld zu erkennen. Dazu gehörte, dass viele relevante Prozesse stärker lokal gebunden waren, als ich erwartet hatte. Daher musste ich meine Fragestellung ausgehend vom Wandel innerhalb der Dorfgemeinschaften bearbeiten, um mich erst im Verlauf der Forschung wieder anderen Ebenen anzunähern. Ebenso wurde die große Bedeutung von Transnationalität, Geschlechterverhältnissen und Indigenität erst im Forschungsprozess in vollem Umfang deutlich. Dazu kamen später Fragen von religiöser Zugehörigkeit sowie Alter bzw. Generation. Zwar wusste ich im Vorfeld um deren mögliche Relevanz, war aber in meinen Vorannahmen vorsichtig. Umso prägnanter wurde ihre Bedeutung dann im Feld. Eine zentrale methodologische Frage war, wie ich die Datenerhebung in verschiedener Hinsicht durch das Feld leiten lassen konnte. Erstens ging es um die Orientierung im Feld während der konkreten Erhebung, darum wie ich relevante neue InformantInnen und Ereignisse ausfindig machen konnte. Damit hing zweitens die Wahl der Orte (Sites) zusammen, an denen ich Material sammelte. Beides war letztlich mit einem dritten Aspekt verbunden, der Identifizierung relevanter Verbindungen zwischen unterschiedlichen Ebenen. Wie konnte ich im Rahmen der Forschung von lokalen Fällen auf die nationale Ebene oder „ins Globale“ gelangen? Dafür war einerseits das angesprochene Theoretical Sampling in der Datenerhebung zentral, zum anderen aber auch die Art der Betrachtung des Feldes und sozialer Interaktionen. Durch eine offene Konzeptualisierung ohne starre Grenzen zwischen verschiedenen Ebenen und Einheiten konnte ich bspw. ebenenübergreifende Prozesse als solche erkennen und analysieren, ohne dass eine künstliche Trennung den Blick verstellt hätte (Faist 2012; Lachenmann 2010). Diese Herangehensweise wurde erstens durch methodologische Grundüberlegungen transräumlicher Ansätze, konkret transnationaler, translokaler und des Transborder-Ansatzes gestützt. Ihnen ist die Überwindung (sozialwissenschaftlichen) Container-Denkens gemein, das in klassischen Herangehensweisen die forscherische Perspektive einengte. In der als Methodological Nationalism bezeichneten Haltung wurde der nationale Raumcontainer als zentral betrachtet und Überlegungen endeten an dessen Grenzen. Dabei wurde Nationen ein bestimmtes na-

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tionales Territorium, eine nationale Kultur und eine Nationalgesellschaft zugeschrieben, die alle im nationalen Raum zusammenfielen (vgl. Amelina/Nergiz/Faist/GlickSchiller 2012). In Abwandlung kann bei der Forschung zu ethnischen Gruppen und in früheren anthropologischen Studien die Gefahr gesehen werden, lokale Einheiten als abgeschlossen und soziale Phänomene als rein lokal gebunden zu betrachten.2 Dies sehe ich als methodologischen Lokalismus, der gerade von Translokalitätsansätzen und dem Transborder-Ansatz überwunden wird, da diese translokale Verbindungen zwischen diversen sozialen Räumen in den Fokus rücken, ohne sich von Grenzziehungen irritieren zu lassen (Rescher 2010). Allen genannten transräumlichen Ansätzen ist aber gemein, dass sie existierende Grenzen nicht ausblenden. Im Gegenteil können sie die grundlegende Relevanz von Grenzen für soziale Prozesse zeigen, die sie überwinden bzw. durchstoßen. Zweitens ermöglicht die Interface-Analyse, soziale Interaktionen und damit Aushandlungsprozesse über unterschiedliche Ebenen hinweg zu verfolgen (Arce/Long 2000; 1992; Long 1989. Da bei diesem akteurszentrierten und handlungsorientierten Ansatz die konkrete Interaktion zwischen sozialen Akteuren im Zentrum steht, wird diese zwingend auch jenseits lokaler Settings betrachtet. Zwar steht die lokale Interaktion im Vordergrund, aber für die Interface-Analyse ist es unumgänglich, auch den Hintergrund der beteiligten Akteure und die breiteren Rahmenbedingungen einzubeziehen. Denn sie beschränkt sich nicht nur auf eine Ebene sozialer Organisation, sondern erfordert verschiedenste Arten sozialer Verbindungen herauszuarbeiten und dabei die Grenzen des Feldes zu überwinden, um einen breiteren Blickwinkel einzunehmen. Folglich müssen an jeder Lokalität innerhalb des Feldes unterschiedliche Akteurskonstellationen als Teil breiterer sozialer Formationen untersucht werden, um die vielfältigen Logiken und Ressourcen zu erfassen, die jenseits der konkreten Interaktion verortet sind. Durch die gleichzeitige Betrachtung von Lokalitäten auf diversen Ebenen wird bei konsequenter Anwendung der Schnittstellenanalyse die Gefahr vermieden, im singulären lokalen Kontext verhaftet zu bleiben. Angesichts des Risikos einer starken lokalen Fixierung nutzte ich also methodologische Annahmen transräumlicher Forschungsparadigmen und die multidimensionale Interface-Analyse. Dabei galt es aber, die Gegenstandsbezogenheit der Analyse zu wahren und eine Ablösung von der sozialen Realität zu verhindern. Um der Verwobenheit von lokalen und globalen Phänomenen gerecht zu werden, konnte ich spezifische Annahmen der Multi-Sited Ethnography und der Global Ethnography heranziehen. Bei der Multi-Sited Ethnography bezog ich mich auf einen wenig beachteten Punkt von Marcus´ Methodologie. Während die unterschiedlichen Arten des „Follow“ (Marcus 1995, 105f.) hervorgehoben und auch angewandt wurden, besonders prominent durch Federico Besserer, der in seiner Studie „der Tomate folgte“ und 2

Wobei selbst viele der anthropologischen Klassiker m.E. nicht so lokalisierend waren, wie oft behauptet wird (vgl. Rescher 2010).

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dadurch diverse soziale und migratorische Prozesse anhand der Produktion und Vermarktung von Tomaten entdecken konnte,3 bleibt meines Erachtens Marcus’ siebter Vorschlag der „Strategically Situated (Single-sited) Ethnography“ (Marcus 1995, 110f.) meist unberücksichtigt. Dieser ist für andere Ansätze anschlussfähig und deckt Forschungssituationen ab, in denen es nicht möglich ist, fortwährend den relevanten Verbindungen zu folgen. So kann auch eine Multi-Sited Ethnography raumübergreifende Prozesse untersuchen, selbst wenn sie vorwiegend an einem Ort durchgeführt wird. Entscheidend ist, ähnlich wie in der Global Ethnography und der InterfaceAnalyse, diese Prozesse einzubeziehen und in ihrer Bedeutung für das Feld zu analysieren. Mobilität kann im Forschungsprozess also sehr sinnvoll sein, ist aber nicht grundsätzlich zwingend, denn auch in Forschungen zu global-lokalen Prozessen ist ein gewisser Pragmatismus möglich, ohne die Gültigkeit der Ergebnisse zu beeinträchtigen. Der analytische Umgang mit Plurilokalität ist von einer Lokalität ausgehend angemessen realisierbar (vgl. Rescher 2010). Später ergänzte ich meinen methodologischen Ansatz in dieser Hinsicht um Überlegungen von Michael Peter Smith (2005) zur Erforschung von Prozessen, die in global-lokale Kontexte eingebettet sind, sowie aus dem Transborder-Ansatz von Lynn Stephen (2007), in dem sie darauf verweist, dass gerade indigene MigrantInnen bereits vor dem Überschreiten einer nationalstaatlichen Grenze mit vielen anderen insbesondere sozialen Grenzen konfrontiert sind, die teils für ihre Positionierung wichtiger sind als die Tatsache, sich in einem „fremden“ Land zu befinden. Aus dieser Forschungsperspektive ist es unumgänglich, die Einbettung der untersuchten Phänomene in das sie umgebende soziale Gefüge zu berücksichtigen. Dem breiteren Kontext muss eine ähnlich große Aufmerksamkeit gewidmet werden wie den im Fokus der Fragestellung stehenden sozialen Prozessen und Phänomenen, da diese nicht isoliert zu verstehen sind. Als Ideal wird eine umfassende Analyse relevanter Prozesse im Untersuchungsfeld angestrebt, um zu erkennen, wie sie zueinander in Beziehung stehen. Dabei geht es auch darum, sich vom lokalen Feld ins Globale zu bewegen, im Rückschluss aber auch zu erkennen, wie das Globale im Lokalen fußt. Diese Einbettung wird durch die Grounded Theory erkennbar und die empirisch fundierte Theoriebildung ermöglicht gleichzeitig, den näheren wie auch den globalen Kontext zu betrachten und diverse Ebenen in die Forschung einzubeziehen. Bezogen auf die Herausforderungen lokal-globaler Forschung ermöglicht dieses Vorgehen also eine doppelte Kontextualisierung. Erstens werden globale Prozesse im Lokalen verortet (und ggf. umgekehrt) und zweitens transnationale Phänomene im Zusammenhang mit anderen Prozessen betrachtet. So wird u.a. auch sichergestellt, dass eine transnationale Perspektive dann genutzt wird, wenn es dem Gegenstand angemessen 3

In ähnlicher Weise folgten aber auch zuvor ForscherInnen ihren Feldern, bspw. in der Nomadenforschung, und erarbeiteten dazu komplexe methodologische Grundlagen (vgl. Schlee 1989).

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ist und Nationalismus ebenfalls dann betrachtet wird, wenn er relevant ist. In der hier angewandten Forschungsstrategie wurde dies auf verschiedene Arten erreicht. Neben der beschriebenen grundlegenden ethnographischen Offenheit und Neugier ist es wichtig, sich von dem Feld selbst und den dort gewonnenen Informationen leiten zu lassen. Dem Theoretical Sampling und einer lebensweltlichen Analyse entsprechend, orientiert sich die Datenerhebung an den Relevanzstrukturen der sozialen Akteure im Feld. Dazu ist einerseits eine fortlaufende Analyse im Feld nötig. Andererseits ist es wichtig, Akteure in ethnographischer Weise zu begleiten, um so entlang ihren Relevanzen folgen und sie in der sozialen Realität nachvollziehen zu können (Berger/Luckmann; 2007 [1969] Schütz/Luckmann 1975). Longs Interface-Analyse ist mit ethnographischen Vorgehensweisen zu verknüpfen, um einen breiteren Blick auf das Untersuchungsfeld zu erreichen. Die InterfaceAnalyse fokussiert Interaktionen zwischen diversen Akteuren im Feld und bezieht deren Hintergrund ein, inklusive ihrer Verbindungen zu anderen Akteuren und Institutionen sowie ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen (s.o.). Daher sind die jeweils unterschiedlichen Rationalitäten, Handlungslogiken und ihre Beziehung zu Wissenssystemen ebenfalls von großer Bedeutung (Long/Long 1992). Dies erfordert zwingend sich Interaktionen bewusst zu werden, welche die Grenzen der Lokalität durchbrechen, und diese in eine gründliche Analyse des Felds einzubeziehen. So wird durch die Anwendung einer ethnographischen Methodologie in Verbindung mit der Interface-Analyse die transräumliche Dimension des Feldes aufgedeckt und für eine umfassende Analyse eröffnet. Daher ist es sinnvoll, Interaktionen und die entsprechenden Schnittstellen zwischen diversen sozialen Akteuren ins Zentrum der Studien zu stellen. Denn wie Long schreibt: „[Interface] conveys the idea of some kind of face to face encounter between individuals with differing interests, resources and power. Studies of interface aim to bring out the types of discontinuities that exist and the dynamic and emergent character of the struggles and interactions that take place, showing how actors’ goals, perceptions, values, interests and relationships are reinforced or reshaped by this process“ (Arce/Long 1992, 214). „Such an analysis stresses the reproduction and transformation of social discontinuities inherent in interface encounters [...]“ (Long 1992, 6).

und er betont, dass „studies of interface should not therefore be restricted to observing what goes on during face to face encounters, since these interactions are in part affected by actors, institutional and cultural frameworks, and resources that may not actually be physically or directly present. Hence

62 | D OING D EMOCRACY IN INDIGENEN D ORFGEMEINSCHAFTEN [...] the analysis should situate these within broader institutional and power fields“ (Arce/Long 1992, 214).

Daher sind die Positionen sozialer Akteure nie als statisch anzusehen, sondern als fortwährend durch Interaktionen transformiert. Soziale Prozesse sind sehr dynamisch, da sie auf Interaktionen beruhen, die die Grundlage sozialen Wandels darstellen. Gleichzeitig ist die soziale Schnittstelle der Punkt, an dem unterschiedliche Logiken, Perspektiven und Ressourcen, die in den spezifischen Lebenswelten der Akteure fußen, sichtbar werden. Daher müssen Interfaces, und ebenso transnationale Formationen, im Rahmen breiterer Felder analysiert werden. Die Untersuchung von Interaktionen und sozialen Schnittstellen bietet mehrere Vorteile für ethnographische Forschung. Zunächst definiert sie einen klaren Punkt, an dem mit der Erhebung von Material begonnen wird. Gleichzeitig öffnet sie den Blick, da Interfaces auf soziale Beziehungen verweisen können, die im Vorfeld nicht erwartet wurden. So kann diese Perspektive Akteurslogiken, ihre Ressourcen und weitere Verbindungen herausarbeiten und bspw. die im Feld vorhandenen Logiken von Transnationalität und transnationalen Lebenswelten einbeziehen. So ermöglicht die Interface-Analyse jenseits der Betrachtung transnationaler Phänomene auch, die sie konstituierenden und aufrechterhaltenden Prozesse zu fokussieren. Daher unterstreicht der Schnittstellenansatz die erforderliche Fähigkeit des Forschers gewissermaßen „den Interaktionen folgen zu können“. Dieser Forschungshaltung entspringt auch die Offenheit für Charakteristika und Positionierungen spezifischer sozialer Akteure. Diese werden nicht a priori angenommen, sondern es ist integrales Element der Analyse von Interaktionen nachzuvollziehen, wie soziale Gruppen konstruiert werden und darauf beruhende dynamische Positionierungen der beteiligten Akteure nachzuvollziehen. Diese Perspektive geht damit bspw. über einfache Intersektionalitäts-Ansätze hinaus, indem nicht bloß bestimmte Kategorien und deren Verbindung betrachtet werden, sondern auch Prozesse der gesellschaftlichen Konstruktion einbezogen werden. Auch dies ermöglicht die Relevanz von Kategorien zu erkennen, die im Vorfeld nicht berücksichtigt wurden, so dass ein komplexes Bild der Positionierungen im Feld entstehen kann. 2.1.2 Datenerhebungstechniken In meinem methodischen Vorgehen kombinierte ich verschiedene Techniken in einer dem Feld angemessenen Weise. Es ist es wichtig, über ein vielfältiges Repertoire an Techniken zu verfügen, um in konkreten Forschungssituationen die sinnvollste auszuwählen. Denn erstens soll notwendige Nähe ermöglicht, zweitens umfassendes Material erhoben und drittens dessen Aufzeichnung sichergestellt werden, ohne das Feld unangemessen stark zu irritieren. Daher erhob ich u.a. Gespräche, Vorträge und

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Reden, Zeitungsartikel, Pamphlete, Wahlwerbung und -slogans. Am häufigsten nutzte ich jedoch, meist teilnehmende, Beobachtungen, diverse Formen von Interviews, wenn möglich mit narrativem Charakter, sowie informelle Gespräche. Beobachtungen Als Teil der ethnographischen Vorgehensweise war es zentral, soziale Prozesse im Feld beobachten und mitvollziehen zu können. Dazu musste ich mir eine Position erarbeiten, die teilnehmende Beobachtungen erlaubte. Insbesondere bei Gemeinschaftsaktivitäten in den Dörfern wurde dies mit der Zeit möglich, und so eröffnete mir bspw. die Teilnahme an der dörflichen Gemeinschaftsarbeit viele Zugänge (s.u.). In anderen Situationen konnte ich dagegen nur die Position eines externen Beobachters einnehmen, insbesondere dann, wenn ich nicht legitimiert war oder über unzureichende Kenntnisse verfügte, um tatsächlich teilzunehmen. Sehr oft war der Übergang aber fließend. In Dorfversammlungen war ich zunächst externer Beobachter, kam später in eine Position, in der man mich kaum wahrnahm und wurde schließlich fast wie ein Dorfbewohner behandelt. Wobei betont werden muss, dass allen Akteuren in den Dorfgemeinschaften immer bewusst war, dass ich letztlich ein Externer war, wenn auch in vielen Situationen „vergessen“ wurde, dass ich Feldforschung betrieb. Des Weiteren existierten Mischformen, insbesondere wenn diverse Arten von Akteuren anwesend waren. Wenn ich Abordnungen der Dorfgemeinschaft zu Behörden begleitete, war der Übergang zwischen Teilnahme und unbeteiligter Beobachtung oft fließend. Und schließlich entstanden durch die sozialen Dynamiken des Feldes plötzliche Beobachtungssituationen, die sich schnell wandeln konnten (vgl. Kap. 6.1.4). Offene Interviews mit narrativem Charakter Da ich mich nicht nur auf unterschiedliche Typen von Beobachtungen verlassen wollte, kontrastierte ich diese mit anderen Arten von Material. Dazu führte ich vor allem offene Interviews. Da mein Interesse den Einschätzungen und damit Relevanzstrukturen der InformantInnen galt, musste einerseits vermieden werden, dass sie sich so äußerten, wie sie als von mir erwartet voraussetzten. Dies war ein schwieriges Unterfangen, denn schon allein aufgrund meiner Positionierung im Feld ergaben sich Annahmen über meine Einstellungen. Ich versuchte daher erstens mit meinen Ansichten (zunächst) zurückzuhalten und zweitens InformantInnen zu vermitteln, dass ich tatsächlich an ihren Meinungen interessiert war. Für viele schien es sehr ungewöhnlich zu sein, dass sich ein auswärtiger Wissenschaftler für ihre Ansichten und Geschichten interessierte. Andererseits musste eine unangenehme Atmosphäre oder gar Misstrauen mir gegenüber verhindert werden. Daher war es von grundlegender Bedeutung, Irritationen in der an sich unnatürlichen Situation eines Interviews und bei der Verwendung eines Aufnahmegerätes vorzubeugen, damit die InformantInnen möglichst wenig dadurch beeinflusst, gehemmt oder misstrauisch gemacht wurden.

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So strebte ich zum einen an, möglichst bald ein Vertrauensverhältnis zu InformantInnen aufzubauen, damit sich diese so offen wie möglich in Interviews äußerten. Zum anderen waren diese so aufgebaut, dass narrative Passagen provoziert wurden. Bereits früher hatte ich im außereuropäischen Ausland die Erfahrung gemacht, dass narrativ-biografische Interviews dort selten in Reinform geführt werden können, was auf unterschiedliche Erzählkulturen zurückzuführen sein dürfte. Während der Feldforschung in Nicaragua habe ich daher einen Interviewstil entwickelt, der sich an Prämissen narrativer Interviews orientiert, allerdings offener ist und damit auf unterschiedliche Erzählformen eingehen kann (Rescher 2003). Daneben kannten InformantInnen in der Regel nur den Interviewstil, der in Fernsehinterviews vorherrscht und konnten sich nicht vorstellen, dass ich an langen Antworten interessiert war. Dies schloss den Einstieg mit einer fixen narrativen Eingangsfrage aus. Stattdessen musste ich den Erzählfluss in der Anfangsphase der Interviews durch kürzere Fragen, Nachfragen oder Wiederholungen fördern. Trotzdem gehe ich davon aus, dass das Material nicht verfälscht, denn im Gegensatz zu Vorstellungen von angeblich spontanen, nicht bedachten Äußerungen in narrativen Interviews, nehme ich an, dass InformantInnen in der Regel reflektierte Aussagen tätigen. Daher ging es mir nicht darum, unreflektierte Aussagen zu provozieren, sondern darum, offene Gespräche zu fördern. Nachdem die InformantInnen feststellten, dass ich Raum für ihre Antworten ließ, wurden die Interviews immer narrativer. Diese Phase war mit der Zeit einfacher zu erreichen, wofür ich verschiedene Gründe sehe. Es erwuchs ein größeres Vertrauen, und InformantInnen konnten sich davon überzeugen, dass ich ihre Aussagen weder im Feld weitergab noch anderweitig missbrauchte. Zudem betonte ich wiederholt, dass ich sie anonymisierte. Gleichzeitig war mir eine bestimmte Position im Feld zugestanden worden. Die Akteure hatten sich an mich gewöhnt und tauschten sich über das aus, was ich tat. So wurde das gewachsene Vertrauensverhältnis neuen InformantInnen vermittelt. Mit wachsender Kenntnis des Feldes und steigender Zahl der InterviewpartnerInnen wollten mir dann immer mehr Personen ihre Sicht der Dinge darstellen. Dabei handelte es sich meist um Anführer bzw. Vertreter bestimmter Gruppen, aber auch um Personen, denen eher selten Gehör geschenkt wurde. Sie sahen eine Gelegenheit, nicht anderen die Deutungshoheit zu überlassen, sondern mir zu erklären, „wie die Dinge wirklich sind“. Und schließlich war es für viele InformantInnen eine Selbstbestätigung, von dem Fremden interviewt zu werden. Dies zeigte ihrem sozialen Umfeld, dass sie interessant waren und etwas zu sagen hatten. Daher wurde ich in späteren Phasen meiner Forschung sogar häufig von Personen gefragt, wann ich sie denn endlich interviewen würde. Um den narrativen Charakter der Interviews zu fördern, formulierte ich Fragen möglichst offen und ließ die InformantInnen dann zunächst sprechen. Ihre Ausführungen begleitete ich mit Nicken oder anderen Gesten und Äußerungen, die signalisieren sollten, dass ich zuhörte, interessiert war und verstanden hatte. Dabei versuchte

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ich aber den Eindruck zu vermeiden, dass ich ihnen inhaltlich zustimmte, da dies ihre Aussagen hätte beeinflussen können. Daneben war es zentral, Gesprächspausen auszuhalten. Zum einen gab dies InterviewpartnerInnen Raum und Zeit, ihre Gedanken weiter auszuführen und zum anderen sind Pausen in Gesprächen unangenehm, da sie gegen Konversationsregeln verstoßen, was Reparaturversuche provoziert (Bernard 1994, 215f.). Dieses Phänomen kann genutzt werden, um den Erzählfluss in Gang zu halten, denn oft stellen InformantInnen dann einen Sachverhalt noch einmal anders und ausführlicher dar oder es werden neue Einschätzungen geäußert. Zudem trat so die Tatsache, dass ich ein Aufnahmegerät nutzte in den Hintergrund. Während des Interviews machte ich mir kurze Notizen zu interessanten und neuen Punkten sowie zu Aussagen, die unklar waren oder die ich inhaltlich nicht verstand. Auf dieser Grundlage stellte ich im Anschluss an die „Erzählphase“ des Interviews Nachfragen. Diese verband ich mit im Vorfeld notierten Fragekomplexen, die dem Forschungsinteresse entsprangen. Allerdings wurden viele Fragen bereits ohne Intervention im Laufe der Interviews beantwortet. Dies war bedeutend, da es die Relevanz bestimmter Themen und Phänomene für die InformantInnen belegte. Da die Interviews relativ lang waren, in der Regel über eine und bis zu zweieinhalb Stunden, gestaltete ich diesen Nachfrageteil oft als Nachfolgeinterview (vgl. die Interviewliste im Anhang). Informelle Gespräche Aber auch diese Interviews mussten weiter eingeordnet werden, denn gerade Aussagen in Interviews müssen kritisch hinterfragt werden, wozu ich sie mit Aussagen anderer Akteure und mit Beobachtungen kontrastierte. Insbesondere führte ich aber informelle Gespräche, denn hier wurden Einschätzungen und Sichtweisen freier, offener und spontaner geäußert, als es in formalen Interviewsituationen der Fall war. Allerdings bekamen selbst viele Interviews durch ihre offene Struktur einen informellen gesprächsähnlichen Charakter. Dieser oft fließende Übergang ist eine Eigenschaft ethnographischer Interviews. Zudem ergaben sich im Anschluss an formale Interviews häufig offene Gespräche, in denen das angesprochen wurde, woran ich eigentlich interessiert war. Dies hing damit zusammen, dass nach Ende der formalen Interviewsituation, u.a. signalisiert durch offenes Abschalten des Tonbandgerätes, wieder alltägliche Kommunikationsregeln galten, mit denen sich die InformantInnen wohler fühlten. Des Weiteren fanden viele aufschlussreiche Gespräche in Situationen statt, die keinen Interviewcharakter erlaubten. Dies waren einerseits die angesprochenen Gelegenheiten in informellen (Freizeit-)Situationen. Andererseits hatten viele InformantInnen, gerade Frauen, kaum die Möglichkeit, sich ausreichend Zeit für ein Interview zu nehmen. Daher ging ich dazu über, mit InformantInnen während ihrer Arbeit zu sprechen oder sie auf alltäglichen Wegen zu begleiten. So führte ich bspw. „Interviews“ mit Frauen, während diese Wäsche wuschen oder Garn sponnen und begleitete „Interviewpartner“ bei Autofahrten, um mit ihnen zu sprechen. Für meine

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Forschung war es daher unerlässlich, Gespräche als gleichwertiges Material zu behandeln.

2.2 V ORGEHEN

UND

P OSITION

IM

F ELD

2.2.1 „Orientierung“ im Feld – Reflexion des Forschungsprozesses Positionierung In einem offenen ethnographischen Vorgehen, das auf eine Vielzahl potenzieller Erhebungstechniken zurückgreift, sind Position und Person der/des ForscherIn zentral. Es bedarf einerseits der Fähigkeit im Feld innerhalb kürzester Zeit Entscheidungen zu treffen, welche die weitere Ausrichtung der Forschung beeinflussen. Dabei müssen Chancen gesehen und genutzt, gleichzeitig aber problematische Situationen vermieden werden, die weitere Zugänge im Feld verschließen könnten. Andererseits muss er/sie in der Lage sein, mit ungewohnten Situationen und Lebensumständen umzugehen. Dies hat zum einen eine sehr praktische Komponente, die zu körperlichen und psychischen Belastungen führen kann. Zum anderen müssen sich EthnographInnen in gewissem Maße an lokale Regeln und Gewohnheiten anpassen, um die Akteure im Feld verstehen zu können, aber auch um Fauxpas oder Kränkungen der InformantInnen zu vermeiden. Dies ist besonders schwierig, wenn ForscherInnen möglicherweise durch die soziale Realität im Feld irritiert werden. Durch meine vorherigen Erfahrungen in der Region konnte ich viele dieser Probleme vermeiden. Trotzdem wurde ich mit überraschenden Situationen konfrontiert und musste fortwährend meine Position im Feld reflektieren. Ihre grundlegende Bedeutung erhält die Positionierung dadurch, dass sie dem/der ForscherIn, der/die gewissermaßen selbst Erhebungsinstrument ist, Zugänge eröffnet oder verbaut. Um diese musste ich mich immer wieder bemühen, wobei die in der Literatur ausgiebig diskutierten Gatekeeper eine große Bedeutung hatten. Sie kontrollieren Zugänge zu bestimmten sozialen Feldern und Räumen und können sie dem Forscher öffnen. Allerdings können sie den Zugang auch verweigern, wenn sie annehmen, dass der Forscher nicht zugelassen werden sollte. Wie diese Entscheidung ausfällt, oft erst im Verlauf der Forschung, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Position der Forscher im Feld eingenommen hat und welches Bild von ihm existiert. Die Positionierung hat also weitreichende Konsequenzen für den Forschungsprozess und jede Entscheidung, die Türen öffnet, kann andere verschließen. Während meiner Forschung konnte ich davon profitieren, dass ich an beiden Forschungsorten durch akzeptierte Personen eingeführt wurde, in Cañada Chica durch eine mexikanische

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Wissenschaftlerin, die dort geforscht hatte, und in El Thonxi durch meine Schwiegerfamilie (s.u.). Dies trug dazu bei, dass mir Gatekeeper viele Teilbereiche des Felds öffneten. In Verbindung mit der fortwährenden Reflexion meiner Position im Feld musste ich auch die erhobenen Daten einordnen. Da diese einerseits durch Annahmen der InformantInnen über den Forscher beeinflusst werden oder sich andererseits die Stimmung des Forschers auf die situationsabhängige Bewertung des Materials, z.B. in Zwischentönen bei der Niederschrift von Notizen, auswirken kann, müssen die Daten zwingend trianguliert werden. Somit geht es in diesem Vorgehen bei der Triangulation nicht bloß um die Überprüfung des Materials, sondern sie ermöglicht auch, „verfälschende“ Einflüsse der ForscherIn auf das Material zu entdecken. Ein Hilfsmittel zur späteren Reflexion von Positionierungen und spezifischen Situationen im Forschungsprozess war der Einsatz von Feldtage- und Logbüchern (Bernard 1994, 181f.), in denen ich einerseits versuchte, meine aktuellen Gedanken und Stimmungslagen festzuhalten und andererseits einen Überblick darüber zu schaffen, wo ich gewesen war, wie viele Termine ich hatte u.ä., um auf dieser Grundlage ihren Einfluss auf die Bewertung meines Materials einschätzen zu können. Interaktive Grundlagen des Erhebungsprozesses Mit fortschreitendem Forschungsprozess und gefestigtem Vertrauensverhältnis zu diversen InformantInnen begann ich, mit manchen herkömmlichen Prämissen der Datenerhebung zu brechen. Insbesondere gab ich in manchen Fällen meine Neutralität kontrolliert auf. Dies geschah aus zwei Erwägungen heraus. Zum einen wurde es immer schwieriger, den bald auftretenden Fragen nach dem eigenen Standpunkt und der Bewertung geschilderter Vorkommnisse auszuweichen. Fast von Beginn an wollten Gesprächspartner auch etwas über mich erfahren und waren sehr an der Perspektive interessiert, die ein externer Akademiker auf ihr Dorf und Leben hatte. Die Forschungssituation war eben nicht künstlich, sondern hatte einen interaktiven Charakter. Oft wurde es nahezu unmöglich, eine neutrale Gesprächssituation aufrechtzuerhalten, ohne die InformantInnen vor den Kopf zu stoßen. Berechtigterweise wollten sie im Austausch für ihre Antworten auch Fragen stellen, so wie es in einer normalen Kommunikationssituation üblich wäre. Wie ich feststellte, war dies letztlich unproblematisch, und indem ich darauf einging, entwickelten sich oft sehr tiefgehende Gespräche. Dadurch, dass ich mich positionierte und ihre Fragen beantwortete, wuchs das Vertrauen meist weiter, sodass GesprächspartnerInnen bereit waren, eindeutige Aussagen zu treffen. Zum anderen begann ich meinen HauptinformantInnen gegenüber konkrete Interpretationen zu äußern, um deren Reaktion zu beobachten, meine Einschätzungen zu testen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Der kontrollierte relative Bruch meiner Neutralität wurde also einerseits durch die sozialen Beziehungen im Feld nötig, andererseits beeinträchtigte er die Forschung kaum, sondern förderte sie eher.

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So stellte bspw. mein Interesse für Migration und transnationale Prozesse einen guten Ansatzpunkt dar, um mit Akteuren im Feld über ihren Alltag, Perspektiven u.ä. ins Gespräch zu kommen. Daher nutzte ich dieses Thema häufig als Einstieg in formale Interviews, denn da die Migration in die USA allgegenwärtig ist, konnte jede/r etwas dazu sagen. Es war also ein guter Auftakt für Gespräche und Interviews, von dem aus ich zu dem Wandel innerhalb der Dorfgemeinschaften und schließlich meinen politischen Fragestellungen überleiten konnte. Zu einem positiven Gesprächsklima trug besonders bei, dass ich im Austausch über Migration viele Fragen der InformantInnen an mich beantworten konnte. Sie waren neugierig, wie das Leben in Deutschland ist und wollten es mit ihren Erfahrungen in den USA vergleichen. Zudem waren sie an meiner Einschätzung der Situation in Mexiko und den USA interessiert. Darüber hinaus war es grundsätzlich hilfreich, den Wissensvorsprung meiner InformantInnen aufrichtig zu betonen. Dies hatte zwei Vorteile, zum einen wurde die potenziell machtgeladene Situation des Aufeinandertreffens zwischen „wissendem Akademiker“ und „unwissendem Dörfler“ entschärft. Da den InformantInnen signalisiert wurde, dass sie „wissend“ waren und ihr lokales Wissen einen großen Wert hatte, wurde das hierarchische Gefälle vermindert und eine relativ gleichberechtigte Gesprächssituation geschaffen. Zum anderen erleichterte es den Zugang zu Wissensvorräten und Bedeutungsgebungen der InformantInnen. Da ich mich als Lernender präsentierte, wurde mir viel mehr erklärt, als dies sonst der Fall gewesen wäre. Dadurch konnte ich einen tieferen Einblick in Rationalitäten, Perspektiven und Handlungsrationalitäten gewinnen und lokale Relevanzstrukturen rekonstruieren. Abschließend muss betont werden, dass der Wechsel von einer Art der Erhebung zu einer anderen sehr schnell und oft überraschend vor sich gehen konnte. Dies führte bei bestimmten Ereignissen sogar zu der gleichzeitigen Anwendung verschiedener Methoden. Ein Beispiel dafür ist die Situation nach einem beobachteten Verkehrsunfall, die Interaktion mit der Polizei und ein anschließendes informelles Gespräch mit dem regionalen Polizeikommandanten (s. Kap. 6.1.3). Entsprechendes traf auch zu, wenn ich bspw. eine Wahlkampfveranstaltung beobachtete, der Rede eines Kandidaten zuhörte, Kommentare aus dem Publikum zu verstehen versuchte und gleichzeitig mit Anwesenden sprach, um etwas über deren Einschätzungen herauszufinden (vgl. Kap. 5.1.1). Solche Forschungssituationen boten die Chance, eine Vielzahl an hochinteressantem und wichtigem Material zu erheben, das miteinander kontrastiert werden konnte, erforderten aber die zeitnahe Erstellung von Notizen und Protokollen, sofern ich die Daten nicht direkt aufzeichnen oder aufnehmen konnte. Methodische Rückzüge Ein wichtiger Aspekt des Forschungsprozesses ist das Bestreben, zwar den Kontext sowie lokale Regeln, Sichtweisen, Handlungslogiken etc. möglichst gut kennenzu-

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lernen und einen Großteil der sozialen Realität direkt mitzuerleben, um soziale Prozesse nachzuvollziehen, aber trotzdem nicht im Feld aufzugehen. Es muss eine Distanz gewahrt bleiben, die ermöglicht, es aus einer analytischen Außensicht zu betrachten. Dazu ist es wiederum entscheidend, die eigene Position im Feld zu reflektieren, um das sogenannte Going Native zu vermeiden (Bernard 1994, 137f.). Andernfalls besteht die Gefahr, dass die sozialen Prozesse im Feld zur Normalität werden, wodurch für die Analyse Relevantes nicht mehr als interessant wahrgenommen wird. Diese Gefahr ist potenziell besonders groß, wenn man das Forschungsfeld wie in meinem Fall bereits (etwas) kennt oder über persönliche Verbindungen verfügt. Daher kann es nötig werden, das Feld zu verlassen, um es wieder zu befremden und Distanz zu gewinnen (vgl. Hirschauer/Amann 1997). Gerade bei längeren Feldforschungen ist dies fast zwingend erforderlich. Die Gewöhnung an lokale Regeln und Gegebenheiten wird abgeschwächt und man kehrt mit unverstelltem Blick in das Feld zurück. Gleichzeitig haben diese methodischen Rückzüge weitere Vorteile. Den Akteuren im Feld wird durch die spätere Rückkehr verdeutlicht, dass man sich für sie interessiert. Dann kann sie den Charakter einer freudigen Wiederkehr haben, denn im Idealfall kehrt ja tatsächlich der/die ForscherIn als eine Bekannte ins Feld zurück. Aber auch der/die ForscherIn selbst kehrt zu etwas Bekanntem zurück. Durch die meist freudige und entspannte Situation des erneuten Aufeinandertreffens wird die anschließende Forschungsphase als angenehmer und produktiver empfunden. Dies traf in meinem Fall besonders auf die Rückkehr aus Deutschland nach Unterbrechungen zwischen den einzelnen Forschungsabschnitten zu. Gleichzeitig konnte ich mich aber auch auf alltägliche Weise durch kurze Auszeiten vom Feld distanzieren, denn ich legte zwar abwechselnd den Schwerpunkt auf einen der beiden von mir untersuchten Fälle und wohnte dann dort, war aber immer auch im jeweils anderen präsent, bspw. bei wichtigen Ereignissen oder für Interviews. 2.2.2 Wechselnde Stufen der Fremdheit – Die schwierige Balance zwischen Distanz und Nähe Die Positionierung im Feld hatte einen dynamischen Charakter, der durch meinen persönlichen Hintergrund befördert wurde. Zwar war ich eindeutig ein Fremder, der von außen ins Feld kam, mit der Zeit aber entwickelten sich interessante Prozesse eines komplexen Wechselspiels zwischen Fremdheit und Nähe. Dies hing u.a. damit zusammen, dass ich Deutscher und Brasilianer bin, denn obwohl ich mich als deutscher Forscher vorstellte, hatten InformantInnen oft eine andere Wahrnehmung. Ausgehend von einem angenommenen geteilten lateinamerikanischen Hintergrund konstruierten sie Nähe auf Grundlage meines Aussehens, meiner Spanisch-Sprachkenntnisse (trotz Akzent) sowie kultureller Vertrautheit. Besonders wichtig war jedoch die häufige Anwesenheit meiner aus der Gegend stammenden Ehefrau, die ebenfalls in

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der Region forschte. Erstaunlicherweise tendierten viele InformantInnen dazu, mich stärker mit ihrer Herkunft zu verbinden als mit meiner eigenen. Sie nahmen an, dass ich durch meine Frau und vorherige Aufenthalte in Mexiko ihre Kultur eingehend kannte. Dies führte in Barranca Empinada zu einer gewissen Zuschreibung zum entsprechenden Teil des Valle del Mezquital, was eine Verbindung von Nähe und Distanz ausdrückte. Gleichzeitig stellten bspw. meine ausländische Staatsbürgerschaft und Bildungshintergrund Distanz her. In manchen Situationen war aber gerade diese Fremdheit hilfreich, vor allem um Gender-Regeln zu relativieren oder InformantInnen in Behörden anzusprechen. In El Thonxi war die Positionierung noch komplexer, da meine Schwiegerfamilie aus dem Ort stammt. Ich wurde mit der Familie identifiziert, wenn auch klar war, dass ich als Externer einen anderen Hintergrund hatte. Dies hatte Vor- und Nachteile, denn einerseits herrschte zunächst eine gewisse Zurückhaltung, da wohl befürchtet wurde, dass ich mit meiner Schwiegerfamilie über die Aussagen von InformantInnen sprechen würde. Dies mag GesprächspartnerInnen anfänglich beeinflusst haben. Andererseits eröffnete mir die familiäre Bindung schnelleren Zugang zu manchen Akteuren im Feld, da ich bestehende soziale Beziehungen nutzen konnte. Zudem war es für die Einordnung bestimmter Daten sehr hilfreich, tatsächlich auf Kenntnisse und Bewertungen von Familienmitgliedern zurückgreifen zu können, die bspw. abends in Diskussionen am Küchentisch über Vorgänge im Ort geäußert wurden. In jedem Fall ermöglichte mir diese Anbindung schneller eine teilnehmende Beobachterposition einzunehmen, in der ich allerdings mein Nicht-Wissen betonen musste, um Informationen zu erhalten. Die InformantInnen konstruierten die Nähe anfangs vor allem, um Interaktionen mit mir zu erleichtern, mit der Zeit wurden aber mein Verhalten, Einstellungen und Haltungen als Zeichen für Verbundenheit und einen geteilten kulturellen Hintergrund angesehen. So wurde ich mit der Zeit als „naher Fremder“ kategorisiert, als ein Externer, der näher eingeordnet wurde und bekannter war als andere Fremde. Dies machte den Umgang allmählich vertrauter, da viele InformantInnen anzunehmen begannen, ich würde ihre Standpunkte leicht nachvollziehen können. Gleichzeitig kamen mir weiter die Vorteile der Position als Externer zugute. Insbesondere wurde ich als Fremder nicht mit Institutionen und Machtgruppen im Feld identifiziert, wenn auch in El Thonxi mit der Familie, wodurch ich letztlich zu einem nahen, aber neutralen eingeweihten Fremden wurde, der in gewissem Maße dazugehörte. Dies entsprach einer Konzeptualisierung, die durch fortwährende Identitäts-Hybridisierungen im Feld weiter begünstigt wurde. InformantInnen konnten diesen multidimensionalen Positionierungen auf Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen mit transnationaler Migration, die ihre Kategorisierungen veränderte hatte, Sinn geben. Diese dynamische Positionierung half mir das notwendige Vertrauen zu erlangen, um über solch sensible Themen wie Demokratisierung und politischen Wandel zu forschen.

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2.2.3 (Praxis der) Positionierung Aufgrund dieser Dynamik der Positionierung im Feld war ich also gezwungen, diese fortwährend zu reflektieren, um mir soweit möglich der jeweiligen situativen Position mit all ihren Konsequenzen bewusst zu werden. Dies führte dazu, dass ihre Vorund Nachteile deutlich wurden, denn sie konnte bspw. sowohl zu einer Abweisung aufgrund gefühlter Nähe führen, da lokale soziale Regeln gültig wurden, als auch Zugang zu Sphären eröffnen, die anders eingeordneten Fremden verschlossen bleiben. Darüber hinaus hatte es den Vorteil, dass ich versuchen konnte, mein Bild bewusst zu beeinflussen. Dafür werde ich im Folgenden einige typische Beispiele geben. Verschiedene Möglichkeiten, wie ich mich Personen im Feld nähern, mich angemessen positionieren und ein Vertrauensverhältnis aufbauen konnte, entdeckte ich nach einiger Zeit. Im Rahmen des ethnographischen Mit-Erlebens des Alltags hatte ich versucht, mich an verschiedenen Aktivitäten meiner InformantInnen zu beteiligen, was aber zunächst auf zwei Arten von Hindernissen stieß. Zum einen waren Frauen im Feld mir gegenüber zwar relativ offen und interessiert und interagierten mit mir schon allein aus Gründen der Höflichkeit, allerdings war es aufgrund geschlechtsspezifischer Tätigkeitszuschreibungen schwer, tatsächlich an ihren Arbeiten teilzunehmen.4 So blieb ich ein Beobachter, mit dem man sich aber unterhielt. Zum anderen war ein größerer Teil der Männer eher skeptisch und konnte mich nicht richtig einschätzen. Sie waren vorsichtig, wodurch der Zugang erschwert wurde. Dazu gehörte, dass angenommen wurde, ich sei als „Universitäts-Mensch“ kaum für ihre Tätigkeiten geeignet. Landwirtschaft, Bauarbeiten u.ä. wurden als körperlich zu schwer für mich angesehen. Beide Hürden konnte ich aber schließlich doch durch die zeitweise Teilnahme an körperlicher Arbeit überwinden. So erlangte ich über die Gemeinschaftsarbeit in den Dörfern (vgl. Kap. 3.1.2) Zugang zu Männern, aber insbesondere auch Frauen, da sie oft in Vertretung migrierter Männer arbeiten. Eine Aktivität, bei der ich besonders mit Männern in Kontakt treten konnte, war der Hausbau. Diese Arbeiten werden fast ausschließlich von ihnen verrichtet, und es gibt Bauphasen, für die viele Helfer benötigt werden. Insbesondere das Gießen des Betondaches wird gemeinschaftlich organisiert, auch wenn diese früher reziproke Arbeit monetarisiert wurde. Bei einer dieser Gelegenheiten konnte ich erleben, wie sich die Haltung mehrerer Männer mir gegenüber deutlich wandelte. Durch die gemeinsame Arbeit sahen sie, dass ich nicht so fremd und „seltsam“ war, wie sie wohl angenommen hatten. Es entstand etwas Verbindendes und es wurde für sie einfacher mich einzuordnen.

4

Was aber nicht verhinderte, dass wir gegen Ende der Feldforschung bspw. Kochrezepte austauschten, da einige Frauen neugierig auf deutsche Gerichte waren.

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So erlebte ich, wie wichtig gemeinsame Arbeit für die soziale Vernetzung innerhalb der Dorfgemeinschaft ist. Sie stellt einen zentralen Teil der sozialen Organisation dar, durch den die Vergemeinschaftung in den Dörfern bestärkt wird. Durch die Zusammenarbeit findet eine fortwährende Selbstvergewisserung und Neu-Konstitution als Gemeinschaft statt. Dies konnte ich mir letztlich zunutze machen, um eine akzeptierte soziale Position im Feld zu erarbeiten, denn es zeigte, dass ich mich für den Alltag der Menschen vor Ort interessierte und dazu bereit war, mit ihnen zusammen und zumindest ansatzweise wie sie zu arbeiten, ohne mich als etwas Besseres zu fühlen. Da ich selbst darauf bestanden hatte mitzuarbeiten, obwohl mir davon abgeraten wurde, um mich zu schützen, wurde dies noch verstärkt. Zu manchen Gruppen war es allerdings schwieriger, ein vertrauenswürdiges Verhältnis aufzubauen. Politisch engagierten Akteuren war bewusst, dass ich eine eher kritische Sicht auf (partei-)politische Praktiken und Strategien haben könnte. Insbesondere traf dies auf Gespräche mit Anhängern und AktivistInnen der PRI zu, denen die moralische Problematik des politischen Vorgehens ihrer Partei, bspw. in Wahlkämpfen, oft bewusst war. Unerwarteterweise wurde dies aber zu einem Vorteil für die Forschung. Als die anfängliche Skepsis überwunden war stellten sie fest, dass ich zwar möglicherweise eine andere Meinung vertrat, aber keinesfalls über sie richten, sondern ihre Standpunkte kennenlernen wollte. Damit entstand eine gute Basis für relativ offene Interviews und spätere Diskussionen. Statt sich zu verweigern, um möglicher Kritik aus dem Weg zu gehen, sahen sie eine Möglichkeit, ihre Sichtweise und ganz persönlichen Motivationen und Probleme darzustellen, statt pauschal der „großen korrupten Institution PRI“ zugerechnet zu werden. Der Versuch mich zu positionieren stieß aber auch an Grenzen. Besonders bei Personen, die mich nicht aus den Dörfern kannten, kam es zu Missverständnissen. Oft fiel es ihnen schwer, mich zu verorten, da meine Fremdheit offensichtlich war, ohne dass sie wussten, woher ich kam und was ich tat. Gerade auf regionaler Ebene musste ich darauf achten, mich immer wieder entsprechend einzuführen, wenn ich zu relevanten Personen Kontakt aufnahm. Trotzdem kam es bspw. zu der Situation, dass PRI-Politikern in Ixmiquilpan auffiel, dass ich über einen längeren Zeitraum einen bekannten PRD-Aktivisten begleitete, ein Hauptinformant und Gatekeeper aus Barranca Empinada, sie sich aber nicht erklären konnten, wer ich war. Sie hielten mich schließlich für seinen Bodyguard. Dies zeigt, wie im Feld ganz unerwartete Zuschreibungen entstehen können. Unterschiede existierten auch zwischen den beiden Dörfern, in denen ich forschte. Sie hingen sowohl mit meiner unterschiedlichen Positionierung, als auch dem jeweils vorherrschenden Interaktionsstil im politischen Bereich zusammen. So war es in Barranca Empinada problemlos möglich, InformantInnen zu politischen Ereignissen und Treffen sowie zu Behördenbesuchen zu begleiten, und ich wurde sogar explizit dazu eingeladen. In El Thonxi dagegen war es sehr schwierig, in gleicher Weise einbezogen zu werden, obwohl ich mehrfach darum bat. Der Grund lag

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darin, dass in Barranca Empinada Verhandlungen mit externen Akteuren grundsätzlich transparenter und offener waren und mehr Personen daran teilnahmen als in El Thonxi. Dort fuhr meist der Delegado (Dorfsprecher) oder einer der lokalen Anführer allein zu Regierungsbehörden und wandte sich tendenziell eher an bestehende Parteikontakte in diesen Institutionen. Abgesehen davon, dass man mich möglicherweise nicht dabei haben wollte, war man hier schlicht nicht daran gewöhnt, dass andere Personen anwesend waren. Teilweise konnte man sich aber auch nicht vorstellen, was mich an diesen als alltäglich eingestuften Treffen interessieren könnte, sodass man vergaß, mir Bescheid zu geben.

2.3 ANALYSE

ALS ZIRKULÄRER

P ROZESS

Die Analyse begann bereits im Feld, um wie in qualitativer Forschung üblich, die weitere Datenerhebung gemäß dem hermeneutischen Zirkel zu gestalten. Forschung und Analyse werden dabei nicht künstlich getrennt, sondern die Datenerhebung wird durch fortwährende Analyse geleitet, was auch für das oben erläuterte Theoretical Sampling grundlegend ist. Während es jedoch idealtypisch üblich ist, sich erst nach Abschluss eines Analyseschritts wieder ins Feld zu begeben, war dies in meinem Fall nicht möglich. Da ich im Ausland forschte, musste ich die Zeit optimal nutzen und war stärker auf vorläufige Analysen zur Ausrichtung der nächsten Forschungsschritte angewiesen. Dazu suchte ich mir Rückzugsräume innerhalb des Feldes (s.o.). Nach Rückkehr aus dem Feld begann die ausführliche Analyse des Materials, das aus über 60 formalen Interviews, etwa 20 Tonbandaufnahmen von Versammlungen und Ereignissen, mehr als 15 längeren Beobachtungsprotokollen und einer größeren Anzahl an kurzen Protokollen zu Beobachtungen und Gesprächen bestand.5 So bereitete ich relevante Teile auf, verschriftlichte Notizen und transkribierte Interviews. Andere Teile bearbeitete ich (zunächst) direkt, indem ich mir Interviews anhörte oder einzelne Notizen und Beobachtungsprotokolle las. Da ich über eine sehr große Menge an Daten verfügte, erarbeitete ich mir Zugänge, indem ich sie einordnete und grob klassifizierte. Daran schloss sich eine feinere Analyse relevanter Teile an, in der ich Codes und darauf basierende Kategorien bildete. Während des gesamten Prozesses wurden Memos geschrieben, um Analyseergebnisse, aber auch weitere Gedanken, mögliche Querverbindungen u.ä. festzuhalten. Sie lagen anfangs sehr nah am Material und bezogen sich bspw. auf bestimmte Beobachtungen, Ereignisse oder Phänomene. Später wurden sie immer analytischer und abstrakter und bezogen sich dann auf konkrete Konzepte oder Prozesse, die ich aus dem Material herausgearbeitet hatte. Dazu schrieb ich wie in der Literatur empfohlen Memos über andere Memos,

5

Verweise auf das Material (s. Anhang) stehen im Text in eckigen Klammern.

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was die Abstraktionsebene erhöhte und zu einer immer stärkeren analytischen Verdichtung führte. Diese Memos bzw. Teile davon überführte ich schließlich in die Rohversionen der Kapitel der vorliegenden Arbeit. Während ich sie mehrmals eingehend überarbeitete, führte ich die Analyse fort, integrierte neue Punkte und baute Argumentationen aus, jetzt allerdings ohne explizit neue Memos zu schreiben. Die neuen Gedanken, Argumente und Ergebnisse flossen ab einem bestimmten Punkt direkt in die Rohversion der Forschungssschrift ein. Dies spiegelte sich auch im Prozess der Diskussion mit KollegInnen wider, der ein grundlegendes Element qualitativer Datenanalyse ist. Während es gerade zu Beginn viele Analysesitzungen im Rahmen von Doktorandenkolloquien und mit KommilitonInnen gab, in denen gemeinsam Material diskutiert wurde, traten mit steigender theoretischer Sättigung meiner Analyse die verfassten Texte und ausgearbeiteten Argumentationen in den Vordergrund, bis schließlich Rohversionen einzelner Kapitel diskutiert wurden. Daneben nutzte ich Vorträge in Mexiko, Deutschland und den USA, um (vorläufige) Ergebnisse einem Fachpublikum vorzustellen, meine Argumente zu überprüfen und in der Diskussion zu schärfen. Besonders hilfreich war es bei diesen Gelegenheiten, Debatten mit WissenschaftlerInnen und anderen Personen zu führen, die den Kontext kennen. Sie konnten meine ersten Interpretationen einordnen und mir weitere Hinweise geben. Die Analyse des Materials entsprach weitgehend dem ursprünglich in der Grounded Theory vorgeschlagenen Vorgehen. Das später von Glaser eingeführte Kodierparadigma nutzte ich hingegen nicht, weil dies m.E. die Analyse stark einschränkt und damit der Grounded Theory und grundsätzlicher einem ethnographischen Vorgehen den Vorteil der Offenheit und „Entdeckungsfreude“ nimmt. Stattdessen stellte sich das analytische Verfahren der Abduktion als besonders nützlich heraus, um bisher nicht wahrgenommene Zusammenhänge zu erkennen. Im Gegensatz zu induktiven und deduktiven Vorgehensweisen zielt die Abduktion explizit darauf ab, zunächst keine strikten logischen Schlüsse auf das Material anzuwenden. Analyseergebnisse sollen vielmehr ohne aufgezwungene Logik aus dem Material selbst entstehen (Reichertz 2007; 2000, 279), indem den Gedanken bei der Abduktion zunächst freier Lauf gelassen wird. Man befasst sich mit dem Material in einer Weise, in der zunächst allgemeine Überlegungen vollzogen werden. Dabei werden vorgefertigte Meinungen, Thesen und Annahmen eher ausgeblendet und über das Material „so wie es ist“ nachgedacht. Dadurch können neue Perspektiven auf die Daten entstehen und Zusammenhänge erkannt werden, die sonst nicht aufgefallen wären. Im Anschluss werden diese systematisch ausgeweitet und begründet. Diese Herangehensweise kann also systematisiert und in breitere Analyseverfahren eingebettet werden. Denn ähnlich wie in ethnographischen Ansätzen geht es hier letztlich darum, offen für das Feld bzw. Material zu sein und sich von dessen Relevanzstrukturen leiten zu lassen.

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Insbesondere die Einbettung im Feld förderte wichtige abduktive Schlüsse für den Forschungsprozess. Oft geschah dies während der Datenerhebung, in Rückzugsphasen oder Situationen, die formal nicht der Materialerhebung dienten, aber durch anhaltende ethnographische Aufmerksamkeit geprägt waren. Dies traf z.B. auf abendliche Gespräche bei der Gastfamilie oder auf Feste zu (vgl. Kap. 4.2). Viele anfangs relativ vage Vermutungen konkretisierten sich im Laufe der Forschung und wurden zu zentralen Analyseergebnissen. Zwar nutzte ich auch in größerem Umfang deduktive Schlüsse in der Tradition vieler qualitativer Analyseverfahren, aber letztlich stieß ich erst durch abduktive Schlüsse auf die Argumente und Thesen dieser Arbeit, die sich auf das „Neue“ im Feld, auf bisher unerkannte oder nicht vorstellbare soziale Prozesse und Zusammenhänge beziehen. Sie ermöglichten das herauszuarbeiten, was den Erkenntnisgewinn meiner Analyse und Arbeit ausmacht.

3. Die Comunidad – Ort des Wandels und sozialer Fixpunkt

Die Comunidad, die (indigene) Dorfgemeinschaft, ist die grundlegende Einheit der sozialen und, wie ich später zeigen werde, politischen Organisation im ländlichen Raum Mexikos. Anhand meiner Fallstudien im Valle del Mezquital in Zentralmexiko werde ich in diesem Kapitel ihren Aufbau und ihre soziale Bedeutung diskutieren. Ein entsprechendes Muster lokaler Organisation findet sich in vielen Teilen Mexikos, insbesondere in ländlichen und indigenen Gebieten (Navarrete 2008, 45f. vgl. die Beiträge in Lisbona 2005). Daher wird diese Art der Selbstorganisation oft als spezifisch indigen angesehen, was die Interaktion zwischen der Comunidad und der „Außenwelt“ beeinflusst. Das Verständnis dieser Organisationsform ist grundlegend für die Analyse von Transformations- und Entwicklungsprozessen und damit von politischem Wandel und Demokratisierung. Denn zum einen beherbergt sie wichtige Arenen für die Aushandlung solcher Prozesse und zum anderen ist sie wesentlicher Teil der lebensweltlichen Relevanzstrukturen der Akteure im Feld, sodass sich viele ihrer Handlungen an der Comunidad orientieren. Paradoxerweise hat sie einen formalisierten, aber flexiblen Charakter, denn ihre konkrete Form ist in Aushandlungsprozessen der DorfbewohnerInnen untereinander, aber auch mit externen, insbesondere staatlichen Akteuren entstanden und wird fortwährend rekonstruiert. Diese Organisationsform ist also nicht einfach das Ergebnis staatlicher Regelungen, sie steht sogar außerhalb der verfassungsmäßigen administrativ-politischen Struktur. Trotzdem wird sie de facto anerkannt und immer wieder durch staatliche und entwicklungspolitische Interventionen beeinflusst und in entsprechenden Aushandlungsprozessen transformiert. Neben dieser funktional-organisatorischen Dimension existieren weitere, die sich auf Arten von Zugehörigkeit zur Gemeinschaft beziehen.

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3.1 S OZIALE UND KULTURELLE L OGIKEN DER G EMEINSCHAFT – I NDIGENE D ORFGEMEINSCHAFT ALS MEHRDIMENSIONALES GESELLSCHAFTLICHES K ONSTRUKT 3.1.1 Eine Dorfversammlung in El Thonxi Es ist Sonntagmorgen gegen acht Uhr, als ich mich auf den Weg zur Grundschule mache, in der die Dorfversammlung stattfinden soll. Ich treffe dort etwas zu spät ein, wie erwartet sind jedoch noch kaum Teilnehmer anwesend. So stehen zunächst alle beieinander und unterhalten sich. Später teilt sich die Gruppe durch die Ankunft weiterer Dörfler in mehrere kleine Grüppchen auf. In diesen wird teils Spanisch, teils Hñähñu gesprochen, aber meist wird zwischen beiden Sprachen hin- und hergewechselt. Es geht in den Gesprächen um Angelegenheiten des Dorfes, meist um Punkte, die später in der Versammlung besprochen werden sollen, aber es finden auch Unterhaltungen über alltägliche Themen statt, so über Landwirtschaft, Familie und Neuigkeiten. Zu dieser Tageszeit ist es noch etwas frisch und alle sind in warme Mäntel und Jacken gehüllt. Zum Teil scheinen einige Anwesende ob der Wartezeit verstimmt zu sein. Einige schauen betont gelangweilt oder entnervt um sich, gehen auf und ab oder sehen sich um, ob jemand kommt. Zudem werden entsprechende Kommentare gemacht, aber aus dem leicht resigniert klingenden Unterton lässt sich entnehmen, dass niemand etwas anderes erwartet hat. Es wird die Hoffnung geäußert, dass zumindest bald jemand mit dem Schlüssel kommt, um die Schule aufzuschließen. Dies geschieht dann gegen halb neun und die Anwesenden betreten nach und nach den Raum. Einige führen die Unterhaltungen draußen zu Ende, während sich drinnen neue entwickeln. So wird noch etwa eine viertel bis halbe Stunde gewartet, während nach und nach mehr Teilnehmer und auch die ersten Teilnehmerinnen eintreffen. Dann füllt sich der Raum relativ rasch und kurz vor neun schickt sich der Delegado an, die Dorfversammlung zu eröffnen. Dazu geht er nach vorne und bittet durch die geöffnete Tür alle Anwesenden hereinzukommen und Platz zu nehmen. Die meisten, besonders die Frauen, saßen bereits und auch der Großteil der anderen setzt sich jetzt. Dabei werden die Sitzplätze vorwiegend von den Rändern, von den Wänden her gefüllt. Es fällt auf, dass die Frauen meist zusammensitzen, viele in der hinteren Ecke zwischen Fensterfront und Rückwand. In diesem Bereich sitzen sie üblicherweise, nur einige wenige Frauen sitzen vor diesem Block. Dabei handelt es sich um diejenigen Frauen, die sich eher zu Wort melden, wie z.B. die Lehrerin Mariana, die zwar an der Rückwand, aber dort exponiert in der Mitte sitzt. Auch drinnen ist es kalt, und viele der Anwesenden hüllen sich in ihre Mäntel. Dies passt zur Stimmung, die insgesamt unterkühlt wirkt. Während der Delegado die Tagesordnung vorstellt, gibt es zunächst kaum Reaktionen. Die TeilnehmerInnen schauen zur Tafel, gelegentlich nach draußen. Nach und nach kommen weitere Personen hinzu. Als ich in die Runde schaue, habe ich den Eindruck, dass viele entweder müde oder gelangweilt sind und noch nicht ganz bei der Sache. Alle wirken recht passiv und abwartend, was sich später aber noch grundlegend

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ändern soll. Im Moment hören jedoch alle dem Delegado zu, nur gelegentlich wird etwas zur Tagesordnung angemerkt, in der Regel von Mitgliedern der Delegación oder einem der Líderes. Die meisten Anwesenden sind mittleren Alters, lediglich bei den Frauen sind viele jünger. Unter den Männern sind dagegen kaum jüngere oder ältere Männer anwesend. Einige Frauen werden von Kindern begleitet, was offensichtlich teilweise als störend wahrgenommen wird. Viele Anwesende sind auf eine der für die Region üblichen Weisen gekleidet. Sie tragen Hüte, bei denen es sich vor allem um die Imitation von Cowboyhüten in US-amerikanischem Stil handelt. Es gibt nur ein oder zwei Tornillos, die „traditionellen“ Palmhüte aus der Region. Es fällt aber auf, dass einige Teilnehmer Baseballkappen tragen, offenbar vor allem diejenigen, die längere Zeit in den USA waren oder erst vor kurzem zurückgekehrt sind. Das Schuhwerk ist dagegen einheitlicher, da die meisten Männer Lederstiefel tragen, die Frauen Sandalen oder Schlappen. Nach der Vorstellung und Anpassung der Tagesordnung wird die Anwesenheit der Bürger bzw. ihre Vertretung ermittelt, indem ihre Namen laut verlesen und die anwesenden bzw. vertretenen Bürger nach einer kurzen Meldung vermerkt werden. Dabei wird in der Prozedur kein Unterschied zwischen beiden Fällen ersichtlich, es gibt beispielsweise keine Nachfrage, wenn sich eine Frau statt des aufgerufenen Mannes meldet. Offenbar ist bekannt, wer berechtigt sein kann, welchen Bürger zu vertreten. Dieser Vorgang nimmt relativ viel Zeit in Anspruch und es werden weiter Unterhaltungen geführt, einige Frauen sticken. Es kommen weitere TeilnehmerInnen, und als dann keine Sitzplätze mehr frei sind, folgt der Ankunft jeder Person der Gang in den Nachbarraum, um einen Stuhl zu holen. Dies trifft auf etwa acht Personen zu. Mir ist, wie offensichtlich einem Großteil der Versammelten, weiterhin kalt. Dieses Gefühl verstärkt sich dadurch, dass jetzt alle im Raum sitzen und die mangelnde Bewegung die Füße erkalten lässt. Dann beginnt jedoch die Feststellung der Tagesordnung und in dem Maße, in dem sich die Aufmerksamkeit auf die Wortwechsel konzentriert und sich die Gemüter erhitzen, schwindet nach und nach auch die Kälte. Dieser Eindruck ergibt sich bei der Beobachtung der Anwesenden, die jetzt deutlich lebhafter diskutieren, stärker gestikulieren und konzentriert bei der Sache sind. Dies geht zeitlich damit einher, dass die Sonne durch die Wolkendecke bricht und es allgemein wärmer wird, während zugleich mehr Menschen im Raum sind und diesen nach und nach aufheizen. So legen die TeilnehmerInnen langsam ihre Jacken und Schals ab, während sie aufmerksam der Diskussion folgen. Als alle Formalitäten geklärt sind, wird direkt zur Tagesordnung übergegangen, und einige Punkte scheinen mit Interesse oder sogar Spannung erwartet zu werden. Mehreren Anwesenden ist die Anspannung an der Körperhaltung abzulesen. Viele, die bisher zurückgelehnt mit den Händen in den Taschen saßen, beugen sich vor, um besser zu hören, was gesprochen wird. Gleichzeitig verändert sich bei vielen die Mimik, die jetzt ihre Aufmerksamkeit ausdrückt. Aber selbst andere, die sich kaum bewegen, wie die Lehrerin Mariana, die ein kleines Tischtuch bestickt, sind jetzt sehr aufmerksam, was sich aus den Blicken schließen lässt, die den Sprechern zugeworfen werden. Obwohl die Mehrzahl auf den ersten Blick weiterhin sehr passiv und fast unbeteiligt wirkt, lässt sich auf einen zweiten Blick bei vielen großes Interesse erken-

80 | D OING D EMOCRACY IN INDIGENEN D ORFGEMEINSCHAFTEN nen. Andere wirken dagegen weiter ruhig und es scheint fast so, als ob einige nur aus Pflichterfüllung gekommen seien, ohne die Themen selbst für wichtig zu erachten. Mit der Zeit deuten dann aber die immer wieder entstehenden Seitengespräche, Kommentare und teils leises Gelächter darauf hin, dass die Diskussionspunkte eine persönliche Anteilnahme gefunden haben. [Dorfversammlung, El Thonxi]

3.1.2 Die Selbstorganisation der Dorfgemeinschaft Institutionen und Ämtersystem Im Zentrum der Organisation steht die Dorfversammlung, die Junta oder Asamblea. Hier werden Angelegenheiten des Dorfes beraten und die Gemeinschaft betreffende Entscheidungen gefällt. Sie ist Plenum und wichtigste beschlussfassende Instanz und hier werden in einem offenen Wahlverfahren die Cargos genannten Ämter der Gemeinschaft an die meist männlichen Mitglieder (s.u.) vergeben sowie die Comités besetzt. Diese Ausschüsse sind für einen spezifischen, meist infrastrukturellen, Bereich des dörflichen Lebens zuständig. So existieren Komitees für die Wasserversorgung, für jede der Schulen, aktuelle Projekte usw. Das wichtigste Amt der Gemeinschaft ist das des Dorfsprechers, des Delegado. Er ist die oberste Autorität im Ort und erfüllt Aufgaben als Friedensrichter und Kontaktperson bzw. Vertreter gegenüber der Außenwelt. Er wird durch einen Stellvertreter, den Subdelegado, einen Schatzmeister und einen Schriftführer unterstützt sowie durch mehrere Helfer, die Vocales bzw. Barrenderos, die für die Informationsvermittlung innerhalb des Dorfes zuständig sind. Dieses Muster spiegelt sich im Aufbau der Komitees wider. Die Ämter werden für ein Jahr vergeben und ihre Hierarchie bringt ein unterschiedliches Ansehen mit sich. Höheren Posten wird die Notwendigkeit einer ausreichenden Qualifikation zugeschrieben. Dies trifft insbesondere auf Delegado und Subdelegado und entsprechend die Vorsitzenden der Comités und deren Stellvertreter zu. Für diese Ämter wird sowohl die Befähigung zur Leitung des Gremiums als auch Erfahrung in niedrigeren Cargos vorausgesetzt. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die für das Funktionieren der Dorfgemeinschaft wichtigsten Ämter nur von erfahrenen Mitgliedern übernommen werden, die ihre Eignung und Zuverlässigkeit bewiesen haben. So entspricht das Ämtersystem klassischerweise einer (Hierarchie-)Leiter, die im Laufe des Lebens mit entsprechendem Statusgewinn erklommen wird (vgl. Sierra 1992; 1987; Navarrete 2008, 54f.). Daher würden besonders ältere Mitglieder der Gemeinschaft zu niedrige Posten unter Verweis auf ihre Erfahrung und Position ablehnen, obwohl eine gewählte Person grundsätzlich verpflichtet ist, das Amt zu übernehmen und damit ihren Dienst an der Comunidad zu erfüllen. Das Spektrum dessen, was als zumutbar angesehen wird, variiert aber nach Größe des Dorfes. In kleineren Gemeinschaften mit einem reduzierten Pool an potenziellen Amtsträgern ist es unabdingbar, auch einfache Ämter mit erfahrenen Mitgliedern zu besetzen.

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Dies trägt jedoch zum Verfall des Ansehens der Ämter bei. In der Praxis werden Ämter aus pragmatischen Gründen, insbesondere im Rahmen der Migration, oft abweichend von der Idealvorstellung nach anderen Gesichtspunkten und ohne Vorbedingung bzw. Berücksichtigung der Qualifikation vergeben. So wird besonders darauf geachtet, dass niemand zu selten ein Cargo übernimmt. Dies zeigt, dass eine angemessene Amtsausübung als Belastung angesehen wird, denn sie ist mit einem großen Arbeits- und Zeitaufwand verbunden. Gleichzeitig ist die Zahl der zu vergebenden Ämter stetig angewachsen, insbesondere durch die Schaffung neuer Komitees für bisher unwichtige oder neue Teile der dörflichen Infrastruktur sowie für Projekte, bei denen staatliche Stellen die Bildung von Komitees zur Voraussetzung machen. Daher übernehmen viele BürgerInnen kleinerer Orte wie El Thonxi jedes Jahr ein anderes Amt, und die Cargos werden immer stärker als Last, denn als Auszeichnung empfunden. Mehrmals konnte ich erleben, wie Kandidaten für ein hohes Amt nominiert wurden, um sie für eine Unregelmäßigkeit oder angeblich nicht ausreichendes Engagement in der Gemeinschaft zu bestrafen. Diese Praxis wird in den Dörfern oft mit einem angeblichen Verfall der Regeln zur Ämterbesetzung in Verbindung gebracht. Allerdings zeigen frühere Studien, dass es sich um kein neues Phänomen handelt. Kugel (1995, 113) belegt die entsprechende Praxis für den Beginn der 1990er Jahre. Sie weist aber darauf hin, dass die Wahl in angesehene Ämter nicht vorrangig als Strafe, sondern als Gelegenheit zur Rehabilitation verstanden werden sollte. Dies deckt sich mit meinen Beobachtungen, denn die ernsthafte Ausübung eines Amtes erfordert Opferbereitschaft und Arbeitswillen für die Gemeinschaft. Es wird versucht, dies idealerweise von allen Mitgliedern gleichmäßig einzufordern. Säumige Zahler, Personen, die ihren Teil der Gemeinschaftsarbeit (s.u.) nicht geleistet haben oder jene, die nicht an Dorfversammlungen teilnehmen, werden daher nominiert, um sie stärker in die Verantwortung zu nehmen. Dabei tritt das Element der Qualifikation und des Ansehens in den Hintergrund, was zu großen Problemen für die erfolgreiche Arbeit der dörflichen Institutionen führen kann. Entsprechendes gilt für Fälle, in denen Personen nominiert werden, die sich besonders kritisch über die aktuelle Amtsführung geäußert haben. Das ist ein gängiges Mittel, auf Kritik zu reagieren und entspricht letztlich der Aufforderung, es doch besser zu machen. In El Thonxi konnte ich beobachten, dass auch das interne Wahlsystem dazu beiträgt, dass von der Idealvorstellung abgewichen wird. Die Posten werden in offener Abstimmung, per Handheben, vergeben, wobei vor jedem Wahlgang Kandidatenvorschläge erbeten werden, was meist eine längere Phase des Schweigens nach sich zieht. Die ersten Nominierten versuchen meist ihre Kandidatur abzuwenden, bis schließlich ein Kandidat feststeht. Da aber eine Wahl zwischen mehreren „Bewerbern“ stattfinden soll, wird ein weiterer Kandidat gesucht, der aber in den von mir beobachteten Fällen nur äußerst selten gewählt wurde. Stattdessen wird er dann als

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erster Kandidat für den nächsten Posten vorgeschlagen. So entsteht der Eindruck einer gewissen Planlosigkeit und Willkür bei der Kandidatenfindung. Während die anschließende Wahlentscheidung gut durchdacht ist und die Kandidaten gegeneinander abgewogen werden, wirkt die Auswahl der Kandidaten auf mich eher beliebig. Zunächst werden Personen genannt, die vor kurzem öffentlich in Erscheinung getreten oder anwesend sind, die bereits oft Ämter innehatten etc. So findet in der Regel keine systematische Kandidatensuche statt, wenn auch im Hintergrund sicherlich Status und Reputation eines potenziellen Kandidaten berücksichtigt werden. Fast nur bei höheren Ämtern kam es vor, dass die lokalen Líderes jemanden im Vorfeld überzeugt hatten, sich zur Wahl zu stellen. Dieser Kandidat der lokalen Machtgruppe wurde dann meist gewählt, nicht unbedingt weil er von ihnen vorgeschlagen wurde, sondern eher weil man sich offensichtlich die unangenehme Suche nach weiteren Kandidaten ersparen wollte. So ist es für die Líderes relativ leicht, Personen aus strategischen Gründen in wichtige Ämter zu bringen, denn aus der Perspektive der meisten Dorfbewohner ist entscheidend, dass der Kandidat geeignet ist. Für die Líderes ist es dagegen wichtig, auf die Schnittstelle zwischen Dorfgemeinschaft und Institutionen auf höheren Ebenen einwirken zu können. Dies ist, wie ich später analysieren werde, z.B. für die Interaktion mit staatlichen Behörden, Vertretern von Parteien und für die Außendarstellung der Gemeinschaft bedeutend. Die beschriebene Art der Ämterbesetzung scheint den Regelfall widerzuspiegeln. Es gibt aber andere Fälle wie in Barranca Empinada, wo die Líderes die Wahlen vorbereiten und bereits alle Kandidaten feststehen. Dies hängt mit einer Situation interner Spaltung und einem anderen Anspruch an die Organisation zusammen, die aus historischen Erfahrungen resultiert. Generell hat dieses Ämtersystem zur Folge, dass eine gewisse soziale Differenzierung über die Ämter existiert, im Diskurs über die Dorfgemeinschaft aber die Gleichwertigkeit aller Mitglieder auf Grundlage ihrer Rechte und Pflichten betont wird. Es gibt sehr wohl Familien, die ein höheres Ansehen und damit Autorität genießen als andere, aber dies zeigt sich weniger in der Vergabe von Ämtern, die nicht vererbt werden, sondern in Debatten innerhalb der Gemeinschaft, in denen ihr Wort ein größeres Gewicht hat. Zudem werden Líderes aufgrund ihres Ansehens zwar etwas häufiger in hohe Posten gewählt, aber sie sind zur Ausübung ihres Liderazgos keineswegs darauf angewiesen. Fehlen einer kirchlichen Ämterhierarchie – Typische Modifizierungen in abgespaltenen Dörfern In der Literatur wird oft auf eine religiöse Dimension der dörflichen Ämterstruktur verwiesen (vgl. Link 1996, 210f.; Garrett Ríos 2004, 136). Diese ist in meinem Feld jedoch nicht zu finden, was ich aufgrund der Bedeutung in der Literatur kurz erläutern werde. In den dort belegten Fällen sind religiöse Posten in den Gesamtkomplex der Ämter in der Gemeinschaft eingebunden, auch wenn sie formal von der dörfli-

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chen Organisation getrennt sind. Allerdings wird die religiöse Dimension oft als integraler Bestandteil des Lebens und der Gemeinschaft begriffen. In der religiösen Struktur existieren Cargos, die mit Verantwortlichkeiten für die Dorfkirche1 oder die Vorbereitung und Durchführung des jährlichen Patronatsfestes zusammenhängen. Die wichtigsten sind die sogenannten Mayordomias, die für ein bis drei Jahre bestimmt werden und mit großem eigenem finanziellem Aufwand für Feierlichkeiten im Jahreskreis verbunden sind. In einer Zeit, in der (fast) alle Menschen in den Dörfern katholisch waren und das Patronatsfest das wichtigste Ereignis im Jahr darstellte, waren dies sehr angesehene Aufgaben. Ihr Ansehen und Status dürfte das der meisten weltlichen Ämter überragt haben. So erklärt sich, dass es bedeutend war, in der religiösen Hierarchie aufzusteigen, denn der verbundene Prestigegewinn in der Gemeinschaft beeinflusste die Einschätzung der Qualifikation für die weltliche Struktur. Auch im Valle del Mezquital existiert diese Art der Verschränkung von weltlichen und religiösen Ämtern und bis vor einigen Jahren war sie noch weit verbreitet (vgl. Galicia 2002), was mit der (früher) sehr großen Bedeutung von Religion in indigenen Gemeinschaften zusammenhängt (s. zu Hidalgo Dow 1974 und Galinier 2004). Klassischerweise war es für die Besetzung eines weltlichen Amtes sogar Voraussetzung, nicht nur ein niedrigeres weltliches Amt, sondern auch ein entsprechendes Amt der religiösen Hierarchie innegehabt zu haben. Das Erreichen der höchsten dörflichen Ämter zeugte daher von einer Karriere in allen als relevant angesehenen Bereichen der Gemeinschaft und der damit verbundenen Erfahrung. Meine Informanten betonten, dass dieses Ämtersystem an bedeutenden Kirchplätzen, wie regionalen Wallfahrtsorten, weiter besteht, allerdings in stark abgewandelter Form und ohne größere Implikationen für die dörfliche Ämterhierarchie. Die Patronatsfeste werden mittlerweile anders organisiert und die Zuständigkeiten gehen von den Mayordomos immer mehr auf kirchliche Komitees über. Das aktuelle Muster der dörflichen Organisation wird also auf den religiösen Bereich übertragen.2 Gleichzeitig führt der Prestigeverlust der religiösen Ämter und Aufgaben dazu, dass sich mit Ausnahme der höchsten Posten vorrangig Frauen in diesem Bereich engagieren. Da diese verschränkte Doppelstruktur in der mexikanischen Anthropologie als besonderes Merkmal indigener Gemeinschaften gilt (Navarrete 2008, 54f.), ist es bemerkenswert, dass sie in meinen Fällen nicht existiert und religiösen Ämtern keine

1

Die katholischen Kirchengemeinden im ländlichen Mexiko umfassen in der Regel eine

2

Auch in anderen Teilen Mexikos dürfte sich die Bedeutung der kirchlichen Ämterstruktur

Vielzahl einzelner Dörfer, von denen ein Großteil eigene Kirchen hat. aus verschiedenen Gründen gewandelt haben. Hervorzuheben sind dabei ein wachsender Anteil an Mitgliedern protestantischer Kirchen bzw. Sekten sowie die Zunahme anderer Prestigequellen z.B. durch Migration und Zugang zu Bildung, was letztlich eine Abwertung der kirchlichen Ämter mit sich brachte.

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herausgehobene Bedeutung zukommt. Dies ergibt sich aus der spezifischen Geschichte der beiden Comunidades, ist aber beispielhaft für andere Dörfer in der Region. In beiden Orten gab es lange Zeit keine eigene Kirche, die Einbindung in ein religiöses Ämtersystem war daher nur über die heutigen Dorfgrenzen hinweg möglich. Aufgrund der Machtverhältnisse wurden die angesehensten Ämter aber vorrangig an Einwohner des jeweiligen Hauptortes vergeben und durch diese Zentralisierung hatten sie keine große Bedeutung in den Teildörfern. Als sie sich von den Subzentren ablösten, ein Prozess, auf den ich später genauer eingehe, wurde eine eigenständige dörfliche Organisation etabliert, jedoch ohne religiöses Äquivalent. Denn zum einen blieb die bisherige religiöse Struktur formal bestehen3 und zum anderen konnten sich die Dorfbewohner kaum mit einem System identifizieren, das als Element der Dominanz des Hauptortes angesehen wurde. Dazu kommt in Barranca Empinada, dass schon sehr früh, mindestens seit den 1950er Jahren, eine protestantische Gemeinde existierte. Diese wurde nach einer Auseinandersetzung vertrieben bzw. ihre Mitglieder verließen den Ort, aber als sich eine neue protestantische Gemeinschaft bildete, wurde diese auch aufgrund der vorherigen Geschehnisse als Teil der Dorfgemeinschaft anerkannt [Profesor Averno]. Diese Aufteilung in mittlerweile mehrere Konfessionen ist nicht mehr ungewöhnlich und führt kaum noch zu Konflikten (vgl. Rivera Garay 2009, 267; Sarat 2013).4 Durch die Einbindung aller konfessionellen Gruppen in die weltliche Organisation wurde es aber unmöglich, diese mit einer religiösen zu verschränken. In beiden Dörfern wurde die Unabhängigkeit sowohl durch die Einrichtung einer staatlichen Schule als auch den Bau einer katholischen Kirche und die Etablierung eines eigenen Patronatsfestes vollzogen. Während dieser Prozess in Barranca Empinada seit Längerem abgeschlossen ist, fand die Kirchweihe in El Thonxi erst 2012 statt, wobei das Patronatsfest bereits seit 2004

3

Zumindest in El Thonxi sind Katholiken tatsächlich weiterhin in Teile der am Hauptort Salvador orientierten Riten eingebunden. So findet bspw. eine von zehn vorweihnachtlichen Posadas (Herbergssuchen) im Ort statt. Die Person, die diese ausrichtet, erhält dabei eine Position, die Elemente eines Amtes aufweist. Andere Aufgaben werden aber schon lange von lokalen Katechistinnen übernommen.

4

Dies wirkt vor dem Hintergrund vieler als religiös deklarierter Konflikte im Valle del Mezquital, die im Fall des Ortes San Nicolas sogar landesweite Beachtung fanden, überraschend. Entgegen eines dominanten Diskurses in den Medien handelt es sich dabei um Einzelfälle, in denen aus politischen Beweggründen heraus entlang der konfessionellen Grenze Konflikte provoziert wurden. Dies wurde mir u. a. von einem Informanten bestätigt, der in San Nicolas für einen Politiker gearbeitet hatte [Julio]. Daneben existieren andere Gründe für Konflikte, die als religiös motiviert dargestellt bzw. konstruiert werden (vgl. Garrett Ríos 2004).

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gefeiert wird. In beiden Orten wird Religion aber vorwiegend als Privatsache betrachtet, die nichts mit der dörflichen Organisation zu tun haben sollte.5 Organisationen des kollektiven Landbesitzes Neben der grundlegenden dörflichen Organisationsstruktur mit ihren diversen Institutionen existieren in der Regel bis zu zwei weitere Institutionen, die bedeutend sein können, auch wenn sie nicht direkt mit der zentralen Organisation zusammenhängen. Dabei handelt es sich um das Ejido und die Bienes Comunales, zwei spezielle Formen des Landbesitzes in Mexiko.6 Beide sind in ihrer aktuellen Form auf die mexikanische Revolution zurückzuführen (Stavenhagen 1966), wenn auch die Vorstellung eines präkolonialen Erbes besteht (Gabbert 2007). Das Ejido ist eine Form kollektiven Landbesitzes, die in Folge der mexikanischen Revolution etabliert wurde. Dies war eine Errungenschaft der kleinbäuerlichen Strömungen in der Revolution, die insbesondere durch die Zapatisten und in geringerem Maße Pancho Villas Revolutionsarmee repräsentiert wurden. Zentrale Forderungen waren die Aufteilung des Großgrundbesitzes und die Verteidigung ihrer kleinbäuerlichen Lebensweise, die meist eine kollektive Bewirtschaftung der Felder einschloss. In vielen Fällen kam die Forderung nach Rückgabe von (unrechtmäßig) enteignetem Land hinzu (Stavenhagen 1966, 465f.), was gerade auch indigene Gruppen wie die Yaqui betraf (Knight 1990, 76f.). Dies äußerte sich in Parolen wie „Tierra y Libertad!“ und „La tierra es de quien la trabaja!“.7 So wurde nach der Revolution das Ejido etabliert. Ein Ziel war zwar den kleinbäuerlichen Teil der mexikanischen Gesellschaft zu kooptieren,8 trotzdem war es ein großer Fortschritt für die Landbevölkerung, da ihr Land übertragen wurde und bestehender kollektiver Landbesitz fortan rechtlich verbrieft, staatlich garantiert und unverkäuflich war. In diesem Rahmen erhielt die kleinbäuerliche Produktionsweise, in der mit reziprozitärem Arbeitstausch auf Milpas Mischkulturen aus Mais, Bohnen, Zucchini und Tomaten angebaut sowie Kleinviehhaltung praktiziert wurde, einen gewissen Schutz. Die Umsetzung der entsprechenden Agrarreform ging allerdings nur schleppend voran. Erst in den 1930er 5

Dies wird auch weitestgehend so gehandhabt, mit einer Ausnahme, die ich später diskutie-

6

Siehe Nuijten (1998) für eine ausführliche Fallstudie zu einem Ejido und seiner politischen

7

„Land und Freiheit!“ und „Das Land gehört dem der es bearbeitet!“ Leitmotive, die zwar

ren werde (s. Kap. 7.4). Dimension. in ähnlicher Form in aller Welt populär waren, aber im Vorfeld der mexikanischen Revolution im Magonismo eine sozialtheoretische Ausgestaltung erhielten (vgl. Kapitel 1.2.4). 8

Zuvor war ein umfassenderes zapatistisches Konzept, das in den Verfassungsentwurf nach dem sog. Plan von Ayala eingeflossen war, von den siegreichen Fraktionen innerhalb der Revolution zerschlagen worden. Zur Logik der Kooptation im postrevolutionären Mexiko s. Kap. 1.2.1.

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Jahren wurde unter Präsident Lazaro Cardenas eine größere Anzahl an Ejidos offiziell registriert. Zudem trat häufig eine Abhängigkeit von in regionalen Oberzentren lebenden Aufkäufern und Zwischenhändlern der Agrarprodukte an die Stelle der früheren Abhängigkeit von Großgrundbesitzern, und oft wurden eher weniger produktive Flächen in Ejidos umgewandelt, während andere in Großgrundbesitz verblieben. Eine Verbesserung der Lage der ländlichen Bevölkerung stellte sich daher nicht zwingend ein, wofür gerade das Valle del Mezquital ein Beispiel ist.9 Es existieren unterschiedliche Formen von Ejidos, die sich u.a. in der Zuordnung des Landbesitzes und der Organisation der Landarbeit unterscheiden, allen ist aber der Aspekt der lange staatlich geschützten und geförderten Kollektivität gemein, sowie die Tatsache, dass Ejido-Land ursprünglich Staatsbesitz war (Stavenhagen 1966, 467). Denn nicht zuletzt war das Ejido, ebenso wie die dörfliche Organisation, für den post-revolutionären Staat eine zentrale Möglichkeit, die Landbevölkerung in das politische System einzubinden (Zendejas 1995, 25). In El Thonxi ist der weitaus größte Teil der männlichen Dorfbewohner Mitglied im Ejido. Es umfasst aber weder alle Ländereien des Ortes, da es wie oft üblich auch kleinen privaten Grundbesitz gibt, noch beschränkt es sich auf sein Territorium. Das Ejido war dem lokalen Zentrum Salvador zugeordnet und umfasst daher alle Dörfer, die früher zu diesem gehörten. Daher wird es als Ejido von Salvador bezeichnet, obwohl ein Großteil der entsprechenden Ländereien auf dem Gebiet von El Thonxi liegt. Mitglieder aus anderen Dörfern verfügen daher auch über Parzellen in El Thonxi. Gleichzeitig dominieren Mitglieder aus Salvador die Verwaltung des Ejido, denn sie werden vorrangig in höhere Ämter gewählt. Trotzdem wurde mir gegenüber betont, dass sich die Abspaltungsprozesse der einzelnen Dörfer, trotz teils heftiger Auseinandersetzungen in anderen Bereichen, niemals negativ im Ejido niedergeschlagen hätten [Comisariado von Salvador; Juan]. Die ökonomische Stellung dieser Institution stand damit über allen anderen Erwägungen, denn sie ist eine zentrale dorfübergreifende Institution, die Zugang zu staatlicher Agrarförderung bietet. In Barranca Empinada dagegen gehört das Ejido ausschließlich zum Ort. Allerdings befinden sich die Flächen in einem relativ unfruchtbaren Gebiet und sind daher kaum für landwirtschaftliche Nutzung oder Viehhaltung geeignet. Wirtschaftlich interessant wird es erst, wenn staatliche oder private Investoren Teile des Landes nutzen und dafür Ausgleichszahlungen leisten.10 In beiden Dörfern gilt die Zugehörigkeit zum Ejido lebenslang und ist vererbbar, wobei aber fast ausschließlich Männern die 9

Diese neue Situation wird auch in einem für die Region berühmten literarischen Werk eigener Gattung beschrieben, der Novelle „La Nube Esteril“ (Die unfruchtbare Wolke) von Antonio Rodriguez (1952), die entscheidend zu einer wachsenden Aufmerksamkeit für die Situation der indigenen Landbevölkerung beitrug.

10 Dies war der Fall, als ein Mobilfunkmast installiert wurde, ein Vorgang, der interne Konflikte im Ort anheizte.

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entsprechenden Landtitel innerhalb des Ejidos zugeschrieben werden. Nur unter bestimmten Umständen kann eine Umverteilung der Parzellen oder sogar eine Enteignung stattfinden [Juan; Sebastián]. Seit der Reform des Verfassungsartikels 27 unter der Regierung Salinas de Gotari im Jahr 1992 kann Ejidoland in Form einzelner Parzellen verkauft werden (Clausing/Goschenhofer 2011, 453).11 Während dies in vielen Regionen Mexikos die Privatisierung von Agrarland nach sich zog (s. bspw. Lewis 2002) wurde in den Ejidos in meinem Feld jedoch ein Abkommen getroffen, dass niemand „sein“ Land verkaufen darf, und die für die rechtliche Zuteilung der Grundstücke notwendige Erfassung durch die dafür gegründete Behörde PROCEDE wurde bislang verweigert (siehe zu den vielfältigen lokalen Reaktionen die Beiträge in Cornelius/Myhre 1998). Hier zeigt sich eine bedeutende Art der Reaktion auf staatliche Interventionen durch alltäglichen, fast selbstverständlich wirkenden Widerstand bzw. eine Umgehung staatlicher Regelungen (Bierschenk/de Sardan 2003; 1997; de Vries 1997; Scott 1990; 2009), der in der weiteren Analyse noch von Bedeutung sein wird. Die Bienes Comunales entsprechen in etwa der Almende und können als weitere Form des kollektiven Landbesitzes in die Zeit vor der Revolution zurückverfolgt werden. Sie scheinen bereits in der Kolonialzeit Ländereien bezeichnet zu haben, die kollektiv ländlichen oder indigenen Gemeinschaften gehörten und von diesen bewirtschaftet wurden. Heute handelt es sich um Land mit einem rechtlichen Sonderstatus, das in Besitz der Dorfgemeinschaft ist. Wie sehr die Menschen von ihm profitieren, hängt in der Regel davon ab, wie gut die entsprechende Gemeinschaft organisiert ist. Unter dieser Besitzform registrierte Ländereien bieten allerdings das Potenzial, gemeinsame Projekte anzustoßen, da sie „allen“ gehören und keine Parzellierung wie in den Ejidos möglich ist. Historisch gesehen wurde in den Bienes Comunales eine während des Porfiriats aufgehobene Rechtsform wiedereingeführt. Enteignete Ländereien wurden nach der Revolution oft den Dorfgemeinschaften zurückgegeben, während ihnen zusätzlich andere „besitzlose“ oder ungenutzte Flächen, de facto meist

11 Das Ejido wird seit Beginn der 1980er Jahre aus dem Blickwinkel neoliberaler Politik und von Strukturanpassungsprogrammen als ein vormodernes Relikt und Modernisierungshemmnis für den ländlichen Raum angesehen, das für eine erhöhte Produktivität des Agrarsektors abgeschafft werden soll. Dieser Vorstellung liegt eine modernisierungstheoretische Konzeption von Entwicklung zugrunde, in der das Ziel staatlicher Agrarpolitik eine Industrialisierung der Landwirtschaft nach Vorbild des Agrarsektors der USA sein soll. Dadurch soll sie international wettbewerbsfähig werden. Tatsächlich belegen Studien aber die vergleichsweise höhere Produktivität des kleinbäuerlichen Sektors und seine Bedeutung für lokale Ernährungssicherheit und -souveränität (Esteva/Marielle/Galicia García 2003; Carter 1984). Denn gerade in Regionen wie den bergigen Teilen des Valle del Mezquital ist eine industrialisierte Landwirtschaft überhaupt nicht möglich.

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als unproduktiv betrachtete Wälder und bergige Flächen, zugeordnet wurden (Stavenhagen 1966).12 In meinen Fallstudien existiert diese Besitzform nur in Barranca Empinada. Dort gehört das Land aber nicht allen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft, sondern dem Teil, der die entsprechenden Rechte geerbt hat und aufgrund der Abspaltung vom früheren Hauptort Mezquite Negro sind beide Dörfer an den Bienes Comunales beteiligt. Zudem darf niemand gleichzeitg Mitglied des Ejido und der Bienes Comunales sein. Es ist aber möglich, dass Ehepartner der jeweils anderen Institution angehören13, und so gibt es kaum Personen im Ort, die nicht zumindest über nahe Verwandte mit einer der beiden Einrichtungen verbunden sind. Die Bedeutung dieser Institutionen in ländlichen Gebieten ergibt sich aus der Möglichkeit, über die Dorforganisation hinaus an staatlichen Förderprogrammen teilzuhaben. Förderinstrumente für den Agrarsektor beziehen sich oft auf das Ejido und diese Institution verfügt über die notwendigen organisatorischen Grundlagen, um sich auch für andere Programme zu qualifizieren. Für KleinbäuerInnen bietet die Mitgliedschaft die Möglichkeit an Informationen über Programme und Fördermittel sowie Unterstützung bei der Antragsstellung zu gelangen. Die vorwiegend ökonomische Bedeutung von Ejido und Bienes Comunales spiegelt sich in einer relativen Professionalisierung der internen Ämter wider. Dem Muster der Dorfgemeinschaften entsprechend existieren Vorstandskomitees, die Ämter werden aber für zwei bis drei Jahre vergeben, um eine stärkere Kontinuität zu erreichen. Dies ist der Notwendigkeit geschuldet, Erfahrung im Umgang mit staatlichen Behörden zu sammeln und sich den relativ langen Laufzeiten von Projekten anzupassen. Letztlich stellen diese Institutionen eine wichtige ökonomische Schnittstelle zwischen Landbevölkerung und staatlichen Behörden dar. Im Gegensatz zur Dorfgemeinschaft sind sie aber keine Arena für parteipolitischen Aktivismus, bieten allerdings Raum für eigene alltagspolitische Aktionen, wie die Verweigerung der Erfassung der Parzellen zeigt. Darüber hinaus wird dieses Potenzial jedoch in den von mir unterscuhten Fällen kaum genutzt. Es existieren weitere wirtschaftlich aktive Organisationen in den Dörfern, so eine Vielzahl durch kirchliche und staatliche Entwicklungsinterventionen entstandene Projekte und kleine Kooperativen. Sie erreichen aber nicht annähernd den Stellenwert der genannten großen, fest verankerten Institutionen. Aufgrund der vielfältigen Besitzformen, zu denen auch meist kleinflächiger privater Landbesitz gehört, umfassen 12 Es ist bemerkenswert, dass ein großer Teil der mexikanischen Waldgebiete als Bienes Comunales deklariert ist und indigenen Dorfgemeinschaften gehört, die sie bewirtschaften. Aktuell führt dies immer wieder zu Konflikten mit Unternehmen oder gar kriminellen Gruppen, die sich diese Ressourcen aneignen wollen. 13 Aufgrund dieser Konstellation der Besitzformen kommt es hier häufiger vor, dass Frauen Besitzrechte in einem der Systeme erhalten, wenn potenzielle männliche Erben bereits dem jeweils anderen angehören.

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sie aber nicht alle DorfbewohnerInnen, insbesondere nicht die Mehrzahl der Frauen. Daher bleibt die Organisationsstruktur der Dörfer zentral, um eine allgemeine Teilhabe zu ermöglichen. Problematisch ist dabei, dass wenig Koordinationsmöglichkeiten bestehen, denn die Institutionen werden als eigenständige Sphären betrachtet, die nicht miteinander verbunden werden. Dies hängt mit den Mitgliedschaftsregeln sowie dem teilweise dorfübergreifenden Charakter zusammen, durch die eine Kooperation als unrechtmäßige Einmischung in andere Sphären betrachtet würde. Aus diesem Grund wird in der Regel eine Ämterhäufung über die Institutionen hinweg vermieden. Durch diese aus Perspektive der Dörfler sehr deutliche Trennung geht ein großer Teil des angesprochenen politischen Potenzials verloren. Allerdings möchte aber auch niemand die Arbeit dieser Organisationen durch interne Streitigkeiten gefährden, sodass sie vordergründig unpolitisch funktional bleiben, auch wenn viele der Förderprogramme in den kooptativen Charakter des nationalen politischen Systems eingebettet sind. Gemeinschaftsarbeit Eine grundlegende Praxis der dörflichen Organisation ist die Faena genannte Gemeinschaftsarbeit. Durch diese relativ strikt reglementierte Arbeit wird die Infrastruktur des Dorfes unterhalten und neue Projekte verwirklicht. Üblicherweise wird für die Durchführung von Projekten, seien es eigene oder staatlich initiierte, das benötigte Material bzw. ein Teil davon bei der Kommunalverwaltung (dem Municipio) beantragt, die zudem ggf. erforderliches Fachwissen zur Verfügung stellt. Die übrigen Arbeiten werden als eigener Beitrag von der Dorfgemeinschaft ausgeführt. Dies soll einen effizienteren Einsatz der vorhandenen finanziellen Ressourcen ermöglichen, hat aber auch den Hintergrund, dass es in der Vergangenheit kaum Unterstützung von Seiten des Municipios gab und Dorfgemeinschaften ihre Arbeiten und Projekte weitestgehend alleine verwirklichen mussten. Faenas werden zusätzlich zu einer möglichen materiellen Beteiligung der Comunidad fest als Eigenbeitrag in (staatliche) Projektpläne und deren finanzielle Kalkulation eingeplant. Neben diesen formalen und praktischen Gründen dient die kollektive Arbeit unausgesprochen als Mittel, die soziale Kohäsion der Gemeinschaft zu fördern (s. Kap. 4.2.3). Faenas werden den spezifischen Regeln der jeweiligen Dorfgemeinschaft entsprechend entweder regelmäßig verrichtet oder es muss eine festgelegte Anzahl pro Mitglied im Jahr abgeleistet werden. So wird in Barranca Empinada an jedem Sonntag die Ableistung einer Faena erwartet. In El Thonxi dagegen wird in der Dorfversammlung auf Grundlage des erwarteten Bedarfs eine Anzahl Faenas festgelegt, die jedes Mitglied innerhalb eines bestimmten Zeitraums verrichten muss. Dabei existieren Faenas, die unter Leitung der Delegación stattfinden, in der Regel für konkrete Projekte oder Instandhaltungsarbeiten in Bereichen die, wie im Fall der Straßen und Wege im Ort, keinem Komitee zugeordnet sind. Andere Faenas werden von den spezifischen Comités bspw. für die Wasserversorgung, Schulen und für Bauprojekte wie

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Kirchen, Bibliotheken oder Basketballplätze organisiert. Dazu werden konkrete Tage festgelegt, meist am Wochenende, an denen sich Gruppen zusammenfinden, um die Arbeiten durchzuführen. Bei hoher Dringlichkeit wird aber auch in El Thonxi ein Zeitraum festgelegt, in dem die Arbeiten zu verrichten sind. So war ich in einer Versammlung anwesend, in der entgegen der Norm alle angehalten wurden, mehrere ausstehende Faenas im Verlauf einer Woche abzuleisten [Jahresendversammlung, El Thonxi]. Die Faenas ähneln einer weiteren Form von Kollektivität in den Gemeinschaften, dem Arbeitstausch in der Landwirtschaft, der früher weit verbreitet und im Gegensatz zum Ejido immer informell war. Reihum erledigten dabei feste Gruppen etwa gleichaltriger Männer gemeinsam die im Agrarzyklus anstehenden Arbeiten auf ihren Feldern.14 Dadurch soll es möglich gewesen sein, eine Milpa innerhalb eines Tages und damit wesentlich schneller als alleine zu bearbeiten. Diese Arbeitspartnerschaften waren sehr gefestigt und hatten eine fast institutionalisierte Form, in der die Bindung zwischen den Teilnehmern weit über die reine Arbeitsbeziehung hinausging [Don Pablo, Don Salvador]. Noch heute werden Freundschaften älterer Männer darauf zurückgeführt. Inzwischen werden diese Tätigkeiten jedoch von den Kleinbauern alleine oder gemeinsam mit angeheuerten lokalen Tagelöhnern verrichtet und selbst dort, wo noch Partnerschaften bestehen, wurde der Austausch zumindest in gewissem Umfang monetarisiert. Diese Praxis war nie mit der beschriebenen formalen Gemeinschaftsorganisation verbunden. Nichtsdestotrotz verdeutlicht sie die Weltsicht der DörflerInnen und ihre Vorstellung von der Organisation alltäglicher Aspekte des Zusammenlebens und der Arbeit. Die Vorstellung des Aufeinander-angewiesen-Seins und der reziproken Herstellung von Gemeinschaft ist eine zentrale Grundlage der Selbstorganisation in den Dörfern. Auch wenn die ursprünglichen Elemente mit der Zeit verändert wurden und manche Praktiken eher im Verschwinden begriffen sind, bilden sie die Basis des lokalen Gemeinschaftskonzepts.15 Gleichzeitig ist die Monetarisierung früher reziprok

14 Gleiches galt vermutlich auch für Gruppen von Frauen, obwohl in den Berichten nur von Männern gesprochen wird. Möglicherweise begleiteten Frauen ihre Männer, so wie es in der Landarbeit üblich war und nahmen dadurch am Arbeitstausch teil. In jedem Fall werden sie aber so wie heute auch im damaligen System für Arbeiten, wie Unkrautjäten, Bewässerung, bestimmte Erntetätigkeiten sowie die Verarbeitung der Ernte zuständig gewesen sein. Unter Frauen existiert allerdings heute noch ein System der gegenseitigen Hilfe, wenn es z.B. darum geht, Vorbereitungen für Feste zu treffen. Dies findet in einer streng reglementierten Form von reziproker Hilfe statt. Allerdings fühlen sich auch hier die Frauen immer weniger verpflichtet daran teilzunehmen, was oft beklagt wird. 15 Andere vergleichbare Praktiken sind noch stärker gebräuchlich, so bei dem sehr arbeitsintensiven Guss von Betondächern beim Hausbau (vgl. Kap. 2.2.2).

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organisierter Praktiken auch ein Symbol dafür, wie sich die dörfliche Organisation verändert. 3.1.3 Ciudadanía – das lokale Konzept von Bürgerschaft Die Form der Selbstorganisation variiert von Dorf zu Dorf, ist aber im Grundsatz überall gleich aufgebaut. Ein zentrales Konzept und die Grundlage für die gesamte Organisation ist die Ciudadanía, die Bürgerschaft. Dabei handelt es sich nicht um eine formal-legale Vorstellung von Bürgerschaft, sondern dieses lokale Konzept beschreibt einen Status mit dem Rechte innerhalb der Gemeinschaft verbunden sind. Dazu gehören aktives und passives Wahlrecht und die Möglichkeit zur aktiven Teilnahme an Dorfversammlungen. Dies wird als „Voz y Voto“ (Stimme und Wahlrecht) bezeichnet. Gleichzeitig gehen damit Pflichten einher, wie die Teilnahme an den Faenas und finanzielle Beteiligungen (Cooperaciones) für Projekte des Dorfes.16 Deswegen wird sie in der Literatur oft als substanzielle oder praktische Bürgerschaft bezeichnet (vgl. Goldring 2002; 2001; 1998) oder aufgrund des Bezugs auf indigene Gemeinschaften als ethnische (Peña 1999b) oder indigene Bürgerschaft (Tamayo 2006). Es existieren lokalspezifische Regelungen für ihren Erwerb, die aber im Kern alle der gleichen Logik folgen. Ursprünglich waren nur die erwachsenen Männer eines Dorfes Ciudadanos. Da sie als Vertreter ihrer Familien galten, wurde davon ausgegangen, dass alle BewohnerInnen des Ortes einbezogen waren. Im Laufe der Zeit hat es diverse Änderungen gegeben. So wurde bspw. vor wenigen Jahren eine konkrete Altersgrenze eingeführt, in der Regel 18 Jahre, ab der Männer zu Bürgern werden. Ausnahmen bestehen insbesondere, wenn junge Männer noch die Schule oder eine Universität besuchen.17 Seit ein paar Jahren werden immer häufiger auch berufstätige Frauen eingeladen, Bürgerinnen zu werden, da sie über ein eigenes Einkommen verfügen, was anfänglich nicht in lokale Konzepte von Weiblichkeit passte. Daneben existiert mit ledigen und verwitweten Müttern eine weitere Kategorie von Frauen, die Bürgerinnen mit allen Rechten und Pflichten sind. Sie werden als Haushaltsvorstand zu Bürgerinnen, da kein (Ehe-)Mann existiert, der sie vertreten könnte, verlieren ihre Ciudadanía aber, sobald ein erwachsener Sohn Bürger wird und dann die gesamte Familie vertritt. Aufgrund ihrer Situation müssen sie nur die Hälfte der Faenas und Cooperaciones beibringen, was aber von allen InformantInnen immer noch als sehr hohe Belastung angesehen wurde. 16 Zwar existieren keine regelmäßigen Abgaben an die Gemeinschaft, da immer nur projektspezifische Cooperaciones eingefordert werden. Diese können aber einen beträchtlichen Umfang annehmen. 17 So soll ihnen ermöglicht werden, sich auf ihre Ausbildung zu konzentrieren, was den hohen Stellenwert von Bildung in den Gemeinschaften widerspiegelt. Dieser Aspekt ist sicherlich auf den Einfluss der Maestros Bilingües (s. Kap. 4.4.2) zurückzuführen.

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Trotz der veränderten Regeln stellt die Ciudadanía weiterhin einen exklusiven Status der geregelten Zugehörigkeit zur organisatorischen Dimension der Dorfgemeinschaft dar. EinwohnerInnen des Dorfes können nur dann gleichberechtigt an ihr teilhaben, wenn sie die Kriterien der Bürgerschaft erfüllen. Dadurch werden vor allem Frauen und jüngere Männer ausgeschlossen. Ältere Männer haben ebenfalls kein Stimmrecht mehr,18 versuchen aber ihre Sichtweise einzubringen, indem sie auf ihre Erfahrung rekurrieren. Die Ciudadanía ist also sowohl geschlechts- als auch altersspezifisch definiert. Besonders paradox wirkt dies im Fall der vielen von den etablierten Formen der Mitbestimmung in der Gemeinschaft ausgeschlossenen Frauen. Denn sie sind für wichtige Bereiche des Gemeinschaftslebens zuständig und übernehmen zudem im Rahmen von Migrationsprozessen Aufgaben der Männer (s.u.). Beides ist essenziell für den Fortbestand der Gemeinschaften und das Funktionieren der dörflichen Organisation. Ihre Bedeutung für den Erhalt des Kollektivs schlägt sich allerdings bisher nicht in einer Revision des lokalen Bürgerschaftskonzepts nieder. Zwar erhalten inzwischen viele Frauen als Vertreterinnen von männlichen Bürgern, insbesondere von Migranten, Zugang zu den dörflichen Gremien und können in gewissem Maße an Entscheidungsprozessen teilhaben. Dieser begrenzte Zugang von Frauen zur Dorforganisation findet aber auf Grundlage bisheriger Vorstellungen der Ausübung von Bürgerschaft statt. Dies bedeutet insbesondere, dass Elemente der praktischen Bürgerschaft, die mit einem höheren Status verbunden sind und z.B. mit der Repräsentation der Dorfgemeinschaften in der Öffentlichkeit und gegenüber staatlichen Behörden sowie Politikern zusammenhängen, weiterhin Männern zugeschrieben werden. Frauen üben eher eine soziale Bürgerschaft innerhalb der praktischen aus (Goldring 2001). Sie werden als Mitglieder der Dorfgemeinschaft betrachtet und ihnen werden Zuständigkeiten für bestimmte Aufgaben zugeschrieben bzw. zugestanden. Die Ciuadanía mit all ihren Implikationen erhalten sie in der Regel aber nicht.19 Und nur diese bietet volle Anerkennung und Mitgliedschaft in der Gemeinschaft. Frauen gehören dagegen eher zur sog. Comunidad moral, die eine wenig formalisierte, eher soziale Dimension der Gemeinschaft darstellt. Sie beteiligen sich an der Gemeinschaft und engagieren sich für sie, werden aber nicht anerkannt, denn die Bürgerschaft bleibt zentral. Sie ist der stabilste Punkt in der Comunidad, der sich nur 18 Sie gelten ab einem bestimmten Alter als im Ruhestand befindlich, sodass sie von ihren Pflichten entbunden werden. Allerdings verlieren sie auch ihre Rechte und werden fortan von anderen (männlichen) Familienmitgliedern repräsentiert. Ihr Status ähnelt damit dem von Frauen oder Kindern. 19 Der geschlechtsspezifische Charakter der praktischen Bürgerschaft wird innerhalb der transnationalen sozialen Räume reproduziert. Damit sind die Aktivitäten innerhalb transnationaler Gemeinschaften ein Abbild der geschlechtsspezifischen Trennung der Elemente von Bürgerschaft in der dörflichen Organisation, die über die Möglichkeiten zur Ausgestaltung der praktischen Bürgerschaft entscheidet (Goldring 2001).

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langsam wandelt. Zudem werden Frauen, selbst wenn ihnen der Status als Bürgerinnen eingeräumt wird, immer stärker belastet. So stellt die Teilnahme von Vertreterinnen nicht an sich einen Wandel der Geschlechterverhältnisse in der Dorfgemeinschaft dar, aber ausgehend von diesem Muster des Einbezugs findet ein schrittweiser Wandel statt. Die Ciudadanía kann also als ein Typ von Bürgerschaft konzeptualisiert werden, der vorwiegend in indigenen Dorfgemeinschaften existiert und auf Grundlage lokalspezifischer Regeln bestimmten Personengruppen zugesprochen wird, was mit Rechten und Pflichten verbunden ist. Wie ich später zeigen werde, ist sie sowohl translokal als auch transnational gültig und sichert so den Fortbestand der Gemeinschaft. Soweit nicht anders angegeben, beziehe ich mich im Folgenden daher mit Bürgerschaft immer auf dieses Konzept der „translokalen dorfgemeinschaftlichen Bürgerschaft“. 3.1.4 Indigene Dorfgemeinschaft – ein bedeutungsgeladenes Konzept Das Paradox der Usos y Costumbres als Grundlage von Flexibilität Die Organisation der Dorfgemeinschaft fußt in den sog. Usos y Costumbres. Dieser Terminus, der als „Sitten und Gebräuche“ übersetzt werden kann, bezeichnet die Gesamtheit der internen Regeln und der Organisationsstruktur, mit der sich indigene Gemeinschaften selbst verwalten. Das Konzept ist sehr schwammig, unscharf und meist ideologisch belastet. So wird es einerseits mit einer undemokratischen traditionalistischen lokalen Herrschaft gleichgesetzt, die insbesondere der Legitimation autoritärer lokaler Anführer dient und zu einer fortwährenden Diskriminierung von Frauen in den Gemeinschaften führt. Andererseits wird es als eine eigene und authentische Form inklusiver Selbstverwaltung präsentiert, die in eine „indigene Weltsicht“ eingebettet ist und sich in der Geschichte der Gemeinschaften als Fundament einer eigenständigen und basisdemokratischen Machtausübung bewährt habe. Allerdings wird beides der alltäglichen Praxis der Usos y Costumbres nicht gerecht. Eine Sichtweise, in der die Dorfgemeinschaften wegen ihres indigenen Hintergrundes als isolierte, traditionalistische und rückwärtsgewandte Einheiten begriffen werden, entspricht nicht ihrer sozialen Realität. Andererseits darf die Dorfgemeinschaft auch nicht per se romantisierend als indigene Basisdemokratie und (homogene) egalitäre Gemeinschaft idealisiert werden. Dies wird aus der Analyse der internen Geschlechterverhältnisse ersichtlich und in den folgenden Kapiteln weiter belegt. Zunächst ist hier aber hervorzuheben, dass die Usos y Costumbres die notwendige Flexibilität und Offenheit schaffen, die Regeln der dörflichen Organisation an Veränderungen anzupassen. Das ermöglicht letztlich die Reproduktion der Dorfgemeinschaft als soziale Einheit, denn wie an den Beispielen der Ciudadanía und der Co-

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mités diskutiert, ist festzustellen, dass die gesamte dörfliche Organisation einem anhaltenden Wandel unterworfen ist, der mit der Neu-Aushandlung der Regeln innerhalb der Gemeinschaft einhergeht. Beschleunigt wird diese Transformation vor allem durch Migrationsprozesse und die Einbindung der Gemeinschaft in transnationale Felder (vgl. Besserer 2006; Gil Martinez 2006; Rivera Garay 2009; 2006; Rescher 2006) sowie durch einen Anstieg des Bildungsniveaus und der formalen Beschäftigungsverhältnisse. Dies bringt sowohl eine veränderte Sicht auf die Dorforganisation als auch neue praktische Anforderungen mit sich. Es ist bemerkenswert, dass Flexibilität und Offenheit als grundlegende Elemente der Comunidad auf den Usos y Costumbres beruhen, obwohl diese wie indigene Dorfstrukturen an sich oft als traditionalistisch, starr und rigide gelten. Hier zeigt sich, wie die in der Einleitung diskutierten Prozesse der Positionierung Indigener in der mexikanischen Gesellschaft mitsamt ihrer historischen Dynamik immer noch die Sichtweise auf indigene Dorfgemeinschaften beeinflussen und zu Fehleinschätzungen führen. Dies hat schwerwiegende Auswirkungen auf externe Verbindungen der Gemeinschaft und ihre Möglichkeiten der Positionierung bspw. in Entwicklungs- und politischen Feldern. Hier zeigt sich zum einen, wie stark Sichtweisen von Externen auf die Dorfgemeinschaften durch entsprechende Diskurse in der mexikanischen Gesellschaft beeinflusst werden und zum anderen, dass es sehr unterschiedliche Konzeptualisierungen der Gemeinschaften gibt. Die Dorfgemeinschaft als Fokus von Identitätsbildung und Zugehörigkeit Die Comunidad ist von grundlegender Bedeutung für Identitätskonstruktionen der regionalen Bevölkerung. Diese sind stark auf die Lokalität bezogen und führen im Rahmen der Migrationsprozesse zu translokalen Identitätskonstruktionen. Die Bedeutung des Dorfes, der Lokalität, für Identifikation und Zugehörigkeitsgefühle von MigrantInnen, zeigt eine in El Thonxi viel erzählte Episode. Ein Migrant wurde von der US-amerikanischen Migrationsbehörde aufgegriffen und sollte ausgewiesen werden. Dazu wurde er gefragt, woher er stamme. Er antwortete, dass er aus El Thonxi stamme, woraufhin er gefragt wurde, wo dies liege, was er mit „bei Salvador“ beantwortete. Dieser Wortwechsel zog sich über die Region, deren Hauptort, nächstgrößere Orte und den Bundesstaat hin, bis er sagte, dass er aus Mexiko stamme, was die Auskunft war, welche die Beamten eigentlich erhalten wollten. [Memo Migration]

Dies zeigt, wie sich die Relevanzstrukturen auf sehr lokale Bereiche beziehen und nicht in erster Linie auf den Nationalstaat Mexiko, was von einer translokalen Identitätsbildung zeugt, in der die Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft grundlegend ist. Dieses Zugehörigkeitsgefühl wird aber nicht nur in alltäglichen Bezügen auf das Dorf

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sichtbar. Denn auch die Ausgestaltung der lokalen Sanktionsmechanismen verdeutlicht diese Beziehung. Zwar sind sie selten schriftlich niedergelegt, aber es existiert ein Korpus an Sanktionsformen der Dorfgemeinschaft, der allen EinwohnerInnen präsent ist.20 Üblicherweise wird bei Regelverstößen zunächst damit gedroht, den „Tätern“ das Wasser abzustellen und dann den Strom zu kappen (vgl. Kap. 4.1.3).21 Sollten diese Sanktionen nicht ausreichen, steht der Entzug des Rechts, auf dem örtlichen Friedhof begraben zu werden, im Raum. Dies kommt dem ultimativen Ausschluss über den Tod hinaus gleich und ist als höchstmögliche Strafe zu verstehen, schlimmer als die Verstoßung zu Lebzeiten. Wie drastisch diese Strafe ist, zeigt sich daran, dass sie selten offen angedroht und so gut wie nie angewandt wird.22 Kaum jemand würde ernsthaft riskieren, dauerhaft Zugang zur Infrastruktur zu verlieren und insbesondere nicht das Recht, in seiner Heimaterde begraben zu werden. Dies weist zudem auf die herausgehobene Bedeutung des Dorfes als Lokalität hin, als territorialem Punkt im Horizont der Menschen, die im Kontext einer Transnationalisierung der Gemeinschaft zunächst paradox erscheinen mag. Die Verbundenheit zur Gemeinschaft wird gerade auch in den USA reproduziert, wo insbesondere jüngere in alltäglichen Interaktionen mit älteren MigrantInnen und 20 Es ist dagegen verbreitete Praxis, Beschlüsse innerhalb der dörflichen Organisation schriftlich festzuhalten. Allerdings wird oft beklagt, dass sich die Betroffenen nicht verpflichtet fühlten sich daran zu halten. 21 Da die Wasserversorgung durch die Dorfgemeinschaft betrieben wird, ist es möglich, diese abzustellen. Bei der Stromversorgung, die in Händen einer staatlichen Institution liegt, wäre es dagegen eine Straftat. Trotzdem wird gerne damit gedroht und diese Drohung auch ernst genommen. Insgesamt ist aber anzunehmen, dass diese internen Regeln zur Sanktion von Verstößen mit formaljuristischen Perspektiven unvereinbar sind, da sie als Verletzung individueller Rechte betrachtet werden können. Daher scheinen viele Comunidades in den letzten Jahren darauf zu verzichten, auch wenn es als einziges wirklich zwingendes Sanktionsmittel präsent bleibt. 22 So habe ich nur einmal, seit ich 1995 erstmals in das Valle del Mezquital kam, von der Anwendung dieser Strafe gehört. Dabei handelte es sich um den o.g. Fall eines politisch motivierten „religiösen“ Konflikts. Es kommt nämlich vor, dass interne Konflikte machtpolitisch zugespitzt und dann entsprechende Sanktionen angedroht werden. In verschiedenen Fällen im Valle del Mezquital verweigerten Familien, die sich z.B. aufgrund ihrer Konfession benachteiligt fühlten, ihre Cooperaciones, woraufhin sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden sollten. Hier wird den Sanktionsregeln gefolgt, ohne sich die zugrundeliegenden Probleme einzugestehen. Dies ist eine der negativen Folgen der Vorstellung von Homogenität der Gemeinschaft. Solche Situationen werden oft dadurch verschärft, dass sich lokale staatliche Stellen für nicht zuständig erklären, während die Betroffenen auf ihre staatsbürgerlichen und Menschenrechte Bezug nehmen (s. auch Kap. 7.4). In der Öffentlichkeit wurde dies mit großem Abscheu aufgenommen.

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der US-amerikanischen Gesellschaft eine Identität als Angehörige ihrer ethnischen Gruppe und ihres Dorfes aufbauen und in gewissem Maße neu erfinden. Im Prozess der Verortung gegenüber anderen Gruppen in den USA entsteht ihre Identität als WirGruppe (Elwert 2002; 1997; 1989) Hñähñu bzw. als Hñähñu aus dem Dorf X. Diese Identitätskonstruktion über das Othering von und durch andere geschieht in einem dynamischen und interaktiven Prozess von Fremd- und Selbstzuschreibungen (Barth 1998 [1969], Schlee 2002). Dies erleichtert es, die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den USA zu ertragen, die Situation der Fremdheit zu bewältigen und ein Selbstwertgefühl zu wahren. In Anbetracht der oft prekären Situation und der Konfrontation mit dem Fremden findet eine Rückbesinnung auf das statt, was als das Eigene begriffen oder konstruiert wird. In der Folge spricht bspw. ein Großteil der MigrantInnen in den USA Hñähñu und nicht Spanisch, was der Praxis im Heimatort widerspricht, sodass viele jüngere MigrantInnen überhaupt erst in den USA „ihre“ Sprache lernen. Dies geht mit einem translokal-übergreifenden Neotraditionalisierungsprozess einher, der als Rückkehr zu eigenen Bräuchen und Sitten, zur eigenen Lebensart, verstanden wird. Konkret äußert sich das u.a. im Wandel gemeinschaftlicher sozialer Aktivitäten, wie z.B. der Dorffeste, und in internen Einschätzungen der aktuellen Situation der Dorfgemeinschaft. Dabei wird oft eine vorgebliche Tradition der Dörfer erfunden, die als Vorlage für die Gegenwart dienen soll.

3.2 M IGRATION UND T RANSNATIONALISIERUNG DER D ORFGEMEINSCHAFT Migration und Transnationalität sind im Alltag der untersuchten Dorfgemeinschaften allgegenwärtig und haben zu diversen Veränderungen geführt. Migrationsprozesse und ihre Folgen sind ein hervorstechendes Beispiel für eine Vielzahl von Prozessen, die im gegenseitigen Wechselspiel die aktuelle Transformation der Comunidades befördern, da sie leichter zu erkennen sind als viele andere. Allerdings müssen sie zunächst als Transnationalisierung begriffen werden, um ihre Bedeutung für die Dörfer angemessen bewerten zu können. Transnationalität durchzieht große Bereiche des sozialen Lebens und der Organisation der Dorfgemeinschaften, sodass diese eine ausgeprägte transnationale Dimension entwickelt haben. Daneben lässt sich feststellen, dass durch Migration bedingte Veränderungen allgemeine Transformationsprozesse beschleunigt haben. Sowohl in der dörflichen Organisation als auch im politischen Bereich haben Entwicklungen, die bereits im Gange waren, einen zusätzlichen Schub erhalten, da die Transnationalisierung ein Klima des Wandels befördert hat. Aufgrund dieser hohen Relevanz werde ich zunächst die Migration im Valle del Mezquital und anschließend die daraus resultierende Transnationalisierung der Dorfgemeinschaften diskutieren.

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Migration im Valle del Mezquital Das Valle del Mezquital gilt als neue Migrationsregion im Vergleich zur sogenannten klassischen oder historischen Migrationsregion im Westen Mexikos, zu der u.a. die Bundesstaaten Zacatecas, Jalisco und Michoacan gehören. Dort existierte, begünstigt durch die hohe Bevölkerungsdichte, die gute Anbindung an das Schienenverkehrsnetz und durch Auseinandersetzungen im Rahmen der mexikanischen Revolution bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Migration in die USA. Insbesondere in Texas und Kalifornien, dem mittleren Westen und der Region um die großen Seen entwickelten sich größere MigrantInnengemeinschaften, die zu Verteilungszentren wurden. Später wurden die Migrationsströme in dieser Region durch das Bracero-Programm (s.u.) weiter beflügelt (Durand 2005; Sandos/Cross 1983). Aber selbst in den als nicht klassisch definierten Regionen setzte eine breite Migration zumindest ein Jahrzehnt früher ein als in Hidalgo. Besonders prominent in der Transnationalitätsforschung ist der Fall der Migration aus dem Bundestaat Oaxaca. Auf Grundlage dieser Prozesse transnationaler Verflechtung wurde sogar der Begriff Oaxacalifornia für den transnationalen Raum geprägt, der Oaxaca und Kalifornien überspannt (Kearney 1995a, 559). Da sich in der Folge ein Großteil der Forschung zu transnationaler Migration aus Mexiko auf diesen Bundesstaat konzentrierte, wurde ironisch sogar von einer „Oaxacanisierung“ dieser Forschungsrichtung gesprochen. Gleichzeitig ist sie eines der wenigen ausführlicher analysierten Beispiele für indigene Migration und wurde so zu deren Paradebeispiel (vgl. Kearney 2000; 1995b; RiveraSalgado 1999; Velasco 2005; 2002). Andere Fälle indigener Migration wurden eher wenig beachtet, obwohl sie abweichende Charakteristiken aufweisen, wie es auch bei der Migration aus Hidalgo, insbesondere dem Valle del Mezquital, der Fall ist. Hidalgo wird erst seit wenigen Jahren überhaupt als Migrationsstaat, in Mexiko als Estado Expulsor (Sendestaat) bezeichnet, wahrgenommen. Darin scheint der wichtigste Grund zu liegen, warum die Migrationsprozesse im Valle del Mezquital und allgemein in Hidalgo bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. Sicher war bekannt, dass Menschen aus diesem Bundesstaat in die USA migrierten und dort ohne legalen Status leben und arbeiten. Als breites und massives Phänomen, vergleichbar mit anderen Bundesstaaten, wurde es jedoch erst spät wahrgenommen und analysiert. Erst seit wenigen Jahren existiert eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema, oft aus statistisch-quantitativer und meist demografischer Perspektive, die eher selten auf die Lebensrealität und alltäglichen Handlungslogiken der betroffenen sozialen Akteure eingeht. Dabei wird Migration oft schon von vornherein als Problem behandelt, das sich negativ auf die Region auswirkt und als Zeichen von Armut und Unterentwicklung zu sehen ist. Dies deckt sich weitgehend mit Diskursen der Regierung des Bundesstaates, die Migration hauptsächlich als Herausforderung oder Problem betrachtet. Allerdings sieht sie seit einigen Jahren immer stärker ein Potenzial, das

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für die Entwicklung der Region und des Bundesstaates genutzt werden sollte. So zielen viele staatliche Maßnahmen darauf ab, Remissen der MigrantInnen für Entwicklungsprojekte zu gewinnen. Dabei finden neben den aus dem spezifischen Kontext erwachsenen Elementen auch internationale Diskurse Eingang in die Bewertung von Migration und der Umgang ähnelt vielen internationalen Fällen. Die vorwiegend problematisierende Sichtweise vieler Studien zu Hidalgo hingegen hängt meines Erachtens damit zusammen, dass aus methodologischen Gründen die Agency der MigrantInnen, ihrer Angehörigen und generell der Akteure in den sozialen Formationen, denen sie angehören, relativ wenig Beachtung findet (z.B. Quezada 2004; Serrano 2006a; 2006b; vgl. zur Kritik Rivera Garay/Quezada Ramírez 2011). Dies fügt sich in die Problematik paternalistischer Perspektiven auf Indigene in Mexiko ein, die sich nicht selten in der Untersuchung von Migration verschärft, da hier der „Opferstatus“ als Indigene und als MigrantInnen zusammenkommen. Innerhalb Hidalgos nimmt das Valle del Mezquital eine besondere Position ein. Zwar ist die Migrationspolitik des Bundesstaates für alle Regionen ähnlich und überall finden sich interne Migrationsprozesse, insbesondere in Städte und als saisonale Migration von LandarbeiterInnen in andere Bundesstaaten. Der Großteil der grenzüberschreitenden Migration hat aber ihren Ursprung im Valle del Mezquital, was u.a. mit seiner relativ langen Migrationsgeschichte zusammenhängt. Damit findet sich hier auch der Schwerpunkt transnationaler Vergemeinschaftung. Erst seit wenigen Jahren wird aus den Regionen Otomí-Tepehua und Huasteca in die USA und nach Kanada migriert. Aus den urban geprägten Gebieten um Pachuca, Tulancingo und Tula und denjenigen nahe Mexiko-Stadt, wie Tizayuca und Valle de Apan, sowie den Regionen um Huichapan und Jilotepec, existieren vermutlich ebenfalls schon länger Migrationsbewegungen in die USA, aber eben nicht in der Intensität wie im Valle del Mezquital. Als Folge davon liegt der migrationsbezogene Fokus der öffentlichen und politischen Aufmerksamkeit auf dem Valle del Mezquital.

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Abbildung 2: Karte des Bundesstaates Hidalgo

Quelle: Microsoft Map Point

3.2.1 Vorläufer der aktuellen Migrationsprozesse Das Bracero-Programm Auch wenn die Mitte der 1980er Jahre entstandene breite Migration in die USA als „La Migración“ im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, hat Migration im Valle del Mezquital eine lange Geschichte, die oft außer Acht gelassen wird. Abgesehen von den historischen Migrationsbewegungen existieren seit den 1930er Jahren Verbindungen in die USA (Álvarez Mundo 1995). Für die 1960er Jahre ist belegt, dass einige Männer aus verschiedenen Dörfern der Region in den USA entweder im Rahmen des Bracero-Programms23 oder zumindest seinem Umfeld arbeiteten (vgl. Rivera Garay/Quezada Ramírez 2011, 87). Sie verrichteten unqualifizierte Arbeiten, insbesondere in Landwirtschaft und Industrie, somit Tätigkeiten, in denen mexikanische MigrantInnen auch heute noch aktiv sind. Ebenso entsprechen die damaligen Ankunftsregionen jenen, in denen heute die meisten MigrantInnen aus dem Valle del 23 Ein US-amerikanisches Anwerbeprogramm, das im Kontext des Zweiten Weltkrieges 1942 initiiert wurde und bis 1964 bestand (vgl. Durand 2007a; 2007b).

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Mezquital leben, auch wenn sich die Migrationsziele insgesamt stark diversifiziert haben. Gemäß diesem Programm arbeiteten sie damals für maximal fünf Jahre in den USA und obwohl nur wenige Personen teilnahmen, scheinen diese ersten Kontakte in mehreren Regionen Mexikos zur Entstehung breiter Migrationsprozesse beigetragen zu haben (vgl. Durand 2005). Auch viele Indigene waren in das Bracero-Programm eingebunden, wurden aber kaum wahrgenommen (Fox/Rivera-Salgado 2004b, 2; Rivera-Salgado 2004, 7). Purépecha (aus Michoacán), Zapoteken und Mixteken (aus Oaxaca und Guerrero) waren mit ihrer langen Migrationsgeschichte in die USA die wichtigsten drei indigenen Gruppen, die am Bracero-Programm teilnahmen (Fox 2004, 11). Aber auch Angehörige anderer Gruppen wie Nahua oder eben Hñähñu (beide Zentralmexiko) waren beteiligt. Die indigene Migration wies damals bereits sehr spezifische Muster, Praktiken und Phänomene auf. So berichten Fox und Rivera-Salgado von einem der wenigen erfolgreichen Streiks im Rahmen des Bracero-Programms. Diese waren untersagt, aber die Protagonisten waren Nahua, die ihre spezifischen Ressourcen einsetzten: „We spoke in Mexicano [Náhuatl] and they didn’t understand us, that’s how we were able to organize even though it was prohibited and we fought for fair pay. We did the strike in Mexicano“ (2004b, 2). Auch an den Herkunftsorten führten schon die Bracero-Migration und sich anschließende Migrationsprozesse zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen. Gledhill weist bereits in den 1980er Jahren in einer historischen Studie zur Landarbeiterschaft in Lateinamerika darauf hin, dass es im Kontext von Migrationsprozessen zur Neuaushandlung von Arbeitsbedingungen in der jeweiligen Herkunftsregion kam. In einer Untersuchungsregion in Michoacán veränderten sich Lohn und Länge des Arbeitstages sowie der monetäre Gegenwert der unentgeltlichen Gemeinschaftsarbeit aufgrund der Arbeitsmöglichkeiten in den USA. Zudem wurden staatliche Programme, die eine Selbstausbeutung der „Begünstigten“ voraussetzten, nun negativer bewertet (Gledhill 1985, 53). Die treibende Kraft waren dabei nicht (nur) die MigrantInnen selbst, sondern allein die Existenz der Migration als ökonomische Alternative reichte aus, die genannten Neuaushandlungen einzuleiten. In anderem Zusammenhang stellt Wilson (2000; 1993) fest, dass die interne Migration von Frauen aus Purépecha-Gemeinden durch die Abwesenheit der Männer im Bracero-Programm begünstigt wurde und sich gegen soziale Widerstände zu einem Rite de Passage entwickeln konnte. Dies zeigt auch, dass die Verflechtung zwischen interner und internationaler Migration, die in meinen Fallstudien deutlich wird, ein allgemeines Phänomen in ländlichen Gebieten Mexikos (gewesen) ist, obwohl sie oft ignoriert wird. Rivera-Salgado (2004, 7) geht zudem davon aus, dass Purépecha trotz der Teilnahme an der Bracero-Migration bis in die 1980er hinein vor allem in mexikanische Städte migrierten und in saisonale Migrationsprozesse, meist als Tagelöhner in der Landwirtschaft, eingebunden waren. Diese interne Migration besteht neben der internati-

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onalen fort und wurde in Mexiko-Stadt und Tijuana als Ankunftsorte untersucht (Velasco 2007, Veloz 2006). Sie entspricht weitgehend dem Migrationsmuster, das ich für das Valle del Mezquital analysiere. Für das Valle del Mezquital weisen Rivera Garay und Quezada Ramírez (2011, 86f.) darauf hin, dass die Kategorisierung als neue Migrationsregion (Durand 2005) irreführend ist. In einer Revision der Studien zur Migration im Valle del Mezquital stellen sie fest, dass seit geraumer Zeit Migration in die USA existierte, wenn auch zunächst als Einzelfälle. Der erste wird in einer frühen Studie zu Migration im Valle del Mezquital auf etwa 1930 datiert (Álvarez Mundo 1995). Diese Reise eines Migranten aus El Tenguedó im Municipio Zimapan wird als erster Fall internationaler Migration aus Hidalgo angesehen (vgl. Serrano 2006b Spätere ethnographische Studien, die sich nicht explizit mit Migration beschäftigten, diese aber zur Kenntnis nehmen, belegen für die 1950er und 1960er Jahre mehrere Migrationsbewegungen in die USA. Dazu gehören Interviews mit zwei Männern, die Ende der 1960er Jahre aus dem Municipio Ixmiquilpan migrierten (Benítez 1972). Richard Ramsay (2003) berichtet, dass zwei Männer aus La Pechuga, im höher gelegenen Teil der Region, bereits im Jahr 1954 längere Migrationserfahrung aufwiesen. Sie luden 1960 einen Mann aus dem Nachbarort El Gundho (dem eigentlichen Studienort Ramsays) ein, mit ihnen zu migrieren, was mit der Zeit einen breiteren Migrationsprozess einleitete. Dies ist ein typisches Muster, nach dem auch El Thonxi und Barranca Empinada in Migrationsprozesse eingebunden wurden [Adrián]. Migrationsprozesse aus dem Valle del Mezquital haben also eine längere Tradition, als in vielen neueren Untersuchungen angenommen. So belegt Vázquez (1995) für El Olivo, dass es sich bei der Migration um eine ältere Praxis handelt, die Teil diversifizierter Überlebensstrategien war, mit denen auf geringe landwirtschaftliche Produktion und fehlende industrielle Arbeitsmöglichkeiten reagiert wurde. Er nimmt an, dass diese Migrationsprozesse schon länger bestanden, sich aber in den 1980ern verstärkten, und nimmt eine erste Schätzung ihres Ausmaßes vor. Für die damalige Zeit geht er von etwa 50 Hñähñu aus, die vor allem in Florida lebten. Wenn diese Annahme mit heutigen Schätzungen kontrastiert wird, erschließt sich das enorme Anwachsen der Migration. Angaben der MigrantInnen in Clearwater, Florida, zufolge, leben alleine an diesem Ort mittlerweile etwa 2000 MigrantInnen nur aus dem Municipio Ixmiquilpan [Líderes Clearwater]. Es ist also sinnvoll, eine Forschungsperspektive einzunehmen, welche die diversen Formen von Migration in der Region, ihre Verflechtung und Historizität, auch über mehrere Epochen hinweg berücksichtigt. So lässt sich feststellen, dass Migration im Valle del Mezquital schon lange Teil der sozioökonomischen Strategien und letztlich des Lebensstils ist.

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Arbeitsmigration in die Städte: Hausmädchen und Maurer Bei historischer Betrachtung erweist sich die temporäre Arbeitsmigration aus den Dörfern der Region in größere Städte als wichtiger Migrationsprozess. Diese teils weiter existierende Migrationsform folgte verschiedenen vom Herkunftsort abhängigen und meist geschlechtsspezifischen Mustern. Im Fall von El Thonxi arbeitete die jetztige ältere Generation in ihrer Jugend in Mexiko-Stadt, der größte Teil der Männer auf dem Bau. Sie wurden als Indigene vom Land kategorisiert und damit den „billigen“ Arbeitskräften zugeschlagen, welche zur kostengünstigen Errichtung der „modernen“ urbanen Gebäude benötigt wurden.24 Die jungen Männer blieben mehrere Wochen in der Stadt, in der Regel so lange sie in einem Projekt arbeiten konnten. Danach kehrten sie eine Zeit lang in ihre Dörfer zurück, und verdingten sich schließlich wieder bei einem Bauprojekt. Allerdings war dies auch vom Agrarzyklus abhängig, denn für wichtige landwirtschaftliche Tätigkeiten, wie Aussaat und Ernte, blieben sie im Dorf. Später, wenn sie bereits Familien hatten, kehrten sie jedes zweite Wochenende zurück [Don Pablo; Doña Carmen]. Diese saisonale zirkuläre Migration war ein wichtiger Vorläufer der aktuellen transnationalen Migrationsprozesse (s.u.). Die Arbeits- und Lebensbedingungen sollen zumindest zu Beginn sehr schlecht gewesen sein. So lebten die Arbeiter auf den Baustellen in Verschlägen aus Pappe und ernährten sich fast ausschließlich von Tortillas, da es keine Möglichkeiten gab zu kochen und Straßenküchen zu teuer waren. [Don Pablo] Trotzdem war es für sie eine wichtige ökonomische Alternative. Oft war es sogar die einzig lohnende Möglichkeit, neben ihrer kleinbäuerlichen Tätigkeit, die zu damaligen Bedingungen keine Produktivitätssteigerung erlaubte, und der Fertigung von (kunst-)handwerklichen Produkten, insbesondere durch Frauen, Geld zu verdienen. Die Notwendigkeit, solche Einkommensquellen zu erschließen, wurde durch die damals voranschreitende Monetarisierung vieler Aspekte des Lebens in den Dörfern und der Interaktion mit der Außenwelt verstärkt. Später begannen einige MigrantInnen, sich dauerhaft in Mexiko-Stadt anzusiedeln und in diversen Branchen zu arbeiten, bspw. als Kleinhändler, Gasverkäufer oder weiterhin als Bauarbeiter. Zu diesem Zeitpunkt verbesserten sich die Lebensbedingungen auch für andere MigrantInnen, da es jetzt Anlaufpunkte und Netzwerke in der Stadt gab, auf die aufgrund familiärer Bindungen und der innerhalb der Gemeinschaften erwarteten Solidarität und Reziprozität zurückgegriffen werden konnte. Dies deckt sich mit in der Literatur beschriebenen internen Migrationsprozessen aus indigenen und nicht-indigenen Regionen, die nicht nur von ländlichen Gebieten, sondern auch von kleineren Städten ausgehen. Es ist unklar, wann diese Art 24 Dieses Muster besteht heute fort und entsprechende Tätigkeiten werden von indigenen Tagelöhnern aus ländlichen Regionen von Bundesstaaten wie Guerrero und Oaxaca verrichtet, deren Bevölkerung als arm gilt. In diesem Sinne kann die transnationale Migration in die USA als ein Statusgewinn betrachtet werden.

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der Arbeitsmigration in meinen Fällen einsetzte. Aus den Berichten meiner InformantInnen kann aber geschlossen werden, dass sie zumindest von den 1950er bis Mitte der 1980er Jahre Bestand hatte. Es steht allerdings zu vermuten, dass sie u.a. aufgrund der geographischen Nähe zu Mexiko-Stadt bereits in die Zeit vor der Revolution zurückreicht, zumindest bezogen auf Hausmädchen und Handlanger. Hausmädchen Noch weniger präsent als die Migration der Männer ist die der Frauen aus den Dörfern. Sie zogen in ähnlichem Umfang in die Städte, um als Hausmädchen zu arbeiten. Dies scheint ein weit verbreitetes Phänomen gewesen zu sein, über das aber kaum gesprochen wird. Die Ausblendung dieser Erfahrung vieler Frauen führt zur Konstruktion eines Systems des Nichtwissens (Lachenmann 1994) in den Dorfgemeinschaften, aufgrund dessen das Wissen um eigenständige ökonomische und soziale Strategien von Frauen aus dem gemeinschaftlichen Bewusstsein „verschwindet“. Bei dieser weiblichen Arbeitsmigration waren die Voraussetzungen und Arbeitsbedingungen ähnlich schlecht wie im Fall der Männer. Diese Frauen wurden eingestellt, weil sie der klassischen Konstruktion von Arbeiterinnen par excellence entsprachen. Sie waren jung, galten als geschickt und flexibel in ihren Tätigkeiten, als ungebildet, unqualifiziert und unbedarft, waren von der Arbeit abhängig, hatten kaum sozialen Rückhalt und wurden somit als gehorsam und gefügig angesehen. So waren diese jungen Frauen ideale Arbeitskräfte für die urbane Mittel- und Oberschicht, die gehorsame Mädchen für alles suchte.25 Auch diese Konstruktion wurde durch die indigen-ländliche Herkunft verschärft. Verglichen mit den Männern hatten sie einen noch niedrigeren Status, da „weiblich“ zu den Kategorien „indigen“ und „vom Land“ hinzukam. Folglich waren sie meist unter prekären Arbeitsbedingungen tätig, wurden ausgebeutet, waren oft sexuellen Übergriffen ausgesetzt und wurden in manchen Fällen um ihren Lohn betrogen. Dies entspricht den gängigen Erfahrungen von Hausmädchenarbeit in Lateinamerika, die bis heute fortbesteht, wenn auch in veränderter Form (vgl. Chaney/Castro 1991; Goldsmith 2007; zu Europa Hess/Lenz 2001; Lutz 2007). Ein weiterer Unterschied zur männlichen Migration bestand darin, dass Frauen in der Regel eine Arbeit auf Zeit suchten, während sie bei den Männern einen langfristigen Teil ihrer Lebensperspektive ausmachte. Die Frauen arbeiteten in der Stadt bis sie heirateten, meist einen Mann aus ihrer Herkunftsregion, den sie in der Stadt kennenlernten. Danach lebten sie im Dorf und widmeten sich reproduktiven Tätigkeiten in Haushalt und Kindererziehung, was als ihre weibliche Aufgabe angesehen wurde. Darüber hinaus waren sie aber für weite Teile der kleinbäuerlichen

25 Dies entspricht dem Bild, das heute als Teil der weltweiten Feminisierung der Arbeit Grundlage für die Beschäftigung junger Frauen in der Maquilaindustrie und den sogenannten Weltmarktfabriken ist (vgl. Dannecker 2001; Segura/Zavella 2007; Wichterich 1998).

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Ökonomie, Produktion und Verkauf von Kunsthandwerk und für gemeinschaftliche Aufgaben zuständig. Obwohl diese Art der internen Migration zunächst durch die in die USA abgelöst wurde, die von den meisten Menschen als einträglicher angesehen wird, erlebt sie eine gewisse Renaissance. So arbeiten einige Frauen aus El Thonxi wieder als Hausmädchen in Mexiko-Stadt. Auch aus anderen Dörfern gehen vor allem jüngere Frauen dieser Tätigkeit nach, vorwiegend in Mexiko-Stadt oder Guadalajara. Dafür gibt es zwei Hauptgründe. Einerseits sehen einige Frauen mittlerweile Vorteile in dieser Art der Lohnarbeit gegenüber der Migration in die USA. Sie müssen weder die insbesondere für Frauen wachsenden Risiken auf dem Weg in die USA eingehen, noch Geld für die Finanzierung des irregulären Grenzübertritts beschaffen und haben im Gegensatz zu der anfänglichen Arbeitssuche in den USA sofort eine relativ sichere Arbeit mit einem festen regelmäßigen Gehalt, das mit den lokalen Einkommensmöglichkeiten konkurrieren kann. So wird die Möglichkeit, eine abgesicherte Tätigkeit als Hausmädchen aufzunehmen, inzwischen oft als Chance begriffen, nachdem die soziale Kontrolle besser wurde. Andererseits scheint eine gewisse Nachfrage nach Hausmädchen aus bestimmten Orten zu bestehen, die auf guten Erfahrungen und entsprechenden Empfehlungen unter den Arbeitgeberinnen beruht. Hausmädchen werden daher oft von der Hausherrin gefragt, ob sie nicht ein Mädchen aus ihrem Ort kennen, das bei einer Freundin arbeiten würde. Die Tätigkeit wird aufgewertet, da sie mit einem Vertrauensverhältnis verbunden ist und (vorgeblich) nur ein Teil der Interessentinnen geeignet ist. Die so entstandenen sozialen Netzwerke in diesem spezifischen Arbeitsmarktsegment sind eine wichtige Grundlage dieser Migrationsform, da Empfehlungen und Informationsfluss sowohl Sicherheit als auch akzeptable Arbeitsbedingungen und Vergütungen garantieren. Denn auch die Hausmädchen achten aus Sicherheitsgründen auf Empfehlungen und Erfahrungsberichte ihrer Kolleginnen und eine gute Vernetzung vor Ort. Für die soziale Akzeptanz dieser Tätigkeit in den Dorfgemeinschaften ist grundlegend, dass trotz bekannter Probleme Hausmädchen nie pauschal mit einem Bild von „schlechten Frauen“ in Verbindung gebracht wurden. Die Tätigkeit wurde sozial akzeptiert, was bei der früheren Hausmädchenmigration mit der ökonomischen Notwendigkeit und einer gewissen Tradition zusammenhing. Wichtiger ist aber, dass offenbar alle negativen Aspekte von der Gemeinschaft ferngehalten und damit externalisiert wurden. Ehemalige Hausmädchen berichten zwar davon, dass Ausbeutung und Übergriffe existieren, allerdings ohne sich selbst als Betroffene darzustellen. So sind zwei Arten von Narrationen in diesem Zusammenhang typisch. Eine Frau berichtete über ein anderes Hausmädchen:

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„Sie hat in Mexiko-Stadt Arbeit gesucht und kam an einem Haus vorbei, an dem ein Schild hing ‚Suche Haushaltshilfe‘. Sie wurde sofort eingestellt und hat dort einen Monat lang gearbeitet. Nach dem Monat wurde ihr aber gekündigt, ohne dass sie ihren Lohn bekam. Danach suchte die Patrona das nächste Mädchen.“ [Inés]

Dieser Bericht, der mit Aussagen über die eigentlich unerträgliche Behandlung ausgeschmückt wurde, projiziert die negative Erfahrung mit der Arbeit als Hausmädchen auf eine andere Person und entschärft sie dadurch für das eigene soziale Umfeld. Dort, wo die Erzählerin selbst als Betroffene auftritt, wird die eigene Handlungsmacht betont, durch die sie die Situation bereinigt: „Sie hatten einen Sohn, der versucht hat, mich auszunutzen [zu missbrauchen]. Aber ich habe das nicht zugelassen!“ [Doña Carmen]

Der versuchte Übergriff wird berichtet, aber so in die Erzählung eingebettet, dass allen sozialen Normen genüge getan wird, indem sich die Frau selbst vor dem Missbrauch schützt. Sie ist damit aus Sicht ihres sozialen Umfeldes in der Lage, das von ihr erwartete moralische Verhalten umzusetzen. Die Art des Umgangs mit den Erfahrungen dieser Generation, einschließlich der Ausblendung über ein System des Nichtwissens, ermöglicht heute eine nicht vorbelastete Tätigkeit als Hausmädchen. Es darf allerdings nicht unbeachtet bleiben, dass die Erfahrungen der heutigen Großmüttergeneration als Hausmädchen und als Frauen in den Dörfern, zum einen dazu beigetragen haben, dass sie ihren Töchtern ein besseres Leben wünschten. So erklären sich Fälle, in denen einzelne Frauen die Ausbildung ihrer Töchter förderten, auch wenn dies von ihrem sozialen Umfeld kritisiert wurde. Zum anderen wählten junge Frauen durch die diffuse Präsenz der (negativen) Erfahrungen ihrer Mütter zu einem bestimmten Zeitpunkt die Arbeit in den USA als Alternative. Beide Prozesse gewannen große Relevanz, da sie zum Wandel der Geschlechterverhältnisse beigetragen haben und Grundlage der aktuellen Transformation der Geschlechterordnung sind. Wechsel des Fokus: Von den Städten „al Norte“ Ab Beginn der 1980er Jahre sank die Attraktivität von Mexiko-Stadt als Arbeitsort. Es war nicht mehr möglich, ausreichend Geld zu verdienen, um die gestiegenen Lebenshaltungskosten in der Hauptstadt bezahlen und gleichzeitig Geld in die Heimatorte senden zu können [Don Raimundo]. Der Grund dafür liegt in den Wirtschaftskrisen und folgenden Strukturanpassungsmaßnahmen in den 1980er Jahren (Boris 1996). Gleichzeitig entstanden erste lose Netzwerke der MigrantInnen in den USA, über welche Informationen über Arbeitsmöglichkeiten und das Leben in den USA flossen und die Grenzüberquerung organisiert wurde. Sie senkten zudem die finanziellen und psycho-sozialen Kosten der Migration und machten sie leichter vorstellbar.

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Bald wurden sie auf familiäre Netze ausgedehnt und später weitestgehend durch diese ersetzt. Dabei entstanden die familien- und gemeinschaftszentrierten Solidaritätsund Reziprozitätsnetzwerke (vgl. Faist 2004, 8; 2000a), die heute die Grundlage dieser transnationalen sozialen Räume bilden. Die Migration in das als reich wahrgenommene nördliche Nachbarland wurde attraktiver und entwickelte sich zu einem Massenphänomen. Dies sollte aber nicht als abrupter Wechsel verstanden werden. Vielmehr beendeten die meisten älteren Männer ihre städtische Erwerbstätigkeit erst nach und nach, und nur wenige von ihnen suchten Arbeit in den USA. Die jüngere Generation aber sah diese als lohnendere Option. Es bestand aber eine Verbindung zwischen beiden Migrationsformen, denn der Einstieg in den US-amerikanischen migrantischen Arbeitsmarkt wurde auch jüngeren Männern oft dadurch erleichtert, dass sie in Mexiko durch interne Migration, Arbeit in der Region oder eine Ausbildung beim Militär über Erfahrungen als Handwerker, insbesondere als Maurer, Klempner oder Elektriker, verfügten. Nichtsdestotrotz vollzog sich ein Bruch zwischen den Generationen, mit dem sich auch das Muster dieser internen, oft indigenen Migration wandelte. Insbesondere ging ihr saisonaler Charakter als ein Kennzeichen verloren, was auf eine starke soziale Umwälzung hinweist, die eine Anpassung des gesamten sozialen und organisatorischen Systems der Dorfgemeinschaften erforderte. Das Erdbeben von 1985 in Mexiko-Stadt markierte letztlich den Endpunkt der breitgefächerten urban ausgerichteten Migration, denn schlagartig gingen viele Beschäftigungsmöglichkeiten verloren und es wurde notwendig, sich bietende Alternativen zu nutzen. Die Migration aus dem Valle del Mezquital in die USA weitete sich unter ähnlichen Vorzeichen aus wie zuvor die interne. Auch hier wurden Arbeitskräfte gesucht, die bereit waren unter prekären Bedingungen zu niedrigen Löhnen zu arbeiten. In diese Kategorie passt auch in den USA das Bild von Indigenen aus ländlichen Regionen Mexikos. Allerdings geht ihre Indigenität dort meist in einer dem methodologischen Nationalismus verhafteten Perspektive unter, die alle mexikanischen MigrantInnen als mestizisch-mexikanisch homogenisiert. Die einsetzende Migration in die USA führte zu einem Wandel der Wahrnehmung der MigrantInnen in den Dorfgemeinschaften, der in der Regel mit einer Aufwertung ihres Status einherging. Gleichzeitig wurde sie zum Idealtyp von Migration und überlagerte vorherige Prozesse. Obwohl in lokalen Biografien die Arbeit in der Stadt relativ wichtig ist, da sich dort viele Ehepaare kennenlernten oder Männer gefragte berufliche Kenntnisse, insbesondere als Maurer, erwarben, ist diese Zeit kaum präsent. Der Boom der Migration in die USA hat zu einer Abwertung früherer Migrationsprozesse geführt. Die periodische Arbeit in den Städten wird zudem selten als Migrationsprozess betrachtet, weder in der Forschung noch in den Dörfern. Dies hängt damit zusammen, dass es keine grenzüberschreitende Migration war und die MigrantInnen sich regelmäßig in ihren Dörfern aufhielten. So wurde diese Arbeitsmigration als alltäglich und wenig außergewöhnlich angesehen und gehörte schlicht

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zum Leben in den Dörfern. Zudem passte es in das gesellschaftliche Bild, dass unqualifizierte indigene und ländliche Arbeiter ihre Arbeitskraft billig außerhalb der Dörfer anbieten mussten, während die Hausmädchenmigration meist ganz übersehen wurde. Dies zeigen auch Gespräche in den Dörfern, in denen Erfahrungen als Hausmädchen oder Bauarbeiter in der Stadt eher beiläufig erwähnt werden. Sie scheinen aus Sicht der DorfbewohnerInnen eher unbedeutend oder selbstverständlich zu sein. Von der Migration in die USA wird ganz anders gesprochen und in der Regel kein Zusammenhang zwischen beiden Erfahrungen hergestellt. Dabei hat diese Erfahrung die Dorfgemeinschaften auf die Migration in die USA vorbereitet. Damals war es sozial akzeptabel und sogar normal geworden, an einem anderen Ort zu arbeiten, sodass Migration zu diesem Zeitpunkt fest im Repertoire sozialer Handlungsmöglichkeiten etabliert wurde. In gewissem Sinne wechselte einfach das Ziel der Migration. Die Dorfgemeinschaft hatte sich bereits auf die Abwesenheit eines großen Teils der Mitglieder einstellen müssen, auch wenn diese an Wochenenden ihren Pflichten nachkamen. Dabei entwickelte sich eine translokale Dimension der Gemeinschaft, da MigrantInnen weiterhin einen festen Teil des Dorfes bildeten, obwohl sie oft abwesend waren. Diese Form von Translokalität und damit verbundene Prozesse translokaler Vergemeinschaftung sind daher direkte Vorläufer der sich später entwickelnden grenzüberschreitenden Translokalität bzw. Transnationalität. Auch wenn die Migration aus der Region in die Städte zunächst weitgehend endete, bestand in einigen Dörfern ein ähnlicher Prozess der Hausmädchenmigration fort. So haben viele Frauen mittleren Alters aus Barranca Empinada in ihrer Jugend in Städten Nordmexikos entweder als Hausmädchen oder in der Maquila-Industrie gearbeitet [Doña Luisa; Doña Adriana]. Vor dem dörflichen Kontext erscheint dies zunächst ungewöhnlich und aus lokaler Perspektive oft fast undenkbar. Denn eigentlich stellte es einen ungeheuerlichen Normbruch dar, wenn junge Frauen alleine den Ort verließen, in weit entfernte Städte zogen und sich damit fast jeglicher Art sozialer Kontrolle entzogen. Unter Verweis auf ökonomische Zwänge wurde dies jedoch akzeptiert und bot Frauen eine Möglichkeit, das Dorf zu verlassen, Geld zu verdienen und Neues kennenzulernen, bevor sie heirateten und dann durch ihre Familie stärker an einen Ort gebunden waren. Zudem nutzten sie diese Gelegenheit explizit dazu, sich zeitweise der sozialen Kontrolle im Heimatort zu entziehen. In Barranca Empinada ist dies nicht mehr üblich, aber an anderen Orten im Valle del Mezquital besteht diese Art der Migration fort oder lebt wieder auf (s.o.). Grundsätzlich scheint sie im Valle del Mezquital weit verbreitet (gewesen) zu sein. Rivera Garay (2009) argumentiert, dass sie teilweise den Charakter eines Übergangsritus hatte und analysiert sie im Fall des Nachbarortes El Alberto als geschlechtsspezifisches Gegenstück zu der dort v.a. männlich belegten Migration in die USA. Dabei überlagert der soziale Aspekt ökonomische Erwägungen. Zwar berichten diese Migrantinnen, dass sie etwas Geld sparten, jedoch waren die Löhne wohl eher

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niedrig. Ökonomisch attraktiv war dies höchstens im Rahmen einer Verflechtungsstrategie auf familiärer Ebene, indem sich eine Person selbst versorgt und kleinere Geldbeträge zur Unterstützung ihrer Familie, besonders der Geschwister, überwies [Doña Luisa; Doña Adriana]. Demgegenüber darf der Wert damit verbundener Erfahrungen für diese jungen Frauen nicht unterschätzt werden. Erstmals gewannen sie Arbeitserfahrung, verdienten eigenes Geld und verfügten selbst darüber. Diese Rationalität findet sich ähnlich in der Migration in die USA wieder. Frauen, die aus vorwiegend ökonomischen Erwägungen oder zweckgebunden zur Finanzierung eines Hausbaus, migrieren, wählen üblicherweise die USA als Ziel, da es dort trotz der höheren Anfangskosten eher möglich ist, in einem begrenzten Zeitraum ausreichend Geld zu sparen und gleichzeitig ihre Familien zu unterstützen (s.u.). Dies verdeutlicht, dass die Frauen der Region immer auch eigenständige Teilnehmerinnen an den Migrationsprozessen waren, die eigenen Einschätzungen und Strategien folgten. Die stellt einen Punkt dar, der in der Region oft übersehen wird. 3.2.2 Entstehung der transnationalen Migration Nach den früheren Migrationsphasen im Valle del Mezquital entstand also ein grenzüberschreitender Migrationsprozess, der im Laufe der Zeit breite Teile der Bevölkerung erfasste und so zu einem allgegenwärtigen Phänomen in der Region wurde. Dabei handelte es sich von Anfang an um einen Prozess, in dem die MigrantInnen nicht beabsichtigten, in den USA zu bleiben. Es ging darum, eine zeitlang Geld zu verdienen, um bestimmte Projekte zu realisieren, häufig den Bau eines Hauses, die Verwirklichung einer Geschäftsidee oder das Begleichen von Schulden.26 Immer bestand die Perspektive, nach Mexiko zurückzukehren, um dort zu leben. Eine klare Erwerbsgrundlage dafür gab es aber meist nicht, sodass diese Pläne zunächst auf Ersparnissen und der vagen Hoffnung fußten, in Mexiko eine lohnende Arbeit verrichten oder ein Geschäft eröffnen zu können. Dies gelang aber nur in wenigen Fällen und so brachen die meisten Migranten erneut auf, nachdem ihre Ersparnisse aufgebraucht waren. Diesen Prozess konnte ich während meiner Forschung mehrmals miterleben. Auf diese Weise entwickelte sich letztlich eine dauerhafte Transmigration, die mit der anhaltenden Unterstützung der „Daheimgebliebenen“ einhergeht. Einige MigrantInnen bzw. Familien leben mittlerweile dauerhaft in den USA, fast alle sind aber weiterhin ihrer Gemeinschaft verbunden und werden als Teil dieser betrachtet. Das Ausmaß der Migration ist so hoch, dass es in den Dörfern kaum eine Familie gibt, die nicht mindestens ein Familienmitglied in den USA hat oder hatte. Sie ist daher Teil des Alltags und der Lebensperspektiven geworden und hat eine große Bedeutung für diverse Dimensionen des Lebens in den Dorfgemeinschaften gewonnen. 26 Aufgrund der Modalitäten des privaten Geldverleihs mit horrenden Zinssätzen kann eine drückende Schuldenlast entstehen.

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Auch wenn in letzter Zeit ein gewisser Rückgang zu erkennen ist, weil es aufgrund der Wirtschaftskrisen in den USA und verschärfter Grenzsicherung schwieriger geworden ist Arbeit zu finden, bestehen diese Prozesse nicht nur fort, sondern entwickeln sich weiter. Dazu gehört eine Veränderung des Migrationsmusters u.a. mit weniger häufigen Grenzübertritten und dem Versuch, in Mexiko eine (temporäre) Erwerbsperspektive zu finden. Modi der Ausweitung der Migration: Netzwerke, Solidarität und Reziprozität Die Berichte der ersten MigrantInnen lassen erkennen, dass bereits Kenntnisse über Leben und Arbeitsmöglichkeiten in den USA vorhanden waren und teils erste Kontakte bestanden [Adrián]. Dies machte die Migration zu einer denkbaren Perspektive und begründete ihre breite gesellschaftliche Akzeptanz als Teil des Repertoires an ökonomischen Handlungsmöglichkeiten. Zunächst waren kleinere Gruppen in Kenntnis der Migration aus anderen Regionen Mexikos in die USA gereist, um Arbeitsmöglichkeiten und nicht zuletzt auch das Land kennenzulernen (vgl. Ramsay 2003). Dies geschah noch ohne die heute obligatorischen Coyotes oder Polleros, die Schleuser, die den Grenzübertritt gegen hohe Bezahlung organisieren. Ausgehend von diesen Pionieren entwickelte sich relativ schnell ein breiter Migrationsprozess. Nach dem Auftakt zu Beginn der 1980er Jahre war in Barranca Empinada bereits Mitte des Jahrzehnts ein Großteil der BewohnerInnen eingebunden. In El Thonxi setzte der Prozess später ein. Hier migrierten die Pioniere Mitte der 1980er Jahre und der Prozess weitete sich bis zur Mitte der 1990er Jahre aus. Der Zeitpunkt der Reise in die USA entschied darüber, mit welchem legalen Status diese MigrantInnen heute in den USA leben und arbeiten. So kam in Barranca Empinada ein relativ großer Teil, in der Regel die jetzt älteren Männer, in den Genuss der letzten Legalisierungskampagne in den USA. Sie haben eine Aufenthalts- und in einigen Fällen sogar eine Arbeitserlaubnis, was sich auf die Ausprägung der Transnationalität in ihren Dörfern bzw. ihrem Leben auswirkt. In El Thonxi gab es dagegen nur zwei Personen, die legale Papiere erhielten. Da einer der beiden gestorben ist und der andere an einer depressiven Erkrankung in Folge seiner Migrationserfahrungen leidet, gibt es dort zurzeit keine „legalen“ MigrantInnen. Allerdings nutzt der Schwager des erkrankten Migranten dessen Papiere, um in den USA zu arbeiten. Die ersten Migranten überzeugten andere durch ihr Vorbild und Erzählungen bei den regelmäßigen Aufenthalten in Mexiko davon, dass es sich lohne, in den USA zu arbeiten. Sie blieben damals noch länger in den Herkunftsorten und organisierten kleine Gruppen von Interessierten für die erneute Ausreise. Seitdem stammen diese in der Regel aus dem eigenen Ort oder der Familie. Zudem setzten sich Migranten aus den USA mit Freunden und insbesondere Familienangehörigen in Verbindung, um sie zu überreden, ebenfalls zu migrieren. Eine typische Schilderung des Beginns der Migration klingt so:

110 | D OING D EMOCRACY IN INDIGENEN D ORFGEMEINSCHAFTEN „Mein Bruder rief mich an und sagte, ich solle dorthin gehen, um eine Weile zu arbeiten. Sein Chef suchte jemanden und so hat er ihm von mir erzählt und mir gesagt, dass es ihm gefallen würde, wenn ich ihn dort eine Zeit lang begleite.“27 [Adrián]

Oft war also an der gleichen Arbeitsstelle ein Platz frei oder man hatte über Netzwerke von einer guten Stelle erfahren und sah darin eine Chance für einen Angehörigen. Dahinter stand neben der Absicht, dem Eingeladenen zu helfen, der Wunsch eine Zeit lang jemanden aus dem Heimatort bei sich zu haben, um das Gefühl der Fremdheit in den USA abzuschwächen. So weitete sich die Migration nach und nach aus, wobei sich ihr Muster langsam änderte. Nachdem sich MigrantInnen in den USA etabliert hatten und mit ihren Netzwerken Anlaufstellen boten, während immer mehr DörflerInnen bereits über eigene Migrationserfahrungen verfügten, wandelten sich Motivationen und Art der Ausreise. Es bedarf meist keines externen Anstoßes mehr und die Reise findet nicht in einer separaten Gruppe aus dem Ort statt, sondern als kleinere Gruppe oder Einzelperson in der vom Coyote organisierten „Reisegruppe“. Weiterhin sind Aussagen wie „mein/sein Bruder/Onkel/Cousin wird ihn mitnehmen“28 üblich, aber dies bezieht sich darauf, dass die entsprechende Person mit dem angehenden Migranten in der gleichen Gruppe eines Coyotes reist, ihm also bei der Grenzüberquerung zur Seite stehen kann, und seine Reise (vor-)finanziert. Insgesamt ist der Prozess der Grenzüberschreitung stärker institutionalisiert als in der Anfangsphase, was eine gewisse Sicherheit vermittelt. Zudem wurde die Reise zunächst erschwinglicher, Verwandte in den USA verleihen Geld oder es gibt Zahlungserleichterungen, um die Reise im Nachhinein abzahlen zu können. So wirkt es bei der Ausreise fast so, als ob die MigrantInnen ein Pauschalpaket in einem Reisebüro gebucht hätten. Sie nehmen zunächst Kontakt mit dem Reiseveranstalter ihres Vertrauens auf, kümmern sich dann um die Finanzierung, steigen am angegebenen Tag in einen Bus und haben die Garantie, bei einem Scheitern der Grenzüberquerung an weiteren Versuchen teilnehmen zu können. Dies hängt auch damit zusammen, dass Aufgabenbereiche, die anfangs der Coyote alleine übernahm, aufgespalten wurden. Die Organisation der Grenzüberquerung wurde so immer differenzierter und die Einzelbereiche professionalisiert. Es gibt jetzt den Coyote, der in Mexiko die Gruppe organisiert und alle notwendigen Vorbereitungen tätigt. Dazu gehört vor allem, die weiteren „Migrationsdienstleister“ zu informieren und das Geld der MigrantInnen bzw. ihre Anzahlungen einzusammeln. So engagiert er einen Busunternehmer, der die MigrantInnen an die Grenze transportiert. Dort werden sie den Guías (Führern) übergeben, welche die eigentliche 27 „Mi Carnal me habló y me dijo que fuera para alla, para que trabajara un rato. Su patrón estaba buscando a alguién y asi él le habló de mi y me dijo que le gustaria que lo acompañara un tiempo alla.“ 28 „Me va llevar/ lo va llevar su hermano/tio/primo.“

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Überquerung der Grenze leiten. Bis zu einem günstigen Zeitpunkt bringen sie die Gruppe in Schutzhütten und Verstecken unter und unternehmen falls nötig mehrere Versuche der Grenzquerung. Jenseits der Grenze werden die MigrantInnen an „Schlepper“ übergeben, die sie zunächst in Autos, Kleintransportern oder -bussen aus dem Grenzbereich transportieren. Dann werden sie auf einem gut organisierten Netz von Kleinbusrouten, deren Hauptknotenpunkt offenbar in Arizona liegt, zu ihren unterschiedlichen Zielorten überall in den USA und Kanada transportiert. Es handelt sich also mittlerweile um ein ausgefeiltes arbeitsteiliges System der integrierten Reise von den Herkunftsorten in Mexiko zu den Ankunftsorten in Nordamerika. Es lebt von der hohen Nachfrage durch MigrantInnen und der Ausbeutung ihrer Bereitschaft, immer höhere Preise für diese „Dienstleistung“ zu zahlen. Problematik des irregulären Grenzübertritts Diese Professionalisierung hat jedoch weder den Grenzübertritt wesentlich erleichtert noch Risiken minimiert. Im Gegenteil ist dieser Prozess eher eine Konsequenz der verstärkten Grenzsicherung, die mit der Ausweitung von Risiken einhergeht, denn sie drängt MigrantInnen in eine stärkere Abhängigkeit von „Migrationsdienstleistern“. Zu den oft fatalen Auswirkungen der Grenzsicherung durch die USA gehören tausende Todesfälle (Cornelius 2001), deren Inkaufnahme Feldmann und Durand (2008) zufolge einer sozialdarwinistischen Logik entspricht, Übergriffe auf Migranten und insbesondere Migrantinnen und eine generelle Ausnutzung der Illegalisierung des Grenzübertritts, die Spener (2008) als ein Zusammenspiel diverser Formen von Gewalt analysiert.29 Gleichzeitig wächst Berichten von MigrantInnen, Nichtregierungsorganisationen und JournalistInnen zufolge der Einfluss krimineller Organisationen im Grenzgebiet und damit die Zahl von Übergriffen. In den letzten Jahren soll ein Teil der mexikanischen Drogenkartelle die Kontrolle über wichtige Migrationsrouten übernommen haben, die von der US-Migrationsbehörde schwieriger zu kontrollieren sind, da sie beispielsweise durch die Wüste führen. Sie kassieren u.a. einen Wegzoll und nutzen die Routen für den Drogenschmuggel zu dem sie MigrantInnen zwingen. Zudem verdrängen sie bisherige Coyotes und Führer, die oft zumindest eine gewisse soziale und geschäftliche Bindung mit und moralische Verpflichtungen gegenüber den MigrantInnen haben. Somit geht viel Sicherheit auf der Reise verloren und es kommt bspw. zu Morden, vor allem an zentralamerikanischen MigrantInnen, die sich weigern, mit der Mafia zu kooperieren oder deren Angehörige bei Verschleppungen kein Lösegeld aufbringen können. Gleichzeitig finden verstärkt Überfälle durch Banden statt, bei denen MigrantInnengruppen ausgeraubt und Migrantinnen vergewaltigt werden (vgl. Cortés 2007). Als ein Schwerpunkt dieser Übergriffe gilt die Region um Phoenix im US-Bundesstaat Arizona, da viele der o.g. Mig29 Aus dieser Situation der MigrantInnen speist sich auch die Forderung, Migration stärker aus einer menschenrechtlichen Perspektive zu betrachten (vgl. Ghosh 2008).

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rationsrouten in der dortigen Wüste liegen. Trotz der grenzüberschreitenden Vergesellschaftungsprozesse, deren Hauptakteure die TransmigrantInnen sind, behält die Grenze also ihre Bedeutung und ist ein entscheidendes Element in den Biografien der MigrantInnen, ihrer Wahrnehmung des transnationalen Raums und ihren Handlungslogiken, nach denen das translokale Leben organisiert wird. Die MigrantInnen aus den untersuchten Gemeinschaften sprechen allerdings kaum von dieser Problematik, was als Strategie der Verdrängung und Selbst-Beruhigung dient. In ihren Berichten klingt nur in Nebensätzen an, dass es schwieriger geworden sei die Grenze zu überqueren. Ausführliches Material über die Wahrnehmung der Grenze und eigene Erfahrungen bei deren Überschreitung konnte ich daher erst auf direkte Nachfrage erheben. Besonders aufschlussreich war ein Gruppengespräch mit MigrantInnen aus El Thonxi im September 2009 in einem kleinen Ort in South Carolina [Gruppendiskussion MigrantInnen SC]. Da bereits ein gutes Vertrauensverhältnis zu einem Teil der Gesprächsteilnehmer bestand, wir uns außerhalb des dörflichen Kontextes befanden und alle Anwesenden ähnliche Erfahrungen teilten, wurde relativ ausführlich über diesen sensiblen Aspekt berichtet und diskutiert. In späteren (Einzel-)Gesprächen wurde das Thema sogar wiederaufgenommen. Der Prozess der Grenzüberquerung wird unterschiedlich wahrgenommen. Bei älteren Migranten, die mehrere Reisen hinter sich haben, klingt er einfach und normal. Sie sagen, dass sie Glück gehabt hätten und oft problemlos und schnell über die Grenze gelangten. In der Planung zukünftiger Grenzübertritte gehen sie davon aus, dass er in jedem Fall gelingt, selbst in Kenntnis der Berichte von Personen, die es nicht geschafft haben und der verstärkten Schwierigkeiten und neuen Probleme. Daran zeigt sich, dass diese transnationale Mobilität zu einem Lebensstil geworden ist, der weiter verfolgt wird. Gleichzeitig wird zur Beruhigung kein Zweifel am eigenen Plan zugelassen, gerade vor dem Hintergrund der latent unsicheren und prekären Situation der MigrantInnen in den USA. Die Möglichkeit des Hin-und-Her-Reisens wird so zu einem Element der Sicherheit und (Selbst-)Bestätigung in dem eher unsicheren und schwer zu planenden Leben in den USA. Trotz dieser spezifischen Weise der älteren Transmigranten mit der aktuellen Situation umzugehen, ist allgemeiner Konsens, dass die Grenzüberquerung sehr viel schwieriger ist als in den ersten Jahren. Es gibt aber ganz unterschiedliche konkrete Erfahrungen, von sehr schnellen oder problemlosen bis zu schwierigen Grenzüberschreitungen mit Übergriffen. Gerade für die Schilderung negativer Erfahrungen wird meist auf die Fälle anderer MigrantInnen zurückgegriffen und über schwere Wanderungen, Hitze, Korruption, Gewalttätigkeiten und Vergewaltigungen berichtet. Solche Erlebnisse bleiben sicher besonders präsent, aber es wird deutlich, dass die Reise allgemein schwieriger und gefährlicher geworden ist: Abel erzählt von einer Wanderung im Schnee mit sehr viel Kälte, sie mussten einen Tag über versteckt in der Kälte liegen, bei der es aber weniger Kontrollen gab als üblich. Er berichtet

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auch, dass die Überquerung immer teurer wird. So sei ihm beim letzten Mal kaum Geld geblieben, weil er mit den früheren Kosten kalkuliert habe. Es ist inzwischen aber so, dass mexikanische Soldaten Geld verlangen, zusätzlich die Zetas (eines der Drogenkartelle) und schließlich musste aufgrund gestiegener Preise auf dem Weg relativ viel für Lebensmittel ausgegeben werden. Der letzte Posten ist die Bezahlung der Kleinbusse, die die MigrantInnen an ihre Zielorte bringen. [Gruppendiskussion MigrantInnen SC] Doña Clara berichtet, dass sie zunächst relativ lange warten und dann zwei Tage und Nächte lang durch die Wüste laufen oder, wie sie sagt, rennen musste. [Gruppendiskussion MigrantInnen SC]

Auch andere MigrantInnen erzählen, dass sie überaus lange warten mussten, teils länger als eine Woche. Nach ihrer Einschätzung gibt es zudem immer mehr Entführungen. MigrantInnen werden in Schutzhäuser gebracht, wo sie unter Vorwänden warten müssen. In der Zwischenzeit fordern die Schleuser weiteres Geld von den Angehörigen.30 Ein weiteres neues Element des Geschäfts soll sein, dass Farmer den Grenzübertritt über ihr Land erlauben. Sie werden dafür bezahlt und schützen durch die Öffnung bestimmter Schneisen ihre Anbauflächen. Diese komplexe Situation verstärkt die Abhängigkeit von den Schleusern. Zwar sind den MigrantInnen die Wege an der Grenze oft bekannt, viele verfügen über große Erfahrung mit dem Grenzübertritt und schätzen, dass sie theoretisch alleine über die Grenze finden würden. Trotzdem werden Personen benötigt, die Verstecke vorbereiten, nötige Verhandlungen auf dem Weg führen und die Weiterfahrt bis an die Ankunftsorte organisieren. Insbesondere können Schleuser besser Wege überwachen und verfügen über Informationen, wo momentan weniger stark kontrolliert wird, sodass sich grenznahe Routen oft ändern. Daher sind die MigrantInnen letztlich doch auf „Migrationsdienstleister“ angewiesen. Neben den diversen Gruppen, die vom „Geschäft der Grenze“ profitieren, soll es andere neue Akteure geben. So wurde von einigen Migranten berichtet, dass es Native Americans gebe, die den MigrantInnen oft völlig ohne Gegenleistung helfen. Sie würden ihnen Wege zeigen und sie vor allem mit Nahrung und Wasser versorgen. Über sie herrscht ein sehr positives Bild und sie scheinen von den MigrantInnen, zumindest im Grenzraum, nicht als Teil der USA gesehen zu werden. Diese Bewertung hängt sicher mit der Überraschung über die Hilfe zusammen, denn die üblichen Kontakte an der Grenze sind eher negativer Art, entweder durch finanzielle Interessen geleitet oder kriminell und damit bedrohlich. Interessanterweise sprach keiner der Interviewten von der Notwendigkeit mehrerer Anläufe bei der eigenen Grenzüberquerung, wobei nicht zu beurteilen ist, ob sie 30 Zentralmerikanische MigrantInnen sind zusätzlich an der mexikanischen Südgrenze und auf ihrem Weg durch Mexiko de facto rechtlos Übergriffen ausgesetzt.

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Glück hatten oder nicht über Misserfolge sprechen. Alle scheinen im oft erwähnten „Dentro de ocho días ya había llegado“-Zeitraum31 in die USA gelangt zu sein. Erst eine anekdotische Erzählung zeigte, als wie anstrengend die Grenzüberschreitung tatsächlich angesehen wird. Diese handelte von einer Frau, die hochschwanger in die USA reisen wollte, damit ihr Kind bei Geburt die US-Staatsbürgerschaft erhielt. Davon wurde ihr nachdrücklich abgeraten und im Gruppengespräch war es einhellige Meinung, dass diese Idee aufgrund der extremen Anstrengungen verrückt sei. Aus ihrer Rationalität als TransmigrantInnen wäre die sinnvolle Handlungsoption gewesen, am Anfang der Schwangerschaft zu migrieren. Hintergründe und Ziele der Migration Anfang der 1990er Jahre wurde in der Anthologie „Nos queda la Esperanza“ (Martínez/Sarmiento 1991)32 ein Panorama der damaligen Situation im Valle del Mezquital aufgemacht. Ein großer Teil der Beiträge nahm direkt oder indirekt Bezug auf die Migration in die USA. Als Hauptgrund wurde die soziale und ökonomische Ungleichheit genannt, u.a. als eine Folge der Landkonzentration seitens der Kaziquen in der Region. Daneben heben diese Studien hervor, dass der kleinbäuerliche Charakter der Dörfer nur aufgrund der Subventionierung durch Remissen der MigrantInnen fortbestehen konnte. Für diese ForscherInnen standen also ökonomische Gründe und Implikationen der Migration im Vordergrund, was sich mit der Dominanz eher ökonomistischer Erklärungsansätze für diese Region deckt. Auch wenn wirtschaftliche Gründe sicher von Bedeutung sind, stellen sie jedoch weder die einzige Motivation für die Migration in die USA, noch die vorrangige Grundlage für den Fortbestand transnationaler Migration dar (vgl. Rivera Garay/Quezada Ramírez 2011). MigrantInnen und ihre Familienangehörigen argumentieren selbst sehr oft, dass sie migrieren mussten, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern, da es in der Region nicht möglich sei, ein akzeptables Einkommen zu erwirtschaften. So gäbe es nicht ausreichend Möglichkeiten zur Lohnarbeit, und von der Landwirtschaft könne man seit Langem nicht mehr leben. Bei längeren Gesprächen mit MigrantInnen treten aber andere Gründe zutage, die mindestens ebenso wichtig für die Migrationsentscheidung sind [Doña Clara; Don Raimundo; Catalina und Lucio]. Dies entspricht den Ergebnissen vieler Studien zu Migration, wonach ökonomische Gründe nicht allein Ausmaß und Persistenz der Migrationsprozesse erklären können. So sind bspw. die Aussicht Neues kennenzulernen oder eine Gewöhnung an die Lebensweise in den USA und dortige Freiheiten weitere Motive. Insbesondere Frauen sprachen in Interviews, nachdem sie ökonomische Gründe und die Notwendigkeit der Migration betont hatten, andere Aspekte an, die in ihre 31 Innerhalb einer Woche war ich bereits in den USA angekommen. 32 „Uns bleibt die Hoffnung“, Herausgeber und Beitragende waren Teil einer größeren Gruppe von ForscherInnen, die in den 1970er Jahren im Valle del Mezquital gearbeitet hatte.

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Bewertung des Migrationsprozesses einflossen. Diese stehen im Vordergrund, wenn es um die Entscheidung zu einer möglichen weiteren Migration geht [Inés; Silvia]. Sie wiesen vor allem auf ein Gefühl der Eigenständigkeit hin, das als Heraustreten aus der strikten dörflichen Kontrolle interpretiert werden kann. Durch ihre Arbeit und die Organisation des Alltags in den USA konnten sie ein selbstständigeres Leben führen, als dies in den Herkunftsdörfern möglich war. Ein zentraler Punkt ist die Erfahrung, eigenes Geld zu verdienen und darüber unabhängig von Ehemännern und anderen männlichen Verwandten zu verfügen. Dies verdeutlicht, dass ökonomische Gründe auch aus Perspektive der MigrantInnen nur ein Teil der Motivation zur Migration und letztlich der Wahl eines transmigrantischen Lebensstils sind. Die Aussage des ökonomischen Zwangs zur Migration wird als sozial akzeptierte Rechtfertigung genutzt. Sie ermöglicht es andere Motivationen im Hintergrund zu halten. Dies ist gerade für viele Frauen wichtig, die so eine Legitimation erhalten, Vorstellungen von weiblichem Verhalten zuwiderzuhandeln. Sie können bestimmte Regeln und Normen missachten bzw. (temporär) außer Kraft setzen und sich so in gewissem Maße der sozialen Kontrolle entziehen.33 Dies ist aber bei Weitem nicht das einzige geschlechtsspezifische Element der Migrationsprozesse. Sowohl die praktische Durchführung als auch die zugrunde liegenden Motive unterscheiden sich oft deutlich. So bezieht sich die Migration der Frauen meist auf einen kürzeren Zeitraum als die der Männer. Auf den ersten Blick scheint dies mit der Geburt ihrer Kinder zusammenzuhängen, was auch von den betroffenen Frauen so dargestellt wird. Allerdings gibt es viele Frauen, die mit ihren Kindern in den USA bleiben. Da viele zurückgekehrte Frauen darauf verweisen, dass sie jetzt einen Ort haben, an dem sie als Familie leben können, interpretiere ich die kürzere Migrationsdauer anders [Silvia]. Sie beziehen sich auf die Fertigstellung ihrer Häuser im Dorf, in denen sie in der Regel leben34, und der Zeitpunkt ihrer Rückkehr fiel meist mit dem Abschluss dieses Vorhabens zusammen. Diese Frauen arbeiteten in den USA mit dem Ziel, gemeinsam mit ihren Ehemännern, Geld für die Errichtung ihrer Häuser zu verdienen. Dies rechtfertigte zu Beginn die Migration, bot aber auch eine feste Perspektive, oft verbunden mit einem klaren zeitlichen Rahmen. Viele Frauen migrieren also mit dem festen Ziel, die materiellen Grundlagen für das künftige Leben zu legen und kehren nach dessen Erfüllung zurück. Die Geburt der Kinder ist dann eher als Zeichen dafür zu sehen, dass die Frauen ihr geplantes Projekt als vollendet ansehen und nicht als Punkt, an dem das Migrationsprojekt abgebrochen werden muss. Die Mehrheit der (Ehe-)Männer hat dagegen diffusere Vorstellungen 33 Ein Beispiel dafür ist die oben angesprochene Migrationsgeschichte vieler Frauen aus Barranca Empinada. 34 Es ist ein verbreitetes Phänomen, dass viele der unter großem Einsatz gebauten Häuser der MigrantInnen (zunächst) nicht bewohnt werden, da Familienmitglieder vor Ort es vorziehen, in Gesellschaft zu leben.

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vom Zweck ihrer Migration. Ihnen geht es eher darum, eine Basis zu schaffen, um den weiteren Lebensunterhalt zu verdienen, bspw. durch die Errichtung eines Geschäftes. Da dies aber nur in seltenen Fällen gelingt, wird die Migration verstetigt, um den erwünschten Lebensstil finanzieren zu können. Migrantinnen setzen indes ihre Strategien in der Regel in allen Lebensbereichen konsequent um. Wichtige Elemente ihrer Handlungslogiken sind ein Fokus auf Sicherheit und eine damit verbundene planbare Lebensperspektive. Dies entspricht ihrer sozialen Position, in der sie in letzter Instanz für das Wohlergehen der Familie verantwortlich sind. So besteht eine dezidiert geschlechtsspezifische Strukturierung der Migration, die in der Interaktion mit Männern und der Familie ausgehandelt wird. Aber nicht nur bei Migrantinnen sind ökonomische Gründe nur auf den ersten Blick alleinige Migrationsmotivation. Eine Aussage des Comisariados des Ejidos35 von Barranca Empinada veranschaulicht, dass ökonomische Notwendigkeiten bei Weitem nicht in dem Maße bestehen, wie behauptet. Der Comisariado sagt, wie auch andere InformantInnen, dass man in Barranca Empinada heutzutage eigentlich gut von der Landwirtschaft leben kann. Das Problem seien nicht die Böden und die Erträge, damit wäre umzugehen, sondern das Fehlen von Arbeitskraft. Er sagt explizit, dass nicht ausreichend produziert werden kann, weil es nicht mehr genug Arbeitskräfte gibt. Die jüngeren Leute gingen lieber in die USA, um dort zu arbeiten, mit der Vorstellung und Ambition, mehr Geld zu verdienen, als dies in der lokalen Landwirtschaft möglich wäre. [Comisariado von Barranca Empinada]

Durch die transnationale Migration haben sich Lebensentwürfe verändert. So arbeiten jetzt ältere Menschen statt sich zur Ruhe zu setzen weiter in der Landwirtschaft, ebenso wie im Dorf gebliebene jüngere Frauen. Entsprechend äußerte sich auch der Delegado, der als Landwirt von der Rinderhaltung leben kann. Der Delegado berichtet, dass es viel Arbeit bedeutet, von der Landwirtschaft zu leben und dass seine Mutter und Frau viel mitarbeiten müssen, damit es möglich sei. Dies ist ihnen allen aber lieber, als wenn er in den USA leben müsste und von seinen Kindern getrennt wäre. Deshalb war er nur solange in den USA, bis er ausreichend Finanzmittel verdient hatte, um seinen Hof zu verbessern und ein ökonomisch nachhaltiges Niveau zu erreichen. [Delegado von Barranca Empinada]

In diese Entscheidung spielt sicherlich seine eigene Erfahrung herein, mit nur einem Elternteil aufgewachsen zu sein, da er dem Familienleben einen großen Wert beimisst. Trotzdem ist dies ein Fall von Migration, der mit der Erreichung eines gesteckten Zieles erfolgreich abgeschlossen wurde und zeigt, dass ein Auskommen ohne 35 Der Comisariado ist der Vorsitzende des Ejidos.

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dauerhafte Migration möglich ist, sodass auch Männer zielgerichtet migrieren können. 36 In Barranca Empinada tragen die unterschiedlichen Einschätzungen der landwirtschaftlichen Erwerbsmöglichkeiten und die gewandelten Lebensstile zur internen Spaltung der Gemeinschaft bei. Ein Abgrenzungsmerkmal zwischen den Gruppen ist der Unterschied zwischen jüngeren Migranten und Profesionistas, wie formal beschäftigte Personen, in der Regel mit höherem Bildungsabschluss, im Ort genannt werden, und den älteren, vorwiegend in der Landwirtschaft tätigen DörflerInnen. Auch wenn diese Charakterisierung nicht auf alle Angehörigen der jeweiligen Gruppe zutrifft, ist diese Tendenz doch auffällig, die sich besonders bei den jeweils aktivsten Mitgliedern zeigt und sich in den Diskursen beider Gruppen widerspiegelt. Dies ist insofern von Bedeutung, als die beiden Gruppen mit ihren divergenten Zukunftsperspektiven in unterschiedliche Richtungen politisch aktiv werden. Da unterschiedliche Prioritäten für die Entwicklung der Gemeinschaft gesehen werden, verstärkt sich die Spaltung. Die eine Gruppe unterstützt eher Aktivitäten, die mit dem Leben vor Ort und der Förderung der Landwirtschaft, wie z.B. einer Rehabilitierung landwirtschaftlicher Flächen zu tun haben, während sich die andere für die Verbesserung von Wohnqualität und -umfeld, besonders der Infrastruktur, engagiert. An diesem Punkt nahm offenbar die Spaltung des Dorfes ihren Ausgang. Denn obwohl beide Gruppen PRD-nah und damit regierungskritisch eingestellt sind und sowohl Anführer als auch einfache Mitglieder Erfahrung mit der Organisation von Protesten und anderer politischer Aktivitäten haben, unterscheiden sie sich in ihren Sichtweisen. Da andere Elemente in der alltäglichen Aushandlung des Konflikts wichtiger werden, ist Parteipolitik nur ein Element der Identifikationsmuster und Auseinandersetzungen im Ort, und so werden sie sogar erbitterter geführt als bei einem rein politischen Konflikt. Denn einerseits treffen an diesem Interface unterschiedliche Auffassungen über das Leben in der Dorfgemeinschaft und deren Zukunft aufeinander und andererseits weckt die frühere Zugehörigkeit zur gleichen Protestbewegung und Partei Vorwürfe des Verrats durch die jeweils andere Seite. Dazu kommen Korruptionsvorwürfe, die als Projektion des gefühlten Verrates dienen, indem sie ihm eine konkrete Form geben. In El Thonxi stellt sich die Situation anders dar, da in der Landwirtschaft wohl tatsächlich kein sicheres regelmäßiges Auskommen erwirtschaftet werden kann, zumindest keines, mit dem gestiegene Bedürfnisse gedeckt werden könnten. Darin dürfte einer der Gründe liegen, warum es viele ältere Dörfler gibt, deren wirtschaftliche Perspektive nicht in der Landwirtschaft, sondern wie bei den Jüngeren in den

36 Fast so wie in Migrationstheorien nach den New Economics of Labour Migration (Stark 1984) angenommen, wobei sich dies allerdings nur auf die ökonomische Erwägung bezieht, die lediglich ein Teil des Entscheidungsprozesses war.

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USA liegt. Allerdings existieren auch hier deutliche Unterschiede zwischen den Vorstellungen der verschiedenen Generationen und ihren Migrationsmustern. Auf der einen Seite richten viele jüngere Migranten ihr Leben auf die Arbeit in den USA aus und sehen in der Landwirtschaft keinen Sinn mehr. Auf der anderen Seite konzentrieren sich einige ältere Männer auf landwirtschaftliche Aktivitäten. Bei den Frauen verhält es sich ähnlich, allerdings ist eine größere Flexibilität und Bereitschaft zu beobachten, am jeweiligen Aufenthaltsort „passende“ ökonomische Tätigkeiten zu verrichten. Diese Unterschiede führen aber nicht wie in Barranca Empinada zur Spaltung der Gemeinschaft, da Migration hier allgemein als notwendig angesehen wird.

3.3 T RANSNATIONALISIERTE D ORFGEMEINSCHAFTEN Die geschilderten Prozesse sind Grundlage vielfältiger Veränderungen in den untersuchten Dorfgemeinschaften. Im Folgenden werde ich kurz auf die Transnationalisierung der Dorfgemeinschaften eingehen. Sie stellt einen zentralen Transformationsprozess dar, der mit vielen der sozialen und politischen Veränderungen verwoben ist, die ich später in dieser Arbeit diskutiere. Wie in vielen anderen Regionen Mexikos stehen transnationale Phänomene im Valle del Mezquital vorwiegend mit den diskutierten Migrationprozessen in die USA in Verbindung. Ein zentraler Aspekt der Transnationalisierung ist die Anpassung des Konzepts der Ciudadanía. Es hat sich in Aushandlungen zwischen MigrantInnen und der übrigen Dorfgemeinschaft, vermittelt über den Wandel interner Regeln und Institutionen, zu einer translokalen und später transnationalen Bürgerschaft entwickelt. Entsprechendes gilt allgemein für die dörfliche Organisationsweise, die an die neue Situation angepasst wurde. Die MigrantInnen, die in den USA leben, werden als aktive Mitglieder der Dorfgemeinschaft begriffen. In der Tat scheinen sie für die Menschen im Ort sowohl im Alltag als auch im Rahmen der dörflichen Organisation immer präsent zu sein, denn fortwährend wird auf sie Bezug genommen, als wären sie anwesend (vgl. Smith 2006). In der Organisation äußert sich dies darin, dass Regeln entstanden sind, die es den MigrantInnen ermöglichen, weiterhin an ihr teilzuhaben. Dies wird vor allem über die Vertretung durch Familienangehörige erreicht. Früher übernahmen männliche Verwandte diese Aufgaben, aber mittlerweile sind es meist die Ehefrauen oder Schwestern der Migranten. So gehen die Rechte der abwesenden Bürger stellvertretend auf diese über. Dadurch hat sich das lokale Konzept der Bürgerschaft grundlegend verändert und es entstand die angesprochene translokale Bürgerschaft. Die alltägliche Transnationalität und der Wandel der dörflichen Organisation, einhergehend mit der Neuaushandlung der Geschlechterordnung, sind damit Hauptelemente der Transformation in eine transnationale Dorfgemeinschaft oder zumindest eine mit stark ausgeprägter transnationaler Dimension. Ein grundlegendes Element in diesem Prozess

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sind die translokalen Aktivitäten von Frauen. Ihre klassische Zuständigkeit für Gemeinschaftsaufgaben, wie z.B. die Pflege sozialer Bindungen, die Organisation von Festen und die alltägliche Kommunikation innerhalb der Gemeinschaft, wird durch die Transnationalisierung der Dorfgemeinschaft zu einer translokalen Gemeinschaftspflege (vgl. Peleikis 2000). Dazu kommt nicht zuletzt die Übernahme von diversen Aufgaben der abwesenden Männer über die Organisation der Gemeinschaft hinaus. In der ungewöhnlich schnellen Anpassung der Dorfgemeinschaften an die neue Situation lässt sich ihre bereits angesprochene Offenheit und Flexibilität erkennen. Diese hängt sicherlich auch mit den o.g. früheren Migrationsprozessen und historischen Mobilitätserfahrungen zusammen. Allerdings kann angenommen werden, dass indigene Gemeinschaften durch ihre spezielle gesellschaftliche Positionierung und die fortwährende Situation transkultureller Interaktion über eine entsprechende historische Erfahrung im Umgang mit neuen Situationen verfügen, die sich in einem entsprechenden kulturellen Handlungsrepertoire niederschlägt. Dies dürfte die Transnationalisierung ihrer Dorfgemeinschaften und ihrer alltäglichen Lebenswelten erleichtert und beschleunigt haben. Dadurch handelt es sich, im Gegensatz zu vielen in der Literatur diskutierten Konzepten von transnationaler Gemeinschaft (Portes 2000; 1998; 1996; Faist 1998, 221f.), nicht um ein soziales Gebilde, das erst im Migrationsprozess entsteht, sondern um die Transnationalisierung einer relativ gefestigten Gemeinschaft. Daher können auch relativ große Teile immobil bleiben bzw. nur sporadisch oder einmalig migrieren (vgl. zur Verbindung von Migration und Immobilität Faist 2007). Dadurch, dass sie in den Dorfgemeinschaften über einen eigenen sozialen Raum verfügen, der tendenziell eine relativ weitreichende Autonomie ermöglicht, die über Praktiken versteckten Widerstands (Scott 1990; 1985) verteidigt wird, besteht ein Freiraum, in dem diese Veränderungen ausgehandelt werden können. Dies bietet indigenen Dorfgemeinschaften ideale Voraussetzungen, um translokale und transnationale Verflechtungszusammenhänge zu schaffen und aufrechtzuerhalten. In den folgenden Kapiteln wird genauer gezeigt, wie dieser komplexe Zusammenhang zentral für meine weiteren Analysen ist. Dies ist aber nicht nur für die Herkunftsorte relevant, sondern Flexibilität und Anpassungsfähigkeit äußern sich auch in der Migration selbst. In der Literatur wird von einem relativ schnellen Erfolg vieler Hñähñu in der Migration gesprochen, da nur wenige in der Landwirtschaft arbeiten. Üblicherweise wird angenommen, dass Gruppen indigener MigrantInnen zunächst in der Landwirtschaft als statusniedrigstem Sektor mit den prekärsten Arbeitsbedingungen und niedrigsten Löhnen arbeiten und erst später bessere Arbeit erlangen. In den wenigen Studien, die sich mit HñähñuMigrantInnen beschäftigen, wird jedoch festgestellt, dass diese eher im Dienstleistungsbereich oder in besser angesehenen industriellen Tätigkeiten untergekommen sind. Das deckt sich mit meinem empirischen Material. Eine Erklärung für die Abweichung von einem stufenförmig gedachten Migrationsprozess findet sich in dieser

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Literatur nicht. Ich gehe davon aus, dass dieses Muster der Migration der Hñähñu auf die angesprochene reziproke Solidarität und soziale Kohäsion innerhalb der Gemeinschaften, die auch in den USA praktiziert werden, zurückzuführen ist. Diese starke formalisierte interne Solidarität verbindet sich mit einer vorsichtigen Haltung gegenüber der „Außenwelt“. Auf dieser Grundlage können viele MigrantInnen aus dem Valle del Mezquital mit Hilfe anderer Mitglieder ihrer Gemeinschaft relativ schnell besser bezahlte und angesehene Arbeit finden. Sie werden im Alltag unterstützt, nicht auf Grundlage einer expliziten ethnischen Identifikation, sondern aus gemeinsamen kulturellen Handlungsmustern heraus, die sich alltäglich in der Identifikation mit dem eigenen Dorf und den daraus folgenden Relevanzstrukturen äußern. Gleichzeitig stärken die Orientierung und Angewiesenheit auf die Herkunftsgemeinschaft deren transnationale Dimension. Darin kann m.E. über den spezifischen Fall der HñähñuMigrantInnen hinaus ein charakteristisches Merkmal indigener Migration gesehen werden.

4. Der Alltag der dörflichen Organisation

Nachdem ich bereits den formalen Aufbau der Selbstorganisation der indigenen Dorfgemeinschaften, ihre zentralen Institutionen sowie ihre Positionierung innerhalb der mexikanischen Gesellschaft diskutiert und auf ihren Wandel im Kontext zunächst translokaler und später auch transnationaler Verflechtung hingewiesen habe, werde ich in diesem Kapitel ausführlicher auf Herausforderungen der Comunidad eingehen. Dabei werde ich analysieren, wie diese in alltäglichen Aushandlungsprozessen sowohl verändert als auch gleichzeitig gestärkt und konsolidiert wird. Dies wird insbesondere an internen Konflikten deutlich, die Diskontinuitäten innerhalb der Gemeinschaft darstellen. So haben sie, auch wenn es paradox erscheinen mag, in der Regel eine wichtige Bedeutung für den Fortbestand der Gemeinschaft, gerade in einer Situation wachsender Heterogenität und eines sich verändernden Umfeldes. Beispielhaft werde ich auf die Fälle der Position Jugendlicher, von MigrantInnen sowie der Geschlechterordnungen in den Dorfgemeinschaften eingehen, da diese drei zentrale Bereiche darstellen, in denen Brüche auftreten und damit Neuaushandlungen der Comunidad stattfinden.

4.1 H ETEROGENITÄT UND D ISKONTINUITÄT DER G EMEINSCHAFTSLOGIK 4.1.1 Ein Konflikt mit Jugendlichen Normalerweise wirkt es nach außen so, als ob die Gemeinschaft harmonisch und ruhig ist. Dies ist aber nicht zuletzt Ergebnis einer sorgfältigen Pflege der Repräsentationen des Dorfes nach außen, denn entgegen landläufiger Vorstellungen ist die Dorfgemeinschaft relativ heterogen und es existieren diverse Formen sozialer Ungleichheit. Neben der Position von Frauen innerhalb der dörflichen Organisation wird dies

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an der Stellung von Jugendlichen1 deutlich. Wie konfliktreich die internen Beziehungen sein können, belegen Ereignisse, die ich im Frühjahr 2008 in El Thonxi mitverfolgen konnte. Sie zeigen, mit welcher Intensität subtile Konflikte, die fortwährend präsent sind, plötzlich aufbrechen können. Die von mir beobachteten Vorfälle waren Teil eines sozialen Prozesses, der sich seit Längerem hinzog und immer stärker zuspitzte, bis er schließlich als offener Konflikt ausbrach. Die letzte Phase konnte ich im Dorf miterleben und dabei unterschiedliche Perspektiven nachvollziehen. Anhand dieses Falls werde ich an verschiedenen Stellen dieses Kapitels eine dichte Rekonstruktion der Gemeinschaft, ihrer internen Logiken sowie ihrer Herausforderungen vornehmen, in der schließlich Elemente ihres aktuellen Wandels zu analysieren sind. Als ich in El Thonxi ankam, war bereits die Rede davon, dass es verschiedene Probleme mit Jugendlichen des Dorfes gegeben habe. Dabei ging es um Schmierereien an öffentlichen Gebäuden und den Willkommenstafeln des Ortes sowie darum, dass Jugendliche mehrfach abends auf einer Straße Bier getrunken hatten. Es gab Beschwerden über zu viel Lärm bei den Treffen und Ähnliches. All dies wurde vorwiegend als vandalistisches und ungezogenes Verhalten der Jugendlichen betrachtet und dieser Einschätzung entsprechend kommentiert. Die Vorkommnisse waren in einer Dorfversammlung angesprochen worden und es wurde überlegt, wie vorzugehen sei. Dabei gab es zum einen die Strategie, mit den Jugendlichen zu reden, was vor allem von den Lehrern des Ortes befürwortet wurde, und zum anderen den Vorschlag, direkt mit Sanktionen zu drohen. Dazu wurde nach den Autoren der Schmierereien gesucht. Dies traf auf einen Diskurs, der pauschal die männlichen Jugendlichen kritisierte und der davon ausging, dass sie zu rebellisch seien, keine ausreichende Erziehung mehr bekämen und durch „negative“ Erfahrungen und Vorstellungen, die im Rahmen der Migrationsprozesse erworben werden, beeinflusst seien. Es wurde sogar von einer Art „Gangifizierung“ der Dorfjugend gesprochen. [Memo Konflikt Jugendliche]

Hier zeigt sich, dass globale und nationale Vorstellungen zum Verhalten von Jugendlichen in Migrationskontexten, die durch einen medialen Fokus auf die insbesondere in Zentralamerika aktiven, Maras genannten Jugendbanden geprägt sind, auf die lokale Ebene übertragen werden. Ein medial vermittelter Diskurs, der jugendliche Migranten oft in die Nähe von Gangkriminalität und Drogenkonsum rückt, wird relativ unreflektiert übernommen und bildet schließlich die Grundlage für die Interpretation

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Den Begriff Jugendliche nutze ich hier als Übertragung des lokalen Konzepts „Jóvenes“. Dabei ist zu beachten, dass die entsprechende Lebensphase nicht mit der Volljährigkeit endet, sondern eher an die Lebensumstände gekoppelt ist. So können Jóvenes durchaus Mitte zwanzig sein, solange sie bspw. noch studieren oder keine Familie haben.

A LLTAG

DER DÖRFLICHEN

O RGANISATION

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von Ereignissen im eigenen sozialen Umfeld.2 Tatsächlich existieren in anderen Regionen und Bundesstaaten Probleme mit Kriminalität, aber der starke Fokus darauf verstellt oft, selbst an Orten, an denen wie im Valle del Mezquital kaum entsprechende Phänomene auftreten, den Blick auf konstruktive Leistungen von jungen MigrantInnen und deren Potenziale. Dies spiegelt sich auch in großen Teilen der wissenschaftlichen Literatur zu jugendlichen Migranten wider, bei denen oft Drogen, Gewalt, Kriminalität und andere Probleme im Vordergrund stehen. Untersuchungen fokussieren im Zusammenhang von Jugendlichen und Migration meist Integrationsprozesse in Ankunftsländern und richten kaum Aufmerksamkeit darauf, an welchen Orten und unter welchen Bedingungen Jugendliche in Migrationsprozessen aufwachsen.3 Im Falle Lateinamerikas führt dies zu einem Fokus auf die USA und die, oft als problematisch betrachtete, Integration von Jugendlichen in dortige Communities (Moran-Taylor 2008, 82) sowie auf transnationale Jugendbanden wie die Maras, während die konstruktive Teilhabe von jugendlichen Transmigranten an der Entwicklung ihrer Gemeinschaften unterbelichtet bleibt.4 In El Thonxi erschwert diese Sichtweise die unzureichende Einbindung der (männlichen) Jugendlichen in die dörfliche Organisation weiter, da sie sich einerseits nicht angemessen behandelt fühlen und ihnen andererseits viele DorfbewohnerInnen wenig Vertrauen entgegenbringen. Somit bekommt ein Bedrohungsszenario, das u.a. einem Sicherheitsdiskurs aus Zentralamerika entstammt (vgl. Huhn/Oettler/Peetz 2010; Liebel 2003) und über mexikanische Medien vermittelt wird, eine lokale Relevanz an eigentlich nicht betroffenen Orten. Einige DörflerInnen vertraten aber einen anderen Standpunkt. Sie äußerten die Ansicht, dass es sich um ein typisches jugendliches Verhalten handle, das sich wieder legen würde. Die VertreterInnen dieser Position warben um Nachsicht und zeigten ein gewisses Vertrauen in die Jugendlichen. Bezeichnenderweise schienen aber auch

2

Vgl. zu den Maras, ihrem sozialen Hintergrund sowie einer kritischen Analyse ihrer Konstruktion als Bedrohung im Rahmen nationaler Sicherheitsdiskurse Huhn/Oettler/ Peetz (2010), Liebl (2003) und Peetz (2004).

3

Für aktuelle Studien zu Identitätskonstruktionen Jugendlicher mit einem Fokus auf Integrationsprobleme und Jugendbanden siehe Echeverri (2005), Magazine (2004) und White (2008). Malkin (2001, 116) weist auf die besonderen Bedürfnisse von Jugendlichen in Migrationszusammenhängen hin, allerdings hauptsächlich um deren Verwicklung in den Drogenhandel zu erklären. Differenzierte Betrachtungen von Kindheit in transnationaler Migration finden sich in Thorne et. al (2003) und Faulstich et. al (2001).

4

Bei Andrade Eekhoff und Silva-Avalos (2003, 30f) findet sich eine differenzierte Sicht auf Jugendliche in transnationalen Räumen in Kalifornien, da sie auf Schwierigkeiten und Spannungen eingehen, die durch im Alltag von außen herangetragene Integrationsvorstellungen provoziert werden.

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sie kein weitergehendes Verständnis für deren Situation aufzubringen. So betrachteten alle Erwachsenen im Ort die Aktionen der Jugendlichen als unangemessen und als klaren Verstoß gegen die dörflichen Regeln, ohne nach konkreten Gründen zu suchen. Irgendwann begannen die Jugendlichen bei ihren abendlichen Treffen auf den Straßen, anderen Dorfbewohnern den Weg zu versperren. Es wurde allgemein betont, dass ein solches Verhalten nicht zugelassen werden könne, allerdings wusste man nicht richtig, wie man damit umgehen sollte. Zudem wurden die Aktionen als eher isoliert betrachtet und z.B. auf Animositäten zwischen bestimmten Personen zurückgeführt. Bei diesen Äußerungen schwang oft sogar eine gewisse Schadenfreude mit. Zu diesem Zeitpunkt gab es Versuche der dörflichen Autoritäten, auf die Jugendlichen einzuwirken, die sich offenbar immer wieder einsichtig zeigten. Die Probleme bestanden jedoch weiter und die Situation eskalierte, als sich eines Abends der Frust der Jugendlichen in einer Schlägerei entlud. Der Delegado und der Subdelegado wurden zu Hilfe gerufen und versuchten inmitten einer aufgebrachten (und neugierigen) Menschenmenge schlichtend einzugreifen. Ich war bei diesem Ereignis nicht anwesend, aber mir wurde berichtet, dass sich die Jugendlichen mit Maximino, einem Bewohner des Dorfes, gestritten und man sich gegenseitig beleidigt hatte. Dies führte dazu, dass sich Maximino und ein oder zwei Jugendliche einen kurzen Schlagabtausch lieferten, aber schnell getrennt wurden. In dieser explosiven Situation war es für die Autoritäten extrem schwierig zu vermitteln, was ihnen später deutlich anzusehen war. Zunächst war es sogar schwierig, die Gewalttätigkeiten an sich zu beenden und für eine Beruhigung der Lage zu sorgen, da selbst dem Delegado Gewalt angedroht wurde. Ein unvorstellbarer Vorgang, wenn die dem Amt zugeschriebene Autorität berücksichtigt wird. Gleichzeitig war bereits die Polizei aus dem Hauptort der Gemeinde gerufen worden, so wie es bei schwerwiegenden Fällen und in potenziell riskanten Situationen üblich ist. Diese Polizisten wollten einige der Jugendlichen verhaften. [Memo Konflikt Jugendliche]

In dieser Situation gelang es dem Delegado, die Angelegenheit noch als internes Problem des Ortes zu deklarieren, das dort gelöst würde. Der Delegado bewahrte damit die betroffenen Jugendlichen vor einer Verhaftung, was die Lage beruhigte. Gleichzeitig wurde den Polizisten als Außenstehenden gegenüber ein Wir-Gefühl aktiviert, das zu einer gewissen Solidarisierung führte. Die Jugendlichen erlebten in diesem Moment, dass sich der Delegado für sie einsetzte, was die Konfrontation zunächst durchbrach. Alle Beteiligten und die Dorfgemeinschaft an sich ließen sich dadurch zumindest vorläufig auf ein hergebrachtes Verfahren zur Konfliktbewältigung ein, in dem der Delegado als Friedensrichter fungieren konnte. Der Delegado befand sich in einer schwierigen zwiespältigen Lage. Er stand den Jugendlichen als Unruhestiftern kritisch gegenüber und hatte für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Dazu musste er seine Autorität aufrechterhalten, die von den Jugendlichen durch die Gewaltandrohung in Frage gestellt worden war. Hätte sich der Delegado hier nicht durchgesetzt, hätte er vor der Dorfgemeinschaft an Autorität verloren.

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Wäre er hingegen zu drastisch vorgegangen, hätte er von den Jugendlichen zurückgewiesen oder andererseits bei nicht ausreichendem Druck von diesen ignoriert werden können. Es ging also um einen Balanceakt, in dem er die Einhaltung der Regeln und Vorgehensweisen der Dorfgemeinschaft durch die Jugendlichen erreichen musste, um den Konflikt lösen zu können. In der aufgeheizten Situation gelang ihm dies tatsächlich erst dadurch, dass er die Polizisten aufforderte nicht einzugreifen und die verhafteten Jugendlichen, wortwörtlich, von den Polizei-Pick-ups herunterholte. So wurde deutlich, dass er auch der Delegado der Jugendlichen war und sich nicht nur für die Erwachsenen im Ort einsetzte. Dadurch wurde ihre Zugehörigkeit sichtbar. Entsprechend gab es in den folgenden Wochen Versuche, einige Jugendliche stärker in die Institutionen der Dorfgemeinschaft einzubinden. Dies traf allerdings fast ausschließlich auf die jungen Männer zu, die bereits den Status von Bürgern hatten. 4.1.2 Die Praxis der Gemeinschaft Der Fall der Auseinandersetzung mit den Jugendlichen zeigt, wie sich innerhalb der als zusammengehörige soziale Einheit konstruierten Dorfgemeinschaft Brüche auftun können, aber auch, wie versucht wird in Aushandlungsprozessen, in denen sich die soziale Kohäsion der Gemeinschaft entfaltet, diese Einheit wiederherzustellen. Beide Aspekte werde ich anhand dieses Vorfalls und seiner Folgen grundlegend analysieren, gehe dazu aber zunächst auf die Dorfversammlung als zentrale Arena ein, in der diese Prozesse stattfinden. In der Asamblea spiegeln sich die unterschiedlichen Perspektiven und Ansprüche der TeilnehmerInnen sowie diverser Gruppen im Ort an die dörfliche Organisation wider. Die Juntas sind Ereignisse, in denen sich Sichtweisen und Logiken der dörflichen Selbstorganisation und grundsätzlich des Zusammenlebens im Ort niederschlagen. Hier wird greifbar, was im dörflichen Alltag nicht leicht zu erkennen ist. Gleichzeitig handelt es sich um eine wichtige Arena, in der Konflikte indirekt zutage treten oder sogar offen ausgetragen werden. In gewissem Maße trifft dies auch auf die Faenas zu, mit dem Unterschied, dass dort nur ein kleinerer Ausschnitt betrachtet werden kann, während sich in der Junta die Praxis der sozialen Organisation fast in ihrer gesamten Breite zeigt. Dieser Unterschied ist allerdings, wie die Ausprägung der dörflichen Organisation an sich, sehr kontextabhängig. In Barranca Empinada finden Asambleas eher selten statt, sodass dort die Faenas das Forum darstellen, in welchem ein großer Teil der Interaktionen und Aushandlungen stattfindet, welche in El Thonxi Teil der Dorfversammlung sind. Es existieren unterschiedliche Ansprüche und Erwartungen an die jeweiligen Institutionen und Autoritäten in beiden Orten. So wünschen sich die Líderes offenbar

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eine effizientere und „perfektere“ Organisation (s. Kap. 4.4.2), während bei den übrigen Dorfbewohnern eine mehr oder weniger kritische Haltung besteht. Diese spiegelt oft eine Mischung aus hohen Erwartungen und Resignation durch häufig erfahrene Enttäuschungen wider. Ein Beispiel für eine besonders negative Sicht auf Dorf und Organisation zeigt der Fall von Maximino aus El Thonxi. Sie hängt mit seiner Perspektive auf die Gemeindeverwaltung und den Arbeitsaufwand zusammen, den die DörflerInnen durch ihre Mitarbeit in den Komitees verrichten müssen. Er sagte mir in einem Gespräch, dass die Organisation der Arbeit in den Comunidades und der Gemeinde nicht sinnvoll sei: „Das ist schlecht und genauso falsch machen wir es in der Dorfgemeinschaft.“5 Die Probleme fußen seiner Ansicht nach darauf, dass auf beiden Ebenen Versammlungen abgehalten werden, die ein reiner Zeitverlust seien. So wie im Municipio eigentlich die Projekte ohne viel Aufwand abgewickelt werden sollten, so sollte auch in der Comunidad alles, was ihrem Wohle dient, einfach und ohne große Diskussion umgesetzt werden. Stattdessen gäbe es Versammlungen, in denen einfach nur diskutiert und gestritten werde. Sie fänden nur statt, um sich zu streiten und gegenseitig anzugreifen, was die Versammlungen für alle zu einer Zeitverschwendung mache. So war Maximino der Meinung, dass es viel mehr Versammlungen gäbe als nötig und stimmte gängigen Kritiken zu, dass sie zudem viel zu lang seien. [Maximino]

Grundsätzlich stört Maximino der Zeitaufwand, den die Teilnahme an Versammlungen, die Ausübung eines lokalen Amts und die Teilnahme an Comisiones, die eine der wichtigen Schnittstellen zur Gemeindeverwaltung und ggf. höheren Ebenen darstellen, mit sich bringen. Dies muss zwar vor dem Hintergrund der oft konfliktiven Beziehungen mit seinem Umfeld eingeordnet werden, durch die er die dörfliche Organisation als Instrument des Zwangs erlebt (s.u.). Nichtsdestotrotz scheint seine Einstellung, die überspitzt zutage tritt, von vielen Personen in den Dörfern geteilt zu werden. Gleichzeitig zeigt sich ein Gegensatz zur Perspektive älterer Menschen im Ort. Diese beklagen sich darüber, dass kein echtes Konsensprinzip mehr angewandt wird und Entscheidungen fallen, ohne sorgsam diskutiert worden zu sein. Dies verdeutlicht eine Aussage, die überraschend in Bezug auf Diskussionen über die problematische Lage der Wasserversorgung fiel: „Das Wasser geht, weil sie so viel diskutieren. Sie reden nur, ohne sich zu einigen.“ [Don Pablo] Dies zeigt, dass trotz der grundlegenden Angewiesenheit aller DörflerInnen auf die Comunidad und ihre Organisation vielfältige Kritik an ihrer Praxis geübt wird. Da interne Regeln oft nicht klar definiert sind, existieren unterschiedliche Interpretationen selbst ihrer grundlegendsten Elemente. So treffen an Interfaces innerhalb der Gemeinschaft unterschiedliche Logiken und Vorstellungen ihrer Verfasstheit aufeinander, denen allerdings der Wille zur Zusammenarbeit gemein ist. Dabei werden 5

Está mal y de la misma forma estamos mal en las comunidades.

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trotz des dominanten Gemeinschaftsdiskurses Brüche zwischen den Rationalitäten verschiedener Gruppen sichtbar. Denn wie geschildert sind die Comunidades bei Weitem nicht so homogen, harmonisch und geschlossen, wie es oft von außen angenommen und von den Gemeinschaften selbst inszeniert wird. Um diese Heterogenität und beispielhafte Konfliktlinien zu analysieren, werde ich den obigen Fall aufnehmen und zeigen, wie in der Dorfgemeinschaft mit Reibereien und internen Konflikten umgegangen wird. Der Aushandlungsprozess um die Position der Jugendlichen und die Wiederherstellung der dörflichen Ordnung war nämlich bei Weitem noch nicht abgeschlossen und die weitere Analyse offenbart aussagekräftige Einblicke in die Logik der Organisation als Dorfgemeinschaft. Trotz der vorübergehenden Beruhigung der Lage war die Situation für die dörflichen Autoritäten weiter sehr aufreibend. Selbstverständlich sahen auch die anderen DorfbewohnerInnen die Entwicklung als hochproblematisch an. Dem Verständnis von Problem- und Konfliktbewältigung in der Comunidad entsprechend wurde es aber als Aufgabe der Delegación angesehen, für die Wiederherstellung der lokalen Ordnung zu sorgen. Offensichtlich hatte aber in den letzten Jahren keine vergleichbare Auseinandersetzung stattgefunden und der Delegado war sichtlich überfordert. Er wusste nicht, wie er die Situation angehen sollte und fühlte sich von allen Seiten bedrängt und selbst bedroht. Dieser starke Stress war deutlich sichtbar, denn er hatte vor Ort einen hochroten Kopf und konnte nur noch mit verzerrter Stimme sprechen. [Memo Konflikt Jugendliche]

Darüber hinaus wies diese Situation mehrere Besonderheiten auf. So war der Delegado einer der Lehrer im Ort, die zur Gruppe der Líderes gezählt wurden. Als solcher vertrat er einen idealisierenden Diskurs über die Gemeinschaft und versuchte eine aus seiner Sicht gute Beziehung zu den Jugendlichen zu pflegen. Als Lehrer bemühte er sich bspw., den Wert einer guten Bildung zu vermitteln und Jugendliche zum Schulabschluss oder zu einem Studium zu motivieren. Für ihn war selbstredend, dass sich die (männlichen) Jugendlichen mit der Gemeinschaft identifizierten und den an sie gerichteten Erwartungen entsprechen würden. Daher war es ein Schock, als sich diese Jugendlichen gegen ihn als Vertreter der Erwachsenen im Dorf stellten. Die Tatsache, dass der jugendliche Protagonist der Auseinandersetzung zu seinem Comité der Delegación gehörte, verstärkte dieses Unverständnis. Er war als Schriftführer gewählt worden und gehörte damit selbst zu den legitimierten Autoritäten des Dorfes. Für die Jugendlichen waren diese Zuordnungen im Laufe der Auseinandersetzung belanglos geworden. Der Prozess, in dem sich der Konflikt über ca. zwei Wochen hinweg aufbaute, hatte das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Jugendlichen verstärkt, während andere Identifikationen in den Hintergrund traten. Sie waren nicht mehr mit der ihnen zugestandenen Position einverstanden. Aus ihrer Perspek-

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tive stand jetzt die Wir-Gruppe der Jugendlichen der Comunidad gegenüber. Ein ähnlicher Prozess spielte sich auf Seite der Erwachsenen ab. „Die Jugendlichen“ wurden als rebellische Gruppe konstruiert, der aber nicht alle Jugendlichen zugeschlagen wurden. Hier fand eine kommunikative Konstruktion von Wirklichkeit (vgl. Knoblauch 1995; Berger/Luckmann 2007 [1969]) statt, die auf Erzählungen über frühere rebellische Attitüden beruhte. Die aktuelle Situation wurde als Ergebnis dieses fortgesetzten „verantwortungslosen Verhaltens“ gesehen. Der Lebenswandel einiger Jugendlicher wurde ausgiebig kommentiert, in der Migrationserfahrung Gründe einer angeblichen sozialen Zerrüttung gesucht und Verwunderung darüber geäußert, dass einige Jugendliche trotzdem feste Arbeit hatten und bereits Ciudadanos waren. Die Sicht der Erwachsenen war vorurteilsbehaftet, aber auch von Ratlosigkeit und Unverständnis geprägt. Nichtsdestotrotz waren ihre Interpretationen wirkmächtig und definierten die soziale Realität dieses Konflikts. Allerdings wurden die Jugendlichen nicht als Außenseiter betrachtet, sondern als ein Problem innerhalb der Comunidad.6 Aufseiten der Jugendlichen stand dagegen eine konfrontative Perspektive im Vordergrund. Allerdings war auch die Haltung der Erwachsenen nicht grundsätzlich inklusiv. Ihr lag vielmehr eine Logik zugrunde, gemäß der die Jugendlichen nicht als unabhängige und selbstverantwortliche Akteure begriffen wurden. Ihnen wurde erst gar nicht die Fähigkeit zugestanden, sich als eigene Gruppe in Gegensatz zum Rest der Gemeinschaft zu positionieren. Dies zeigte sich u.a. daran, dass in vielen Gesprächen das Verhalten einzelner Jugendlicher auf ihre Erziehung bzw. das schlechte Vorbild ihrer Väter zurückgeführt und das Verhalten „anständiger Jugendlicher“ diesem gegenübergestellt wurde. Zudem wurde diese Gruppe von Jugendlichen als rein männlich definiert. Die jungen Frauen, die an Treffen teilnahmen, wurden nicht als Teil der Gruppe gesehen. Denn sie wurden davor gewarnt, sich in ihrer Nähe aufzuhalten, um nicht in den Konflikt hereingezogen zu werden, als Außenstehende, denen nicht zugestanden wird, auch selbst zur Gruppe gehören zu können.7 Da den Jugendlichen insgesamt keine Handlungsmacht zugestanden wurde, war der Kern des Problems (s.u.) zunächst nicht durch die Comunidad wahrzunehmen. Stattdessen wurde von rebellischen Taten einzelner, bereits so charakterisierter Jugendlicher ausgegangen und die o.g. Vorgeschichte entsprechend interpretiert. Die Analyse dieses Ereignisses zeigt, dass die Jugendlichen zwar nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen waren, jedoch weder als integraler Bestandteil verstanden wurden noch als handlungsmächtige oder produktive Gruppe innerhalb des Dorfes. Durch das dominante Verständnis von Gemeinschaft und entsprechende soziale Praktiken fühlten sich die Jugendlichen nicht ernstgenommen und sogar ignoriert. An 6

Dies zeigt wieder den Stellenwert der Mitgliedschaft, die nicht leichtfertig angezweifelt

7

Dies deckt sich mit vorherrschenden Vorstellungen weiblicher Passivität.

werden darf.

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dem Abend, als der Delegado versuchte den Streit zu schlichten bzw. zunächst einfach zu unterbinden, konnte ich feststellen, dass den Erwachsenen im Ort erstmals bewusst wurde, dass die Grundlage des Konflikts nicht in den Taten einzelner rebellischer Jugendlicher zu finden war, sondern anders gelagert sein musste. In ihrer Ratlosigkeit sagten viele aber zunächst, dass die Jugendlichen verrückt geworden seien. Dies drückt die Überraschung darüber aus, dass Angehörige der Comunidad so offen gegen Regeln und Autoritäten handeln konnten, denn damit wurde gegen die Grundlage des Zusammenlebens im Dorf verstoßen. Durch diesen Bruch mit der Gemeinschafts-Logik mussten die Jugendlichen auf die anderen Dorfbewohner tatsächlich verrückt wirken, da sie selbst ihre Zugehörigkeit in Frage stellten. Die Diskrepanz zwischen den Logiken beider Gruppen wurde deutlich sichtbar und in der folgenden Aushandlung an der Schnittstelle zwischen Dorfgemeinschaft und Jugendlichen veränderte sich das jeweilige Verständnis der Dorfgemeinschaft ein Stück weit. Nachdem die Polizei abgezogen und die Jugendlichen durch den Delegado vor dem Gefängnis bewahrt worden waren, entspannte sich die Situation zunächst. Es wurde diskutiert, wie die Sache beizulegen sei. Delegado und Subdelegado beschlossen ihrer Aufgabe entsprechend mit den Jugendlichen bzw. den vermeintlichen Rädelsführern zu sprechen. Derweil diskutierten andere Dorfbewohner auf übliche Weise und äußerten unverbindlich ihre Meinung über die Vorkommnisse und die ihrer Ansicht nach angemessenen Lösungswege. Diese Gespräche hatten allerdings den Charakter von Klatschgesprächen und waren den Autoridades kaum eine Hilfe. Lediglich manche LehrerInnen schienen trotz aller Ratlosigkeit ernsthaft die Situation zu reflektieren und versuchten Gründe für die Perspektive der Jugendlichen auszumachen, um eine Lösung zu finden. Am nächsten Tag gab es Gespräche, in denen die Gründe der Auseinandersetzung deutlicher wurden. Für den Delegado war aber zunächst entscheidend, dass vereinbart wurde, über alles zu sprechen, um den schwelenden Konflikt zu lösen und eine weitere Eskalation zu vermeiden. Zudem versuchte er, die älteren Jugendlichen in die Klärung der Situation einzubinden. Dieser Konsens war die Grundvoraussetzung, um die Probleme in den Griff zu bekommen, denn der Delegado musste zunächst für Ruhe sorgen. Alles Weitere sollte später geklärt werden. [Konflikt Jugendliche]

Dabei behandelte er die Jugendlichen erstmals als eigenständige Akteursgruppe, was ihnen eine gewisse Legitimität verlieh. Zuvor hatte es bereits ähnliche Absprachen gegeben, doch erstmals wurden nicht einzelne „rebellische“ Jugendliche angesprochen, sondern alle (betroffenen) Jugendlichen als Gruppe anerkannt. Zwar war in Gesprächen im Ort Skepsis herauszuhören, aber dieses Vorgehen wurde letztlich akzeptiert, weil offensichtlich wurde, dass die Konfrontation auch den Jugendlichen unangenehm war. Diese lehnten keinesfalls die Gemeinschaft an sich ab, sondern ihre eigene Handlungslogik war fest in der Gemeinschaftslogik verankert. Sie verfügten

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durchaus über entsprechende Ordnungsvorstellungen und ein Schuldbewusstsein, obwohl ihnen dies zunächst im Dorf abgesprochen wurde. Die Eskalation wurde aber weiter als Werk einzelner betrachtet und auf Animositäten einzelner Personen zurückgeführt. Dies traf besonders auf die Blockade der Straße für einen Anwohner zu, der fortwährend Probleme mit bestimmten Jugendlichen gehabt haben soll, sowie auf den beschriebenen Fall, dessen Ursache in früheren Reibereien zwischen Maximino und einigen Jugendlichen gesucht wurde. Zur gleichen Zeit begannen Delegado und Subdelegado von Rücktrittswünschen zu sprechen, da sie sich überfordert fühlten und aus ihrer Sicht der nötige Rückhalt in der Gemeinschaft fehlte, um das Problem angemessen anzugehen. Im Ort war zudem Kritik an den beiden und ihrem Vorgehen laut geworden, was aber nicht ungewöhnlich ist (vgl. Kap. X). Dies waren eher Nachwirkungen älterer Konflikte, die in die Bewertung der aktuellen Amtsführung eingingen. Es bleibt aber festzustellen, dass es sich tatsächlich um eine außerordentlich problematische und konfliktreiche Zeit im Ort handelte, die den beiden Personen sehr viel abverlangte. In dieser Situation ergab sich eine Entwicklung, die sowohl die Herausforderungen der Gemeinschaft, als auch ihre Konsolidierung weiter verdeutlicht. Am nächsten Tag war einiges in Bewegung gekommen, die Gemüter hatten sich beruhigt und allgemein wurde eine Klärung der Probleme auf gewohnten Wegen durch die gemeinschaftlichen Institutionen erwartet. Dieses Gefühl der Entspannung schien sich den Tag über zu verstärken, sodass am Abend eine Atmosphäre allgemeiner Erleichterung vorherrschte. Die DörflerInnen unterhielten sich wie üblich und sprachen kaum noch von den Vorkommnissen des Vorabends. Ich selbst erlebte diese Stimmung im Haus des Subdelegados, als plötzlich von der Straße her Rufe erschallten. Jemand kam zum Haus gerannt und rief, es gäbe eine Schlägerei. Alle Anwesenden sahen sich zunächst verdutzt an, schüttelten dann den Kopf und wandten sich dem Subdelegado zu. Dieser hatte sich bereits auf eine routiniert wirkende Art erhoben, eine Taschenlampe und sein Funkgerät genommen, mit dem er notfalls Verstärkung aus dem Hauptort der Gemeinde anfordern konnte, und seine Baseballkappe, ein Migrations-Symbol, aufgesetzt. So machte er sich schlecht gelaunt, aber entschlossen wirkend auf den Weg zum Ort des Geschehens. Während er die Funktionsfähigkeit seines Funkgerätes überprüfte, schien er bereits der Polizeizentrale Bescheid zu geben, um deren Unterstützung notfalls schneller anfordern zu können. Ich folgte dem Subdelegado kurz darauf, wobei meine Neugier ein ebenfalls vorhandenes mulmiges Gefühl verdrängte. Auf dem Weg erfuhren wir, dass man den Subdelegado gerufen hatte, weil der Delegado zunächst nicht erreichbar gewesen war. Dieser hatte sich aber bereits auf den Weg gemacht, als ich das Haus verließ. Am Ort des Geschehens angekommen wunderte ich mich, dass außer den direkt Beteiligten nur wenige Personen anwesend waren. Ich hatte mit mehr Schaulustigen gerechnet, aber den meisten war die Situation wohl unangenehm oder unheimlich. So schauten nur die Dorfbewohner zu, die in der Nähe gewesen waren, insbesondere in einem nahe gelegenen kleinen Geschäft. Zu diesen setzte ich mich, um zu beobachten, was geschehen würde und

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gleichzeitig mit den Anwesenden über das Geschehen sprechen bzw. ihre Kommentare hören zu können. Vor dem Geschäft an der Hauptstraße, dem üblichen Versammlungsort der Jugendlichen, hatten mehrere von ihnen einen Kreis gebildet und redeten aufeinander ein. Es war eine starke Anspannung zu spüren, aber die Gewalttätigkeiten waren bereits beigelegt. Zu dieser Gruppe stießen die Autoridades, um zu erfragen, was geschehen war. Dadurch spaltete sich die Gruppe auf und einige begannen, mit ihnen zu sprechen und zu erklären was vorgefallen war. Die anderen standen weiter um die Streitenden herum. Schon bei unserem Eintreffen war es offensichtlich, dass diese Auseinandersetzung nicht mit der vom vorherigen Tag zusammenhing. Zwar waren die gleichen Jugendlichen beteiligt, aber diesmal war ein Streit mit zwei jungen Männern aus dem Nachbarort Salvador ausgebrochen. Diese waren angetrunken und bereits früher am Abend durch ihr Verhalten im Ort aufgefallen. Sie waren mit ihrem Auto zu schnell durch den Ort gefahren und hatten in unterschiedlichen Geschäften versucht Bier zu kaufen, was ihnen aufgrund ihres Zustands verweigert worden war. Schließlich waren sie aggressiv geworden und mit den lokalen Jugendlichen aneinandergeraten. Auch wenn der Alkoholkonsum der Auslöser war, wurde sofort klar, dass alte persönliche Antipathien bestehen mussten und nicht zuletzt die Rivalität zwischen beiden Orten einen Einfluss hatte. Salvador war früher das lokale Zentrum gewesen und hatte die Bevölkerung der umliegenden Dörfer „unterdrückt“ (s. Kap. 4.3.1). Einer der beiden Jugendlichen war stark alkoholisiert und wurde mittlerweile vom anderen beruhigt. In dieser Situation riefen die Autoridades die Polizei zu Hilfe. [Auseinandersetzung El Thonxi]

Ich war erstaunt, dass die Umsitzenden dem Geschehen wenig Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Sie führten ihre Gespräche fort, schauten ein Fußballspiel im Fernsehen an oder sahen unbeteiligt in die Gegend. Nachdem ich mich gesetzt hatte, wurde mir aber schnell klar, dass sie doch alles genau beobachteten. Sie schienen gerade in der betonten Nicht-Beteiligung in Bereitschaft zu sein, für den Fall, dass noch etwas geschehen würde. Sie stellten in diesem Moment die lokale Öffentlichkeit dar, die genau über den Vorfall berichten, aber ggf. auch eingreifen konnte. So waren sie vor Ort die materialisierte Gemeinschaft. Dies erleichterte mir, mich auf eine ähnliche Taktik zu verlegen. Ich setzte mich zu den Anwesenden, fragte was geschehen war, sprach aber auch über anderes. So konnte ich gleichzeitig den Erklärungen der Jugendlichen zuhören. Es stellte sich heraus, dass der Betrunkene mit einem Jugendlichen aus El Thonxi Streit gesucht hatte. Er war mit den Worten „diese Sch…leute aus El Thonxi“ auf ihn losgegangen. Darauf folgte eine kurze Sequenz von Tritten und Schlägen, in deren Verlauf die übrigen Jugendlichen eingriffen und den Angreifer überwältigten. Daher hatte sich die Lage bereits beruhigt, als die Autoridades eintrafen, und die beiden Gruppen waren in einer lautstarken Diskussion begriffen, die von den Anwesenden beobachtet wurde. Nach kurzer Zeit trafen vier Polizisten, die in der üblichen Weise teils mit Maschinenpistolen bewaffnet waren, auf einem Pick-up ein. Sie wirkten routiniert und begannen die Umstehenden

132 | D OING D EMOCRACY IN INDIGENEN D ORFGEMEINSCHAFTEN zu verhören. Dabei wandten sie sich zunächst an die ganze Gruppe, die sich aber aufspaltete, als mehrere Jugendliche aus El Thonxi befragt wurden, während gleichzeitig die beiden aus Salvador versuchten ihre Sichtweise darzustellen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich wieder der Gruppe genähert, um besser zuhören zu können, denn die Aufnahme der Berichte fand in geringer Lautstärke am Rande des Platzes statt. [Auseinandersetzung El Thonxi]

Es war offenkundig, dass der Delegado nach der vorangegangenen Aussprache die Jugendlichen der Polizei gegenüber vollkommen unterstützte. Er wählte zwar eine neutrale Art der Darstellung, aber seine Position als lokale Autorität (und bekannter Lehrer) führte dazu, dass den Aussagen der dörflichen Jugend Glauben geschenkt wurde. Schließlich wurde der betrunkene Jugendliche aus Salvador verhaftet, der andere begleitete ihn, und die Namen der Jugendlichen aus El Thonxi wurden als Zeugen aufgenommen. Es war aber wichtig, dass sich auch ein Erwachsener zur Aussage bereit erklärte. In allen Berichten wurde ein besonderer Wert auf die Darstellung des genauen Ablaufs der Handgreiflichkeiten gelegt und ich hatte den Eindruck, dass die Zeugenaussagen etwas geschönt waren. Die Situation des Angriffs wurde wohl bewusst so wiedergegeben, dass niemand aus El Thonxi mit Repressalien zu rechnen hatte. Dies traf besonders auf den Delegado zu, der den Berichten Nachdruck verlieh, obwohl er ja selbst gar nicht Augenzeuge gewesen war. Für die Polizisten waren seine Einschätzung und Meinung aber von größter Bedeutung. Schließlich war er ein anerkannter Ansprechpartner an der Schnittstelle zwischen dörflicher und Gemeindeebene. So war er in dieser Interaktion tatsächlich die Autoridad der Dorfgemeinschaft, also die höchste lokale Autorität. Ich konnte wiederholt beobachten und hören, dass sich der befehlshabende Polizist beim Delegado erkundigte, wie er die Lage einschätze und was zu tun sei. Gleichzeitig fand eine fortwährende Rückversicherung bei der Kommandantur statt, sodass der Polizist fast wie ein reiner Mittler wirkte. Die dem Delegado zugestandene Autorität wurde besonders deutlich, als der Polizist ihn direkt aufforderte zu formulieren, was er von ihm erwarte. Dies geschah zuletzt mit den Worten: „Sie müssen uns sagen, was Sie von uns erwarten! Was wir tun sollen!“8 So wurden die Jugendlichen aus Salvador letztlich auf Aufforderung des Delegados hin verhaftet: „Dann glaube ich, ist es das Beste, wenn Sie sie mitnehmen.“9 Nachdem die Polizei mit den Verhafteten gefahren war, strebten alle, für mich wiederum überraschend, schnell nach Hause. Dieses Ereignis war von großer Bedeutung für die interne Auseinandersetzung in El Thonxi, ein Moment, in dem der interne Konflikt von einem externen überlagert wurde. In kürzester Zeit wandelten sich Identifikationsmuster und es wurde der Zusammenhalt als Dorfgemeinschaft betont. Dieser Zusammenschluss durch das Othe-

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„Usted me tiene que decir que es lo que quiere que hagamos!“

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„Entonces creo que es lo mejor si se los lleva.“

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ring des externen „Aggressors“ ließ den eigenen Konflikt zumindest zeitweilig ruhen. So konnte die für den folgenden Tag angesetzte Dorfversammlung, auf der die Ereignisse der letzten Tage aufgearbeitet und die Probleme gelöst werden sollten, in der Gewissheit stattfinden, dass alle zusammengehalten hatten. Die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft war wechselseitig bestätigt worden und der allumfassende Charakter der Comunidad kommunikativ und interaktiv wiederhergestellt. Weiter bestärkt wurde dies durch eine für die Jugendlichen des Ortes potenziell bedrohliche Situation. Denn sie wurden sofort darauf hingewiesen, dass sie sicherheitshalber nicht alleine nach Salvador gehen sollten. Der Logik solcher Konflikte entsprechend wurden Racheakte der Jugend von Salvador befürchtet.10 Die Situation wurde dadurch verschärft, dass in der folgenden Woche die regional bedeutende Feria, das Patronatsfest, von Salvador stattfand und solche Feste oft Raum für handfeste Auseinandersetzungen bieten. Letztlich geschah aber nichts dergleichen, denn zur Deeskalation hatte es unverzüglich Gespräche zwischen den Delegados beider Orte gegeben. Anscheinend zum Erstaunen aller gelang es tatsächlich, weitere Gewalt zu verhindern. Dies zeigt, dass analog zur internen Situation auch zwischen Dorfgemeinschaften normalerweise das Bewusstsein herrscht, dass man aufeinander angewiesen ist und gute Nachbarschaft wahren sollte. In diesem Prozess war fast unbemerkt die Macht des Delegados über die Jugendlichen wiederhergestellt worden, denn sie hatten sich de facto unter seinen Schutz begeben. Dass dies aber als normaler Vorgang angesehen wurde, unabhängig vom vorangegangenen internen Konflikt, zeigt, dass alle Seiten auf die akzeptierten Handlungslogiken der Gemeinschaft zurückgriffen. 4.1.3 Umgang mit internen Konflikten Obwohl es zunächst so aufgenommen wurde, war das Verhalten der Jugendlichen nicht einfach rebellisch unverantwortlich, sondern ihm lag ein größerer Unmut zugrunde, der sich aus einem viel älteren Konflikt ergab, in dem Maximino die Hauptperson war. Als einer von zwei Bürgern, die als Rebellen oder Unruhestifter gelten, hat er eine besondere Stellung in der Comunidad. Ihm wird nachgesagt gerne Kritik zu üben, ohne selbst seine Pflichten zu erfüllen, sich oft mit anderen zu streiten und sehr uneinsichtig zu sein. So hat er sich mit einem großen Teil seiner Familie überworfen, was angesichts der sonst üblichen Betonung ihrer Bedeutung ungeheuerlich ist. Da seine als rebellisch angesehenen Handlungen zudem nicht nur die Gemeinschaft, sondern auch externe Akteure treffen, steht man Maximino besonders kritisch gegenüber. Denn seine Handlungen werden oft zu einer Angelegenheit des ganzen Dorfes, deren Außenwirkung es belasten kann. Aus Maximinos Perspektive stellt sich die Situation anders dar. Er glaubt, nur seine Rechte gegenüber der Gemeinschaft 10 Wie später bekannt wurde, waren diese tatsächlich durch den Betrunkenen angedroht worden.

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zu verteidigen. Diese Situation war als crucial case von großer Bedeutung für meine Arbeit. Gerade durch seine zumindest situativ bestehende Distanz zur Gemeinschaft, und darüber hinaus zur Gemeindeverwaltung, war Maximino einer der Informanten, die als eine Art Außenseiter abweichende Sichtweisen und Meinungen äußerten. Maximino war bereits vor mehreren Monaten aus den USA zurückgekehrt. Er hatte versucht in El Thonxi mit Gelegenheitsarbeiten als Klempner, durch den Handel mit Brennholz und andere Aktivitäten ein Auskommen für sich und seine Familie zu erzielen. Dies gelang kaum und zudem erwuchsen gerade aus diesen ökonomischen Aktivitäten Konflikte. So befand sich Maximino in einer Situation, die durch Anspannung, Frustration und Stress gekennzeichnet war. Wie zum Jahresende üblich hatte es in der Dorfversammlung eine Diskussion über die ausstehenden Faenas und Beitragszahlungen gegeben und Maximino, der selbst im Rückstand war, hatte die Situation heftig kritisiert und sich über die Unzuverlässigkeit der Vecinos ausgelassen. Dabei kündigte er an, dass er solange nicht zahlen würde, bis es die anderen täten. Dies wurde kritisiert, aber auch als nicht unberechtigt hingenommen. Später fanden wie gewohnt Verhandlungen statt und nach und nach wurden alle Schulden beglichen. Dies verpasste Maximino aber und er versteifte sich darauf, dass noch nicht alle gezahlt bzw. nicht korrekt gezahlt hätten, sondern ihnen aufgrund unangemessener Vereinbarungen Teile der Last erlassen worden seien. [Konflikt Jugendliche]

Dieser Eindruck kann durchaus entstehen, da es immer wieder Probleme mit der Registrierung der abgeleisteten Faenas, deren Anrechnung und Ähnlichem gibt. Meinen Beobachtungen zufolge wird dies aber meist korrekt geklärt. Maximino beharrte jedoch auf seiner Position und stand nach kurzer Zeit als einziger, sogar renitenter Schuldner dar. Diese Verweigerung konnte die Dorfgemeinschaft nicht akzeptieren und ihm wurden Sanktionen angedroht, wobei auch persönliche Antipathien von Bedeutung waren. An diesem Punkt hätte ein Schuldner in der Regel gezahlt oder einen Kompromiss, wie eine Ratenzahlung oder Stundung, ausgehandelt. Maximino tat dies nicht, vielleicht weil er sich tatsächlich ungerecht behandelt und als Opfer der Gemeinschaft sah oder aufgrund seiner ökonomischen Lage weder über Geld noch Zeit verfügte, seine Pflichten zu erfüllen. Möglicherweise fühlte er sich als „gescheiterter“ Migrant zurückgesetzt, wollte sich keine weitere Blöße geben und so seine Selbstachtung bestärken. Da es anderen aus seiner Sicht besser ging, wollte er auf eigene Faust eine Art Ausgleich schaffen. Im Dorf wurde hingegen vermutet, dass er sich aufgrund enger Beziehungen zu den Líderes protegiert fühlte und davon ausging, dass ihm nichts geschehen würde. Dies ist wohl übertrieben, aber möglicherweise wurden missverständliche Signale gesendet, denn die Líderes halten Maximino eher für einen Hitzkopf, dem sie helfen wollen, weil er ihr Parteifreund ist und bei politischen Mobilisierungen helfen kann. Daher versuchten sie auf seinen Standpunkt einzugehen, um ihn zu überzeugen und die Situation zu klären. Schließlich sah sich die

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Dorfgemeinschaft aber zu gängigen Sanktionen gezwungen und in der Dorfversammlung wurde beschlossen, seiner Familie die Wasserversorgung zu kappen. Nach einigen Tagen Verzögerung, die Maximino in seiner Sicht der Lage bestärkt haben dürften, kam es daher dazu, dass sich der Vorsitzende des Wasserkomitees, Don Alfredo, und ein weiteres Mitglied daran machten, das Zuleitungsventil zu Maximinos Wasseranschluss zu schließen und zu versiegeln. Da es aber in unmittelbarer Nähe seines Hauses angebracht war, bemerkte Maximino dies und noch bevor das Ventil geschlossen war, hatte er Don Alfredo tätlich angegriffen. Dies wurde später, sehr lebhaft, als brutaler Akt geschildert. Maximino, der etwa dreißig ist, soll den über fünfzig Jahre alten Don Alfredo aus vollem Lauf getreten und ihn so zu Boden gestoßen haben. Er versuchte dann, weiter auf ihn einzutreten, was von dem anderen Komiteemitglied verhindert wurde. Einer zufällig vorbeikommenden Dorfbewohnerin, Dorothea, gelang es, weitere Gewalttätigkeiten zu verhindern, als Don Alfredo mit einem Schraubenschlüssel zurückschlagen wollte. Viele Nachbarn waren Augenzeugen und die Geschehnisse wurden schnell im Dorf bekannt. Diese Tat konnte nicht unbestraft bleiben, da es sich mittlerweile um eine Häufung von Verletzungen der internen Regeln handelte, mit der jetzt ein tätlicher Angriff auf eine gewählte Autoritätsperson und somit ein impliziter Angriff auf die Gemeinschaft einhergegangen war. Die Situation wurde aber dadurch erschwert, dass die Autoridades weder ausreichend energisch noch zeitnah durchgriffen. Die Líderes schienen den Vorfall als Ausrutscher anzusehen und wollten zunächst auf Gespräche und Überzeugungsarbeit setzen. Das rief sehr großen Unmut in der Gemeinschaft hervor, die jetzt eine strikte Anwendung der Regeln forderte. Da die Versammlung, in der über eine Strafe gesprochen werden sollte, nicht zum nächstmöglichen Termin einberufen wurde, sahen viele ihre Einschätzung bestätigt, dass Maximino von den Líderes geschützt wurde. Diese Unzufriedenheit im Dorf wurde von ihnen nicht wahr- oder nicht ernstgenommen, hatte aber auch keine direkten Folgen. [Maximino Wasser]

Wie sich später herausstellte, waren die Jugendlichen deutlich kritischer und ungeduldiger. Ihrer Ansicht nach musste Maximino bald hart bestraft werden. Dies hing zwar mit früheren Streitigkeiten zusammen, aber sie schienen aufrecht empört. Ihr Gerechtigkeitsempfinden war verletzt und ihr Glaube in die dörflichen Institutionen, die Autoridades und die Líderes stark beschädigt. Diese Stimmung blieb jedoch unbemerkt und aufgrund der Organisationsform hatten die Jugendlichen kein Forum, um ihre Sichtweise und Unzufriedenheit kundzutun. So steigerte sich ihre Wut und äußerte sich schließlich in den oben beschriebenen Taten. Diese sind als sozialer Protest zu verstehen, der in die Selbst-Rechtfertigung eingebettet war: „Wenn sich Maximino an keine Regeln halten muss, dann müssen wir das auch nicht!“ Da aus ihrer Sicht keine Verbesserung festzustellen war, eskalierte ihr Verhalten bis zu besagter Schlägerei.

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Als dieser Zusammenhang allgemein bekannt wurde, veränderten sich schlagartig das Bild der Jugendlichen und die Haltung ihnen gegenüber. Es gab viel Verständnis und Zustimmung zu ihrer Kritik am Vorgehen der Autoritäten. Zwar billigte niemand die Taten der Jugendlichen, aber man war beruhigt endlich zu wissen, was sie dazu veranlasst hatte. Umso mehr als es ein Grund war, den man nicht nur nachvollziehen, sondern mit dem man sich identifizieren konnte. Zudem tat sich die Möglichkeit auf, die wichtigsten Probleme der letzten Zeit en bloc zu lösen. Schließlich wurde die Dorfversammlung doch nach ungewöhnlich kurzer Frist einberufen, während gleichzeitig bereits informelle Gespräche darüber stattfanden, wie die Probleme zu bewältigen seien. Die Stimmung auf dieser Versammlung war angespannt, da Maximino selbst anwesend war. Besonders war, dass auch mehrere Vertreter der Jugendlichen teilnahmen. Es wurde kontrovers diskutiert und Maximino versuchte mit Angriffen und Vorwürfen gegenüber anderen von seinem Verhalten abzulenken bzw. es zu rechtfertigen. In dieser Versammlung konnte in konzentrierter Form beobachtet werden, wie sehr die Vorstellung der Comunidad als Gemeinschaft, der alle angehören sollten, die Interaktionen durchzieht. So war es das Ziel aller, die Konflikte beizulegen und die Jugendlichen wieder an die Gemeinschaft zu binden. Und bei diesen wurde deutlich, dass sie sich gar nicht verweigern wollten, sondern eine Diskrepanz zwischen dem erlebt hatten, wie die Gemeinschaft diskursiv dargestellt wird und wie sie tatsächlich im Alltag stattfindet. Trotzdem mussten die Regelverstöße sanktioniert werden, was schließlich im Einvernehmen aller geschah. Selbst der Jugendliche, der den Delegado beschimpft hatte, beteiligte sich als Autoridad an der Festlegung seiner eigenen Strafe. Es wurde eine Geldstrafe vereinbart, die nicht sonderlich hoch, aber für den Jugendlichen sicherlich beträchtlich war. Maximino weigerte sich dagegen weiter, seine Strafe zu akzeptieren. Sie wurde aber von der Versammlung verhängt und später durchgesetzt. Maximino ging kurz darauf erneut in die USA, um Arbeit zu suchen und vermutlich dem Druck der Dorfgemeinschaft zu entfliehen.11 Es war überraschend, in welch demonstrativem Einklang die Strafen verhängt und damit eine Teil-Lösung gefunden wurde.12 Es ist aber festzuhalten, dass es dem Delegado und den Líderes in diesem Aushandlungsprozess gelang, auf subtile Weise ihre Sichtweise der Comunidad weitgehend durchzusetzen und durch die anderen bestätigen zu lassen. So konnte diese Krise zu einer vorläufigen Festigung ihrer Definitionsmacht über die Gemeinschaft genutzt werden. Die Machtbeziehungen blieben weitgehend unverändert und die Maestros Bilingües, besonders der Delegado, konn-

11 Wodurch es mir leider nicht mehr möglich war, mit ihm über die Vorkommnisse zu sprechen. 12 Wenn auch letztlich zu Lasten eines „schwarzen Schafes“. Aus Perspektive der Mehrheit der DorfbewohnerInnen war der Konflikt aber beigelegt, da wieder Ruhe herrschte.

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ten gestärkt aus dieser Episode hervorgehen. Denn zum einen konnten sie als Konfliktbewältiger auftreten und zum anderen jetzt auch das Ansehen der Jugendlichen genießen. Und dies, obwohl Delegado und Subdelegado in der Versammlung doch ihre Posten zur Verfügung stellten, was von der Gemeinschaft nach langer Diskussion abgelehnt wurde. Dies folgte zwar der typischen hintergründigen Logik, dass man ihnen solche Probleme gönnte, mit denen sie aufgrund ihrer Selbstinszenierung als Líderes zurechtkommen mussten, statt sich feige zurückzuziehen. Letztlich wurde die Position der beiden jedoch gestärkt, denn durch ihre Bestätigung im Amt waren sie nun weitgehend vor Kritik gefeit. So wurden die Logik der Comunidad und interne Machtverhältnisse konsolidiert. Bemerkenswert ist dabei, dass gerade die als rebellisch wahrgenommenen Jugendlichen eigentlich die geteilte Vorstellung der Gemeinschaft und die zugrundeliegenden Logiken verteidigten, weil sie annahmen, dass ihre Regeln mangelhaft umgesetzt wurden. Durch ihre Rebellion stärkten sie letzten Endes in zentralen Punkten überbrachte Vorstellungen der dörflichen Organisation. Eine nachhaltige Veränderung erfuhr allerdings das Verhältnis zwischen Jugendlichen und anderen Gruppen im Ort. Sie wurden erstmals als Teil der Gemeinschaft wahrgenommen, als eine Gruppe, die verantwortungsbewusst handeln kann. Die älteren unter ihnen waren zwar Ciudadanos und damit Teil der Dorforganisation, wurden dann aber nur als Bürger und nicht als Jugendliche angesehen. Alle anderen hatte man dagegen bloß als abhängigen Teil ihrer Familien betrachtet. Erst jetzt erwuchs ein Bewusstsein dafür, dass diese Gruppe als solche existierte und berechtigte Vorstellungen hatte. Es ist allerdings anzunehmen, dass ihre Anerkennung relativ zügig und problemlos vonstatten ging, weil es sich in diesem Fall ausschließlich um männliche Jugendliche und eben teils um Bürger handelte. Eine Veränderung bspw. der Position der Frauen in der Dorforganisation ist dagegen ein mühsamerer Prozess (s. Kap. 4.4.2). In diesem konkreten Fall war zudem wichtig, dass der Delegado Lehrer war und damit zu den Personen im Ort gehörte, die bereits zuvor versucht hatten die Jugendlichen, wenn auch eher aus parteipolitischen Interessen, einzubinden. So hatte er bereits ein anderes Verhältnis zu den Jugendlichen. Daher stellt sich die Frage, was geschehen wäre, wenn in diesem Moment ein weniger geschickter Vermittler das Amt des Delegados innegehabt hätte. Vermutlich wäre trotzdem alles auf eine Einigung als Comunidad hinausgelaufen, aber mit heftigeren Auseinandersetzungen im Vorfeld. Trotz allem bleibt fraglich, ob die Jugendlichen in Zukunft das Gefühl haben werden, innerhalb der Institutionen ihre Wünsche, Vorstellungen und insbesondere Unzufriedenheit äußern zu können.

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4.2 I NSZENIERUNG UND P ERFEKTIONSANSPRÜCHE DER D ORFGEMEINSCHAFT 4.2.1 Feste als Spiegel der Logiken der Gemeinschaftsorganisation Im Laufe meiner Feldforschung nahm ich an diversen öffentlichen Ereignissen und Feierlichkeiten in den Dorfgemeinschaften teil. Dazu gehörte in einem Frühsommer die Clausura (Abschlussfeier) der örtlichen Grundschule. Solche Feste kannte ich bereits und wollte zunächst nicht teilnehmen, um die Zeit anderweitig zu nutzen. Schließlich tat ich es doch, vor allem weil die Kinder verschiedener InformantInnen im letzten Jahrgang waren und diese Feier ihre Graduación, also den erfolgreichen Abschluss der Grundschulzeit markierte. Es war ein Übergangsritual, durch den sie im Zentrum der Feierlichkeiten stehen würden und für ihre Familien war es ein wichtiges Ereignis, dem bspw. auch Einladungen zu Festessen folgten. So war die Präsenz bei der offiziellen und den anschließenden privaten Feiern wichtig und die Einladung konnte nicht ausgeschlagen werden. Ich begab mich also zunächst ohne „forscherisches“ Interesse zu diesem Ereignis. Als ich eintraf, unterhielt ich mich kurz mit einigen Bekannten über diverse alltägliche Dinge und setzte mich dann mit ihnen auf die Tribüne. Die Veranstaltung fand wie üblich auf dem zur Schule gehörenden Basketballplatz statt, der für die meisten Feste im Dorf und allgemein für öffentliche Veranstaltungen genutzt wird. Während ich dort saß, mir die beginnende Aufführung ansah und im Hinterkopf über verschiedene aktuelle Fragen und Probleme meiner Feldforschung nachdachte, erregte plötzlich etwas meine Aufmerksamkeit. Ich konnte zunächst nicht genau eingrenzen, was es war, aber mir fiel auf, dass die Art, in der dieses Ereignis ablief, etwas Besonderes an sich hatte, etwas das mich aus meinen Gedanken holte. Dabei war es eigentlich eine Clausura oder allgemeiner ein öffentliches Ereignis wie jedes andere. Diese Veranstaltungen laufen immer ähnlich ab. Es gibt viele Ansprachen, in diesem Fall der Direktorin und der Lehrerinnen, Kinder führen Tanzdarbietungen auf und einige singen oder tragen Gedichte vor. Dabei haben die SchulabgängerInnen eine besondere Position. Sie führen eigene Tänze vor und sind für viele der Einlagen zuständig, wie die Verlesung eines Dankbriefes mit Verweis auf eine Bildungsvision, die sich ihnen durch den Schulbesuch eröffnen sollte. Die ZuschauerInnen, in der Regel die Verwandten, sitzen derweil unter der sengenden Sonne auf der Tribüne, sehen sich alles an und klatschen aufmunternd und eifrig. Es handelte sich also um ein typisches Schulfest, vermutlich sogar typisch für Schulfeste auf der ganzen Welt. Die lokale Besonderheit konnte höchstens in der angeblichen Unordnung liegen, die den Umstehenden zufolge bei jedem Dorffest auftrat. Als ich darüber nachdachte, wie dies mit globalen Stereotypen von mexikanischer oder lateinamerikanischer Unordnung

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zusammenhing und gerade zu dem Schluss kam, dass es eben so ablief wie immer, mit all den kleinen „Pannen“, an die man gewöhnt ist, wurde mir klar, dass es gerade dieser Punkt war, der zuvor meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein Junge trat ans Mikrofon, welches von der Direktorin gehalten wurde, und begann ein Gedicht vorzutragen. Ihm war allerdings anzumerken, dass er sich in der Situation unwohl und unsicher fühlte. So sprach er mit dünner, leiser Stimme, war kaum zu verstehen und stockte mehrmals im Text. Nichtsdestotrotz bedachte ihn das Publikum mit aufmunterndem Applaus, der Direktorin war aber ihre Unzufriedenheit anzumerken. Ähnlich verhielt es sich mit den Tanzdarbietungen. Hier hatten gerade die im Mittelpunkt stehenden SchulabgängerInnen mehrfach Probleme bei der Koordination der verschiedenen Tanzelemente. Zudem gab es diverse kleine Patzer im Übergang zwischen den einzelnen Darbietungen. Der Gesichtsausdruck der am Rande stehenden Direktorin drückte daher wachsende Verstimmung aus und lichtete sich nur dann, wenn sie wieder in den Vordergrund trat, um ihren Teil der Inszenierung zu absolvieren. [Clausura]

Ganz offensichtlich sollte alles perfekt sein und der Anspruch der Lehrerinnen war, dem Dorf eine gute Inszenierung zu präsentieren. So sollte gezeigt werden, dass die Kinder in der Schule viel lernen und der Unterricht effizient gestaltet wird. Es ging darum, ein positives Bild der Leistungen in der Grundschule zu bieten und möglichen Kritiken zuvorzukommen. Allerdings wurde in jeder einzelnen Vorführung deutlich, dass dieser Perfektionsanspruch nicht erfüllt wurde. Als einziges Element funktionierte die obligatorische Fahnenzeremonie zu Beginn der Veranstaltung gut. Diese wird aber auch kontinuierlich für alle Arten von Schulveranstaltungen geübt. Bei allen anderen Vorführungen war evident, dass sie nicht so stattfanden, wie es sich die Direktorin vorstellte. Dem Publikum, insbesondere bei den Eltern, schienen diese kleinen Fehler gar nicht aufzufallen. Sie freuten sich einfach über das, was die Kinder darboten. Vom Grundsatz her entspricht diese Inszenierung dem verbreiteten sozialen Verhalten, das Goffman als „Wir alle spielen Theater“ konzeptualisiert (2006 [1959]). Im Kontext der Dorfgemeinschaften hat es aber besondere Implikationen. Denn offenkundig sahen es die Lehrerinnen als Makel an, dass die angestrebte performative Darstellung des Bildungserfolgs nicht gelang. Gerade die Direktorin fühlte sich besonders verantwortlich und stand unter großem Druck. Als die Veranstaltung mit den üblichen kleineren Fehlern ablief, musste sie dies als öffentliches, fast zur Schau gestelltes Scheitern empfinden, sodass sich ihre Laune immer weiter verschlechterte. Dies hing auch mit ihrer Einschätzung zusammen, wie sich die angeblich schlechte Performance auf die eigene Position innerhalb der Dorfgemeinschaft auswirkt. Ein

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Kriterium, das für die sozialen Beziehungen in den Gemeinschaften typisch ist.13 Dieses Phänomen ähnelt, wie ich später zeigen werde, Erwägungen im politischen Bereich. Bei der Clausura traf aber paradoxerweise ein starker performativer Anspruch auf ein relativ anspruchsloses Publikum. Die Direktorin schien sich den Druck weitgehend selbst zu schaffen, denn die Eltern erwarteten keine perfekte Inszenierung.14 Dies erklärt sich durch einen diffusen Druck im Lokalen, offizielle Aktivitäten verschiedenster Art möglichst gut organisiert und erfolgreich durchzuführen. Dadurch entsteht eine Atmosphäre, in der sich Ausrichter von Veranstaltungen und Festen, sei es öffentlich oder privat, gezwungen fühlen, eine möglichst perfekte Inszenierung abzuliefern. Besonders bei „Personen des öffentlichen Lebens“ ist dieser Anspruch ein inhärenter Teil der Handlungslogiken. Die Diskrepanz zwischen perfektionistischem Anspruch und weniger perfekter Realisierung ist also charakteristisch für öffentliche Ereignisse im Ort. Dies trifft selbst auf mit deutlich höherem Aufwand ausgerichtete Feste wie Hochzeiten oder XV-Años-Feiern15 zu. Immer wieder fällt ein deutlicher Gegensatz zwischen Anspruch und Realität auf. Dies entspricht wohl einer universellen Erfahrung und müsste daher kein großes Problem darstellen. Dadurch, dass der Anspruch der bestmöglichen Verwirklichung hochgehalten wird, fallen Mängel aber in der Dorfgemeinschaft deutlicher ins Gewicht. Hier besteht ein Zusammenhang mit den häufigen Kommentaren zum mangelhaften Funktionieren der Dorfgemeinschaft. Aus Sicht der DörflerInnen scheint vieles schlechter abzulaufen, als es der Fall sein sollte. Dies verweist auf ein allgemein getragenes Idealbild der Comunidad als sozialer Einheit, die in allen Belangen perfekt zusammenarbeiten muss. Diese Vorstellung ist durch neo-traditionalistische Diskurse beeinflusst, die insbesondere durch Líderes propagiert werden (s. Kap. 4.4.2), und bestimmt die Interpretation von Aktivitäten und der Lage der Dorfgemeinschaft. So führt gerade der beständige Rekurs auf das Ideal der Gemeinschaft dazu, dass konkrete Aktivitäten meist negativ bewertet werden. Dadurch, dass viele Aktivitäten in der Dorfgemeinschaft, gerade auch der Líderes und Autoridades, und Interaktionen mit externen Akteuren kritisiert werden, überwiegt eine Perspektive, die Probleme vor mögliche Erfolge stellt. In der Folge erschwert eine Logik des Scheiterns, den Idealzustand zu erreichen. Dies wird nicht nur von kritischen Beobachtern innerhalb des Dorfes praktiziert, sondern wie die Direktorin legen beteiligte Akteure selbst einen so hohen Maßstab an, dass sie in der 13 Dies spiegelt sich auch im Stellenwert von Gerüchten und Neid in diesen sozialen Formationen wieder. 14 Es ist jedoch durchaus möglich, dass die kleinen Fehler der Clausura ggf. später aufgenommen werden, um eine generelle Kritik an der Direktorin zu untermauern. 15 XV-Años bezeichnet die Feierlichkeiten zum 15. Geburtstag eines Mädchens. Dieses Ereignis stellt ein Passageritual dar und wird meist öffentlich gefeiert, wodurch es sich besonders für Inszenierungen eignet.

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Regel an diesem scheitern. Dadurch wird das soziale Theaterspiel im gemeinschaftlichen Kontext zu einem kritischen Moment sozialer Interaktion. Es ist typisch, dass durchgehend versucht wird, alles sehr ordentlich und überkorrekt zu machen, dies aber in der Praxis eher in Improvisationen endet. Gerade in der daraus resultierenden Flexibilität und Improvisationsfähigkeit liegt die Stärke der Dorfgemeinschaft. Diese wird jedoch kaum anerkannt, geschweige denn wertgeschätzt. 4.2.2 Perfektionsanspruch in der dörflichen Organisation Als ich mich weiter mit diesem Phänomen beschäftigte, wurde mir daher klar, dass es die lokale Vergemeinschaftung an sich durchzieht und bestimmt. Ähnlich wie bei Geertz der Hahnenkampf und insbesondere das Puppentheater auf Bali (Geertz 1973, 412f.), ist der aufgeladene Perfektionsanspruch ein Element, das zunächst auf den Freizeitbereich beschränkt scheint, letztlich aber grundlegende soziale und kulturelle Handlungsmuster widerspiegelt. Es bezieht sich nämlich auf diverse Arten öffentlicher Aktivitäten und hat bspw. Entsprechungen im Ablauf von Dorfversammlungen oder der Umsetzung von Projekten. Gerade die Dorfversammlung zeichnet sich dadurch aus, dass ein Widerspruch zwischen den organisatorischen Ansprüchen der Autoritäten und Líderes und dem realen Verlauf der Juntas besteht. Es ist immer wieder zu beobachten, dass Líderes versuchen, eine relativ straff organisierte, effiziente und somit kurze Dorfversammlung abzuhalten. Allerdings beschränken sich die Erfolge dieser Versuche fast ausschließlich auf ihren Bereich vor den sitzenden TeilnehmerInnen, der geradezu wie eine Bühne für eine Inszenierung wirkt, die den übrigen Anwesenden vorgespielt wird. Genau dies trifft zu, denn auch die Performance der Líderes vor der Dorfversammlung kann als eingeübtes soziales Theaterspiel verstanden werden. Sie versuchen die Dorfversammlung als effizient zu inszenieren, scheitern aber meist an dem „Graben“ zwischen Bühne und der übrigen Dorfversammlung. Dies bedeutet nicht, dass sich nicht auch andere TeilnehmerInnen eine schnellere und effizientere Durchführung, besonders ohne große Diskussionen oder gar Konflikte, wünschen. Es entsteht allerdings oft der Eindruck, dass sich im gleichen Raum zwei Veranstaltungen abspielen, die kaum zueinander in Beziehung stehen. Dieser Zwiespalt besteht allerdings nicht endlos fort, sondern nach kurzer Zeit lassen sich die Autoridades auf die gewohnte Dynamik der Versammlung ein, womit ihre Konstruktion von Effizienz zunächst scheitert. Dann folgen aber immer neue Momente, in denen der Perfektionsanspruch deutlich kommuniziert wird. So findet in den Juntas eine ständige Aushandlung zwischen zwei Vorstellungen der praktischen Ausgestaltung von Entscheidungsfindung in der Gemeinschaft statt. Hier zeigt sich eine zentrale Diskrepanz zwischen den diversen Logiken der dorfgemeinschaftlichen Akteure. Dies wird besonders deutlich, wenn es darum geht, Diskussionen zu beenden oder abzukürzen, um

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zu Entscheidungen zu kommen. Bei der Analyse dieser Interaktionen wird klar, dass es den Líderes nicht einfach nur um Ordnung oder Effizienz geht. Indem sie sich durchsetzen, wollen sie ihre Führungsfähigkeit, oder eben ihre Autorität, bestätigen, die eine wichtige Voraussetzung für eine leitende Position in der Gemeinschaft ist. Hier zeigt sich ein weiterer Widerspruch zwischen Anspruch und Realität, der auf die Líderes zurückfällt. Erstaunlich oft gehen sie davon aus, dass sie bei den DörflerInnen allgemeinen Respekt genießen und ein Vertretungsauftrag besteht, der auf ihren (vorgeblichen) Führungsqualitäten beruht. Oft ist dies eine eklatante Überschätzung der eigenen Position innerhalb der Gemeinschaft. Trotzdem dient diese Annahme dazu, ihre Ansprüche als Líderes zu legitimieren, die sich oft sogar, einer klassischen Vorstellung folgend, als geborene Anführer, „el lider nato“, sehen. Diese Haltung trifft auf die Frustration der Dorfbewohner, die einem Alltag entspringt, dessen Wandel etliche Líderes nicht nachvollziehen können. Die soziale Transformationsfähigkeit der Menschen in den Dörfern übertrifft oft die der Líderes, die (zunächst) eher überbrachten Denkmustern und Handlungsrationalitäten verhaftet bleiben. In gewissem Maße trifft ein starrer Effizienz- und Ordnungsanspruch auf die alltägliche Flexibilität der DörflerInnen, die einen stetigen Wandel ermöglicht. Dies ist ein weiteres Element, das die interne Organisation und die Beziehungen nach außen bestimmt und Parallelen im politischen Bereich aufweist. Es stellt sich die Frage, warum die überhöhten Ansprüche nicht zurückgenommen werden, um nicht fortwährend an diesen zu scheitern. Denn ein Teil der „Fehlplanungen“ entsteht gerade durch den zu hohen Anspruch und kann nur durch die hervorragende Improvisationsfähigkeit aufgefangen werden. Zunächst können die hohe Ansprüche und die allgemeinen Erwartungen als Überhöhung alles Formalen verstanden werden. Daher wird nicht-formalisierten Fähigkeiten wie der Improvisation kaum Gewicht beigemessen. So entsteht ein kollektiver Wunsch, alle Angelegenheiten des Ortes auf eine möglichst formal-korrekte Art und Weise zu regeln. Dies hängt u.a. mit dem früher bestehenden Bild indigener Dorfgemeinschaften und den damit verbundenen Vorurteilen und Diskriminierungserfahrungen zusammen. Ein zweiter wichtiger Punkt ist die vor allem von den Maestros Bilingües vermittelte Vorstellung, dass gebildete Menschen alle Aspekte des privaten und gemeinschaftlichen Lebens besser bewältigen können. Diese Sichtweise wurde besonders oft in informellen Gesprächen deutlich. Wenn es um die Bewertung der Handlungen eines Mitglieds der Gruppe der Lehrer bzw. Líderes, insbesondere um seine Amtsführung ging, dann wurden kritische Äußerungen durch Aussagen wie „und das, obwohl sie behaupten, gebildete Menschen zu sein“ abgeschlossen. Oft gefolgt von dem Nachsatz „wer weiß, wie sie sich benehmen würden, wenn sie keine Bildung hätten“ (s.u.).16 Drittens

16 „Y eso que dicen que son gente educada“ und „quién sabe que harían si no fueran educados“.

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gilt die auf „gebildete“ Weise geführte Dorfgemeinschaft als effizienter und moderner. Eine formalisierte dörfliche Organisation mit festen Regeln gilt in gewissem Sinne als modern, was wiederum als Zeichen des Fortschritts der Gemeinschaft gesehen wird. Diese Sichtweise wird durch Vorstellungen vieler MigrantInnen bestärkt, die aufgrund ihrer Erfahrungen in den USA zur Lösung der regelmäßig auftretenden Probleme mit der dörflichen Organisation einen formaleren Charakter bis hin zur Übertragung bestimmter Kompetenzen an externe Institutionen befürworten [Pablo]. Hierein fügt sich die Kritik an langwierigen Verhandlungen, an denen ein veralteter Verhandlungsstil bemängelt wird. Denn oft wird die Einschätzung geäußert, dass strengere Regeln für die Versammlungen zu einer zeitlichen Straffung und höheren Effizienz führen würden. Ältere Dorfbewohner vertreten dagegen eine konträre Ansicht, denn sie halten die langen Juntas und fortwährenden Diskussionen oder „Streitereien“, wie sie sagen, für etwas Neues, das mit veränderten Vorstellungen der jüngeren Generationen zusammenhängt. Entsprechendes gilt für die Regelung der Gemeinschaftsarbeit, weswegen Konflikte um ihre Ausgestaltung und die allgemeine Durchsetzung der Pflichten eine zentrale Stellung in der alltäglichen Aushandlung der dörflichen Organisation einnehmen. All diese Aspekte haben ein großes Gewicht in der Interaktion mit der Außenwelt, da es dort um Außenbild und -repräsentation der Gemeinschaft geht. Sie haben einen wichtigen Einfluss darauf, wie außenstehenden Akteuren gegenübergetreten wird und wie man sich in Verhandlungen darstellt. 4.2.3 Die Inszenierung der Gemeinschaft In Anlehnung an Benita und Thomas Luckmann (1983) kann festgestellt werden, dass die Gemeinschaft dazu tendiert, in Zeiten des Wandels überbrachte Vorstellungen (und Vorurteile) zu bestärken, um vertraute Sinnwelten zusammenzuhalten. In der dörflichen Organisation ist das Vertrauen in die Überlegenheit der vorgeblich korrekten Organisation handlungsleitend. Dies führt durch mangelnde Übereinstimmung mit der Realität der Organisation zu ganz unterschiedlichen Problemen, von denen ich einige exemplarisch analysiert habe. Letztendlich wird nur durch die Flexibilität des Alltags der dörflichen Organisation ein Scheitern verhindert. Das Perfektionsideal kann somit in einer Vielzahl von Bereichen der dörflichen Organisation, aber auch in Aktivitäten im politischen Bereich, wie Wahlkampfveranstaltungen oder alltäglichen politischen Aushandlungen mit Akteuren anderer Ebenen, zu Problemen und einer Verstärkung ggf. bestehender Konflikte führen. In den Juntas äußert sich das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Handlungslogiken oft in einer gespannten Stimmung und negativen Bewertungen des Ablaufs, was letztlich eine gewisse Verdrossenheit bezüglich der dörflichen Organisation fördert. Die Inszenierung des Formalen auf der einen und die Praktizierung einer flexiblen Art

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von Organisation auf der anderen Seite werden zu einem Element der Distanz oder sogar Entfremdung zwischen den Líderes und vielen anderen Dorfbewohnern. Die Líderes versuchen, ihre Vision der Organisation und darüber hinaus der Gemeinschaft in dieser Arena durchzusetzen. Dies widerspricht aber zum einen dem, was viele Mitglieder der Gemeinschaft als üblich und normal ansehen und zum anderen wird ihnen nicht klar, was genau die Líderes anstreben. Da die Vorstellungen der Líderes oft als abgehobenes Getue erlebt werden, entsteht ein problematisches Bild im Ort. Es wird unterschwellig angenommen, dass sie sich aufgrund ihrer Bildung als etwas Besseres fühlen, trotzdem die Angelegenheiten des Dorfes weder korrekt noch erfolgreich regeln und in ihrem ganzen Handeln sehr auf sich und, so der Vorwurf, ihre politische Karriere fixiert sind. Dies fördert negative Sichtweisen und Einstellungen zur praktischen Ausgestaltung der dörflichen Selbstorganisation, aber auch generell über den Sinn und Nutzen derselben. Obwohl die dörfliche Organisationsform trotz dieser Schwierigkeiten aufrechterhalten und von allen weiter mitgetragen wird, denn schließlich sind sich alle bewusst, dass sie die einzige Möglichkeit ist, etwas für ihr Dorf zu erreichen, führen die angesprochenen Widersprüche zu einer skeptischen Sicht auf die dörflichen Institutionen. Entwicklungsvorstellungen und Projekte in der Dorfgemeinschaft Ein Feld, in dem sich die beschriebene Diskrepanz beobachten lässt, sind die Projekte der Dorfgemeinschaft, in denen viele praktische Probleme entstehen. Diesen ist meist gemein, dass sie in einer abgehobenen Art geplant werden, die auf externen Einflüssen beruht, sei es durch Anforderungen staatlicher Institutionen oder einer technokratischen Denkweise, die insbesondere Maestros Bilingües und viele andere „Studierte“ in ihrer Ausbildung erworben haben. Diese Planungen passen selten zur Realität der Arbeitsweise in der Gemeinschaft und scheitern daher oft in diesem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Handlungslogiken. Ausgehend von Vorstellungen einer idealen Dorfgemeinschaft werden bspw. ein zu perfekter Verlauf von Arbeiten sowie zu hohe eigene Beiträge angenommen. Insbesondere die materielle Seite scheint, zumindest in letzter Zeit, geschönt wahrgenommen zu werden, was u.a mit überzogenen Vorstellungen über die finanzielle Leistungsfähigkeit der MigrantInnen zusammenhängt. Dadurch entstehen Schwierigkeiten, die mit einem flexibleren Einsatz der Mittel, der Suche nach zusätzlichen Ressourcen und einer Erhöhung der finanziellen Beiträge kompensiert werden müssen. Durch ihre Flexibilität ist die Dorfgemeinschaft dazu in der Lage, dies bedeutet aber letztlich für alle Beteiligten einen erhöhten Aufwand an Zeit, Arbeitskraft und Ressourcen, was die DorfbewohnerInnen belastet. Gleichzeitig wächst der Eindruck einer schlechten Planung durch dörfliche Autoritäten und Líderes, was zu deren schlechtem Ansehen beiträgt. So wird

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eine Anpassung der Projektplanungen an tatsächliche Gegebenheiten dadurch blockiert, dass die Fixierung auf die „perfekte Gemeinschaft“ eine ausreichende Selbstreflektion verhindert. Ein spezieller Punkt, an dem der Wunsch nach Perfektion und die Realität der dörflichen Organisation aufeinandertreffen, hängt mit den Geschlechterverhältnissen im Dorf zusammen. Für die unangemessene Einschätzung der zur Verfügung stehenden Arbeitskraft ist nämlich zentral, dass die Anzahl der Bürger zugrunde gelegt wird. Die dabei festgelegte Zahl an Faenas wird aber oft durch Frauen als Vertreterinnen der sich in den USA aufhaltenden Bürger geleistet. Diese Praxis wird aber von vielen Dorfbewohnern kritisiert, da sie angeblich nicht so korrekt und effektiv arbeiten, wie die eigentlich dazu verpflichteten Männer. Statt die Leistung der Frauen anzuerkennen, wird ihr großer Anteil bei der Gemeinschaftsarbeit daher oft an sich als ein Makel begriffen. Im Gegensatz zu dieser Sichtweise vieler Dorfbewohner ist das Phänomen der geschlechtsspezifischen Vertretung allerdings gerade ein Ausdruck der kollektiven Flexibilität. Vor dem Hintergrund der Abwesenheit vieler Migranten ermöglicht erst sie es, die Diskrepanz zwischen angenommenem und tatsächlichem Arbeitspotenzial zu verringern und Projekte überhaupt zu realisieren. Denn eine Entscheidung, die u.a auf den Diskurs über die Arbeits(un)fähigkeit der Frauen zurückzuführen ist, besteht darin, dass einige Migranten es vorziehen, eine Strafe zu zahlen, was letztlich die Basis der Arbeitskraft schmälert. Daneben existieren Fälle, in denen Bürger ihre Arbeitspflichten der Gemeinschaft gegenüber schlicht nicht erfüllen, was vor allem in Barranca Empinada in der Spaltung des Dorfes begründet ist. Gleichzeitig wirkt es oft so, als ob einige der Projekte nicht auf realen Bedürfnissen fußen. Aus der Perspektive eines externen Beobachters erwächst der Eindruck, dass ein beachtenswerter Teil der Arbeiten und Projekte von Dorfgemeinschaften unsinnig oder nutzlos ist. Dies trifft z.B. auf die Errichtung eines zweiten Basketballplatzes an einem relativ schlecht zu erreichenden Ort zu, auf Bürgersteige an wenig befahrenen Straßen und überdimensioniert wirkende Kirchen oder Dorfbibliotheken. Oft wird dies sogar von DörflerInnen kritisiert, auch wenn sie sich an den Arbeiten beteiligen. So stellt sich die Frage, ob diese Bauwerke überhaupt nötig sind und es nicht wichtigere Einsatzfelder für die hierauf verwandten Ressourcen, Arbeitskraft und Zeit gibt. Allerdings machen diese Arbeiten aus der Rationalität der Dorfgemeinschaft trotzdem Sinn und lassen eine Vision erkennen, die dörflichen Projekten und kollektiver Arbeit zugrunde liegt. Insbesondere muss die symbolische Dimension der Gemeinschaftsarbeit, wie auch anderer Aktivitäten des Dorfes als Einheit, berücksichtigt werden. So wird in Bezug auf den bemerkenswerten zeitlichen Aufwand in der mexikanischen Sozialanthropologie die Ansicht vertreten, dass es sich in erster Linie um eine affirmative Aktivität der Dorfgemeinschaft handelt. Durch die kollektive Arbeit an Projekten der Gemeinschaft wird der Zusammenhalt gestärkt und ihre Bedeutung fortwährend be-

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stätigt. Trotz der offenkundigen gegenwärtigen Schwierigkeiten, eine breite Mobilisierung der Dörfler für diese Arbeiten zu erreichen, darf die sinnhafte Bedeutungsgebung der Gemeinschaftsarbeit nicht unterschätzt werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Aufwand und finanziellen Einsatz für Feste, die im Rahmen der Migrationsprozesse gestiegen sind. Gerade von außen werden sie oft als Verschwendung gebrandmarkt, ihnen liegt aber eben eine andere Relevanzstruktur der Akteure zugrunde. Sie sind als kultureller Konsum zu sehen, der durchaus auch einen PotlatchCharakter (vgl. Barnett 1938; Beck 1993) annehmen kann, da hier in sozial akzeptierter, aber auch erwarteter Weise der angenommene Erfolg sowohl symbolisch präsentiert als auch dafür gedankt wird. Dies ist mit einem Statusgewinn verbunden, wichtiger ist aber, dass dabei die sozialen Netzwerke innerhalb der Gemeinschaft gepflegt werden, indem bei Festen Ressourcen geteilt und soziale Kontakte gefördert werden. Ein weiterer Grund für die Art der Projekte, besonders deren Konzentration auf den Infrastrukturbereich und die Errichtung neuer Gebäude, liegt darin, dass sich diese mit lokalen Vorstellungen über Fortschritt und Entwicklung deckt. Auch wenn diese Konzepte sehr komplex und subtil sind, zeigt sich doch eine implizite Fortschrittsvision. Es geht dabei einerseits um Teile der Infrastruktur, die ein bequemeres Leben der Menschen im Ort ermöglichen sollen. Dazu gehört der Ausbau des Stromnetzes, der Wasserversorgung und der Kanalisation.17 Andererseits sind es solche, die dem Ort ein besseres oder fortschrittlicheres Aussehen geben sollen, die also Entwicklung symbolisch repräsentieren. Es soll gezeigt werden, dass sich im Dorf etwas verändert, dass es nicht rückständig ist, sondern die Dorfgemeinschaft etwas erreicht. Dieses Außenbild soll besonders durch Teile der Infrastruktur und durch Bauwerke geprägt werden, die über eine hohe Sichtbarkeit verfügen und von der Sinngebung her als modern bzw. fortschrittlich belegt sind. Zu diesen repräsentativen Bauwerken zählen asphaltierte Straßen und größere öffentliche Gebäude, oft solche, die wie Bibliotheken mit Bildung und somit in doppeltem Sinne mit Wandel und Fortschritt verbunden sind. Durch diese Manifestationen der kollektiven Arbeit soll BesucherInnen sofort klar werden, dass es sich um ein geeintes Dorf handelt, das etwas für seinen Fortschritt tut und dadurch auf gleicher Ebene steht wie andere Dörfer und Städte (vgl. Elwert-Kretschmer/Elwert 1991, 336 f.). Gleichzeitig ist diese Entwicklungsvorstellung Ergebnis der fortwährenden Aushandlungen mit externen Akteuren. Denn neben dem reinen Repräsentationsaspekt 17 Allerdings führen diese oft zu neuen Problemen. So haben die Einrichtung von Wasserversorgung und Kanalisation zu einem höheren Verbrauch geführt, was in dieser wasserarmen Region sehr problematisch ist und Konflikte verschärft. Der Umgang mit Wasser wird auch durch Erfahrungen aus den USA beeinflusst. So ist es üblich, dass neue Häuser neben einem WC mit relativ großem Spülkasten auch über eine Badewanne mit Whirlpool-Funktionen verfügen.

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wird die erfolgreiche Umsetzung von Projekten als Hinweis für die Organisationsfähigkeit und die Einsatzbereitschaft der Dorfgemeinschaft betrachtet. Dieser Bewertungsmaßstab ist gerade in politischen Aushandlungen ganz unterschiedlicher Art von großer Bedeutung (vgl. Kap. 5.2.2). Nicht zuletzt kann festgestellt werden, dass das Bild der Fortschrittsfähigkeit auch intern wirkt. So ist die Sichtbarkeit der Projekte ein Element, das zur Identifikation mit der Gemeinschaft beiträgt und das Vertrauen in ihre Organisation bestärkt. Dabei werden kritische Einschätzungen der Dorfgemeinschaft relativiert, was u.a. erklärt, warum eher lokale Amtsträger kritisiert werden und weniger die gesamte Organisation an sich. Ein weiterer Aspekt der Selbstvergewisserung hängt mit der transnationalen Dimension der Dorfgemeinschaft zusammen. Teil der transnationalen Flüsse von Ideen und Symbolen sind Vorstellungen über Moderne, die auf die Projekte der Gemeinschaft übertragen werden. Entsprechendes gilt bspw. auch für die Organisation von Dienstleistungen wie der Wasserversorgung, wobei diese Sichtweisen in der lokalen Aneignung abgewandelt werden. Die Idee moderner Entwicklungsprojekte passt dagegen zu den seit Jahrzehnten in der Region propagierten Entwicklungsvorstellungen. Dieses transnationale Element in der Bewertung von Projekten und der Organisation an sich ist in Barranca Empinada ausgeprägter als in El Thonxi, erreicht aber bei Weitem nicht eine Qualität, wie sie beispielsweise Rivera Garay (2009) für die Gemeinschaft von El Alberto analysiert. Inszenierung der Gemeinschaft als Teil politischer Handlungslogiken Im lokalen Verständnis von Politik und den entsprechenden politischen Logiken und Interaktionsmodi ist es von großer Bedeutung, sich als aktive und engagierte Dorfgemeinschaft zu präsentieren. Denn nur auf diese Art, so die Annahme, werden Vertreter des politischen Systems in Erwägung ziehen, diesem Dorf Projekte und Apoyos, also materielle und finanzielle Förderung ihrer Aktivitäten, zukommen zu lassen. Diese werden nämlich nicht als Leistungen bspw. einer unabhängigen Gemeindeverwaltung gesehen, sondern als Zuteilung durch die regierende Partei bzw. gewählte Politiker. Ein Prozess, der als weitgehend in parteipolitische Netzwerke eingebettet verstanden wird. Diese Art der Interaktionen mit der übergeordneten Politik wirkt zunächst wie ein Widerspruch zu der von mir als Autonomie interpretierten Haltung der Dorfgemeinschaften, denn die Sorge um das Außenbild zeigt eine große Abhängigkeit der Dorfgemeinschaften von externen Ressourcen. Wie die eingehende Analyse der Autonomie der Dörfer zeigt, ist dies aber nur ein vermeintlicher Widerspruch, denn in beiden Fällen ist die Selbstrepräsentation der Dorfgemeinschaften zentral und wird strategisch angepasst. In beiden Fällen liegt ihr Schwerpunkt auf der Fähigkeit, DorfbewohnerInnen zu mobilisieren. Es geht einerseits darum zu zeigen, dass man im klassischen klientelistischen Sinn, als Gegenleistung für Hilfen, eine

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entscheidende Unterstützung des Politikers bzw. der Partei organisieren kann. Kritisch wird dies mit dem Konzept des Acarreo bezeichnet, das in etwa „Anhänger herankarren“ bedeutet. In diesen Repräsentationen wird die eigene Dorfgemeinschaft als eine Einheit inszeniert, die unterentwickelt, marginalisiert und auf Hilfe von außen angewiesen ist. Gleichzeitig stellt man sich als homogen, geschlossen, loyal und zuverlässig dar. Diese Strategie ist auch deshalb so erfolgreich, weil diese Charakteristiken zu geläufigen stereotypen Vorstellungen über Indigene passen. Es wird also über eine Selbstinzenierung strategisch auf die Imaginarien der entsprechenden Politiker eingegangen. Andererseits wird die Mobilisierungsfähigkeit mittlerweile auch in die Richtung gelenkt, dass man im Zweifelsfall ausreichend Menschen zusammenbringen kann, um in größerem Ausmaß gegen nicht eingelöste Versprechen und mangelnde Unterstützung von Projekten zu protestieren. So kann durchaus auch ein rebellisches Potenzial demonstriert werden, damit sich Lokalpolitiker verpflichtet fühlen oder sogar gezwungen sehen, die Dorfgemeinschaft „korrekt“ zu behandeln, d. h. ihnen Unterstützung zukommen zu lassen. Auf welcher der beiden Varianten der Schwerpunkt liegt, unterscheidet sich in meinen beiden Fällen grundlegend. Beiden ist jedoch gemein, dass versucht wird, eine möglichst große, beeindruckende Präsenz zu inszenieren, was in der Regel aber nicht so gelingt, wie es sich die Vertreter der Dorfgemeinschaft vorstellen. So ist es gang und gäbe, DörflerInnen durch kurzfristige Information aufzufordern, zum Versammlungsort zu eilen, damit die mangelhafte Präsenz aufgebessert wird. Ein Beispiel dafür sind die Inszenierungen in Wahlkämpfen, die ich im folgenden Kapitel anhand einer Wahlkampfveranstaltung in El Thonxi analysiere. Hier muss eine ausreichend große Menschenmenge zusammengetrommelt und präsentiert werden, um dem später siegreichen Kandidaten zu vermitteln, dass er aus diesem Dorf eine perfekte Unterstützung erhalten hat. Dies soll ihn dazu verpflichten, dem Dorf später Unterstützung zukommen zu lassen. Fast der gesamte Bereich der lokalen Entwicklungspolitik ist nach diesem Muster strukturiert, was auch die positive Sicht auf CDI und PIVM erklärt, die als Einrichtungen der nationalen Ebene als außerhalb parteipolitischer Instrumentalisierung stehend wahrgenommen werden bzw. wurden. Diese Art der Inszenierung beruht besonders auf den Bedürfnissen der Líderes. Denn zum einen ermöglicht sie Aktivitäten im Sinne der Dorfgemeinschaft und zum anderen hängt sie mit persönlichen Interessen im politischen Bereich zusammen. So fällt es dem Vertreter des Dorfes leichter, es in Verhandlungen zu vertreten, wenn es allgemein als aktiv, stark und ggf. parteitreu wahrgenommen wird oder über einen entsprechenden Ruf verfügt. Gleichzeitig ist der angenommene breite Rückhalt in der lokalen Bevölkerung das wichtigste Element, damit Líderes eine politische Karriere verwirklichen können. Denn ohne dieses Ansehen sind sie im lokalen politischen System quasi wertlos und nur für niedrigere Positionen in den parteiinternen Hierarchien geeignet. Daher zeigt sich gerade bei den Líderes die Diskrepanz zwischen

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Perfektionsanspruch und Realität besonders deutlich. Sie fühlen sich gezwungen, eine perfekte Inszenierung zu liefern, was ihnen aber nicht gelingt, wenn sie von der Dorfgemeinschaft nicht in dem gewünschten Maße unterstützt werden. Die Gründe dafür können von einer gewissen Politikverdrossenheit bis zu Misstrauen gegenüber den Líderes reichen und sich in verstecktem Widerstand gegen deren Strategien äußern. Diese Situation kann zu einem weiteren Verlust von Ansehen und Rückhalt im Ort führen.

4.3 K ONFLIKTE Die bisherige Analyse zeigt, dass es sich bei den Dorfgemeinschaften keineswegs um homogene oder harmonische Gemeinschaften handelt, wie es oft angenommen, aber auch von den Comunidades selbst vermittelt wird. Im Gegenteil scheinen Auseinandersetzungen sogar ein grundlegendes Element der sozialen Beziehungen in diesen Einheiten zu sein. Wie ich oben gezeigt habe, ist dies nicht rein negativ zu verstehen, denn im Sinne Elwerts kann das soziale Leben grundlegend als fortwährender Konflikt verstanden werden (vgl. Eckert 2004). Er ist Teil der Aushandlungen, die zu sozialen (Re-)Konstruktionen führen und damit zu dem sozialen Wandel beitragen, der in den Interaktionen der diversen Akteure begründet ist. Bisher bin ich in diesem Zusammenhang vor allem auf interne Auseinandersetzungen eingegangen, allerdings sind Konflikte auch für externe Verbindungen relevant. 4.3.1 Historische Aspekte Viele Konflikte haben einen historischen Hintergrund. Dabei handelt es sich oft um Spannungen zwischen den früheren Zentren und ihren Satelliten. Es gab Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen den großen und den kleinen Dörfern, wobei die kleineren nicht unabhängig waren, sondern als Teil der großen angesehen und behandelt wurden. Dies führte in den letzten Jahrzehnten zu heftigen und teils erbitterten Auseinandersetzungen aufgrund des Wunsches nach Unabhängigkeit der kleinen Orte. Dieses Ziel wurde dadurch angestrebt, dass eigene Einrichtungen geschaffen wurden. Dazu gehörten in der Regel eine eigene Schule, eine Kirche und schließlich eine Delegación. Dazu wurden Mittel von außen in Anspruch genommen bzw. geschickt genutzt. So gab es für den Bau der Schulen Unterstützung durch staatliche Bildungsprogramme, während für den Kirchbau Unterstützung der katholischen Kirche in Anspruch genommen wurde bzw. größere Gruppen zu protestantischen Kirchen oder Sekten übertraten. Letzteres hing auch damit zusammen, dass die Dorffeste ein Punkt waren, auf den sich Auseinandersetzungen konzentrierten. So wurden

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bspw. Personen aus den zu Salvador gehörenden Dörfern gezwungen, bei der Vorbereitung des Patronatsfestes zu arbeiten, offenbar zum Teil mit vorgehaltener Waffe. Dies wurde bei einem Kirchenübertritt schwieriger. Daneben mussten aber auch die Institutionen der Dörfer geschaffen werden, bis die Dorfgemeinschaften formal durch die Gemeinde anerkannt wurden. Diese Konflikte sind noch in Erinnerung, wie der Fall der Auseinandersetzung zwischen den Jugendlichen aus El Thonxi und Salvador zeigt. In den von mir untersuchten Dorfgemeinschaften kommt es zwar kaum noch zu offenen Auseinandersetzungen, aber auf einer sehr subtilen Ebene findet sich diese kollektive Erinnerung u.a. in Kommentaren wieder. Zunächst fallen diese Ressentiments einem Beobachter nicht auf. Nichtsdestotrotz sind sie präsent und beeinflussen den Umgang zwischen den Bewohnern der verschiedenen Orte. Eine Dimension, an die sich viele relativ junge Menschen erinnern, ist die identitäre Komponente, die darin bestand, dass Personen im Zentrum denen aus der Peripherie, besonders den Kindern, mit Vorurteilen oder Herabwürdigungen entgegentraten. So wurden sie regelmäßig als Indios beschimpft, es gab Kommentare über deren angebliche Unsauberkeit, schlechte Erziehung etc. Dies wurde mir von InformantInnen berichtet, zu denen eine vertrauensvolle Beziehung bestand [Marianna; Catarina], insgesamt wird aber um des Friedens willen eher versucht, nicht daran zu erinnern. Des Weiteren gibt es historische Spannungen mit der Staatsgewalt bzw. regionalen Machtgruppen. Dies wird besonders im Fall von Barranca Empinada deutlich, wo wiederholt von Misshandlungen durch staatliche Autoritäten berichtet wird. Gleichzeitig existieren überall Erinnerungen an die Revolutions- und die Postrevolutionszeit. So lässt sich sagen, dass die Auseinandersetzungen ein wichtiger Teil der den Menschen präsenten Geschichte ihrer Orte sind [Don Andrés]. 4.3.2 Land, Ressourcen und Infrastruktur Ein Großteil der Konflikte, sowohl interner als auch externer, bezieht sich auf Ressourcen. Dabei ist der Konflikt um Land meist die Grundlage für Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Dörfern. Diese finden häufig statt und werden oft mit Waffengewalt geführt, was das Eingreifen der Spezialkräfte der Polizei des Bundesstaates hervorruft. Meist lässt sich auch eine Beteiligung unterschiedlicher Parteien finden. In der Regel scheinen diese Konflikte von den Streitigkeiten zwischen Privatpersonen auszugehen und werden dann instrumentalisiert. Dabei wird die Dorfgemeinschaft involviert, die sich mit den Betroffenen solidarisieren soll, was meist geschieht. Fast immer lassen sich diese Konflikte auf die oben angesprochene Abspaltung von Dörfern zurückführen, durch die ungenaue Grenzziehungen, oft nach Jahren, an Brisanz gewinnen. Auch in Barranca Empinada gab es solch eine Auseinandersetzung in der Vergangenheit. Dabei handelt es sich um ein Stück Land, um das

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mit der Dorfgemeinschaft Mezquite Negro gestritten wurde, und es kam zu Mobilisierungen und einer Besetzung, die allerdings nicht erfolgreich waren. Dieser Konflikt wirkt noch nach und es wurde die Sorge geäußert, dass er die Beziehungen zwischen beiden Comunidades belasten könne. Aber auch innerhalb der Comunidades sind Landfragen ein häufiger Reibungspunkt, wie ich in El Thonxi beobachten konnte. Hier bestehen sogar innerfamiliäre Konflikte um die Grenzziehung von Land. Oft kommt es zudem zur Aneignung von Land, das der Gemeinschaft gehört oder sich in kleinem Privatbesitz befindet. Dies geschieht entweder über Neuvermessungen, die Versetzung oder Zerstörung von Grenzmarkierungen oder einfach durch die Nutzung kleiner Streifen Land, so z.B. beim Hausbau. Dies kommt offenbar häufig vor und ist meist irreversibel. Die Geschädigten scheinen kaum Möglichkeiten zu haben, sich durchzusetzen, und entsprechende Auseinandersetzungen werden im Namen der Harmonie innerhalb der Gemeinschaft vermieden, ohne dass es einen Ausgleich gibt. Oft wird die Ausübung eines dörflichen Amtes genutzt, um sich Land anzueignen. Dabei wird die Durchführung von Gemeinschaftsprojekten genutzt, um Land abzutrennen und anderen Grundstücken zuzuschlagen. Dies zeigt, wie entgegen dem Gemeinschaftsdiskurs dörfliche Institutionen genutzt werden, um andere zu übervorteilen. Insgesamt haben Landstreitigkeiten auch deshalb zugenommen, weil der Wert des Landes durch die Kaufkraft der MigrantInnen und darauf basierenden Spekulationen stark gestiegen ist. Ebenso gibt es Reibereien um staatliche Leistungen, die von außen in die Comunidades fließen. In Barranca Empinada bezieht sich dies auf Gemeinschaftsprojekte oder zumindest wird es aufgrund der Spaltung am stärksten in diesem Bereich wahrgenommen. Daneben kommt es auch zu Reibereien um Leistungen auf familiärer Ebene. In El Thonxi habe ich davon im Bereich staatlicher Stipendien und des kostenlosen Schulfrühstücks erfahren. Hier wird genau darauf geachtet, wer etwas bekommt und bewertet, ob dies gerecht sei. Während noch vor wenigen Jahren eher versucht wurde, oft in Umgehung der Regeln der Programme, allen etwas zukommen zu lassen, ist es jetzt so, dass manche Familien nicht berücksichtigt werden. Dies ist bspw. bei Lehrerinnen der Fall. Viele verloren ihre Leistungen, da die dorfinternen Leiterinnen des Programms sie nicht mehr als bedürftig einstuften. Dies wurde von den Betroffenen als persönlicher Angriff aufgefasst und führte zu Verstimmungen. Verschärft wurde dies sicherlich durch die intransparente Verteilung, dadurch aufkommende Korruptionsvorwürfe und bestehende persönliche Antipathien. Während also früher eine eher solidarische und an den bekannten Bedürfnissen ausgerichtete Verteilung staatlicher Leistungen existierte, findet jetzt eine striktere Auslegung der Regeln statt. Ein weiterer Bereich häufiger Konflikte ist die dörfliche Infrastruktur, insbesondere die Wasserversorgung. Zum einen liegt dies an ihrem potenziellen Einsatz als Sanktionsmittel der Comunidad (s.o.). Zum anderen gibt es konkrete Konflikte um die Wasserversorgung, zunächst bezogen auf Forderungen nach Anschluss an das

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Wassernetz. In der Folge geht es aber auch darum, wie das Wasser insbesondere in der Trockenzeit verteilt wird. Es kommen immer wieder Vorwürfe auf, dass manche Familien oder Bezirke unangemessen viel Wasser verbrauchen bzw. zugeteilt bekommen. Oft wird dabei den Zuständigen im Wasserkomitee vorgeworfen, dass sie entweder unfähig seien oder bewusst bestimmte Teile des Dorfes bevorzugten, in der Regel ihr eigenes Viertel. Dies ist ein permanent schwelender Konfliktherd, aber auch andere Dienstleistungen können zu Auseinandersetzungen, insbesondere bezüglich der Anschlüsse führen. So kann der durch Ressourcenknappheit bedingte stufenweise Ausbau der Infrastruktur zu Konflikten führen, da meist zuerst in den zentralen Bereichen gebaut wird und erst später in den äußeren. Dies ähnelt dem Fall der Wasserversorgung, mit dem Unterschied, dass z.B. die Kanalisation nicht als so bedeutend angesehen wird wie die Wasserversorgung. Ich habe zwar keine Auseinandersetzungen darum erlebt, aber zumindest Kommentare von verschiedenen Seiten gehört, die sich auf diesen Umstand bezogen. Die meisten Konflikte scheinen nie endgültig gelöst zu werden, sondern nach offenen Auseinandersetzungen höchstens zu ruhen. Sie schwelen im Untergrund und brechen dann oft spontan auf, quasi aus einer Grundspannung heraus, denn sie werden im Alltag verdrängt und treten dann erst wieder zutage, wenn es Reibereien aufgrund anderer Angelegenheiten gibt. Dies erklärt das häufige Auftreten in den Dorfversammlungen und in Bezug auf Landfragen. Die übrige Zeit schwelen die Konflikte eher in Gerüchten, Gesprächen u. Ä. weiter, führen aber nicht unbedingt zu offenen Auseinandersetzungen. Viele spielen sich dabei zwischen bestimmten Familien ab oder werden zumindest so wahrgenommen. Es scheint gewisse Rivalitäten, meist mit Nachbarn und besonders in Zusammenhang mit Land zu geben. Daneben existieren aber auch intrafamiliäre Konflikte, die dazu führen können, dass eine Person oder Kleinfamilie innerhalb des familiären Verbundes isoliert wird und sich nach außen orientieren muss. Im Gefüge eines Dorfes muss dies durch den fehlenden Rückhalt eine sehr stressbehaftete Situation sein, wie das Beispiel von Maximino zeigt. 4.3.3 Envidia und andere Gefahren für das soziale Gefüge Obwohl die Dorfgemeinschaft als Institution aber eben auch als soziale Formation für die DörflerInnen sehr bedeutend ist und in Repräsentationen und Diskursen die Einheit der Gemeinschaft betont wird, existieren also diverse problematische Aspekte der Selbstorganisation und des Zusammenlebens im Dorf. Dazu gehören einerseits die angesprochenen Konflikte und Reibereien innerhalb des Dorfes und andererseits eine starke soziale Kontrolle. In beiden Bereichen haben Envidia (Neid) und Gerüchte eine große Bedeutung.

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Bemerkenswerterweise soll es früher weniger Konflikte gegeben haben, was zum Teil mit der seit etwa 20 Jahren immer stärker zentralisierten Siedlungsstruktur zusammenhängt, die mehr Reibungsmöglichkeiten mit sich bringt. Daneben ist sicher von Bedeutung, dass Neid in einer Situation zunimmt, in der durch eine steigende Heterogenität bezogen auf Bildungshintergrund, Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten etc. materielle Güter sichtbarer, gleichzeitig aber die Quellen von materiellem Wohlstand weniger transparent werden, da sie außerhalb des Dorfes liegen. Dabei nehmen klassische Möglichkeiten sozialer Kontrolle und des Ausgleichs, bspw. im Rahmen der dörflichen Organisation, Gemeinschaftsarbeit oder von Festen, ab. Teils wird als Reaktion darauf versucht, mit Hilfe von mit Neid verbundenen Gerüchten eine gewisse Kontrolle auszuüben. Zudem werden solche Personen von Neid und Gerüchten getroffen, die besonders aktiv sind. Zum einen weil sie eine herausgehobene Position innehaben und dabei aus Sicht mancher DörflerInnen gegen Verhaltensregeln verstoßen und zum anderen, weil ihnen ihre Stellung oder ggf. ihr Erfolg geneidet wird. Letztlich kann diese problematische Dimension sozialer Beziehungen die Dorfgemeinschaft gefährden. Zumindest führt sie aber zu großen Verwerfungen. Bei allen positiven Aspekten der Dorfgemeinschaft und ihrer zentralen Stellung als Arena für die Aushandlung von sozialem und politischem Wandel im ländlichen Raum, darf nicht übersehen werden, dass dies für viele Akteure einen starken Stress bedeuten kann. Dies trifft besonders auf solche Personen zu, die eine exponierte Position innehaben. Bspw. jene die sich ihre Akzeptanz in den entsprechenden Räumen erst erarbeiten müssen, wie es der Fall der Frauen ist, die eine aktive Teilhabe an dörflichen Entscheidungsprozessen einfordern. Gleiches gilt u.a. für die Personen die als konfliktiv angesehen werden, für lokale Amtsträger und für Líderes. Dafür gibt es in dieser Arbeit Beispiele aus verschiedenen Zusammenhängen. Es lässt sich feststellen, dass grundsätzlich viele Akteure in den Dörfern durch die Ansprüche der Gemeinschaft unter Druck stehen. Tatsächlich geht dies so weit, dass immer wieder von Todesfällen zu hören ist, die mit Dorfversammlungen oder internen Streitigkeiten in Verbindung gebracht werden. So wurde aus einem Dorf in der Nähe von Barranca Empinada berichtet, dass dort ein Mann während einer heftigen Diskussion in einer Asamblea, einen Herzinfarkt erlitten hatte und gestorben war. Aber auch in El Thonxi starb nach meinem Forschungsaufenthalt eine Informantin, nachdem sie in einer Versammlung von einer Teilnehmerin verbal angegriffen worden war, was ein Streitgespräch nach sich zog. Die Art dieser Auseinandersetzungen und die Reaktion auf die Todesfälle zeigt wie verbissen manche DörflerInnen in ihren Angriffen auf andere sind. Dies ist ein sehr hoher Preis der dörflichen Organisation, der sie destabilisieren kann und meines Erachtens eine der größten Bedrohungen für die Transformationsprozesse darstellt, die ich in dieser Arbeit analysiere.

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4.4 P OSITIONIERUNG „ NEUER “ G RUPPEN – H IERARCHIEN UND M ACHT INNERHALB DER D ÖRFER 4.4.1 Die MigrantInnen „Die MigrantInnen“ nehmen als Gruppe sowohl in der Dorfgemeinschaft als auch im politischen Feld eine besondere Position ein. Dabei existieren ganz unterschiedliche Selbst- und Fremdwahrnehmungen ihrer Position, ihres Auftretens und ihrer Bedeutung in ökonomischer Hinsicht, aber auch für die interne Organisation der Dorfgemeinschaften und politische Aushandlungen. Die Gruppe der MigrantInnen ist eine Identifikationskategorie, welche die interne Differenzierung der Comunidad verstärkt hat, aber nur situativ und kontextabhängig relevant wird. MigrantInnen unterscheiden sich nur in einem Merkmal von den übrigen DörflerInnen und werden ansonsten als Teil ihrer Familien oder der Wir-Gruppe Dorfgemeinschaft wahrgenommen. So wirkt es bei Gesprächen in den Orten zunächst auch so, als ob es keine Trennung gäbe. Schließlich ist diese gemeinsame Bestätigung der Zugehörigkeit zur gleichen Gemeinschaft eine grundlegende Voraussetzung für die Existenz der transnationalen Dimension der Comunidades. Die Unterscheidung zwischen der Gruppe der MigrantInnen und „den Anderen“ wurde während meiner Forschung immer erst unter bestimmten Voraussetzungen gemacht. Meist geschah dies in der Dorfversammlung oder in Gesprächen über konkrete Streitpunkte mit „den MigrantInnen“, in Interviews mit MigrantInnen selbst sowie in Diskussionen über die Position des Dorfes in der Lokalpolitik. Es wird allerdings nicht jedes Mitglied der Dorfgemeinschaft, das migriert ist, als ein Migrant bzw. eine Migrantin wahrgenommen.18 Vielmehr bezieht sich diese Bezeichnung auf die Migration in die USA und umfasst vier unterschiedliche Typen von MigrantInnen. Zunächst diejenigen, die in der Vergangenheit in den USA gelebt haben, zurückgekehrt sind, seit Längerem wieder im Dorf leben und zunächst keine weitere Reise planen. Dies trifft auf viele Frauen zu. Ein zweiter Typ sind MigrantInnen, die vor Kurzem zurückgekehrt sind, deren Rückkehr also noch sehr präsent ist. Von diesen wird angenommen, dass sie möglicherweise in absehbarer Zeit wieder in die USA gehen. Dies überschneidet sich mit dem dritten Typ, der für kürzere Zeit, bis zu einem Jahr, im Ort ist oder bei dem die Allgemeinheit aufgrund der bisherigen Migrationen davon ausgeht, dass er früher oder später wieder in die USA geht. Dazu gehören sowohl diejenigen, die für einige Wochen bis Monate zu Besuch in den Ort kommen, oft aus Anlass der (lokalen) Fest- und Feiertage, und danach in die USA

18 Wobei grundsätzlich immer von „los Migrantes“, also den Migranten und nie von Migrantinnen gesprochen wird. Es werden immer die Männer als aktiver Part in der Gruppe betrachtet.

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zurückkehren, als auch MigrantInnen, die eigentlich planen in Mexiko zu bleiben und versuchen, dort eine ökonomische Perspektive aufzubauen, dann aber aus unterschiedlichen Gründen doch wieder in die USA migrieren. Die vierte und letzte Kategorie bilden MigrantInnen, von denen angenommen wird, dass sie in den USA bleiben werden. In der Regel sind sie bereits seit Jahren nicht mehr in den Heimatort zurückgekehrt. Sie werden weiterhin als Teil der Gemeinschaft betrachtet, es wird jedoch allgemein akzeptiert, dass sie sich in allen organisatorischen Belangen von der Dorfgemeinschaft abgelöst haben. Auch wenn sie nie formal von ihrem Bürgerschaftsstatus zurückgetreten sind, zahlen sie weder Beiträge noch gleichen sie ihre Faenas aus und haben sich weitgehend von der Dorfgemeisnchaft entfremdet. Es handelt sich vorwiegend um jüngere Männer und Frauen, die in Begleitung älterer Familienmitglieder migriert sind und sich mittlerweile ein relativ stabiles Leben mit fester Arbeit und eigener Familie in den USA aufgebaut haben, obwohl sie in fast allen Fällen weiterhin über keine legale Aufenthalts- bzw. Arbeitserlaubnis verfügen. Auch wenn diese Kategorien nicht ganz sauber zu trennen sind, wird doch sichtbar, welche Vielfalt von Migrationsmustern innerhalb der Dörfer besteht. Zudem lässt sich so zeigen, welche Typen von MigrantInnen und damit Migrationserfahrungen in welcher Situation von Bedeutung sind. In den Dorfgemeinschaften bezieht sich der Ausdruck los Migrantes oder los Norteños meist auf MigrantInnen des zweiten und dritten Typs, denn sie sind diejenigen, deren Migration noch allgemein präsent ist. Oft haben sie auch die größten Probleme, sich wieder in den Alltag des dörflichen Lebens einzufügen. Insbesondere beim zweiten Typ entsteht zudem in der Gemeinschaft schnell der Eindruck, dass sie nur für einen kurzen Zeitraum kommen und sich nicht richtig in Projekte einbringen, sondern lediglich die Entscheidungen der Gemeinschaft anzweifeln und kritisieren. Dieses Stereotyp besagt weiter, dass sie vorwiegend an den Festen im Ort interessiert sind und dabei Unruhe stiften, indem sie z.B. öffentlichen Alkoholkonsum fördern. Auch der dritte Typ wird in den Dörfern sehr kritisch gesehen. Meinen Beobachtungen zufolge entstehen hier die stärksten Brüche mit dem Rest der Dorfgemeinschaft. Während MigrantInnen, die im Ort zu Besuch sind, nach einiger Zeit wieder gehen und sich die Auseinandersetzungen mit ihnen dann erledigen, führt der Versuch von MigrantInnen des dritten Typs, wieder dauerhaft im Dorf zu leben, zu einer Vielzahl von spannungsgeladenen Situationen, die zu konfliktiven Aushandlungsprozessen führen. Die rückkehrenden MigrantInnen sind das Leben im Dorf nicht mehr gewohnt und fühlen sich daher einem gewissen Druck der Gemeinschaft ausgesetzt. Gleichzeitig versuchen sie sich für ihre Familien und deren Anliegen einzusetzen, in der Annahme, dass diese aufgrund ihrer Abwesenheit nicht angemessen berücksichtigt wurden. Da hier offensichtlich Schuldgefühle bestehen, entsteht ein sehr großer Druck, der zunächst die Situation verschärft. Die MigrantInnen, die sich unverstanden fühlen und Vorstellungen der Organisation des Zusammenlebens aus den USA mitbringen, werden von den übrigen BewohnerInnen des Dorfes oft als arrogant und

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besserwisserisch wahrgenommen, als Personen, die die Arbeit der Gemeinschaft nicht wertschätzen und unberechtigterweise kritisieren. Oft liegt dem tatsächlich der Wunsch der MigrantInnen zugrunde, die Arbeit in der Dorfgemeinschaft anders, meist effizienter, zu gestalten oder neue Ideen und Sichtweisen in die Organisation oder einzelne Projekte einzubringen. Die MigrantInnen selbst verstehen sich dagegen in allen Bereichen als wichtige Stütze der Dorfgemeinschaft. Sie beschreiben sich selbst als Opfer ökonomischer Zwänge und der Perspektivlosigkeit in Mexiko und schildern die Mühen der Grenzüberschreitung und des Lebens und Arbeitens in den USA. Daraus speist sich eine heroische Selbstdarstellung, da sie all diese Hindernisse überwinden und Gefahren und Mühen auf sich nehmen, um ihre Familien und damit auch die Dorfgemeinschaft zu unterstützen. Diese Aktivitäten sehen sie als gerade in ökonomischer Hinsicht unerlässlich für den Fortbestand der Gemeinschaft an. Daneben mehrt sich bei jüngeren MigrantInnen und bei denen, die schon lange in den USA leben, die Ansicht, dass sich die Dorfgemeinschaft verändern müsse, um fortbestehen zu können und das Potenzial ihrer Mitglieder zu nutzen. Sich selbst sehen sie dabei als Mittler neuer Ideen und Vorstellungen bzw. einer anderen Lebensweise. Dies geht allerdings bisher nicht so weit, dass sie aktiv versuchen, die Organisation und das Leben in ihren Dörfern grundlegend zu verändern. Daher kann in meinen Fällen eigentlich auch nicht von einer politischen Transnationalisierung im engeren Sinn gesprochen werden. Es muss nämlich beachtet werden, dass zwar die dörfliche Selbstorganisation an die Situation angepasst und die Dorfgemeinschaft transnationalisiert wird, die Positionen und Machtbeziehungen der Akteure aber ungleich bleiben. Die MigrantInnen werden zwar in Diskursen und der sozialen Praxis eingebunden, haben aber in internen Entscheidungsprozessen nur eine marginale Position, da sämtliche Institutionen im Dorf verbleiben, womit das Machtzentrum der Gemeinschaft dort verortet ist. Außerhalb der Dorfgemeinschaft existieren noch andere Bewertungen von Migration und MigrantInnen. So finden sich immer wieder politische, öffentliche und akademische Diskurse, die von Vorstellungen von MigrantInnen als „den Armen“ oder sogar „den Ärmsten der Armen“ durchzogen sind. Teilweise beruht dies auf einer mangelnden Kenntnis der Situation, oft aber auch auf politischem Kalkül. Denn einerseits kann so der Regierung vorgeworfen werden, nicht genug für die Menschen im Bundesstaat zu tun, sodass diese migrieren müssen. Andererseits versucht die Regierungsseite Projekte für und mit MigrantInnen öffentlichkeitswirksam zu präsentieren, da sie als Hilfe und Einsatz für den bedürftigsten Teil der Bevölkerung dargestellt werden können. Dazu passt, dass MigrantInnen und Indigene oft gleichgesetzt werden. So existierte in der Gemeindeverwaltung Ixmiquilpans eine Abteilung für Indigene und Migranten, was vom Amtsleiter so erklärt wurde: „Ja, wir sind für beides zuständig, denn alle Migranten sind Indigene“ [Don Lázaro]. Dies zeigt zum einen die Vorstellung, dass im Valle del Mezquital nur Indigene migrieren und zum anderen deutet die fast synonyme Verwendung der Begriffe darauf hin, dass sich in

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der Wahrnehmung vieler Außenstehender die beiden für Armut stehenden Kategorien einfach vermischen. Gerade viele Politiker und Angestellte in Gemeindeverwaltungen sprechen von den MigrantInnen als einer passiven Gruppe, als Opfer der ökonomischen Verhältnisse, die sich nicht selbst aus ihrer als misslich verstandenen Lage befreien können. Dadurch werden absurderweise die Strategien der MigrantInnen entwertet und ihre eigenständigen Aktivitäten sowie ihr ökonomischer, sozialer und kultureller Beitrag zu den Entwicklungen in der Region ignoriert. Stattdessen stellten sich bei den politischen Veranstaltungen, die ich beobachtete, Politiker aller Richtungen als die einzigen Akteure dar, die den MigrantInnen helfen können. Diese Verkennung der Realität bleibt meist ohne Widerspruch, was in der Logik der politischen Aushandlung in der Region begründet ist. 4.4.2 Geschlechterverhältnisse in der (transnationalisierten) Dorfgemeinschaft Aufgrund der analysierten Organisationsform und insbesondere der lokalen Konzeptualisierung der Bürgerschaft als männliche Institution, durch die der gesamte Bereich der dörflichen Organisation als männlich belegt ist, sind Frauen die größte Gruppe, die formal kaum Möglichkeiten zur Teilhabe an den internen Entscheidungsprozessen in der Gemeinschaft hat. Paradoxerweise wird Transnationalität in den von mir untersuchten Fällen grundlegend durch Aktivitäten von Frauen aufrechterhalten. Aufgrund meiner Analysen gehe ich davon aus, dass dies ein allgemeineres Phänomen bei der Konstruktion von transnationalen sozialen Räumen ist, was durch andere Studien bestätigt wird (Goldring 2001). Denn auch wenn sich in Migrationsstudien teilweise das wissenschaftstheoretische Phänomen einer Blindheit gegenüber Frauen und insbesondere Geschlechterverhältnissen in Migrationsprozessen hält, existiert doch eine Vielzahl von Studien, die auf die Bedeutung von Frauen in transnationalen Migrationsprozessen eingehen. Geschlechterverhältnisse haben eine entscheidende Bedeutung für die Art, in der Transnationalität als soziales Konstrukt interaktiv hergestellt wird. Gleichzeitig findet ein beschleunigter Wandel der Geschlechterverhältnisse durch die transnationale Migration statt, der längerfristig zu einer Veränderung der Geschlechterordnung führen kann. In den untersuchten Dorfgemeinschaften ist die Veränderung der Geschlechterverhältnisse ein langsamer, komplexer Prozess, der ganz unterschiedliche Entwicklungen umfasst.19 In vielen Fällen beruhen sie zunächst darauf, dass Frauen in der 19 Ein früher Anstoß wurde dabei in den 1970/80er Jahren auch von kirchlichen Akteuren gegeben, die sich an der Befreiungstheologie orientierten. Sie ermutigten bspw. Frauen dazu Kooperativen für die Vermarktung ihrer kunsthandwerklichen Produkte zu gründen, in denen sie dann erstmals auch Vertretungsaufgaben übernahmen und ein verändertes Selbstwertgefühl entwickelten [Doña Elena].

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männlich geprägten dörflichen Selbstorganisation männliche Verwandte vertreten mussten. Dadurch gewannen sie langsam Erfahrungen und Handlungsspielraum, um sich in dieser bisher von Männern dominierten Sphäre zu beteiligen. Dabei begannen viele Frauen in sozialen Räumen aktiv zu werden, zu denen sie zuvor keinen Zugang hatten. Nachdem sie gelernt hatten, wie Aushandlungen in diesen Arenen vor sich gehen, begann ein Teil, sich über ihre Vertreterinnenposition hinaus zu engagieren. Ein wichtiger Schritt dafür scheint gewesen zu sein, dass etliche Frauen vertretungsweise Ämter übernahmen und so weiterreichende Erfahrungen sammeln konnten. Denn in dieser Position wurden sie in die Arbeit der dörflichen Komitees, Aushandlungen mit der Gemeindeverwaltung und anderen staatlichen Institutionen eingebunden und gelangten in Kontakt mit der Lokalpolitik. Einige Frauen wurden sogar zu Dorfsprecherinnen oder Vorsitzenden von Komitees gewählt und mussten aktiv in ihrem Bereich verhandeln. Aufgrund dieser Erfahrungen und der erworbenen Kenntnisse waren sie meist nicht mehr bereit, nach Ablauf der Amtszeit in die ihnen zugeschriebenen weiblichen Positionen und Aufgabenbereiche zurückzukehren, sondern versuchten stattdessen, sich weiterhin aktiv in die dörfliche Organisation einzubringen. Einige wenige begannen sogar auf der kommunalen Ebene aktiv zu werden, sei es in der Parteipolitik oder in Nichtregierungsorganisationen. Dies kann jedoch nicht alleine auf die Transnationalität zurückgeführt werden, da andere Aspekte existieren, die mit der Transformation der Geschlechterverhältnisse zusammenhängen. Dazu gehören eine veränderte Position durch Bildung und die Ausübung formaler Tätigkeiten, z.B. als Lehrerin, sowie durch ein früheres Engagement in sozialen Bewegungen. Oft gab aber bereits die Erfahrung, längere Zeit nicht im Ort gewesen zu sein und eigenes Geld verdient zu haben, den Anstoß, sich nicht mehr in lokale Zuschreibungen zu fügen. Diese Aspekte haben gemeinsam mit dem durch Transnationalität geförderten Wandel dazu geführt, dass einige Frauen offenbar individuell dauerhaft größere Freiräume und eine veränderte Position erreichen konnten. Obwohl es für die Handlungsfähigkeit und den Fortbestand der Dorforganisation unerlässlich ist, dass sich Frauen an dieser beteiligen und eine aktive Teilhabe an Entscheidungsprozessen im Ort entwickeln, existieren doch viele Vorbehalte und Widerstände. Diese drücken sich oft in Vorurteilen gegenüber den Frauen aus. Sie würden in den Dorfversammlungen nicht verstehen, worum es gehe, würden klatschen und so die Versammlungen stören und wären zu schwach, um bei der Gemeinschaftsarbeit angemessen mitzuarbeiten. Grundsätzlich ist die Gemeinschaftsarbeit ein wichtiger Punkt, über den sehr oft gestritten wird. Dazu gehören Vorwürfe mangelhafter Arbeitsmoral, wenn es um Faenas geht. Sie sind eines der Hauptthemen in alltäglichen Gesprächen und meist geht es darum, wie andere DorfbewohnerInnen mitarbeiten oder eben nicht. Dabei wird ein Diskurs reproduziert, demzufolge viele sich nicht ordnungsgemäß beteiligen würden. Es gibt immer wieder Berichte darüber, dass manche zu spät kommen und/oder zu früh gehen und den fast klassischen Vor-

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wurf, dass einige TeilnehmerInnen kaum arbeiten, sondern sich vorwiegend unterhalten und zusehen. Dabei wird einerseits unterstellt, dass dies besonders bei den Frauen der Fall ist. Sie könnten nicht anständig arbeiten und würden sich daher lieber unterhalten statt zu arbeiten. Andererseits gibt es den etwas differenzierteren Vorwurf von Frauen gegenüber Männern, dass diese oft nicht mitarbeiten, sondern über die Arbeit diskutieren. Sie seien (vorgeblich) mit der Planung und der qualifizierten Ausführung beschäftigt, beteiligten sich aber nicht an der schwereren Arbeit. Dies konnte ich tatsächlich oft beobachten, denn es kommt häufig vor, dass einige Männer z.B. um ein Mauerwerk herumstehen und darüber debattieren, wie es am besten zu errichten sei. Dabei sind ein oder zwei als Maurer angestellt, aber die anderen äußern ebenfalls ihre Meinung. Es scheint wichtig zu sein zu zeigen, dass sie über qualifizierte Kenntnisse verfügen. Möglicherweise geht es darum, sich für zukünftige Aufträge zu präsentieren, eine gewisse Kontrolle auszuüben, damit die Arbeit vernünftig und ansehnlich wird, oder schlicht an der qualifizierten Arbeit teilnehmen zu wollen. Denn in der Zwischenzeit karren jüngere Faeneros und Frauen Sand und Steine heran, mischen den Mörtel an und verrichten die schwere, als unqualifiziert geltende Arbeit. Des Weiteren gibt es Konflikte, die sich auf bestimmte Frauen beziehen. Diese sind oder waren in der Regel Vertreterinnen ihrer Männer und hatten oft Posten inne. Sie werden oft als zu kritisch und streitsüchtig angesehen. Tatsächlich sind es aber einfach Frauen, die sich von den herrschenden Zuschreibungen gelöst haben und innerhalb der Gemeinschaft mit einer kritischen Haltung aktiv sind, also z.B. bestimmte Entscheidungen anzweifeln, Nachfragen stellen oder in manchen Belangen den Líderes widersprochen haben. Auch von anderen Frauen werden sie oft als überheblich angesehen, da sie gegen manche Aspekte der lokalen Normen verstoßen. Das lässt sie zwar nicht direkt unmoralisch erscheinen, aber doch unangepasst, was auch anderen Frauen nicht behagt. In diesen Fällen lässt sich eine gewisse Distanz zur Gemeinschaft beobachten, und diese Frauen scheinen sich alleine und fortwährend angegriffen zu fühlen. Zumindest ist dies in El Thonxi so, denn in Barranca Empinada verhält es sich etwas anders, auch wenn ähnliche Konflikte existieren. Dort wird die Gruppe aktiver Frauen beschuldigt, an der Spaltung schuld zu sein, da sie angeblich Konflikte schürten und zu aufmüpfig seien. Durch die Spaltung geschieht dies allerdings weniger innerhalb der gesamten Dorfgemeinschaft. So werden sie quasi zu einer dritten Gruppe, die sich freier orientiert, aber von beiden Seiten ähnliche Vorwürfe hört. Allerdings überlagert der generelle Konflikt diese Kritiken und beide Gruppen versuchen, sie auf ihre Seite zu ziehen, was ihre Position aufwertet. Auch in diesem Fall sind es Frauen, die dadurch eingeübt waren, dass sie ihre Männer vertreten (haben) und Posten innehatten. Im Gegensatz zu El Thonxi, wo es sich um einzelne Frauen handelt, kommt ihnen aber zugute, dass es sich um eine relativ große untereinander gut vernetzte Gruppe handelt, die als geschlossene Einheit wahrgenommen wird. Dazu trägt bei, dass sie auch in anderen Kontexten wie bspw. einer Kooperative zusammenarbeiten.

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Gerade den aktivsten Frauen wird also vorgeworfen, sie hätten zu viel Konfliktpotential und wüssten sich nicht an die Regeln des Umgangs zu halten. Während meiner Feldforschungen konnte ich feststellen, dass meist gerade das Gegenteil der Fall ist. So spiegeln solche Vorwürfe eher das Unbehagen vieler Männer wider und hängen mit einem neotraditionalistischen Diskurs zusammen, der von den Anführern der Gemeinschaft propagiert wird. Diese versuchen ein Idealbild des Dorfes zu zeichnen, indem sie eine vorgebliche Tradition konstruieren. In diesem Bild ist die Dorfgemeinschaft geeint, es gibt keine Streitigkeiten und die Geschicke des Dorfes werden durch die fähigsten und qualifiziertesten Personen zum Wohle aller bestimmt. Letztere Position schreiben sie selbstverständlich sich selbst zu, woran deutlich wird, dass sie um den Erhalt ihrer Machtposition im Ort besorgt sind und diese in gewissem Maße durch die Teilhabe der Frauen bedroht sehen. Praktische Folgen dieses Diskurses waren Versuche eines Delegados in El Thonxi, nur den Ciudadanos das Recht zuzugestehen, in der Dorfversammlung zu sprechen. Er versuchte also, es den Vertreterinnen abzusprechen und darüber hinaus die Teilnahme von Frauen an der Gemeinschaftsarbeit zu verbieten. Beides konnte er nicht durchsetzen, da die Frauen im ersten Fall auf das Recht zu sprechen bestanden und im zweiten Fall allen klar war, dass die Dorfgemeinschaft keine Projekte mehr hätte verwirklichen können. In der Analyse der Geschlechterverhältnisse muss aber schließlich auch beachtet werden, dass die Dorfgemeinschaft neben ihrer Funktion als Organisations- und Vertretungseinheit auch eine Instanz sozialer Kontrolle ist. Dies trifft vor allem auf die Kontrolle von Frauen zu, insbesondere der Ehefrauen von Migranten, die in den USA sind. Dies spiegelt sich in dem mexikanischen Sprichwort „Pueblo chico - Infierno grande“ (Kleines Dorf - Große Hölle) wider. Dies trifft auch auf die Comunidad in ihrer transnationalen Ausprägung zu, wo ein großer Teil der Kommunikation mit der Aufrechterhaltung der sozialen Kontrolle, bspw. mittels der Verbreitung von Gerüchten, zusammenhängt (vgl. Dreby 2009). Dies behindert in vielen Fällen das Engagement von Frauen im Bereich der Organisation, besonders dann, wenn es Aktivitäten impliziert, die außerhalb des Ortes stattfinden müssen. Umso erstaunlicher ist es, wenn es Frauen schaffen, aus den lokalen Zuschreibungen auszubrechen.

4.5 L ÍDERES AN DEN I NTERFACES VON D ORFGEMEINSCHAFT UND „AUSSENWELT “ Auch wenn direkte Interaktionen zwischen DörflerInnen und Akteuren auf höheren Ebenen existieren, sind doch meist Líderes und Autoridades als Vertreter der Dorfgemeinschaft Hauptakteure in den entsprechenden Encounters at the Interface (Long 1989). Im Folgenden werde ich ihre Position innerhalb der Gemeinschaft und in Interaktionen mit externen Akteuren wie Parteipolitikern oder Vertretern des Staates

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analysieren. Dazu werde ich mich auf die zwei wichtigsten Typen von Líderes konzentrieren. Dies sind die Maestros Bilingües und die sogenannten Licenciados. In beiden Fällen ist es so, dass die Líderes fast durchweg männlich sind, denn auch wenn es bspw. viele Lehrerinnen gibt, wurde dieser Status in den von mir untersuchten Gemeinschaften ausschließlich Männern zugesprochen. Frauen agieren zwar auch in der Art von Líderes, aber ihr Liderazgo bezieht sich eher auf Gruppen von Frauen und nicht auf die Comunidad als Ganzes.20 Maestros Bilingües und Licenciados ähneln sich als Gruppen in vielen Aspekten, weisen aber auch bedeutende Unterschiede auf. Die Licenciados sind die neueste Generation von Líderes, während die Lehrer zur vorangegangenen Generation gehören, was sich in ihren Haltungen, Sichtweisen und Handlungslogiken widerspiegelt. Bevor die Maestros Bilingües zu Líderes wurden, hatten andere Akteure die Anführerschaft ausgeübt. Oft waren es besonders erfahrene Personen, sei es im Umgang mit Problemen in der Gemeinschaft oder der Interaktion mit externen Akteuren, oder Bürger, die sich besonders für die Gemeinschaft eingesetzt hatten. Diese Personen genießen, wie z.B. Don José, meist immer noch einen guten Ruf. Ihre Meinung und Erfahrung wird respektiert und ihr Wort hat ein gewisses Gewicht, aber die Zeiten ihres Liderazgos sind definitiv vorbei, sodass sie sich eher zurückziehen. Líderes haben meist die Position von Maklern zwischen der Gemeinschaft und der „Außenwelt“ inne, da sie nicht nur in ihrem Namen verhandeln, sondern auch äußere Einflüsse in die Gemeinschaft vermitteln. Je nach spezifischem Hintergrund können sie als organische Intellektuelle der Dorfgemeinschaften verstanden werden (Gramsci 1996, 1502), wobei einschränkend beachtet werden muss, dass die neueren Generationen von Líderes einen Großteil ihrer Bildung außerhalb der Gemeinschaften erworben haben. Damit beruht ihr Status neben anderen Kenntnissen und Fähigkeiten auch auf externen Bildungsabschlüssen, also staatlich sanktioniertem Wissen. So ist das Konzept der Líderes ursprünglich sehr positiv belegt. Es sollten Personen sein, die ihre Dorfgemeinschaft oder eine andere Gruppe durch ihr Beispiel inspirieren und anführen, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse zum Wohle aller einsetzen und die Gemeinschaft repräsentieren, ohne sich eigene Vorteile zu verschaffen. Sie sollten Erste unter Gleichen sein und ihre Stellung im allgemeinen Konsens erhalten. Daher ist ihre Position relativ gefestigt und muss nicht fortwährend bestätigt werden. Allerdings übernehmen sie auf Grundlage ihrer Qualifikation oft Ämter in der Gemeinschaft und werden somit zu gewählten Autoridades. Ihre Position hängt jedoch nicht davon ab, denn selbst wenn sie keinen Posten bekleiden, beraten sie Amtsinhaber und beeinflussen damit die Geschicke der Comunidad. Zudem wird sogar erwartet, dass sie die Dorfgemeinschaft weiter vertreten, obwohl dies formal nur dem Delegado zufällt. Sie sollen über ihre Verbindungen, insbesondere politische, für die

20 Daher werde ich in diesem Zusammenhang in der Regel die männliche Form verwenden.

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Gemeinschaft eintreten. Somit verfügen sie über eine bedeutende Machtstellung, zumindest solange sie als Líderes akzeptiert werden. Denn es ist sehr wohl möglich, diese Position mit der Zeit zu verlieren. Durch unangemessenes Verhalten kann die Akzeptanz durch die Gemeinschaft in einem schleichenden Prozess schwinden. Denn ein Líder kann kein solcher sein, wenn ihm niemand folgt oder ihm die erforderliche moralische Integrität abgesprochen wird. 4.5.1 Maestros Bilingües – die zwiespältige Position der klassischen Líderes Lehrer galten lange als Elite der Region, da sie als die einzigen formal gebildeten Personen in den Dörfern über ein besonderes Ansehen verfügten. Eine ähnliche Position hatten nur örtliche Priester, die aber weder offiziell politisch aktiv werden konnten21 noch so präsent waren wie die Lehrer, die in der Regel Bürger der Gemeinschaften sind. Es wurde davon ausgegangen, dass sie als gebildete Menschen („Gente Educada“) erkennen konnten, was den Dörfern fehlte und wussten, wie diese Mängel zu beseitigen seien. So wurden sie als mögliche Anführer gesehen, die den Fortschritt ihrer Dörfer garantieren konnten. Auch wenn sich diese Sichtweise gewandelt hat, wird weiterhin auf die Vorstellung von der gebildeten Person Bezug genommen. Dieses soziale Konstrukt ist sehr relevant und spiegelt die Bedeutung wider, die Bildung in den Dörfern zugemessen wird. Allerdings wird es jetzt oft als Vorwurf gegen die Líderes gewandt, bspw. in Form von Kommentaren wie „eine gebildete Person sollte sich nicht so verhalten/ sollte es besser wissen“ oder als direkter Vorwurf „und die wollen gebildete Menschen sein“.22 Sie haben nämlich stark an Ansehen eingebüßt und obwohl sie sich selbst weiterhin als Líderes der Dorfgemeinschaft betrachten, wird das nicht mehr uneingeschränkt unterstützt. So hat sich die ursprünglich positive Vorstellung verändert und die Bezeichnung Líderes wird kritisch oder sogar spöttisch gebraucht. „Und die wollen Líderes sein!“, „sie sagen, sie wären Líderes“ und „diese Líderes ...“23 sind häufige Aussagen in Gesprächen. Dies zeigt den deutlichen Widerspruch zwischen dem Idealbild der Líderes und der Art, in der sie wahrgenommen werden. Zudem sollen sie moralische Vorbilder sein, so dass davon abweichendes Verhalten kritisiert wird und zu einem Ansehensverlust der Líderes insgesamt führt. Dies konnte ich in einem Fall in El Thonxi beobachten, im Rahmen der weiter unten analysierten Wahlkampfveranstaltung. Dort versuchte Teofilo als einer der Líderes 21 Dies ist ein Erbe der Auseinandersetzungen des postrevolutionären Staates mit den Christeros (s. Kap 1.2.2). 22 Dabei ist zu beachten, dass das im Spanischen benutzte Wort „educado“ nicht nur gebildet bedeutet, sondern auch gut erzogen. Diese Konnotation schwingt immer mit, sodass die Aussagen auch auf das Benehmen der entsprechenden Personen anspielen. 23 „Y estos quieren ser Líderes!“, „Dicen que son Líderes.“ und „Estos Líderes ...“.

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von El Thonxi aufzutreten, um einerseits als PRI-Mitglied die Verhandlungsposition der Dorfgemeinschaft zu stärken und andererseits die eigene Position innerhalb der Partei zu stärken. Eine Gruppe von Frauen kommentierte jedoch: „Der ist doch gar nicht von hier. Der soll zu seiner anderen Frau gehen!“ Dies wurde von anderen Frauen mit viel Zustimmung quittiert. Teofilo lebte nämlich bereits seit einigen Jahren nicht mehr in El Thonxi. Er lebt mit einer anderen Frau und Familie in einem anderen Dorf und ist seitdem vorwiegend dort. Dadurch hat er den Respekt dieser Frauen in El Thonxi verloren und sich als Vertreter disqualifiziert. Der politische Werdegang dieses Typs von Líderes war fast immer mit einer sehr frühen Heranführung an die PRI bzw. ihre Jugendorganisation verbunden. Die Mitarbeit in diesen Parteiorganisationen begann vielen Lehrern zufolge aus dem Wunsch heraus, sich in die Politik einzubringen und etwas für ihr Dorf und „ihre Leute“ (nuestra gente) zu erreichen [Goyo; Juan]. Die Werber scheinen bewusst diese Aspekte in den Vordergrund gestellt zu haben, um die neue Bildungselite zu erreichen und an sich zu binden. Denn sie hatten ihren Beruf auch gewählt, um die Situation ihrer Gemeinschaften zu verbessern. In der Partei wurde dann die Sichtweise gefestigt, dass Politik nur über PRI-Strukturen stattfinden kann und gute Kontakte essenziell sind, um etwas für das eigene Dorf erreichen zu können, sei es in Form von Projekten, Stipendien oder finanziellen und materiellen Zuweisungen. Dabei standen oft bildungsbezogene Aktivitäten im Vordergrund, die von den Lehrern besonders unterstützt und geschätzt wurden, da aus ihrer Perspektive eine gute Ausbildung grundlegend für die Entwicklung der Dörfer ist. So gab es neben ökonomischen und Infrastrukturprojekten solche wie den Bau und später Ausbau von Schulen, Stipendienprogramme, die Unterstützung von schulischen Wettbewerben, den Bau von Bibliotheken u. Ä. Dieser Prozess scheint sich in ähnlicher Form in der ganzen Region und allgemein in den ländlichen Gebieten Mexikos abgespielt zu haben. Aber auch in ihrem alltäglichen Leben zeigt sich, welche Bedeutung sie persönlich der Aufgabe zumessen, das Bildungsniveau in den Dörfern zu steigern. So motivieren sie jüngere Verwandte zum Abschluss des Schulbesuchs und unterstützen sie bei der Aufnahme eines Studiums, so wie sie versuchen, andere DorfbewohnerInnen zu Investitionen in die eigene Bildung bzw. die ihrer Kinder zu ermutigen. Auffällig ist auch, dass sie selbst relativ bescheiden leben. Dies kann zwar u.a. auf die geringe Beteiligung an Migrationsprozessen zurückgeführt werden, aber auch dies ist ein Ausdruck der Bildungsorientierung dieser Gruppe. Zwar migrieren viele Lehrer, dies geschieht jedoch meist mit einem konkreten Ziel, der Aufenthalt in den USA ist verhältnismäßig kurz und es findet eine definitive Rückkehr statt. All dies ist eher ungewöhnlich für lokale Migrationsmuster (vgl. Kap. 3.2.2). Somit ist Migration zwar oft Teil ökonomischer Strategien von LehrerInnen, grundsätzlich setzen sie jedoch stärker auf ihre Bildung als Ressource. Eine Perspektive, die sie MigrantInnen zu vermitteln versuchen, damit sie Remissen in die Ausbildung ihrer Familienangehörigen investieren.

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Dieser Primat der Bildung beruht auch auf Erfahrungen mit Vorurteilen über Indigene und Landbewohner als „dumme Indios“ oder „die, die in den Bergen wohnen“ (im Sinne von Hinterwäldlern). Entsprechende Erlebnisse sind weit verbreitet und wurden mir oft als Geschichten aus der Kindheit oder Jugend berichtet. Bei den LehrerInnen muss dies zudem eine prägende Erfahrung während ihrer Ausbildung gewesen sein. Denn sie wurden aus den Dörfern rekrutiert und zu Maestros Bilingües ausgebildet, um als Mittler zwischen der mexikanischen Gesellschaft und den Dorfgemeinschaften zu fungieren. Aufgrund ihrer Herkunft wurde angenommen, dass sie lokal angepasst waren. Sie sollten im bilingualen indigen(istisch)en Schulsystem indigene Sprachen lehren, gleichzeitig zielte ihr Einsatz aber darauf ab, die indigene Bevölkerung durch Bildung in ihrer indigenen Sprache kulturell zu beeinflussen und letztlich in die mexikanische Gesellschaft zu assimilieren. Dadurch sollte die vorgebliche Marginalität und Isolation der indigenen Völker in Mexiko überwunden werden. Ein gutes Bildungsniveau wird als Grundlage für die Überwindung der Stigmatisierung Indigener und eine erfolgreiche Integration in die mexikanische Gesellschaft gesehen. Vielleicht kann sogar vom Versuch der Überwindung eines kollektiven Komplexes gesprochen werden, indem versucht wird, die Dorfgemeinschaften weitestgehend der übrigen mexikanischen Gesellschaft anzupassen. Dieses Bildungssystem für Indigene ist der konkreteste und weitreichendste Ausdruck des Indigenismo in der Praxis. Der Fokus der LehrerInnen auf Bildung und Fortschritt ist daher nicht nur berufsbedingt, sondern beruht auch auf der besonderen Situation in der sie sich persönlich befinden. Sowohl in ihrer Ausbildung als auch ihrer Stellung in den Dorfgemeinschaften ist ein großer Zwiespalt angelegt. Sie leben zwischen zwei Welten mit unterschiedlichen kulturellen Logiken und versuchen fortwährend zwischen diesen zu vermitteln. Selbst sind sie aber in keiner der beiden wirklich heimisch. Und letztlich ist es die Aufgabe der Maestros Bilingües, die Welt aus der sie ursprünglich stammen abzuschaffen. Durch dieses „Integrationskonzept“ gerieten die LehrerInnen also selbst in eine zwiespältige Position, denn einerseits ist es ihre (auch persönliche) Mission, Bildung und Fortschritt in die Dörfer zu bringen, um die Situation der EinwohnerInnen zu verbessern. Andererseits gelten sie als VertreterInnen der Dorfgemeinschaften, die sich mit den für die Gemeinschaften relevanten Sphären der mexikanischen Gesellschaft, insbesondere der Politik, dem Verwaltungs- und dem Rechtssystem, auskennen. Sie können einschätzen, wie wichtige Ansprechpartner denken, wie Anträge gestellt werden, welche Sprache gesprochen werden muss etc.. Daher sollen sie einerseits die Interessen der Gemeinschaft vertreten und verteidigen, diese aber andererseits nach den Vorgaben des mexikanischen Staates und seines Bildungssystems umformen. Dieses Dilemma macht den Kern der problematischen, spannungsgeladenen Position der Maestros Bilingües in ihren Dorfgemeinschaften aus. Sie haben sich von der Gemeinschaft (kulturell) entfremdet und ihr Auftreten wird im Dorf oft als arro-

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gant wahrgenommen, während ihnen gleichzeitig Versagen in ihren Vertretungsaufgaben vorgeworfen wird. So können sie ihrem eigenen Anspruch kaum gerecht werden. Verschärft wird dies dadurch, dass ein Großteil der ersten Generation von Maestros Bilingües auf die Strategie parteipolitischer Betätigung setzt, um ihren Dorfgemeinschaften eine gewisse politische Teilhabe zu verschaffen. Dadurch wurden sie für viele zu Komplizen und Repräsentanten der klientelistisch geprägten und oft korrupten Politik des PRI-Systems. In der Folge wird ihnen oft vorgeworfen, im Stile der „Políticos“ selbst auch nur auf den eigenen Vorteil aus zu sein. Diese Líderes scheinen aber mittlerweile in meinem Feld immer seltener diese Parteistrukturen als einzige erfolgversprechende Arena für politische Aktivitäten zu sehen, insbesondere nach den verlorenen Kommunalwahlen. Viele Lehrer traten aus der PRI aus und schlossen sich der neugegründeten Nueva Alianza an (s. Kap. 6.4). Dies war offenbar Teil eines landesweiten Prozesses, für den neben der eigenen Enttäuschung sicher auch der Versuch ausschlaggebend war, mit den Vorwürfen der Dorfgemeinschaften umzugehen, sowie nicht den Übergang in die neuen Netzwerke zu verpassen. Umgekehrt wird in Kommentaren der Lehrergruppe häufig der Vorwurf angedeutet, die anderen DorfbewohnerInnen, besonders die kritischeren, verstünden die Situation und Erfordernisse bzw. Zwänge politischer Betätigung nicht. Oft wird dieses angebliche Nichtverstehen auch explizit verwandt, um Personen zu disqualifizieren. Es entspricht aber der Sichtweise der Lehrer, die ihr Wissen über politische Aushandlungsformen für unverzichtbar halten. Sie sehen sich als Experten, haben aber gleichzeitig den Eindruck, dass die DorfbewohnerInnen ihren Wissensvorsprung nicht mehr anerkennen wollen. Daher würden diese abwegige Vorschläge machen, unangemessene Forderungen aufstellen etc. Andere Akteure umschreiben diese kritischen Positionen als „la gente despertó“ (die Leute sind aufgewacht). Ein Ausdruck, der sich darüber hinaus auf die Einschätzung bezieht, dass sich die BürgerInnen nicht mehr so leicht politisch manipulieren lassen, wie es früher der Fall gewesen sei. Dieses Wissensinterface ist eine zentrale Dimension der Aushandlungsprozesse zwischen Líderes und anderen DorfbewohnerInnen. Die Zuschreibung von formalem Wissen ist in Kombination mit der Abwertung lokalen Wissens als inkorrektem oder irrelevantem Wissen ein zentrales Element für die Positionierung innerhalb des Machtgefüges der Comunidad. Dies erklärt auch die ablehnende Haltung vieler Viejitos (älterer Dörfler) gegenüber der „neuen“ Art der Organisation und Führung der Dorfgemeinschaft. Ihr Wissen wurde entwertet und wird nicht mehr berücksichtigt. Obwohl die (ehemals) PRI-orientierten Lehrer die größte Gruppe und wie beschrieben einen besonderen Typ politisch aktiver Lehrer bilden, der für den Erhalt des politischen Systems wichtig ist, engagieren sich etliche Lehrer auch in anderen Parteien. Der „Bildungsbonus“ ermöglicht ihnen weiterhin eine höhere Akzeptanz unter den WählerInnen. Dies zeigt der Fall einer Kandidatin der PT für das Amt der Bürgermeisterin in Ixmiquilpan. Neben dem Bildungsstatus trägt auch die Position

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der LehrerInnen als eine Art öffentliche Persönlichkeit zu dieser Stellung in der Politik bei. Während sich allerdings die politisch aktiven gebildeten DorfbewohnerInnen in früheren Jahren quasi selbstverständlich der PRI anschlossen, hat sich dies gewandelt. Die neuen LehrerInnen und Profesionistas (s.u.), die im Gegensatz zu früheren Lehrergenerationen oft ein Hochschulstudium absolviert haben, verfügen über eine offenere politische Orientierung. Es wird in den Dörfern halb scherzhaft behauptet, dass alle, die eine Universität besuchen, dort zu Anhängern der PRD erzogen werden. In der Tat sympathisieren viele HochschulabsolventInnen mit dieser Partei, was die Bedeutung von Bildung in den aktuellen Prozessen politischen Wandels unterstreicht. Ein Unterschied zwischen Barranca Empinada und El Thonxi besteht darin, dass es aufgrund der Repressionserfahrungen in Barranca Empinada schon früh zu einer breiten Hinwendung zur PRD kam, an der auch Lehrer beteiligt waren. Die PRI-Anhänger werden von anderen Personengruppen gestellt. Allerdings hatten die Lehrer eine vergleichbare Position wie in El Thonxi, wenn auch eben mit anderer Parteizugehörigkeit. Mit der Zeit haben aber auch sie ihre privilegierte Position eingebüßt und finden sich jetzt zum Teil als wichtige Akteure des dorfinternen Konfliktes wieder, da sie für eine der beiden Gruppen weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt sind. So steht zu vermuten, dass sie durch ihr starkes Engagement im Konflikt dem Ansehensverlust partiell entgegenwirken können, während sie gleichzeitig ihren Konflikt mit den Licenciados als neuer Gruppe, die ihnen Anerkennung entzieht, austragen. Am Interface zwischen beiden Gruppen findet nicht zuletzt ein Kampf um die Deutungshoheit in der Gemeinschaft statt, der im Rahmen der Spaltung ausgetragen wird. 4.5.2 Die Licenciados – die „modernisierte“ Variante der Líderes Nachdem die Gruppe der politisch aktiven Maestros Bilingües frühere Líderes verdrängte und heute den Hauptteil stellt, wird sie in manchen Dörfern selbst nach und nach abgelöst. Dies zeigt die Analyse von Positionierungen und Machtverhältnissen in Barranca Empinada, wo mit den sogenannten Licenciados ein neuer Typus politischer Akteure entstanden ist, die mittlerweile an die Stelle der Lehrer getreten sind. Ein Licenciado ist ursprünglich der Inhaber des niedrigsten akademischen Titels im mexikanischen Hochschulsystem, umgangssprachlich werden damit aber Absolventen eines juristischen Studiengangs bezeichnet, da dies die erste größere Gruppe von Hochschulabsolventen in der Region war. Licenciado ist also ein lokales Synonym für Jurist oder Anwalt. Allerdings geht die Bedeutung in den Dörfern über die reine Berufsbezeichnung hinaus und bezieht sich auch auf Charakteristika, welche dieser Gruppe kollektiv zugeschrieben werden. Dazu gehören positive Merkmale, aber im Alltag und in Gesprächen mit InformantInnen herrschen zunächst eher negative Konnotationen vor. Sie werden in der Regel auf ihren beruflichen Hintergrund bezogen,

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also darauf, dass sie als Juristen bspw. gewohnt seien Aussagen zu wenden, „einem das Wort im Mund umzudrehen“ oder „Rechtsverdreher“ sein können. Dazu gehören auch ihr Habitus und eine Art des Umgangs mit den Mitgliedern der Comunidad, die für den dörflichen Kontext eher ungewöhnlich ist. Dies bedeutet keineswegs, dass sich die Licenciados unangemessen verhalten oder sich bewusst von anderen DörflerInnen absetzen. In Barranca Empinada nehmen die meisten an der Gemeinschaftsarbeit teil und pflegen auf eine sehr normale Weise Umgang mit ihren Nachbarn. Allerdings gibt es immer wieder Situationen, in denen ein Unterschied deutlich wird, der sie für die übrigen DorfbewohnerInnen abgehoben und eben als typische Licenciados erscheinen lässt. Oft hörte ich Kommentare wie: „So sind sie, diese Licenciados“ oder „Diese Licenciados …“, begleitet von einem Kopfschütteln. Dies zeigt, wie bei den Maestros Bilingües, ein großes Misstrauen gegenüber den Eliten der Dörfer. Zwar ist die Position der Líderes sozial akzeptiert und sie werden benötigt, es existiert aber keine unbedingte Gefolgschaft. Stattdessen werden ihre Aktivitäten immer kritisch betrachtet. Insbesondere wird ihnen von DorfbewohnerInnen vorgeworfen, sie handelten nur aus Machtinteressen und würden die Gemeinschaft dabei ausnutzen. Gerade der Fall von Barranca Empinada zeigt, wie diese Skepsis interne Brüche verstärken kann, und so hat sich auch zu den Licenciados ein zwiespältiges Verhältnis entwickelt. Im Vergleich zu den LehrerInnen konnten sie jedoch einen höheren Status erreichen, da sie von dem propagierten Bildungs-Fokus profitierten. Während es immer mehr LehrerInnen gab, veränderten sich die Erfahrungen der DörflerInnen. In der Interaktion mit staatlichen Stellen und bei der Durchführung von Projekten kamen sie mit den Profesionistas in Kontakt und lernten deren Stellung und „Nutzen“ kennen. Gleichzeitig erwarben mehr und mehr SchülerInnen aus den Dörfern weiterführende Abschlüsse und die Perspektive universitärer Ausbildung verbreitete sich. Diese Art von Wissen wurde damit in den Dörfern präsenter und gewann an Wert. HochschulabsolventInnen verfügten damit nicht nur über ein formal höheres Bildungsniveau, sondern ihr Wissen erfuhr eine größere Anerkennung und wurde als relevant für den Fortschritt der Gemeinschaften angesehen. Es bestand die Vorstellung, dass sich damit eine neue Ressource eröffnete. Dies traf aus zwei Gründen besonders auf die Licenciados zu. Zum einen konnte ihr Wissen alltägliche Anwendung finden, denn Mitgliedern der Gemeinschaft konnte bei Rechtsstreitigkeiten geholfen und Einfluss auf Auseinandersetzungen mit anderen Dörfern, z.B. um Landrechte, genommen werden. Vor allem wurde es aber möglich, die eigenen Rechte gegenüber dem Staat zu verteidigen. Dies hob Auseinandersetzungen auf eine andere Ebene, die neutraler, kalkulierbar und damit fairer schien. Damit mag die Vorstellung verbunden gewesen sein, dass Konflikte nicht mehr durch Beziehungen gelöst werden mussten, sondern im Rahmen der Rechtsordnung „gerecht“ und unparteiisch beigelegt werden konnten. Zum anderen wurde von den Licenciados noch stärker als bei den Maestros

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Bilingües angenommen, dass sie die Sprache der politischen Führer, der Staatsbediensteten und der Berufspolitiker sprechen. Daher sollten sie die qualifizierteste Gruppe sein, um die Dorfgemeinschaft erfolgreich zu vertreten. Tatsächlich prägen sie Interfacesituationen anders als die übrigen dörflichen Akteure. Sie sind in der Lage, die Denkweise ihres Gegenübers in staatlichen Institutionen nachzuvollziehen und wissen, wie sie Anliegen der Gemeinschaft so vermitteln können, dass sie von staatlichen Funktionären verstanden werden. Zudem werden sie in bürokratischen und politischen Kontexten eher als gleichwertig und ebenbürtig angesehen. Die Handlungslogik und -rationalität der Licenciados wirkt in gewissem Sinne „moderner“ und „rationaler“, was ihrer Ausbildung entspricht. Gleichzeitig sind sie von der lokalen und regionalen Politik geprägt, in der sie sich seit Jahren engagieren. Die ständige Interaktion mit anderen Politikern hat dazu geführt, dass sie sich einen Großteil der politischen Spielregeln zu eigen gemacht haben. Dies bezieht sich allerdings nur auf die politische Sphäre in der Region, denn innerhalb der Dorfgemeinschaft agieren sie betont den lokalen Regeln entsprechend. Zudem versuchen sie grundsätzlich Probleme oder Konflikte unter Verweis auf die rechtliche Situation und juristische Verfahrensweisen „ordentlich, anständig und zivilisiert“ zu lösen. Diese Haltung beeinflusst auch ihre Bedeutung für die lokale Politik und dort ablaufende Aushandlungsprozesse. Durch ihre formalistische Art und mit der Akzeptanz politischer Spielregeln sind sie eine für andere Politiker leichter einzuschätzende Gruppe, mit der trotz aller Differenzen relativ risikofrei umgegangen werden kann. So treten Licenciados in der Regel weniger konfrontativ auf und lehnen Strategien wie Besetzungen und Demonstrationen eher ab, obwohl sie zu Zeiten ihrer politischen Sozialisation zum Handlungsrepertoire der Gemeinschaft gehörten. In ihrer Handlungsrationalität sind bürgerschaftlich-rechtliche statt klientelistischer oder kollektiv-aktionistischer Vorstellungen zentral: „Das sind Dinge von früher. Heute machen wir so etwas nicht mehr, sondern regeln alles friedlich und korrekt, damit wir respektiert werden“ [Sebastián]. Tatsächlich trifft diese Perspektive aber auch auf Grenzen. Denn zum einen ist das der Gemeinschaft zugeschriebene rebellische Potenzial weiterhin eine wichtige Grundlage für ihre Position in Aushandlungsprozessen mit kommunalen Politikern (s. Kap. 6.1.3) und zum anderen wird ihre Einstellung oft gar nicht von externen Akteuren wahrgenommen. Stattdessen werden Ereignisse in der Region auf Grundlage der gewohnten konfrontativen Logik interpretiert, wie das Beispiel des Kommandanten der Bundespolizei in der Region zeigt (s. Kap. 6.1.4). Die Haltung der Licenciados zeigt sich auch an sozialen Schnittstellen innerhalb der Dorfgemeinschaft und ihrer Vorstellung von der Comunidad. Sie führen einen Gleichheitsdiskurs und vertreten das Ideal egalitärer Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft. Dies ähnelt den romantisierenden Gemeinschaftsdiskursen der Lehrergruppe in El Thonxi, aber die Licenciados in Barranca Empinada bemühen sich meinen Beobachtungen zufolge tatsächlich darum, dass größere Teile der Gemeinschaft

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an Entscheidungsprozessen teilhaben und politisches Interesse (weiter-)entwickeln. So übernehmen sie bspw. viel seltener dörfliche Ämter, erfüllen aber sorgsam ihre Pflichten gegenüber der Gemeinschaft. Diese Gruppe hat ein großes Geschick im Umgang mit anderen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft, denn trotz der oben genannten Vorbehalte gelingt es ihnen, vielen DörflerInnen das Gefühl zu vermitteln, gleichberechtigt und gleich wichtig für die Gemeinschaft zu sein. Dies trifft auch auf die lokale Geschlechterordnung zu, viele Frauen nahmen ganz selbstverständlich an der dörflichen Selbstorganisation und politischen Prozessen inner- und außerhalb der Gemeinschaft teil. Der hohe Stellenwert von Gleichheit hängt in Barranca Empinada allerdings auch mit der besonderen Geschichte gemeinsamer Rebellion sowie der (früheren) Nähe zur PRD mit ihren linksliberalen Diskursen zusammen. Darin finden sich gerade die Licenciados wieder, die ihre Vorstellung von Gleichheit vor dem Recht und dem Staat nicht von der PRI realisiert sehen. Nichtsdestotrotz befördert die Haltung der Licenciados auch die interne Spaltung von Barranca Empinada. Denn mit ihrer Denkweise als „modernistische“ Gruppe können sich MigrantInnen, die sich in der US-amerikanischen Gesellschaft entsprechende Vorstellungen angeeignet haben, tendenziell eher identifizieren. Die „klassischere“ Denkweise der Lehrer stimmt hingegen eher mit jener der Kleinbauern überein. Dies ist zwar kein zwingendes Merkmal der Spaltung im Ort, denn auf jeder Seite finden sich Vertreter aller Gruppen, trotzdem spiegelt es in etwa die Bruchlinie der beiden PRD-Gruppierungen wider. Die Licenciados, aber auch andere Personen mit Hochschulabschluss, lösen also als relativ neue Gruppe von Líderes nach und nach die bilingualen Lehrer ab oder werden von diesen gleichberechtigt eingebunden. Letzteres ähnelt dem Umgang mit anderen potentiell kritischen Gruppen. Da diese Gruppe über teils deutlich unterschiedliche Handlungslogiken, Rationalitäten und Sichtweisen verfügt, die sich in ihrem abweichenden Stil zeigen, verändern sich Interfaces zwischen der Dorfgemeinschaft und externen institutionellen Akteuren. Gleichzeitig wandeln sich interne Aushandlungsprozesse, insbesondere aufgrund alternativer Vorstellungen von der Dorfgemeinschaft, von Möglichkeiten der Teilhabe und der dörflichen Organisation. Wie der Fall von Barranca Empinada zeigt, betrifft beides gerade politische Fragen und hat damit Auswirkungen auf ein ebenenübergreifendes Doing Democracy. So verdeutlicht die Analyse beider Arten von Líderes ihre große Bedeutung innerhalb der Gemeinschaft und besonders auch an deren Interfaces nach außen. Gemeinsam mit den Trägern dörflicher Ämter vertreten sie die Gemeinschaft auf Grundlage der ihnen zugeschriebenen Kenntnisse und Fähigkeiten nach außen und nehmen darüber hinaus die Position von Maklern ein. Über ihre diversen, oft politischen Aktivitäten vermitteln sie Sichtweisen, Normen, Werte, Ideen etc. aus der mexikanischen Gesellschaft in die Dorfgemeinschaft. Dies ist zwar auch bei anderen Mitgliedern der Comunidad der Fall, aber durch ihre Stellung haben die Líderes dabei ein stärkeres Gewicht, das möglicherweise nur von den MigrantInnen mit ihren sozialen

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Remissen (Levitt 1998; Levitt/Lamba-Nieves 2011) übertroffen wird. Sie sind also zentrale Akteure der Dorfgemeinschaft, die eine wichtige Arena für politische Aushandlungsprozesse ist, und das Fundament lokaler Politik und Verwaltung bildet (vgl. Kap. 5.4). Die Gemeinschaft wird so zu einem Raum, in dem verschiedene soziale Prozesse ablaufen und unterschiedliche externe Einflüsse angeeignet werden. Dies bietet auch die Chance Veränderungen, die aufgrund der Flexibilität und Dynamik der dörflichen Organisation möglich werden, über die Schnittstellen nach außen zu tragen. So können aus der Comunidad Prozesse des Wandels und darunter eben auch der Herstellung demokratischer Perspektiven auf andere Ebenen vermittelt werden. Dies findet oft über die Líderes als wichtige Verbindung nach außen statt, selbst wenn ihnen dies nicht unbedingt bewusst ist und sie auf den ersten Blick eher systemstabilisierend agieren. Zum Teil findet die Vermittlung des Wandels aber auch an anderen Interfaces statt.

5. Lokalpolitik: Die Dorfgemeinschaft als politische Arena

Es gab während meiner Feldforschung ein besonderes Ereignis, das mir ermöglichte einen zentralen politischen Prozess über einen längeren Zeitraum hinweg zu beobachten, was mir den Zugang zu vielen Aspekten der lokalen Politik eröffnete. Dabei handelt es sich um die Kommunalwahlen im Jahr 2005, die über einen gewissen Zeitraum hinweg den Rahmen für politische Betätigung bildeten. Diese Phase konnte ich dazu nutzen, einen Einstieg in diesen Bereich zu finden, denn politische Ansichten wurden offener geäußert und im öffentlichen Raum fand eine Reihe politischer Aktivitäten statt. Dadurch war es einfacher über „la Política“ zu sprechen bzw. Gespräche auf dieses Thema zu lenken. Zu anderen Zeiten verhält es sich nämlich so, dass Politik, außer bei bekanntermaßen involvierten Personen, eher im Hintergrund gehalten wird. Politische Ansichten werden dann vorwiegend im Privaten geäußert und diskutiert, während politische Betätigungen in festen Bahnen und klar deklarierten Bereichen stattfinden. Während dieser spezifischen Wahlkampagne kam es aber zu eher ungewöhnlichen Aktivitäten, deren Analyse mir einerseits wichtige Einblicke in aktuelle Prozesse und damit verknüpfte Handlungslogiken ermöglichte. Andererseits boten sie eine Grundlage auf die ich mich später in Gesprächen und Interviews beziehen konnte, denn da sie aus den gewohnten politischen Handlungen hervorstachen, waren sie den meisten Akteuren im Feld bekannt. Oft waren sie bereits aktuelles Diskussionsthema in alltäglichen Gesprächen. Eine der Besonderheiten war das starke Engagement der PRD-AnhängerInnen als Opposition im Wahlkampf und damit eine bisher wohl nicht gekannte offene politische Auseinandersetzung im öffentlichen Raum. Dies gipfelte schließlich in einem nur von wenigen erwarteten Wahlsieg der Opposition, einem Ereignis, das tatsächlich noch nie da gewesen war. Gleichzeitig gewannen Oppositionsparteien einen Großteil der Municipios in Hidalgo und auch auf nationaler Ebene erlebten sie einen Aufschwung. Daher werde ich bei diesen politischen Ereignissen und unter Berücksichtigung weiteren Materials für eine umfassende Analyse der Lokalpolitik ansetzen und dazugehörigen Hand-

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lungslogiken, Perspektiven, Erwartungen sowie Aushandlungs- und Politikmodi herausarbeiten, um zu zeigen wie Politik alltäglich praktiziert und dabei eine demokratische Perspektive (s.Kap. 5.1.3 und 5.4) hergestellt wird. Dabei wird sich die Analyse nicht auf den lokalen Raum beschränken (weder territorial noch sozial) sondern im Sinne eines umfassenden ethnographischen Bildes und dem Grundgedanken der Interface-Analyse entsprechend die Einbettung in andere Ebenen und Bereiche berücksichtigen, die ich in den folgenden Kapiteln ausführlicher betrachten werde.

5.1 E INE W AHLKAMPFVERANSTALTUNG IN E L T HONXI Im Herbst 2005 konnte ich an einer Wahlkampfveranstaltung in El Thonxi teilnehmen, die wenige Tage vor den Kommunalwahlen stattfand. Es hatte bereits zuvor einen offenbar ungewöhnlich starken politischen Aktivismus diverser Akteure im Ort gegeben, auch in Vorbereitung der erwarteten Wahlkampfveranstaltung, die einen der lokalen Höhepunkte im Wahlkampf bildete. An diesem Tag sollten die drei wichtigsten Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters des Municipios in den Ort kommen. Dies war von langer Hand vorbereitet und die Besuche wurden genau koordiniert. Alle BewohnerInnen des Ortes waren eingeladen bzw. zusammengerufen worden und es wurde so, je nach Sichtweise, die Möglichkeit geboten die Kandidaten kennenzulernen bzw. die Wählerinnen und Wähler zu beeinflussen. Es waren mehr Menschen gekommen als ich erwartet hatte und viele schienen auf die Ausführungen der Kandidaten sehr gespannt zu sein. [Wahlkampfveranstaltung]

Dies überraschte mich, weil die DörflerInnen normalerweise betonen, sie würden sich nicht für Politik interessieren und erst recht nicht an politischen Veranstaltungen teilnehmen. Politik, als formale oder Parteipolitik, ist nämlich sehr negativ belegt. Dies zeigt, welch hohen Stellenwert diese Wahl für „normale“ BürgerInnen hatte, denn die meisten waren zudem aus eigenem Antrieb gekommen und mussten nicht erst zusammengetrommelt werden, wie es sonst üblich ist. Die Kandidaten kamen in Reihenfolge der Bedeutung ihrer Parteien in den Ort, zunächst die PRI als Regierungspartei mit den meisten AnhängerInnen, dann die PRD als wichtigste Oppositionspartei in der Region und schließlich die PAN, als damals kleinere Oppositionspartei. Andere Parteien waren nicht eingeladen worden, spielten aber in diesem Municipio auch kaum eine Rolle. Selbst der Kandidat der PAN verzichtete schließlich auf seinen Wahlkampfauftritt. Dies erklärte der Delegado so: „Er hat gesehen, dass viele Autos an der Straße standen und viele Anhänger der anderen Parteien anwesend waren. Deswegen ist er besser weggefahren.“1 1

„Vio que hubo muchos coches, mucha gente [de los otros partidos] y mejor se fue.“

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Auch wenn sich die DorfbewohnerInnen mit dieser Einschätzung über den Kandidaten lustig machten, weil er sich nicht der Diskussion mit einer „Übermacht“ an politischen Gegenspielern stellen wollte, zeigt sie doch, dass die anderen beiden „Wahlkampfkarawanen“ relativ groß waren und viele Menschen an den Kampagnen teilnahmen. Die AktivistInnen der PAN konnten mit einem relativ kleinen Konvoi aus drei Fahrzeugen und nur wenigen UnterstützerInnen kaum dagegenhalten. So erschien ihr Versuch um Stimmen zu werben vielen WählerInnen als wenig erfolgversprechend und fast lächerlich. Der PAN-Politiker wurde aufgrund mangelnder Anhänger nicht als ernsthafter Kandidat wahrgenommen und vor dem Hintergrund der gezeigten Unsicherheit erst recht nicht als jemand der die Gemeinde führen konnte. [Wahlkampfveranstaltung]

Die Route der Kandidaten scheint sorgfältig geplant gewesen zu sein, denn sie besuchten in aufeinander abgestimmter Weise mehrere Dörfer in diesem Teil der Gemeinde, die alle über die gleiche Straße angefahren werden müssen. Wie oben angedeutet wurden sie von mehreren Fahrzeugen und SympathisantInnen bzw. AktivistInnen begleitet. Im größten Konvoi, dem der PRI, befanden sich knapp ein Dutzend Fahrzeuge mit etwa 30 bis 40 UnterstützerInnen. Die Veranstaltungen vor Ort wurden von den Autoridades, insbesondere den jeweiligen lokalen Parteigängern, organisiert. Denn als Mittler nach „außen“ ist die Delegación auch dafür zuständig, den BürgerInnen eine Möglichkeit zur politischen Information durch die Auseinandersetzung mit den Kandidaten und deren Wahlprogrammen zu bieten. Zudem war der aktuelle Delegado ein Lehrer, der wie mehrere Mitglieder seines Komitees aktiver Priista war, während andere, wie der bereits (aus-)gewählte zukünftige Delegado als Anhänger der PRD bekannt waren. Trotzdem wurde gerade in diesem Ort großer Wert darauf gelegt, eine neutrale und unvoreingenommene Haltung an den Tag zu legen. Es sollte offensichtlich gezeigt werden, dass die Comunidad ein Raum für alle politischen Gruppen war, in dem niemand bevorzugt wurde. Tatsächlich achteten zwar die jeweiligen Parteigänger genau darauf, dass ihr Kandidat zu den gleichen Bedingungen auftreten konnte wie der andere, aber von allen Seiten wurde versucht zu demonstrieren, dass man es als selbstverständlich ansah, einen möglichst offenen demokratischen Rahmen für die politische Auseinandersetzung zu bieten. Dies war eine ganz neue Situation in dieser Gemeinschaft, die sicherlich aktuellen Diskursen zu Demokratie und politischem Anstand geschuldet war. Vor allem hing es aber mit der Einbindung neuer politische Akteure in die Gemeinschaft zusammen. Denn durch die Rückkehr mehrerer MigrantInnen war die Gruppe der PRD-Anhänger in der Comunidad beträchtlich angewachsen. Ihre deutliche Präsenz und ihr Aktivismus führten so bereits zu der Beachtung demokratischer Spielregeln vor Ort. Dies trug auch der Notwendigkeit Rechnung, den inneren Frieden und Zusammenhalt der Gemeinschaft nicht zu gefährden (vgl. Kap. 5.2.2 und 4.2.3). Hier wird auch ein weiterer Grund für die Reaktion des PAN-Kandidaten ersichtlich. Dieser hatte keine Unterstützer in El Thonxi, während der Ort aber für seine Sympathien für die PRI und

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teilweise die PRD bekannt war. Aber auch bei deren Kandidaten wurde peinlich genau darauf geachtet, dass es zu keinem Zusammentreffen kam. Damit wurden mögliche Spannungen in den Veranstaltungen vermieden und für eine ruhige Atmosphäre während dieser wichtigen Interaktion zwischen der Dorfgemeinschaft und den Repräsentanten der lokalen Parteipolitik gesorgt. Die beiden Auftritte der Kandidaten waren sehr unterschiedlich. Zunächst wurde der PRI-Kandidat empfangen. Die Veranstaltung fand auf dem Basketballplatz der Schule statt, welcher der zentral gelegene Hauptort für öffentliche Ereignisse und Veranstaltungen ist (vgl. Kap. 4.2.1). Als ich eintraf, saßen viele DorfbewohnerInnen auf den entlang einer der Längsseiten gelegenen Betonrängen und warteten auf den Beginn der Veranstaltung, während unten auf dem Platz die Autoridades mit einigen Helfern letzte Vorbereitungen trafen. So wurde u.a. die Tonanlage der Schule installiert. Das Publikum war zu diesem Zeitpunkt bereits erstaunlich zahlreich, wenn es auch verglichen mit Festen eher wenig waren. Aufgrund der anwesenden Personen konnte ich jedoch feststellen, dass die meisten Familien des Ortes vertreten waren. Der geplante Anfangszeitpunkt der Veranstaltung war bereits überschritten, aber weder waren die Vorbereitungen abgeschlossen, noch deutete sich eine baldige Ankunft des Kandidaten an. So verging noch etwa eine halbe Stunde, bis tatsächlich der Konvoi der PRI eintraf. Dies ist nicht ungewöhnlich bei politischen Veranstaltungen auf dem Land. Es gehört gewissermaßen zum Habitus der Politiker, die dadurch, dass sie zu spät kommen und auf sich warten lassen, ihre Bedeutung unterstreichen. Möglicherweise war aber auch ein früherer Zeitpunkt angegeben worden, denn die Wahlkampfveranstaltung wurde von den Líderes als ein für die Dorfgemeinschaft sehr wichtiges Ereignis angesehen. Diese Bedeutung wurde dadurch unterstrichen, dass sich viele DorfbewohnerInnen ungewöhnlicherweise schon früher eingefunden hatten. Auffallend war, dass mehrere ZuschauerInnen Fahnen und andere Symbole der PRD trugen. Da ich gleichzeitig die Veranstaltung und das Publikum beobachten wollte, positionierte ich mich an einer Treppe die am Rand der Ränge hinaufführte. Dadurch hatte ich alles im Blick, konnte mich aber gleichzeitig mit eintreffenden Personen unterhalten und teils hören, was im Publikum gesagt wurde. Bis zum Eintreffen des ersten Kandidaten wuchs die Zuschauermenge noch einmal an, so dass schließlich etwa 40 bis 50 Personen anwesend waren, die sich zunächst über alltägliche Dinge unterhielten. Nichtsdestotrotz hatte ich den Eindruck, dass eine erwartungsvolle Stimmung herrschte und die Anwesenden offensichtlich auf das kommende politische Ereignis gespannt waren. Dies wurde noch deutlicher, als der Kandidat eintraf und die Gespräche unverzüglich verstummten. Nun wurden der Politiker und seine Begleiter beobachtet und verschiedene Kommentare im Flüsterton gemacht. [Wahlkampfveranstaltung]

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5.1.1 Herkömmliche Handlungslogiken, Perspektiven und Inszenierungen – der Kandidat der Regierungspartei Der Kandidat der PRI wurde von fünf Mitgliedern seines geplanten Kabinetts und einer größeren Anzahl AktivistInnen begleitet. Letztere war tatsächlich so groß, dass sich auf dem Basketballplatz eine annähernd so große Anzahl an Personen befand wie auf den Rängen. Diese BegleiterInnen verteilten sich am Rande des Platzes und bildeten einen lockeren Halbkreis hinter und an der Seite des Kandidaten und seines Komitees. Nach der persönlichen Begrüßung durch die lokalen Líderes und Parteigänger und einer kurzen Unterhaltung, griff der damalige Delegado Juan, einer der PRI-treuen Líderes, nach dem Mikrofon. Damit begann die Veranstaltung und ich konnte ein typisches Beispiel für die klassische Form beobachten, wie Politiker in der Region auftreten. Der Kandidat, vier Begleiter und eine Begleiterin hatten sich nebeneinander aufgestellt, ähnlich wie dies bei verschiedensten Anlässen, z.B. den Fahnenzeremonien in Schulen oder offiziellen Anlässen, üblich ist. Dazu hatten sie eine bestimmte Haltung angenommen, die Bereitschaft signalisieren soll, in diesem Fall die Bereitschaft den Bürgern zu dienen. Dies ist eine übliche Geste in der mexikanischen Politik, vermutlich ein Relikt aus post-revolutionärer Zeit, das auch auf nationaler Ebene beobachtet werden kann. Einige Meter entfernt stand der Delegado ihnen mit dem Mikrofon zugewandt und begrüßte die Politiker im Namen des Dorfes, bevor er dem Kandidaten das Wort erteilte. Der bedankte sich, begrüßte die Anwesenden, allerdings ohne wirklich auf die BürgerInnen einzugehen, sondern eher an die Autoridades und die lokale Clique seiner Partei gewandt, und begann seine Rede. Diese klang einstudiert und wurde offensichtlich an allen Orten gleich gehalten. Sie wurde aber gekonnt und souverän vorgetragen. Lediglich die wenigen Stellen, an denen er den Redefluss unterbrach, um dann doch auf das Dorf oder besser gesagt seine Líderes einzugehen, ließen Unsicherheiten erkennen. Die Rede an sich war wenig aussagekräftig und wirkte auf mich wenig interessant. Er lobte die bisherige Politik, verwies auf deren angebliche Erfolge und versprach Kontinuität als gute Regierungsführung. Im Verlauf der Rede stellte er seine fünf Begleiter vor und sprach diese teilweise an. Dennoch wirkten sie wie reine Statisten. Alles in allem wurde der Kandidat ganz als der große Mann, als tatkräftiger, in seiner Kompetenz und Führungsgewalt uneingeschränkt anerkannter Politiker in Szene gesetzt. Er vereinte symbolisch die (kommende) Macht auf sich. Diese Inszenierung unterstrich die Notwendigkeit mit ihm in Aushandlung zu treten und sich dabei mit ihm gut zu stellen, um die Möglichkeit zu wahren von ihm, dem zukünftigen absoluten Machtzentrum der Gemeinde, als Dorfgemeinschaft gefördert zu werden.

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Dies wurde auch im Anschluss an die Rede sichtbar. Während der Rede selbst hatte es eine entweder gespannte oder höfliche Aufmerksamkeit gegeben, nur gelegentlich unterbrochen durch Beifall und Sprechchöre der begleitenden WahlkampfhelferInnen. Im Publikum gab es Kommentare im Flüsterton, die aber kaum die Aufmerksamkeit störten, sondern eher noch unterstrichen. Das Ende der Rede wurde entsprechend mit Slogans und Beifall quittiert. Daraufhin ergriff wieder der Delegado das Wort und verkündete, dass nun ein Dialog zwischen der Dorfgemeinschaft und dem Kandidaten über dessen politische Absichten stattfinden sollte. Dies wurde als Fragestunde präsentiert und der Sprecher dankte dem Kandidaten ausschweifend für dessen Bereitschaft, sich den Fragen der Menschen im Ort zu stellen und auf ihre Probleme und Sorgen einzugehen. Es solle ganz besonders wertgeschätzt werden, dass der Kandidat sich dafür Zeit nehme. Tatsächlich war ich über eine solche Offenheit und die Bereitschaft zum Dialog überrascht und gespannt, welche Reaktionen und Fragen aus dem Publikum kommen würden. Was sich an die blumige Ausführung anschloss, war dann aber alles andere als eine offene Auseinandersetzung mit den anwesenden BürgerInnen. Es entspann sich nämlich ein ganz offensichtlich sorgfältig vorbereitetes Frage-Antwort-Spiel zwischen dem Delegado und dem Kandidaten. Dabei wurden zwar gewisse Probleme angesprochen und Einschätzungen bzw. Versprechen des Kandidaten abgefragt, aber an keinem Punkt schien er dadurch wirklich gefordert zu sein. Offensichtlich kannte er die Fragen, die zudem eher Vorlagen für Antworten darstellten, in denen er seine Position inszenieren konnte. Diese Interaktion wirkte nicht nur gut vorbereitet, sondern sogar ritualisiert. Ein Eindruck der zusätzlich dadurch verstärkt wurde, dass die ZuschauerInnen in keiner Weise von diesem Schauspiel überrascht schienen. Nach drei oder vier Fragen mit eher allgemeinen Anliegen und dem erwarteten Bekenntnis des „zukünftigen Bürgermeisters“, sich im Gegenzug für die Unterstützung bei den Wahlen dankbar für die Belange des Dorfes einzusetzen, endete der „Dialog“. Der Delegado schloss daraufhin, meinem Eindruck zu Folge möglichst schnell, damit nicht doch noch Fragen oder Kommentare aus dem Publikum geäußert werden konnten, die Veranstaltung mit einer Dankesrede an den Kandidaten. Auch wenn der „Dialog“ zwischen Dorfgemeinschaft und Kandidat ob der Einführung durch den Delegado eher absurd wirkte, war er in der Logik dieser Veranstaltung von großer Bedeutung. Denn letztlich bietet dieser Dialog einen (ritualisierten) Rahmen für verschiedene Aktivitäten, die innerhalb des Wahlkampfes wichtig sind. Erstens kann der Delegado demonstrativ zeigen, dass er sich mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft auskennt und sich in Verhandlungen mit politischen Akteuren für Lösungen einsetzt. Damit belegt er, dass er das Dorf angemessen vertritt, indem er Gelegenheiten nutzt, um für die Gemeinschaft einzutreten. Zweitens wird grundsätzlich zum Ausdruck gebracht, dass beide Seiten interagieren und ein Austausch möglich ist. Dabei wird der Delegado gewissermaßen durch den höherrangi-

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gen Politiker als Gesprächspartner ausgezeichnet. Er ist eine Person, mit der der Kandidat bereit ist zu sprechen und die während dessen Regierungszeit Zugang haben wird, um das Dorf zu vertreten. Allerdings darf nicht unterschätzt werden, dass es sich drittens bei dieser ritualisierten Form tatsächlich um einen, wenn auch eingegrenzten, Kommunikationskanal zwischen der Dorfgemeinschaft und relativ mächtigen lokalen politischen Akteuren handelt. In einer abgeschwächten, aber dadurch eben akzeptierten Form können dem Kandidaten gegenüber Probleme geäußert werden, die tatsächlich den Anliegen der Gemeinschaft entsprechen können, soweit der Delegado dies als opportun erachtet und für die Anliegen anderer DörflerInnen offen ist. Dadurch kann er, so er denn gewillt ist, einen Einblick in die Realität der BürgerInnen gewinnen. Dafür existieren zwar auch andere Wege, z.B. über die Líderes, aber dieser Kanal ist durch die relativ direkte und offene Kommunikation besonders. Trotzdem wirkte diese Form hier deplaziert und schien eher einen „veralteten“ Interaktionsmodus darzustellen, der einer überkommenen politischen Logik entsprach. Es war bemerkenswert, dass mit kaum einem Wort konkret auf das Dorf, die anwesenden Wählerinnen und Wähler oder deren Situation eingegangen wurde. So wurde Migration bspw. nur in einem abgehobenen abstrakten Sinn angesprochen und als zu bekämpfendes Problem abgehandelt. Auf die Frauen und ihre möglichen Anliegen ging der Kandidat gar nicht ein und dies, obwohl sie einen Großteil sowohl der Anwesenden als auch, durch die migrationsbedingte Abwesenheit vieler Männer, der WählerInnen darstellten. Stattdessen gab es einen anderen, sehr plump wirkenden Versuch, die anwesenden Frauen für den Kandidaten einzunehmen. Die einzige Frau, die zu den fünf Begleitern des Kandidaten gehörte, hatte wie die meisten anderen die ganze Zeit über nichts gesagt, näherte sich nach dem offiziellen Ende der Veranstaltung aber den Frauen im Publikum. Da ich in der Nähe stand konnte ich hören, wie sie die Frauen aufforderte den Kandidaten zu wählen: „Wir Frauen müssen doch zusammenhalten. Lasst uns für [den Kandidaten] stimmen!“ [Wahlkampfveranstaltung]

Sie hatte offensichtlich den Auftrag, die Frauen auf der Grundlage einer angenommenen gemeinsamen weiblichen Identität oder sogar Solidarität anzusprechen und von dem Kandidaten zu überzeugen. Dieser Versuch wirkte aber so plump, dass ich regelrecht verblüfft war. Diese Strategie muss aus einer Vorstellung über Frauen erwachsen sein, die sie zum einen als homogene harmonische Gruppe ansah und zum anderen als leicht zu beeinflussende Wählergruppe. Vermutlich wurde dieses Vorgehen von männlichen Wahlkampfplanern erdacht und besagte Frau, die anscheinend eine Alibi-Funktion innerhalb des Teams einnahm, sollte es umsetzen. Es wirkte geradezu so, als ob angenommen würde, Frauen seien in einer Art „Kaffeeklatsch-Kommunikation“ von einem Kandidaten zu überzeugen. Dies ist umso erstaunlicher, als viele lokale PRI-Aktivistinnen sehr selbstbewusste Frauen sind, die sich vor Ort aus-

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kennen (s.Kap. 5.3.1). Immerhin zeigt dies aber auch, dass man Frauen als bedeutendes Wählerpotential wahrnahm, wenn ich auch bezweifle, dass sie wirklich als unabhängige politische Subjekte angesehen wurden. Jedenfalls wurden sie nicht so behandelt. Allerdings war nicht nur ich perplex, sondern auch die angesprochenen Frauen waren erstaunt und schienen zunächst nicht zu wissen, wie sie reagieren sollten. Da sie aber aufgrund der geltenden Höflichkeitsregeln und der in den Dörfern üblichen Zurückhaltung nicht direkt widersprechen oder abschätzig reagieren konnten, nickten und bejahten sie ausweichend, ohne ernsthaft auf die Aktivistin einzugehen. Nachdem diese jedoch mit zufriedenem Ausdruck gegangen war, auch wenn ihr die Situation eher unangenehm gewesen zu sein schien, hatte sie wohl aus ihrer Perspektive den Auftrag mit Erfolg ausgeführt, begannen die Frauen abfällige Kommentare zu machen. Die Frau wurde leise als „pinche vieja“ (dumme Alte) und „vieja loca“ (verrückte Alte) tituliert. Die Frauen des Dorfes waren ob der Behandlung und der Form der Ansprache ehrlich empört. Sie hatten wohl den Eindruck für „dumm und willenlos“ gehalten zu werden und waren daher gekränkt. Ihren Ärger artikulierten sie eher leise, aber in Kenntnis des Kontextes war es möglich, die Wut deutlich wahrzunehmen. In Umkehrung der Behandlung stellten die Frauen des Dorfes in ihren Kommentaren nun kollektiv die Aktivistin als dumm, ignorant und fremdgeleitet dar. So verteidigten sie ihren eigenen Wert gegenüber der als unverschämt empfundenen externen Akteurin, die sie durch die anbiedernde Schaffung einer gemeinsamen Identität beeinflussen wollte. Die Dörflerinnen machten in ihren Aussagen ganz klar, dass sie sich auf keinem Fall mit dieser fremden Frau einer Gruppe zugehörig fühlten. Dies ist erstens ein Beispiel für den Argwohn mit dem das Eigene in den Dorfgemeinschaften gegen Interventionen geschützt wird. Zweitens zeigt sich hier die Praxis versteckten Widerstands, da der Aktivistin nicht offen widersprochen wurde, die Frauen des Dorfes ihre Intervention aber implizit zurückwiesen. Diese Haltung ist, wie ich zeigen werde, eine grundlegende Strategie in den Dorfgemeinschaften, die gerade in der Beziehung zu externen politischen Akteuren angewandt wird. Nach diesem Ereignis begannen die WahlkampfhelferInnen, wie zum formalen Abschluss der Veranstaltung, erneut Sprechchöre zu rufen, um so noch einmal für den jetzt abziehenden Kandidaten Stimmung zu machen. Dieser machte einen sehr zufrieden Eindruck, verabschiedete sich von seinen lokalen Parteigenossen und den Autoridades und verließ mit dem aufgesetzten Duktus eines „großen Politikers“ den Veranstaltungsort. Er wirkte dabei, wie die gesamte Clique um ihn herum, recht selbstgefällig. Den lokalen Organisatoren und Parteigängern war dagegen ihre Erleichterung darüber anzusehen, dass alles wie geplant abgelaufen war. Möglicherweise hatte sogar die Angst vor einem kleineren Eklat bestanden. Aus ihrer Logik heraus war aber alles gut verlaufen und die Dorfgemeinschaft hatte dem „zukünftigen Bürgermeister“ gegenüber eine Position gewahrt, die es ermöglichte, erfolgreich an

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den Aushandlungsprozessen über die Ressourcenverteilung innerhalb des Municipios teilzunehmen. Unter den Sprechchören stach einer hervor, der die Siegesgewissheit illustrieren und die Dorfgemeinschaft animieren sollte, für den „siegreichen“ Kandidaten zu stimmen. Er lautete „Vamos a ganar!“ (Wir werden siegen). Dies wurde von der in meiner Nähe stehenden Frauengruppe sofort quittiert: „Ustedes si van a ganar!“ (Ja, ihr werdet sicher gewinnen!). Damit brachten sie zum Ausdruck, dass ihrer Einschätzung nach ein Sieg dieses Kandidaten seinen direkten Unterstützern, seiner Machtclique nutzen würde, aber keinesfalls Verbesserungen für die Dorfgemeinschaft oder die Frauen selbst bringen würde. Die intendierte Botschaft, dass dieser Kandidat für Fortschritt in der ganzen Gemeinde und das Wohlergehen aller Bürger sorgen würde, wurde so angezweifelt. Damit wurde das Ziel verfehlt, ihn als den einzigen wählbaren Kandidaten darzustellen und alle anderen Gruppen als Vertreter partikularer Interessen oder gar als unfähig darzustellen. Im krassen Gegensatz dazu wurde die Situation genau andersherum wahrgenommen, indem diese negativen Vorstellungen auf den PRI-Kandidaten bezogen wurden. Dies war sicherlich ein wichtiger Aspekt für die Wahlentscheidungen der einzelnen WählerInnen, aber bei weitem nicht der einzige, wie ich noch zeigen werde. Denn selbst Personen, die diesen Kandidaten tendenziell als unfähig und korrupt ansahen, äußerten in Gesprächen mit mir die Absicht, ihn wählen zu wollen. Die verschiedenen Elemente der Wahlkampfveranstaltung des PRI-Kandidaten zeigen insgesamt auf paradigmatische Weise, wie abgehoben viele (Lokal-)Politiker in diesem Kontext agieren. Der Kandidat schien ebenso wenig wie seine Berater eine realistische Vorstellung von der Situation der DörflerInnen, von ihren Bedürfnissen und Problemen zu haben. Genauso wenig schien er die politische Stimmung einschätzen zu können. Die lokalen Líderes waren dazu zwar eher in der Lage, befanden sich aber, wie es in vielerlei Hinsicht bei den Maestros Bilingües der Fall ist (vgl. Kapitel 4.5.1), in einer zwiespältigen Situation. Obwohl sie die Stimmung im Ort kannten, mussten sie dem Kandidaten eine gute Plattform bieten und um jeden Preis erreichen, dass das aus ihrer Sicht unabdingbare Bild einer zur Zusammenarbeit bereiten Gemeinschaft und die Verbindung zum Kandidaten erhalten blieben. Dies schränkte sie in ihrer potentiellen Mittlerfunktion deutlich ein. Zugleich verhinderte die ritualisierte Interaktion, dass die soziale Realität der DörflerInnen deutlich werden konnte. Diese waren aber wohl auch gar nicht daran interessiert, da sie keine Erwartungen in den Kandidaten setzten. Ihr Schweigen, das von den Líderes mit Erleichterung registriert wurde, hatte daher eigentlich den Charakter einer Verweigerung. Hier existieren unterschiedliche Wissenssysteme, zwischen denen kein nennenswerter Austausch besteht. Und dies obwohl Interaktionen an einer Schnittstelle stattfinden, die vorrangig über die Líderes vermittelt wird. Da diese aber in dem Zwiespalt verhaftet sind, der Handlungslogik ihrer politischen Anführer gerecht werden zu müssen, findet kein Wissenstransfer statt, obwohl sie über relevante lokale Kenntnisse verfügen. So wird

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ein System des Nichtwissens aufrechterhalten, das die Beziehung zwischen örtlichen parteipolitischen Eliten und einfachen BürgerInnen beeinflusst, indem es zu einer Nicht-Kenntnisnahme ihrer Situation und Bedürfnisse, aber auch ihrer Stimmungslage führt. Daher waren die Botschaften unangemessen, so dass sie die WählerInnen nicht erreichten und sie wie im oben beschriebenen Extremfall sogar vor den Kopf stießen. Verschärft wurde diese Situation durch die Siegesgewissheit des Kandidaten, der es als nicht erforderlich ansah, auf die BürgerInnen einzugehen. Dieser PolitikerTypus war mit seiner Clique derart selbstzentriert, dass er den Kontakt zur Realität der WählerInnen verlor. Die Handlungslogiken und Relevanzstrukturen der Dorfgemeinschaft und der Politiker passten kaum noch zueinander, was die Diskrepanz zwischen den Rationalitäten dieser Gruppen offenkundig werden ließ. 5.1.2 Versuch eines alternativen Zugangs – der Oppositionskandidat Kurz nachdem die PRI-Karawane abgefahren war, traf der Kandidat der PRD ein. Dieser wurde ebenfalls mit Spannung erwartet, da er die zweitwichtigste Partei in der Region repräsentierte, die einzige Oppositionspartei, die sich Hoffnungen auf einen Wahlsieg machen konnte. Zudem war dieser Besuch aufgrund der in El Thonxi teilweise vorhandenen Sympathien von Bedeutung und nicht zuletzt waren die Anwesenden auch einfach neugierig, wie sich dieser Kandidat präsentieren würde. Denn einerseits wollte man sehen, ob er professionell und damit als ernstzunehmender Politiker auftreten konnte, und andererseits war man gespannt, ob er sich als klare Alternative darstellen und überzeugen würde. Wie der gegnerische Kandidat wurde er von seinen Parteianhängern begrüßt. Er brachte allerdings kaum Begleiter mit, von denen auch nur sein Wahlkampfleiter in Erscheinung trat. Obwohl die Veranstaltung formal ähnlich ablief wie die vorhergegangene, war dies bei weitem nicht der einzige auffällige Unterschied zu dem PRI-Politiker. Dieser Kandidat wurde von dem zukünftigen Delegado begrüßt und vorgestellt, der als PRD-Anhänger bekannt war. Möglicherweise hatte seine Gruppe den Kandidaten überhaupt erst eingeladen. Die Situation wirkte offener und lockerer und damit nicht inszeniert. Die beiden PRDPolitiker standen zusammen auf dem Basketballplatz ohne eine bestimmte Formation oder gar Haltung einzunehmen.2 Der zukünftige Delegado stand relativ nah bei den beiden, so dass keine großen ausladenden Gesten wie zuvor durch den aktuellen Delegado möglich waren. Dieses „normal“ wirkende Auftreten, das sich nicht (offen) an politischen Inszenierungen der PRI und damit dem Regelfall politischer Interaktion orientierte, wurde durch die Kleidung der beiden unterstrichen. Während die Priistas eher förmlich gekleidet waren, mit dunklen Hosen und Hemden, trugen die

2

Schließlich konnten sie auch noch kein zukünftiges Team vorstellen.

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beiden Perredistas Lederjacken über ihren Hemden,3 was ihnen ein ungezwungenes Aussehen verlieh und sie nahbarer machte. Dem entsprach die Art, wie dieser Politiker nach der kurzen Begrüßung seine Rede hielt. Seine Sprache und Gesten wirkten im Vergleich zu der bombastischen Ausdrucksform des PRI-Kandidaten einfach, da er aber ein guter Redner war, schien seine Art vorwiegend positiv aufgenommen zu werden. Er sprach, wie zu erwarten, verschiedene Probleme des Municipios an und kritisierte die aktuellen Amtsinhaber. Dabei versuchte er auch auf das Publikum einzugehen, schaute es an, sprach und gestikulierte direkt in seine Richtung. Während der PRI-Politiker eher über das Publikum hinweg gesprochen hatte, wirkte dieser Kandidat auf die anwesenden BürgerInnen konzentriert. Auch das Fehlen von Sprechchören hatte zur Folge, dass die Veranstaltung weniger aufgeladen wirkte und sich die Aufmerksamkeit auf den Kandidaten und seine Rede richtete. Im Anschluss daran wurde dem Publikum Gelegenheit gegeben, Fragen zu stellen. Daraufhin entwickelte sich eine Diskussion, bei der sich der Kandidat den Fragenden näherte. Durch diese Interaktion wurde sichtlich unterstrichen, dass er auf die Menschen zuging und sich mit ihnen auseinandersetzte. Der PRI-Politiker hatte dagegen steif und distanziert gewirkt. Dieses Vorgehen hatte zur Folge, dass der PRD-Kandidat trotz seiner offensichtlichen Unsicherheit, er war kein Berufspolitiker im eigentlichen Sinn, souverän wirkte und von den BürgerInnen als ernsthafter Kandidat akzeptiert wurde. Der Ablauf der Veranstaltung zeigte deutlich, dass dieser Bürgermeisterkandidat nicht die Kultur der Berufspolitiker vertrat. Er war nicht darin geübt, in der hergebrachten Weise mit den BürgerInnen zu interagieren. Dadurch unterschied sich sein Auftritt letztlich deutlich von dem der PRI. In einer anderen Konstellation hätte ihm dies zum Nachteil gereichen können, weil er durch die fehlende Ansprache spezifischer politischer Codes als politisch nicht ausreichend geschulter und damit unqualifizierter Kandidat gegolten hätte, der nicht ernstzunehmen wäre. Da zu diesem Zeitpunkt aber viele WählerInnen eine Alternative zur bisherigen Regierungspartei und damit auch zu ihrem Politikstil suchten, wurden das „ungewöhnliche“ Verhalten und Auftreten zu einem Vorteil. Der PRD-Kandidat wirkte frisch und anders und bediente damit das Bedürfnis nach Wandel in der Politik. Seine Unerfahrenheit konnte zudem speziell dieser Kandidat dadurch ausgleichen, dass er als Lehrer gewohnt war, vor Gruppen zu sprechen und auf diese einzugehen, aber eben auf andere Art. Trotz des zunächst gegenteiligen Eindrucks stellte aber auch der Wahlkampfauftritt der PRD eine gewisse Inszenierung dar, nur entsprach diese eben dem Stil der PRD und nicht dem herkömmlichen und hier gewohnten Stil der PRI. So ist es bei Veranstaltungen der PRD üblich, zumindest symbolisch auf das Publikum einzugehen, die Personen auf der Bühne positionieren sich eher locker und sowohl Frauen 3

Ein semi-formaler Kleidungsstil in der Region, wie er bspw. oft von Lehrern verwendet wird.

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als auch Männer pflegen ein eher legeres Aussehen, welches bei Männern oft durch das besagte Tragen einer Lederjacke unterstrichen wird. Dabei handelt es sich um einen expliziten Versuch, sich anders als die PRI zu präsentieren und schon rein äußerlich abzuheben. Dies kann besonders gut auf nationaler und regionaler Ebene beobachtet werden. Ich nehme allerdings an, dass das lokale Wahlkampfteam der PRD diesen Habitus gar nicht bewusst strategisch imitiert, sondern ihn als Stil ihrer Partei übernommen hatte. Der Modus, in dem die PRD Wahlkampf führte, wirkte also vor allem deshalb frei, ungezwungen und offen, weil er sich vom Standard des Politikstils der PRI abhob. Alles was davon abwich, wurde als volksnah und ehrlich begriffen. Eine große Diskussion mit dem Publikum, die sich zum Ende der Veranstaltung entwickelte, macht deutlich, dass auch dieser Politiker Probleme in der Interaktion mit den BürgerInnen hatte und Missverständnisse auftraten. Wie beschrieben wurde die Rede des Kandidaten gut aufgenommen und die ZuhörerInnen hatten offensichtlich den Eindruck, dass viele ihrer Probleme und Anliegen angesprochen worden waren. Eine Gruppe jüngerer Frauen näherte sich dem Kandidaten, als dieser im Publikum noch einzelne Fragen beantwortete. Sie schlugen ihm vor, er solle doch schon alleine aufgrund des hohen Anteils an Wählerinnen in seinen Reden stärker auf Belange von Frauen eingehen oder diese explizit als wichtige Wählergruppe ansprechen.4 Dies hatte er zwar in gewissem Maße getan, war dabei aber nicht über bekannte Allgemeinplätze zur Bedeutung und Opferbereitschaft der Frauen in ihren Familien und Dorfgemeinschaften hinausgekommen. Dies stellte aus Sicht der jüngeren Frauen offenbar keinen ausreichenden Perspektivwechsel dar und sie versuchten, den Kandidaten von einem weiterreichenden Wandel zu überzeugen. Obwohl sie ihn damit in seinem Wahlkampf unterstützen wollten und sogar konkrete Vorschläge machten, war der Kandidat auf diese Situation nicht vorbereitet und interpretierte sie als Kritik an seiner Agenda. Er nahm eine defensive Haltung ein und verwies darauf, dass er doch in seiner Rede die Bedeutung der Frauen angesprochen habe. Dieses Missverständnis führte dazu, dass die Gruppe der Frauen noch intensiver auf ihn einredete, während der Politiker offenbar nicht mehr wusste, wie er reagieren sollte. Die Sorge um einen Kontrollverlust in dieser Situation war den umstehenden PRD-Aktivisten deutlich anzusehen. Sie waren aufgrund der ungewöhnlichen Beharrlichkeit der Frauen überrascht. Sowohl dem Kandidaten als auch dem Wahlkampfleiter stand der Schweiß auf der Stirn. Schließlich konnte das Missverständnis durch die Erklärung einer jungen Frau ausgeräumt werden. Dem Kandidaten wurde verdeutlicht, dass die Frauen durchaus wahrgenommen hatten, dass er sie ansprach, sich diese Gruppe für einen erfolgreichen Wahlkampf aber wünschte, dass er dieses Thema stärker betonen solle. Dies nahm er schließlich zur Kenntnis und versprach das Anliegen zu berücksichtigen. Allerdings wirkte er auf mich nicht wirklich überzeugt und ich 4

Möglicherweise zeigt sich hier ein Einfluss der Gespräche, die ich im Verlauf meiner Forschung zu diesem Thema führte.

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bezweifle, dass er den Vorschlag in die Tat umgesetzt hat. Ich nehme an, dass er es aus seiner Perspektive heraus nicht als lohnendes Thema ansah und zudem Sorge um sein Ansehen bei männlichen Wählern und Politikern gehabt haben dürfte. Tatsächlich wäre eine zu starke Fokussierung auf Frauenthemen wohl als unangemessen wahrgenommen worden. Damit verspielte auch dieser Kandidat trotz inszenierter Offenheit und alternativer Haltung die Möglichkeit, das Frauenthema und auch das der Migration zu seinem Vorteil zu nutzen. Letztlich war auch er zu stark gewohnten Denkschemata im politischen Raum verhaftet. Dies zeigt, dass zwar das Auftreten der PRD-Politiker und ihre politischen Botschaften anders waren, sie aber teilweise ähnliche Sichtweisen vertraten wie Politiker der PRI. Dies hing möglicherweise damit zusammen, dass sie sich am politischen Diskurs der PRI abarbeiteten. Dieser setzte die thematischen Schwerpunkte für den Wahlkampf in dieser Gemeinde und gab damit implizit die „normale“ Perspektive auf bestimmte Phänomene vor. Auch wenn die PRD diese Themen teilweise abgewandelt diskutierte, wurden doch grundlegende Haltungen und Bedeutungsgebungen aus dem von der PRI geprägten Diskurs übernommen. Migration aus der Gemeinde wurde bspw. vereinfacht als Problem behandelt, auch wenn die PRD zumindest eine etwas differenziertere Sichtweise vertrat. Dem lag sicher eine fehlende Reflexion der Breite an gesetzten Themen zu Grunde. Der Mangel an erfahrenen politischen AktivistInnen verhinderte, dass sie in einer der sozialen Realität der WählerInnen angemessenen Weise diskutiert werden konnten. So wurden diese Themen zudem unhinterfragt als Anliegen der BürgerInnen angesehen und man wollte der PRI hier nicht das Feld überlassen. Daher kam es nur begrenzt zu einer alternativen Bewertung von Themen wie der Migration oder der Aufnahme neuer, wie z.B. der Frauenpolitik. An einer indirekten Schnittstelle in der politischen Sphäre der Gemeinde, wurden zwar politische Inhalte zwischen den beiden Parteien ausgehandelt, durch die ungünstige Position der PRD war die Dynamik dieser Interaktion jedoch ungleich gewichtet, so dass PRI-Akteure einen größeren Teil der Bedeutungsgebung kontrollierten. In der Interaktion mit den WählerInnen führte dies dazu, dass Brüche zwischen ihren Perspektiven und jenen des PRD-Kandidaten offen zu Tage traten. Auch wenn die Situation geklärt wurde, war zum Ende der Veranstaltung auch den Aktiven der PRD ihre Erleichterung anzusehen, dass dieses öffentliche Ereignis ohne größeren Fauxpas überstanden war.

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5.1.3 Aufeinandertreffen unterschiedlicher Handlungslogiken in der Wahlkampfveranstaltung Die Analyse dieses Ereignisses verdeutlicht bereits einige wichtige Elemente der Lokalpolitik, insbesondere bezogen auf unterschiedliche Sichtweisen und die Interaktion zwischen (Lokal-)Politikern und BürgerInnen. So werde ich zunächst auf zentrale Aspekte eingehen, um grundlegende Züge der politischen Interaktion im Valle del Mezquital zu diskutieren. Anschließend verknüpfe ich diese Diskussion mit anderen Prozessen und Phänomenen, um ein umfassenderes Bild „der Politik“ im Valle del Mezquital wiederzugeben. Dazu werde ich die grundlegenden Akteurskonstellationen und die Schnittstellen zwischen relevanten Akteuren in den politischen Arenen der Dorfgemeinschaft analysieren und zeigen, wie hier das Fundament von Demokratisierung ausgehandelt und damit die Herstellung von Demokratie (doing democracy) sowohl in der Alltagspolitik als auch an deren Interface zur formalen (Partei-)Politik praktiziert wird. Diese Art der Herstellung von Demokratie kann, wie ich zeigen werde, insbesondere an der Entstehung alternativer bzw. abgewandelter politischer Praktiken und der Verknüpfung unterschiedlicher politischer Handlungslogiken analysiert werden. Sie lassen sich als alternative, für diesen Kontext spezifische, modes of political action (Bayart 2009) konzeptualisieren, die in diesem Fall als „demokratischere“ Modi politischer Interaktion angesehen werden können. Die Art der Interaktion bei der Wahlkampfveranstaltung in El Thonxi ist ein gutes Abbild generellerer Kommunikationsmodi zwischen BürgerInnen und Politkern. So wurde die Relevanz von Politik im Alltag der Menschen in den Dörfern deutlich. Bereits zuvor hatte ich festgestellt, dass im nicht-öffentlichen Bereich, in der Familie oder unter Freunden, viel über Politik gesprochen wurde. Zwar war dies im Kontext von Wahlkämpfen oder ähnlich wichtigen politischen Ereignissen besonders ausgeprägt, aber auch darüber hinaus war (Lokal-)Politik ein Thema alltäglicher Kommunikation. Dem stand paradoxerweise die Ansicht gegenüber, dass man keinen Einfluss auf Politik habe und es kaum Sinn mache, sich mit dieser zu befassen. Als logisch und sinnvoll wurde eine politische Betätigung nur dann angesehen, wenn daraus ein unmittelbarer Vorteil, sei es persönlich oder für die Gemeinschaft, gezogen werden konnte (s. Kap. 5.3.1). Trotzdem schienen die meisten Menschen in den Dörfern das Gefühl zu haben, dass sie Politik anging und betraf. Dadurch wurde sie zu einem fast emotionalen Thema, über das sich viele Personen aufregten. Des Weiteren lässt sich die Bedeutung von Politik an der Art der Teilnahme an der analysierten politischen Veranstaltung erkennen. Es gab eine relativ große Beteiligung an diesem Ereignis und die Aufmerksamkeit war ungewöhnlich hoch, nur vergleichbar mit den Dorfversammlungen in denen Angelegenheiten entschieden werden, welche die Anwesenden direkt betreffen. Dies widerspricht der Vorstellung von der oft beklagten fast lethargischen Haltung einfacher BürgerInnen, die alles über

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sich ergehen lassen, insbesondere wenn ihnen als indigene Landbewohner eine marginale Position zugeschrieben wird. Das Interesse äußert sich in einer aufmerksamen aktiven Teilnahme an Entscheidungsprozessen innerhalb der Gemeinschaft und eben auch an politischen Prozessen. Allerdings nur dann, wenn die BürgerInnen den Eindruck haben, dass sie ernstgenommen werden, Einfluss nehmen können oder es aus anderem Grund für sie Sinn macht. Im Fall der Wahlkampfveranstaltung äußerte sich dies darin, dass das Publikum zunächst weitgehend stumm blieb und sich dann bei dem Auftritt des PRD-Kandidaten intensiv einbrachte. Besonders deutlich wird dies am Verhalten der beiden Frauengruppen, denn hier zeigt sich, dass nur dort offen mit dem Kandidaten interagiert wurde, wo eine Aussicht auf Erfolg gesehen wurde. Daneben macht die Reaktion der Frauengruppe einen grundlegenden Wandel in der Wahrnehmung politischer Interaktion und ihrer eigenen Handlungslogik deutlich. Denn vor dem Hintergrund bisheriger politischer Interaktionsmodi sind die Reaktionen beider Frauengruppen erstaunlich. Politik ist zuallererst männlich belegt und Konzeptionen von Weiblichkeit in den Dorfgemeinschaften schreiben Frauen eine eher passive Haltung zu, so dass gerade im politischen Raum (offene) Äußerungen in der dargestellten Weise nicht zu erwarten wären. Und tatsächlich scheint dies zuvor auch nicht üblich gewesen zu sein. So zeigt sich hier ein klarer Wandel der Haltung, auch wenn die erste Frauengruppe in ihrer Reaktion im Sinne eines versteckten Widerstandes die Regeln nach außen befolgt. Bei beiden Gruppen ist nachvollziehbar, warum gerade Frauen „ungewöhnlich“ gehandelt haben. Dadurch, dass einige Frauen eine veränderte Position in der Gemeinschaft eingenommen haben und innerhalb der dörflichen Organisation aktiv sind (vgl. Kapitel 4.4.2), haben sie den Anspruch entwickelt, ihre Meinung zu äußern und ernstgenommen zu werden. Etwas das ihnen den Vorwurf eingebracht hat, „Viejas Criticonas“ (nörglerische Alte) zu sein. Der zweiten Gruppe fiel dies etwas leichter, weil sie durch ihre Position als jüngere Frauen, von denen mehrere Hochschulen besuchten, mit weniger strikten sozialen Erwartungen konfrontiert waren. Durch die Erfahrung einer sich verändernden Position, sei es durch den Wandel der Gemeinschaft oder durch Bildung und das Leben außerhalb des Dorfes, waren es gerade die Frauen, die auch in einer anderen Sphäre (mehr oder weniger ausgeprägt) mit bestehenden Regeln brechen konnten. Sie waren bereits in der Gemeinschaft an oft konfliktiven Neuaushandlungen ihrer Stellung beteiligt, so dass es ein logischer Schritt war, auch in der politischen Interaktion ihre Sichtweise zu äußern. Damit sind ihre Handlungen ein Hinweis auf einen tiefgreifenden politischen Wandel, der in den Dorfgemeinschaften stattfindet und sich aus veränderten Erwartungen und Ansprüchen an Politik ergibt. Zudem stehen sie beispielhaft für die zuvor ignorierte Handlungsmacht der DörflerInnen und insbesondere neuer politischer Akteure wie der Frauen. Insgesamt wird deutlich, wie relevant Politik für das alltägliche Leben in den Dorfgemeinschaften ist. Zudem sind viele politische Praktiken und Interaktionen in den Alltag der Gemeinschaften eingebettet. Diese können daher als Alltagspolitik

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konzeptualisiert werden. Für diese enge Verflechtung von Politik und Alltag gibt es verschiedene Gründe. Drei hervorstechende Elemente werde ich weiter herausarbeiten. Dies sind die Bedeutung der Dorfgemeinschaft für formale Politik, die Art der Bindung bzw. Entscheidung für politische Akteure oder Parteien und die Position der Líderes im politischen Gefüge.

5.2 P OLITIK

IM

V ALLE

DEL

M EZQUITAL

5.2.1 Der Kandidat der PRI als Vertreter überkommener Politik Bereits im Vorfeld der Wahlkampfveranstaltung ließ sich eine wachsende Intensität der politischen Aktivitäten feststellen und obwohl in El Thonxi selten in der Öffentlichkeit über die bevorstehenden Wahlen gesprochen wurde, schien mir das Thema auf eine subtile Art im Ort präsent zu sein. Dazu trug sicher ein Ereignis bei, an dem sich die politische Auseinandersetzung entzündete. Wenige Wochen vor der Wahl waren nämlich an Geschäften und anderen vielbesuchten Gebäuden Flugblätter angebracht worden. Ich hatte den Eindruck, dass ihnen aufgrund ihrer ungewöhnlichen Form, es handelte sich um fast zwei dicht beschriebene Seiten, zunächst wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Im Laufe der nächsten Tage wurde dann aber zumindest ein farbig hervorgehobener Teil des Schriftstücks gelesen und der Inhalt den meisten DorfbewohnerInnen zugetragen. Es handelte sich um ein mehrere Jahre altes Schreiben, in dem ein gutes Dutzend Delegados des Municipios und andere Amtsträger die Absetzung des damaligen Schatzmeisters aufgrund von übermäßiger Korruption und persönlicher Bereicherung forderten. Das aktuelle Politikum bestand darin, dass es sich bei dieser Person um den Bürgermeister-Kandidaten der PRI handelte. Anhänger der PRD hatten das Schreiben als Teil ihrer Kampagne kopiert und ausgehängt, um die Vergangenheit des Kandidaten in Erinnerung zu rufen. Ganz offensichtlich gelang dies und ich konnte beobachten, dass sogar Personen das Schriftstück lasen, die im Ort nicht unbedingt als politisch interessiert galten. Wie sich herausstellte, war dieses Schreiben allen politisch Aktiven in Erinnerung und von Seiten der PRI-Anhänger war ein Hinweis auf die Biographie des Kandidaten bereits befürchtet worden. Es wurde daran erinnert, dass der Kandidat als wichtiges Mitglied der PRI bereits Schatzmeister der Gemeinde gewesen war, was als wichtigstes Amt neben Bürgermeister und Generalsekretär angesehen wird. Oft ist dies der Posten, auf dem sich Politiker für eine Kandidatur als Bürgermeister bekannt machen. In diesem Fall hatte der Kandidat aber durch einen selbst für die sonst üblichen Verhältnisse ungewöhnlich hohen Grad an Korruption von sich reden gemacht. Wie extrem sein Amtsmissbrauch gewesen sein muss zeigt sich darin, dass sich, wie in dem Schreiben, auch

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Parteifreunde gegen ihn stellten und seinen Rücktritt forderten. Da sich der Schatzmeister jedoch weigerte und seine Korruptheit allgemein bekannt wurde, blieb kein anderer Weg, als den Gouverneur anzurufen. Dieser sah sich gezwungen, den Schatzmeister zum Wohle der Partei seines Amtes zu entheben. Dieser Vorgang mag der PRI damals sogar einen Vertrauensgewinn eingebracht haben, weil sie ihn als Selbstreinigungsprozess darstellen konnte. Letztendlich dürften sich aber die (Vor-)Urteile vieler Bürger bestätigt haben, da unter den als korrupt verschrieenen politischen Akteuren, gerade die PRI als besonders schmutzig gilt (vgl. Kap. 1.2.1). Jegliche positive Darstellung wurde jedoch ad absurdum geführt, als wenige Jahre später mit Unterstützung des neuen Gouverneurs und gegen den Willen der lokalen Parteibasis gerade diese Person zum Bürgermeisterkandidaten gekürt wurde. Trotzdem wurde das öffentliche Aushängen des Dokuments von lokalen Priistas als unanständig und reißerisch bewertet. Allerdings nur intern und im Stillen, wohl wissend, dass sie in diesem Punkt auf verlorenem Posten standen und keinen weiteren Staub aufwirbeln durften. Sie schienen sich in diesem Moment deutlich in die Defensive gedrängt zu fühlen, worauf sie wohl mit einer Phase des Stillhaltens reagieren wollten. Die Perredistas stellten es hingegen als eine notwendige Information der WählerInnen dar und feierten ihren „Coup“ als Dienst an der Wahrheit. Trotz dieser Ereignisse präsentierten sich der Kandidat und mit ihm seine Partei in der oben wiedergegebenen Weise. Bemerkenswert war aber auch, dass sich niemand, zumindest nicht offen, über den Kandidaten empörte. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass selbst die Kandidatur einer als so korrupt bekannten Person in das Bild passt, welches die DörflerInnen von der Politik oder zumindest der PRI haben. 5.2.2 Strategien der Dorfgemeinschaft als „kollektiver“ politischer Akteur Ein wichtiges Element der politischen Interaktion in meinem Forschungsfeld ist die fortwährende Aushandlung der Position der Dorfgemeinschaften gegenüber Vertretern von Parteien bzw. des Staates. Dies bestimmt die Schnittstellen zwischen Dorfgemeinschaften und Politikern grundlegend und unterstreicht die Bedeutung von Politik im Alltag der Menschen. Für die Gemeinschaft als Ganzes ist es wichtig, in politischen Interaktionen eine Stellung zu wahren, durch die sie sich für bestimmte Leistungen und staatliche Ressourcentransfers qualifizieren kann. So gilt es beispielsweise sich eine Beziehung mit (künftigen) Amtsträgern zu erarbeiten, die es ermöglicht bei der Verteilung von Mitteln für Projekte bedacht zu werden. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Teilhabe an den Ressourcen der Gemeinde vom Wohlwollen des (politischen) Entscheidungsträgers abhängt. Dies entspricht einer Logik, in

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welcher staatliche Einrichtungen und Funktionen mit der regierenden Partei gleichgesetzt werden. Dies kann verkürzt als die Vorstellung beschrieben werden, dass der Staat mit all seinen Ressourcen der regierenden Partei gehört. Diese Sicht auf den Staat erklärt sich aus der Tatsache, dass er tatsächlich über Jahrzehnte hinweg von der PRI als De-Facto-Staatspartei, oder dem mexikanischen Ausdruck entsprechend als die offizielle Partei (Partido Oficial), kontrolliert wurde. In den auf sie zugeschnittenen gesellschaftlichen und politischen Strukturen, in denen Klientelbeziehungen ein zentrales Element waren, hing die Verteilung von Ressourcen von der Beziehung zwischen Staatsbediensteten und Antragsstellern ab. Diese bestimmte sich daher meist durch einen klientelistischen Tausch von materiellen Ressourcen gegen politische Unterstützung und Gefolgschaft, die letztlich im Caudillismo und Kaziquentum des (post-)revolutionären Mexiko fußt (vgl. Bartra et al. 1975; Gledhill 2003; Mendoza 2001). Diese überkommene Vorstellung hat sich auch im Mexiko der Gegenwart bisher erhalten, obwohl die Dominanz einer einzelnen Partei der Vergangenheit angehört. Auch wenn solche Vorstellungen im Wandel begriffen sind, hat dieser Modus der Interaktion mit dem Staat aufgrund der historischen Erfahrung der BürgerInnen seine Relevanz bewahrt. Nicht zuletzt ist es nämlich dieser Modus, dessen Rationaliät und Regeln noch allseits bekannt sind und verstanden werden. Dadurch besteht eine relativ große Sicherheit, von dem politischen Interaktionspartner anerkannt zu werden, da eine Einhaltung der Regeln konstatiert und die Art der Aushandlung als angemessen betrachtet wird. Diese politische Handlungslogik bezeichne ich im Weiteren als überkommene klientelistische Handlungslogik und die Art des Interaktionsmodus als demonstrativen quasi-klientelistischen Tausch, da sie auf einer vorrangig inszenierten Klientelbeziehung beruht (vgl. zu Klientelismus Foster 1977, 18f.; Cornelius 1977; Fox 1994). Daher ist es auch für die Dorfgemeinschaften von großer Bedeutung, sich gegenüber politischen Mandatsträgern angemessen zu positionieren. Da dies nur über demonstrative Geschlossenheit möglich ist (vgl. Kap. 4.2.3) werden sie erzwungenermaßen zu einem kollektiven politischen Akteur. Gerade über die Gemeinschaft werden viele dieser Aushandlungsprozesse vermittelt, da sie ein grundlegendes Element sowohl der gesellschaftlichen Struktur als auch des politischen Gefüges ist (s. Kap. 5.4). Einerseits als Basis politischer Mobilisierung und andererseits als Institution, die externen, insbesondere staatlichen, Akteuren Bedürfnisse ihrer Mitglieder mit größerem Gewicht kommunizieren kann. Die zentrale Praxis über die eine strategische Position gegenüber externen Politikern erreicht werden kann, ist die Inszenierung eines vorteilhaften Bildes der Dorfgemeinschaft. Es wird versucht sie auf eine ganz bestimmte Art zu präsentieren, die erfahrungsgemäß von politischen Akteuren positiv bewertet wird. Idealerweise wird dieses Bild konstant aufrechterhalten, aber gerade zu Gelegenheiten wie Wahlkampagnen wird es als unablässig angesehen, es durch Neu-Inszenierung zu bestärken und dem betreffenden Politiker die Unterstüt-

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zung durch die Gemeinschaft in Erinnerung zu rufen. Sie versucht in dieser Aushandlung gewissermaßen ihre (potentielle) Position als Klient zu betonen, damit sich der Politiker seiner Verpflichtung als Patron bewusst ist. Daher wird versucht ein Bild der Dorfgemeinschaft zu vermitteln, in dem sie als gut organisiert, von den Líderes geleitet und damit als politisch mobilisierbar dargestellt wird. Denn so wird sie als vertrauenswürdig wahrgenommen. Eine Dorfgemeinschaft, die von den Líderes kontrolliert wird und bereit ist sich für einen Politiker einzusetzen, d.h. an Veranstaltungen und Mobilisierungen teilzunehmen, hat ein größeres Gewicht in den Aushandlungen mit Politikern und der Gemeindeverwaltung und wird von diesen eher Ressourcen erhalten. Letztlich geht es um die Inszenierung einer kooperationsbereiten und loyalen Gemeinschaft. Dies ist ein Tausch, der einer klassischen Klientel-Logik entspricht. Möglicherweise bestand daher ein wichtiger Grund für die Ablehnung des PRI-Kandidaten durch die WählerInnen gerade darin, dass ihm aufgrund früheren korrupten Verhaltens grundsätzlich kein Vertrauen mehr entgegengebracht wurde. Das Misstrauen seiner Person gegenüber machte es unmöglich ihn als zuverlässigen Partner innerhalb des politischen Kontrakts zu akzeptieren. Hier zeigt sich deutlich, dass entgegen der im Feld verbreiteten Vorstellung, die WählerInnen müssten sich mit den Politikern gut stellen, um als Partner akzeptiert zu werden, eben auch die Kandidaten für die BürgerInnen annehmbar sein müssen. Dieser zunächst vielleicht simpel klingende Umstand kommt in Anbetracht vorheriger politischer Aushandlungsmodi in der Region einem großen Einschnitt gleich. In der Interaktion zwischen Politikern und einfachen BürgerInnen, die früher offenbar viel einseitiger geprägt war, hat sich in den letzten Jahren ein stärkeres Element der Aushandlung etabliert (zu weiteren Formen komme ich später). Dies ist zwar nicht direkt ersichtlich, weil es oft erst in einem deutlichen Bruch zu erkennen ist, nichtsdestotrotz aber ein zentraler Teil sich wandelnder politischer Handlungslogiken. Dass es hier möglich ist einen Kandidaten als ablehnbar zu betrachten und im Zweifelsfall eben nicht zu wählen, ist vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen Dominanz der PRI in dieser Region tiefgreifender Ausdruck einer Demokratisierungsperspektive. Es gibt noch eine zweite Komponente, die mit der Inszenierung von Mobilisierungsbereitschaft zusammenhängt. Eine geeinte und aktive Gemeinschaft kann einen Politiker nicht nur unterstützen, sondern ihn ggf. bei Nichteinhaltung seines Parts des Kontrakts unter Druck setzen. Dadurch kann sich der Amtsträger, sollte er dem Dorf nicht angemessene Unterstützungen anbieten, nie sicher sein, ob diese nicht als mobilisierte Einheit gegen ihn protestieren und bspw. das Rathaus besetzen, Straßen sperren oder ihn sogar entführen wird. Dies sind Aktionen die zum üblichen und durchaus erprobten Handlungsrepertoire von Dorfgemeinschaften gehören, die sich ungerecht behandelt oder betrogen fühlen. Zwar werden sie nur noch selten angewandt, aber die Kenntnis dieser Möglichkeit kann entsprechende Interaktionen beeinflussen. Diese Dimension der Mobilisierbarkeit scheint erst nach und nach in die lokale Sinngebung des Interaktionsmodus Eingang gefunden zu haben, ist jetzt aber

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umso wichtiger, insbesondere in dem Gebiet zu dem Barranca Empinada gehört. Beide Varianten zeigen, wie wichtig auch auf lokaler Ebene die Mobilisierung von größeren Menschenmengen und die Inszenierung von Geschlossenheit ist. Dies hängt mit der seit der postrevolutionären Phase verbreiteten Vorstellung zusammen, dass ein Politiker mit Unterstützung der Massen eine bessere Position genießt, was für Ein-Parteien-Regime typisch ist. Wobei diese Unterstützung durch klientelistische und andere Abhängigkeitsverhältnisse, aber eben auch durch Bewunderung und Vertrauen in die Fähigkeiten des Politikers oder sein Charisma gewonnen werden kann. So findet eine spezifische formalisierte oder sogar ritualisierte Art der Aushandlung statt. Die in diesem Rahmen stattfindende Interaktion schafft einen ganz bestimmten politischen Aushandlungsmodus, den ich als demonstrativen quasi-klientelistischen Tausch bezeichne. Entscheidend ist, dass dieser Modus von seinen Regeln her in der überbrachten klientelistischen Logik fußt, aber auch für veränderte Handlungslogiken anschlussfähig ist. So kann die formale Struktur dieser Interaktion zwischen BürgerInnen und Berufspolitikern eingehalten werden, während sich Inhalt und Bedeutungsgebung der Aushandlung verändern können. Damit ist dieser Aushandlungsmodus gewissermaßen eine Hülse oder ein Dispositiv, das eine formale Interaktion ermöglicht, ohne dabei von Brüchen zwischen den unterschiedlichen Logiken gesprengt zu werden. In diesem Sinne ist er also relativ resistent und ermöglicht die Aufrechterhaltung der Verbindung. In Verhandlungen mit dem erfolgreichen Kandidaten ist es also hilfreich, wenn dieser davon überzeugt werden konnte, dass die Dorfgemeinschaft ihn uneingeschränkt unterstützt hat. Dies wird als Garantie dafür angesehen, dass sie dem Amtsinhaber weiter loyal gegenüber stehen wird, im Gegenzug für die Berücksichtigung bei der Verteilung öffentlicher Mittel. In dem von mir beobachteten Wahlkampf galt diese Regel im Grundsatz und es wurde versucht ein den überbrachten politischen Interaktionsregeln angemessenes Bild zu präsentieren und mit den relevanten Politikern symbolisch einen (Klientel-)Vertrag zu schließen. Allerdings sind Abwandlungen erkennbar, die auf der Überschneidung unterschiedlicher Strategien durch die Verbindung verschiedener Logiken beruhen. Dies zeigt sich in einer Haltung von Barranca Empinada, die quasi als gespiegelte Logik verstanden werden kann (s.u.) und darin, dass in El Thonxi nicht nur auf den PRI-Kandidaten gesetzt wurde, sondern gleichzeitig versucht wurde, auch den der PRD zu verpflichten. „Stimmenkauf“ Barranca Empinada präsentiert sich in diesen Belangen sehr selbstsicher. Dort werden Kandidaten eingeladen, ihre Vorschläge zu präsentieren, damit die Dorfgemeinschaft denjenigen auswählen kann, der am ehesten ihren Vorstellungen entspricht. Es findet also ebenso ein Tausch statt bzw. ein politischer Kontrakt wird geschlossen. In der Verhandlung nutzt die Gemeinschaft aber die Inszenierung ihrer Geschlossenheit, um ihre Autonomie zu betonen und damit einen größeren Handlungsspielraum zu

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erwirken. Es wird klar signalisiert, dass sich die Gemeinschaft aus freien Stücken auf ein Abkommen einlässt. Die Abhängigkeit des Politikers von der Gemeinschaft wird also stärker betont als die der Gemeinschaft von der Unterstützung durch einen späteren Amtsinhaber. Barranca Empinada profitiert dabei von dem auf früheren Aktionen beruhenden Ruf eine aktive und streitbare Dorfgemeinschaft zu sein (s. Kap. 1.3.3). Dadurch kann sie relativ sicher sein, in jedem Fall durch die Gemeindeverwaltung unterstützt zu werden, um Proteste zu vermeiden. So konnte diese Gemeinschaft trotz ihres Rufes als Bastion der PRD und der internen Spaltung immer an den Ressourcenflüssen teilhaben. Es wurde zwar versucht, die Spaltung der Gemeinschaft zu nutzen, um ihre Stellung aufzubrechen, aber alle bedeutenden Gruppen im Ort sehen diese Form der Autonomie als zu wichtig an, als dass sie ernsthaft riskiert werden würde. Absicherung durch doppelte Orientierung In El Thonxi wurde hingegen angestrebt, sich für unterschiedliche Wahlausgänge abzusichern. Dazu war die symbolische Aushandlung mit dem PRI-Politiker wichtig, aber eben auch der angemessene Empfang des PRD-Kandidaten. Der Delegado erklärte mir, dass man dieses Jahr nicht ganz sicher sein könne,5 wie die Wahlen ausgehen würden und sagte dann: „Wenn der PRI-Kandidat gewinnt, dann wird er uns unterstützen müssen. Aber um sicher zu sein, selbst wenn die PRD gewinnt, so haben wir hier deren Parteigänger und wir haben deshalb einen PRD-Anhänger zum nächsten Delegado gewählt. So haben wir in jedem Fall jemanden der Verbindungen zum zukünftigen Bürgermeister hat.“ [Juan]

Für ihn war es also zum Wohle der Dorfgemeinschaft wichtig, unabhängig vom Wahlausgang gute Verbindungen zum Sieger zu haben und diesem verdeutlichen zu können, dass die Dorfgemeinschaft auf seiner Seite steht. Darauf galt es vorbereitet zu sein und nach dem positiven Ablauf beider Wahlveranstaltungen wirkte er in diesem Punkt zuversichtlich und beruhigt. Dies fand aber nicht nur durch die Inszenierung im Rahmen des Wahlkampfes statt, sondern es wurde auch die Einbindung von Mitgliedern der Gemeinschaft in die Netzwerke der Parteien begrüßt. Es wird davon ausgegangen, dass sie in ihrer Partei Fürsprache für das Dorf halten können. Der direkten persönlichen Vernetzung mit einer Partei wird daher ein großes Gewicht beigemessen. Bemerkenswert ist dabei, dass es sich nicht ausschließlich um Líderes handelt, denen klassischerweise diese

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Dies belegt erneut wie weit sich die Parteiführung von den BürgerInnen entfernt hat, wenn sie weiterhin von einem sicheren Sieg ausging, während AktivistInnen an ihrer eigenen Basis bereits Zweifel hegten.

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Aufgabe zufallen würde, sondern auch um andere Personen, die als normale Parteimitglieder aus der Sicht der Dorfgemeinschaft implizit zu deren Vertretern gegenüber der Partei werden. Die Dörfler schreiben ihnen als Parteimitgliedern zu, die Gemeinschaft gegenüber der Partei vertreten zu können und erwarten entsprechende Interventionen auf Parteiebene, was bezogen auf die PRD-Aktivisten eine Übertragung der Vorstellung von der Position der PRI-nahen Líderes in deren Partei ist. Auch dies ist letztlich kompatibel mit einer klientelistischen Logik, da der Wert der persönlichen Beziehung betont wird. Individuelle Bewertung von Politikern Wahlkampfveranstaltungen bleiben relativ lange präsent. Sie wurden in Gesprächen mit InformantInnen immer wieder mit denen anderer Politiker verglichen. Der hohe Stellenwert solcher Veranstaltungen und deren Präsenz in der Erinnerung der DorfbewohnerInnen lassen sich damit erklären, dass sie unter den begrenzten Möglichkeiten der direkten Interaktionen zwischen einfachen BürgerInnen und Politikern hervorstechen. Hier sind Politiker darauf angewiesen, sich dem Volk zu präsentieren und in gewissem Sinne zu stellen. Auch wenn das meist sehr ritualisiert abläuft und kaum das Risiko einer realen Konfrontation beinhaltet, ist es für viele BürgerInnen eine der wenigen Möglichkeiten Politiker in Person zu erleben und sich ein Bild von ihnen zu machen. Daneben existieren zwei weitere Aspekte, welche die besondere Stellung dieser Ereignisse ausmachen. Erstens wird die Glaubwürdigkeit von Politikern oft unter Bezugnahme auf ihren Wahlkampf bewertet. Immer wieder wird auf ihre Wahlkampfveranstaltungen und dort gegebene Versprechen verwiesen. So wurde in El Thonxi oft auf den Wahlkampf eines damaligen PRD-Abgeordneten im Parlament des Bundesstaates hingewiesen. Dieser stammte aus Barranca Empinada und war der Bruder eines meiner wichtigsten Informanten. Er hatte den Ort besucht und meinen GesprächspartnerInnen zu Folge versprochen, dem Dorf mehrere Tonnen Zement für Projekte zur Verfügung zu stellen. „Dieser Abgeordnete da aus Barranca Empinada den Ihr kennt, der war hier und hat uns einige Tonnen Zement versprochen. Aber bis jetzt ist er nie mehr wiedergekommen, um sie abzuliefern. Der ist genauso wie alle anderen.“ [Mariana]

Da der Zement nie geliefert wurde, war der Abgeordnete für sie ein Lügner oder zumindest eine unehrenhafte Person, die ihre Versprechen nicht einhält. Dies entspricht der Vorstellung vom typischen Politker, der auf Stimmensuche leichtfertige Versprechen macht oder bewusst versucht die BürgerInnen zu betrügen, was als eine klassische Strategie im Wahlkampf angesehen werden kann. Oft werden kleinere Geschenke gemacht und größere zugesagt, ohne diese Versprechen aber einzuhalten.

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Dieses Vorgehen wird dadurch erleichtert, dass viele Politiker nur auf einen Wahlkampf angewiesen sind, da in Mexiko als Erbe der Revolution politische Ämter nach jeder Amtsperiode neu besetzt werden müssen (vgl. Kap. 1.2.1). Zudem dürften Politiker dies als gängige Strategie ansehen, so dass es sich nicht direkt negativ auswirkt, den meisten Politikern aber einen ähnlich schlechten Ruf verschafft. Allerdings bedeutet dies nicht, dass später überhaupt keine Leistungen zugewiesen werden, sondern die zur Verfügung stehenden Ressourcen werden, gemäß der Logik des oben analysierten Aushandlungsprozesses, zunächst auf Dörfer verteilt, die wichtig und präsent sind. Vor allem werden diejenigen berücksichtigt, die als loyale Unterstützer wahrgenommen wurden. Zudem findet dieser Tausch nach klientelistischer Logik vor allem im „eigenen“ Gebiet des Politikers statt. Andere Dörfer werden besucht, allerdings ohne dass ihnen ein großer Stellenwert beigemessen wird. Zweitens ist die Erinnerung an frühere Versprechen der Abgeordneten ein weiterer Hinweis darauf, dass der Fokus primär auf den Personen liegt, die kandidieren oder politisch aktiv sind. Zwar werden bestimmte Erfahrungen mit Politikern auch auf deren Partei bezogen, aber die Person steht doch im Zentrum der Bewertung. Daraus ergibt sich ihre Bedeutung für die Stimmentscheidung, denn für einen Großteil der WählerInnen ist eher dies ausschlaggebend und nicht unbedingt die Partei oder das Programm. Das beruht aber nicht bloß auf persönlichen Sympathien oder einem charismatischen Auftreten, sondern auf der Einschätzung von Person und Persönlichkeit eines Politikers (s.u.). Es wird regelrecht durchgespielt und kalkuliert, was von ihm zu erwarten ist und welche Prioritäten er vermutlich setzen wird. Diese Überlegungen werden von seinem Auftreten, früheren Erfahrungen, seinen Aussagen und schließlich auch seiner Parteizugehörigkeit beeinflusst. 5.2.3 Bedeutung der Parteibasis Der Zyklus meiner Beobachtungen zu diesem Kommunalwahlkampf wurde mit der Schlussveranstaltung des PRI-Kandidaten abgeschlossen. Sie fand drei Tage vor den Wahlen in Cardonal, dem Hauptort der Gemeinde, statt und unterschied sich von den in El Thonxi beobachteten Veranstaltungen dadurch, dass es sich nicht um ein Forum der Interaktion zwischen einer konkreten Dorfgemeinschaft bzw. deren Vertretern und dem Kandidaten handelte. Stattdessen sollte eine die einzelnen Dörfer übergreifende Unterstützung der Partei demonstriert werden. Daher war dieses Event als kontrastierender Fall interessant. Die eigene Anhängerschaft sollte offenbar in den letzten Tagen vor der Wahl einen Motivationsschub erhalten, indem eine breite Unterstützung inszeniert wurde. Gleichzeitig sollte die Masse der WählerInnen davon überzeugt werden, dass dieser Politiker die Kommunalwahlen gewinnen würde. Dies entspricht der Vorstellung,

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dass ein Politiker durch die ihn unterstützenden Massen legitimiert wird. Solche Ereignisse werden in der Regel sehr gut vorbereitet, um das erstrebenswerte Bild vermitteln zu können. Dazu gehören die Wahl eines zentralen exponierten Ortes und die „Einladung“ eines möglichst großen Publikums. Dieses wird aus den Parteigängern des Kandidaten und durch Acarreo rekrutiert, wobei die Grenzen fließend sind, da für beides die lokalen Netzwerke der Partei aktiviert werden. So werden AktivistInnen in den Dorfgemeinschaften dazu angehalten, mit einer Gruppe „interessierter BürgerInnen“ bei der Veranstaltung zu erscheinen und die Partei organisiert meist den nötigen Transport. Auch wenn tatsächlich echte SympathisantInnen dazugehören, werden andere durch Geschenke oder Versprechungen überzeugt oder einfach durch die Sorge, ihr Dorf könnte Nachteile erfahren, wenn keine Unterstützung sichtbar wird. Gerade die PRI steht im Ruf, ihre vorgeblichen UnterstützerInnen bei öffentlichen Veranstaltungen, aber auch bei der Stimmabgabe auf diese Weise zu rekrutieren.6 So war ich überrascht, dass zwar ein exponierter Ort ausgewählt worden war, die Hauptstraße Cardonals wurde an einer zentralen Kreuzung gesperrt, um eine Bühne aufzubauen, aber auffallend wenig Menschen anwesend waren. Zunächst nahm ich an, dass sich potentielle TeilnehmerInnen aufgrund der weiten Wege verspätet hatten, aber wie sich herausstellte, war die Veranstaltung tatsächlich außerordentlich schlecht besucht. Im Publikum erkannte ich einige Personen aus El Thonxi, wodurch ich feststellte, dass nicht wie erwartet vorwiegend PRI-Anhänger anwesend waren. Es befanden sich viele bekannte Perredistas im Publikum, die sich die abschließende Veranstaltung der „gegnerischen“ Kampagne ansehen wollten. Bei den Anhängern beider Parteien sah ich verschlossene Gesichter, denn die PRD-SympathisantInnen reagierten kaum auf die Rede des Kandidaten, während die PRI-AktivistInnen mit der Situation unzufrieden waren und möglicherweise um den gewohnt hohen Wahlsieg fürchteten. So konnten weder die Ausgestaltung der Bühne, noch die unterstützenden Rufe der anwesenden AktivistInnen ihr Ziel erreichen. Das Event wirkte eher peinlich und war bereits ein Hinweis auf die drei Tage später folgende Wahlniederlage [Wahlkampffinale].

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Allerdings scheint es nicht ungewöhnlich zu sein, dass diese Accareados sich nicht politisch verpflichtet fühlen. So erzählte mir ein Jugendlicher aus El Dinghi, dass er gemeinsam mit anderen aus seinem Dorf 2012 an einer zentralen Kundgebung für den Präsidentschaftskandidaten der PRI, Enrique Peña Nieto, teilgenommen hatte. Er beschrieb es als eine von der PRI organisierte Bustour nach Mexiko-Stadt und sagt in abschätziger Weise, dass er sich gar nicht für den Kandidaten interessiert habe. Vielmehr wollte er die Gelegenheit nutzen kostenlos nach Mexiko-Stadt zu fahren, das Azteken-Stadion kennenzulernen und dabei verpflegt zu werden. [Francisco]

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Die Analyse der Position und Haltung der eigenen Parteimitglieder und -sympathisantInnen in diesem Fall bringt einige grundlegende Aspekte der Hand-lungslogiken und Interaktionsmodi zum Vorschein, die parteiinterne Machtbeziehungen und Aushandlungen strukturieren. Die lokalen UnterstützerInnen der Parteien sind, auch wenn es selten anerkannt wird, sehr wichtig um Wählerstimmen zu mobilisieren. Zwar existieren diverse Strategien Stimmen zu gewinnen, die meist in der überkommenen klientelistischen Logik fußen, aber dieses Beispiel zeigt, dass es keinesfalls (mehr) einen Automatismus in der Wahlentscheidung gibt. Dadurch erhält das Engagement der parteinahen AktivistInnen ein sehr großes Gewicht bei der Werbung um Stimmen. Dieses wichtige Bindeglied innerhalb des politischen Gefüges, oder anders betrachtet des Geflechts von Klientelbeziehungen, wurde in diesem Wahlkampf von der PRI-Führung missachtet, insbesondere weil von einem sicheren Sieg ausgegangen wurde. Dies war neben dem Wunsch vieler BürgerInnen nach einer anderen Politik einer der wichtigsten Gründe für die spätere Niederlage der PRI. Der Kandidat der PRI war durch den Gouverneur bestimmt worden. Meinen InformantInnen aus der PRI zufolge ist es durchaus üblich, dass einer der internen Kandidaten vom Gouverneur unterstützt wird oder der spätere Kandidat zumindest die Zustimmung des Gouverneurs benötigt. Dieser Kandidat war jedoch gegen den ausdrücklichen Rat und Wunsch der lokalen Parteibasis bestimmt worden, was selbst innerhalb der (lokalen) PRI großen Unmut hervorrief. So wurde gewarnt, dass gerade dieser Politiker einen sehr schlechten Ruf habe und dies Stimmen kosten könne. Einwände die von der Parteiführung übergangen wurden, denn sie ging offensichtlich davon aus, dass die PRI auf jeden Fall die Wahlen gewinnen würde. Eine Niederlage war schlicht nicht vorstellbar, so dass diese Möglichkeit für ihre Handlungslogik irrelevant war. Aber auch vor Ort glaubte zunächst niemand an die Möglichkeit einer Niederlage. Die Vorbehalte beruhten eher darauf, dass mit einem schwierigen Wahlkampf und Problemen in der Auseinandersetzung mit BürgerInnen und AnhängerInnen anderer Parteien gerechnet wurde, da diese die Person des Kandidaten zum Politikum machen konnten, was dann schließlich auch geschah (s.o.). Wichtiger war aber ein Aspekt, der in Gesprächen mit lokalen PRI-Politikern deutlich wurde. Die Kombination aus den befürchteten Problemen im Wahlkampf und der Erfahrung bei der Kandidatenwahl vollkommen übergangen worden zu sein, führte dazu, dass die Parteibasis nicht ausreichend motiviert war. Die mangelnde Identifikation mit dem Kandidaten einerseits und die Machtdemonstration der Parteiführung andererseits hatten in dieser wichtigen politischen Phase zur Entfremdung von der eigenen Partei geführt. Die mit diesem aufgrund der bisher sehr festen Parteibindungen ungewöhnlichen Prozess einhergehende Frustration war sehr deutlich aus Gesprächen herauszuhören, die ich mit zwei Líderes in El Thonxi führte [Juan; Goyo]. Der undemokratische interne Auswahlprozess hatte also dazu beigetragen, dass selbst PRI-Mitglieder diesem spezifischen Kandidaten skeptisch gegenüberstanden.

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Diese Reaktion ist ein bedeutender Hinweis auf ein sich wandelndes Verständnis politischer Interaktion. Bemerkenswert ist an diesem Fall, dass es sich um parteiinterne Regeln und Normen zu Entscheidungsprozessen und der Teilhabemöglichkeiten von Mitgliedern einer Partei handelt, die als alles andere als demokratisch galt. Zu früheren Zeiten war es üblich, dass PRI- Kandidaten für politische Ämter, und damit die späteren Amtsinhaber, durch die Weisung höherer Positionen bestimmt wurden. Auf nationaler Ebene geschah dies durch den Dedazo mit dem der amtierende Präsident nach eigenem Gutdünken den nächsten Präsidentschaftskandidaten bestimmte. Allerdings wurde darauf geachtet, dass immer wieder andere Parteigruppen, die auch für unterschiedliche Sektoren der Bevölkerung standen, zentrale Machtpositionen besetzen konnten. Dadurch waren einerseits interne Machtkämpfe institutionalisiert und entschärft und andererseits profitierten unterschiedliche Gruppen von der Macht, was zum Funktionieren des Gesamtsystems und damit der langen Herrschaft der PRI beitrug (vgl. Kap. 1.2.1). In dem analysierten Wahlkampf hat die Parteiführung im Bundesstaat Hidalgo offensichtlich der Dedazo-Logik entsprechend gehandelt. Aus Perspektive der Parteimitglieder vor Ort war ein solches Vorgehen aber nicht mehr uneingeschränkt legitim, was den Wandel der lokalen Sichtweise verdeutlicht. Selbst hier war bei AnhängerInnen ein gewisser Anspruch demokratischer Teilhabe an den Entscheidungen ihrer Partei erwachsen. Trotz aller Siegesgewissheit nahmen lokale Priistas nun die Wahlen und insbesondere den Wahlkampf als Auseinandersetzung mit den BürgerInnen ernst. Darunter ist weniger eine offen geführte Debatte mit WählerInnen zu verstehen, denn öffentliche politische Kommunikation findet vorwiegend in der Art der analysierten Wahlkampfveranstaltung statt. Stattdessen werden indirekte und informelle Wege im dörflichen Alltag bspw. bei Treffen im familiären Rahmen oder unter Bekannten genutzt. Über diese Kommunikationswege erhalten lokale AktivistInnen einen Eindruck von der politischen Stimmung und aktuellem Unmut in der Gemeinschaft. Diese Haltung unterstreicht den Wandel politischer Aushandlungsmodi, denn im Gegensatz zur Parteiführung, die offensichtlich überkommenen Denkschemata und Handlungslogiken verhaftet war, sahen sie die Wahlen nicht mehr als politisches Ritual, in dem Demokratie inszeniert wurde, sondern als tatsächlichen demokratischen Wettbewerb in dem BürgerInnen eine (relativ freie) Wahl treffen konnten. Neben einer gewissen Verdrossenheit und Frustration scheinen für diesen lokalen Wandel von der nationalen und globalen Ebene vermittelte Demokratiediskurse (in Fernsehen, Ansprachen von Politikern, regionalen Zeitungen, aber auch über Basisbewegungen usw.) von Bedeutung gewesen zu sein. Dazu kam die durch verschiedene Wahlen hervorgerufene Erkenntnis, dass ein Machtwechsel tatsächlich möglich ist (s. Kap. 1.1). Spätestens seit den Wahlen im Jahr 2000 können politische Akteure das Thema der Demokratie nicht mehr ignorieren und setzen es zumindest rhetorisch

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ein. Dies ist zwar oft ein „hohler“ Diskurs,7 der aber trotzdem zur Verbreitung des Demokratiegedankens beiträgt und dafür sorgt, dass sich BürgerInnen eine wenn auch oft unklare Vorstellung von Demokratie bilden. So sagte mir eine Informantin in El Thonxi auf die Frage, was denn für sie Demokratie bedeute: „Na, das ist doch das, dass sie im Fernsehen sprechen. Dass diese ganzen Leute da im Fernsehen sind“ und bezog sich damit auf die Präsenz verschiedener Parteien bzw. Politiker in den Medien [Doña Lydia]. Das Gefühl von der Parteiführung missachtet zu werden begünstigte auch die spätere Abspaltung vieler AktivistInnen, insbesondere von Maestros Bilingües, als sich die Gelegenheit ergab eine eigene Partei, Partido de la Nueva Alianza (kurz PANAL oder im Volksmund Nueva Alianza) zu gründen (vgl. Kap. 6.4). In diesem Wahlkampf war aber zunächst zu beobachten, dass Parteigänger der PRI zwar auf allen Ebenen ihre Pflicht im Wahlkampf erfüllten, aber weniger überzeugend waren als gewohnt. So gab es bspw. einen geringeren Einsatz bei der Organisation des Acarreo, was in der schwachen Beteiligung an der Abschlussveranstaltung evident wurde. Dies zeigt wie eine unangemessene realitätsferne Sichtweise der Parteiführung einen Motivationsmangel an der Basis provozierte und dem Wahlkampf den Schwung nahm, was schließlich zur Wahlniederlage beitrug. Die Analyse dieser parteiinternen Interfaces belegt eine deutliche Diskontinuität zwischen den Handlungslogiken der Parteiführung und lokaler AktivistInnen. Auf höheren Parteiebenen setzte erst nach der verlorenen Wahl ein Wandel der Einstellung zur politischen Interaktion mit BürgerInnen ein, wodurch sich Räume für neue bzw. erneuerte Strategien und Akteure öffneten (s. Kap. 7.2). Ganz anders stellte sich die Situation bei der PRD dar. Hier hatte es zwar auch Probleme gegeben, einen Kandidaten zu finden, allerdings unter anderen Vorzeichen. Niemand war gesetzt gewesen und es scheint sogar schwierig gewesen zu sein, überhaupt ein geeignetes Parteimitglied zu finden, das bereit war sich auf den Wahlkampf einzulassen. Schließlich wurde mit einer schwierigen Auseinandersetzung mit der PRI und einer fast sicheren Wahlniederlage gerechnet. Aus Perspektive der Perredistas konnte es nur darum gehen, wie bereits zuvor den Stimmenanteil zu vergrößern. Dies belastete schließlich auch den PRD-Kandidaten, was sich u.a. in seinem unsicheren Umgang mit unerwarteten Situationen (s.o.) und der Tatsache äußert, dass er kurz vor Abschluss des Wahlkampfes aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten wollte, dann aber umgestimmt wurde. Der PRD kam aber zugute, dass sich ihre Anhänger mit dem Kandidaten identifizieren konnten, während der PRI-Kandidat ein perfektes Feindbild abgab, da er die als korrupt und veraltet verstandene Politik der PRI symbolisierte. Da die PRD zudem über AktivistInnen verfügte, die wie der Wahlkampfleiter aus politischer Überzeugung sehr engagiert waren, bot sich das Bild 7

So bezeichnet sich die PRI mittlerweile als „neue PRI“ und versucht sich u.a. durch interne Vorwahlen als demokratische Kraft zu inszenieren (s. Kapitel 1.2.1).

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einer auf´s Höchste motivierten Parteibasis. Nicht zuletzt zeigte sich das in einem bemerkenswerten Einsatz im Wahlkampf. Viele der AktivistInnen wirkten unermüdlich und in der letzten Phase war ihnen der Glaube an die Möglichkeit eines guten Wahlergebnisses, eines Denkzettels für die PRI, anzumerken. Dieser Wahlkampf ist ein gutes Beispiel dafür, dass entgegen der Handlungslogik der Parteieliten, der oft die Vorstellung einer hierarchischen oder klientelistischen Strukturierung politischer Beziehungen zugrunde liegt, sowohl die lokale Parteibasis, als auch „einfachen“ WählerInnen einen großen Einfluss auf den Ausgang von Wahlen haben. Dies ist jedoch nur ein Punkt an dem die Dorfgemeinschaft für politische Prozesse bedeutend ist. Wie ich zeigen werde trifft dies auch auf weitere Dimensionen von Politik zu.

5.3 W IDERSTREITENDE P OLITIKLOGIKEN UND - MODI Die Analyse des Kommunalwahlkampfes in El Thonxi zeigt wie sich politische Handlungslogiken und -rationalitäten im Valle del Mezquital verändert haben. Obwohl alle auf der hergebrachten klientelistisch geprägten politischen Logik fußen, haben sich unterschiedliche politische Aushandlungsmodi und Strategien entwickelt. Ausgehend von Handlungsrationalitäten der politischen Bindung und der Entscheidung der Stimmabgabe werde ich dies weiter analysieren und dabei zunächst auf den Wandel eher herkömmlicher Rationalitäten, dann auf die Umkehrung klientelistischer Logik und schließlich auf Tendenzen weitergehender Ablösung von der überbrachten Logik eingehen. 5.3.1 Politische Bindung und Wahlentscheidungen – Wandel und Diversifizierung der Handlungsrationalitäten Ein Beispiel für den Wandel der Politiklogiken sind die Wahlentscheidungen der BürgerInnen in den Dörfern und die Veränderung ihrer Art der politischen Bindung. Ich konnte im Laufe meiner Feldforschung mit mehreren Personen relativ offen darüber sprechen, wie sie selbst oder „die Leute im allgemeinen“ ihre Entscheidung für die Unterstützung eines bestimmten Kandidaten treffen. Dies waren Informationen, die ich in der Regel in eher informellen Gesprächen sammelte, meist in Unterhaltungen über das aktuelle politische Geschehen und bspw. anstehende Wahlen und dazugehörige Kampagnen. Zum größten Teil handelte es sich, wie grundsätzlich bei eher sensiblem Material, um Bruchstücke, also Einwürfe, kurze Kommentare und ähnliches, die ich in der Analyse zu einem kohärenten Bild der Logiken und Handlungsrationalitäten im politischen Raum zusammenfügte.

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Wie bereits angesprochen gab es früher verschiedene Gründe der PRI bzw. ihren Kandidaten die Stimme zu geben. So ging es darum sich kollektiv eine günstige Position im politischen System zu sichern, um von dessen Vorzügen zu profitieren. Zweifel aufgrund von Korruption, Machtmissbrauch usw. blieben eher außen vor, weil die Dörfer letztlich immer materielle Unterstützung erhielten und die wenigen Transfers nicht riskiert werden sollten. Es wurde also geschlossene Unterstützung für die PRI inszeniert, die gewissermaßen über den Staat und damit dessen Ressourcen verfügte. Die kollektive Strategie bestand darin, sich durch demonstrative Unterstützung eine möglichst günstige Position in den politischen Netzwerken zu schaffen und damit Ressourcen zu erlangen. Diese politische Logik der kollektiven Einbindung in ein klientelistisches Austauschnetzwerk wurde von den Individuen als eigene Handlungslogik übernommen, denn das Verständnis von Politik war durch Erfahrungen mit klientelistischen Aushandlungsmodi geprägt. Aus Perspektive der DörflerInnen funktionierte Politik eben auf diese Weise. Mittlerweile hat aber eine Vielzahl von Aspekten an Bedeutung gewonnen, so dass der Prozess politischer Bindung und der Wahlentscheidung offener und komplexer geworden ist. Dies analysiere ich anhand folgender grundlegender Elemente: Wandel von Parteibindungen, Nähe zum Kandidaten, „Stimmenkauf“, persönliches Kalkül, familiäre Bindung und Personalisierung von Politik. Parteibindungen – Auflösung vs. Stärkung Offenbar gibt es nur noch selten feste Bindungen an eine bestimmte Partei, wobei die fortbestehenden umso stabiler sind (s.u.). Während es bis vor wenigen Jahren quasi als Norm betrachtet wurde, die PRI zu wählen, als Partei die garantierte, dass man an einem begrenzten Teil der Leistungen des Staates teilhaben konnte, hat sich diese Festlegung im Laufe der letzten Jahre aufgelöst. Nicht zuletzt durch Ereignisse auf nationaler Ebene (s. Kap. 1.1) rückten nach und nach politische Alternativen ins Blickfeld und die Kenntnis der Breite des Parteienspektrums veränderte die Bewertung von Politik. Dies stärkte auch lokale oppositionelle Akteure. Zwar beschränkte sich die „Parteienvielfalt“ anfangs meist auf zwei oder höchstens drei der großen Parteien, aber mittlerweile werden auch in den Dörfern kleinere Parteien als wählbare Option betrachtet oder sogar aktiv unterstützt.8 Entscheidend ist, dass diese Alternativen nicht nur präsent sind und in die eigene Wahlentscheidung einfließen, sondern es mittlerweile weitgehend akzeptiert ist, seine Partei frei zu wählen, und nicht mit direkten Sanktionen zu rechnen ist. Mögliche Benachteiligungen aufgrund der Parteiaffinität äußern sich aber ggf. weiterhin darin, dass man den Zugang zu Leistungen oder Vorteilen verliert, die mit der Zugehörigkeit zu einem konkreten Parteinetzwerk bzw. zu dessen Klientel zusammenhängen, was eben auch staatliche Leistungen umfassen kann. Grundsätzlich herrscht in der Region aber eine formal pluralistische und 8

Wobei diese immer wieder Allianzen mit den großen Parteien eingehen.

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tolerante Haltung im politischen Bereich, abweichende Präferenzen werden akzeptiert und als legitim angesehen. Es finden zwar Versuche statt, andere von der eigenen Partei zu überzeugen oder unter Verweis auf die vorgebliche Gemeinschaftsdisziplin für eine bestimmte Partei zu werben, aber aus dem Valle del Mezquital ist mir, im Gegensatz zu anderen Regionen Mexikos, keine „simple“ parteipolitisch motivierte Unterdrückung oder gewaltsame Auseinandersetzung bekannt. Allerdings haben viele der im vierten Kapitel genannten Konflikte einen parteipolitischen Hintergrund oder sind politisch aufgeladen. Der Prozess der Schwächung von Parteibindungen verlief uneinheitlich, denn insbesondere die zeitliche Dimension variierte stark. In El Thonxi fand die Öffnung des Parteienhorizonts erst in den letzten fünf bis zehn Jahren statt und stellt damit eine relativ neue Entwicklung dar, die sich im Zeitraum meiner Forschung zuspitzte. Dagegen fand die Abkehr von der PRI in Barranca Empinada deutlich früher statt, vermutlich sogar vor der Gründung der PRD. Hier wurde relativ früh, spätestens seit den 1980er Jahren, im Kontext der internen und externen Auseinandersetzungen nach Alternativen gesucht. Allerdings wurde es in diesem Ort schließlich zur Norm, die PRD zu wählen. Diese Festlegung auf eine Partei scheint sich auch hier erst in den letzten Jahren aufzulösen, wobei der soziale Druck „korrekt“ zu wählen, wohl nie so ausgeprägt war, wie es für die PRI-Orientierung in früheren Zeiten anzunehmen ist. Es hat in Barranca Empinada immer eine Gruppe gegeben, die sich um frühere, entmachtete Líderes sammelte und heute in Abgrenzung zu den parteipolitischen Flügelkämpfen der neuen Líderes, offen ihre Unterstützung für die PRI betont [Doña Pancha, Don Carlos]. Daneben existiert eine wachsende Gruppe, die sich von den Líderes benutzt fühlt und von der Politik enttäuscht ist. Diese Personen bringen demonstrativ kleine Parteien als Alternativen in die lokalpolitische Diskussion ein oder unterstützen überhaupt keine Partei mehr (s.u.). Die wichtigen Ausnahmefälle in denen feste Parteibindungen fortbestehen, beziehen sich auf ganz unterschiedliche Gruppen. So gibt es zunächst die Gruppe der Parteimitglieder bzw. der öffentlich bekannten SympathisantInnen. Diese stehen in der Regel zu Ihrer Partei, auch wenn gelegentlich aus wahltaktischen Erwägungen abweichend gestimmt wird. Allerdings konnte ich auch beobachten, dass sich Mitglieder kollektiv von einer Partei abwandten und einer anderen beitraten. Dies war bei dem Austritt der lokalen Líderes von El Thonxi aus der PRI, die meisten davon Maestros Bilingües, und der anschließenden Gründung einer Sektion der neuen Partei Nueva Alianza der Fall (s.u.). Zwar koaliert diese Partei letzten Endes mit der PRI, trotzdem war es von strategischem Vorteil die Partei zu verlassen, ein Vorgang der noch zu Beginn meiner Forschung undenkbar schien. Hier haben sich die Einstellung zu Parteiloyalität und die Motive politischer Bindung in kurzer Zeit gewandelt. Eine zweite große Gruppe die ihre politische Präferenz selten ändert sind ältere Männer in den Dörfern. Sie haben sich vor längerer Zeit als Dorfgemeinschaft zum

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Bündnis mit einer Partei entschieden und bleiben dieser in der Regel treu. In Barranca Empinada ist dies die PRD gewesen, da sie im Protest gegen Übergriffe und Amtsmissbrauch im Munizip die einzig logische Partei-Alternative darstellte. In El Thonxi dagegen sind ältere Männer in der Regel PRI-Wähler, was angesichts PRI-dominierter Institutionen der hergebrachten politischen Handlungslogik entsprach. Darüber hinaus findet sich hier die klassische Einstellung, auf ewig der PRI anzugehören. Dies wird mit Aussagen wie: „Die PRI hat mir mein Land gegeben, deswegen werde ich sie immer wählen“ unterstrichen. Damit wird auf Präsident Lazaro Cárdenas und die Phase der Landreform in den 1930er Jahren angespielt (s. Kap. 3.1.2). Diese Veränderung der Produktions- und Lebensbedingungen im ländlichen Raum lebt im kollektiven Gedächtnis fort und bestimmt bis heute die politische Loyalität dieser Männer. Ironischerweise ist gerade sein Sohn, Cuathémoc Cárdenas aus der PRI ausgetreten, mit dem expliziten Anspruch, das progressive Erbe seines Vaters in einer neuen demokratischen Partei wiederzubeleben (s. Kap. 1.2.1). Für diese Gruppe trifft aber (noch) das stereotyp und oft ironisch benutzte Sprichwort zu: „Wir sind Mexikaner, wir gehören der PRI an und wir sind katholisch.“ Schließlich stieß ich noch auf eine dritte Gruppe bzw. Formation, deren Mitglieder als loyal zu einer Partei angesehen werden. Dabei handelt es sich um Dorfgemeinschaften, die als kollektive Sympathisanten und Unterstützer einer Partei wahrgenommen werden. Interne Unterschiede werden dabei ausgeblendet und das Bild einer politisch harmonischen Gemeinschaft konstruiert. Allerdings kann eine solche Inszenierung eine wichtige Strategie von Dorfgemeinschaften sein, und wird daher oft von Anhängern anderer Parteien stillschweigend hingenommen (s.o.). Ein in vielen Gesprächen genanntes Beispiel, ist die Dorfgemeinschaft El Alberto, die beschlossen haben soll, im Austausch für mehrere Tonnen Zement geschlossen für die PAN zu stimmen. Auch wenn dies nicht stimmen mag, ist El Alberto als sehr geschlossene Gemeinschaft bekannt, deren Mitglieder sich trotz möglicher interner Differenzen an gefällte Beschlüsse halten. Dies beruht auf der Erfahrung durch offene Inszenierung ihrer Geschlossenheit Vorteile für ihre Gemeinschaft erreichen zu können. Daneben verfügt dieser Ort über die meisten Wählerstimmen in der Region, kann also nicht einfach ignoriert werden und ist ein lohnendes Ziel für Absprachen über die Stimmabgabe. Dieser Dorfgemeinschaft kann es zudem gleichgültig sein, ob allgemein angenommen wird, dass sie ihre Stimmen verkauft, denn sie ist ausreichend gefestigt und autonom, um weder Sanktionen noch ein schlechtes Ansehen zu fürchten. Inzwischen wurde ein Bild von El Alberto als PRD-Dorf geprägt und die Gemeinschaft hat sich mit anderen Dörfern in der Region vernetzt oder sogar alliiert, denen wie Barranca Empinada aufgrund einer (vermeintlich) regierungskritischen Haltung die Zugehörigkeit zur PRD nachgesagt wird.9 El Thonxi hat dagegen eher versucht sich nach zwei Seiten hin abzusichern (s.o.). 9

Vgl. zu El Alberto Rivera Garay (2009).

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Nähe zum Kandidaten bzw. dem/r WerberIn Ein aufschlussreiches Beispiel für Wahlwerbung in der Region wurde mir von Dorothea genannt. Sie arbeitete damals bei der Dependance des DIF10 in der Gemeinde. Teil ihrer Arbeit war es, den als bedürftig registrierten Menschen Lebensmittelpakete und andere Arten von Unterstützung zukommen zu lassen. In einem Dorf wurde sie dabei von einer Gruppe älterer Frauen gefragt, für welchen Kandidaten sie denn stimmen sollten. [Dorothea]

An diesem kleinen Ereignis lassen sich verschiedene Aspekte politischer Praktiken und Handlungslogiken analysieren. Zunächst zeigt es wie bedeutend die persönliche Nähe zum Kandidaten oder in diesem Fall seiner Fürsprecherin ist, sei es über verwandtschaftliche oder andere Beziehungen. Sie bestimmt oft auch die Werbung und Überzeugungsarbeit, die in den eigenen Netzwerken betrieben wird, und deren Erfolg hängt wiederum von der Beziehung der WählerInnen zur werbenden Person ab. Dies ergibt sich aus der Beobachtung, dass viele politisch Interessierte passende Gelegenheiten nutzen, um Familienmitglieder, Freunde und andere DörflerInnen von ihrem Kandidaten zu überzeugen. Diese Werbung findet im Rahmen alltäglicher Gespräche statt und wird meist betont „nebenbei“ betrieben. Informelle Netzwerke sind daher ein bedeutendes Forum für die Einwerbung von Stimmen, denn einerseits kann hier immer wieder auf die Vorzüge des eigenen Kandidaten hingewiesen werden. Andererseits wird das in alltäglichen Interaktionen gewonnene Vertrauen in die eigene Person für die Werbung eingesetzt und gewissermaßen auf den favorisierten Kandidaten übertragen. Wenn eine Person, die als aufrecht und korrekt erlebt wurde oder Hilfe angeboten hat, zeigt von einem Kandidaten besonders überzeugt zu sein, dann richten sich andere Personen eher danach. Insbesondere wenn sie unentschieden sind oder es nicht triftige Gründe gibt einen anderen Kandidaten vorzuziehen. Dann findet eine Übertragung reziprozitärer dörflicher oder persönlicher Beziehungen in den lokalpolitischen Bereich statt. Offenbar ist diese informelle Art die Wahlentscheidung zu beeinflussen unter denjenigen DörflerInnen am erfolgreichsten, die sich sonst kaum mit Partei-Politik beschäftigen. In der Regel Personen die sich wie die Frauen im Beispiel nicht ausreichend kompetent fühlen und daher im Verlauf der Wahlkämpfe Rat suchen, wie sie sich entscheiden sollen. Dies trifft meist auf Frauen zu und auf einige wenige Männer, die sich nie mit La Política befassen wollten und sämtliche politische Aktivitäten den Vertretern der Dorfgemeinschaft überlassen haben. Diese Gruppe entspricht quasi den Klienten aus klassischen Modellen klientelistischer Beziehungen und steht in krassem Gegensatz zum Großteil der Männer die sich auf die eine oder andere Art politisch betätigen. Weil es einerseits als männlich

10 Desarrollo Integral Familiar – eine staatliche Einrichtung, die sich um soziale Belange auf individueller und familiärer Ebene kümmern soll.

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definierte Tätigkeit in ihren Zuständigkeitsbereich fällt und andererseits fast eine Art Hobby vieler Männer darstellt. Dorothea ist im genannten Fall nicht einfach eine Person die Lebensmittelpakete verteilt, sondern sie wird durch ihre Position zu einer Ansprechpartnerin und Beraterin. Dabei steht sie auch für sehr persönliche, meist familiäre Probleme, Sorgen und Zweifel zur Verfügung. Diese Arbeit setzt das Vertrauen der betreuten Menschen in die Person Dorothea voraus, welches sich, wenn es bestätigt wird, auf andere Bereiche überträgt, nicht zuletzt auch den politischen. In diesem speziellen Fall kommt hinzu, dass Dorothea sich im Rahmen ihrer Arbeit sehr für die betreuten Personen einsetzte und ihnen dadurch vermittelte, dass sie sich ernsthaft für ihre Sorgen interessierte. In Verbindung mit ihrer lokal angepassten Art der Interaktion entstand ein Gefühl von Nähe. Daher holten sich viele Personen bei ihr Rat oder fragten nach ihrer Meinung, so eben auch bezogen auf die Wahlen. Oft geschieht dies auch um bei der Meinungsbildung nicht auf die bekannten „Políticos“ in den Dörfern angewiesen zu sein. Dann kann eine externe Meinung ein relativ großes Gewicht haben. Die Art wie Dorothea mit den Menschen in den Dörfern umgeht, ihr guter Draht zur Basis, wird von der PRI mit der sie sympathisiert sehr geschätzt und ist ein Grund dafür, warum sie eine wichtige Ansprechpartnerin für die lokale Organisation von Unterstützung geworden ist. „Stimmenkauf“ Darüber hinaus zeigt Dorotheas Bericht, dass diese Frauen, wie die meisten Menschen in der Region, an die politische Konditionalität jeglicher Hilfe und Unterstützung gewohnt waren. Alles was „der Staat“ zur Verfügung stellte, war mit politischen Bedingungen nach klientelistischer Manier verknüpft. Der jeweilige Amtsinhaber bzw. seine Partei, gewährten gewisse Leistungen im Austausch für politische Unterstützung. Diese Praxis scheint von vielen DörflerInnen so internalisiert worden zu sein, dass die klientelistische Logik sinnstiftend ist für die Einordnung staatlicher Leistungen. So hatten die Frauen im Beispiel eine personenbezogene Vorstellung der staatlichen Tranfers, was dem Kalkül vieler Politiker entspricht. In dieser Gruppe bestand entweder kein Bewusstsein über ein Recht auf diese Leistungen oder es war irrelevant, da man davon ausging es nicht gegen die Amtsträger durchsetzen zu können. Falls eine Leistung verweigert wird, wird dies allerdings nicht einfach hingenommen. Hier würde von Amtsversagen, -missbrauch oder Betrug gesprochen werden. Denn vor allem jüngere BürgerInnen sind sich immer stärker des Anspruchs auf staatliche Mittel bewusst. Dies hängt mit einer besseren Information zusammen, denn bspw. wird sogar auf den Verpackungen der Lebensmittel für staatliche Programme mittlerweile auf den unparteilichen Charakter hingewiesen. Daher entspricht die Praxis den Amtsträgern als Person „Dankbarkeit zu zeigen“ der angesprochenen Logik, sich im Sinne versteckten Widerstands bzw. von hidden transcripts (Scott 1990) auf

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politische Praktiken und Strukturen einzulassen, solange damit der eigene Bereich gesichert und geschützt bleibt. Verstoßen die „Mächtigen“ gegen die unausgesprochenen Abmachungen, dann sind die „Machtlosen“ keineswegs so passiv oder gar lethargisch, wie es oft den Anschein hat. So hat sich im Valle del Mezquital das Gleichgewicht zwischen den jeweiligen Erwartungen und Angeboten im (quasi-)klientelistischen Austausch verändert, zum Teil durch Fehleinschätzungen politischer Führungspersönlichkeiten. Dadurch ist das festgefahrene politische Gefüge in Bewegung geraten, ein Prozess, der sich in anderen Regionen ähnlich abgespielt haben dürfte. Nichtsdestotrotz werden staatliche Leistungen weiterhin von vielen, besonders älteren BürgerInnen und einigen Frauen als persönliche Hilfe des Amtsinhabers verstanden, denn selbst wenn das Recht auf eine Leistung bewusst ist, so kann doch die tatsächliche Zuteilung als Wohlwollen der zuständigen Person angesehen werden. Der Versuch zu belegen, dass dieses gerechtfertigt ist, kann zu einem entscheidenden Element der eigenen politischen Praxis werden. Die Instrumentalisierung staatlicher Leistungen ist eine der gängigen Praktiken des Stimmenkaufs. Den Aussagen vieler InformantInnen zu Folge haben sich BürgerInnen bis vor einigen Jahren durch Wahlgeschenke quasi dazu verpflichtet gefühlt, ihre Stimme der entsprechenden Partei zu geben. Eine Einschätzung die auch in der breiteren Öffentlichkeit vertreten wird. Selbst wenn es ein solches Gefühl der Verpflichtung gegeben haben sollte, stellt sich jedoch die Frage, wie weit sie gereicht haben dürfte. Sicherlich haben insbesondere ärmere Menschen auch kleinere Geschenke als wertvoll betrachtet, was aber auch an dem direkten Kontakt mit dem Kandidaten lag. Es war oft eine Wahl zwischen dem wenigen was man sicher erhielt und der Gefahr, gar nichts zu bekommen. Trotzdem wirkt das in Gesprächen oft genannte Beispiel des Verkaufs der Stimme gegen ein T-Shirt, eine Mütze oder ein belegtes Brötchen unrealistisch. Hier zeigt sich einerseits eher eine diskursive Übertreibung dieser Praxis durch Kritiker der Regierung und insbesondere der PRI. Andererseits dürfte sich bei vielen Parteioberen die Vorstellung entwickelt haben, dass diese Geschenke tatsächlich wahlbeeinflussend sind. Dies fügt sich in Sichtweisen ein, gemäß denen BürgerInnen im ländlichen Raum als leicht zu manipulieren, dumm und ignorant gelten (s. Kap. 1.3.2).11 Auf beiden Seiten wandeln sich diese Vorstellungen aber, vor allem weil in den letzten Jahren zum einen aus Sicht der Parteien die Erfolge und zum anderen auf Seite der WählerInnen die Einhaltung größerer Versprechen nicht mehr gesichert sind. So wird diese Strategie fortgeführt, allerdings deutlich abgewandelt. Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass die Migration und damit verbundene Geldflüsse und Wohlstandsteigerung dazu beigetragen haben, dass die bisherige Art von Geschenken nicht mehr ausreichend attraktiv ist. Insbesondere 11 So wurde mir in der Grundschule eines Nachbarortes von El Thonxi berichtet, dass es dort zwei Computer gibt. Einer wurde vom Bildungsministerium gestellt und der andere von einem Kandidaten geschenkt. Beide seien aber so alt gewesen, dass sie nicht funktionierten.

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ist die grundlegende Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung und damit dem Wohlwollen bestimmter Amtsträger gesunken. Des Weiteren haben DörflerInnen einen erleichterten Zugang zu Informationen und den Diskursen verschiedener Parteien, sowie durch Migration und ein gestiegenes Bildungsniveau andere Erfahrungen und Perspektiven gewonnen, die bisher gültige Regeln und Aushandlungsmodi in Frage stellen können. Bei dem Stimmenkauf handelt es sich also nicht um einen Automatismus. Es gibt keine Garantie dafür, dass die Person die etwas erhält tatsächlich entsprechend wählen wird und in den letzten Jahren ist es immer schwieriger geworden dies festzustellen. Insgesamt handelt es sich beim Stimmenkauf um recht differenzierte Praktiken. So existieren Versuche WählerInnen durch kleinere Geschenke oder die Instrumentalisierung staatlicher Leistungen wie Stipendien und Lebensmittelhilfen zu verpflichten. Beispiele für diese Art der Wahlbeeinflussung fanden sich im Wahlkampf um die Abgeordnetenmandate in Hidalgo im Frühjahr 2008, aber auch bei den Präsidentenwahlen 2012 (vgl. Kap. 1.2.1). Ähnlich verhält es sich mit „Geschenken“ an Dorfgemeinschaften (s.u.). Viele InformantInnen betonten, dass man zunächst einmal Geschenke annehmen und danach frei und unbeeinflusst entscheiden solle, wen man wählt. Dies ist eine Aussage, die den Wandel politischer Praktiken symbolisiert, denn sie ist weit verbreitet. Sie ist als Element eines freieren und stärker demokratischen Vorgehens im politischen Bereich zu interpretieren. Denn die dahinter stehende Logik, zumindest auf Seiten vieler Bürger/innen, setzt eine freie Entscheidung voraus, was zudem durch den Aushandlungscharakter der diversen Arten von Stimmenkäufen unterstrichen wird. Die Praxis versuchter Wahlbeeinflussung ist gewissermaßen modernisiert worden und wird in einigen Varianten als legitimes, wenn auch vermessenes, Angebot angesehen. Persönliches Kalkül Im Gegensatz zu hergebrachten Strategien des Stimmenkaufs und kollektiver klientelistischer Interaktionsmodi im Wahlkampf, finden sich mittlerweile oft andere Erwägungen im Prozess der Stimmabgabe. Viele Mitglieder der Dorfgemeinschaften fühlen sich nicht mehr in dem Maße wie früher dazu verpflichtet, zum Wohle der Dorfgemeinschaft das Bild der geschlossenen Unterstützung eines Kandidaten aufrecht zu erhalten. Und selbst wenn bedeutet dies oft nur noch wenig für die persönliche Stimmabgabe. Die Inszenierung von Geschlossenheit ist zwar als politischer Aushandlungsmodus außerhalb der Wahlen weiterhin wichtig (s.o.), beeinflusst aber immer weniger individuelle Wahlentscheidungen. So kann von einer gewissen Wahlfreiheit gesprochen werden, was aber nicht bedeutet, dass wie im Idealbild einer repräsentativen Demokratie die WählerInnen eine Partei aufgrund ihrer programmatischen Positionen und Inhalte wählen. Trotzdem belegt die gewachsene Entschei-

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dungsfreiheit einen Wandel der Perspektive auf Politik, denn u.a. haben sich die strategischen Erwägungen im Hintergrund verändert. Dies zeigt die Aussage eines Informanten: „Ich werde den Kandidaten der PRI wählen. Er ist korrupt und wird Geld stehlen, aber wenn er gewinnt wird er die Straße nach El Nondhi asphaltieren lassen. Dann komme ich schneller hin, wenn ich meine Familie besuchen möchte. Und mein Auto verschleißt nicht mehr so stark wie jetzt. Deshalb werde ich für ihn stimmen [leichtes bekräftigendes Lachen].“ [Benedicto]

Dies ist beispielhaft für den aktuell stattfindenden Wandel der Art, wie die Entscheidung einen bestimmten Kandidaten zu wählen oder sogar zu unterstützen getroffen wird. Es hat eine Neuorientierung stattgefunden, die auf alten Erwägungen aufbauend den Entscheidungsprozess mit weiteren Elementen angereichert hat, die Anzeichen für den größeren Einfluss persönlichen Kalküls in der Entscheidungsfindung sind. Die Sinnstiftung für ihr politisches Handeln, darunter die Wahlentscheidung, findet vor einem gewandelten sozialen und politischen Hintergrund statt. WählerInnen richten ihre Stimmabgabe mittlerweile stärker an den Versprechungen und insbesondere ihrer eigenen Einschätzung der einzelnen Kandidaten aus. Wie obiges Zitat zeigt, ist nicht einmal ein formales und öffentliches Versprechen ausschlaggebend, sondern die Aussicht auf etwas, von dem angenommen wird, dass es der Kandidat verwirklichen wird. Dies setzt eine gewisse Information voraus, um den Kandidaten einschätzen und einigermaßen realistische Prognosen über seine Amtsführung treffen zu können. Hier erhalten informell verbreitete Informationen, z.B. über parteinahe oder familiäre Netzwerke, aber auch Gerüchte und (angebliche) Aussagen der Kandidaten eine große Bedeutung. Sie sind eine der wichtigsten Quellen für die Meinungsbildung der BürgerInnen über Kandidaten, was durch das Wahlkampfbeispiel belegt wird (s.o.). Im Sinne der Frage nach der Herstellung von Perspektiven der Demokratisierung, ist bedeutend, dass diese Handlungslogik durchaus mit als „alt“ und demokratiefeindlich angesehenen Praktiken wie dem Stimmenkauf vereinbar ist. Nichtsdestotrotz stellt sie einen Wandel dar. Daneben scheint es ein allgemeines Merkmal politischer Handlungslogiken zu sein, abwägend vorzugehen. So stellt Dorothea für die Arbeit innerhalb der Parteien und parteinaher Organisationen fest: „jeder schaut immer, was er für sich selbst herausholen kann“. Das entspricht im Kern dem beschriebenen Abwägungsprozess bei der Wahl. Allerdings sollte dies nicht als reine Individualisierung der Entscheidungsprozesse verstanden werden, denn sie werden letztlich oft in Kollektiven getroffen oder finden zumindest vor dem Hintergrund kollektiver Erwägungen, wie z.B. der Dorfgemeinschaft oder der Familien statt, wie im nächsten Abschnitt verdeutlicht wird.

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Familiäre Bindungen Wie oben diskutiert ist die Art der Beziehung zu einem Kandidaten eine zentrale Grundlage zur möglichen Entscheidung für diesen, da man sich ggf. stärker mit ihm identifizieren kann oder eine gewisse Loyalität empfunden wird. Falls er aus dem eigenen Dorf, dem Bekanntenkreis oder sogar aus der Verwandtschaft stammt, dann ist es wahrscheinlich, dass dieser Aspekt andere Erwägungen überlagert. Wie Dorothea sagte: „Das Wichtigste ist, wenn ein Kandidat zur Familie gehört. Oder wenn ich ihn zumindest gut kenne. So würde ich immer Juan [ihren Schwager] wählen, wenn er Kandidat ist, egal für welche Partei, weil wir zur gleichen Familie gehören.“ [Dorothea]

Obwohl sie nur verschwägert sind, würde Dorothea unabhängig von divergierenden politischen Ansichten und anderen Loyalitäten immer ihren politisch aktiven Schwager12 wählen. Der Grund für die Unterstützung liegt aber nicht rein in der Loyalität und Bindung einem Familienmitglied gegenüber, sondern Dorothea führt weiter aus: „Wenn der Juan Kandidat ist, werde ich für ihn stimmen, weil er zur Familie gehört. Es ist unwichtig zu welcher Partei er gehört. Wenn er gewinnt, so weiß ich zumindest, dass es ihm zu Gute kommen wird, meinen Nichten, dass es eine Hilfe für deren Ausbildung sein wird […]”13 [Dorothea]

Hier wird deutlich, dass es als Teil von Politik angesehen wird, auch persönlich Zugriff auf Ressourcen zu erhalten, gewissermaßen auf „ein Stück des Kuchens“. Da angenommen wird, dass (fast) jeder Politiker auch seinen persönlichen materiellen Vorteil sucht oder zumindest nutzt, zieht man vor, dass es eine nahe stehende Person ist. Allerdings geht es dabei nicht nur um einen rein materiellen Vorteil, sondern diese Überlegung ist eher als eine Art Absicherung zu verstehen. Denn Dorothea stellt dies nicht als zentralen Punkt heraus, sondern formuliert ihn als ein Element, das zumindest sicher eintreten wird. So ist das Mindeste was durch ein politisches Amt gewonnen wird ein Zusatzeinkommen. Dieser Nutzen ist kalkulierbar und weitgehend gesichert. Alles weitere, wie die politische Ausrichtung, Vorstellungen, Versprechen und Vorschläge, die bisherige Arbeit, politische Biographie und Glaubwürdigkeit, hat ebenfalls eine Bedeutung für die Unterstützung eines Kandidaten. Diese Aspekte

12 Dieser wird als einer der Líderes in seiner Dorfgemeinschaft angesehen und gilt als Político, der viel Zeit für politische Aktivitäten aufbringt. 13 „Si el Juan es candidato voy a votar por él porque es familia. No importa de que partido sea. Asi si gana ya sé que minimo le va a beneficiar a el, a mis sobrinas, que va a ser un apoyo para ellas para sus estudios ...“

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sind aber nicht so leicht einzuschätzen, wie der meist relativ kleine materielle Vorteil für die Familie des Gewählten. In diesem Sinne ist die Entscheidung eine nahestehende Person zu wählen sehr pragmatisch und entpolitisiert. Daneben existieren andere Elemente die sehr dominant sein können, da sie mit Vorstellungen von familiärer Loyalität zusammenhängen. So wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass Familienbeziehungen keinen Verrat erlauben und es ist sehr selten, dass Mitglieder einer Familie (offen) in unterschiedliche politische Richtungen aktiv werden. Insbesondere dann, wenn es wie in Wahlkämpfen auf eine öffentliche Konfrontation hinauslaufen würde. In der Regel wird sogar erwartet, dass die Familie in politischen Belangen so zusammenhält, wie in anderen Bereichen. Die von mir untersuchten Fälle politischer Vernetzung zeigen, dass es sich dabei nicht nur um die Kernfamilie handelt. Aufgrund lokaler Konzepte von Familie werden andere Verwandtschaftsformen einbezogen und sind oft wichtiger Teil politischer Netzwerke. Denn für die oben analysierte Inszenierung von politischer Gefolgschaft, die ein wichtiges Element für die Positionierung von Lokalpolitikern in ihrer Partei ist, kann am einfachsten auf die eigene Familie zurückgegriffen werden. Beispiele dafür sind in El Thonxi die Beziehungen zwischen Juan und Maximino sowie zwischen Carlos und Manolo. Juan ist ein entfernter Onkel von Maximino, was einer der Gründe dafür ist, dass sich letzterer politisch an der Gruppe der PRI-nahen Líderes im Ort orientiert und als überzeugter Anhänger der Partei gilt. Gleichzeitig fühlen sich diese dazu verpflichtet, ihn zu unterstützen und zu fördern. Dies drückt sich auch in einer gewissen Nachsicht aus und so fiel es gerade Juan schwer, den Konflikt zwischen der Comunidad und Maximino zu entschärfen, wie es seiner Position als Delegado entsprochen hätte (vgl. Kap. 4.1.3). Carlos und Manolo sind Brüder und beide für die PRD aktiv. Sie nahmen während des Wahlkampfes eine lokal herausragende Stellung ein. So war Carlos zum zukünftigen Delegado gewählt worden (s.o.) während Manolo nach dem Wahlsieg Polizeichef der Gemeinde wurde. Interessant ist, dass beide längere Zeit in den USA gelebt hatten und durch diese Erfahrung offenbar bestehende Sympathien zur PRD bestärkt wurden. Dies hing sowohl mit der Migration selbst und dem Leben in den USA zusammen, als auch mit der problematischen Position, die sie als zurückgekehrte Migranten hatten (vgl. Kap. 4.4.1). Daneben ist ihr Bildungsniveau für die oppositionelle Einstellung bedeutend. Das Beispiel von Carlos zeigt zudem ein weiteres wichtiges Element familiärer Loyalitätsvorstellungen. Diese erstrecken sich nämlich nicht nur auf nähere oder entferntere Verwandtschaft, sondern auch Compadrazgos14 werden darunter gefasst. Patenschaften und besonders die Beziehung zwischen den PatInnen und den Eltern des Patenkindes, die Compadres (wörtlich: Miteltern) werden, haben einen hohen Stel-

14 Vgl. zur Bedeutung dieser sozialen Institution Mintz/Wolf (1977).

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lenwert. Sie werden oft strategisch genutzt, indem versucht wird, lokale Persönlichkeiten, wohlhabende oder auch politisch einflussreiche Personen als PatInnen zu gewinnen. Carlos steht in einem Compadrazgo mit dem Maestro Ignacio, der ein führendes Mitglied der PRI auf kommunaler Ebene ist. Aufgrund dieser Beziehung vermittelte er Carlos einen Posten als Lehrer, woraufhin dieser in Mexiko blieb, statt in die USA zurückzukehren. Als der sich aber offen der PRD zuwandte, zog er sich den Unmut Ignacios zu, der dies als Verrat und Undankbarkeit ansah. Er hatte Carlos als Teil seines Netzwerkes und damit auch als politischen Unterstützer betrachtet, während dieser gegen die ihrem Verhältnis zugrunde liegenden Regeln verstieß. Hier bestanden ähnliche Erwartungen wie in echten familiären Beziehungen. Aber auch dort kommt es hin und wieder zu Spaltungen, wie im Fall von Don Eugenio der ein früher Unterstützer der PRD in El Thonxi war und mit seiner Kernfamilie zu einem Außenseiter innerhalb des Familienverbundes wurde. Dies hat aber nicht nur politische Gründe, sondern er galt immer als Rebell und Unruhestifter im Ort. Und auch bei Maximino gibt es Anzeichen, dass er sich durch sein Verhalten in der Familie isoliert, allerdings ohne Auswirkungen auf politische Affiliationen. So können familiäre Spaltungen eine politische Dimension aufweisen, in der Regel stehen jedoch andere Gründe im Vordergrund. Es bleibt aber festzuhalten, dass alle Arten verwandtschaftlicher Beziehungen große Loyalitätserwartungen mit sich bringen, die ggf. auch eine politische Geltung haben. Personalisierung von Politik Neben der Nähe zu einem Kandidaten bzw. dessen Befürwortern, ist die Person des Kandidaten selbst ein zentrales Element der Wahlentscheidung. Dabei sind, wie im Fall des PRI-Kandidaten in Cardonal, frühere Erfahrungen von Bedeutung, sowie ihre Laufbahn als Politiker und Amtsträger, aber auch das Auftreten und Charisma des Kandidaten und damit der Eindruck den er hinterlässt. Die Bedeutung dieser Aspekte wird verständlich, wenn man sich die Umstände der Wahlen vor Augen führt. Wie bereits dargelegt, geht es bei der Wahlentscheidung kaum um programmatische Fragen, sondern eher um persönliche Erwägungen oder diverse Arten von Loyalität. Daher steht die Person des Kandidaten stark im Mittelpunkt. Gleichzeitig gibt es für den Großteil der WählerInnen kaum Möglichkeiten, den Kandidaten direkt kennenzulernen. Daher wollten sich die TeilnehmerInnen der Wahlkampfveranstaltung im Eingangsfall ein Bild von dem PRD-Kandidaten machen, um zu beurteilen, ob ihm zugetraut werden konnte, tatsächlich einen Wandel einzuleiten. Weitere Informationen über die Person werden vorwiegend informell vermittelt und sind einerseits oft durch den Wahlkampf verzerrt und eingefärbt (s.o.). Andererseits sind Verbindungen und Karrieren von Lokalpolitikern relativ gut bekannt, zumindest anderen politisch Aktiven, so dass eine ungefähre Einordnung möglich ist. Oft stammen sie zudem aus

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bestimmten Familien die sogar eine Art politische Dynastien bilden können.15 Dies traf bspw. auf den genannten Schlüsselinformanten Sebastián aus Barranca Empinada und seinen Bruder zu, die in der Kommunalpolitik bzw. auf Ebene des Bundesstaates aktiv sind. Ähnlich verhielt es sich mit Angehörigen der anderen Gruppe innerhalb der Spaltung dieser Dorfgemeinschaft. Diese Familien werden als Familien von Politikern gesehen. Vor diesem Hintergrund ist es eine wichtige Wahlkampfstrategie den Konkurrenten durch Gerüchte zu schaden, sowie den eigenen Kandidaten in ein positives Licht zu rücken. Dies dürfte einen wichtigen Einfluss auf den Ausgang von Wahlen haben, weil sie gerade den Oppositionsparteien schadet, die über eine begrenzte Stammwählerschaft verfügen. Nur im oben analysierten Fall konnte die PRD einen Vorteil daraus ziehen, denn der PRI-Kandidat war angreifbarer. Gerüchten kann fast nur im Rahmen der Wahlkampfveranstaltungen entgegengewirkt werden, da es hier zum persönlichen Kontakt kommt. Diese Veranstaltungen bilden das Forum, in dem ein Kandidat durch seinen Auftritt die Einschätzung der WählerInnen positiv beeinflussen kann. So erklärt sich der große Wert, der auf eine gelungene Inszenierung gelegt wird (vgl. Kap. 5.1). Insbesondere das Charisma des Kandidaten steht oft im Vordergrund, so dass eine Personalisierung der Politik stattfindet, in der nicht mehr die Partei an vorderster Stelle steht, sondern im Zweifelsfall die Person des Kandidaten. Wie das Beispiel der großen Beliebtheit von Andres Manuel Lopez Obrador, dem Präsidentschaftskandidaten der PRD bei den Wahlen im Jahr 2008, zeigt, trifft dies auf alle Ebenen zu. Einen Großteil seiner Anhängerschaft konnte er durch charismatische Auftritte gewinnen, so auch im Valle del Mezquital wo er die Hauptorte der Munizipien besuchte. Diverse InformantInnen waren trotz politischer Frustration oder Mitarbeit in anderen Parteien von ihm überzeugt und wollten ihn sehen und hören. Eine meiner Informantinnen entwarf sogar eine Strategie, um dabei nicht von ihren Parteifreunden der PRI gesehen zu werden. Auf den ersten Blick erinnert dies an die Bedeutung der Caudillos in der mexikanischen Geschichte (vgl. Kap. 1.2.1 und 5.2.2) und Lopez Obrador wird oft als Links-Populist bezeichnet, da er in seinen Versprechen und seinem Programm volksnah argumentiert. Diese aktuelle Personalisierung zeichnet sich meines Erachtens aber durch andere Charakteristika aus. Es handelt sich nicht um große Anführer, denen auf Dauer gefolgt wird, sondern um eine auf wenige Wahlen bezogene Entscheidung, die kaum das eigene Leben beeinflusst. Einem Caudillo verschrieb man sich dagegen vollkommen auf Lebenszeit. So ist das Muster der Personalisierung von Politik auf allen Ebenen ähnlich, denn durch die Auflösung strikter 15 Solche Dynastien entstanden meist aus den Familien früherer Kaziquen. Das prominenteste Beispiel im Valle del Mezquital ist sicher die Familie Pedraza, deren Mitglieder nach und nach unterschiedliche Ämter besetzten und einen großen Einfluss auf politische Entscheidungen innerhalb der PRI haben.

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Parteibindungen und Enttäuschungen durch Politiker existiert kaum noch eine langfristige Gefolgschaft zu einer politischen Partei oder einem politischen Führer. Es wird eher situativ bewertet, was von der Regierungsführung eines Kandidaten zu erwarten ist und in Verbindung mit den anderen genannten Erwägungen entschieden ob er gewählt wird. Wie gezeigt geht es dabei nicht unbedingt um die moralische Integrität des Kandidaten, sondern vorrangig um die Möglichkeit ihn einschätzen zu können. Dies erklärt warum auf allen politischen Ebenen PolitkerInnen mit zweifelhaftem Ruf erfolgreich sein können, solange die WählerInnen abschätzen können, wie sie regieren werden und welche Vor- und Nachteile dies für die eigene Gruppe oder Person bedeuten kann.16 Daher dürfen ihre Wahlerfolge nicht pauschal als Indiz für undemokratisches Verhalten gewertet werden. 5.3.2 „Determinierter Stimmenkauf“ – eine aktualisierte Strategie im Wahlkampf Im Gegensatz zu den Ereignissen in El Thonxi verlief die Zeit vor den Wahlen in Barranca Empinada auf den ersten Blick eher unspektakulär. Dies hing vor allem mit der relativ hohen Politisierung der EinwohnerInnen und der vorherrschenden politischen Unzufriedenheit und Frustration zusammen. Wie bereits kurz diskutiert (Kap. 5.2.2) werden hier die Stimmen der Gemeinschaft angeboten, so dass de facto ein Stimmenverkauf existiert. Die Aushandlungen haben sich verändert, weil Politiker nicht mehr davon ausgehen, dass sie in dieser Gemeinschaft Stimmen durch Geschenke oder Versprechungen gewinnen können. Im Gegenteil machen die Vertreter der Comunidad deutlich, dass die Gemeinschaft (vorgeblich) kollektiv über ihre Stimmen entscheidet. Dies soll ihr die Aushandlungsmacht sichern, Politiker zu Unterstützungsleistungen für das Dorf zu verpflichten. Es kann also von einem durch die Gemeinschaft „determinierten Stimmenkauf“ gesprochen werden. Kandidaten werden eingeladen ihre Vorschläge zu präsentieren, insbesondere das Dorf betreffende, damit sich die Gemeinschaft ein Bild machen kann. Wer sich nicht auf diese Prämisse einlässt, darf keine Wahlkampfveranstaltung im Ort durchführen. Die Líderes der Comunidad bestehen darauf, diese Verhandlungsregeln deutlich zu machen und kein Forum zu bieten, dass dieser Raum missbraucht werden könnte [Sebastián]. Im Dorf wurde dieses Vorgehen aber auch kritisiert. Manche InformantInnen bemängelten, dass es so keine Möglichkeiten gäbe, sich vor Ort ein Bild von anderen Kan-

16 Beispiele dafür sind die als korrupt und unmoralisch angesehene Anführerin der Lehrergewerkschaft SNTE, die trotz allem mit ihrer Partei PANAL sehr erfolgreich war, bis sie bei den Präsidentschaftswahlen 2012 auf die unterlegene Seite setzte, sowie der neue Präsident Peña Nieto, dessen Berater aus dem Umfeld des korrupten Ex-Präsidenten Salinas de Gotari stammen (vgl. Kap. 1.2.1).

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didatInnen und ihren Vorschlägen zu machen. Zudem wurde den Líderes vorgeworfen, dass sie letztlich immer nur PRD-Kandidaten einladen würden [Doña Inés]. Dies deckt sich mit meinen Beobachtungen, denn es fanden nur PRD-Veranstaltungen statt, und zwar auch solche, die sich nicht an die Gemeinschaft insgesamt, sondern als Mischung aus kleinerem Parteitag und Informationsveranstaltung an die PRDMitglieder der Region richteten. Allerdings handelt es sich dabei um einen zwiespältigen Prozess. Sicher bevorzugen die Líderes soweit möglich eigene Kandidaten, die meisten anderen Parteien versuchen aber gar nicht erst, in Barranca Empinada um Stimmen zu werben, da sie davon ausgehen, dass dort vorwiegend für die PRD gestimmt wird. Dissidente WählerInnen werden auf anderen, meist parteigebundenen Wegen angesprochen. Dies war u.a. bei Don Carlos der Fall, einem Nachbarn in Barranca Empinada, der einer der früheren PRI-nahen Líderes im Ort gewesen war. Während meiner Feldforschung gab es verstärkten Unmut über die Art, in der die Líderes Verhandlungen über die Stimmabgabe führten und den Versuch, sämtliche Stimmen des Dorfes zu binden. Insbesondere Doña Inés spielte mit dem Gedanken, die Kandidatin einer der kleinen Oppositionsparteien, der PT17, einzuladen, um wie sie sagte, deren interessante Vorschlägen zu hören und sich breiter zu informieren, als es den Líderes recht sei. Obwohl sie diese Ankündigung schließlich nicht in die Praxis umsetzte, ist sie als rebellischer Akt zu sehen, durch den sie ihren Unmut öffentlich kundtun wollte. Da sie eine engagierte Frau ist und zudem als Tochter eines früheren Líderes über einen hohen Status verfügt, interpretiere ich dies als Signal an die männlich dominierte politische Elite des Ortes, sich ihrer Vormachtstellung nicht zu sicher zu sein, sondern sich für eine größere Teilhabe anderer Bürger und insbesondere Bürgerinnen zu öffnen. Denn obwohl es sich nur um ein privat geäußertes Gedankenspiel handelte, wussten die Líderes sehr wohl Bescheid. Doña Inés Ziel war ihnen zu verdeutlichen, dass sie nicht zu selbstgerecht agieren durften, wenn sie ihre Position nicht gefährden wollten. Damit war diese Äußerung eine Warnung, die eine wichtige Schnittstelle zwischen politisch aktiven Gruppen innerhalb der Dorfgemeinschaft akzentuierte. Die Handlungslogik determinierten Stimmenkaufs ist in diesem Teil des Valle del Mezquital weit verbreitet. Comunidades die stark genug sind, bzw. einen solchen Ruf haben, nutzen entsprechende Strategien, um ihre Position gegenüber dem Municipio und einen Anteil an Ressourcenflüssen zu sichern. Andere Dorfgemeinschaften sind hingegen eher auf klassische Formen der Aushandlung angewiesen. Sebastián äußerte sich in einem Gespräch fast mitleidig über sie. Ihm zu Folge erhielten viele Dörfer im nördlichen Bereich des Municipios keinerlei Zuweisungen18, was er darauf 17 Partido del Trabajo (Arbeiterpartei), die oft Allianzen mit der PRD eingeht, aber m.E. kaum ein wirkliches Profil hat. 18 Damit bezog er sich vor allem auf die Unterstützung von Projekten der Gemeinschaft durch das Municipio (vgl. dazu Kap. 4.2.3).

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zurückführte, dass sie nicht ausreichend organisiert waren, um sich bei der Gemeindeverwaltung mit Nachdruck für ihre Rechte einzusetzen. Sie orientieren sich also eher an der überkommenen klientelistischen Handlungslogik und geraten dabei ins Hintertreffen, zum einen gegenüber besser vernetzten Comunidades, zum anderen gegenüber Gemeinschaften wie Barranca Empinada deren Interaktionsmodus des determinierten Stimmenkaufs einer kreativen Neuaushandlung klientelistischer Beziehungen entspricht. Ausgehend von der hergebrachten politischen Logik wird durch eine veränderte Aushandlungsposition und -macht dieser Dorfgemeinschaft ein neuer Modus politischer Interaktion geschaffen, der konzeptionell als Element eines „modifizierten Klientelismus“ gefasst werden kann. Allerdings muss für diese Strategie eine geschlossene Stimmabgabe inszeniert und darüber hinaus möglichst das Bild von Barranca Empinada als potentiell rebellischer Gemeinschaft (s. Kap. 6.1.1) erhalten werden. Daher sind auch hier die Líderes daran interessiert, sowohl die Mobilisierungsfähigkeit des Dorfes als auch ihre Führerschaft zu unterstreichen. Dies entspricht einer ähnlichen Handlungsrationalität wie in El Thonxi. Während sich die dortigen Líderes aber darauf angewiesen fühlen, kann in Barranca Empinada von den vorherrschenden Vorstellungen über die Gemeinschaft profitiert werden. Deren Einsatzbereitschaft muss nicht immer wieder neu demonstriert werden, sondern wird ihr a priori zugesprochen. Kein politischer Akteur würde das Risiko eingehen, dieses rebellische Potential oder die Kontrolle durch die lokalen PRD-Politiker anzuzweifeln. Wie stark die Position des Ortes dadurch ist, zeigt sich darin, dass selbst die bekannte interne Spaltung nichts daran änderte, denn eine direkte Konfrontation mit dem lokalen Staat hätte einigende Wirkung gezeigt. Stattdessen versuchten externe Politiker die beiden Hauptgruppen zu beeinflussen, was aber zu der paradoxen Situation beitrug, dass es letztlich beiden gelang, Ressourcen für ihre jeweiligen Projekte zu erhalten, ohne ihre politische Position aufzugeben. So konnten gerade PRI-Politiker keinen Nutzen aus der Spaltung ziehen. Die Tatsache, dass die Kontrolle über das Stimmverhalten der Gemeinschaft zurückgeht, kann verschleiert werden, da der Stimmbezirk zu dem Barranca Empinada gehört zu groß ist, um Rückschlüsse darauf zu ziehen, wie in welcher Gemeinschaft gewählt wurde. Allerdings sind die lokalen PRD-Líderes für ihre Position innerhalb der Partei sehr wohl darauf angewiesen, Unterstützung durch die Dorfgemeinschaft zu inszenieren, was ihnen aufgrund der Spaltung des Dorfes und der wachsenden Skepsis vieler BürgerInnen schwer fällt. Darauf lassen sich ihre häufigen Klagen über das angeblich mangelhafte Engagement vieler BürgerInnen zurückführen, die nicht mehr für politische Aktionen zu mobilisieren seien.

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5.3.3 Alltagsstrategien politischer Dissidenz Während in El Thonxi die Praxis des „demonstrativen quasi-klientelistischen Tauschs“ vorherrschte, durch die eine Teilhabe des Dorfes an der Politik bzw. der Verteilung von Ressourcen gesichert werden sollte, gab es in Barranca Empinada eine größere Vielfalt von Einstellungen zur Wahl. So existierte zwar die oben diskutierte, von den Líderes geförderte Strategie des determinierten Stimmenkaufs, die ebenfalls auf einer kollektiven Präsentation des Dorfes beruhte. Daneben existierten aber weitere politische Praktiken, die vorwiegend auf die Frustration eines Teils der EinwohnerInnen zurückzuführen sind. So sagten mir viele Personen, die in der Zeit der Besetzungen (s. Kap. 6.1.1) sehr aktiv und damals überzeugte UnterstützerInnen der PRD gewesen waren, dass sie mittlerweile keinen Sinn mehr in den Wahlen sehen. Es mache keinen Unterschied welche der Parteien mit Erfolgsaussichten, darunter auch die PRD, gewinnen würde. Es werde jeweils Klientelpolitik betrieben und Líderes wie Parteiführer instrumentalisierten die Politik zu ihrem eigenen Vorteil. Diese Kritik wurde sowohl auf die eigenen Líderes bezogen, als auch auf den Kandidaten der PRD im Municipio Ixmiquilpan. Dieser war nämlich eine ähnlich problematische Person wie der PRI-Kandidat im Municipio Cardonal, zu dem El Thonxi gehört. Er war Geschäftsführer eines erfolgreichen Thermalbads mit Freizeitpark, das einer Dorfgemeinschaft in der Region gehörte, und sein autoritärer Führungsstil, mit dem er abweichende Vorstellungen und Kritik in der Comunidad unterdrückte, waren allseits bekannt. Es war sogar zu einer Spaltung der Gemeinschaft und auch des Bäderprojekts gekommen. Darüber hinaus wurde ihm vorgeworfen, sich persönlich zu bereichern und Millionär zu sein, während die Mitglieder der Dorfgemeinschaft kaum von dem Park profitieren. Damit entsprach er dem klassischen Bild eines regionalen Kaziquen der sich nun auch politisch profilieren wollte. Ähnlich wie in Cardonal soll es daher auch hier parteiinterne Konflikte gegeben haben und ebenso war den Aktiven letztlich die Loyalität zur Partei wichtiger gewesen, als der mögliche Schaden durch den Kandidaten. Für viele BürgerInnen war er aber ein sehr unglücklicher, wenn nicht gar unmöglicher Kandidat. Trotzdem konnte er, begünstigt durch die von der nationalen Ebene beförderte Wechselstimmung, die Wahlen gewinnen. Vor diesem Hintergrund war der Unterschied zwischen den Parteien für viele politisch aufgeklärte Personen in Barranca Empinada kaum noch relevant. Ihre Erfahrungen hatten dazu geführt, dass sie gegenüber fast allen Politikern in der Region die gleichen Vorbehalte hatten und ihnen Amtsmissbrauch, persönliche Bereicherung und Machtgier vorwarfen. Dies entsprach dem verbreiteten Stereotyp, dass alle Politiker gleich bzw. Politik immer schmutzig sei. Eine politische Alternative sahen sie

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nicht und so entstand eine Diskussion darüber was zu tun sei, eine Debatte, die verbreitet und in unterschiedlichen Gruppen geführt wurde. Dies ist bemerkenswert, zeigt es doch zum einen, dass im privaten Bereich über Politik und das Vorgehen in (alltags-)politischen Fragen gesprochen wird. Dabei werden Ratschläge ausgetauscht, wodurch eine kollektive Neuaushandlung entsprechender Handlungslogiken stattfinden kann. Zum anderen zeugt es von einer relativ verbreiteten kritischen Haltung zu lokalen politischen Praktiken, die aber teils zu Vorurteilen führt. Als wichtigste Strategien wurden erstens die Verweigerung der Stimmabgabe diskutiert und zweitens die Abgabe ungültiger Stimmzettel. Erstere spiegelt wider, dass manche BürgerInnen gar nicht mehr bereit waren zu wählen, da sie keinen Sinn darin sahen und es als Zeitverschwendung bezeichneten. Dies wurde in vielen Gesprächen kritisiert und die meisten InformantInnen wiesen darauf hin, dass so weder ein Signal ausgesandt noch die Manipulation der Wahlen verhindert würde. Daher plädierten sie für die formale Teilnahme an den Wahlen, aber mit der Abgabe eines ungültigen Stimmzettels. Ihre Enthaltung sollte nicht auf mangelndes Interesse oder politische Unkenntnis zurückgeführt, sondern tatsächlich als Verweigerung diesem politischen System gegenüber verstanden werden. Zudem war es ihnen aufgrund des Misstrauens gegenüber Politikern in der Region wichtig, einen Missbrauch ihrer Stimme zu verhindern oder zumindest zu erschweren. Eine nicht abgegebene Stimme kann nämlich leichter einer Partei zugeschoben werden, als eine ungültig abgegebene Stimme. Die Teilnahme des Wählers wird registriert und dessen Stimme steht nicht mehr für einen Missbrauch zur Verfügung. Diese Sichtweise setzte sich durch und es wurden sogar kleine informelle Gruppen gebildet, die gemeinsam zum Wahllokal fahren sollten, um sich gegenseitig moralisch zu unterstützen. So führte die Politikverdrossenheit zu einer aktiven und reflektierten Verweigerung statt einfach zu Passivität. Die bewusste und durchdachte Stimmenthaltung ist als ein strategischer und aufgeklärter politischer Akt zu verstehen. Sie steht in krassem Gegensatz zur offiziellen Lesart in der ungültige Stimmzettel bestenfalls als Ausdruck politischen Desinteresses, in der Regel aber sogar als Zeichen mangelhafter Bildung der WählerInnen angesehen werden. Eine Interpretation, die zur Vorstellung vom Valle del Mezquital als unterentwickelter und politisch zurückgebliebene Region passt (vgl. Kap. 1.3.2). Diesen BürgerInnen wird quasi Demokratiefähigkeit abgesprochen. Wie meine Untersuchung zeigt, ist aber diese Handlungslogik der politischen Verweigerung Ausdruck einer demokratischen Haltung. Da die bestehenden Möglichkeiten der Teilnahme am aktuellen politischen System als Legitimation eines undemokratischen und korrupten Systems angesehen werden, ist die Enthaltung sowohl eine demokratische Entscheidung, als auch eine (stille) Forderung nach mehr Demokratie. Und nicht zuletzt belegt sie, dass WählerInnen nicht einfach käuflich sind. Zwar erwartet auch dieser Typ politischer Akteure, den ich als „dissidente BürgerInnen“ bezeichne, staatliche Leistungen für ihre Gemeinschaft, er ist aber nicht mehr bereit unhinterfragt neue klientelistische Beziehungen zu unterstützen. Weder

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in Form des demonstrativen Quasi-Klientelismus noch des determinierten Stimmenkaufs, zumindest solange dies mehr den Ambitionen der lokalen Líderes als ihrer Gemeinschaft selbst dient. Bemerkenswert ist, dass es sich bei den „dissidenten BürgerInnen“ fast ausschließlich um Frauen handelte. Dies zeigt erneut, dass gerade politisierte oder gebildete Frauen in der Lage sind sich von bisherigen Handlungsrationalitäten zu lösen und „extreme“ Schlussfolgerungen zu ziehen, während Männer eher den politischen Spielregeln verhaftet bleiben (vgl. Kap. 5.3.1). Sie bemühten sich zwar nicht aktiv um eine Veränderung des politischen Systems, dies hatten sie in der Zeit des Aktionismus in Barranca Empinada getan (vgl. Kap. 6.1.1). Die dabei entstandene Frustration ließ sie aber die Verweigerung als einzig akzeptable Strategie sehen. Daher bezieht sich diese Haltung vorrangig auf die Region deren Politiker sie aus Erfahrung kannten und von denen sie sich missbraucht fühlten. Auf die nationale Ebene bezogen herrschte eine andere Sichtweise vor. Hier schien es eine größere Zuversicht zu geben und die oben angesprochene Begeisterung für den Präsidentschaftskandidaten der PRD, Andrés Manuel López Obrador, ließ die Frustration über die lokale und regionale Politik deutlicher zu Tage treten. So wurde ich von der Gruppe „dissidenter BürgerInnen“ sogar gebeten sie im Auto zu seiner Wahlkampfveranstaltung in Ixmiquilpan mitzunehmen. Ihre politischen Hoffnungen hatten sich von der lokalen Ebene, auf der sie ursprünglich aktiv waren, auf die nationale Ebene und genauer die Person dieses speziellen Kandidaten verlagert.

5.4 D ORFGEMEINSCHAFT ALS B ASIS DES POLITISCHEN S YSTEMS Aus den bisherigen Ausführungen wird ersichtlich, dass indigene Dorfgemeinschaften nicht die isolierten, unbedeutenden oder leicht manipulierbaren Einheiten sind, wie es gesellschaftliche Stereotype vermitteln (s. Kap. 3.1.4). Stattdessen sind sie ein wichtiger Ort für (lokal-)politische Interaktionen und Aushandlungsprozesse und nehmen auf lokaler und regionaler Ebene sogar eine zentrale Stellung im politischen System ein. Obwohl sie in der formalen Verwaltungsstruktur Mexikos nur am Rande von Bedeutung sind, bilden sie die Basis politischer Aktivitäten. Nicht zuletzt deshalb sind die Dorfgemeinschaften de facto die unterste und damit grundlegende Einheit des administrativen und politischen Systems in Mexiko. Dies hängt zunächst damit zusammen, dass die Ciudadanía, neben den genannten organisatorischen Aspekten, insbesondere aus der Perspektive politischer Teilhabe bedeutend ist. Die dörfliche Organisation ist intern weitgehend formalisiert und zumindest in einem Punkt in der Gesetzgebung der Bundesstaaten zu den Municipios

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rechtlich anerkannt. In diesen wird die Position der Delegados innerhalb der Gemeindeverwaltung und im Verhältnis zu anderen gewählten Vertretern auf munizipaler Ebene geregelt.19 Es wird jedoch kaum ein direkter Einfluss auf die Organisationspraxis der Comunidades genommen. Ihre relative Autonomie wird respektiert (vgl. Kap. 6.1) und die eingeschränkte rechtliche Reglementierung der dörflichen Organisationsformen bezieht sich lediglich auf die Artikulation zwischen kommunaler und dörflicher Ebene über ihre Vertreter. Die Organisation erhält dadurch einen Charakter der nicht vollständig durch rechtliche Regelungen formalisiert aber eben auch nicht rein informell ist. In öffentlichen Diskursen und der Wissenschaft wird der dörflichen Organisation jedoch oft ein durchweg informeller Charakter zugeschrieben. Die indigenen Dorfgemeinschaften werden dabei häufig als unfähig angesehen, ihre Regeln zu formalisieren, und sie werden gewissermaßen als rechtsfreier Raum betrachtet. Den Usos y Costumbres, den Sitten und Gebräuchen auf denen die internen Regeln und die dörfliche Organisation beruhen, hängt somit oft das Bild eines zwar starren und strikten, aber von Willkür und Unsicherheit geprägten Systems an. Dies wird der sozialen Realität der Dorfgemeinschaften nicht gerecht, denn sie sind durch die zugrundeliegenden Aushandlungsprozesse sozial formalisiert und legitimiert. Die dem gegenüberstehende De-Facto-Anerkennung dieser Organisationsform schlägt sich in der Gesetzgebung nieder. Dies zeigt auch die Literatur zum Umgang mit Gewohnheitsrecht in Mexiko, zu dem die Usos y Costumbres gezählt werden, und dem damit verbundenen Rechtspluralismus in vielen gerade indigenen, Regionen. Der Anerkennung der dörflichen Organisation liegt ein neuerer Umgang mit Rechtspluralismus zugrunde, der auf Debatten fußt, die seit den 1980er Jahren zum Verhältnis von formalem und Gewohnheitsrecht geführt werden. Dies ist Teil des Bestrebens von Akteuren beider Ebenen, zu einer geregelten Koexistenz der Rechtsformen zu kommen. Ziel ist es Raum zur Ausübung des Gewohnheitsrechtes zu wahren und Konflikte mit dem nationalen Recht zu beseitigen (vgl. Kugel 1995, 104f.).20 Entscheidend ist, dass die Art der Selbstorganisation in den Dörfern die Möglichkeit einer gewissen Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen bietet. Trotz fehlender formaler Anerkennung ist sie für das politische System Mexikos und in parteipolitischen (Mobilisierungs-)Strategien von großer Bedeutung. Dadurch konstituiert sie einen Raum, der mit der politischen Sphäre im Graubereich formaler und informeller Vernetzung verbunden ist. Dies geschieht auf diverse Arten, deren Bandbreite zwischen einer reinen Wahlteilnahme, der Ausübung lokaler Praktiken der Usos y Costumbres und selbstbewussten Interaktionen mit Vertretern des Staates liegt. Da die Ciudadanía durch ihre relativ strikte Konzeptualisierung den Zugang 19 Im Bundesstaat Hidalgo in der Ley Orgánica Municipal del Estado de Hidalgo vom 16. April 2001. 20 Die Grundlage dafür bilden der vierte Artikel der mexikanischen Verfassung und die entsprechenden Ausführungsgesetze.

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bestimmter Gruppen von DorfbewohnerInnen zur Dorforganisation beschränkt, behindert sie aber auch den Zugang zu den darüber vermittelten Verbindungen zu anderen Ebenen. Möglich wird dies, da es sich nicht um eine formalisierte und rechtlich einklagbare Bürgerschaft handelt, sondern um einen Status dessen Zugangskriterien von den Dorfgemeinschaften im Rahmen einer praktizierten und weitgehend anerkannten de facto Autonomie selbst festgelegt werden. Für diejenigen denen sie offensteht, kann die Ciudadanía aber die Möglichkeit einer Teilhabe über die dörfliche Ebene hinaus bieten. Diese Form der Bürgerschaft hat also einen zwiespältigen Charakter. Für Parteien sind Dörfer die entscheidende Basis um sich darzustellen, Menschen zu mobilisieren und Stimmen zu gewinnen. Dazu stützen sie sich auf VertreterInnen in den einzelnen Orten und schaffen es im Idealfall die lokalen Autoritäten und Anführer, die sogenannten Líderes, der Dorfgemeinschaft für sich zu gewinnen. Dies ist in der Nachfolge der klassischen klientelistischen Logik im politischen System Mexikos zu sehen. In diesem wurden Vertreter der Dorfgemeinschaften (und anderer Gruppen) in einer Patron-Klient-Beziehung in die Politik eingebunden, die auf dem Austausch politischer Unterstützung gegen materielle und finanzielle Leistungen für die Dörfer beruhte. Dies erklärt auch warum es die DörflerInnen als wichtig ansehen, personelle Verbindungen in die Politik zu haben. Dies wird in der Folge der hergebrachten klientelistischen Logik immer noch als Voraussetzung gesehen, um das Dorf in politischen Netzwerken präsent zu halten und sich für staatliche Leistungen zu qualifizieren. Diese Beziehung in der beide Seiten wechselseitig aufeinander angewiesen sind, trug über einen langen Zeitraum hinweg grundlegend zur Stabilisierung des politischen Systems Mexikos bei. Dies wurde allerdings nicht öffentlich anerkannt, um den Gemeinschaften nicht ihre eigentliche Macht bewusst zu machen und so die Herrschaft der Staatspartei und mit ihr verbundener lokaler Politiker und Kaziquen zu sichern. Der Einsatz von Lazaro Cárdenas für ländliche und indigene Gemeinschaften, die mit der Stärkung der Agraristas und der Einführung der staatlichen Politik des Indigenismo einherging, erkannte aber diese zentrale Position an, denn er versuchte sie als seine Machtbasis im politischen System zu etablieren (vgl. Kap. 1.2.2).21 Eine wichtige Transformation dieses Verhältnisses besteht darin, dass Parteien mittlerweile einen gewissen Wettstreit um die Unterstützung der Dorfgemeinschaften eingehen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass den DörflerInnen jetzt parteipolitische Alternativen präsent sind, die als wählbar angesehen werden. So ist seit Anfang des Jahrhunderts die Unterstützung für Oppositionsparteien stetig gewachsen. Und gerade sie haben versucht, auf lokaler Ebene durch sehr engagierte SympathisantInnen Stimmen zu gewinnen. Die ehemalige Staatspartei PRI folgt dagegen 21 Damit haben diese Gemeinschaften eine ähnlich wichtige und gleichzeitig kaum anerkannte Position, wie es Braig (1992) für den Fall von Lehrerinnen in Mexiko zeigt.

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weitgehend ihrer hergebrachten Logik, indem sie in klientelistischer Manier versucht, Dörfer über die Anführer an sich zu binden. Entscheidend ist in beiden Fällen, dass die Dorfgemeinschaft eine bedeutende Basis für politische Aktivitäten und die Legitimation politischer Akteure auf kommunaler und regionaler Ebene ist. Den DorfbewohnerInnen ist dies allerdings nicht unbedingt bewusst. Sie empfinden Politik als etwas Abgehobenes, das nur dann mit ihrem Leben zu tun hat, wenn Unterstützungsmöglichkeiten für Projekte der Gemeinschaft oder direkt für einzelne Dörfler gesucht werden. Für viele DörflerInnen endet der politische Horizont daher auf Ebene des Municipios und alles Weitere wird als sehr abgehoben und irrelevant für das eigene Leben empfunden. Aus dieser Rationalität heraus sollte die politische Betätigung einzelner Mitglieder der Gemeinschaft sogar nur zum Ziel haben, der Gemeinschaft bei der Beantragung diverser staatlicher Leistungen zu dienen. In der politischen Praxis äußert sich die Bedeutung der Comunidad auch in den klassischen Mobilisierungsversuchen für Wahlen und politische Kundgebungen und besonders dem Acarreo. Gleichzeitig ist aber ein stärkeres Selbstbewusstsein erwachsen, sodass DörflerInnen selbst mit Mobilisierung drohen, bspw. zur Besetzung des Rathauses, wenn Projekte nicht wie versprochen durchgeführt werden. Aber auch darüber hinaus hat die Häufigkeit von Auseinandersetzungen mit der Gemeindeverwaltung zugenommen. Ein Grund können Verbote bestimmter Aktivitäten und damit zusammenhängende Anzeigen sein. So gibt es in El Thonxi seit Jahren anhaltende Konflikte um den illegalen Holzeinschlag zur Produktion von Holzkohle. Die Wälder sollen geschützt werden, einige Dörfler sehen jedoch nicht ein, warum sie diese „traditionelle“ Tätigkeit nicht in kleinem Umfang fortführen sollen, insbesondere da sie eine der wenigen lokalen Einkommensmöglichkeiten darstellt (s. Kap. 4.1.3 für den Fall von Maximino). Am häufigsten sind aber Reibereien um die Gewährung und ggf. interne Verteilung von staatlichen Zuwendungen. Meine Analyse zeigt, dass dies einer der Hauptkonflikte mit der Gemeindeverwaltung ist, denn die Dörfler haben häufig das Gefühl bei der Mittelzuweisung benachteiligt zu werden. Dann wird regelmäßig der Vorwurf erhoben, dass dies mit parteipolitischen Erwägungen zusammenhängt, keine gerechte Verteilung stattfindet und (Wahl-)Versprechen gebrochen werden. Während meiner Feldforschung führte das mehrmals dazu, dass damit gedroht wurde vor der Presidencia zu protestieren. Letztlich ging dies aber nicht über Beschwerden und Drohungen hinaus. Allerdings sind im Valle del Mezquital, darunter in den beiden Munizipien in denen ich geforscht habe, mehrere Fälle bekannt in denen Amtsträger oder Behördenvertreter von Mitgliedern einzelner Dorfgemeinschaften festgehalten wurden, um eine Lösung von Konflikten zu erzwingen oder Forderungen Nachdruck zu verleihen (vgl. Kap. 6.1.3). Oft wurden Bürgermeister entführt, um die Erfüllung eines Wahlversprechens zu erzwingen. Solche Aktionen werden als einzige Möglich-

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keit gerechtfertigt, sich auf der politischen Ebene sicher Gehör zu verschaffen. Allerdings werden sie nur als ultimatives Mittel der Dorfgemeinschaften eingesetzt, wenn andere Wege keinen Erfolg zeitigen. Da die Líderes eine wichtige Position als Mittler an der Schnittstelle zwischen lokaler und kommunaler Ebene sowie zwischen Alltagspolitik und formaler Politik einnehmen (vgl. Kap. 4.5), werden nicht erfüllte Versprechen immer auch ihnen angelastet. Das bringt sie in schwierige Situationen und distanziert sie häufig von der Gemeinschaft. Aus ihrer Perspektive agiert die Comunidad dann zu rebellisch und ungerecht. Sie befinden sich als Broker in einer zwiespältigen Position, denn einerseits müssen sie ihre Position und damit ein gutes Verhältnis zur Partei und ggf. kommunalen Amtsträgern wahren. Andererseits sind sie gezwungen auf die Unzufriedenheit der Dörfler zu reagieren, müssen aber ein zu rebellisches Auftreten der Gemeinschaft verhindern, um Politiker nicht zu verprellen. Aufgrund der Logik des demonstrativen quasi-klientelistischen Tauschs könnte ein Amtsinhaber annehmen, dass sie undankbar sind und gegen die Spielregeln verstoßen, so dass aus seiner Perspektive die Verpflichtung entfällt, die Gemeinschaft zu unterstützen. Die Dorfgemeinschaft stabilisiert also das politische System, ist aber gleichzeitig auch ein Raum in dem es neu ausgehandelt wird. Darüber hinaus kann sich hier Unmut konzentrieren, der zu kollektiven Aktionen gegen Vertreter des Staates bzw. der Politik führen kann. Paradoxerweise ist sie damit sowohl Basis für Prozesse der Verstetigung politischer Handlungsrationalitäten und Interaktionsmodi, als auch für ihre Transformation. Nachdem ich bisher vor allem den Aspekt der Kontinuität und eher allmähliche Transformationen analysiert habe, die sich auf der Grundlage hergebrachter Handlungslogiken bewegen, werde ich in den folgenden Kapiteln stärker auf Dynamiken des Wandels an der Schnittstelle zwischen Dorfgemeinschaften und formaler Politik bzw. dem Staat eingehen.

6. Politische Interaktion an Interfaces zu höheren Ebenen

Bisher standen eher Prozesse innerhalb der Comunidad im Zentrum der Ausführungen. Darauf aufbauend werde ich in diesem Kapitel genauer auf Interfaces mit Akteuren der mittleren Ebene, insbesondere im kommunalen und regionalen Bereich, wie z.B. Parteien, Behörden und Institutionen, und Aushandlungen außerhalb der Dorfgemeinschaft eingehen, um zu zeigen wie verschiedene Prozesse in- und außerhalb der Gemeinschaft miteinander verbunden sind und damit das Doing Democracy auf unterschiedlichen Ebenen artikuliert wird. Eine wichtige Grundlage dafür ist die praktizierte Autonomie der Dorfgemeinschaften, die ich zunächst diskutieren werde.

6.1 AUTONOMIE – EIN GRUNDLEGENDES E LEMENT AM I NTERFACE VON D ORFGEMEINSCHAFT UND S TAAT Die bisherigen Analysen haben die vielfältige Bedeutung der Dorfgemeinschaft verdeutlicht, sowohl in Hinsicht auf die Strukturierung des Alltags, bei der die Gemeinschaft einen wichtigen Bezugspunkt innerhalb der Lebenswelt und für die Konstruktion individueller und kollektiver Identität bildet, als auch auf den Bereich der institutionellen dörflichen Selbstorganisation, die praktische Fragen des Zusammenlebens in der Gemeinschaft und ihrer Repräsentation nach außen umfasst. Darüber hinaus ist die Dorfgemeinschaft eine wichtige Arena für Aushandlungsprozesse, die zu einem Wandel politischer Interaktion im Valle del Mezquital führen. Denn die bisher diskutierten Veränderungen, die meist im Kleinen und Alltäglichen stattfinden und z.B. zu einer Transformation der dörflichen Organisation oder einem Wandel der Geschlechterverhältnisse führen, sind Elemente eines allgemeinen lokalen Wandels, der Bewegung in das politische Gefüge der Region bringt. Viele Prozesse auf dörflicher Ebene sind eng mit solchen auf übergeordneten Ebenen verbunden, darunter mit Aushandlungen im politischen Feld. Teil davon sind ein gewachsenes Selbstbewusstsein der DorfbewohnerInnen in Bezug auf ihre Möglichkeiten und Stärken als Kollektiv

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und eine veränderte Aushandlungsposition, die mit dem Rückgriff auf externe Ressourcen, Erfahrungen und Kontakte, gerade auch im transnationalen Raum, zusammenhängt. Dies trägt letztlich zur Entstehung neuer politischer Handlungslogiken und Aushandlungsmodi bei, was zum Wandel des Politischen im Allgemeinen beiträgt. Der (Quasi-)Autonomie der Dorfgemeinschaft kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Sie ermöglicht Versuche, Interventionen externer Akteure zu kontrollieren. 6.1.1 Barranca Empinada – „Dorfgemeinschaft der Rebellen“ Barranca Empinada hat wie geschildert den Ruf einer aufmüpfigen oder rebellischen Dorfgemeinschaft. Im Ort erschloss sich mir nach und nach, dass dies mit Aktionen zusammenhängt, die sie mit anderen Gemeinschaften in den 1990er Jahren durchführte. Besondere Aufmerksamkeit erlangte die mehrmalige Blockade der nahe gelegenen Panamericana, der Hauptverkehrsachse der Region. Daran beteiligten sich große Teile der Dorfgemeinschaft, denn die Auseinandersetzungen wurden als gemeinsamer Kampf begriffen. Eine besondere Position hatten dabei jüngere Frauen des Ortes, die zudem aus taktischen Gründen in der ersten Reihe der Proteste standen. Dies sollte zeigen, dass es sich um einen allgemeinen Protest handelte, der komplette Comunidades umfasste, und gleichzeitig die Ordnungskräfte daran hindern, Gewalt anzuwenden. Neben diesen häufigen Blockaden fanden Besetzungen, z.B. der Gemeindeverwaltung, statt. Die zugrunde liegende Logik zeigt sich am Beispiel eines erzwungenen Streiks (Paro Forzado) auf dem Wochenmarkt in Ixmiquilpan. Damals sollten staatliche Stellen ein Verkaufsverbot für bestimmte landwirtschaftliche Produkte, insbesondere niedrig wachsendes Gemüse wie Salatköpfe oder Gurken durchsetzen. Da die landwirtschaftliche Bewässerung in der Region vorwiegend mit Abwässern aus MexikoStadt, den sogenannten Aguas Negras (Schwarze Wasser) vorgenommen wird, sollte diese Maßnahme verhindern, dass stark schadstoffbelastetes Gemüse in den Handel kam. Dies stieß in der Region auf großen Widerspruch, denn ein Großteil der Landwirte lebt gerade vom Anbau der betroffenen Gemüsearten und hätte hohe Einbußen erlitten. Diesen (Klein-)Bauern war unverständlich, warum diese Gemüsesorten aus ihrer Region verboten werden sollte, während die Produktion sowohl in anderen Regionen Mexikos mit ähnlicher Bewässerung, als auch der Anbau anderer Gemüsesorten mit dem gleichen belasteten Wasser weiterhin erlaubt blieb. Statt als eine positive Maßnahme der Gesundheitsvorsorge wurde das Verbot als ein willkürlicher Angriff auf die Lebensgrundlage der Bevölkerung aufgefasst. Einige Comunidades sowie die Oppositionspartei PRD und ihr nahe stehende Organisationen nutzten diesen Umstand, um gegen das Gesetz und die Regierung zu protestieren. Als herausragende Protestaktion wurden die Markthalle und der Wochenmarkt über einen längeren Zeitraum hinweg be-

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streikt,1 wodurch ein neuralgischer Punkt getroffen wurde. Viele Menschen in der Region waren sowohl zum Verkauf ihrer Produkte, als auch zum Erwerb von Gütern des alltäglichen Bedarfs auf diesen Markt angewiesen, der daher ein zentraler Punkt des öffentlichen Lebens in der Region war. So wurde einerseits Druck ausgeübt, andererseits war der Streik strategisch wichtig, um viele Menschen auf Forderungen und Existenz dieser Bewegung und der politischen Gruppierungen aufmerksam zu machen. [Proteste Ixmiquilpan]

Eine ähnliche Protestaktion, von der mir die Frauen in Barranca Empinada berichteten, bezog sich ebenfalls auf den Markt: Der damalige Bürgermeister wollte fliegende Händlerinnen aus dem Stadtbild verbannen. Diese Art landwirtschaftliche Produkte und Kunsthandwerk zu verkaufen, wird vorwiegend von Frauen praktiziert und ist für viele, insbesondere ärmere Familien, eine bedeutende Einkommensquelle im Rahmen der Verflechtung unterschiedlicher ökonomischer Strategien. So wurde das Verbot, meinen Informantinnen in Barranca Empinada zu Folge, als ein Affront gegen eine in ihrer ökonomischen Position und als Frauen benachteiligte Gruppe angesehen. Dadurch gewann die Auseinandersetzung eine moralisch-ethische Dimension und dem Bürgermeister wurde vorgeworfen, Politik zu Lasten der Schwächsten zu machen. Dies hatte offenbar ein unerwartet hohes Mobilisierungspotenzial, denn die InformantInnen berichteten, dass der Bürgermeister zunächst festgesetzt und dann halbnackt durch die Stadt getrieben wurde. Daraufhin wurde das Verbot zurückgezogen. [Sebastián]

Die Reihe von Protesten gipfelte schließlich in einem ähnlich kontroversen Fall, als die regionale Kommandantur der Bundespolizei niedergebrannt wurde. Dabei handelte es sich um die letzte und bekannteste große Aktion im Rahmen der regionalen Konflikte: Die konkrete Vorgeschichte ist nur schwer zu rekonstruieren. Zugrunde lag eine vor dem Hintergrund der Feigen-Ernte ausgetragene Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Dörfern. Viele Kleinbauern im niedriger gelegenen Teil des Valle del Mezquital besitzen Feigenbäume, die an den Rändern ihrer Milpas stehen. Der Verkauf der Feigen ist eine wichtige saisonale Einkommensquelle und oft wird die Ware in Kleinbussen des öffentlichen Nahverkehrs transportiert. Aufgrund einer Streitigkeit weigerte sich aber in jenem Jahr die Genossenschaft einer Route, Angehörige der rivalisierenden Dorfgemeinschaft zu befördern. Dies wurde bewusst als Druckmittel eingesetzt, da dieses Transportmittel für viele die einzige Möglichkeit war, ihre Feigen zum Markt zu bringen. Zunächst intervenierten lokale Autoritäten, um eine Lösung zu finden. Als dies aber keinen (schnellen) Erfolg zeigte, während die Feigen verrotteten, kochten die Gemüter hoch. Die mit Barranca Empinada alliierten Dörfer schlugen sich, nicht zuletzt aus 1

Dabei streikten nicht nur Betroffene, sondern es wurden auch andere gezwungen, dem Markt fernzubleiben.

224 | D OING D EMOCRACY IN INDIGENEN D ORFGEMEINSCHAFTEN politischem Kalkül, auf die Seite der Feigenproduzenten und es kam zu handfesten Auseinandersetzungen, die in Straßenblockaden und der Zerstörung der Polizeistation mündeten. [Sebastián]

Gerade die beiden letztgenannten Aktionen sind den Beteiligten heute unangenehm, es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen ihnen. Die Aktion gegen den Bürgermeister konnte als Widerstand benachteiligter Frauen gegen willkürliche Diskriminierung aufgefasst werden. So wurde dieser Übergriff als legitimer Widerstand einer unterdrückten Gruppe gegen die angeblich korrupte machthungrige Politikerelite, die sich nicht um Sorgen und Nöte der Bürger kümmere, dargestellt. In den entsprechenden Berichten ist daher immer noch eine gewisse Genugtuung zu erkennen, dass die Frauen es schafften einen hohen Amtsträger in die Knie zu zwingen. Damit verband sich erstmals das Gefühl, durch gemeinschaftliches Vorgehen etwas gegen „die Mächtigen“ in der Region erreicht und sich Respekt erkämpft zu haben und das Ereignis bleibt als wichtiger Erfolg und Schlüsselerlebnis in Erinnerung. Trotzdem wird betont, dass die Demütigung des Bürgermeisters nicht in Ordnung gewesen sei. Im Gegensatz dazu gibt es unterschiedliche Sichtweisen auf den „Feigenkonflikt“. In diesem Fall war die Lage nicht so eindeutig. Es gab zu viele verschiedene Konfliktlinien, um die Vorgänge als moralisch richtig darzustellen. Gleichzeitig fiel dieses Ereignis in eine Phase in der viele UnterstützerInnen bereits das Gefühl hatten, von den Líderes für persönliche politische Ambitionen missbraucht zu werden. Daher wurde die Parteinahme für die Feigenbauern als Versuch der Anführer interpretiert, weitere UnterstützerInnen zu gewinnen. Mit dieser Instrumentalisierung waren viele nicht mehr einverstanden, weil sie darin keinen Sinn für die eigene Dorfgemeinschaft sahen. Die Zerstörung der Polizeistation wurde zudem als Symbol unnötiger und überzogener Gewaltanwendung verurteilt. So markiert diese Aktion trotz ihrer starken Außenwirkung einen Wendepunkt in der Mobilisierungsphase dieser Dorfgemeinschaften. Die kritische Distanz zu den Líderes nahm fortan zu und die Bewegung der Gemeinschaften begann an UnterstützerInnen und damit an Kraft zu verlieren. Daraus resultiert die aktuelle Spaltung der oppositionellen Gruppen, sowohl auf Ebene der Dorfgemeinschaften als auch der Region. Über diese Zeit sprechen viele Menschen wie von heute unangenehmen Jugendsünden, die sie durch eine andere Art des Umgangs mit Nachbardörfern und staatlichen Akteuren vergessen machen wollen. Zu Beginn wurden diese Aktionen allerdings von einem Großteil der Einwohner Barranca Empinadas für notwendig erachtet. So berichtete Don Andrés, dass es bis in die 1980er Jahre hinein Übergriffe durch die Polizei des Municipios gab und Bürgerrechte missachtet wurden. Dies bezog sich nicht nur auf die Dorfgemeinschaften sondern war ein übliches Element der Interaktion zwischen lokalem Staat und DörflerInnen [Don Andrés]. Polizisten und Politiker sahen sich den DorfbewohnerInnen

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in allen Belangen überlegen und betrachteten sie aufgrund ihrer negativen gesellschaftlichen Kategorisierung oft nicht einmal als BürgerInnen. In dieser Situation beschloss Barranca Empinada sich offen zu wehren. Die Comunidad sollte als eigener quasi-autonomer Raum anerkannt und zudem verdeutlicht werden, dass sich die gesamte Dorfgemeinschaft für einzelne Mitglieder einsetzte. Lokalen Politikern sollte klar werden, dass sie mit Unruhen zu rechnen hatten, wenn es zu Übergriffen auf die Dorfgemeinschaft kam. Als sich später weitere Dörfer anschlossen wurde dieses Vorgehen zum Widerstand der einfachen Menschen verklärt. So gelang es die von staatlicher Seite demonstrierte Überlegenheit zu brechen und diskriminierenden Praktiken Grenzen zu setzen. In der Folge wurde eine regional gültige stillschweigende Übereinkunft zwischen Dorfgemeinschaften und lokalen staatlichen Akteuren getroffen und die Autonomie der Comunidades informell anerkannt. Daher mussten die Gemeinschaften nicht so weit gehen zu versuchen, sich komplett abzukapseln, weshalb ich diesen Status als Quasi-Autonomie oder praktizierte Autonomie bezeichne (s.u. zur Abgrenzung). Trotz der Erfolge begannen jedoch viele DörflerInnen gewalttätige Protestaktionen als überzogen anzusehen, was letztlich zur Abkehr vieler führte. Dennoch wurden solche Konfrontationen zu einem Modus lokalpolitischer Interaktion, der unverhältnismäßig angewandt wurde (s.u.). In der konkreten Form des Protests verbanden sich lokale Praktiken mit solchen, die bei Protesten auf nationaler Ebene Anwendung fanden und lokal angeeignet wurden. Aktionen wie Straßenbesetzungen verbreiteten sich landesweit, und fanden offenbar über Medien und eine Gruppe zurückgekehrter Aktivisten Eingang in Proteststrategien im Valle del Mezquital.2 Aktuell greifen diese Dorfgemeinschaften jedoch kaum noch auf aufsehenerregende Protestaktionen zurück. Dies bedeutet aber nicht, dass sie nicht mehr zu mobilisieren sind, denn vielmehr haben sich Anlässe und Form gewandelt.3 In der hier behandelten Phase wurden extreme Mittel als einzige Möglichkeit gesehen, dem lokalen Staat die Stirn zu bieten. Aufgrund der historischen Erfahrung der Dorfgemeinschaften wurde es als notwendig angesehen, Sicherheitskräfte und Politiker durch massiven Protest einzuschüchtern, um staatlicher Willkür vorzubeugen. In veränderter Form besteht diese Handlungslogik fort und im Rahmen der Quasi-Autonomie vieler Comunidades wird ihr Mobilisierungspotential als Garantie gegen Übergriffe angesehen und bedeutet ihren Mitgliedern entsprechend viel. 2

Mehrere InformantInnen in Barranca Empinada bezogen sich auf eine Gruppe von Dorfbewohnern, die in der Stadt Cuernavaca gelebt und sich dort in der politischen Organisation von ArbeiterInnen beteiligt hatten. Als die Lage dort zu riskant wurde kehrten sie zurück.

3

Dies trifft vor allem auf Dorfgemeinschaften wie Barranca Empinada zu, die sich bereits eine bestimmte Position erkämpft haben. Andernorts werden Besetzungen weiter als wichtiges Mittel politischer Auseinandersetzungen angesehen und sind in vielen Teilen Mexikos gängige Praxis.

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6.1.2 Bedeutung der Autonomie für die DorfbewohnerInnen Die folgende Gesprächssequenz zeigt die grundlegende Bedeutung der Autonomie für die Dorfgemeinschaft. Ich sprach mit einem Líder aus Barranca Empinada über ihre praktische Ausgestaltung, weil ich von einer weitgehend symbolischen Bedeutung ausging und nicht erwartete, dass sie in einer direkten Konfrontation mit dem Staat verteidigt würde. Mein Gesprächspartner berichtete jedoch: Ja, Militär und Polizei dürfen weiterhin nicht hier herein. Sie müssen erst den Delegado um Erlaubnis bitten, bevor sie das Territorium der Comunidad betreten. Und, ja, die Dorfgemeinschaft verteidigt das. Das ist im letzten Jahr erst wieder passiert. Damals war ein junger Mann aus der Comunidad an einer der Straßensperren kontrolliert worden, die das Militär gegen den Drogenhandel errichtet. Sie fanden eine illegale Waffe bei ihm, eine Pistole die er im Auto hatte. Daraufhin wollten sie ihn verhaften, aber mit Hilfe eines Tricks schaffte er es, die Soldaten abzulenken und in seinem Auto zu entwischen. Er versuchte in das Dorf zu entkommen und wurde dabei von den Soldaten in zwei Mannschaftswagen [LKW] und einem Kommandofahrzeug verfolgt. Als sie hier im Dorfzentrum ankamen waren bereits die Mitglieder der Dorfgemeinschaft alarmiert worden und kamen herbei. Während die Vertreter des Dorfes mit dem Kommandanten zu verhandeln begannen und ihn unter Hinweis auf die Autonomie und dazu gültige Vereinbarungen aufforderten den Ort zu verlassen, begannen die anderen Dorfbewohner die Soldaten zu umzingeln. Die stiegen ab und sicherten ihre Fahrzeuge. Die Situation wurde immer brenzliger und konfrontativer und im Verlauf der Diskussion gab der Kommandant den Befehl die Gewehre durchzuladen und zu entsichern. Da wurde es wirklich gefährlich, aber wir haben weiter auf unser Recht bestanden und nicht klein beigegeben. Gleichzeitig haben wir versucht die Kommandantur zu erreichen und das Polizeihauptquartier in Ixmiquilpan, um zu erfahren, was das sollte, warum unsere Autonomie verletzt wurde. Nach einigen Verhandlungen saßen die Soldaten schließlich wieder auf und zogen ab. Aber es war schon eine brenzlige Situation. [Sebastián]

Er fügte noch hinzu, dass während immer mehr Dorfbewohner zusammengerufen wurden, diese zum Teil bereits diskutierten ob es angebracht sei, ihre Waffen zu holen, die offenbar in den Häusern vorhanden sind. Selbst wenn dieses Geschehen sicherlich dramatisiert wurde, ist es glaubhaft und möglicherweise nicht einmal ungewöhnlich. Es zeigt eine Haltung der DorfbewohnerInnen, die auf die hohe Wertschätzung der eigenen Autonomie hinweist. Für die Menschen stand in diesem Moment nicht die von den Soldaten ausgehende Bedrohung im Vordergrund, sondern die Gefahr, dass die Autonomie nachhaltig geschwächt werden könnte. Zudem wird ein aus früheren Erfahrungen erwachsenes

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Vertrauen in die Stärke der geeinten Comunidad ersichtlich. Bemerkenswert ist dabei, dass sich in dem beschriebenen Ereignis das Gemeinschaftsgefühl zu einem Zeitpunkt konkretisierte, als die Comunidad bereits gespalten war. Dies unterstreicht, als wie bedrohlich die potenziell gewalttätigen Interventionen der staatlichen Ordnungskräfte wahrgenommen werden. Während im dörflichen Alltag Spaltung, Meinungsverschiedenheiten, der Streit zwischen Anführern und damit verschiedene Loyalitäten und Positionierungen im Vordergrund standen, musste in dieser Situation ein für alle wichtiges Allgemeingut gegen das Militär verteidigt werden. Daher wurde situativ die Grenze zwischen den unterschiedlichen Untergruppen überwunden und es entstand für einen kurzen Zeitraum die umfassende Wir-Gruppe der Comunidad, die sich gegen die für sie inakzeptable Intervention stellte. Autonomie und Selbstbestimmung werden also von allen Gruppen als hohes Gut anerkannt, was einen einigenden Charakter haben kann. Allerdings ist dies nicht bei allen Interaktionen mit externen Akteuren der Fall. Denn die Spaltung Barranca Empinadas hängt selbst mit der Hinwendung zu unterschiedlichen Strömungen innerhalb der PRD zusammen. Hier hatte die Comunidad kein einigendes Potential, stattdessen wurde versucht in den dort ausgetragenen Flügelkämpfen zu belegen, dass die jeweils andere Seite keinen Rückhalt der Dorfgemeinschaft habe und letztlich nur durch externe politische Akteure gesteuert sei. Die Mitglieder der Dorfgemeinschaft kamen also in dem Bewusstsein zum Schauplatz der Konfrontation, ein Zeichen setzen zu müssen, damit ihre Autonomie ernst genommen und entsprechende Abmachungen eingehalten werden. Sie waren davon überzeugt, dass sie einerseits im Recht waren und andererseits durch ihre massive Präsenz Erfolg haben würden. Diese Perspektive stand jener des Offiziers gegenüber, dem als Ortsfremden mit mangelnder lokaler Einbettung4 die informelle Vereinbarung nicht bekannt war. Er folgte seinen Anweisungen und versuchte den flüchtigen Jugendlichen wegen illegalen Waffenbesitzes zu verhaften. Die Soldaten waren sicherlich durch die plötzliche Konfrontation mit der geschlossen auftretenden Dorfgemeinschaft überrascht und möglicherweise überfordert. Dieses unvermittelte Aufeinandertreffen zweier Handlungslogiken machte die Brisanz der Situation aus und hätte eskalieren können. Dieses Encounter at the Interface wäre dann gewaltsam geworden. Den Dorfbewohnern war dies anscheinend nicht bewusst, sie reagierten auf etwas, das sie als Bruch der Abmachung wahrnahmen und gerieten in diese brisante Situation. Ihnen ging es um eine symbolische Verteidigung ihrer Autonomie. Wären tatsächlich eigene Waffen an den Ort des Geschehens gebracht worden, dann um die eigene Überzeugung symbolisch zu unterstreichen, dem Gedanken folgend: „Die haben Waffen, aber wir haben auch welche. - Wir lassen uns nicht einschüchtern.“ 4

Militärische Kräfte stammen selten aus den Einsatzregionen und werden häufig ausgewechselt.

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Hier zeigt sich eine grundlegende Dimension der Handlungsrationalität im Umgang mit Repräsentanten der Staatsmacht. Bewaffnete sind nicht gern gesehen und werden als Instrument zur Aufrechterhaltung staatlicher Dominanz betrachtet, denn letztlich ist allen klar, dass sich die DörflerInnen weiterhin in einer schwächeren Position befinden. Aufgrund der gängigen Alltagserfahrungen und weit verbreiteter Stereotype über Polizisten, wird zudem die Gefahr von Machtmissbrauch und von Korruption gesehen. Daher fühlte man sich in Barranca Empinada gezwungen, rechtzeitig deutlich zu machen, dass man nicht bereit ist, unmittelbare Interventionen zu akzeptieren. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu den genannten Vorstellungen über das Valle del Mezquital und die zu beobachtende alltäglich inszenierte Subordination. Die Analyse dieses scheinbaren Paradoxons zeigt, dass die Beziehungen von Staat und Landbevölkerung durch hidden transcripts und versteckten Widerstand geprägt sind. Dazu gehört, dass bei Verletzung bestimmter Grenzen ein offener Widerstand der DörflerInnen provoziert wird, für den sie auf gemeinschaftliche Aktionen und ihren Zusammenhalt setzen, die ihre weapons of the weak (Scott 1985) sind. 6.1.3 Die Konstruktion offenen Widerstands – „Para que digan éstos no se dejan!“ 5 Ein weiterer Beleg dafür ist, dass es seit Anfang der 1990er Jahre vorkam, dass Bürgermeister und Mitarbeiter staatlicher Institutionen durch Dorfgemeinschaften entführt wurden. Dies geschieht zwar nicht oft und dann aufgrund eines konkreten Konflikts oder als Reaktion auf die Nichterfüllung von Wahlversprechen, schafft aber für die Amtsträger eine grundsätzliche Unsicherheit. Ihnen ist die latente Drohung präsent, dass BürgerInnen zu diesem Mittel greifen könnten. Entführungen bilden einen wichtigen Teil des Repertoires an Widerstandsmythen der Comunidades, obwohl eher selten darüber gesprochen wird. Dies zeigt, dass sie den DorfbewohnerInnen zu einem gewissen Maße unangenehm sind. Sie werden als etwas angesehen, das nicht ganz korrekt ist und einen problematischen Ruf einbringt. Daher brüstet sich auch in Barranca Empinada niemand mit den oben angesprochenen Aktionen. Sobald aber ein Vertrauensverhältnis zu InformantInnen bestand und die Sprache auf die Autonomie der Dorfgemeinschaft kam, berichteten sie auch davon, wie die Position dieses Dorfes erreicht wurde. Dabei wurde ein zurückhaltend geäußerter Stolz über die Aktionen erkennbar. Sie stellten sich aber nie als überlegen dar, noch wurde mit Häme von den Betroffenen gesprochen, sondern der Schwerpunkt lag auf der Erfahrung, erfolgreich Widerstand geleistet zu haben. Selbst bei denjenigen, die sich heute von den Aktionen distanzieren, wurde deutlich, dass sie die Aktionen in der damaligen Situation als legitim ansahen und mit voller Überzeugung teilnahmen. Diese Art von

5 „Damit sie sagen: Die lassen sich nichts gefallen!“

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Widerstand wird als Zeichen der Stärke verstanden, obwohl sie bei einer differenzierten Betrachtung zunächst auf die Unterlegenheit der Dorfgemeinschaften in den hergebrachten politischen Aushandlungsprozessen hinweist. Denn als Reaktion darauf, dass ihre Forderungen von lokalen und regionalen Politikern ignoriert bzw. Konflikte nicht im Vorlauf ausgeräumt wurden, sind die Entführungen letztlich Ausdruck einer gewissen Ohnmacht aufgrund mangelhafter Anknüpfungsmöglichkeiten im politischen System.6 Dies zeigt auch der Fall von Barranca Empinada, denn hier wurden Entführungen und andere gewaltsame Aktionen in dem Moment eingestellt, als sich die Líderes der Dorfgemeinschaft auf andere Weise Gehör verschaffen konnten, also demokratische Teilhabe möglich wurde. Für die DorfbewohnerInnen stellen solche Aktionen aber legitime Maßnahmen dar, um sich gegen aus ihrer Sicht ungerechtfertigte Vorgänge zu wehren. Daher bleiben sie Teil des Handlungsrepertoires, wenn auch nur als letztes Mittel. Daneben wurde das rebellische Bild solcher Dorfgemeinschaften dazu genutzt, die Bewegung der Dorfgemeinschaften in diesem Teil des Valle del Mezquital schlagkräftiger erscheinen zu lassen. Die Inszenierung als Bewegung ganzer Dorfgemeinschaften verlieh ihr ein entschieden größeres Gewicht, als wenn das Bild einer Gruppe politischer Abweichler oder einzelner Störenfriede bestanden hätte. So symbolisierten die mobilisierbaren Comunidades ein großes Reservoir an Protestlern. Daher war auch die angesprochene Darstellung der Beteiligung von Frauen wichtig, da so gezeigt werden konnte, dass es sich tatsächlich um alle DorfbewohnerInnen handelte und nicht nur um eine handvoll Acarreados. Gewaltsame Aktionen im Repertoire der Handlungsmöglichkeiten Entführungen und Besetzungen werden also als Druckmittel eingesetzt und gehören zum Repertoire mit dem Dorfgemeinschaften auf sich und ihre Forderungen aufmerksam machen können. Die zugrundeliegende Annahme, dass nur spektakuläre Aktionen Erfolg haben können, ist aber im Sinne der weapons of the weak auch als Zeichen von Schwäche zu verstehen. Dies war zunächst auch im Fall von Barranca Empinada so: Ein Ereignis, das als erster Schritt zur Organisation der Dorfgemeinschaft betrachtet wird, war die Entführung von zwei Mitarbeitern der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft CFE (Comisión Federal de Electricidad). Damals wurden Haushalte in mehreren Dörfern der Region mit unerklärlich hohen Stromrechnungen konfrontiert. Dies wurde als Versuch der CFE interpretiert, sich auf Kosten der Verbraucher zu bereichern. In Verhandlungen wurde daraufhin angestrebt, einen Erlass der Stromschuld zu erreichen und den kostenlosen Austausch der Stromzähler

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Vgl. zur analytischen Zusammengehörigkeit von Macht und Widerstand Abu-Lughod 1990.

230 | D OING D EMOCRACY IN INDIGENEN D ORFGEMEINSCHAFTEN durchzusetzen. Als dies nicht gelang und stattdessen damit gedroht wurde, den Strom abzuschalten und die ausstehenden Beträge auf dem Rechtsweg einzutreiben, wurden zwei Mitarbeiter der CFE entführt und auf einem nahe gelegenen Bergrücken festgehalten. Später kam es sogar zu einer Auseinandersetzung in einer Nachbarstadt, bei der das regionale Büro der CFE umzingelt und der Büroleiter festgesetzt wurde, was nur durch die Mobilisierung mehrerer Dorfgemeinschaften möglich war. Nach dieser Eskalation wurde eine Übereinkunft geschlossen und der Konflikt beigelegt. [Don Andrés]

Die Reaktion der Dorfbewohner erscheint überzogen, aber einerseits sahen sich die Protestierenden aufgrund der moralischen Implikation des Korruptionsvorwurfs im Recht. Andererseits konnten die Betroffenen die geforderten Summen schlicht nicht aufbringen, so dass sie ihre Existenz bedroht sahen. Wenn sich wie in diesem Fall eine Gruppe in ihren Grundrechten eingeschränkt oder anderweitig benachteiligt sieht, wird in der lokalen politischen Auseinandersetzung die Einschränkung der Bewegungsfreiheit anderer, sei es durch direkte Entführungen oder Blockade öffentlicher Räume, als quasi legitimes Mittel angesehen. Nur so können sie ihrer Erfahrung folgend die eigene Ohnmacht für einen begrenzten Zeitraum überwinden. Es kommt auch nur selten zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Entführer, da kein neuerlicher Konflikt mit den Dorfgemeinschaften riskiert wird.7 Häufig wird jedoch eingegriffen, indem Polizisten entsandt werden, um die Entführten zu befreien. Dies endete in der Vergangenheit oft darin, dass auch sie gefangen gesetzt wurden, was die DorfbewohnerInnen mit besonderem Vergnügen erzählen, da es sich aus ihrer Perspektive um Vertreter der ungerechten Staatsmacht handelt. Die Nachwirkungen solcher Ereignisse in den 1990er Jahren waren noch während meiner Forschung präsent, denn viele Menschen im Valle del Mezquital hatten die Auseinandersetzungen, insbesondere die Blockaden der Panamericana, miterlebt. Auch die erzwungene Bestreikung des Wochenmarkts, sowie die Zerstörung des regionalen Hauptquartiers der Bundespolizei waren noch bekannt. So wurde bspw. bei Gesprächen in El Thonxi Bezug darauf genommen, ohne sie aber mit konkreten Dörfern in Verbindung zu bringen.8 Zudem wird der entsprechende Teil des Valle del 7

Teilweise werden die TäterInnen allerdings nach Jahren zur Rechenschaft gezogen. Dabei werden aber eher symbolische Strafen verhängt, was zeigt, dass diese Aktionen in gewissem Maße als Protestform anerkannt sind. Dies war der Fall einer Frau aus dem Municipio Cardonal, die sich an der Entführung eines Gemeinderates beteiligt hatte. Sie wurde 2012 zu wenigen Tagen Gefängnis verurteilt.

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Allerdings ist es auch unüblich schlecht über andere Dörfer zu sprechen. In Gesprächen mit meinen InformantInnen ist mir eine deutliche Zurückhaltung bei der Bewertung anderer Dorfgemeinschaften begegnet. Ausnahmen gab es nur, wenn über direkte Konflikte mit Nachbardörfern gesprochen wurde. Der Grund dafür dürfte zum einen in der Akzeptanz der Eigenständigkeit der anderen Gemeinschaft liegen und zum anderen in alltäglichen

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Mezquital weiter als potentiell rebellisch angesehen und es besteht die Auffassung, dass sich die Menschen dort seltener von der Politik ausnutzen lassen, sondern eher bereit sind, sich zu wehren. Neben dieser relativ positiven Interpretation werden sie aber auch als konfliktfreudig oder gar streitsüchtig angesehen. Gleichzeitig gehören diese Aktionen zum kollektiven Erfahrungsschatz der Region und liefern eine Grundlage für die politischen Konstellationen und Interaktionsmodi. Denn obwohl dem Bereich um Barranca Empinada ein Stigma der Rebellion anhängt, finden sich entsprechende Vorgehensweisen gegenwärtig vorwiegend in anderen Teilen der Region. Sie scheinen zum Repertoire der Drohungen, aber letztlich auch der Aktionen verschiedenster Dorfgemeinschaften zu gehören. So wurde auch in El Thonxi in einem Fall vorgeschlagen, vor dem Rathaus zu demonstrieren oder es zu besetzen, falls der Bürgermeister ein konkretes Versprechen nicht einhalte. Diese Drohung wurde zwar eher beiläufig in informellen Gesprächen geäußert, nichtsdestotrotz stand sie im Raum, wie ich dem Gespräch mit einem Líder entnehmen konnte [Juan]. Dies weist einerseits auf die Alltäglichkeit dieser Handlungsmöglichkeit hin, andererseits zeigt es, dass diese Option in vielen Teilen des Valle del Mezquital präsent ist. Bemerkenswerterweise trifft dies auch auf die als passiv und widerstandslos charakterisierten Teile der Region zu. Ein Beispiel findet sich in der Gemeinde Cardonal, zu der El Thonxi gehört: Anfang der 1990er Jahre entführten Einwohner eines Dorfes den Bürgermeister und zwei Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung und hielten diese mehrere Tage lang in einer abgelegenen und wenig bekannten Höhle gefangen. Dies bildete den Höhepunkt einer Auseinandersetzung um Fördermittel für ihre Dorfgemeinschaft, in der dem Bürgermeister vorgeworfen wurde, seine Wahlversprechen nicht eingehalten zu haben. [Proteste Cardonal]

Diese Entführung scheint für großes Aufsehen gesorgt zu haben und ist zum Referenzpunkt für spätere Drohungen geworden. Zwar wurde sie gewaltlos auf dem Verhandlungsweg beigelegt und blieb im Gegensatz zu den Aktivitäten in dem als rebellisch geltenden Teil des Valle del Mezquital eine isolierte Aktion. Trotzdem hat sie ihre Wirkung entfaltet und das Wissen um die Möglichkeit und den wahrscheinlichen Erfolg eines solchen Vorgehens ist als Drohpotential unausgesprochen Teil von Aushandlungen zwischen kommunalen Amtsträgern, anderen Politikern und den Dorfgemeinschaften. Teilweise dürfte dies mit der Kenntnis über die erfolgreichen Aktionen der Dorfgemeinschaften um Barranca Empindada herum zusammenhängen, die zum Vorbild werden konnten. Gleichzeitig ist diese Vorgehensweise in Mexiko aber generell im Kontext von sozialen Bewegungen und auch Parteien weit verbreitet. Normen des gegenseitigen Umgangs, die Konflikte verhindern sollen. Dies zeigt, wie präsent die Proteste in der Vergangenheit gewesen sein müssen, wenn sie entgegen der üblichen Praxis weiter mit einer bestimmten Region in Verbindung gebracht werden.

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So kommt diese Art von Aktionen in der Region insgesamt selten vor, ist aber häufiger anzutreffen, als dies vor dem Hintergrund der angenommenen klientelistischen Durchdringung zu erwarten wäre. In der Regel ist dies aber kein expliziter Angriff auf den Staat, sondern es geht darum, die betreffende Person zur Ordnung zu rufen und zu einer nach ihrer Auffassung korrekten Arbeit und Behandlung der Bürger anzuhalten. Vor allem soll aber gezeigt werden, dass man bereit ist, sich ggf. zu wehren. Widerstand als strategischer Affront gegen die Politiklogik Aktionen wie die oben genannten finden statt, wenn ein Anliegen weder auf formalem noch informellen Wege geklärt werden kann. Gelangt ein bedeutender Teil einer Dorfgemeinschaft zu der Überzeugung, dass Verhandlungen und ein Dialog von Seiten der Amtsträger abgeblockt werden, Gesprächsangebote nicht ernst gemeint sind und nur als Hinhaltetaktik dienen, dann kann sich der Zorn der Dorfbewohner in extremen Aktionen äußern. Oft wird dieser Punkt aber erreicht, bevor tatsächlich alle formalen Mittel ausgeschöpft sind. Die Beteiligten sind dann zu frustriert und sehen keinen Nutzen darin, weiter den formalen Weg zu beschreiten, sondern ziehen sich zurück. Aufsehenerregende Aktionen werden dann als schnelles und sicheres Mittel zum Erfolg angesehen. Grundlage dafür ist ein Klima in dem aufgrund negativer Erfahrungen in der Vergangenheit, die Teil des kollektiven Gedächtnisses sind, wenige Erwartungen in formale Mechanismen gesetzt werden. Zudem sind viele mögliche Wege den einfachen BürgerInnen oft unbekannt. Dem Rückgriff auf gewaltsame Aktionen geht aber in jedem Fall ein Konflikt innerhalb der Dorfgemeinschaft voraus. So werden in politische Strukturen eingebundene Líderes wie auch Parteigänger des entsprechenden Politikers zur Mäßigung mahnen. Denn aus ihrer Sicht wird ein radikaler Schnitt vollzogen, der die späteren Beziehungen zu staatlichen Stellen belastet. Und in ihrer Verantwortung liegt es, die Verbindungen dann mühevoll wiederherzustellen und das Bild der Comunidad zu korrigieren, um nicht im politischen Raum isoliert zu werden und damit Zugang zu staatlichen Leistungen zu verlieren. Ein Beispiel für diese Logik sind die o.g. internen Diskussionen in El Thonxi. Daher werden solche Aktionen eher von kleinen Gruppen durchgeführt, auch wenn sie sicherlich von einem größeren Teil der anderen DorfbewohnerInnen gutgeheißen, jedoch nicht aktiv unterstützt werden. Demgegenüber kann es in Fällen wie dem von Barranca Empinada aber schon ausreichen, den Ruf als rebellische Dorfgemeinschaft strategisch einzusetzen. Hier wurde das Bild der Rebellen sogar kultiviert und als bedeutendes Element ihrer externen Repräsentation (vgl. Pfaff 2005) genutzt, um eigenen Forderungen ein größeres Gewicht zu verleihen. Durch die Abfolge diverser Aktionen sorgte die Gemeinschaft dafür, dass das rebellische Potential des Ortes Politikern, staatlichen Akteuren aber auch Vertretern anderer Dörfer präsent war. Im Kontext von Verhandlungen

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sollte immer bewusst sein, dass diese Dorfgemeinschaft nicht einfach über sich bestimmen lässt. In den Worten eines Informanten: „Damit sie sagen: Die lassen sich nichts gefallen!“ [Don Andrés]. Dadurch sollte ein strategischer Vorteil für das eigene Dorf erreicht werden, wobei die Aktionen als angebliche Auseinandersetzung zwischen den einfachen Menschen der Region und mächtigen Politikern der PRI gerechtfertigt und überhöht wurden. Letztlich sollte die Dorfgemeinschaft für relevante Lokalpolitiker unberechenbar sein, damit sie schneller auf Forderungen der Dorfgemeinschaften eingingen, um keine Protestaktionen zu riskieren. Besonders interessant ist dabei, dass diese Handlungslogik immer noch relevant ist, obwohl seit etwa 15 Jahren keine entsprechenden Proteste stattgefunden haben. Dorfgemeinschaften mit entsprechendem Ruf profitieren, wie Barranca Empinada, im Rahmen der lokalpolitischen Aushandlungen weiterhin von dem Bild als rebellische Comunidad. Die Líderes nutzen diesen Umstand und zwar auch, um ihre persönlichen politischen Karrieren zu beflügeln. So wird einerseits versucht das negative Bild zu tilgen, indem sich Vertreter der Comunidad verhandlungsbereit zeigen, ihre Akzeptanz erwarteter Vorgehensweisen und informeller Aushandlungen inszenieren und zudem betonen, dass man in der Vergangenheit Fehler begangen, aber daraus gelernt habe. Diese Líderes versuchen sich mittlerweile oft als Stütze des regionalen politischen Systems darzustellen, um sich von dem Stigma zu lösen und im politischen Raum als gleich akzeptiert zu werden. Andererseits profitieren sie weiter von dem genanntem Bild und daraus resultierendem Respekt und Vorsicht. Denn schließlich ist das einem Líder zugeschriebene Mobilisierungspotential wichtig für die Beurteilung seines politischen Gewichts. Es kann also festgestellt werden, dass diese Form der Autonomie, die ich als praktizierte Autonomie bezeichne, häufig die Grundlage für eine freie oppositionelle politische Betätigung ist. Denn sie wird zugelassen, da die potentielle Schlagkraft der Dorfgemeinschaft im Hintergrund bewusst ist, wovon sowohl die Dorfgemeinschaften an sich, als auch Politiker profitieren, die mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Nichtsdestotrotz wird dieses kritische Potential gleichzeitig durch die Einbeziehung dieser Dörfer und ihrer Vertreter in (alltägliche) politische Aushandlungsprozesse in gewissem Maße gebändigt, wie das Beispiel der Líderes in Barranca Empinada zeigt. Dies geht soweit, dass die DörflerInnen selbst gar nicht von Autonomie sprechen, sondern dieses Verhältnis zu externen Akteuren als Teil ihrer eigenständigen dörflichen Selbstorganisation sehen. Auf Grundlage der analysierten Fälle gehe ich aber davon aus, dass diese Art der Autonomie in Mexiko relativ weit verbreitet ist, aber nicht als solche wahrgenommen wird, da die entsprechende politische Debatte stark von Autonomievorstellungen geprägt ist, die wie im Fall der Zapatisten eine deutlichere Abgrenzung von staatlichen Institutionen und Strukturen umfassen. Damit unterscheidet sich die analysierte Art der Autonomie deutlich von diesen anderen Formen, die meist in den südlichen Bundesstaaten Mexikos existieren und wie bei den

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Zapatisten mit einer weitgehenden Abschottung gegenüber staatlichen Akteuren einhergehen. Diese haben ihren Ursprung oft in politischen Prozessen die zur Schaffung unabhängiger politischer Institutionen und Strukturen führten, weil sich die entsprechenden BürgerInnen nicht wahrgenommen fühlten, sondern Politiker und Funktionäre als Personen erlebten, die ihre Position missbrauchten. Sie sahen in der Abkoppelung von den bestehenden, meist von der PRI kontrollierten Strukturen den einzigen Ausweg den das politische System Mexikos ließ. Dorfgemeinschaften wie die von Barranca Empinada versuchen hingegen weiter, staatliche Akteure zu beeinflussen und fordern eine bessere Regierungsführung ein, indem sie sich der genannten Strategien und Protestformen bedienen. Andere dagegen sind auf die praktizierte Autonomie angewiesen, weil sie wenig externe Unterstützung erhalten, wagen es aber trotzdem nicht mit dem politischen System zu brechen. Für all diese Formen von Autonomie finden sich Vorläufer in der mexikanischen Geschichte, bspw. bei den Dorfgemeinschaften im Bundesstaat Morelos, welche die Basis der Zapatisten in der Revolution waren, oder in der beschriebenen Ausprägung indigener Gemeinschaften während der Kolonialzeit. Ein weiteres Beispiel, das als direkter historischer Vorläufer heutiger Autonomieformen gewertet werden kann, ist die Position ländlicher Dorfgemeinschaften während und direkt nach der Revolutionsphase. Kehrseite der gelebten Autonomie Nachdem ich bisher analysiert habe, welche Vorteile die praktizierte Autonomie für die politische Positionierung der Dorfgemeinschaften, aber auch deren Alltag hat, werde ich nun auf ihre Kehrseite eingehen. Obwohl die Autonomie betont wird, werden übergeordnete staatliche Aufgaben wie z.B. polizeiliche strafrechtliche Verfolgung meist relativ problemlos ermöglicht. So ist mir kein Fall bekannt, in dem der Polizei das Einverständnis auf dem Territorium der Dorfgemeinschaft aktiv zu werden, durch den Delegado oder eine ihn vertretenden dörflichen Autorität verweigert worden wäre und in der Regel wird die Polizei sogar vom Delegado selbst gerufen. In jedem Fall wird der Delegado als dörfliche Autorität und Schnittstelle zu staatlichen Institutionen informiert und einbezogen, so dass die Autonomie symbolisch respektiert wird. Allerdings beansprucht die Comunidad weiter die Rechtshoheit über eigene Mitglieder und stellt diese zunächst unter ihren Schutz. Diese Sichtweise existiert in allen Arten von Dorfgemeinschaften, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. In Dörfern mit einer starken Autonomie, wie in Barranca Empinada, muss der Delegado zunächst formal um Erlaubnis gebeten werden, um das Territorium betreten zu dürfen. Andernfalls wird die Präsenz der Polizei als Affront gesehen. Gemeinschaften mit schwacher Autonomie erachten es für ausreichend, wenn der Delegado benachrichtigt und zur Klärung der betreffenden Angelegenheit hinzugezogen wird. Aber auch in diesem Fall ist es, wie ich in El Thonxi (s. Kap. 4.1.2) beobachten konnte, üblich oder sogar zwingend, dass der befehlshabende Polizist explizit die Er-

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laubnis des Delegado einholt, bevor jemand verhaftet, in das Gefängnis der munizipalen Polizeiwache gebracht und damit aus dem Einflussbereich der Gemeinschaft geschafft wird. Auf Seiten der Polizei besteht aber aufgrund der Einschränkungen durch die praktizierte Autonomie eine teils sehr skeptische Haltung: Nach einem Aufenthalt in Barranca Empinada fuhr ich mit Sebastián im Auto nach Ixmiquilpan. Dabei wurden wir Zeugen eines Verkehrsunfalls. Ein Wagen war auf die Schnellstraße aufgefahren und hatte einen anderen Wagen abgedrängt, der sich am Straßenrand überschlug und in einem Graben liegen blieb. Sebastián versuchte zunächst den Unfallverursacher zu verfolgen, was aber nicht gelang. Daraufhin fuhr er zur nahe gelegenen Station der Bundespolizei PFP (Policía Federal Preventiva). Dort meldete er den Unfall und versuchte auf die Dringlichkeit der Situation hinzuweisen, denn einerseits war er der Ansicht, dass der Verursacher noch gefasst werden könnte und andererseits mussten möglicherweise die Insassen des Unfallwagens geborgen werden. Der diensthabende Polizist reagierte allerdings nicht so, wie es Sebastián wohl erwartet hatte. Zudem kam nach kurzer Zeit der örtliche Kommandant hinzu, was sicher mit Sebastiáns Bekanntheit in der Region zusammenhing, und es entsponn sich ein Disput zwischen beiden. Sebastián forderte immer vehementer, dass etwas getan werden müsse, während die Polizisten zunächst keine Anstalten machten aktiv zu werden. Erst als dem Kommandanten klar wurde, dass es möglicherweise Verletzte gegeben hatte, gab er Befehl eine Ambulanz zu informieren und ließ eine Streife ausrücken. Diese fuhr dann zügig, mit Blaulicht und Sirene, Staub aufwirbelnd vom Hof, was auf mich wie eine Inszenierung von Einsatzbereitschaft wirkte. [Verkehrsunfall]

Die Polizei wurde zwar aktiv, als es um mögliche Verletzte ging, schien aber kein Interesse daran zu haben, den Unfallverursacher zu verfolgen. Zunächst blieb unklar, worauf diese anfängliche Passivität beruhte. Sebastián interpretierte die Situation als Beleg für die angebliche Beschränktheit der Beamten, die sich mit Arroganz, Bequemlichkeit und dem Ausspielen ihrer Position als Macht- und Befehlshaber mischte. Allerdings war Sebastián in der Situation schwer zu verstehen gewesen, denn er hatte sehr aufgeregt gleichzeitig Verschiedenes erklärt und gefordert. Zudem zeigte er deutlich seine Haltung, dass er wisse was die Polizei in diesem Moment zu tun habe. Dies forderte eine Abwehrreaktion des Polizeikommandanten heraus, der seine Position als Befehlshabender missachtet sah. Verschärft wurde die Situation dadurch, dass er als einer der Líderes der als rebellisch angesehenen Dorfgemeinschaft von Barranca Empinda bekannt war. Man wusste also, dass er zu denen gehörte, die oft eine Gegenposition zur Staatsgewalt einnahmen und an vielen Protestaktionen beteiligt gewesen war. Ein entscheidender Kommentar des Kommandanten machte schließlich deutlich, welche Handlungslogik seiner abwartenden und fast ablehnenden Haltung zu Grunde lag:

236 | D OING D EMOCRACY IN INDIGENEN D ORFGEMEINSCHAFTEN Fast zeitgleich mit der Patrouille war auch Sebastián aufgebrochen, vermutlich um zu sehen, ob die Polizisten die Unfallstelle und das verunglückte Fahrzeug finden würden. So ergab es sich, dass ich mit dem Kommandanten vor der Polizeistation stand und wir zusahen, wie die Wagen davonrauschten. Er fragte mich, wie ich den Unfall beobachtet hatte und wir wechselten ein paar Sätze. Dabei machte er kopfschüttelnd Kommentare über die Situation und Sebastiáns Haltung und schloss mit dem vielsagenden Satz: „Er will, dass wir den Typen festnehmen. Aber sobald wir ihn hier haben kommen sie mit 200 Kerlen und besetzen alles, um ihn zu befreien.“9

Ich muss etwas verdutzt geguckt haben, denn er fügte hinzu: „Ja, so ist das hier. Wenn irgendetwas mit den Dörfern ist, dann kommen sofort alle, besetzen die Station und machen ein Chaos. Das lohnt sich überhaupt nicht einzugreifen. Sollen sie ihren Kram doch selber regeln.“

Mit diesen Worten ging er kopfschüttelnd hinein und widmete sich wieder seiner Arbeit. Die Analyse dieser Episode zeigt, dass die als wichtige Errungenschaft betonte und verteidigte Autonomie, entgegen der positiven Sicht der Dorfbewohner, durchaus problematische Implikationen hat. Im Fall des Kommandanten wird deutlich, dass sich seine Handlungslogik in der fortwährenden Aushandlung mit „rebellischen“ Dörfern und weiteren Akteuren, wie parteinahen Vereinigungen, dahingehend verändert hat, dass sie von Resignation geprägt ist. Diese Haltung, die sich aus der Einschätzung ergibt, ein regelkonformer Einsatz führe zu Scherereien, kann zu einer problematischen Sicherheitslage für die Dorfgemeinschaften selbst führen. Gesetzesverstöße könnten nicht angemessen schnell geahndet oder zunächst sogar ignoriert werden, weil möglicherweise angenommen wird, dass es sich entweder nicht lohnt den Anzeigen nachzugehen oder die Ansicht vertreten wird, dass die Dorfgemeinschaften, wenn sie der Polizei nicht uneingeschränkten Zugang gewähren wollen, ihre Angelegenheiten selber klären sollen. Dabei verschiebt sich in der Perspektive der Polizei die ursprüngliche Grenze zwischen intern und extern zu klärenden Streitigkeiten und Verbrechen. Diese Entwicklung liegt sicherlich nicht im Interesse der Dorfbewohner. Im genannten Fall ist zudem ein Element von Revanche zu erkennen, indem der Kommandant Sebastián, den er als einen der Initiatoren von Aktionen gegen die Staatsgewalt betrachtete, auflaufen ließ. Vielleicht war es nur seine Abneigung, aber möglicherweise auch ein Versuch, ihm vor Augen zu führen, dass Sebastián selbst eine Konstellation provoziert hatte, in welcher der Kommandant relativ

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„Quiere que agarremos al tipo pero luego van a venir con unos doscientos cabrones a liberarlo.“

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machtlos war. Denn aus seiner Sicht wäre er nach kurzer Zeit gezwungen worden, den Unfallverursacher entgegen allen rechtsstaatlichen Regeln frei zu lassen. Es existiert somit eine indirekte Konfrontation zwischen Dorfgemeinschaften und Bundespolizei, die sich in einer fragilen Konstellation der Akteure zueinander äußert, die fortwährend neu ausgehandelt und verändert wird. Interessant ist dabei, dass dem zwar direkte Interaktionen mancher Akteure zugrunde liegen, der Aushandlungsprozess aber eher durch ein indirektes Interface ohne regelmäßige Kontakte charakterisiert wird. Durch die fehlende formale Bestätigung der Autonomie, die durch einen mangelnden Konsens über Regeln und Verfahrensweisen unerwünschte Implikationen, z.B. für formale Strafverfolgung, haben kann, ist diese Situation auch für die Comunidades schwer einzuschätzen. Daher sind einige DorfbewohnerInnen nicht mit dieser Form von Autonomie einverstanden. Doña Inés aus Barranca Empinada sagte mir, dass sie es nicht korrekt findet, wenn die Polizei nicht direkt in den Ort kommen kann, um gegen Verbrecher vorzugehen. Sie sah darin keinen Sinn und vertrat die Ansicht, dass die Polizei nicht an der Ausübung ihrer wichtigen Aufgaben gehindert werden sollte. Die Vorstellung der unbedingten Verteidigung der Autonomie sah sie als eine politische Strategie oder gar eine ideologische Verblendung der Líderes an. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass sie die Aufgabe der dörflichen Selbstständigkeit begrüßen würde. Sie war persönlich jedoch immer bereit, u.a. auch in parteipolitischen Fragen, eine gewisse Offenheit externen Akteuren gegenüber zu wahren, um keine unüberwindbaren Gräben entstehen zu lassen.10 Diese Haltung spiegelt ein bedeutendes Element erfolgreicher dörflicher Autonomie wieder, denn sie beruht darauf, sich nicht völlig abzuschotten. Die Flexibilität und Offenheit der dörflichen Organisation ist eine wichtige Voraussetzung dafür, auf Veränderungen reagieren und sich externe Elemente aneignen zu können. Denn wie zu Beginn dieser Arbeit diskutiert konnten indigene Gemeinschaften in historischer Perspektive gerade dadurch längerfristig als solche bestehen und ihre Eigenheiten bewahren (vgl. Kap. 1.2.2). Dazu muss aber grundsätzlich die Möglichkeit zur Interaktion mit externen Akteuren offen gehalten werden. Darüber hinaus zeigt diese Episode deutlich das mangelnde Vertrauen Sebastiáns in die Fähigkeiten und den Willen der Polizei zu handeln. Aus seiner Reaktion und späteren Kommentaren wurde ein generelles Misstrauen gegenüber Repräsentanten der Staatsgewalt ersichtlich. Eine solche Haltung konnte ich auch bei anderen Personen feststellen; sie ist bezeichnend für den analysierten fragilen Interaktionszusammenhang. Ich hatte den Eindruck, dass dieses häufig bestehende aber selten geäußerte Unbehagen der Polizei gegenüber vielen Menschen selbst nicht bewusst ist. Es ist auffallend, dass einerseits ein weitverbreiteter Diskurs existiert, in dem ein größerer Einsatz der Ordnungskräfte für die Sicherheit der BürgerInnen gefordert wird. Auch in den ländlichen Gebieten gibt es eine gewisse Angst vor Kriminalität und man sorgt 10 Dies war einer der Gründe dafür, warum sie später mit anderen Frauen in die zentralen Dorfämter gewählt wurde, um die Spaltung des Dorfes zu überwinden.

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sich verstärkt um die Sicherheit. Hier ist auch Doña Inés Aussage einzuordnen. Andererseits besteht eine Geringschätzung gegenüber der Polizei und ihrer Arbeit. Polizisten werden oft mit Machtmissbrauch und Korruption in Verbindung gebracht, gleichzeitig aber auch lächerlich gemacht. Es ist ein in Mexiko weitverbreitetes Phänomen, dass hinter vorgehaltener Hand Polizisten verspottet und nicht ernst genommen werden. So wird die Haltung den Sicherheitskräften gegenüber durch ein zwiespältiges Bild beeinflusst, das noch dadurch komplexer wird, dass diffuse Vorwürfe existieren, viele Polizisten seien von der sogenannten Drogenmafia gekauft. Letztlich darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Staatsmacht durchaus in der Lage wäre, sich zumindest vordergründig durchzusetzen. Sie könnte die informellen Vereinbarungen zwischen lokalen Vertretern der Staatsgewalt und Dorfgemeinschaften ignorieren und diese Dimension der Autonomie zerschlagen. Auch deshalb ist das aktuelle Verhältnis als fragil und unsicher anzusehen.11 Allerdings wäre dies nicht mit angemessenen Mitteln möglich und würde einen intensiven alltäglichen Widerstand nach sich ziehen. Und da die bisherige Analyse zeigt, dass der Staat letztlich auf diese lokalen Institutionen angewiesen ist, ist eine größere Konfrontation eher unwahrscheinlich. Nichtsdestotrotz kann es zu Auseinandersetzungen kommen, wenn wie im Fall der Intervention der Soldaten in Barranca Empinada externe Akteure, die nicht in dieses Geflecht eingebunden sind, die informellen lokalen Regeln missachten. In gewissem Maße trifft dies auch auf den Kommandeur der Bundespolizei zu, denn im Gegensatz zu dessen Haltung konnte ich bei Angehörigen der Munizipalpolizei, die aus Dörfern der Region stammen, eine deutlich größere Sensibilität im Umgang mit teils sehr komplexen Situationen beobachten (vgl. dazu den Polizeieinsatz in El Thonxi im Kap. 4.1.2) und dies obwohl sie fast als Polizisten zweiter Klasse gelten. Riskanter sind aber Situationen in denen eine der beteiligten Gruppen den Eindruck gewinnt, dass Vereinbarungen verletzt werden und sich dadurch das ausgehandelte Gleichgewicht verschiebt. Ein solcher Bruch, ggf. politisch befeuert, könnte erneut extreme Reaktionen zur Folge haben. Insgesamt ist derzeit aber nicht zu erwarten, dass dieses informelle Arrangement in Frage gestellt wird, denn letztlich funktioniert es in der aktuellen Situation und vermeidet größere Probleme für beide Seiten. Im Rahmen dieser anhaltenden Aushandlungsprozesse der Position der Gemeinschaften wurde dann auch die Gesetzgebung der Realität der dörflichen Organisation angenähert, während gleichzeitig ihre Institutionen an staatliche Vorstellungen angepasst wurden.

11 Dies zeigte sich nach dem Ende meiner Forschung als im Rahmen einer Auseinandersetzung die Polizei des Bundesstaates ein Dorf stürmte und mehrere Bewohner verhaftete.

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Ausgehandelte Autonomie – Autonomie in Aushandlungen Neben ihrer praktischen Dimension erklärt sich die Bedeutung der Autonomie für die DörflerInnen auch aus der Verknüpfung mit Diskursen über die Einheit der Gemeinschaft. So soll offensichtlich die Betonung der Eigenständigkeit gegenüber einem äußeren Akteur, der oft als „Feindbild“ konstruiert wird, den Zusammenhalt innerhalb der Dorfgemeinschaft befördern. Durch dieses Othering soll eine Identifikation als zusammengehörige und aufeinander angewiesene Wir-Gruppe verstärkt werden. Dabei bieten sich staatliche Akteure, denen bereits mit Misstrauen begegnet wird, als Projektionsfläche des bedrohlichen Anderen an. Somit sind solche Diskurse, soweit sie von den Líderes einer Gemeinschaft eingesetzt werden, als Teil eines diskursiven Komplexes zu sehen, zu dem die bereits analysierten Diskurse über die angebliche Harmonie und Geschlossenheit früherer Gemeinschaften gehören. Es wird versucht die Dorfbewohner an ihre Gemeinschaft zu binden, damit sie als starkes Kollektiv auftreten kann, was für die Position der Líderes entscheidend ist. In diesen Diskursen wird jedoch oft die Ignoranz der Líderes gegenüber den Einstellungen der Dorfbewohner deutlich, denn diese sind grundsätzlich immer bereit ihre Gemeinschaft zu unterstützen, sofern die Anliegen als relevant angesehen werden. So zeigen diese Diskurse einen gewissen Realitätsverlust der Líderes, die annehmen, die DörflerInnen müssten immer wieder an die Gemeinschaft gebunden und zur Einhaltung der Regeln verpflichtet werden. Das Vorgehen vieler Líderes weckt so eher Misstrauen und lässt das Gefühl entstehen, instrumentalisiert zu werden. Letztlich kann dies die Autonomie des Dorfes in Gefahr bringen, da ein Mangel an Motivation und sozialer Kohäsion die Mobilisierungsfähigkeit der Dorfbewohner stark beeinträchtigen kann. Dies ist eine Schwäche der Dorfgemeinschaften gegenüber anderen Arten von Akteuren. Die Analyse der alltäglich praktizierten Autonomie der Dorfgemeinschaften im Valle del Mezquital verdeutlicht, dass sie eine wichtige Dimension der Aushandlungsprozesse ist, an denen die Dörfer beteiligt sind. Für die DörflerInnen ist es notwendig, sich aufeinander verlassen zu können und die Eigenständigkeit der Dorfgemeinschaft als Institution bietet ihnen den nötigen Raum, diese Zusammenarbeit abzusichern. Gleichzeitig wird der Zusammenhalt als Wir-Gruppe gegenüber externen Akteuren durch den Bezug auf die Comunidad ermöglicht. Dabei achten die DorfbewohnerInnen darauf, den eigenen Raum gegen Eingriffe zu verteidigen. Da es sich um Hidden Transcripts handelt ist dies aber nicht sofort zu erkennen, denn es werden nicht nur viele Interventionen akzeptiert, sondern sogar mit staatlichen Akteuren zusammengearbeitet, um an öffentlichen Ressourcen teilhaben zu können. Werden konkrete Interventionen jedoch als unangemessen empfunden, wird die Autonomie zur Kontrolle oder sogar Verweigerung genutzt. So wird der Handlungslogik versteckten Widerstands entsprechend die Kooperation betont, bis ein bestimmter Punkt erreicht ist, an dem die Befürchtung wächst, dass der eigene Raum beschnitten werden könnte. Dann ist es wahrscheinlich, dass die Gemeinschaft offen Widerstand übt. Da-

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her sind Interaktionen mit externen Akteuren, insbesondere mit staatlichen und Politikern, immer auch eine Aushandlung des jeweils Möglichen. Das Interface wird dabei dynamisch neu ausgehandelt und damit auch die Regeln und Anforderungen an die beteiligten Akteure. Ein Teil dieses Prozesses kann die Inszenierung der Treue zu einer bestimmten Partei oder der Geschlossenheit der Gemeinschaft sein. Zudem wird deutlich, dass das kollektive Auftreten, die Repräsentation einer geschlossenen Gemeinschaft, trotz aller interner Konflikte, Spaltungen und Gegensätze sehr wichtig für die Außendarstellung und damit die Verhandlungsposition gegenüber externen Akteuren ist. Dies bezieht sich nicht nur auf offizielle Verhandlungen, in denen die Vertreter der Dorfgemeinschaft auf eine Inszenierung des Rückhalts des gesamten Dorfes angewiesen sind, sondern auch auf alltägliche Aushandlungen, welche an diversen Schnittstellen zwischen Gruppen aus der Dorfgemeinschaft und externen Akteuren stattfinden, seien es staatliche Akteure, Nichtregierungsorganisationen, benachbarte Dorfgemeinschaften oder auch ForscherInnen, die von außen an die Comunidad herantreten. Nur so können die DörflerInnen verhindern, dass die Gemeinschaft umgangen wird, um an einzelne Mitglieder heranzutreten. Das Gewicht der Comunidad, das sich nicht zuletzt aus ihrer lebensweltlichen Relevanz ergibt, wird daher quasi in jeder Interaktion reproduziert und untermauert. Gleichzeitig haben sich aber auch neue Formen der Repräsentation von Kollektivität entwickelt. Dies umfasst eine größere Vielfalt von Aushandlungsmodi mit externen Akteuren und von Strategien im Umgang mit Interventionen. Dazu gehört es, Proteste des oben beschriebenen Stils anzudrohen und ggf. durchzuführen. Des Weiteren ist zu beobachten, dass die Líderes, die im Klientelsystem bedeutend waren, weil sie einerseits der lange Arm des Staates waren und andererseits als zentrale Verbindung und Vertretung nach außen dienten, heute teilweise umgangen werden. Dies stellt eine gewisse Missachtung der dörflichen Institutionen und Regeln dar und wird meist als Schwächung der Gemeinschaft verurteilt. Auf solche Aspekte des Wandels der politischen Handlungslogik der BürgerInnen und die Reaktionen darauf werde ich im nächsten Kapitel genauer eingehen.

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Bereits mit den ersten Analysen im Laufe der Feldforschung kristallisierte sich heraus, dass größere Unterschiede zwischen den Sichtweisen diverser Akteure auf Politik bestehen. Damit wurden zwar in gewissem Maße meine ursprünglichen Vorannahmen bestätigt, denn schließlich fokussierte meine Methodologie mit der InterfaceAnalyse gerade solche Diskontinuitäten (vgl. Kap. 2.1.1). Allerdings waren die Diskrepanzen schließlich größer, als zunächst erwartet. Sie treten in den Interaktionen zwischen der Dorfgemeinschaft bzw. ihren Mitgliedern und Vertretern politischer Parteien oder Behörden der munizipalen Ebene besonders deutlich zu Tage. Zudem lassen sich hier viele relevante Schnittstellen analysieren, die zwischen Alltagspolitik und formaler Politik verortet sind. Dieses Feld habe ich durch die Analyse der praktizierten Autonomie der Comunidades charakterisiert und werde darauf in der zweiten Hälfte dieses Kapitels genauer eingehen. Entsprechende Schnittstellen werden nicht nur durch die relativ seltenen direkten Encounters gebildet, die in der Regel fast ausschließlich während Wahlkampagnen, bei Besuchen in der Presidencia (Gemeindeverwaltung), sei es um eine Petition zu überbringen12 oder Protest zu artikulieren, oder am Rande festlicher Anlässe, welchen die Gemeindefunktionäre meist in einer Mischung aus amtlichen und privatem Besuch beiwohnen. Im privaten Bereich existieren weitere Möglichkeiten der Begegnung und Auseinandersetzung durch das Zusammenleben in der Nachbarschaft, die gemeinsame Zugehörigkeit zu bestimmten Institutionen wie dem Ejido, verwandtschaftliche Netzwerke oder andere feste soziale Bindungen wie die Compadrazgos (vgl. Kap. 5.3.1). Diese Bandbreite der Interaktionsmöglichkeiten mit Politikern ist allerdings vielschichtig. Dies zeigen häufige Kommentare die, wie: „Ich habe Don Fulano dieses und jenes gesagt“, auf Aushandlungen in informellen Zusammenhängen hindeuten. Allerdings bestehen diese Optionen vorrangig für die Gruppe politisch erfahrener Menschen, allen voran die Líderes und deren Umfeld, und für solche Personen, die aufgrund ihres Ansehens oder ihrer Bildung eine herausragende Position einnehmen. Die übrigen BürgerInnen sind dagegen auf offizielle Wege und die Vermittlung durch Vertreter der Comunidad angewiesen. Dies entspricht den fortbestehenden Varianten klientelistischer Politiklogik und spiegelt die Erfahrungen der lokalen Bevölkerung wider. Für den Großteil der DorfbewohnerInnen finden höchstens sporadisch Interaktionen mit Amtsträgern als direkte face-to-face Begegnungen statt, was besonders durch die geschlechts- und alterspezifische Form der Repräsentation innerhalb der Dorfgemeinschaft sowie die Migrationsprozesse befördert wird. Lediglich mit Funktionären bestimmter Behörden, so im Bereich von Entwicklung oder Sozialleistungen, kann ein häufigerer Kontakt bestehen. Allerdings treffen auch

12 Eine der üblichen Arten sich an Politiker zu wenden (vgl. Kap. 6.3.2).

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diese vorrangig mit den Vertretern der Gemeinschaft zusammen. So wird ein größerer Teil der Interfaces indirekt bzw. virtuell gebildet (vgl. zu Nicaragua Rescher 2003). Dies gilt umso mehr je entfernter die entsprechende politische und administrative Ebene liegt. Ausdruck dieser diskursiv bzw. kommunikativ vermittelten Schnittstellen sind öffentliche wie private Gespräche zwischen DorfbewohnerInnen, sowie Meinungsaustausch und Diskussionen in Institutionen der Dorfgemeinschaft. Dies kann besonders bei der Aushandlung von Entwicklungsmaßnahmen, speziell von Dorfprojekten und der Unterstützung durch das Municipio beobachtet werden. Dazu kamen in meiner Forschung Diskussionen und Kommentare im Zusammenhang mit dem politischen Wechsel bei den damaligen Kommunalwahlen, den Erfahrungen und Eindrücken die sich an diese Alternancia de Poder (Macht- bzw. Regierungswechsel) anschlossen. Lokale Perspektiven auf Politik Die Perspektiven auf Politik und Staat werde ich kurz anhand von drei beispielhaften Bereichen diskutieren. Dies sind die Bedeutung von Vorstellungen über Wahlbetrug und staatliche Transferleistungen sowie die lokale Bewertung des angesprochenen Machtwechsels in den Gemeinden. Grundlegend lässt sich feststellen, dass eine große Skepsis bis Ablehnung gegenüber staatlichen Akteuren und Instanzen existiert. Der Staat wird meist als etwas Fremdes betrachtet, mit dem kaum etwas verbunden wird und falls doch, dann eher negative Phänomene, wie die erlebten Wirtschaftskrisen, Korruption, Wahlbetrug usw. Dies betrifft alle Ebenen des Staates und je höher, umso ausgeprägter ist diese Haltung, denn gerade der Zentralstaat wird fast ausschließlich negativ erlebt. Positive Manifestationen von Staat werden eher auf Personen bezogen. Diese Personalisierung der positiven Sicht auf den Staat hängt zum einen mit der Gewöhnung an ein paternalistisches politisches System und zum anderen mit der grundlegenden Bedeutung personifizierter politischer Aushandlung zusammen. Ein Bereich, in dem Konzeptionen von Politik zu erkennen sind, ist die Frage von Unregelmäßigkeiten bei Wahlen. In der Region wird oft die Möglichkeit eines Wahlbetrugs angedeutet. Dies zeigt bspw. die in Barranca Empinada berichtete Praxis ungültige Stimmen abzugeben, um Betrug vorzubeugen (s. Kap. 5.3.3). Möglicherweise gehört Wahlbetrug aber stärker zur Rhetorik und Vorstellung über Politik, als dass er tatsächlich auf lokaler Ebene praktiziert wird. Jedenfalls gibt es aber Manipulationsversuche zum Beispiel durch Stimmenkauf und die Instrumentalisierung staatlicher Leistungen. So finden sich Verstöße eher im Vorfeld als während der Wahlen selbst. Dies hat zwei mögliche Gründe. Zum einen besteht eine hohe Selbstsicherheit der Regierungspartei bezogen auf die Unterstützung durch die Bevölkerung, was zu der Vorstellung einer PRI-treuen und von Klientelstrukturen dominierten Region passt. Zum anderen mobilisieren Oppositionsparteien WahlbeobachterInnen, wodurch das Risiko, dass eine Wahlfälschung entdeckt wird, relativ hoch ist. Möglicherweise wer-

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den aufgrund der Stärke der Opposition in manchen Comunidades Proteste befürchtet, falls es auch nur Gerüchte über Wahlfälschungen geben sollte. Daher wird darauf geachtet, gar nicht erst diesen Verdacht aufkommen zu lassen. Trotzdem sehen die BürgerInnen Wahlbetrug als eine typische Handlungsoption der Parteien. Eine Einschätzung die durch Ereignisse in anderen Teilen Mexikos befördert wird. So berichteten einige InformantInnen von Unregelmäßigkeiten, die sie erlebt oder von denen sie gehört hatten. Beispielhaft dafür sind unvollständige Wählerlisten bei der Präsidentschaftswahl 2005, von der häufig angenommen wird, dass sie eigentlich der Oppositionskandidat Andrés Manuel Lopez Obrador gewonnen habe. Die Sichtweise auf staatliche Transfers sagt ebenfalls viel über die Konzeptualisierung von Politik aus. Ein solches Beispiel für die aktuelle Beziehung zum Zentralstaat findet sich in einem Dorf der Gemeinde Cardonal. Dort fand vor einigen Jahren der formale Festakt zur Implementierung des Progresa-Programms, heute Oportunidades, statt, durch das bedürftige Familien unterstützt werden sollen. Dazu besuchte der Präsident diesen Ort, der zu den abgelegeneren des Municipios gehört und aufgrund seiner angenommenen Marginalisierung ausgewählt wurde. Gut zehn Jahre später bezogen nur noch zwei Personen entsprechende Leistungen. Der Grund liegt wohl darin, dass viele Berechtigte die finanzielle Unterstützung, ca. 300 Peso (20 Euro) für zwei Monate, als im Verhältnis zu gering für die damit verbundenen Auflagen ansehen. Menschen, die Unterstützung benötigen bzw. wollen, greifen lieber auf die Remissen ihrer in den USA arbeitenden Verwandten zurück. Hier kommt eine Logik zum Ausdruck, die staatliche Unterstützung als zu reglementiert oder gar als Almosen ansieht, so dass die Migration in die USA bzw. die Teilhabe an entsprechenden finanziellen Transfers zu sinnvollen Alternativen werden. Die Ansicht, dass staatliche Programme mit zu vielen Auflagen verbunden sind, ist weit verbreitet. Zwar bewerben sich viele Menschen um die Aufnahme und teils wird dorfintern sogar darum gestritten, trotzdem wird den Fördermitteln ein relativ geringer Wert zugemessen. Durch die wachsende Bedeutung anderer Einkommensquellen auf familiärer Ebene, wie auch alternativer Finanzierungsmöglichkeiten für Projekte der Gemeinschaften, wächst langsam das Gefühl, dass der Staat nicht unbedingt gebraucht wird. Dies ist eine wichtige Grundlage des gewachsenen Selbstbewusstseins der DörflerInnen, das sich in einer veränderten Verhandlungsposition gegenüber dem Staat äußert. So hat sich in gewissem Maße die materielle Abhängigkeit vom Staat bzw. von lokalen Amtsträgern verringert. Diese Zugriffsmöglichkeiten auf andere Ressourcen verbinden sich mit der Frustration aufgrund gescheiterter Projekte, nicht erfüllter Wahlversprechen sowie herablassender Behandlung durch Lokalpolitiker und mit einem gewissen Misstrauen ihnen gegenüber. Durch diese negative Wahrnehmung von Staat und Politik ist ein Prozess in Gang gekommen in dem sich viele Dorfgemeinschaften auf ihre eigenen Stärken und Ressourcen besinnen,

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wozu besonders ihre Gemeinschaftsorientierung und Gewöhnung an Mobilität gehören. Allerdings zieht dies keine grundsätzliche Abkehr von den Repräsentanten des Staates und der Politik nach sich, sondern die Einhaltung entsprechender Spielregeln wird weiter inszeniert, um sich den Zugriff auf Fördermittel als eine Option nicht zu verbauen. So werden hier zwei Handlungsrationalitäten miteinander verbunden, eine die der praktizierten Autonomie und den Weapons of the Weak entspricht und eine die Offenheit und Interaktionsbereitschaft sowie vordergründige Akzeptanz politischer Spielregeln betont. Praktisch zeigt sich dies bspw. darin, dass für Projekte meist immer noch zuerst staatliche Hilfe beantragt bzw. erbeten wird, da dies der gewohnten Vorgehensweise entspricht und auf munizipaler Ebene als Teil der quasi-klientelistischen Aushandlung meist darauf eingegangen wird. Die Perspektive der BürgerInnen auf Politik höherer Ebenen Jenseits von alltäglichen politischen Interaktionen innerhalb der Dorfgemeinschaft, sowie von Interaktionen mit externen Akteuren, die vorwiegend in der Arena des Dorfes stattfinden, werden politische Verbindungen zu höheren Ebenen seltener und verlieren an Intensität. Auch wenn im Rahmen von Projekten und der Antragstellung über Comisiones, Delegaciones und Líderes auch die mittlere Ebene noch im Alltag der Dorfgemeinschaften präsent ist, werden darüber hinausgehende Interaktionen sporadischer. Nichtsdestotrotz bestehen begrenzte Verbindungen zur nationalen und globalen Ebene, die mittlerweile allerdings gegenüber transnational vermittelten Verbindungen an Bedeutung verlieren, über die u.a. auch globale Einflüsse transportiert werden. Diese im Rahmen der Migrationsprozesse entstandenen Verknüpfungen liegen näher an der lokalen Realität und erfordern daher weniger Übersetzungsleistungen bei materiellen als auch immateriellen Transfers. Bei den DörflerInnen führt das zu einem verstärkten Gefühl der Abgehobenheit nationaler Politik. Auch wenn Lokalpolitik im Alltag präsent ist, wird sie meist negativ wahrgenommen und zudem kaum auf nationale Politik bezogen. So wirken politische Prozesse jenseits der munizipalen Ebene wie etwas Entferntes, dessen Logik kaum verstanden wird bzw. höchstens unter Rückgriff auf Vorstellungen von klientelistischer und korrupter Politik interpretiert wird. Dieser Blick von der lokalen auf höhere Ebenen ist nicht ungewöhnlich, in den hier analysierten Fällen besteht jedoch eine besonders starke Abgrenzung zwischen eigenen alltäglich-lebensweltlichen Erfahrungen und nationalen politischen Entscheidungen. Obwohl die Lebenswelten lokaler Akteure teils sehr direkt von ihren Auswirkungen betroffen werden, ist Politik höherer Ebenen selten Teil ihrer Relevanzstrukturen. Demgegenüber werden politischen Aktivitäten im lokalen und munizipalen Bereich mittlerweile relativ gute Einflussmöglichkeiten zugeschrieben, was eben auch zum Rückgang gewaltsamer Aktionen geführt hat. Die unterschiedlichen Modi der Beteiligung an Aushandlungsprozessen sowie die Fälle von politischem Aktivismus zeigen, dass viele Akteure trotz gegenteiliger Aussagen davon ausgehen, zumindest Lokalpolitik beeinflussen zu können. Politik jenseits davon

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wird jedoch als zu abstrakt und kaum beeinflussbar begriffen. Stattdessen wird von verhärteten Strukturen und Machtspielen ausgegangen, auf die „von unten“ kein Einfluss genommen werden kann. Wenn diese Imaginarien mit den existierenden Beziehungen kontrastiert werden, zeigt sich, dass sie zwar auf stereotypen Vorstellungen beruhen, die u.a. mit früheren negativen Erfahrungen zusammenhängen, aber real tatsächlich wenig Verbindungen bestehen. Die meisten sind nämlich weitgehend formalisiert bzw. institutionalisiert, weshalb Verbindungs- und damit Einflussmöglichkeiten an bestimmte Personen und Institutionen delegiert werden und daher nicht mehr im Alltag der DörflerInnen präsent sind. Darunter stechen Aktivitäten der Líderes, von Parteien und deren Anhängern, der Weg über Organisationen, sowie etwas weniger formalisiert die direkte Ansprache staatlicher Stellen und die oft diffuse indirekte Interaktion über soziale Bewegungen hervor. Problematisch wird dies, wenn der Eindruck entsteht, dass die Interaktionsweise von staatlichen oder auch eigenen Vertretern korrupt oder klientelistisch aufgeladen ist. Dann werden sie zwar als Vertreter akzeptiert, weil Alternativen fehlen, ihnen aber kein Vertrauen entgegengebracht, was eine große Schwierigkeit für Ansätze von guter Regierungsführung oder die Durchsetzung der Vorstellung von einem Rechtsanspruch auf staatliche Leistungen ist. Diese Strukturierung der Beziehung zu höheren Ebenen des Staates und von Politik entspricht den im politischen System üblichen Zuständigkeiten und Vorgehensweisen und werden damit als „normal“ empfunden. Welche Implikationen ein Bruch dieser Regeln und Erwartungen hat, zeigt der Fall der ProtestantInnen in El Thonxi, die sich mit einer Petition direkt an eine bundesstaatliche Instanz wandten (vgl. Kap. 7.4). Denn es geht einerseits darum die Konvention zu wahren, dass zunächst nachrangige Einheiten versuchen müssen, Probleme zu lösen, bevor sie sich als Kollektiv an die nächsthöhere Instanz wenden. Andererseits fürchten die Mittler um ihre Machtposition. So wird letztlich die weitgehende Selbstständigkeit und relative Autonomie der Dorfgemeinschaften gewahrt, denn sowohl nach innen als nach außen wird gezeigt, dass die Gemeinschaft als (politische) Einheit gebraucht wird. Interaktion zwischen Akteuren der lokalen und anderen Ebenen ist also möglich, wird aber weitgehend auf klassische Verbindungen kanalisiert. Die sich daraus ergebende Konzentration ermöglicht u.a. eine stärkere Kontrolle. Dies entspricht der im politischen System etablierten Vorstellung der Position und Funktion der Dörfer und betont die Stellung der Líderes und gewählter Autoritäten, die eine unvorteilhafte Außenwirkung verhindern wollen. Wie ich gezeigt habe, reagieren DörflerInnen oft indem sie sich entsprechenden Interaktionen verweigern, was auch mit der Überzeugung zusammenhängt, dass der Staat zwar nichts für die Dörfer tue, letztlich aber auch nicht unbedingt gebraucht werde. Dazu trägt ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber externen Akteuren im Allgemeinen und Politikern sowie Vertretern des Staates im Besonderen bei. In diesem Sinne sind viele der Verbindungen zu anderen Ebenen,

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abhängig von den Mittlern, eher dysfunktional und blockieren weitgehend ein breiteres Doing Democracy von unten. Bemerkenswerterweise haben aber konkrete Institutionen der nationalen Ebene teilweise einen sehr guten Ruf in der Region. Da sie jenseits der lokalen und regionalen Ebene angesiedelt sind, werden sie oft als Gegenpol zu munizipalen und bundesstaatlichen Institutionen verstanden, von denen angenommen wird, dass sie parteipolitisch kontrolliert und für persönliche machtpolitische Interessen missbraucht werden. Tatsächlich liegen Entwicklungsorganisationen wie die CDI oder früher das PIVM außerhalb der Weisungsbefugnisse und damit jenseits des Einflusses lokaler und regionaler Politik. Dies verleiht ihnen einerseits eine besondere Stellung, die sie unverdächtig erscheinen lässt, macht sie aber andererseits zum Ziel politischer Angriffe und Begehrlichkeiten. Im Fall des PIVM führte dies schließlich zur Zerschlagung, da die Regierung des Bundesstaates keinen derart mächtigen Akteur außerhalb ihrer Kontrolle dulden wollte (vgl. Kap. 1.3.2). Situation nach dem Machtwechsel in den Municipios Im Frühjahr 2008 ergaben sich bei einem Besuch im Feld wie selbstverständlich hochinteressante Gespräche mit früheren InformantInnen über aktuelle Ereignisse in den Dorfgemeinschaften und der Lokalpolitik. Dadurch konnte ich wertvolle Einblicke in den weiteren Wandel des politischen Felds im Valle del Mezquital gewinnen. Insbesondere wurde es möglich aktuelle Kommentare zur Politik mit früheren Einschätzungen zu vergleichen. Dieser Aufenthalt fiel in eine Phase vor den Wahlen zum Parlament des Bundesstaates, so dass la Política erneut ein wichtiges und sehr präsentes Thema war. Frühere politische Äußerungen und Aktivitäten hatten sich insbesondere auf die damals anstehenden Kommunalwahlen bezogen, die später zum Machtwechsel führten. Durch meine Einbettung in das Feld war es mir möglich, die damalige Stimmung mit der aktuellen nach zweijähriger Erfahrung mit der neuen Lokalregierung zu vergleichen. An dieser Schnittstelle zwischen neuer Gemeindeverwaltung und den BürgerInnen zeigten sich verschiedene Probleme, bei Versuchen eine veränderte Politik umzusetzen. Da der Wahlkampf um die Parlamentssitze des Bundesstaates in vollem Gange war, wurde immer wieder über die Leistungen der neuen Gemeindeverwaltungen gesprochen. Diese Stimmabgabe war die erste Wahl nach den Kommunalwahlen. Daher war sie besonders bedeutend und der Wahlkampf wurde teilweise mit großem Engagement geführt, wobei die Perredistas allerdings nicht so in den Vordergrund traten wie bei der vorherigen Wahl. Möglicherweise fühlten sie sich nach dem letzten Wahlsieg zu sicher. Zudem waren sie durch interne Streitigkeiten wenig motiviert und für Cardonal kam hinzu, dass die Kandidaten aus der Gegend von Ixmiquilpan stammten. Cardonal selbst blieb damit eher peripher und die lokalen Aktivisten waren möglicherweise der Meinung, dass die Wahl in anderen Teilen des Distrikts gewonnen werden müsse. Dies entspricht der Logik, dass ein Kandidat auch aufgrund seiner

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eigenen Unterstützungsbasis aufgestellt wird und diese motivieren muss. Dagegen waren die Priistas hochmotiviert „alles zurückzugewinnen“ und die erlittene „Schmach“ auszumerzen. Dabei setzten sie vor allem auf ihre klassischen Strategien: Dorothea war eine der Kontaktpersonen für diesen Wahlkampf und wurde als die Person angesehen, die in El Thonxi aber auch darüber hinaus WählerInnen überzeugen sollte (jalar gente). An dem Tag vor den Wahlen wurden Benzingutscheine verteilt, um den SympathisantInnen zu ermöglichen zu den Wahllokalen zu fahren. Sie mussten aus Cardonal beim Parteivorsitzenden abgeholt werden und Dorothea war einer für El Thonxi und einer für El Dinzhi versprochen worden. Benedicto hatte sich nämlich angeboten, dort Leute anzusprechen und sie am Wahltag nach Salvador zum Wahllokal zu bringen. Benedicto bekam Gutscheine, aber es wurden insgesamt weniger verteilt als erwartet. Daher wurde beklagt, der Parteivorsitzende Don Teo sei zu geizig. Seine Zurückhaltung bei der Unterstützung sei unverständlich, da dies ihren Chancen auf einen Sieg schade. Aus Dorotheas und Benignos Perspektive ging es um sichere Stimmen, die durch diese Gutscheine gewonnen werden konnten. Don Teo ist als Besitzer eines Geschäfts für Baumaterialien in diese Position gelangt. Siege nützen ihm persönlich, weil ihm dann Aufträge für kommunale Projekte fast sicher sind. Am Wahltag sind Dorfbewohner zusammen wählen gefahren. Dies erweckt nach außen den Eindruck, dass die Menschen organisiert wurden und alle für eine bestimmte Partei stimmten. [neuer Wahlkampf]

Oft war zu hören, dass die PRD nicht gewinnen könne, weil sie speziell in den Dörfern nichts bewirkt, keine Projekte verwirklicht habe. Dies war nicht korrekt, spiegelte aber die einschätzung vieler BürgerInnen wieder und zeigt, dass die Vergabe von Projekten in die Dorfgemeinschaften als wichtigste Aufgabe von (Lokal-) Politik gesehen wird. Dabei sollte es sich um sichtbare Projekte wie neue Bauten und Infrastrukturprojekte handeln. Amtsführung und Erfolg einer Regierung werden an den zugeteilten Projekten bemessen und als Zeichen einer gerechten Behandlung aller Dorfgemeinschaften gilt die Realisierung mindestens eines Projektes pro Dorf und Legislaturperiode. Einerseits hängt dieser Fokus auf sichtbare Projekte mit dem lokalen Konzept von Entwicklung zusammen und dem Wunsch, den Fortschritt der Gemeinschaft sichtbar werden zu lassen, ein Phänomen, wie es auch aus anderen Ländern bekannt ist (vgl. Elwert-Kretschmer/Elwert 1991). Andererseits ist diese Bewertung von lokaler Politik eng mit Vorstellungen über Politiker verbunden. Hier herrscht die Sichtweise vor, dass man an Vorzügen der Politik vorwiegend in Form materieller Leistungen partizipieren kann. Andere Möglichkeiten werden kaum gesehen. Daher gilt es seinen Anteil zu verteidigen. Wird die Amtsführung der Lokalregierung als Verstoß gegen diese Regeln interpretiert, verliert sie drastisch an Ansehen und implizit wird ihr sogar die demokratische Legitimation abgesprochen. Dies zeigt, dass sich Vorstellungen demokratischer Verfahrensweisen nicht einfach nur auf die Wahlen und Aktivitäten im Wahlkampf beziehen. Die BürgerInnen bewerten

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auch die spätere Amtsführung auf Grundlage ihres Konzeptes von demokratischer Regierungsführung, die als gerecht und fair empfunden werden muss. Ein Fall aus El Thonxi schien beispielhaft für Prozesse zu sein, die in vielen Dörfern abliefen: Sehr viele Kommentare zeigten die Unzufriedenheit mit der Presidencia und den regierenden Politikern, allen voran dem Bürgermeister und seinem Generalsekretär. Der Tenor war, dass sie auch nicht besser seien als ihre Vorgänger aus der PRI. Viele BürgerInnen erlebten den Bürgermeister als überheblich und beklagten, dass ihre Petitionen abgelehnt oder sie gar nicht erst empfangen wurden. So entstand der Vorwurf, der neue Bürgermeister kümmere sich nicht um Sorgen und Nöte der BürgerInnen, während es den PRI-Regierungen durch ihre paternalistische Vorgehensweise meist gelungen war, ein gegenteiliges Bild zu vermitteln. Jetzt häuften sich zudem Beschwerden über die Unfähigkeit der Verwaltung. Es wurde beklagt, dass viele der Mitarbeiter zu jung seien und nicht über die nötige Erfahrung verfügten. Ein Beispiel dafür war ein in El Thonxi neu errichtetes Basketballfeld, das mehrmals abgerissen und neu gebaut werden musste, da sich Teile des Bodens abgesenkt hatten. Vermutlich war der Boden nicht ausreichend verfestigt worden, was ein Fehler des zuständigen Ingenieurs des Municipios war. Die Tatsache, dass der Delegado, der diese Arbeiten als Projekt der Dorfgemeinschaft leitete, PRD-Anhänger war, trug dazu bei, dass der Eindruck der Unfähigkeit auf die neugewählten Politiker und ihre Partei bezogen wurde. Ihnen wurde als Neulinge jegliche Kompetenz abgesprochen, eine Stimmung die von Priistas eifrig gefördert wurde. [nach Machtwechsel]

Die Analyse der Situation fördert zwei wichtige Gründe für diese Schwierigkeiten zutage, denen unter der Hand alle Seiten zustimmten. Erstens ist es in Mexiko auf lokaler Ebene, und oft darüber hinaus, üblich mit dem Wechsel der Regierungspartei das gesamte Verwaltungspersonal auszutauschen. Häufig geschieht dies sogar nach jeder dreijährigen Amtszeit, selbst wenn nur der Bürgermeister wechselt und die Partei an der Macht bleibt. Feste Stellen für qualifizierte Mitarbeiter existieren selten, was zu einem regelmäßigen Verlust fachlicher Qualifikation führt. Jede Partei muss daher über einen eigenen Stamm an möglichst qualifizierten potentiellen MitarbeiterInnen verfügen, was aber gerade für die Opposition schwierig ist. Die im Municipio politisch aktiven InformantInnen vertraten die Einschätzung, dass die Verwaltung selbst im besten Fall ein Jahr benötigt, um sich einzuarbeiten, das folgende normal gearbeitet und das letzte Jahr schon vom nächsten Wahlkampf bestimmt wird. Dadurch wird oft auch die Beantragung von Projekten bei der Bundes- und Landesregierung beeinträchtigt, die den wichtigsten Teil des Transfers von Fördermitteln an die Gemeinden darstellt. Zweitens hatte die Gemeindeverwaltung das Rathaus kurz vor der Machtübergabe vollständig leergeräumt und sogar das gesamte Mobiliar und sämtliche Unterlagen mitgenommen, was offenbar kein ungewöhnlicher Vorgang ist. Die neue Verwaltung konnte erst mit größerer Verzögerung ihre Arbeit aufnehmen.

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Besonders betroffen waren davon eben die Projektmittel, da nicht mehr nachzuvollziehen war, welche beantragt oder sogar bewilligt worden waren. Dies verschärfte das grundsätzliche Problem, dass kaum jemand Erfahrung mit der Beantragung und Verwaltung von Mitteln hatte. Die Kombination dieser Probleme war die Grundlage dafür, dass die neue Gemeindeverwaltung als unfähig angesehen wurde. Es wurde moniert, dass den Comunidades angeblich weniger Gelder und Projekte angeboten wurden als unter früheren Bürgermeistern. Dieser Eindruck gründete vor allem in folgenden Umständen. Zum einen gingen aufgrund der Probleme, die der Regierungswechsel nach sich zog, die Projektmittel zurück und viele Projekte konnten erst zur Mitte der Amtszeit begonnen werden. Dies wurde wiederum als reine Wahltaktik interpretiert, da es viele BürgerInnen als Beleg dafür ansahen, dass sehr wohl Mittel zu Verfügung standen, diese aber aus taktischen Gründen erst im Wahlkampf freigegeben worden seien. Zum anderen erklärte der Sekretär des Bürgermeisters mir gegenüber, dass die Verteilung der wenigen verfügbaren Fördermittel in der Gemeinde verändert und aus seiner Sicht gerechter gestaltet worden sei [Don Rupestre]. Früher hätten größere Comunidades mehr Unterstützung bekommen als kleinere, was jetzt ausgeglichener gestaltet werden sollte. Dabei erhielten bisher bevorzugt behandelte Dörfer möglicherweise weniger Mittel, da diese auf zuvor vernachlässigte Dorfgemeinschaften verteilt wurden. Dies geschah vielleicht auch aus der Erwägung neue WählerInnen zu gewinnen, trotzdem entsprach es im Kern dem zentralen politischen Ziel alle Dorfgemeinschaften (etwa 40) gleichberechtigt einzubeziehen. Dieses Vorgehen war also legitim und ich interpretiere es als Ausdruck einer demokratischen Perspektive der neuen Lokalregierung. Viele BürgerInnen, die ein Defizit an Projekten in der eigenen Dorfgemeinschaft sahen, schlossen jedoch daraus, dass andere Dörfer bspw. aus parteipolitischen Gründen bevorzugt würden. Es ist schwer einzuschätzen ob Dörfer, die im Ruf standen mit der PRD zu sympathisieren, bevorzugt behandelt wurden. Jedenfalls wurden meines Erachtens verglichen mit vorherigen Legislaturperioden relativ viele Projekte umgesetzt, was ich vor dem Hintergrund geringerer Mittelzuweisungen an die Gemeinde als Zeichen dafür sehe, dass weniger Geld in der Verwaltung „verschwand“. Trotzdem führte der Eindruck des Rückgangs an Projekten dazu, dass der Gemeindeverwaltung und vor allem dem Bürgermeister vorgeworfen wurde, sich persönlich zu bereichern. Dies ist zwar ein üblicher Vorwurf, da ein solches Verhalten zuvor Gang und Gäbe gewesen war, allerdings war er jetzt besonders problematisch, weil die PRD mit dem Anspruch angetreten war, anders zu arbeiten und im Wahlkampf gerade die Korruption der PRI-Regierung angeprangert hatte (vgl. Kap. 5.2.1). So herrschte sogar in El Thonxi Unzufriedenheit vor, obwohl das Dorf als PRD freundlich galt und nicht weniger Projekte als zuvor erhalten hatte. Allerdings wurde auch keine Verbesserung gesehen, da es keinen Zuwachs der Mittelzuweisungen gab und gleichzeitig die genannten Probleme mit der Umsetzung von Projekten

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bestanden. Die Wahrnehmung des Bürgermeisters als arrogant und unfreundlich tat ein Übriges. An diesem Interface zeigt sich, dass nicht nur viele Politiker Schwierigkeiten haben sich auf eine andere Art von Politik einzustellen, sondern auch Erwartungen der BürgerInnen von hergebrachten Handlungsrationalitäten beeinflusst werden, was einen Wandel erschwert. Entsprechende Interpretationsmuster führen dazu, dass vermeintliche oder reale Probleme mit negativen Vorstellungen von Politik, insbesondere Amtsmissbrauch und Korruption in Verbindung gebracht werden. Davon waren auch die neuen Lokalregierungen der früheren Opposition betroffen, was die genannten praktischen Schwierigkeiten zu einem großen Problem werden ließ. Denn gerade diese PolitikerInnen, die mit dem Anspruch angetreten waren die Gemeindeverwaltungen zu demokratisieren, wurden schließlich als verschlossen, korrupt und daher verlogen angesehen.

6.3 E NTWICKLUNG ALS BEDEUTENDE ARENA POLITISCHER I NTERAKTIONEN In dem Bereich der grob unter Entwicklung zusammengefasst werden kann findet ein bedeutender Teil der Aushandlungsprozesse mit Akteuren, Gruppen und Institutionen von außerhalb der Dorfgemeinschaften statt. Dabei handelt es sich um Entwicklungsinterventionen von staatlichen oder Nichtregierungsorganisationen. Aber es geht auch um eigene Projekte und Vorstellungen davon, wie die Comunidad aussehen sollte. Während sich der politische Kontakt mit der Außenwelt für viele DorfbewohnerInnen auf Wahlkampagnen beschränkt, finden solche Interaktionen in diesem Bereich kontinuierlich statt. Diese sind paradigmatisch für das Verhältnis zwischen Politkern bzw. Repräsentanten des Staates und den Comunidades. Entwicklung ist darüber hinaus ein zentrales Thema in politischen Diskursen, sowohl der Líderes als auch der Berufspolitiker. Zumal es sich um ein Feld handelt, das allen Akteuren wichtig ist, denn in den Dorfgemeinschaften sprechen DörflerInnen, MigrantInnen, HochschulabsolventInnen etc. häufig vom zu erreichenden Fortschritt der Comunidad. Somit haben die Entwicklungs-Aushandlungen politische Implikationen. Gleichzeitig existieren aber divergierende Konzeptionen von Entwicklung bzw. Fortschritt und zudem werden viele Programme und Projekte nicht angenommen, scheitern oder werden eigenen Vorstellungen entsprechend umgelenkt (Bierschenk/de Sardan 2003; de Vries 1997).

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6.3.1 Entwicklungskonzepte und (Lokal-)Politik Die wissenssoziologische Analyse der Interfaces zeigt, dass ganz verschiedene, oft widersprüchliche Vorstellungen von Entwicklung aufeinander treffen. Denn diese Aushandlung von Entwicklungskonzepten, insbesondere dem was Entwicklung ist und wie sie erreicht werden kann, hat eine politische Dimension. Erstens zeigen sich in der Interaktion mit staatlichen Institutionen und deren Entwicklungsagenten verschiedene Perspektiven lokaler Akteure auf erhaltene Fördermittel und die entsprechende Interaktion selbst. Zweitens finden sich auch bei der Aushandlung von Entwicklungsvisionen im politischen Raum Prozesse demokratischer Teilhabe. Und drittens beziehen sich lokal-politische Diskurse oft auf Entwicklung, meist um so die Kohäsion der Dorfgemeinschaft und eine Einbindung in die jeweilige parteipolitische Strömung zu erreichen. Somit ist Entwicklung sowohl ein wichtiges Thema von Politik als auch ein Feld in dem politische Aushandlungen stattfinden. Trotzdem wird so gut wie nie von Entwicklung gesprochen, zumindest nicht unter diesem Terminus. Stattdessen werden Formulierungen genutzt, die sich darum drehen, dass man etwas für seine Dorfgemeinschaft tun, den Ort voranbringen möchte (llevar adelante). Das ist besonders bei zwei Gruppen der Fall. Zum einen bei MigrantInnen, die ihren Einsatz dafür betonen, dass es den Menschen zu Hause besser geht und die Gemeinschaft vorankommt. Die andere Gruppe sind Líderes bzw. besonders aktive DörflerInnen. Beide beziehen sich auf einen Diskurs, der die Gemeinschaft in der Vorstellung eint, dass sie zusammenarbeiten muss, um etwas zu erreichen. Dabei ist von Bedeutung, dass die Gruppe der Aktiven und der Líderes zu einem großen Teil aus LehrerInnen besteht, denn gerade sie sehen es als essentiell an, das Dorf voranzubringen, also zu entwickeln.13 Sie betonen, dass dazu alle zusammenarbeiten, die dörflichen Institutionen funktionieren sowie die Autoritäten respektiert werden müssen. Besonders deutlich wird dies in ihren öffentlichen Klagen darüber, dass dies eben nicht der Fall sei und das Dorf daher kaum Fortschritte mache. In privaten Gesprächen behaupten sie, die Gemeinschaft würde gar nicht vorankommen (está estancado) oder sogar Rückschritte machen, was sie mit mangelnder Einigkeit, internen Konflikten und fehlender Gemeinschaftsdisziplin begründen. Dabei wird romantisierend behauptet, dass die Situation zu Zeiten „unserer Väter“ besser gewesen sei, weil damals alle zum Wohle des Dorfes zusammengearbeitet hätten.14 So erheben die Líderes in El Thonxi den Vorwurf, dass viele DörflerInnen die Autoridades, den Bürgermeister und die Líderes selbst kritisierten, statt sich unter ihrer Führung produktiv für die Gemeinschaft einzusetzen. Diese wird vor dem Hintergrund der politischen Logik des demonstrativen quasi-klientlistischen Tauschs als 13 Dabei orientieren sie sich häufig an modernistischen Vorstellungen von Entwicklung. 14 Paradoxerweise werden aber gerade die ältesten Bürger aus den dörflichen Institutionen gedrängt und ihre Vorstellungen und Kritik als nicht mehr zeitgemäß abgetan.

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sehr schädliche konfrontative Haltung angesehen und darauf hingewiesen, dass durch ein schlechtes Bild der Comunidad Zuweisungen wegfallen oder zumindest die Handlungsspielräume der Líderes deutlich eingeschränkt würden. Um die Warnungen zu unterstreichen werden Kommentare aus der Gemeindeverwaltung und von führenden Politikern angeführt, die zeigen sollen, dass Líderes einen schweren Stand in Verhandlungen auf Gemeindeebene haben und somit das Dorf und seine Interessen nicht vertreten können, wenn der Eindruck entsteht, dass die Comunidad nicht hinter ihnen steht. Denn dann würden sie letztlich nicht mehr als Líderes angesehen. Jedenfalls ist das Ideal der Einheit der Dorfgemeinschaft aus Perspektive vieler Akteure grundlegend für Entwicklung und Politik. Denn wie bereits gezeigt wird argumentiert, dass Einheit und Zusammenarbeit nicht nur für eine erfolgreiche Arbeit der Gemeinschaft und damit die Entwicklung des Ortes essentiell sind, sondern das Dorf nur dann in Aushandlungsprozessen auf höheren Ebenen erfolgreich sein kann, wenn es sich als geschlossene Einheit präsentiert und für Interessen und Forderungen einstehen kann. Gleichzeitig ist die Dorfgemeinschaft ein bedeutender Ansatzpunkt für Entwicklung und Politik. Viele formale Entwicklungsprogramme und -projekte beziehen sich auf diese Ebene, obwohl sie wie bereits erläutert keine offizielle Verwaltungseinheit sind, oder sind auf DörflerInnen ausgerichtet. Einerseits sollen individuelle Personen direkt unterstützt werden, z.B. durch Stipendien, Lebensmittelpakete und Schulküchen. Andererseits beziehen sich Programme auf die Dorfgemeinschaft oder bestimmte Teile. Dazu gehören Infrastrukturprojekte, die von den Dörfern umgesetzt werden, und einkommensschaffende Kleinprojekte. Auffällig ist, dass sich ein großer Teil der Projekte auf Migration und deren Auswirkungen bezieht.15 So gibt es zum einen Programme wie 3x1, in denen versucht wird, MigrantInnen zur Co-Finanzierung von Entwicklungsprojekten, meist im Infrastrukturbereich, zu ermutigen. Zum anderen existieren Projekte, durch die Folgen der oft negativ gesehenen Migration abgefedert werden sollen. Beispielhaft dafür sind sogenannte Frauenprojekte, oft Maismühlen oder Schafzuchtprojekte, die Einkommensmöglichkeiten schaffen sollen, jedoch sehr häufig scheitern, so dass sich für die beteiligten Frauen selten etwas positiv verändert. Im Gegenteil führen sie oft zu einer stärkeren Belastung der Frauen, weil sie nicht ausreichend an ihre soziale Realität angepasst sind. Die bereits durch die Migrationsprozesse verschärfte geschlechtsspezifische Arbeitsbelastung, wird, wie in vielen anderen Fällen weltweit, nicht beachtet (vgl. Lachenmann 2001; 1994). Grundlage dafür ist ein auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und gerade in der Comunidad

15 Vergleiche zur Diskussion um den Zusammenhang von Migration und Entwicklung Faist (2008), Faist/Fauser/Kivisto (2011) und Glick-Schiller/Faist (2013).

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und der Entwicklungspolitik bestehendes System des Nichtwissens über Frauenarbeit. So fallen viele der Projekte assistenzialistischer Färbung, wie bspw. Schulküchen, ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich der Frauen, oder ihnen werden für die Teilnahme an Programmen wie Oportunidades Bedingungen gestellt, die einen intensiven Zeiteinsatz voraussetzen. Sie müssen an Versammlungen und Schulungen teilnehmen, sich und ihre Kinder regelmäßig ärztlich untersuchen lassen und Gemeinschaftsarbeit leisten, die den Faenas der Comunidades ähnelt. Im Einzelnen kann dies bei angemessener Umsetzung oft sinnvoll sein. Problematisch ist jedoch dass diese Bürden zu der übrigen Arbeitsbelastung durch Tätigkeiten im Haushalt, der Landwirtschaft, Lohnarbeit und andere ökonomische Tätigkeiten, sowie die Aufgaben der sozial-reproduktiven Erhaltung der Gemeinschaft und schließlich als Vertreterinnen männlicher Angehöriger in der Dorforganisation hinzukommen. Letztlich ist diese Last ein ernst zu nehmendes Hindernis für Möglichkeiten einer langsamen Emanzipation. Es fehlen oft schlicht Zeit und Energie, Räume die in der Gemeinschaft erkämpft werden könnten zu nutzen. Aber nicht nur diese Projekte bergen Probleme, sondern generell führt die gängige Projektlogik häufig zu Schwierigkeiten. Selten sind Programmlinien zur Entwicklungsförderung, die nach nationalen Vorgaben gestaltet wurden, auf spezifische lokale Bedingungen und Bedürfnisse zugeschnitten. Diese „Projekte vom Reißbrett“ führen landesweit zu ähnlichen Problemen, wie Frauenprojekte, auf Migranten ausgerichtete Programme oder Sozialprogramme wie Oportunidades zeigen. Zwar können sie teilweise in der Aneignung durch lokale Akteure sinnvoll angepasst werden, aber jenseits von Standardprojekten ist es für Dorfgemeinschaften oft schwierig Förderung für spezifische Anliegen zu erhalten (s.u.). Dies trifft insbesondere dann zu, wenn sie den Rahmen der Leistungsfähigkeit der Gemeinschaft übersteigen, so dass Probleme auch nicht mehr durch die dörfliche Autonomie aufgefangen werden können. 6.3.2 Interaktionen in der Entwicklungsarena Ein Fall aus Barranca Empinada verdeutlicht diese Situation. Obwohl diese Gemeinschaft die Strategie vieler Dörfer, Projekte mit Hilfe externer materieller Förderung selbst zu realisieren, relativ erfolgreich umsetzt, da es die eigene Autonomie betont, wurden gerade dort die Grenzen dieses Vorgehens deutlich. Ein großes Problem, das viele Dörfer in diesem Teil des Valle del Mezquital betrifft, hängt mit der künstlichen Bewässerung dieser sehr trockenen Region zusammen. Zwar wurden verschiedene Quellen zur Trinkwasserversorgung erschlossen, aber Landwirtschaft konnte früher wegen der geringen Niederschlagswahrscheinlichkeit nur in begrenztem Maße betrieben werden.

254 | D OING D EMOCRACY IN INDIGENEN D ORFGEMEINSCHAFTEN Anfang der 1980er Jahre wurde daher in einem Großprojekt das Netz der künstlichen Bewässerung in diese Region ausgeweitet und auch in Barranca Empinada begannen viele Menschen, auf zusätzlichen Flächen Gemüse anzubauen. Ein grundlegendes Problem dieses staatlichen Entwicklungsprojektes ist, dass die Bewässerung mit Abwässern aus Mexiko-Stadt, den so genannten Aguas Negras (schwarzen Wassern) vorgenommen wird. Dies führt zu einer starken Belastung der Böden mit Schadstoffen, Krankheitserregern und Salzen, was für die Menschen die vom Wasser profitieren zunächst aber relativ unwichtig war: „Besser Aguas Negras als gar kein Wasser.“ Seit einigen Jahren zeigt sich jedoch eine weitere negative Folge. Aufgrund der topographischen Lage direkt am Fuß einer ca. 100 Meter hohen Meseta mit sandigem Untergrund sickert ein großer Teil des Wassers von höher gelegenen Feldern in das Tal und sammelt sich dort. Dadurch versumpfen in Barranca Empinada und mehreren Nachbarorten immer mehr Felder und Häuser werden unbewohnbar. Die landwirtschaftliche Produktion wurde daher zunächst auf Mais und später Luzernen (als Viehfutter) umgestellt, aber mittlerweile sind viele Felder gänzlich unfruchtbar geworden. [Besuch Landwirtschaftsministerium]

Dieses Problem können die Comunidades nicht alleine lösen und sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Dies gestaltet sich aber schwierig, da eine Lösung mit größerem finanziellem Aufwand verbunden ist und in keine der gängigen Programmlinien passt. Schließlich wurde vorgeschlagen die Folgen des Bewässerungsprojektes zu korrigieren, indem das Gebiet durch Drainagen entwässert wird. Zur Umsetzung dieses kostenintensiven Projekts sind die Dörfer auf den guten Willen des zuständigen Ministers oder des Gouverneurs angewiesen. Diese entscheiden in letzter Instanz über die Mittelzuteilungen, möchten aber nicht eine solche Summe für ein einzelnes Vorhaben ausgeben. Denn dadurch würde die Zahl geförderter Projekte zurückgehen, was nicht zuletzt auch parteipolitisch-klientelistischen Erwägungen der Instrumentalisierung von Projekten zuwiderlaufen dürfte. Ein bedeutender Teil der längerfristigen politischen Aktivitäten der betroffenen Dorfgemeinschaften bezieht sich daher auf dieses Projekt. Bei dem Termin einer gemeinsamen Comisión dieser Dörfer im Agrarministerium des Bundestaates konnte ich die Interaktion mit der zuständigen Behörde beobachten. Da ihr Problem Verhandlungen mit dem Ministerium und ggf. anderen Akteuren nötig machte, wurde, wie in den Dorfgemeinschaften üblich, eine Delegation gebildet, die sich darum kümmern sollte. Diese wurde aber aus Vertretern der diversen betroffenen Orte gebildet, was eher ungewöhnlich ist. Obwohl die Gemeinschaften unterschiedliche politische Orientierungen hatten, ging dies aber relativ problemlos von statten. Die Mitglieder der Delegation, mehrere Männer und Frauen vorwiegend mittleren Alters, trafen sich früh am Morgen. Viele waren als Líderes oder für ihr politisches Engagement bekannt. Die Gruppe fuhr mit Autos in die Hauptstadt des Bundesstaates, weil sie sich nach unbefriedigenden Verhandlungsergebnissen mit dessen regionaler Vertretung ein günstigeres Resultat durch einen direkten Besuch versprach. Die Comisión wurde im Ministerium empfangen, es

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war jedoch zunächst unklar, mit wem sie sprechen würde. Anscheinend schien der aus Sicht der Delegation abgemachte Termin beim Ministerium nicht registriert worden zu sein. Wir wurden in einen Empfangssaal geleitet, wo das Anliegen zunächst noch einmal geschildert wurde. Dies dauerte etwa eine Viertelstunde und wir warteten noch einmal so lange, bis wir zu einem Beamten geführt wurden, der in der Ministeriumshierarchie offenbar eine mittlere Position einnahm. Allerdings mussten wir auch hier zunächst noch warten. Es dauerte also insgesamt recht lange, bis die Gruppe ihr Anliegen schließlich vortragen konnte. Dennoch erschien mir die Wartezeit im Vergleich zu anderen Behördengängen akzeptabel und die Gruppe empfand sie offensichtlich sogar als normal, da dazu kaum Kommentare gemacht wurden. Meines Erachtens ist dieses „Wartenlassen“ bei staatlichen Stellen jedoch Ausdruck eines mangelnden Respekts den BürgerInnen gegenüber. Das Gespräch selbst war dann trotz seiner Kürze recht ausführlich. Die Delegation konnte ihre Sichtweise vortragen und der Beamte stellte verschiedene Rückfragen, so dass sich ein Austausch entwickelte. An einer Stelle holte er Informationen per Telefon ein und versuchte auch den Regionalleiter der Behörde in Ixmiquilpan zu erreichen, den er für zuständig erklärte. Dann gab er der Comisión einen Einblick in den Planungsstand, der sich aber weiterhin im Anfangsstadium befand und verwies sie an die Regionalvertretung zurück. Diese sei der geeignete Anlaufpunkt, um Informationen zu erhalten. Er versuchte den DörflerInnen mehrmals zu versichern, dass die Drainagen eine Priorität seien und bald mit einem Baubeginn zu rechnen sei. Vordergründig vermittelte der Funktionär zwar den Eindruck die BürgerInnen ernstzunehmen, schien sie aber beruhigen und abwimmeln zu wollen. Er versprach, dass man sich um ihre Sorgen kümmern werde, aber ich hatte das Gefühl, dass wenig geschehen würde. Denn zugleich wurde in der Interaktion deutlich, dass er die BürgerInnen als unwissend ansah und entsprechend behandelte. Aus seiner Perspektive waren sie nicht in der Lage, die Ausmaße des Projektes und die Notwendigkeit der ministerialen Vorgehensweise zu erfassen. Daher konnte es für ihn offensichtlich nur darum gehen, sie zu vertrösten, da er von der eigenen Art das Problem anzugehen überzeugt war. Diese Art der Interaktion waren die DörflerInnen aber augenscheinlich gewöhnt. [Besuch Landwirtschaftsministerium]

Erstaunlich war wie zurückhaltend und kooperativ die Comisión agierte, obwohl deutlich wurde, dass alle über die ihrer Ansicht nach unangemessene Reaktion des Bundesstaates sehr erbost waren. Denn auf lokaler Ebene laufen solche Interaktionen oft deutlich hitziger ab. Dies war drei Gründen geschuldet. Erstens wollte man die politische Nähe einer der Dorfgemeinschaften nutzen, um im Ministerium Gehör zu finden. Zweitens sollte die übergreifende Allianz der Dörfer nicht gefährdet werden, so dass sich die Vertreter Barranca Empinadas zugunsten der PRI-nahen Dörfer zurückhielten, obwohl sie die Situation sehr kritisch bewerteten. Sebastián sagte mir später, dass er nicht viel von diesem Besuch erwartet hatte und es für nötig hielt, mehr Druck auf die Regierung des Bundesstaates auszuüben. Allerdings habe man sich auf die andere Vorgehensweise eingelassen, weil die beteiligte PRI-nahe Dorfgemeinschaft darauf bestanden habe und von einem Erfolg überzeugt gewesen sei. Dies zeigt

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deutlich die strukturelle Diskontinuität zwischen unterschiedlichen Handlungslogiken im Umgang mit dem Staat. Drittens wirkten viele der DörflerInnen durch das ministeriale Umfeld eingeschüchtert. Insgesamt gab sich die Delegation freundlich, dezidiert un-rebellisch und dankbar empfangen zu werden. Sie musste sich schließlich mit den Ausführungen und Beteuerungen des Beamten zufrieden geben, auch wenn sie daran zweifelten, dass das Projekt so schnell realisiert würde wie behauptet. Damit behielten sie recht. Nichtsdestotrotz war die Reise aus ihrer Handlungslogik heraus ein gewisser Erfolg, denn sie hatten Präsenz gezeigt und an das zu lösende Problem erinnert. Dem Beamten hingegen war zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht daran gelegen, Zusagen zu machen oder konkrete Lösungen anzubieten. Er konnte dies vermutlich aber auch gar nicht, sondern sollte den besorgten BürgerInnen das Gefühl vermitteln, dass sie ernst genommen würden, während er eigentlich dafür zuständig war, sie ohne Zusagen abzuwimmeln. So wurde dieses Problem letztlich nicht gelöst, sondern (zunächst) nur verschoben. Trotz des Aufwandes, den die Comunidades betrieben, um eine Reaktion der zuständigen Stellen zu erreichen, waren sie also zumindest auf kurze Sicht erfolglos. Die Comisión hatten beschlossen sich direkt an das Landwirtschaftsministerium zu wenden, weil sie zuvor bereits von regionalen Behörden und Politikern vertröstet worden waren. Unzufrieden mit dieser Situation übersprangen sie lokale und regionale Ansprechpartner und wandten sich an das angenommene Machtzentrum. Beim Bundesstaat erfuhren sie jedoch die gleiche Behandlung. Dies ist Ausdruck eines Systems in dem verschiedene Behörden mit ihren bürokratischen Verfahrensweisen zwar Offenheit und Bürgernähe inszenieren, AntragstellerInnen im Zweifelsfall jedoch durch die Vermittlung über mehrere Instanzen hinhalten. In diesem Fall hing das sicher mit der Größe des Projekts zusammen, aber auch mit dem Selbstverständnis des Ministeriums. Es scheint sich zwar als für große Fördermaßnahmen und Projekte zuständig zu begreifen, allerdings sollen sie auf der Analyse eigener Experten beruhen und weniger auf Forderungen der BürgerInnen. Zudem treffen hier unterschiedliche Wissenssysteme aufeinander, wie es für Entwicklungskontexte typisch ist. Problematisch ist es, wenn das Interface zwischen ministerialen Beamten und AntragstellerInnen von der Vorstellung bestimmt wird, dass sich im Ministerium das Wissen über Probleme und deren Lösung konzentriert. Die BürgerInnen werden als unwissend behandelt und damit nicht richtig ernst genommen. Ihr Anliegen wird zwar sicherlich registriert, aber die Art wie darauf eingegangen wird und ob überhaupt, hängt von den als wissend konzeptualisierten BeamtInnen ab. Dadurch wird ein Austausch auf Augenhöhe verhindert und oft die Beseitigung der Probleme der BürgerInnen verzögert. Darüber hinaus deckt dies klientelistische Vorgehensweisen. Da angenommen wird, dass die ExpertInnen des Ministeriums auf Grundlage ihres übergeordneten Wissens über Mittelzuweisungen entscheiden, können diese formal schwer hinterfragt oder kritisiert werden. Praktisch wird zudem Transparenz verhin-

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dert, was einerseits den Argwohn vieler BürgerInnen weckt und andererseits tatsächlich eine Mittelvergabe nach klientelistischen Vorgaben erleichtert. Hierhinein fügt sich auch, dass die AntragstellerInnen an regionale Behörden zurückverwiesen werden, da dort die relevanten Ansprechpartner für lokale KlientInnen verortet sind. Daraus erklärt sich auch, warum Fördermittel über politische Beziehungen und im Rahmen von Wahlkämpfen relativ einfach fliessen, denn dies entspricht dem dafür vorgesehenen Rahmen. Aufgrund dieser Erfahrung existiert in der Regel eine große Distanz zu zentralen Institutionen des Bundesstaates und Unterstützung wird wie gewohnt zunächst auf lokaler und regionaler Ebene gesucht, meist unter Berücksichtigung klientelistischer Spielregeln. Insbesondere wenden sich viele Akteure aus Frustration über den Interaktionsmodus mit Behördenvertretern direkt an parteinahe Klientelorganisationen, was als wirksam angesehen wird (vgl. Kap. 7.2). Diese werden als Mittler und Berater für die Interaktion mit diversen staatlichen Stellen genutzt. Dies trifft nicht nur auf Projekte und Zuweisungen im Entwicklungsbereich zu, sondern auf die meisten Vorgänge innerhalb staatlicher Institutionen. Denn deren Verfahrensweisen sind kompliziert und undurchsichtig und wie im obigen Fall wirken ihre Repräsentanten meist so, als versuchten sie BürgerInnen, die Projektanträge stellen oder Erkundigungen zu deren Bearbeitungsstand einholen möchten, zu beruhigen und abzuwimmeln. Da für viele BürgerInnen nicht nachzuvollziehen ist, wie Entscheidungen getroffen werden, nehmen sie Angebote zur Unterstützung an. Ein Beispiel dafür ist die Unterstützung von MigrantInnen in diversen Bereichen wie der Legalisierung importierter Fahrzeuge, der Organisation einer sicheren Rückkehr und der Überführung verstorbener MigrantInnen. Somit schaffen bürokratische Verfahrensweisen, welche von BürgerInnen schwer nachzuvollziehen sind, eine Grundlage für die Attraktivität parteinaher Organisationen, die versuchen diesen Umstand zu nutzen, um in klientelistischer Manier WählerInnen an sich zu binden. 6.3.3 Politische Probleme der Projektorientierung Über diese alltagspolitischen Implikationen hinaus bereitet die Projektorientierung nicht zuletzt auch den Gemeindeverwaltungen Probleme. Im Rahmen der Dezentralisierungsprozesse in Mexiko wurde ein Finanzierungssystem umgesetzt, in dem Gemeinden einen fixen Satz an Mittelzuweisungen des Bundesstaates erhalten, da ihre eigenen Einnahmen weiterhin sehr niedrig sind. Dieses Geld reicht allerdings nicht aus, sondern für weitere Aktivitäten und Projekte müssen Mittel aus spezifischen Töpfen beantragt werden. Verglichen mit Zeiten zu denen sich Gemeinden selbst finanzieren mussten, ist das zwar ein großer Fortschritt, allerdings fördert dieses System eine fortwährende Unsicherheit darüber, welche Mittel tatsächlich zur Verfügung stehen. Im Extremfall kann es, wie bei dem oben analysierten Regierungswech-

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sel, zum Ausfall eines Großteils der Mittel führen und dadurch zu negativen Haltungen der BürgerInnen. Mangelnde Kenntnisse und Erfahrung im Umgang mit diesem projekt- bzw. programmorientierten Finanzierungssystem können so einen Machtwechsel erschweren, weil sich Vertreter der regierenden Partei als erfahren und wissend präsentieren und durch das Versprechen von Kontinuität punkten können. Dies passt zu der Einschätzung, dass politische Kontakte und Beziehungen notwendig sind, um als Dorfgemeinschaften Mittelzuweisungen zu erhalten. Dieses Interpretationsmuster wird implizit auf die Gemeinde übertragen, so dass erfahrene gut vernetzte Politiker von den BürgerInnen oft als geeigneter angesehen werden. So beeinflusst die gängige Art der Mittelzuweisung auch indirekt Wahlkämpfe. Ein weiteres Problem für Gemeinden ist, dass große personelle Ressourcen im fortlaufenden Prozess der Projektbeantragungen gebunden werden, was typisch für Dezentralisierungsprozesse ist (Lachenmann 2004). Gerade im ländlichen Raum verfügen sie selten über ausreichend erfahrenes Personal, um mit diesen Anforderungen umzugehen. Der (Zentral-)Staat hat durch die von ihm gesetzten Spielregeln einen deutlichen Wissensvorsprung, was wieder die Vorstellung bestärkt, dass dem letztlich nur über möglichst gute politische Kontakte begegnet werden kann. In jedem Fall befinden sich die Gemeinden immer in der Position von Antragsstellern, die sich um Mittel bemühen müssen. Diese Position ähnelt jener der Comunidades von denen auf munizipaler Ebene ein Auftreten als Bittsteller erwartet wird. Dies spiegelt die aus dem PRI-System überbrachte nach klientelistischer Logik operierende Art der Beziehung zwischen einzelnen Hierarchieebenen im Staat und deren Verwobenheit mit Politik wieder. In dieser wird das Antragsprinzip entgegen seinem fachlich-neutralen Anschein zu einem Instrument der Macht und Herrschaft über die jeweils abhängige Ebene. Nicht zuletzt führte die Projektlogik auch zur Gewöhnung an diese Art des Transfers staatlicher Ressourcen, wodurch eine Antragstellermentalität entsteht, die in Mexiko als Asistencialismo bezeichnet wird. Entsprechende Interaktionen sind dann sehr paternalistisch geprägt, was noch dadurch verstärkt wird, dass sie in der Regel in klientelistische Beziehungen eingebettet sind oder zumindest als Teil solcher angesehen werden. Die (empfundene) Abhängigkeit in diesem Entwicklungsmodell stellt potentiell ein Problem für die Selbstinitiative von Dorfgemeinschaften und Einzelpersonen dar. Statt mit eigenen Ideen an staatliche Stellen heranzutreten oder sogar weitgehend unabhängig Ressourcen zu mobilisieren, wird relativ passiv abgewartet welche Projekte staatliche Agenten anbieten. Und selbst wenn eigene Projektideen entstehen, werden diese selten in Angriff genommen, wenn sie nicht von außen finanziert werden.16 Es muss aber beachtet werden, dass diese Beziehung aktuell stark

16 Eine der seltenen Ausnahmen stellt dabei der Ort El Alberto dar. Diese Gemeinschaft fordert zwar ggf. öffentliche Leistungen ein, entwickelt aber eigene Projekte und führt diese

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im Wandel begriffen ist, denn wie oben diskutiert hat sich die Verhandlungsmacht der Gemeinschaften verändert, was mit dem Wandel politischer Handlungslogiken einhergeht. Allerdings besteht auch so ein Grundproblem fort, indem die diversen Vorstellungen zu Dorfgemeinschaften selten mit der Realität übereinstimmen. Ein zentrales Problem ist, dass sie als Einheiten konstruiert werden, die in ihren Wünschen homogen sind und in allen Belangen durch einen Anführer gelenkt werden können. Mögliche Friktionen, Machtunterschiede und ähnliche Aspekte die sich auf den Ausgang der Projekte entscheidend auswirken werden übersehen oder ausgeblendet.

6.4 N UEVA A LIANZA – N EUAUSRICHTUNG DER LOKALEN L ÍDERES Im vorhergehenden Kapitel habe ich die Position der Maestros Bilingües (und Licenciados) als Líderes innerhalb der Lokalpolitik analysiert. Während meines Forschungsaufenthalts konnte ich eine deutliche Ernüchterung bei PRI-nahen LehrerInnen beobachten. Diese erwuchs einerseits aus der Einsicht, dass sie von der Dorfgemeinschaft nicht mehr so unterstützt wurden, wie sie es erwarteten. Aus ihrer Perspektive brach damit eine grundlegende Voraussetzung für erfolgreiche politische Interaktionen auf der munizipalen Ebene weg. Sie konnten sich nicht mehr auf ein konformes Verhalten der von ihnen „vertretenen“ Akteure verlassen und es bestand die Gefahr, in der Arena der Gemeindepolitik als unfähig stigmatisiert zu werden. Andererseits geriet auch die zweite Säule ihres Engagements, der Alleinvertretungsanspruch der PRI, ins Wanken und brach schließlich zusammen. Bereits vor der verlorenen Wahl war die Unzufriedenheit mit der Partei und ihren Anführern gewachsen. Insbesondere hinsichtlich der Vorstellung wie Politik zu gestalten sei wurden Brüche ersichtlich. Dies zeigte sich bspw. an der Unzufriedenheit darüber, wie Kandidaten von oben, von Parteiführern auf Ebene des Bundesstaates und der Republik, unter Missachtung der Wünsche und Bedenken der Parteibasis bestimmt wurden. Die in der PRI aktiven Maestros Bilingües fühlten sich unaufrichtig behandelt und ausgenutzt, während sie gleichzeitig in einen immer stärkeren Legitimationskonflikt mit der Dorfgemeinschaft gerieten. Zunächst beteiligten sie sich aber weiter an dieser Art von Politik, die sie als einzige Möglichkeit ansahen, politische Teilhabe, auch für ihr Dorf, zu sichern. Als jedoch durch die verlorenen Kommunalwahlen im Herbst 2005 offensichtlich wurde, dass dieses Kalkül nicht mehr der Realität entsprach, wandten sich viele Maestros Bilingües von der PRI ab. Diese Niederlage führten sie auf die Gründe ihres unter Rückgriff auf eigene oft transnational generierte Ressourcen und Kenntnisse selbstbestimmt durch (vgl. Rivera Garay 2009).

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eigenen Unbehagens zurück. Die Parteiführer seien so sehr von einem leichten Sieg überzeugt gewesen, dass sie nicht auf Bedürfnisse, Forderungen und Warnungen der Basis eingingen. Dieser fehlten dann die Argumente, und meinen Beobachtungen zu Folge auch die Motivation, zu einem Sieg der PRI beizutragen. Der Wahlniederlage lag also auch ein Realitätsverlust zugrunde, der sich darin offenbarte, dass die Vorstellungen verschiedener politischer Akteure auseinanderdrifteten. Den PRI-Basen war in gewissem Maße klar, dass sich die Ansprüche der WählerInnen an Politik verändert hatten. Dies wurde jedoch von den (lokalen) PRI-Eliten verkannt oder bewusst ignoriert. Offensichtlich wurde davon ausgegangen, dass im Valle del Mezquital, das als sicheres Terrain für die PRI galt, Politik und Wahlkampf wie früher betrieben werden konnten (s. Kap. 5.2.3). Dieser Zwiespalt ließ Unzufriedenheit und Frustration der LehrerInnen-Basis wachsen. Eine attraktive Alternative bildet die neue Partei Nueva Alianza, die aus einer Abspaltung von der PRI hervorging. Nach einem internen Disput auf nationaler Ebene, der mit der „Wahl“ des Präsidentschaftskandidaten zusammenhing, gründete Elba Esther Gordillo, als Mitglied der nationalen Leitung der PRI und Vorsitzende auf Lebenszeit der staatstragenden LehrerInnengewerkschaft SNTE (Sindicato Nacional de los Trabajadores de la Educación), die PANAL17 als eigene Partei, ohne jedoch aus der PRI auszutreten. Sie behauptete diese Partei solle eine Alternative zur korrupten Politik der PRI bieten. Dies wurde vor allem an der Person des Präsidentschaftskandidaten Roberto Madrazo festgemacht, der als extrem korrupt und machtgierig galt und als Vertreter der alten PRI dargestellt wurde. Gordillo gilt zwar selbst als besonders skrupellos und machthungrig, konnte dies aber geschickt überspielen. Sie wurde aus der PRI ausgeschlossen und bildete als Anführerin ihrer Partei eine Wahlallianz mit der PAN, wodurch sie bei den Präsidentschaftswahlen 2006 Regierungsämter für ihre Anhänger erlangen konnte.18 Die Nueva Alianza wurde von Gordillo offensichtlich gegründet, um LehrerInnen als Klientel anzusprechen und ihr politisches Potential zu nutzen. Sie sind über die Gewerkschaft sehr gut organisiert, wie beschrieben oft politisch aktiv und haben eine große gesellschaftliche und politische Bedeutung. Die SNTE war mit Ausnahme ei-

17 Partido Nueva Alianza – in den Dörfern meist als Nueva Alianza bezeichnet. 18 Kurz nachdem die PRI 2012 wieder an die Macht kam, wurde Gordillo auf Grundlage verschiedener Vorwürfe verhaftet. Dies wird einerseits als Versuch bewertet, die SNTE gefügig zu machen und andererseits als späte Rache der PRI-Kader. Öffentlich wurde es jedoch als Kampf gegen Korruption und ein „Aufräumen“ unter der politischen Elite dargestellt.

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niger dissidenter LehrerInnengruppen lange staatstragend gewesen und ihre Mitglieder daher vorwiegend PRI-treu.19 Gordillo versuchte, der PRI diesen Pool von Gefolgsleuten zu entziehen und an ihre eigene Partei bzw. sich selbst zu binden. Aufgrund dieser Ausrichtung sind Programm, Wahlversprechen und –werbung sehr bildungsorientiert und nehmen den allgemein akzeptierten Diskurs auf, dass gute Bildung die Grundlage jeglicher positiver gesellschaftlicher Entwicklung und die Lösung vieler Probleme sei. Für die DorflehrerInnen ist dies sehr attraktiv, da es zum eine ihre eigene Sichtweise widerspiegelt, dass der Bildungsbereich gesellschaftlich erheblich aufgewertet werden müsste. Zum anderen impliziert es eine Steigerung ihres Ansehens als BildungsträgerInnen und -vermittlerInnen und weckt Hoffnungen auf eine Rückkehr zu verlorenem Status. Zudem ist die Forderung nach einer Stärkung des Bildungssystems unverfänglich und kann allgemein Akzeptanz finden. Schließlich wird auch in den Dörfern teils ein sehr großer Wert auf Bildung gelegt. Gleichzeitig ist die Partei aber eine Kopie politischer Strukturen der PRI. Im Prinzip wurde der früher eingebettet Sektor der LehrerInnen zu einer eigenen Partei und behielt die interne auf ihre Anführerin ausgerichtet Organisation bei. Dadurch wurden sie zu einer politischen Gruppierung, die neu war und den Bruch mit der PRI symbolisierte, aber gleichzeitig wichtige Anknüpfungspunkte bewahrte. Auch wenn vorgeblich das Streben nach einer demokratischen und moralischen Politik zur Abspaltung führte, erlaubt die Konstanz der politischen Vorgehensweisen, Logiken und Erfahrungen eine weitere Kooperation beider Parteien. So kam es bald auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene zu Wahlallianzen zwischen PANAL und PRI. Die Art in der Gordillo vorging zeigt, dass in unterschiedlichen Konstellationen klassische klientelistische Handlungslogiken fortbestehen. Aus strategischen Gründen, versuchte sie die LehrerInnen in klientelistischer Manier stärker an sich zu binden, wofür die SNTE ein ideales Werkzeug bot. Da sie daraufhin die LehrerInnen als ihre exklusive Gefolgschaft präsentieren (und auch mobilisieren) konnte, war es ihr möglich, ihr politisches Gewicht zu steigern. Dies folgt im Prinzip der gleichen Handlungsrationalität, wie die Versuche lokaler Líderes, Mitglieder von Dorfgemeinschaften an sich zu binden und ihr (vorgebliches) Mobilisierungspotential hervorzuheben (s. Kap. 5.2.2) Allerdings bietet diese Partei den LehrerInnen selbst eine akzeptable Mischung aus Neuem und Gewohntem. Sie können ihren Zielen und Vorstellungen mehr Gewicht verleihen, ohne jedoch groß umdenken zu müssen oder sich andere politische Interaktionsmodi anzueignen. Zudem nehmen sie in der Partei eine zentrale Position ein, die der Selbstwahrnehmung ihres politischen Engagements entspricht. Die Teilnahme an dem Parteiprojekt war eine Strategie, angemessene Teilhabe und Mitbestimmung zu erreichen, die ihnen in der PRI verwehrt geblieben war. 19 Als Alternative zu dieser Gewerkschaft wurde die Coordinadora Nacional de Trabajadores de la Educación gegründet, der bspw. die Sektion XX. in Oaxaca angehört, die ein entscheidender Teil der dortigen sozialen Protestbewegung ist (Esteva 2010).

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Lokal äußerte sich dies z.B. darin, dass der Lehrer Juan in Folge der Koalitionsverhandlungen mit der PRI einen Posten in der Gemeindeverwaltung erhielt. Zuvor hatte er sich jahrelang ohne entsprechende Anerkennung engagiert und wurde deswegen verspottet. Somit kann diese Neuausrichtung vieler LehrerInnen als Teil der Herstellung einer Demokratisierungsperspektive betrachtet werden, selbst wenn die neue Partei nach klientelistischer Logik operiert. Gerade durch diese Kombination verschiedener Elemente ist der Prozess paradigmatisch für die aktuellen politischen Transformationen im Valle del Mezquital.

7. Jenseits von Dorfgemeinschaft und politischer Gemeinde

In den vorhergehenden Kapiteln habe ich verschiedene Dimensionen und Facetten des sozialen und politischen Wandels in meinem Untersuchungsfeld diskutiert. Während ich dabei vor allem Prozesse analysiert habe, die sich auf die Dorfgemeinschaften selbst und auf Interaktionen mit Akteuren der Gemeindeebene (Municipio) beziehen, werde ich im folgenden auf Prozesse eingehen, die verstärkt höhere Ebenen einbeziehen. Dazu gehören parteipolitische Strategien, die sich auf regionaler Ebene beobachten lassen, die Aktivitäten von Schlüsselpersonen über mehrere Ebenen hinweg, die Konstitution von Geschlechterbeziehungen auf höheren Ebenen sowie die transnationalen politischen Aktivitäten von MigrantInnen und PolitikerInnen. Dabei wird ein spezieller Fokus auf Prozessen liegen, die in Folge des analysierten Wandels entstehen und diesen gefährden können.

7.1 W IDERSPRÜCHLICHE H ANDLUNGSLOGIKEN Im fünften Kapitel habe ich die klassische klientelistisch beeinflusste Wahlkampfstrategie analysiert und diskutiert, wie diese fortbesteht, während gleichzeitig auf Seiten der WählerInnen ein langsamer Wandel der Logiken der Wahlentscheidung und generell der Unterstützung bestimmter Kandidaten und Parteien zu konstatieren ist. Dies hängt grundlegend mit der Sichtweise auf Politik und politische Interaktion zusammen und damit wie Aushandlungsprozesse mit externen Akteuren gestaltet werden, z.B. um Ressourcen für Projekte der Dorfgemeinschaft zu erhalten. Im Folgenden werde ich zeigen, dass sich dieser Wandel nicht nur auf die lokale Ebene beschränkt, die in meiner Studie durch El Thonxi und Barranca Empinada repräsentiert wird, sondern auch auf höheren Ebenen stattfindet und auf allen Ebenen durch globale Diskurse beeinflusst wird. Dazu nutze ich Material, das neben dem Valle del Mezquital auch von anderen Orten des Bundesstaates stammt und sich insbesondere auf zwei Ereignisse bezieht. Zum einen fanden im Jahr 2009 erneut Wahlen statt,

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diesmal um einen Teil der Abgeordnetensitze im Parlament des Bundesstaates zu besetzen. Es wurde ein Delegierter des Distrikts gewählt, zu dem auch Ixmiquilpan und Cardonal gehören. Zum anderen konnte ich im Frühjahr 2010 einen Teil des Wahlkampfes um den Gouverneursposten miterleben. Nachdem bereits ein Großteil der Gemeinden bei den letzten Kommunalwahlen von der ehemaligen Regierungspartei PRI zurückgewonnen worden war und einige wenige Kommunen von der PRD an die PAN übergingen, sahen Priistas jetzt die Gelegenheit, ihre frühere Vormachtstellung wiederzuerlangen. Andererseits hatte die gemeinsame Kandidatin der Opposition, Xóchitl Gálvez, durchaus Chancen als Gouverneurin gewählt zu werden.1 Dies führte dazu, dass die PRI, ihre Anhänger und ihr nahe stehende Organisationen besonders aktiv waren, während die Perredistas mit enttäuschten Erwartungen nach dem überraschenden Sieg bei den Gemeindewahlen im Jahr 2006 zu kämpfen hatten. Der politische Tausch – Offene Unterstützung gegen materielle Leistungen Eine Begebenheit aus einem Dorf in der Nähe von Ixmiquilpan zeigt, dass die von mir analysierten Prozesse in der Region weit verbreitet sind. An diesem Fall wird zudem ersichtlich, wie verschiedene Ebenen durch Aushandlungsprozesse vernetzt sind. Bei einem Besuch in El Dengho kam das Gespräch auf die bevorstehenden Wahlen und es wurde von einem Ereignis aus dem Wahlkampf berichtet. Mein Gesprächspartner war mit der Delegación zu dem PRI-Kandidaten Mario Escamilla eingeladen worden. Diese Einladung wurde der Logik des quasi-klientelistischen Tauschs entsprechend angenommen, um als Dorfgemeinschaft Kontakt zur PRI zu halten und sie nicht zu verprellen. Es handelte sich jedoch nicht um die erwartete Wahlkampfveranstaltung, sondern um ein Festessen mit (Partei-) Freunden und Bekannten des Kandidaten auf seiner Hacienda. Sie war kürzlich von Drogenhändlern enteignet und dem Vernehmen nach sehr günstig durch Escamilla erworben worden. Die Besucher aus Dengho wurden eingeladen, fühlten sich aber wohl fehl am Platz. Vermutlich standen sie gemeinsam mit den Vertretern anderer Comunidades eher am Rande. Möglicherweise war dies Teil einer Selbstinszenierung des Kandidaten, die Status und Macht unterstreichen sollte, aber vielleicht sollten die Besucher bloß „am Rande abgehandelt werden“. Diese empfanden das Fest als sehr pompös und äußerten sich abfällig über ein ihrer Ansicht nach übertriebenes Trinkgehabe. Den anwesenden Delegados wurde die Bitte unterbreitet, Stimmen für den Kandidaten einzuwerben und sich zu bemühen, dass ihre Dorfgemeinschaften geschlossen den Kandidaten unterstützen. Konkret sollten sie möglichst vollständig an der zentralen 1

Xóchitl Gálvez war unter Fox Leiterin der CDI und wurde durch ihren Politikstil bekannt. Sie gilt als Person, die Probleme direkt anspricht und dabei häufig umgangssprachlich spricht, so dass sie viele Schimpfworte nutzt. Sie genoss bei vielen BürgerInnen ein hohes Ansehen und wurde nicht als typische Politikerin angesehen.

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Wahlkampfveranstaltung in Ixmiquilpan teilnehmen. Zum Ausgleich würden die Comunidad eine Entschädigung bekommen, einen Betrag zwischen 5000 und 15000 Peso. Die Vertreter von El Dengho beschlossen jedoch im Nachhinein auf keines der Angebote einzugehen. Dies wurde kontrovers diskutiert, weil die Gemeinschaft tatsächlich Geld brauchte, um Material für ein aktuelles Projekt zu beschaffen. Aus der Art in der berichtet wurde, konnte ich schließen, dass das Angebot als grundlegend inkorrekt und ihren Worten folgend als Schweinerei angesehen worden war, als ein Zeichen für die Überheblichkeit und den Machtwillen von Politikern in der Region. [Salvador]

Dieses Encounter at the Interface zeigt deutlich, wie die PRI- Führung ihren klientelistischen Politikstil auch nach der Erfahrung des Machtwechsels in der Region weiterverfolgt und entsprechende Strategien anwendet. Weiterhin wird versucht, Stimmen durch finanzielle oder materielle Versprechungen zu gewinnen. Dazu gehört die klassische Praxis, anlässlich jeder Wahl politische Unterstützung gegen materielle Gaben an die Dorfgemeinschaften einzutauschen. Im konkreten Fall versuchte der Kandidat, die Eingeladenen entsprechend lokaler Verhaltensregeln zu einer Gegenleistung zu verpflichten und setzte zudem strategisch bei der Projektorientierung von Entwicklung an. Da diese als Gradmesser für Erfolg angesehen wird, ist es leichter Amtsträger in diesem Bereich zu beeinflussen. Trotz dieser weitgehend klientelistischen Handlungslogik, zeigt sich aber auch ein Wandel. Offensichtlich wird nicht mehr von einer gänzlich gesicherten Unterstützung ausgegangen, sondern es ist vorstellbar, dass sich Gemeinschaften anders entscheiden. Daher ist das Angebot materieller Unterstützung auch als Teil „demokratischen“ parteipolitischen Wettstreits zu verstehen. Es ist wichtig geworden klare Gegenleistungen anzubieten, durch die Dorfgemeinschaften überzeugt werden sollen. So hat diese Interaktion tatsächlich den Charakter eines Tausches, was allen bewusst ist, auch wenn führende Politiker diese Angebote als Geschenk präsentieren. Die erwartete Gegenleistung der Dorfgemeinschaft ist allerdings einfacher zu kontrollieren als beim Stimmenkauf. In Zeiten absoluter PRI-Dominanz ging es dagegen vorrangig darum den Dorfgemeinschaften zu zeigen, welche Vorteile sie durch die PRI-Regierung hatten. Projekte und Mittelzuweisungen wurden als Teil der Amtsführung der mit der Partei gleichgesetzten Regierung gesehen. Zwar registrierten die BürgerInnen Unterschiede zwischen einzelnen Bürgermeistern bezogen auf das, was die Gemeinschaften erhielten, aber grundsätzlich wurde angenommen, dass die Dörfer konstant Fördermittel von Seiten des lokalen Staates erhielten, solange sie der PRI die Treue hielten. Dies geschah im Wahlkampf, war aber auch Teil der Aushandlungen, die ich beschrieben habe (s. Kap. 5.3). Heute dagegen werden diese Angebote von allen Beteiligten als Versuch des „Kaufs“ bzw. als ein Tausch verstanden. Es müssen allerdings zwei Einschränkungen gemacht werden. So gab es eine historische Phase in der Dörfer keine staatlichen Zuweisungen erhielten, was auch die Bedeutung des PIVM unterstreicht. Diese Situation änderte sich als die Municipios

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ab den 1970er bzw. 1980er Jahren immer mehr eigene Mittel erhielten [Magdalena]. Danach scheint die Vergabe von Projekten und Mitteln immer stärker parteipolitisch instrumentalisiert worden zu sein. Dieser Prozess führte aber auch dazu, dass viele BürgerInnen der Amtsführung einzelner Bürgermeister gewahr wurden. Es wurden zwar mehr Projekte in den Dörfern realisiert, gleichzeitig aber auch mehr Geld veruntreut. Entsprechendes geschah auch auf der nationalen Ebene und hat den relativen gesellschaftlichen Konsens, der Basis der PRI-Herrschaft war, zerstört. Viele Menschen gewannen den Eindruck, dass die regierenden Politiker Ressourcen nicht mehr angemessen verteilten. Dabei ging es nicht unbedingt um Bereicherung, Korruption und Vetternwirtschaft. Denn diese wurden von einem großen Teil der Bevölkerung durchaus akzeptiert, solange ausreichend Mittel, ein als angemessen verstandener Anteil in Form staatlicher Transfers bei den BürgerInnen ankam. Verschiedene Ereignisse erschütterten diese Konzeption des Staates und führten auf nationaler Ebene langsam zu einer Abkehr von der PRI. Ein wichtiges historisches Ereignis war in diesem Zusammenhang die mangelhafte Reaktion des Zentralstaates auf das Erdbeben von 1985 in Mexiko-Stadt, die von den Betroffenen in krassem Gegensatz zu der effizienten solidarischen Selbsthilfe in der Stadt erlebt wurde (s. Kap. 1.2.1). Da viele Menschen aus dem Valle del Mezquital zu dieser Zeit in der Hauptstadt lebten, wirkte sich die gewandelte Wahrnehmung in Verbindung mit anderen, oft lokalen Prozessen nach und nach auf die Region aus. Auch die Tatsache, dass die Vertreter von El Dengho das Verhalten des PRI-Kandidaten als unangemessen und arrogant empfanden und sich gegen das Angebot entschieden, kann als Teil dieses längerfristigen Wandels gesehen werden. Sie zeugt von einer gewissen Distanz zur Politik, die es ermöglicht, Aktionen von Politikern und Parteien kritisch zu bewerten. Im Kern beobachteten die Angehörigen der Delegation als BürgerInnen Politik so, wie es einem demokratischen Anspruch entspricht und reagierten entsprechend. Wie ich wiederholt betont habe bedeutet dies aber nicht unbedingt, dass es zu einer idealtypischen Demokratisierung kommt, sondern je nach Einschätzung der Lage werden klassische politische Spielregeln weiterhin befolgt. Versuche des Stimmenkaufs – Diskursive Auseinandersetzungen um korrektes Verhalten im Wahlkampf Der Fall des Angebots an die Dorfgemeinschaft belegt neben dem Zusammenspiel von Wandel und Konstanz in den Vorgehensweisen im Wahlkampf erneut, dass die Gemeinschaften einen besonderen Stellenwert haben. Es existieren aber auch Strategien, die sich vorrangig auf Individuen konzentrieren. In Ixmiquilpan als regionalem Zentrum gab es ein weiteres Ereignis im Wahlkampf, das ein Schlaglicht auf die üblichen Strategien aller Seiten wirft. In der Nähe der Stadt wurde ein Lastwagen von Anhängern der PRD gestellt und entführt. Sie warfen der PRI vor, mit diesem Fahr-

J ENSEITS VON DORFGEMEINSCHAFT UND

POLITISCHER

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zeug Dispensas, also Lebensmittel, Decken und Ähnliches in Form von Hilfspaketen für Bedürftige als Wahlgeschenke verteilt zu haben. Der Laster wurde auf den Zentralplatz Ixmiquilpans gefahren und öffentlich ausgestellt. Auf Plakaten wurde verkündet wie viele Dispensas sich in dem Wagen befanden und betont, dass diese Güter vor der Instrumentalisierung im Wahlkampf bewahrt worden waren. Um den Laster herum hingen Zettel mit Kommentaren von BürgerInnen, vermutlich von PRD-Anhängern vorbereitet, und Kopien des Titelblattes der lokalen Wochenzeitung auf welcher der PRI-Kandidat gezeigt wurde, wie er im Wahlkampf Dispensas verteilte. [Wahlkampf Ixmiquilpan]

Es wurde nicht ganz klar, ob der Hauptvorwurf war, dass diese Dispensas im Rahmen der regulären Verteilung an Bedürftige zweckentfremdet worden waren, oder ob sie unabhängig davon als reine Wahlgeschenke verteilt werden sollten. Diese Frage war allerdings für die Diskussion um den Vorfall irrelevant. Die PRD-Anhänger wollten der Öffentlichkeit zeigen, dass die PRI versuchte, Stimmen zu kaufen oder die Stimmabgabe zumindest auf illegale Weise zu beeinflussen. So sollte belegt werden, dass sich die PRI in keiner Weise von ihrer korrupten Vergangenheit gelöst habe und damit als undemokratisch und nicht wählbar gebrandmarkt werden. Der Lastwagen zog große Aufmerksamkeit auf sich und war über die Stadt hinaus ein Gesprächsthema. Aus Gesprächen und Kommentaren entnahm ich allerdings, dass die Strategie der PRD nicht aufging. Einerseits schien niemand sonderlich überrascht zu sein, denn das Vorgehen der PRI wurde, zumindest für diese Partei, als normal angesehen. Andererseits wurde die Aktion der PRD oft als übertrieben bewertet, als unangemessenes Ausschlachten eines Sachverhalts, der jedem bekannt ist. Die PRI reagierte in dieser Situation abwartend und schien damit letztlich Erfolg zu haben. Hier zeigt sich, dass auch die PRD-Anhänger Probleme hatten, sich auf die Logiken der WählerInnen einzustellen. Die konnten nicht einfach gewonnen werden, indem die PRD sich als Bewahrerin der demokratischen Fairness inszenierte und die PRI als korrupt und undemokratisch darstellte. Nachdem sich viele WählerInnen von den PRD-Lokalregierungen enttäuscht fühlten, war dies eine zu simple Strategie. Es wurde nicht bedacht, dass es den WählerInnen diesmal nicht darum ging, die vorgeblich demokratischere Partei zu wählen, womit zum Teil der Erfolg bei den Kommunalwahlen im Jahr 2006 zu erklären war, sondern andere Erwägungen wichtiger waren. Es geht den BürgerInnen weniger darum, wie eine Partei um Stimmen wirbt, sondern um die Erwartungen, die in den Sieg eines Kandidaten gesetzt werden. Da die Amtsführung der PRD-Bürgermeister und ihrer Gemeindeverwaltungen vorwiegend negativ bewertet wurde, bevorzugten offenbar viele Menschen die PRI als besser einzuschätzende Alternative, unabhängig von deren Vorgehen und Ruf. Zudem wurde mittlerweile auch die demokratische Überzeugung vieler PRD-Politiker angezweifelt, so dass die PRD nicht mehr vorrangig als demokratische Alternative, sondern als eine Partei wie andere auch wahrgenommen wurde. Die Verteilung von Dispensas im Wahlkampf ist durchaus üblich und mir wurde von ähnlichen Praktiken

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von PRD-Kandidaten berichtet. Somit reduzierte sich in der Wahrnehmung vieler BürgerInnen die Besonderheit der PRD darauf, dass sie in etwas geringerem Ausmaß versuchte, den Wahlkampf durch Geschenke und Versprechen zu beeinflussen. Allerdings wurde oft angenommen, dass sie schlicht über weniger Ressourcen verfügte. Für die PRD war es daher riskant, sich als Beschützerin der Demokratie gegenüber der PRI zu inszenieren und die Praxis des PRI-Kandidaten zu skandalisieren. Dieser nutzte eine Grauzone in der Verteilung öffentlicher Leistungen, um als Kandidat, aber eben auch als Vertreter der Regierung, die für die Verteilung der Dispensas zuständig ist, aufzutreten. Dieser Prozess auf mittlerer (Distrikt-)Ebene entspricht weitgehend dem, was ich auch für die Dorfgemeinschaften festgestellt habe (vgl. bspw. Dorotheas Bericht im Kap. 5.3.1). Der Einsatz von Plakaten und Slogans als politische Kommunikationsmittel Während direkte Begegnungen zwischen PolitikerInnen und BürgerInnen ein zentrales Element in der Interaktion zwischen beiden Gruppen sind, gibt es insbesondere im Wahlkampf auch andere Kommunikationsformen. Dazu gehören einerseits Artikel in lokalen Zeitungen, die Parteien eine Möglichkeit zur Selbstdarstellung bieten. Andererseits sind es Plakate und Slogans an Hauswänden, die ich kurz in Bezug auf politische Handlungslogiken und Vorstellungen einordnen werde. Nach den Wahlen 2009, als die PRI im Distrikt von Ixmiquilpan nicht nur den Wahlkreis gewonnen, sondern auch in allen Unterbezirken die Mehrheit errungen hatte, tauchten sehr bald Schriftzüge auf mit denen den WählerInnen gedankt wurde. Dazu wurden Mauern und Hauswände aufwändig mit Slogans, Parteifarben und Symbolen bemalt. Eine entsprechende Form der Werbung wird auch im Wahlkampf eingesetzt. Sie ist eine der wichtigsten Arten politische Parolen zu verbreiten und die Präsenz einer Partei im öffentlichen Raum zu stärken. Da „Wandslogans“ nach den Wahlen nicht entfernt werden, überdauern sie oft mehrere Jahre und erhalten damit den Charakter einer dauerhaften politischen Werbung. Es kommt sogar vor, dass sie aufgrund der Sympathie mit einem Kandidaten eigens von den Besitzern der Wand gepflegt werden. Diese Art von Wahlwerbung scheint eine relativ lange Tradition zu haben, wegen der beschriebenen Präsenz, aber auch, weil sie relativ leicht umzusetzen ist. Daneben werden große Mengen kleinerer Kunststoff-Plakate im Wahlkampf eingesetzt und oft in Form einer Girlande über Straßen gespannt. Während bei gemalten Schriftzügen eher der politische Slogan mit einer inhaltlichen Aussage im Vordergrund steht, liegt der Fokus der Plakate auf Bild und Namen der KandidatIn, die von Parteifarben und -symbolen eingerahmt werden. Meist wird dem ein kurzer prägnanter Spruch hinzugefügt, aber die Person steht eindeutig im Vordergrund. Meinen Beobachtungen nach ist die Menge der eingesetzten Plakate mit der Zeit angestiegen.

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Gerade in Ixmiquilpan als wichtiger regionaler Stadt, Marktort und Verkehrsknotenpunkt, gewinnen diese Plakate im Stadtbild an Präsenz. Dies hängt möglicherweise nicht nur mit einer stärkeren Nutzung dieses Mittels bzw. höheren Investitionen in den Wahlkampf zusammen, sondern auch mit der wachsenden Zahl an ernsthaft kandidierenden Parteien. Insbesondere kleinere Parteien versuchen so Präsenz zu zeigen, während die „Wandslogans“ eher von den großen Parteien dominiert werden. Ein Grund hierfür liegt darin, dass entsprechende Wände von den Besitzern zur Verfügung gestellt werden müssen, was für Parteien mit weniger Anhängern ein Nachteil ist. Dagegen kann der öffentliche Raum über und an den Straßen frei genutzt werden. Für beide Formen der Wahlwerbung lässt sich feststellen, dass es weniger darum geht inhaltliche Positionen zu vertreten oder zu vermitteln, sondern Präsenz der Parteien in der Öffentlichkeit zu demonstrieren. Dies zeigt sich zum einen darin, dass die Slogans relativ nichtssagend sind. Es werden zwar bestimmte, oft aufgeladene, Schlagwörter genutzt, die meist in Zusammenhang mit Wohlergehen, der Familie, wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit und Entwicklung stehen, aber eher zu freien Assoziationen auffordern, als auf programmatische Punkte hinzuweisen. Zum anderen zeigt sich der Wunsch nach Präsenz in der Menge der Plakate. Die dahinter stehende Logik entspricht der von Wahlkampfveranstaltungen. Es wird versucht, die Bedeutung der Partei durch die massive Präsenz der eigenen Symbole zu unterstreichen. Damit wird eine Strategie der Selbstdarstellung verfolgt, in der eigene Aktivität und Stärke sowie ein vorgeblicher Rückhalt in der Bevölkerung inszeniert werden. Offenbar nehmen die Parteiführungen an, dass die WählerInnen davon ausgehen, dass eine Partei die einen erfolgreichen Wahlkampf führt und viele Menschen, einerseits bei Veranstaltungen andererseits zur Verbreitung von Wahlkampfmaterial mobilisieren kann, auch fähig ist, eine effiziente Regierung zu stellen. Daher sollen im Wahlkampf die Organisationsfähigkeit der Partei sowie ihr Zugriff auf materielle und personelle Ressourcen demonstriert werden. Dazu wird versucht eine breite Unterstützung durch die Massen zu inszenieren, da dies ein Element ist, das sich seit den Zeiten des Caudillismo durch die politische Kultur Mexikos zieht (s. Kap. 1.2.1). Wie ich gezeigt habe ist dies auch im Valle del Mezquital weiter Teil der politischen Logiken und kann als ein Grund für Versuche angesehen werden, Dorfgemeinschaften als ganze zu mobilisieren und Acarreados für politische Veranstaltungen zu rekrutieren. Kurz nach der angesprochenen Wahl ließ die PRI Slogans wie „Gracias por tu confianza“ (Danke für Dein Vertrauen) oder „Gracias a ti/ tu voto ganamos“ (Dank Dir / Deiner Stimme haben wir gewonnen) an die Wände malen, oft ergänzt durch „y vamos X más por Hidalgo“ (und wir wollen mehr für Hidalgo), mit dem X als großem roten (Wahl-)Kreuz. In der Provinzhauptstadt Pachuca gab es entsprechende Großplakate an den Schnellstraßen. So wird versucht den WählerInnen zu suggerieren, dass man sie nicht für einfaches Stimmvolk halte, sondern für die Entscheidung dankbar sei. Dies steht in offensichtlichem Gegensatz zu vielen Strategien im Wahlkampf

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und den analysierten Arten politischer Interaktion. Allerdings spiegelt sich auch hier die Annahme wider, im Normalfall gewählt zu werden, was Teil einer distanzierten herrschaftsbetonten Logik ist. Denn letztlich wirken die Slogans in ihrer Art und Zahl sehr überheblich. Sogar Dorothea als Helferin der PRI-Kampagne in Cardonal machte darüber abschätzige Bemerkungen. Gleichzeitig handelt es sich um einen Versuch möglichst schnell die Präsenz anderer Parteien zu überlagern und damit die symbolische Hoheit im öffentlichen Raum parallel zu der gewonnenen Macht in den Wahlkreisen zu unterstreichen. Die Analyse von Wahlwerbung in Form von Plakaten und Wandslogans zeigt, dass diese, obwohl sie kein zentrales Element in politischen Interaktionen und Auseinandersetzungen ist, zutiefst von lokalen politischen Handlungslogiken durchdrungen ist. Ihre Form sowie die Art der Umsetzung verdeutlichen diese Denkweisen. Daneben belegt sie den kontinuierlichen Wandel der Politik im Valle del Mezquital. So deutet bereits das Ausmaß der Wahlwerbung darauf hin, dass nicht mehr allein auf Verhandlungen mit Comunidades vertraut, sondern auch um individuelle Stimmen gekämpft wird. Das Werben um Wählerstimmen bekommt damit immer stärker den Charakter eines tatsächlichen Wahlkampfes, in dem Parteien und KandidatInnen um die Gunst der WählerInnen streiten. „Erzwungene“ Unterstützung – Verschärfter Druck durch aktualisierte Strategien Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass sich Aushandlungsprozesse zwischen Politikern bzw. VertreterInnen des Staates und BürgerInnen als Teil des politischen Wandels in der Region so verändern, dass Perspektiven der Herstellung von Demokratie entstehen. Teil dieses Prozesses ist jedoch auch, dass neue Strategien und Logiken mit früheren Denkweisen verknüpft werden, um politische Macht oder Pfründe zu sichern. Der Wandel politischer Strategien, u.a. als Reaktion auf veränderte Sichtweisen und Logiken bei BürgerInnen, kann sogar zu verschärftem Druck auf einzelne Akteure führen, wie verschiedene Beobachtungen aus Pachuca, der Hauptstadt des Bundesstaates, zeigen. Die PRI hatte an den Tagen kurz vor dem Wahltermin Menschen mobilisiert, die sich an den wichtigsten Kreuzungen in Pachuca postierten und mit Parteifahnen und farblich abgestimmten Überwürfen mit aufgedruckten Wahlkampfparolen ausgerüstet waren. Diese Grüppchen verteilten Flugblätter und sprachen teilweise PassantInnen und AutofahrerInnen an, um ihre Stimme für die PRI zu gewinnen. Neben dieser direkten Ansprache von BürgerInnen ging es der Partei offenbar besonders um die öffentliche Präsenz großer Menschenansammlungen, die deutlich als Anhänger der Partei erkennbar waren. Dies entsprach der Logik, die Mobilisierung der Massen zu inszenieren und damit WählerInnen im Vorfeld von der eigenen Stärke und dem Sieg zu überzeugen, um ihre Stimmen zu gewinnen.

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Viele dieser Parteigänger wirkten allerdings unsicher und es schien ihnen unangenehm zu sein, öffentlich in dieser offensiven Art gegenüber Fremden aufzutreten. Es handelte sich wohl um Personen, die weder politische Kampagnenarbeit gewohnt waren, noch einen sozialen Status hatten, der es für sie normal machte, die Meinungen anderer Menschen beeinflussen zu wollen. An mehreren Kreuzungen standen die AktivistInnen in Grüppchen zusammen, verteilten Flugblätter nur an die PassantInnen, die direkt an ihnen vorbeigingen, und sprachen nur, wenn sie selbst direkt angesprochen wurden. An anderer Stelle war die Gruppe aktiver, es wirkte so, als ob sie von einer Person angeleitet wurden. In Sprechchören wurden Parolen gerufen und Fahnen geschwenkt, trotzdem war der Gesamteindruck ähnlich. Möglicherweise standen diese Menschen schon lange dort und waren müde, nichtsdestotrotz wirkten die meisten von ihnen schlicht unsicher. Diese WahlkampfhelferInnen schienen aus einer abhängigen Position heraus aufgefordert worden zu sein, sich für den Machterhalt der PRI einzusetzen. [Kampagne Pachuca]

Um diese Beobachtungen im Sinne einer methodischen Triangulation einordnen zu können, sprach ich mit unterschiedlichen Personen in der Stadt. Dabei erfuhr ich von einem Angehörigen der Universität des Bundesstaates (UAEH), dass es das erste Mal war, dass die PRI dieses Mittel im Wahlkampf einsetzte. Gerade im universitären Umfeld kritisierten viele GesprächspartnerInnen diese Strategie. Das Vorgehen wurde als ethisch verwerflich angesehen und auf eine Stufe mit korruptem Verhalten wie dem Stimmenkauf gestellt. Ein Unterschied bestand aber offenbar darin, dass andere Formen von Korruption bekannt waren und zumindest für die PRI als Teil des normalen politischen Repertoires angesehen wurden. Diese Form des Wahlkampfs war jedoch neu und löste Empörung aus. Diese fußte gar nicht so sehr auf dem inkorrekten Vorgehen an sich, sondern die Form wurde als unangemessen und unmoralisch betrachtet. Allgemein wurden unter den WahlkampfhelferInnen viele Staatsbedienstete in niedrigen Positionen vermutet, wie Putzkräfte in Regierungs- und Verwaltungsgebäuden, die unter Androhung eines Arbeitsplatzverlustes zur Teilnahme gezwungen bzw. Personen denen für den Fall eines Wahlsiegs entsprechende Stellen versprochen wurden. Dies ist nicht unbedingt als direkte Drohung zu verstehen, sondern es kann der Verweis auf die übliche Praxis ausgereicht haben, dass nach einem Regierungswechsel das Personal ausgetauscht wird. Entscheidend ist aber, dass die Angst der Beschäftigten vor einem Arbeitsplatzverlust für die Kampagne genutzt wurde. Dazu passt der hohe Anteil an Frauen, denn diese besetzen einerseits den Großteil der Stellen mit niedrigem Status. Andererseits können sie solchen Forderungen in der Regel weniger Widerstand entgegensetzen, nicht zuletzt wenn sie bspw. als Alleinerziehende auf eine der wenigen ihnen offen stehenden Arbeitsmöglichkeiten im formalen Sektor angewiesen sind. Der Umgang mit diesen Personen, mit ihren Hoffnungen und Ängsten wurde besonders kritisiert, da der Quasi-Zwang und die Versprechungen, von denen im übrigen angenommen wurde, dass sie nicht erfüllt

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würden, auf ihrer sozialen und ökonomischen Position beruhten und ihre Lage für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert wurde. Bemerkenswerterweise wurde diese Art des Wahlkampfs nicht als Zeichen dafür angesehen, dass die PRI um Stimmen kämpfen musste, sondern als ein Auswuchs ihrer Arroganz und gefühlten Dominanz. Diese Einschätzung zeigt wie negativ besetzt die Sicht auf Parteipolitik weiterhin ist. Ich interpretiere dieses Ereignis allerdings doch als Beleg dafür, dass der Wettstreit um Stimmen, wie auf Ebene der Dorfgemeinschaften, intensiver geworden ist und härter geführt wird. Da der Kampf um WählerInnen auch für die einst übermächtige PRI wichtiger wird, versuchen Teile der Parteiführung den Machterhalt, durch eine aktualisierte Herangehensweise zu sichern, in der ein Großteil früherer Strategien reproduziert wird, hier in Rückgriff auf das klassische Muster der Massenmobilisierung. Dieser wird mit gewohnten Mitteln und teils in der Logik früherer Wahlkämpfe geführt, aber die Existenz des Wettstreits an sich ist ein bedeutendes Element politischen Wandels und Beleg für denselben. Die hier analysierten Facetten des Wahlkampfes zeigen, dass nicht nur auf lokaler Ebene in den Dorfgemeinschaften ein Wandel des Politikverständnisses und der damit zusammenhängenden Handlungslogiken stattfindet, sondern entsprechende Prozesse auch auf höherer Ebene ablaufen. Auf allen Ebenen kommt es dabei zur ReKombination von Elementen verschiedener Handlungslogiken, ein Prozess, der gerade nicht nur bei den einfachen BürgerInnen in der Region stattfindet, sondern über Aushandlungsprozesse Veränderungen bei PolitikerInnen, RepräsentantInnen des Staates etc. einschließt. Diese zentrale Dimension des politischen Wandels werde ich im Folgenden auf Grundlage der Analyse neuer Typen politischer Akteure und der „Nicht-Organisation“ von MigrantInnen eingehender analysieren.

7.2 D IE B EDEUTUNG NEUER ( PARTEI -)POLITISCHER AKTEURE Wie die Analyse der Wahlkampfveranstaltung in El Thonxi zeigt (s. Kap. 5.1.3), existieren unterschiedliche Vorstellungen von Politik und damit auch verschiedene politische Handlungslogiken. Diese können grob bestimmten Gruppen zugeordnet werden, auch wenn sich die alltagspolitischen Strategien (im Sinne von popular modes of political action) einfacher BürgerInnen und von Dorfgemeinschaften oft gerade durch die Kombination einzelner Elemente dieser Handlungsrationalitäten auszeichnen. Wie ich gezeigt habe, wird bspw. häufig versucht sich in den politischen Interaktionen abzusichern, um nicht die eigene Position zu gefährden. Einerseits, weil die alten Handlungsmuster bekannt und eingeübt sind und daher Reaktionen der Gegenseite besser abgeschätzt werden können, denn die Spielregeln der Interaktion sind

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allgemein geläufig, was allen Beteiligten die Teilnahme erleichtert. Andererseits wahren manche BürgerInnen durch die Einhaltung hergebrachter Aushandlungsregeln einen Freiraum. Entsprechend dem Konzept der public und hidden transcripts (Scott 1990) wird öffentlich die Einhaltung der Regeln postuliert. Der hinter dieser Grenze gewahrte Raum kann genutzt werden, um entsprechend alternativer Rationalitäten zu handeln. Daher ist die konkrete Form politischer Interaktionen zwischen einzelnen Akteuren stark situativ bedingt und kontextabhängig und spiegelt einen fortwährenden Abwägungsprozess wieder. In meinem Fall ist jedoch eine Erweiterung der hidden transcripts zu erkennen. Deutlicher als dies bei Scott der Fall ist, steht nicht nur die Verteidigung des eigenen Raums mit eigener Kultur, Lebensweise usw. im Zentrum, sondern der Prozess ist hier stärker im Sinne eigenen Gestaltungsvermögens zu verstehen. Statt rein zur Verteidigung, entstehen in diesem Spielraum neue Logiken und Interaktionsmodi und werden mit der Zeit gefestigt. Das ist allerdings oft ein unbewusster Prozess, denn diese Entwicklung wird in alltäglichen Interaktionen an diversen Schnittstellen ausgehandelt, was einer langsamen gesellschaftlichen Transformation entspricht. Entsprechendes habe ich für die Repräsentationen und Inszenierungen der Dorfgemeinschaft diskutiert und die gleiche Handlungsrationalität findet sich auch auf höheren Ebenen. Bei der Analyse beider Strategien, der Einhaltung etablierter Regeln und der Nutzung von Freiräumen, wird deutlich, dass im Gegensatz zu einfachen klassischen Klientelbeziehungen Klienten nicht völlig durch die Abhängigkeit von einem Patron geleitet und gewissermaßen kontrolliert werden. Stattdessen nutzen die BürgerInnen ihre Handlungsmacht, indem sie den „Políticos“, dort wo es für sie sinnvoll ist, die (vorgebliche) Akzeptanz der überkommenen Regeln signalisieren. Der Freiraum, den sie dadurch bewahren, dass nicht jegliche Regeln gebrochen werden, bedeutet auch eine Komplexitätsreduktion für den alltäglichen Umgang im politischen Raum. Die beteiligten Akteure müssen sich in Interaktionen nicht immer völlig neu orientieren, sondern können auf gewohnte Handlungsregeln und Interpretationsmuster zurückgreifen. Damit wird eine offene Neuaushandlung vermieden, die verschiedene Probleme mit sich brächte, da sie zu leicht als Rebellion interpretiert, zu einem unerwarteten Ausgang der Interaktion oder zu einer spannungsgeladenen Atmosphäre führen kann. Durch die situative Anpassung der Aushandlungsstrategien werden also zum einen alternative Wege offengehalten und zum anderen die mögliche Zahl konfliktiver Interaktionen reduziert. Dies erlaubt BürgerInnen in für sie wichtigen Situationen Strategien zu verfolgen, die mit überbrachten Herangehensweisen brechen, ohne sich sofort für weitere Interaktionen zu disqualifizieren. So wird die Dynamik der Encounters at the Interface (Long 1989; 2001) in eine Transformation der lokalen Modi politischen Handelns und damit auch von Politik an sich umgesetzt. Dies beeinflusst bspw. die Position der Maestros Bilingues, die zumindest zum Teil beide Logiken kennen und als klassische Broker zwischen den unterschiedlichen Ebenen vermitteln können, falls sie sich auf den Wandel einstellen.

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An diesem Punkt wird die breite Basis des Wandels politischer Aushandlungsmodi deutlich. Die teilweise Ablösung von überbrachten Logiken, die meist im Sinne der hidden transcripts akzeptiert wurden, hängt nicht bloß mit Erfahrungen im Rahmen sozialer Bewegungen oder dem Einfluss globaler Diskurse zu Demokratie zusammen. Vielmehr fußt dieser Prozess auch in einer geringeren ökonomischen Abhängigkeit vom Staat und seinen Repräsentanten, die sich auf einem gestiegenen Bildungsniveau und transnationalen Ressourcenflüssen gründet. So steht ein bedeutender Teil der DorfbewohnerInnen, darunter etliche Frauen, in formalen Beschäftigungsverhältnissen, was noch vor 15-20 Jahren kaum vorkam. Da viele junge Frauen und einige Männer studieren, steht zu erwarten, dass diese Gruppe mit geregeltem Einkommen weiter wachsen wird. Diese Tatsache hat in Verbund mit den finanziellen Remissen der MigrantInnen die Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung und damit deren Wert sinken lassen (vgl. Kap. 6.2). Zudem verändert sich mit dem höheren Bildungsniveau bei einigen BürgerInnen das Verständnis von Politik und damit ihre Sicht auf lokale Politiker und die Interaktion mit diesen, was wiederum durch den Fluss von Ideen, Vorstellungen und Sichtweisen innerhalb der transnationalen Räume unterstützt wird, die meist den Charakter sozialer Remissen (Levitt 1998; Levitt/Lamba-Nieves 2011) haben. Gleichzeitig sind viele Politiker durch diese Brüche irritiert und klammern sich an Situationen in denen alte Regeln befolgt werden. So können sie, selbst wenn sie den Wandel wahrnehmen, ihren eingeübten Handlungs- und Interpretationsmustern folgen und sich auf die intakten Elemente ihrer politischen Netze stützen. Eine wichtige Mittlerfunktion haben hier weiterhin die Líderes, entweder klassisch die Maestros Bilingues oder neuerdings die Licenciados. Einige sind stark überbrachten Denkmustern verhaftet, aber etlichen sind beide Logiken zu einem gewissen Maße geläufig und sie verstehen dieses Potential zu nutzen, auch wenn sie tendenziell eher klassische Logiken vertreten, um ihre Position abzusichern. Daher werden sie wie beschrieben stark mit „der Politik“ identifiziert. Für sie entsteht eine problematische Situation, wenn Brüche zwischen den Handlungslogiken offensichtlich werden, sich also beispielsweise eine Gruppe von BürgerInnen entscheidet mit üblichen Handlungsmustern zu brechen. Dann wird versucht, die als rebellisch begriffenen Handlungen spezifischen Personen oder Gruppen zuzuschreiben und sie als abweichendes Verhalten darzustellen, aus dem angeblich keine allgemeingültigen Schlüsse zur politischen Lage gezogen werden können. Dies geschieht auf allen Ebenen, wie ich beispielhaft für die Fälle der PRD-Anhänger in El Thonxi und der Dorfgemeinschaft von Barranca Empinada, als früherer Trägerin einer Protestbewegung mit heutiger Fremdzuschreibung als PRD-Dorf, analysiert habe. Ebenfalls auf allen Ebenen werden Frauen, die aus den erwarteten Verhaltensmustern fallen, regelmäßig als rebellisch, unberechenbar und gleichzeitig unkundig eingeschätzt. Aktive Frauen werden häufig für Konflikte verantwortlich gemacht und dienen als Sündenböcke für nicht regelkonformes oder nicht erklärbares Verhalten. In den Dorfgemeinschaften äußert

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sich dies in dem Ausdruck Viejas Criticonas mit dem sich manche Frauen selbst bezeichnen, wenn sie ironisch auf Reaktionen der Männer anspielen. Denn Líderes versuchen so ihr Gesicht und damit ihre Position vor höhergestellten Políticos zu wahren und weiter ein vorgeblich normales Bild ihrer Gemeinschaft zu präsentieren, in dem kritische Frauen störend wären. Es sind aber keinesfalls alle politischen Akteure durch die Veränderungen überfordert, sondern vielen gelingt es gut sich darauf einzustellen und für neuere Logiken anschlussfähig zu werden. Ein Beispiel dafür ist der Licenciado Horacio, der für den Consejo Supremo Hñähñu (CSH) arbeitet. Diese regionale Organisation wurde ursprünglich gegründet, um in klientelistischer Manier und über die Instrumentalisierung ethnischer Identitätsbildung WählerInnen an eine bestimmte Strömung der früheren Staatspartei PRI zu binden. Dies geschah und geschieht weitgehend auf die analysierte klassisch-klientelistische Weise, so durch Spenden von Baumaterialien und die Vermittlung staatlicher Leistungen wie Projektmittel oder Stipendien in Dörfer. Geleitet wird diese Organisation von erfahrenen Politikern des klassischen Typs, die in der Regel Maestros Bilingües sind bzw. waren. In manchen Bereichen richtet sich diese Organisation aber neu aus. So sah sie sich gezwungen darauf zu reagieren, dass im Rahmen der Migrationsprozesse immer mehr Menschen ihren Einflussbereich verließen. Dabei wurde erkannt, dass die MigrantInnen und ihre Familien spezifische Anliegen haben. Dies führte zu einer Öffnung des CSH, der jetzt in vielerlei Angelegenheiten Unterstützung bietet, wie bspw. bei Problemen von Familienangehörigen in den USA oder der Legalisierung eingeführter Fahrzeuge. Zudem stellt er ein besonderes Ausweisdokument aus, das von lokalen Behörden, Polizeidienststellen, Banken und Unternehmen in Clearwater, Florida, akzeptiert wird (Schmidt/ Crummett 2004). Dabei tritt der CSH weiterhin meist in der Art eines Dienstleisters als Vermittler für andere, in der Regel staatliche, Institutionen auf. Diesen Dienstleistungscharakter, der zwar paternalistische Züge trägt, aber ansonsten deutlich von der sonst üblichen Interaktion mit Politikern oder parteinahen Organisationen abweicht, konnte ich bei einem Besuch im Büro des CSH beobachten: Als wir im Büro des CSH eintrafen war das kleine Empfangsbüro recht voll und wir wurden sofort gefragt, wie man uns helfen könne. Ein Mann begrüßte uns sehr freundlich und mit aufmunternden Gesten, während die Sekretärin eher steif wirkte und sofort fragte, warum wir mit Horacio sprechen wollten. Schließlich wurden wir zu der Person geführt, die für die Betreuung der MigrantInnen zuständig ist [die wir aber eigentlich nicht suchten]. Dort saßen zufällig die Delegadas aus Barranca Empinada, deren Gespräch mit den CSH-Funktionären ich kurz beobachten konnte. Sie fühlten sich offensichtlich gut aufgenommen und beraten. Der Wortwechsel mit der Frau, die das Gespräch führte, und ihrem Assistenten wirkte sehr entspannt und freundlich. […] Wir kehrten in das erste Büro zurück und obwohl wir uns nach Horacio erkundigten, wurden wir von der Sekretärin gefragt, ob wir die Halterschaft eines importierten Autos in Ordnung bringen wollten. Offenbar fragen viele Besucher erst nach einer ganz bestimmten,

276 | D OING D EMOCRACY IN INDIGENEN D ORFGEMEINSCHAFTEN ihnen vom Namen her bekannten, Person, ohne direkt ihr Anliegen angeben zu wollen. Insgesamt wirkten alle CSH-MitarbeiterInnen sehr aufmerksam und schienen auf ihre Dienstleistung bedacht zu sein. Zudem waren sie es offensichtlich gewohnt Besucher direkt anzusprechen, wenn sich diese nicht trauten unaufgefordert zu sprechen. Als wir uns später mit den Delegadas von Barranca Empinada unterhielten [wir hatten ihnen angeboten sie nach Hause zu fahren] bestätigten sie, dass sie sich dort gut beraten fühlten und gerne den CSH aufsuchten, um in konkreten Angelegenheiten Unterstützung einzuholen. An diesem Tag waren sie dort gewesen, weil ein Migrant in den USA gestorben war und sie wollten für die Überführung die Hilfe des CSH erbitten, die ihnen problemlos gewährt worden war. Die Frauen erklärten mir, dass man in solchen Fällen den CSH aufsuchen kann, der sich dann mit dem Büro zur Unterstützung der Migranten im Entwicklungsministerium des Bundesstaates in Verbindung setzt und alles regelt. Ihnen war also klar, dass es sich nicht um eine Gefälligkeit des CSH handelte, sondern dieser als Vermittler fungierte. Politische Distanz zum CSH oder grundsätzlicher die politische Facette der Arbeit des CSH war für diese Frauen offenbar irrelevant. Entscheidend ist, dass sie sich, soweit ich das beurteilen kann, nicht in parteipolitischer Hinsicht beeinflussen ließen. Sie nutzten den CSH tatsächlich als einen Dienstleister. Die Líderes in Barranca Empinada wie Sebastián waren hingegen der Meinung man dürfe sich gar nicht mit dem CSH einlassen. [Besuch CSH]

Damit der CSH auf diese Weise arbeiten kann, werden Mitarbeiter wie Horacio gebraucht, die anders auftreten als es BürgerInnen von Politikern und deren Helfern gewohnt sind. Gerade Horacio macht immer einen sehr freundlichen und hilfsbereiten Eindruck und behandelt Personen die sich an ihn wenden zuvorkommend und offenbar ohne Unterschiede zu machen. Hingegen wirken klassische Politiker oft überheblich und lassen ihre Macht und ihren Status spüren, während ihre Assistenten sich sehr nach der äußeren Erscheinung und dem Auftreten der BügerInnen richten und sie meist als Bittsteller behandeln. Für seine abweichende Haltung ist Horacio in der Region erstaunlich bekannt und beliebt.2 Innerhalb einer gleichen Partei oder Organisation existieren also ganz unterschiedliche Handlungslogiken und Sichtweisen. Politiker wie Horacio sind dabei bevorzugte Ansprechpartner für alle neuen Akteure bzw. all jene, die aus dem klassischen Schema herausfallen. So können diese „neuen Politiker“ bspw. gerade Frauen eine Anlaufstelle bieten, die in den überbrachten politischen Interaktionsmodi Schwierigkeiten haben ihren Raum zu finden. Dagegen sind auch viele der oppositionsnahen Aktivisten und Politiker, die sich gerne progressiv und demokratisch geben, in ihren politischen Strategien gegenüber Frauen eher festgefahren. Es gelingt ihnen nicht angemessen auf sie einzugehen. 2

Dieses Verhalten kam auch meiner Forschung zugute, weil Horacio einer der wenigen Professionellen in der Politik war, die relativ direkt und offen mit mir über seine Arbeit und die Politik in der Region sprachen.

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Auch wenn es so erscheinen mag ist die Interaktionsweise neuer politischer Akteure wie Horacio allerdings keineswegs ein radikaler Bruch mit den bisherigen Strategien ihren Parteien bzw. Organisationen. Im Kern wird zunächst bloß der bisherige klientelistische Grundgedanke mit einem neuen korporatitivistischen Umgang verbunden. Die Beziehung zwischen den beteiligten Akteuren wird also nicht zwingend demokratischer, denn sie behält einen paternalistischen und im Zweifelsfall auch klientelistischen Charakter. Zudem wird dadurch, dass Akteure wie Horacio für mehr Gruppen anschlussfähig sind als klassische Politiker und ihnen ein größeres Vertrauen entgegengebracht wird, die lokale Handlungsmacht der Partei gestärkt. Sie ist über diesen Akteurstyp in der Lage größere Teile der BürgerInnen anzusprechen, was ihre Position stärken kann. So wird hier Klientelismus in gewissem Sinne modernisiert, was sowohl eine Stabilisierung der Dominanz der Partei aber auch allgemein des politischen Systems zur Folge haben kann. Es bleibt aber zu beobachten, wie sich dieser Prozess in Zukunft entwickelt. Außerdem kann nicht unbedingt unterstellt werden, dass Horacio das System bewusst tragen will. Wie andere politische Akteure auch mag er in einer Betätigung innerhalb dieser parteinahen Organisation einfach eine erfolgversprechende Möglichkeit sehen, etwas für die Menschen in der Region zu tun und versteht sich als engagierter Mittler zwischen Politik bzw. Behörden und den BürgerInnen in der Region. Und als solcher ist er für die Partei sehr wichtig und kann entsprechend frei agieren.

7.3 „P OLITISCHE “ G ESCHLECHTERVERHÄLTNISSE AUF VERSCHIEDENEN E BENEN – F RAUEN ALS AGENTINNEN DES W ANDELS Zu den neuen politischen Akteuren, die für Parteien wichtig sind, gehören neben Typen von Politikern wie Horacio auch politische Aktivistinnen. In meinem Feld war der Fall von Dorothea ein klarer Beleg dafür, denn sie war in der Lage, Gruppen anzusprechen und zu mobilisieren, die für andere Politiker höchstens über klassischpaternalistische Beziehungen zu erreichen waren. Diese paternalistischen Elemente bestehen zwar fort, aber durch lokale Aktivistinnen können die Wählerinnen stärker gebunden werden, wie Dorotheas Wahlempfehlung zeigt. Daher ist die Arbeit solcher Personen sehr wichtig, auch wenn sie nicht die angemessene Wertschätzung durch die Parteiführung erhält. Dorothea selbst beschreibt ihre Aktivitäten und ihre Position in der Partei folgendermaßen: Sie erzählt etwas von ihrer Parteiarbeit in El Thonxi. So hält die Parteiführung sie für ihre Ansprechspartnerin im Ort und geht davon aus, dass sie viele Menschen mobilisieren kann. Sie sagt, dass sie dies gar nicht mit großem Nachdruck tut, aber den Vorteil hat, dass mit ihr alleine

278 | D OING D EMOCRACY IN INDIGENEN D ORFGEMEINSCHAFTEN schon aus der Familie viele Menschen zum Wahlbüro mitfahren und die Wahlbeobachter der PRI dann davon ausgehen, dass sie diese alle mobilisiert hätte, um für die PRI zu stimmen. […] Später erzählt sie dann weiter von ihrer Position in der Partei und spricht dabei auch von Geheimtreffen, die eher kurzfristig nach informeller Einladung in Privathäusern stattfinden. Es scheint sich dabei um eine Art Strategietreffen der bedeutenderen Personen in der Partei zu handeln. Ihre Teilnahme an diesen Treffen kann als eine Auszeichnung angesehen werden. Solche Dinge erzählt sie leicht amüsiert mit einem Schmunzeln. Sie scheint eine gewisse Distanz zu den Parteiführern bzw. zu der Politikform zu haben, und vieles eher lächerlich zu finden, selbst aber der Meinung zu sein, die Regeln und Denkweise verstanden zu haben und es in ihrem eigenen Sinne und soweit sie will mitspielen zu können.

Somit ist Dorothea eine wichtige Akteurin, die Stimmen für die Politiker mobilisiert, aber auch die Partei im Alltag präsent hält. Sie selber profitiert im Gegenzug von einer veränderten Position in der Gemeinschaft und einer gewissen Anerkennung innerhalb lokaler Parteikreise, aber vor allem unter Parteigängern im Ort. So wird sie von den lokalen Líderes häufig konsultiert und in Grenzen als ihresgleichen behandelt. Zudem kann sie aus alltäglichen (weiblichen) Routinen ausbrechen und im Rahmen ihrer politischen Tätigkeit bspw. oft die Comunidad verlassen und hat größere Freiräume, als im direkten Einflussbereich der dörflichen sozialen Kontrolle. Eine ähnliche Position als neue politische Akteure haben auch die Frauen in Barranca Empinada, die in die Ämter der Delegación gewählt wurden. Auch in ihrem Fall zeigt sich die Bedeutung als Mittlerinnen, zwar nicht in politischen Netzen außerhalb des Dorfes, aber umso bedeutender in dem Versuch die gespaltene Gemeinschaft wieder zusammenzuführen. Ein zentraler Punkt ist, dass Frauen oft mehr im Alltag der DörflerInnen verankert sind. Ihre politischen Aktivitäten und Ansprüche wirken daher nicht so abgehoben, wie bspw. die der Líderes. Oft nutzen sie ihre Tätigkeit in der Dorfgemeinschaft, um politische Interaktionsregeln einzüben und sich politisch zu positionieren, woran dann weitere Aktivitäten anschliessen. Ihre Teilhabe in informellen Sphären der Gemeinschaft bietet ihnen also Erfahrungen und Kenntnisse, die sie in gewissem Maße in politische Aktivitäten umsetzen können. Auch wenn dies ursprünglich nicht so vorgesehen und eher eine Nicht-Anerkennung dieser als weiblich belegten Tätigkeiten vorherrscht, bieten sie doch im Rahmen der geschlechtsspezifische Strukturierung des politischen Feldes Grundlage und Handlungsspielraum für anderes. So wurde Dorothea rekrutiert und auch die Frauengruppe aus Barranca Empinada wurde deshalb gewählt, selbst wenn sie es ablehnen, sich einer Partei anzuschliessen. Die an anderer Stelle (Kap. 4.4.2) analysierte Teilhabe von Frauen an der dörflichen Organisation hat so eine gewisse Entsprechung auf höheren Ebenen. Es existiert eine geschlechtsspezifische Trennung zwischen den Formen in denen lokale Bürgerschaft praktiziert wird. Die Bürgerschaft der Frauen kann mit Goldring (1998) als

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praktische Bürgerschaft bezeichnet werden, was der Ausübung der sozialen Aufgaben innerhalb der Gemeinschaft entspricht. Männer sind vorwiegend in den formalen Bereichen aktiv, die mit einem hohen Status verbunden sind, während Frauen eher eine soziale Bürgerschaft erfüllen, die sich vorrangig auf alltägliche Aspekte der Gemeinschaft bezieht. Diese Feststellung, die Goldring auf mexikanische Migrantengemeinschaften bezieht, lässt sich auf verschiedene Bereiche in Mexiko (zurück) übertragen. Zudem entspricht dieses Phänomen einem global verbreiteten Modell (s. Lachenmann 2004). Männer sind eher Sprecher der Gemeinschaften, selbst wenn sie gerade kein Amt bekleiden, und sind es daher gewohnt, mit Funktionären und Politikern zu interagieren, während Frauen für soziale Fragen und die alltägliche praktische Erhaltung der Gemeinschaft zuständig sind. Dieses geschlechtsspezifische Muster bürgerschaftlicher Aktivitäten findet Entsprechungen auf höheren Ebenen, bspw. wenn weibliche Politikerinnen oder Staatsbedienstete eher für soziale Aufgaben zuständig sind. Andererseits findet sich im Vergleich mit Goldrings Untersuchung (2001), in der Männer vorwiegend mit der Politik des Herkunftslandes interagieren, Frauen dagegen mehr in sozialen Programmen des Ankunftslandes aktiv sind, in dem von mir untersuchten Kontext ein gewisser Unterschied. Zwar ist das Muster im Prinzip gleich, die entscheidende Frage ist jedoch, ob Frauen nicht beginnen aus diesem Schema ausbrechen. Findet eher ein Wandel ihrer Position statt oder kommt ihre Beteiligung einer Bestätigung des bisherigen Schemas gleich? Es existieren Hinweise für Prozesse in beide Richtungen. Die weiblichen Formen von Engagement, die ihrer Art von Bürgerschaft entsprechen, können als female modes of politcal action angesehen werden, die aus Frauenräumen heraus erwächst. Ein weiterer Grund aus dem besonders Frauen zum sozialen Wandel in den Comunidades beitragen trifft auch auf andere Ebenen zu. Meine Analyse des Wandels der Geschlechterverhältnisse in den untersuchten Dörfern hat gezeigt, dass sich viele Diskontinuitäten gerade dort ergeben, wo die dahinter stehende Geschlechterordnung (neu-)ausgehandelt wird. Dies zeigt sich bspw. deutlich im Kontext des steigenden Bildungsniveaus und der ursprünglich damit einhergehenden Konflikte und der als kritisch angesehenen Frauen. Auch wenn es sich um eher neue Phänomene handelt, sind die zugrunde liegenden Brüche immer Teil der Geschlechterverhältnisse gewesen und an diesen Stellen setzt sich aktuell der Prozess sozialen Wandels in den Dorfgemeinschaften fort. Da dies in einer langwierigen Aushandlung geschieht, die für die beteiligten Frauen mit Konflikten verbunden war, wurden weitere Veränderungen in anderen Bereichen vorstellbar. Schließlich waren viele Frauen tagtäglich in die fortwährende Aushandlung von Möglichkeiten involviert. Für die aktuelle Situation bedeutet dies, dass einige Frauen nicht mehr bereit sind alles hinzunehmen, sondern mittlerweile Erfahrung darin haben, mit Spott, Vorurteilen, Unverständnis, Kritik, unfairer Behandlung etc. umzugehen. In ihrem Alltag haben sie gelernt solche Situationen, Konflikte und die damit verbundene Anspannung auszuhalten. Sobald sie von den bestehenden Normen abwichen, mussten sie eine gewisse Stärke gegenüber

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Anfeindungen entwickeln. Weitere Konfrontationen, z.B. um den Töchtern eine formale Bildung zu ermöglichen, wurden offenbar bloß als geringe Verschärfung der schwierigen Lage empfunden. Da sie bereits in einer konfliktreichen Situation lebten, wurden die weiteren Auseinandersetzungen in der Hoffnung eingegangen, dass wenigstens die Töchter bessere Zukunftsperspektiven haben würden. Über den privaten bzw. familiären Bereich hinaus bilden diese Erfahrungen bei vielen aktiven Frauen eine wichtige Ressource, um mit Vorurteilen in der dörflichen Selbstorganisation und im politischen Feld umzugehen. Viele (männliche) politische Akteure sehen Forderungen nach Teilhabe durch Frauen, aber auch deren Verhalten und oft sogar ihre bloße Präsenz in entsprechenden Räumen als Regelverstoß. Dadurch werden Interaktionen im politischen Feld oft spannungsgeladen und teils konfliktiv. Da aber solche Situationen zur alltäglichen Lebenswelt vieler Frauen gehören, fällt es ihnen etwas leichter damit umzugehen, so weit sie von der Notwendigkeit oder der Rechtmäßigkeit ihrer Teilnahme überzeugt sind. So wird die Existenz der „rebellischen Frauen“ überhaupt erst durch die im Alltag eingeübte Fähigkeit möglich, schwierige Situationen zu bewältigen. Dies ist letztlich ein wichtiges Element sozialen und politischen Wandels, denn ein bedeutender Teil der politischen Transformationen wird davon getragen oder zumindest bestärkt. Aufgrund der in diesen biographischen Erfahrungen sichtbaren Ausdauer und Konstanz können diese Frauen als zentrale Agentinnen des Wandels angesehen werden. Als Reaktion auf die Teilnahme von Frauen hat sich jedoch in der dörflichen Organisation und im politischen Feld eine Gegenströmung entwickelt, die sich stereotyper Frauenbildern bedient, um aktive und interessierte Frauen entweder als inkompetent oder unweiblich abzustempeln. Dabei treffen selbst im politischen Feld gut eingebettete und akzeptierte Frauen auf Widerstände und Probleme, die mit den Sorgen über mögliche Regelverletzungen zusammenhängen. Selbst einer innerhalb ihrer Partei anerkannten Alltagspolitikerin wie Dolores wird von einigen Verwandten der Vorwurf gemacht zu oft abwesend zu sein, sich nicht ausreichend um die Tochter zu kümmern und sowohl ungewöhnlich als auch unnötig spät nach Hause zu kommen. Bei dieser Kritik wird meist die Sorge vorgeschoben, die anderen Dörfler könnten schlecht über sie reden.

7.4 D IE

UNMITTELBARE A NSPRACHE BUNDESSTAATLICHER I NSTANZEN

Eine weitere Interaktionslinie die diverse Ebenen übergreift, besteht in Fällen in denen sich EinwohnerInnen eines Dorfes unter Umgehung der Autoridades direkt an Institutionen bzw. Personen auf bundesstaatlicher oder nationaler Ebene wenden. Diese Fälle sind relativ selten, kommen mittlerweile aber gehäuft vor und führen zu

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Konfrontationen innerhalb der Gemeinschaften, in deren Folge die Regeln der dörflichen Organisationen bestätigt werden müssen. Sie zeigen zum einen wie externe Diskurse interne Aushandlungen und die Logiken einzelner Akteure beeinflussen und zum anderen, dass durchaus Möglichkeiten existieren, sich an externe Akteure zu wenden. Während meines ersten Feldforschungsaufenthaltes war eines der wichtigsten Themen in El Thonxi ein interner Konflikt mit den beiden protestantischen Familien des Ortes. Diese wollten angeblich Projekte der Gemeinschaft nicht mittragen, was als Angriff auf die dörfliche Organisation und letztlich die Comunidad als solche angesehen wurde. Tatsächlich hatte aber die Dorfversammlung beschlossen, dass zum Bau einer katholischen Kirche im Ort alle BügerInnen, auch die protestantischen, einen finanziellen Beitrag zu leisten hatten. Dies wurde damit begründet, dass es sich um ein repräsentatives Projekt handle mit dem das Ansehen des Dorfes bei Auswärtigen steigen würde. Dies entspricht der Logik von Entwicklung als Inszenierung des Fortschritts des Dorfes durch sichtbare Projekte sowie dem latenten Anspruch einer relativ homogenen und geeinten Comunidad. Die protestantischen Familien weigerten sich jedoch den geforderten Beitrag für ein fremdes Gotteshaus zu leisten. Daraufhin eskalierte die Situation, denn sie wurden mit den üblichen Sanktionen bedroht, während sie (vorläufig) nicht mehr ihren übrigen Pflichten in der Gemeinschaft nachkamen. Schließlich wandten sie sich mit dem Vorwurf diskriminiert zu werden zunächst an den Bürgermeister und dann an die Menschenrechtskommission des Bundesstaates. In einem Gespräch berichtete eine meiner Informantinnen: „[Der Ciudadano einer der protestantischen Familien] ist zur Gemeindeverwaltung gefahren und hat dort mit dem Bürgermeister gesprochen. Er hat um ein Schreiben gebeten, das sie von der Zahlung der Cooperaciones für die Kirche befreit. Sie meinen sie hätten nichts mit dem Kirchbau zu tun und müssten daher nicht zahlen. […] Die Leute meinen, dass sie ruhig nicht zahlen sollen, aber dann sollen sie auch auf sämtliche Servicios verzichten. Sie stellen sich dann selbst außerhalb der Gemeinschaft.“ [Mariana]

Ein solches Vorgehen einzelner Gruppen ist ungewöhnlich, gehört aber offensichtlich zum aktuellen Handlungsrepertoire im Fall interner Konflikte. Die Art in der Petitionen an entsprechende Stellen herangetragen werden, orientiert sich an der bekannten Vorgehensweise der Comisiones, die als Muster für die Interaktion mit externen Stellen gilt. Allerdings geschieht dies hier ohne Zustimmung oder Auftrag durch die Dorfgemeinschaft. Aufgrund dieser Umstände werden solche direkten Petitionen sehr kritisch gesehen, denn es wird befürchtet, dass ein schlechter Eindruck entsteht. Dabei geht es weniger um ein schlechtes Bild des internen Umgangs mit Minderheiten im Dorf, vielmehr wird befürchtet, dass der Eindruck einer Gemeinschaft entsteht, die weder ihre Probleme selbst lösen kann, noch dazu in der Lage ist

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geschlossen aufzutreten. Dies könnte die Position der Gemeinschaft in zukünftigen Aushandlungen schwächen. Zudem wird dieses Vorgehen als Verstoß gegen allgemein akzeptierten Regeln und Vorgehensweisen verstanden (vgl. Kap. 3.1.2). Dieser Bruch mit den lokalen Normen wird von diversen Akteuren aus jeweils unterschiedlichen Gründen abgelehnt. Die Mehrheit der Dorfbewohner interpretiert ihn als Verweigerung einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft, denn die Beschlüsse der Dorfversammlung werden ignoriert und stattdessen versucht von einer äußeren Instanz Recht zu bekommen, die aus der Gemeinschaftslogik heraus nicht zuständig sein kann. Aus dieser Perspektive wird so die Möglichkeit einer Schlichtung verbaut, die im Sinne eines Konsens die Grundlage für das weitere gemeinsame Zusammenleben im Dorf sein muss. Akteuren die dieser Vorstellung zuwider handeln wird, wie den Protestanten in El Thonxi, folglich oft vorgeworfen, sich für etwas Besseres zu halten und daher nicht die Beschlüsse der Dorfgemeinschaft zu akzeptieren. Für die gewählten Amtsträger des Ortes und die Líderes kam die Aktion der Protestanten darüber hinaus einem Angriff auf ihre Position gleich. Da sie eigentlich für die Kommunikation mit der Außenwelt zuständig sind, sahen sie ihre Stellung missachtet. Ihr Pochen auf die Regeln zeigt, dass sie sich auch um einen Kontrollverlust über Interaktionen mit externen Akteuren sorgen, was insbesondere ihre Machtposition gefährden würde. Es wird nämlich nicht nur ihre Vorstellung vom Sinn der Dorfgemeinschaft in Frage gestellt, sondern es kann der Eindruck entstehen, dass sie nicht mehr als Mittler benötigt werden. Dadurch würden sie de facto einen großen Teil ihrer Macht verlieren. Diese Sorge der Líderes ist zwar meiner Einschätzung nach übertrieben, aber solche Auseinandersetzungen tragen zur Erosion ihrer Stellung bei, u.a. weil ihre Bedeutungsgebungen und damit ihr Wissenssystem an Dominanz verlieren. Denn letztlich ist ihre Machtpostition eng an ihre Definitionsmacht als gebildete und erfahrene lokale Akteure gekoppelt. Die Implikationen der direkten Ansprache externer Akteure bleiben jedoch nicht auf den Rahmen der Dorfgemeinschaft beschränkt, sondern betreffen auch Schnittstellen zu höheren Ebenen. So ist es ein indirekter Angriff auf ihre Autonomie, wenn die Repräsentation der Gemeinschaft geschwächt wird. Wenn signalisiert wird, dass die Dorfgemeinschaft ihre Angelegenheiten nicht selbst regeln kann und Interventionen von außen notwendig sind, widerspricht dies dem Bild einer autonomen Gemeinschaft. Dies kann den Vorwand für die fortgesetzte Einmischung externer Akteure bieten. Letzten Endes stellt sich dann für die Dorfgemeinschaft die Frage „quién manda?“ (wer bestimmt?). Dies zeigt ein Kommentar der oben genannten Informantin: „Der Bürgermeister hat noch nichts in dem Fall entschieden, aber es geht ihn auch nichts an, weil es nicht in seine Kompetenzen fällt. Dies ist eine Angelegenheit des Dorfes.“ [Mariana]

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In der Haltung der ProtestantInnen zeigt sich dagegen die Aneignung globaler Diskurse auf lokaler Ebene. Sie bezogen sich auf ihr in der mexikanischen Verfassung verbrieftes universelles Grundrecht der freien Religionsausübung, das sie durch die Aufforderung zur Beteiligung am Bau der katholischen Kirche verletzt sahen. Dieses Recht stand der absoluten Hoheit der Dorfgemeinschaft in der Organisation und Finanzierung dieses Projekts gegenüber. Der Rückgriff auf einen nationalen Diskurs, der gegen die Institutionen des Dorfes gerichtet wird, ähnelt der Debatte die in Mexiko über indigene Gruppen und ihre Lebensweise geführt werden. In diesem Diskurs werden die Usos y Costumbres als rückständig, willkürlich und den Menschenrechten widersprechend angesehen. Dies fügt sich in ein Zerrbild von indigenen Gemeinschaften als traditionalistischen und vormodernen Einheiten deren Mitglieder von der Mehrheit tyrannisiert werden (vgl. Gabbert 2007). Dieser Diskurs wird auch in der Region aufgenommen, meist von Akteuren, die politischen Einfluss in den Dorfgemeinschaften gewinnen wollen, indem sie versuchen deren Selbstorganisation und Autonomie zu schwächen. Obwohl sich das neue Bewusstsein für Heterogenität in den Dorfgemeinschaften immer wieder in Ungleichbehandlungen und Konflikten niederschlägt, wie auch verschiedene von mir analysierte Fälle zeigen, ist Diskriminierung allerdings weder eine zwingende noch übliche Folge dieser Art dörflicher Organisation. Trotzdem wird dieses Denkschema in lokalen Fällen aufgenommen und auf den vorgeblichen Widerspruch zwischen allgemeinen Bürger- und Menschenrechten und den Regeln der dörflichen Selbstorganisation verwiesen. Zum Schutz gegen die Verletzung eigener Rechte werden dann staatlich legitimierte und als neutral verstandene Institutionen angesprochen. Im konkreten Fall wiesen die Autoridades aber ebenfalls auf den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Bürger im Ort hin. Für diese Gruppe war das Prinzip der Gleichheit in der Gemeinschaft entscheidend, wobei sie sich ebenfalls auf Normen von außerhalb des lokalen Rahmens bezog. Jeder Ciudadano hatte unabhängig von seinem Hintergrund, den gleichen Beitrag für Gemeinschaftsprojekte zu leisten. Hier zeigt sich, dass die Fiktion von Gleichheit und Einheit in der Comunidad eine Herausforderung für den internen Pluralismus ist. Der beiderseitige Rückgriff auf universelle Prinzipien führte in Verbindung mit der Unerfahrenheit des damaligen Delegados dazu, dass die Dorfversammlung, in der dieses Thema behandelt wurde, die spannungsreichste der von mir beobachteten war. Dabei hatte es mehrere überaus konfliktive Situationen während meiner Feldforschung gegeben. Die Einbindung externer Akteure sowie der Vorwurf die Grundlagen der dörflichen Organisation in Frage zu stellen, verschärften diesen Disput in beeindruckender Weise. Lokale Akteure, die sich in der Dorfgemeinschaft unterlegen fühlen, eignen sich also ggf. nationale Diskurse an, um ihre Position in Aushandlungen zu stärken. Gerade der Menschenrechtsdiskurs scheint durch seinen Universalitätsanspruch beson-

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ders dazu geeignet zu sein. Da diese Diskurse auch von staatlichen Institutionen anerkannt und verbreitet werden, sprechen sie diese direkt an, um ihr Recht zu verteidigen, was die Dorfgemeinschaft zwingt sich zu positionieren und in gewissem Maße auf die Abweichler einzugehen. Denn obwohl deren Verhalten deutlich verurteilt wird, sich die Gemeinschaft offen empört und der Anschein erweckt wird, dass sie sich nicht beeinflussen lässt, findet an den Interfaces doch eine dynamische Neuaushandlung der Beziehung zwischen beiden Seiten statt. Dies verdeutlicht erneut wie die Comunidad als Institution durch ihren flexiblen Charakter stabilisiert wird. So wurde auch im Fall der Protestanten in El Thonxi schließlich eine Lösung gefunden, die beide Seiten akzeptieren konnten, aber letztlich auch mussten. Jeder protestantische Bürger musste eine Cooperación zahlen. Diese war jedoch nur halb so hoch wie jene der Katholiken und es wurde vereinbart, dieses Geld für ein anderes Projekt zu verwenden. Damit erkannten die Protestanten symbolisch die Oberhoheit der dörflichen Institutionen und die Regeln der Gemeinschaft an, so dass die Grundlage der Selbstorganisation gewahrt blieb.

7.5 D IE (N ICHT -)O RGANISATION DER M IGRANT I NNEN IN H IDALGO Paradigmatisch für die oben diskutierten Transformationen sind auch transnationale politische Aktivitäten von MigrantInnen und ihrer Organisationen. Hier können die vielfältigen Interaktionen zwischen dieser relativ neuen Gruppe und Akteuren aus der (Partei-)Politik sowie staatlichen Funktionären in Mexiko und den USA untersucht werden. In beiden von mir untersuchten Gemeinschaften im Valle del Mezquital gab es zeitweilig Organisationsversuche von MigrantInnen. Die Grundlagen sind unterschiedlich, auffällig ist jedoch, dass es zu keiner dauerhaften eigenständigen Organisation kommt, wie sie für andere Fälle beschrieben wird (vgl. Kearney/Besserer 2003; Smith 2006.; Fox/Rivera-Salgado 2004; Gómez Arnau/Trigueros 2000; Rivera-Salgado 1999). Ebenso scheinen die meisten MigrantInnen im Bundesstaat keine Migrantenvereinigungen und Clubs zu gründen, denn es gibt nur einige wenige formale Organisationen (Escala Rabadán 2005; Schmidt/Crummett 2004). Das verwundert zunächst, da diese Art von Vereinigungen in der Migrationsliteratur zu Mexiko und besonders in der zu Transnationalität eine prominente Stellung einnimmt und sie oft als zentraler Typ des politischen Transnationalismus von MigrantInnen diskutiert wird. Diese Betrachtungsweise wird auch auf den Bundesstaat Hidalgo mit dem Valle del Mezquital angewandt und die wenigen existierenden Migrantenvereinigungen als Beleg dafür angesehen, dass sich dieses Organisationsmuster durchsetzen wird [Leiterin Cahidee]. Eine formalisierte starke Organisation, die dem Bundesstaat als gleichwertiger Partner gegenübertreten und ihre Interessen durchsetzen

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kann, wird als zentraler oder gar einziger Weg zu einer stärkeren politischen Partizipation der MigrantInnen gesehen. So werden sie als wichtiger Schritt in Richtung demokratischer Teilhabe, eines offenen politischen Systems und einer aktiven inklusiven Demokratie betrachtet und zudem als Indiz für einen migrantischen Teil der Zivilgesellschaft angesehen. Die Gründung formaler Migrantenorganisationen erscheint daher als Voraussetzung für die Schaffung demokratischer Verhältnisse und wird teils fast im Sinne eines Gradmessers für die Demokratisierung der Politik in Mexiko behandelt. Aus dieser Sichtweise heraus passt das „Fehlen“ von Migrantenorganisationen im Valle del Mezquital einerseits sehr gut zum klassischen Bild einer PRI-treuen und bis ins Mark klientelistischen Region, in der alternative und demokratiefördernde Tendenzen höchstens am Rande wirken können. Andererseits verwundert aber, dass diese MigrantInnen von dem für Mexiko als üblich begriffenen Schema abweichen. Sie schließen sich gerade nicht in festen Organisationen zusammen, weder um Projekte in ihren Herkunftsgemeinden und -orten zu initiieren und zu fördern, noch um Einfluss auf lokale und regionale Politik zu nehmen und mehr Teilhabe und Transparenz besonders in Bezug auf (Entwicklungs-)Projekte zu fordern, wie dies für den Bundesstaat Oaxaca und andere belegt ist (Kearney/Besserer 2003; Portes/Escobar/Walton Radford 2006). Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man die Handlungslogiken der MigrantInnen differenziert betrachtet. So ist es problematisch die Nicht-Existenz von Migrantenorganisationen als Indiz für fehlende politische Reife und demokratische Mängel anzusehen. Zudem fördert in Hidalgo gerade der Staat die Gründung formaler Migrantenorganisationen, offenbar im Versuch die eigene Macht zu erhalten. 7.5.1 Organisationsversuche in El Thonxi und Barranca Empinada Sowohl in Barranca Empinada als auch in El Thonxi hat es Versuche gegeben festere Migrantengruppen zu etablieren. Trotz einiger Unterschiede ist der zugrunde liegende Prozess ähnlich, denn sie orientierten sich immer an der Comunidad und deren Organisation. So sind sie eher Zeichen der transnationalen Ausdehnung der Gemeinschaften gewesen und bestanden nur für kurze Zeit. In Barranca Empinada versuchte ein älterer Migrant, über einen längeren Zeitraum MigrantInnen in den USA zu organisieren, um Projekte im Ort zu unterstützen und eigene Projektideen zu verwirklichen. Dazu sollte jede/r einen minimalen Anteil seines Verdienstes beisteuern. Auch wenn dies keinen nachhaltigen Erfolg hatte finanzierten einige MigrantInnen eine Musik- und Lautsprecheranlage für die Juntas und Veranstaltungen im Dorf [Sebastián]. Einen größeren Zuspruch erlebten Treffen in den USA, die in der Logik der Dorforganisation stattfanden. Dort tauschte sich ein

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größerer Teil der MigrantInnen und sammelte gelegentlich Geld.3 Auf dieser Grundlage wurde den Delegados von Barranca Empinada über Jahre hinweg eine Aufwandsentschädigung gezahlt, die sich in einer Größenordnung von mehreren tausend Peso bewegte. Begründet wurde dies damit, dass der Delegado während seiner Amtszeit nicht selbst migrieren konnte und auch andere mögliche Erwerbstätigkeiten vernachlässigen, gleichzeitig in seinem Amt aber höhere Ausgaben bestreiten musste.4 Allerdings wurde diese Praxis durch die Spaltung des Dorfes in Mitleidenschaft gezogen, so dass keine Treffen mehr stattfinden und auch Versuche der Formalisierung ruhen. Dennoch erhielt der Delegado zumindest im Jahr 2006 noch eine Zuwendung einer kleineren Gruppe von MigrantInnen, die aber bei weitem nicht die Höhe früherer Jahre erreichte. Die Mitglieder waren alle seiner Fraktion zuzurechnen und ich nehme an, dass auch der rivalisierende Delegado eine gewisse finanzielle Unterstützung aus den USA erhielt. In El Thonxi gab es ebenfalls Personen, die versuchten MitmigrantInnen von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich zu organisieren, um Geld für Projekte im Dorf zu sammeln. Hier wurde nie konkretisiert um welche Art von Projekten es ging, denn die Vorstellungen dazu waren offenbar noch nicht weit gediehen. Vermutlich hätten sie sich auf Bildung für Kinder und Jugendliche im Ort bezogen, z.B. durch die Einrichtung einer Bücherei. Obwohl der vorgeschlagene Betrag von 5 US-Dollar pro Woche relativ gering war, traf dies aber auf wenig Zustimmung. In den Migrations- und politischen Prozessen des Valle del Mezquital, lassen sich also Dynamiken erkennen die deutlich von den in der Migrations- und Transnationalitätsliteratur zu Mexiko oft genannten abweichen. Die meisten MigrantInnen sehen keinen Sinn darin sich zu organisieren, obwohl durchaus bekannt ist, dass sich andere in formalen Organisationen zusammenschließen. Aus ihrer Perspektive ist es ausreichend, sich über die bestehenden Formen der gemeinschaftlichen Selbstorganisation für das Dorf und seine Entwicklung einzusetzen. Dies unterstreicht die Bedeutung der transnationalen Dimension der Comunidades, da sie die Anbindung der MigrantInnen stärkt und ihnen ermöglicht, an Entscheidungsprozessen teilzuhaben. Die flexible Handhabung der Ciudadanía und die obligatorische Beteiligung durch Übernahme von Cargos, die Verpflichtung zur Gemeinschaftsarbeit (in Person oder durch 3

Es blieb aber unklar wie oft diese Treffen stattfanden und ob es tatsächlich größere Treffen an einem Ort waren oder es sich eher um kleinere Gruppen an verschiedenen Orten in den US-Bundesstaaten Georgia, South und North-Carolina und möglicherweise Tennessee und Florida handelte, deren Vertreter miteinander in Kontakt standen.

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Die höheren Ausgaben des Delegados ergeben sich aus den umfangreichen Pflichten und Aktivitäten außerhalb der Gemeinschaft, insbesondere auf Ebene des Bundesstaates. Besonders die Art der Interaktion mit dessen Regierung durch häufige Besuche führt zu diesen Ausgaben.

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VertreterInnen), die Zahlung der Beiträge zu Projekten des Dorfes etc. ermöglichen Entstehung und Aufrechterhaltung einer transnationalen Gemeinschaft in der die MigrantInnen immer präsent sind und als dazugehörig begriffen werden. Diese Einbindung wird in einer derart intensiven Form praktiziert und erlebt, dass weder eine Notwendigkeit noch ein Wunsch nach einer separaten und eigenständigen Form der Organisation von MigrantInnen entsteht. Dabei unterliegt ihre Position als besondere Gruppe innerhalb des dörflichen Gefüges einer konstanten Aushandlung. Ein Prozess der zwar zu internen Konflikten führen kann, aber sowohl eine Konstanz der Dorfgemeinschaft als auch ihren fortwährenden Wandel ermöglicht. Dies geschieht als Neu-Konstruktion bzw. Neu-Aushandlung auf Grundlage der bisherigen Strukturen und Vorstellungen von der Gemeinschaft. Ein weiteres Engagement gehen wenige MigrantInnen ein, was damit begründet wird, dass sie erstens nicht über ausreichend (Frei-)Zeit verfügen, sich regelmäßig zu treffen, um über die Angelegenheiten des Dorfes und mögliche Projekte zu diskutieren, sie zweitens zu weit voneinander entfernt wohnen und drittens die als bereits hoch angesehenen Beiträge für die Arbeiten der Dorfgemeinschaft ausreichend seien. Diese Gründe werden in Interviews selten direkt vorgebracht, sondern klingen in Nebensätzen an. In der Regel beziehen sich MigrantInnen eher allgemein darauf, dass man ja bereits seinen Beitrag zur Gemeinschaft leiste und es darüber hinaus keinen Bedarf gebe. Die drei genannten Argumente sollen hier kurz eingeordnet werden. Aus Berichten wird ersichtlich, dass die zur Verfügung stehende Zeit auf die freien Tage, zumeist die Sonntage, begrenzt ist. Die restliche Zeit die nicht bei der Arbeit verbracht werden muss wird für die Organisation und Erledigung alltäglicher Aufgaben und in manchen Fällen für eine zweite Erwerbstätigkeit genutzt. Die Sonntage dienen dann dazu, sich zu erholen und z.B. mit anderen MigrantInnen Basketball zu spielen, mexikanische (Tanz-)Feste zu besuchen, Familientreffen oder solche mit MigrantInnen aus der Comunidad abzuhalten und gelegentlich regionale Sehenswürdigkeiten aufzusuchen. Die Bereitschaft diesen Tag zu opfern scheint gering zu sein und auch bei den üblichen Treffen wird kaum über mögliche Projekte o.ä. gesprochen. Ebenso ist das Argument der großen Entfernung nachvollziehbar. Selbst Verwandte scheinen sich in den USA eher selten zu besuchen, da die Strecken oft als zu lang empfunden werden.5 Auch wenn die MigrantInnen nach anderen Maßstäben oft gar nicht sehr weit auseinander wohnen, sie siedeln sich meist in den gleichen Regionen an, handelt es sich in ihrer Wahrnehmung um große Entfernungen. Dies hängt mit der Gewöhnung an deutlich kürzere Distanzen in Mexiko zusammen, wo Familienmitglieder meist näher beieinander leben. Dazu kommt in den USA ein Gefühl von Fremdheit und Unsicherheit, so dass die relative Entfernung entscheidend ist.

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Eine Ausnahme bilden lediglich jüngere unverheiratete Männer und Frauen, die mobiler sind und den Anspruch äußern etwas von den USA kennenzulernen.

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Schließlich leuchtet auch das finanzielle Argument ein, wenn man sich vergegenwärtigt, dass viele MigrantInnen möglicherweise nicht so viel verdienen, wie zunächst erwartet, oder lange brauchen, um einen guten Arbeitsplatz zu finden. Zudem müssen viele noch die meist über Schulden finanzierte Grenzüberquerung abzahlen, während zugleich die Lebenshaltungskosten in den USA relativ hoch sind. All dies führt dazu, dass vielen MigrantInnen nicht so viel Geld wie erhofft bleibt, um es zu sparen oder nach Mexiko zu senden. So sagte Roberto der seit vielen Jahren in South Carolina lebt: „Hier kann man kaum Geld sparen, wenn man mit seiner Familie lebt, ein Haus mietet, die Kinder zur Schule gehen. Wenn man jung ist, keine Familie hier hat und sich ein Zimmer mit vielen anderen teilt dann geht das. Aber sonst hat man zu viele Ausgaben. Das ist es was die Leute in Mexiko kaum verstehen.“ [Roberto]

Entsprechende Einschätzungen äußerten viele MigrantInnen und stimmten darin überein, dass man in den USA nur dann Geld sparen kann, wenn man ohne weitere Verpflichtungen lebt, sich zu mehreren Personen ein Zimmer teilt und Ausgaben konsequent einschränkt. Dies kommt aber für viele Familien und für MigrantInnen die schon länger in den USA leben nicht mehr in Frage. Zwar wohnen auch sie teilweise mit anderen MigrantInnen zusammen, achten aber darauf eigene Räume zu haben.6 Daher werden oft bereits die regulären Beiträge der Ciudadanos an die Dorfgemeinschaft als Belastung erfahren und die Bereitschaft sinkt, sich darüber hinaus finanziell zu engagieren. Die Selbsteinschätzung, dass sie die Herkunftsdörfer wirtschaftlich aufrechterhalten, so dass sie sich schon ausreichend um ihre Gemeinschaften verdient machen, verstärkt diese Haltung. Allerdings bedeutet dies nicht, dass sich MigrantInnen isolieren. Sie tauschen sich sehr wohl über die Lage in den Heimatorten und dortige Projekte aus und im Alltag kommt es immer wieder zu spontanen Aktionen gegenseitiger Unterstützung z.B. bei Todesfällen. Sehr oft sind Rückführungen nach Todesfällen Anlass für Spendenaktionen bei denen auch für Menschen gesammelt wird die nicht aus dem eigenen Dorf stammen, denn die Vorstellung in den USA fernab der Heimat begraben zu werden, fördert unter MigrantInnen eine starke wenn auch punktuelle Solidarität. Diese Praxis entspricht einer diffusen Solidarität und scheint weltweit typisch für migrantische Gemeinschaften zu sein. 6

Die Migranten, die ich in South-Carolina besuchte, teilten sich höchstens zu zweit ein Zimmer, hatten in der Regel aber ein eigenes Zimmer. Manche Familien hatten eigene Wohnungen bzw. Häuser in denen sie mit einem oder zwei nahen Verwandten wohnten. Gespart werden dabei also nur Kosten für Gemeinschaftseinrichtungen, wie Küche und falls vorhanden ein Wohnzimmer.

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Dementsprechend beruht ein Großteil der alltäglichen Organisation des Lebens in den USA auf gegenseitiger Unterstützung, die durch solche Solidaritäts- und Reziprozitätsbindungen ermöglicht wird (vgl. Faist 2000a). Dabei ist die Zugehörigkeit zur gleichen Familie oder Dorfgemeinschaft von besonderer Bedeutung. Es kommt zwar auch zu Konflikten, aber jede/r MigrantIn ist im Grunde auf diese gegenseitige Hilfe angewiesen, so dass ein gewisser Zusammenhalt von Nöten ist. So ist in Clearwater (Florida) eine der wenigen Vereinigungen hidalguensischer MigrantInnen aus der Notwendigkeit entstanden, tödlich verunglückte MigrantInnen nach Mexiko zu überführen. Später begann sie sich um andere praktische Aspekte des Lebens in den USA zu kümmern und auch (partei-)politisch zu betätigen.7 Sie konzentriert sich aber weiterhin eher auf die Organisation des Lebens in den USA und die Bewältigung von Problemen dort. Der Schritt hin zu einer formalen Organisation jenseits der Dorfgemeinschaft, sei es um sich für Belange in den USA oder für Projekte im Herkunftsort einzusetzen, wird aber selten getan. Daher werden im Gegensatz zu Fällen von MigrantInnen bspw. aus Michoacán, Oaxaca und Zacatecas auch kaum Möglichkeiten genutzt, finanzielle Unterstützung bei Stiftungen in den USA zu beantragen [Manuel]. Die existierenden informellen Zusammenkünfte werden offenbar nicht als passender Rahmen begriffen, im Herkunftsort aktiv zu werden, sondern der Logik der Dorforganisation folgend müssten dazu formale Versammlungen einberufen werden. Dazu sehen sich viele MigrantInnen jedoch ohne Sanktionierung durch die Comunidad nicht als legitimiert an. Daher wird erwartet, dass die Angelegenheiten der Dorfgemeinschaft, die immer untrennbar dem Aufgabenbereich der dörflichen Organisation zugeordnet werden, in Juntas im Ort entschieden werden. Es existieren also einerseits Hindernisse für ein zusätzliches Engagement, andererseits fühlen sich viele MigrantInnen schlicht nicht berechtigt aktiv zu werden. Zudem sind sie häufig darüber frustriert, wie Projekte im Ort realisiert werden, wie die Entscheidungsfindung verläuft und generell unzufrieden mit der dörflichen Organisation und den Líderes. So mangelt es vielen MigrantInnen an der nötigen Zuversicht hinsichtlich eines möglichen Erfolgs ihres Engagements. So sagte Alberto, ein junger Migrant der versucht hatte andere MigrantInnen für Projekte zu organisieren: „Es ist schwierig. Es gibt sehr viel Misstrauen und es fehlt an Kommunikation. Die Leute dort hören nichts von den Projekten von denen man spricht und denken dann, dass man das Geld in

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Diese Angabe beruht auf dem Vortrag einer Leiterin und eines Leiters dieser Migrantenvereinigung, die im Rahmen einer Konferenz in St. Petersburg, Florida, stattfand (vgl. zu der Organisation Schmidt/Crummett 2004). Dies scheint ein gängiges Muster für den Ursprung und die Entwicklung der Organisationen mexikanischer Migranten in den USA zu sein. [Líderes Clearwater]

290 | D OING D EMOCRACY IN INDIGENEN D ORFGEMEINSCHAFTEN die eigene Tasche stecken will. Aber sie erfahren auch nichts über die Projekte der Gemeinschaft. Sie werden nur immer wieder um finanzielle Beiträge gebeten, hören aber nie von Fortschritten. Deswegen denken viele, dass im Dorf nicht richtig gearbeitet wird und die Verantwortlichen unfähig sind. […] Viele haben das Gefühl, dass wir bei Entscheidungen nicht berücksichtigt werden.“ [Alberto]

Jüngere MigrantInnen sind eher bereit sich zu engagieren und bspw. Geld für konkrete kleine Projekte zu sammeln. Sie fühlen sich dann aber meist nicht ausreichend von anderen unterstützt. Offenbar gilt für den größten Teil der MigrantInnen, dass ein solches Engagement kaum als Investition in die eigene Zukunft in Mexiko bzw. das Leben in der Gemeinschaft gesehen wird. Zukunftsorientierte Erwägungen finden vorwiegend im privaten Bereich statt, auf die persönliche Zukunft bezogen. Dies zeigt eine gewisse Entfremdung von der Gemeinschaft, die mit dem angesprochenen Misstrauen zusammenhängt. Diese Fälle lassen vermuten, dass über das Valle del Mezquital hinaus formale Migrantenorganisationen in vielen (indigenen) Regionen kaum von Bedeutung sind. Es existieren eher spontan wenig formalisierte Zusammenschlüsse unter MigrantInnen in den USA, die sich an der Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft orientieren, durch bestimmte Ereignisse ausgelöst werden und daher meist situativ bleiben. Die Gründung formaler Vereinigungen ist unnötig, da sich MigrantInnen als Teil der transnationalen Selbstorganisation der Dorfgemeinschaft verstehen und weder Notwendigkeit noch Nutzen darin sehen, sich darüber hinaus zu organisieren. Stattdessen erleben sie die jetzige Form als ausreichend, um auf spezielle Vorkommnisse in einer spontanen, informellen und flexiblen Art und Weise reagieren können. So wird das Prinzip der alltäglichen Konstruktion der Dorfgemeinschaft und ihrer organisatorischen Dimension auf den Alltag der Migranten im transnationalen Raum übertragen und dort angewandt, selbst wenn solche Praktiken nicht explizit auf die dörfliche Organisation bezogen werden. Dies lässt sich auf die relativ starke soziale Kohäsion und interne Solidarität dieser Gruppen zurückführen, die auf Gemeinschaftserfahrungen und einer starken, auch ethnisch unterlegten, Gruppenidentität beruht, die im Kern als das angesehen werden kann, was in vielen Studien als der ethnische oder kulturelle Hintergrund solcher transnationaler Gemeinschaften bezeichnet wird. So haben sich diese MigrantInnen bisher auch nicht als eine Art Gegenmacht zu den Líderes in der Dorfgemeinschaft konstituiert, obwohl sie meist nur indirekt an Entscheidungsprozessen in der dörflichen Selbstorganisation teilhaben und sie oft kritisieren.8

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Von den MigrantInnen anderer Dorfgemeinschaften im Valle del Mezquital wird berichtet, dass diese durchaus einen Anspruch darauf erheben, als formaler Teil der Selbstorganisa-

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Dies belegt letztlich auch die Geschichte der bereits angesprochenen Migrantenorganisation in Clearwater. Sie entstand auf Grundlage der Bedürfnisse am Ankunftsort und nicht für die Herkunftsorte und auch wenn sie mittlerweile politische Kontakte in Hidalgo hat, behält sie diesen Fokus bei. Gerade dadurch ist sie erfolgreich, denn darin sehen MigrantInnen Sinn und Nutzen dieser Organisation. Gleichzeitig steht aber die gewohnte Logik für die Lösung von Problemen dahinter, indem auf die gemeinschaftliche Stärke gesetzt wird. Erst mit dem Kontakt zu hidalguensischen Politikern, die sie selbst suchte, weitete die Organisation ihren Aktivitätsbereich auf andere Arten von Projekten aus [Líderes Clearwater]. Letztlich stellt diese Organisation also nicht den ersten Schritt einer sich ausweitenden formalen Organisierung der MigrantInnen dar, sondern sie belegt vielmehr wie stark die alltagspolitischen Aktivitäten der MigrantInnen lokal und an der Logik gemeinschaftlicher Organisation ausgerichtet sind. 7.5.2 Misstrauen gegenüber staatlichen Organisationsversuchen Das Phänomen der fehlenden Initiative für das Engagement in expliziten Migrantenorganisationen hat noch eine weitere Dimension, die im Kontext dieser Arbeit besonders wichtig ist. Während leicht nachzuvollziehen ist, dass auf Ebene der Dorfgemeinschaft auf eine zusätzliche Organisation verzichtet wird und stattdessen für eigene Anliegen ihre Institutionen genutzt oder kleinere zeitlich begrenzte Gruppen in strikter Anlehnung an die dörfliche Organisation gebildet werden, verwundert doch, dass die MigrantInnen nicht versuchen, Einfluss im Municipio oder gegenüber der Regierung des Bundesstaates zu erlangen. Dies wäre zum einen auf Grundlage der Literatur zu politischen Aktivitäten transnationaler Migranten zu erwarten (vgl. Smith/Bakker 2007; 2005; Kearney/Besserer 2003; Portes/Escobar/ Walton Radford 2006). Zum anderen ist das Thema der Migration in Diskursen von Politikern und Regierungsvertretern auf allen Ebenen präsent. Trotzdem fühlen sich die meisten MigrantInnen offensichtlich nicht davon angesprochen. Auf Grundlage ihrer Erfahrungen mit der regionalen Politik sehen sie wenig Sinn in formalen Organisationen. Wie bereits erwähnt existieren auch auf Hidalgo bezogene Organisationen, inbes. in Clearwater und in Las Vegas, die versuchen MigrantInnen des Bundesstaates anzusprechen und gegenüber dessen Regierung als ihre Vertretung und damit als Verhandlungspartner aufzutreten. Gleichzeitig bemüht sich die zum bundesstaatlichen Entwicklungsministerium gehörende Coordinación General de Apoyo al Hidalguense en el Estado y el Extranjero (Generalkoordination zur Unterstützung der Hidalguenses im Bundesstaat und im Ausland) Cahidee, die MigrantInnen aus Hidalgo tion behandelt zu werden. Dazu gehören Forderungen nach der Einrichtung des Amtes eines Sub-Delegados in den USA und damit verbunden nach der Verfügungsgewalt über eines der Dorfsiegel.

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unterstützen soll, die Gründung solcher Organisationen zu fördern und bestehende zu unterstützen. Dies wird als ein Zeichen für die sich verändernde Politik in Hidalgo dargestellt, in der MigrantInnen nicht bloß Raum für die Teilhabe an politischen Prozessen geboten, sondern sie dabei sogar unterstützt würden. Allerdings ist die Situation weitaus komplexer und Migrantenvereinigungen werden (auch) aus anderen Gründen gefördert. Zunächst fungieren solche Organisationen als Ansprechpartner, was die Arbeit Cahidees sowohl in Mexiko als auch in den USA erleichtert. Sie muss nicht selbst einzelne MigrantInnen ausfindig machen und für ihre Programme und Veranstaltungen organisieren.9 Bisher besteht ein Großteil ihrer Arbeit darin, mexikanische Konsulate zu konsultieren, Befragungen bei Workshops und unter denjenigen, die eine Dienstleistung der Behörde in Anspruch nehmen, durchzuführen und zur Kontaktaufnahme in die USA zu reisen. Eine stärkere Vernetzung mit MigrantInnen in den USA würde den MitarbeiterInnen Cahidees letztlich ermöglichen, Probleme und Bedürfnisse, aber auch den Alltag der MigrantInnen besser kennenzulernen und ihre Tätigkeit danach auszurichten. Daneben wird die Arbeit mit etablierten Vereinigungen als sicherer und stabiler angesehen und entspricht damit den weitverbreiteten Vorstellungen über Migrantenorganisation. Die eher informell wirkende, schlechter greifbare Organisation im Rahmen der Dorfgemeinschaften wird dagegen als unsicher angesehen, falls sie denn überhaupt wahrgenommen wird. Zudem handelt es sich bei ihr natürlich nicht um eine reine Repräsentation der MigrantInnen, die als Zielgruppe gelten. Aber auch spontane oder kaum formalisierte Zusammenschlüsse von MigrantInnen in den USA werden von der Behörde als unangemessen betrachtet und qualifizieren sich nicht als mögliche Kooperationspartner.10 Dies erklärt warum die Zusammenarbeit mit den wenigen existierenden formalen Migrantenorganisationen stark betont wird. Daneben hat Cahidee die grundlegende Aufgabe, MigrantInnen und ihre Angehörigen zu unterstützen, um zur Verbesserung ihrer Lage beizutragen, sowohl durch direkte Zusammenarbeit als auch den Versuch dem Thema ein größeres Gewicht in der Politik Hidalgos zu geben. Schon die Gründung der Behörde kann als großer Fortschritt gesehen werden, denn noch vor wenigen Jahren war Migration kein politikrelevantes Thema, erst recht nicht die Berücksichtigung möglicher Vorteile für den Bundesstaat. Die Versuche MigrantInnen zu unterstützen, Selbsthilfe in Form der Migrantenvereinigungen zu fördern, das Lobbying gegenüber der Regierung und der 9

Laut der Aussage der damaligen Leiterin dieser Institution, ist es tatsächlich ein großes Problem für sie herauszufinden, wo sich die Migranten genau befinden und mit ihnen in Kontakt zu treten [Leiterin Cahidee]. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass sich relativ wenige Migranten in Konsulaten den registrieren lassen.

10 Tatsächlich sind aber auch die formalen Migrantenorganisationen nicht unbedingt fest verfasst, sondern hängen oft von der Arbeit einiger Aktiver und dem durch sie geschaffenen Bild der Organisation ab.

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Zwang eigene Erfolge nachweisen zu müssen, führen zu einer sehr regen Tätigkeit der Behörde, die teils Züge von Aktionismus trägt. Vor diesem Hintergrund kann Cahidee seine Daseinsberechtigung unter Verweis auf formal verfasste Organisationen besser vertreten. Dieser Arbeitsbereich ist, ähnlich wie die Teilnahme an dem Programm Bienvenido Paisano (s.u.), leichter darzustellen, als die eher diffus wirkende Arbeit in Konsulaten, bei Beratungen der Gemeinden in Mexiko und in Workshops für MigrantInnen, deren Ergebnisse schwerer quantifiziert und präsentiert werden können. Diese Arbeit darf aber nicht als reine Dienstleistung verstanden werden, denn sie orientiert sich an der regionalen politischen Logik. So sollen MigrantInnen auch deshalb unterstützt werden, weil sie ein (eigentlich) nicht zu ignorierendes Wählerpotential darstellen. MigrantInnen sind für viele Politiker eine Art neuer Bevölkerungssektor geworden, der in das klassische Kooptationsmodell, das weiterhin Grundlage der Sichtweise vieler Politiker bildet, integriert werden soll (s.u.). Vielen MigrantInnen, bei denen eine Ablehnung formaler Migrantenvereinigungen überwiegt, insbesondere dann wenn diese mit staatlichen Behörden zusammenarbeiten, ist diese Logik offenbar bewusst. Der gebotene Raum wird nicht als Gelegenheit zur Teilhabe an politischen Prozessen und Verbesserung der eigenen Situation verstanden, sondern es besteht im Gegenteil ein größerer Vorbehalt gegenüber einer Teilnahme. Denn obwohl die Anliegen Cahidees und existierender Organisationen legitim sind und sich durch ihre Arbeit bestimmte Verbesserungen ergeben haben, steht für viele MigrantInnen die Gefahr eines möglichen staatlichen Kooptationsversuchs im Vordergrund. Dies zeigt ein Mißtrauen das mit dem bisherigen Modus formaler Politik in Hidalgo und der Position von Organisationen in diesem System zusammenhängt. Nachdem Migration in Hidalgo nämlich anfänglich kaum Beachtung fand, ist diversen politischen Akteuren aller Ebenen in den letzten Jahren klar geworden, welches Potential die MigrantInnen darstellen. Dies trifft zunächst in ökonomischer Hinsicht zu, da ihre Remissen zu einer bedeutenden wirtschaftlichen Größe geworden sind, ist aber auch im politischen Bereich der Fall. Denn einerseits bilden MigrantInnen und ihre Angehörigen ein bedeutendes Reservoir an Wählerstimmen, das relativ leicht auf Grundlage seiner sozialen Kategorisierung, ähnlich wie früher beispielsweise KleinbäuerInnen, und unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Erfahrungen und Probleme, aber auch ihres möglichen Einsatzes und Potenzials für die Entwicklung ihrer Herkunftsorte, angesprochen werden könnten. Dies ist wichtig, weil andere Gruppen an Gewicht verloren haben. So verstehen sich bspw. viele KleinbäuerInnen heute wohl vorwiegend als MigrantInnen. Andererseits ist aber auch das Risiko präsent, welches diese große Gruppe durch ihre Erfahrungen darstellt. Die Regierung Hidalgos und damit seine politischen Eliten haben das Problem, dass sich die Migranten gewissermaßen aus ihrem Einflussbereich und der Kontrolle der klassischen

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klientelistischen Kooptationssysteme entfernen. Zudem machen sie in den USA andere Erfahrungen mit Lebensstilen, dem politischen und dem Rechtssystem und dem Verhalten von Behörden und Autoritäten. Zusammen mit den ökonomischen Problemen und der Marginalisierung, die zur irregulären Migration in die USA beigetragen haben, kann so die Entstehung eines kritischen und im Zweifelsfall transformatorischen Potentials begünstigt werden. Dies ist umso schwerwiegender, als die MigrantInnen vorwiegend aus ländlichen Regionen des Bundesstaates stammen, deren Bevölkerung bisher die Basis der PRI-Herrschaft darstellte. Für die etablierten Machtgruppen in Hidalgo stellt dies eine potentielle Bedrohung dar und sie versuchen sich teilweise darauf einzustellen. So handelt es sich bei der Förderung von Migrantenorganisationen, zusammen mit vielen anderen Maßnahmen, wie z.B. Besuchen der Gouverneure und untergeordneter Amtsträger in den USA und einem Diskurs über tapfere Hidalguenses die sich für ihre Familie und su gente (ihre Leute) heldenhaft aufopfern, um einen Versuch, das befürchtete kritische Potential zu neutralisieren und im Gegenteil für eine Unterstützung der politischen Eliten zu erschließen. Generell muss es politischen Akteuren darum gehen weiterhin Kontakt zu diesen Menschen zu halten. Dazu wird versucht Migrantenvereinigungen als Ansprech- und Verhandlungspartner zu etablieren bzw. zu fördern und als möglichen Ansatzpunkt zur Kooptation der MigrantInnen, die wiederum ihre Herkunftsgemeinschaften beeinflussen sollen. Dies entspricht weitgehend der Logik des früher üblichen Systems von Paternalismus und Kooptation, welches das nationale politische System und den Umgang mit Dissidenten und kritischen Gruppen und Individuen bestimmte (s.S. XX). So wie unter der PRI-Herrschaft, zumindest in der Theorie, jeder Sektor und jede bedeutende Gruppe innerhalb der mexikanischen Gesellschaft in Organisationen zusammengefasst wurde, so wird dies in Hidalgo jetzt mit den MigrantInnen versucht. Ausdruck dieser Strategie sind neben der Gründung von Cahidee bspw. die oben genannten Aktivitäten des CSH, als parteinaher Organisation, der seine Tätigkeit von den ländlichen Gebieten des Valle del Mezquital auf die Migrantengemeinschaften in den USA ausgeweitet hat und offensichtlich versucht Kooptation und Klientelismus zu transnationalisieren. Eine mögliche politische Vereinnahmung findet daher nicht so sehr in staatlichen Strukturen statt, sondern in parteinahen Klientelorganisationen, was bisherigen politischen Vorgehensweisen und der Translokalität des Alltags angemessener und damit kompatibel mit vorhandenen Handlungslogiken ist (Lachenmann 2004). Dies ist aber nicht zwingend von Erfolg gekrönt, was die eigentliche Veränderung der politischen Logiken, zumindest der Migranten, unterstreicht. Dabei geht es auch darum durch Unterstützung der MigrantInnen zu verhindern, dass sie sich von ihren Heimatregionen und ihrem Bundesstaat abwenden bzw. entfremden. Dazu werden Programme wie Bienvenido Paisano (Willkommen Landsmann) unterstützt, in dem MigrantInnen die Rückkehr erleicht und potentielle Prob-

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leme, wie Amtsmissbrauch der Polizei gegenüber Migranten, verhindert werden sollen. Ebenso das Programm Ya soy Hidalguense! (Ich bin jetzt Bürger Hidalgos), das erreichen soll, dass möglichst viele im Ausland geborene Kinder als mexikanische Staatsbürger registriert werden, was Teil eines globalen Trends wachsender Möglichkeiten zur doppelten Staatsbürgerschaft ist, den Faist und Kivisto (2007) konstatieren. Mit Migrantenvereinigungen als Ansprechpartnern wären solche Aktivitäten leichter zu realisieren. Dies trifft auch auf das relativ prominente Programm des 3x1 zu, in dem durch MigrantInnen finanzierte Projekte unterstützt werden. Dabei findet eine Kofinanzierung statt in der für jeden Peso den MigrantInnen einbringen von der Gemeinde, dem Bundesstaat und der Nationalregierung jeweils ein Peso hinzugegeben wird. Die MigrantInnen sollen dann an Entscheidungen hinsichtlich der Art und Prioritäten der Projekte beteiligt werden. Dieses Programm wird als Best Practice angesehen, hat aber trotz der Möglichkeit zur Teilhabe, die Migranten geboten wird, verschiedene Probleme. Daher wird es von den MigrantInnen im Valle del Mezquital nicht positiv oder sogar gar nicht als Option wahrgenommen, so dass es kaum Erfolg hat. Die Konditionen sind zu sperrig und es besteht der Vorwurf, dass eigentlich die Einbindung der Migranten und Versuche einen Teils ihres Geldes abzuschöpfen im Vordergrund stehen. Dies ermögliche dem Bundesstaat, sich einerseits in gewissem Maße aus der Finanzierung von Projekten zurückzuziehen, und andererseits diese und den vorgeblichen Fortschritt propagandistisch zu nutzen. In der Projektlogik werden so die materiellen Ressourcen der Migranten und die Arbeitskraft ihrer Dorfgemeinschaften (politisch) vereinnahmt. Gäbe es Migrantenvereinigungen als Gegenpart könnten sich staatliche Stellen aus Legitimationsgründen auf diese berufen, einen direkteren Zugang zu MigrantInnen erhalten und durch deren regelmäßiges und besser abzuschätzendes finanzielles Spendenaufkommen eine größere Planungssicherheit erreichen. Der Weg über Dorfgemeinschaften scheint zu unsicher und ungewiss, da dort mehr Gruppen involviert wären und sich das Programm direkt an die MigrantInnen richtet. Dies entspräche jedoch ihrer Logik, da sie trotz aller Kritik eher dazu tendieren in und über ihre Dorfgemeinschaften aktiv zu werden. Dadurch bewegen sich die Aktivitäten von MigrantInnen und staatliche Programme gewissermaßen aneinander vorbei. Die auf der Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft beruhende Art der Organisation der MigrantInnen wird von staatlichen Stellen entweder nicht als im Migrationskontext relevant wahrgenommen oder als wenig hilfreich für eine Einbindung der Migranten angesehen. Dadurch bilden die Behörden und Migrantenorganisationen in gewissem Sinne den langen transnationalen Arm des mexikanischen Staates der bis zu den MigrantInnen in die USA reicht. Der Versuch ihrer politischen Vereinnahmung als Teil des Transnationalismus, im Sinne Glick-Schillers et. al. (1995), wird vor dem Hintergrund eines Diskurses über den Einbezug und Schutz der MigrantInnen, realisiert. So

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unterstützen auch US-Behörden unwissentlich die Aktivitäten parteinaher Organisationen unter MigrantInnen in den USA, da sie diese als mögliche Partner bei der Bewältigung von (Integrations-)Problemen sehen. Es wird also versucht Migration, ihre Folgen und letztlich die ökonomische Situation der MigrantInnen in doppelter Hinsicht politisch zu instrumentalisieren. Zum einen bieten wie auf nationaler Ebene, die Remissen eine Möglichkeit sozialer Unruhe vorzubeugen, da sich die wirtschaftliche Lage ganzer Regionen durch diese finanziellen Transfers deutlich verbessert. Daneben bieten sie der Regierung Hidalgos die Gelegenheit, Teile davon zu nutzen, um von ihr im Haushalt zur Verfügung gestellten finanziellen Entwicklungsmittel durch Kofinazierungen, allen voran das Programm 3x1, zu vergrößern und dabei gleichzeitig unter den MigrantInnen und ihren Angehörigen den Eindruck zu erwecken, sich für ihre Belange einzusetzen und sie bei der Entwicklung ihrer Dörfer zu unterstützen. So wird versucht einer kritischen Haltung der Migranten vorzubeugen und im selben Moment den Einsatz ihrer Mittel zu steuern. Zum anderen wird angestrebt das politische potentiell transformatorische Potential der Migranten zu kooptieren und im eigenen Sinne zu mobilisieren. So ist die Existenz von Migrantenorganisationen in Hidalgo entgegen der anfangs angesprochenen Annahme nicht unbedingt ein Zeichen für eine demokratischere Politik, sondern kann im Gegenteil Ausdruck einer an aktuelle Verhältnisse angepassten Politik der Kooptation sein. Daher ist es von grundlegender Bedeutung den Kontext der Entstehung solche Organisationen und ihre Aktivitäten genauer zu betrachten, bevor sie als demokratiefördernd verortet werden. Im Gegenteil kann auf Grundlage der untersuchten Fälle angenommen werden, dass gerade die Nicht-Organisation in formalen Migrantenvereinigungen auf ein höheres Demokratisierungspotential hindeutet. Durch die starke Orientierung der MigrantInnen auf ihre Dorfgemeinschaften erweist sich aus ihrer Sicht eine separate Organisationsform neben der Mitgliedschaft in der mittlerweile transnational konstituierten Dorfgemeinschaft als überflüssig. Über die Teilhabe in der Dorfgemeinschaft haben MigrantInnen ein relativ hohes Maß an Pflichten, können so aber zu ihrer Entwicklung beitragen. Die Erfahrungen aus der Teilnahme an der Selbstorganisation der Dörfer und der Lokalpolitik auf Gemeindeebene sind bedeutend für die Weise, in der sich die Migrantengemeinschaften in den USA sozial konstituieren. Im gesamten transnationalen sozialen Raum wird das Vertrauen in die gewohnte Selbstorganisation deutlich und auf dieser Grundlage ergibt sich eine Möglichkeit zu größerer politischer Beteiligung. Die in diesem Rahmen möglichen Aushandlungen innerhalb der Gemeinschaft und über die existierenden Vertretungsformen nach außen werden als relativ effizient und ausreichend angesehen. Selbst wenn Klagen geäußert werden, besteht durch die eigene Identifikation und Zugehörigkeit letztlich doch ein ausreichendes Vertrauen in diese Organisationsform und die Arbeit der im Ort verbliebenen Mitglieder.

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Gleichzeitig wird ein latent vorhandenes Misstrauen gegenüber externen Interventionen erkennbar. In Barranca Empinada ist dies aufgrund der historischen Erfahrungen sicherlich stärker ausgeprägt als in El Thonxi, lässt sich aber an beiden Orten beobachten und scheint grundsätzlich in allen Dörfern der Region zu bestehen. Aufgrund dieses Misstrauens gegenüber der Einmischung von außen ist die praktizierte Autonomie der Dorfgemeinschaften ein zentraler Bezugspunkt für jegliche Organisationsversuche. Selbst wenn dies in Dörfern wie El Thonxi nie direkt geäußert wird, stehen die Eigenständigkeit und Autonomie der dörflichen Organisation und ihre Entscheidungsfreiheit an erster Stelle. Diese historisch gewonnene Haltung, Interventionen, gerade denen des Staates, zu misstrauen oder zumindest nichts von ihnen zu erwarten und sich auf die vertraute, selbst kontrollierte Dorfgemeinschaft mit ihrer Organisation zurückzuziehen, prägt auch die neueren transnational eingebetteten sozialen Formationen. Diese haben sich schließlich auf dem Hintergrund der jahrzehntelangen Erfahrungen der Dorfbewohner entwickelt, deren Strategien als Ausdruck einer kollektiven Vorsicht und Absicherung verstanden werden können. Im Verbund mit ihrer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit ist dies ein grundlegendes Element für die Existenz und den Fortbestand der Dorfgemeinschaften. Dies kann als aktuelle Ausprägung der für koloniale Zeiten diskutierten Aneignungsfähigkeit indigener Gruppen angesehen werden. Was die politischen Handlungslogiken und Interaktionsmodi anbelangt so bedeutet dies, dass die Autonomie eine ausreichende, kritische Distanz zu Vertretern des politischen Systems ermöglicht. Die bestehenden Freiräume werden bewahrt und durch transnationale Verflechtungen gefestigt. Hier entwickelt sich eine kritische Distanz, die zur nachhaltigen Veränderung politischer Aushandlungsprozesse und darauf aufbauend des politischen Systems der Region und des Bundesstaates führen kann. Diese Distanz ist aber nicht als vollständige Abkoppelung zu verstehen, ebenso wenig darf die Autonomie mit Autochthonie (vgl. Geschiere 2009) verwechselt werden. Es findet kein Rückzug aus dem politischen Raum statt, der letztlich eine Beeinflussung des politischen Systems und damit des Gemeinwesens unmöglich machen würde. So gibt es keinen Selbstausschluss, sondern im Idealfall eine kontrollierte Kooperation mit staatlichen Stellen. Statt einer völligen Verweigerung handelt es sich um die geschickte Nutzung bestehender Freiräume in den Aushandlungsprozessen mit staatlichen und parteipolitischen Akteuren. Daher wird Autonomie im Valle del Mezquital, wie auf nationaler Ebene, kontrovers diskutiert, was oft auch gewaltsame Konflikte nach sich zieht. So ist ein Großteil der politischen Auseinandersetzungen auf lokaler und mittlerer Ebene mit Disputen um die Autonomie der Dorfgemeinschaften verbunden. Vielen Konflikten die als religiös oder territorial dargestellt werden, liegen letztlich Interventionen oder Beeinflussungsversuche aus partei- oder persönlichen politischen Interessen zu Grunde (vgl. Kap. 3.1.2).

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Die MigrantInnen nutzen also weitestgehend die dörfliche Organisation für ihre möglichen Aktivitäten und Anliegen. Problematisch ist dabei bisher allerdings, dass innerhalb dieser noch keine Räume existieren, die explizit den MigrantInnen zugeordnet sind. Aber auch wenn bemängelt wird, dass es keine von der Dorfgemeinschaft sanktionierten Institutionen wie Cargos, Comités oder Versammlungen in den USA gibt, suchen die MigrantInnen nicht andere Möglichkeiten, sondern versuchen eher diese innerhalb der dörflichen Organisation einzufordern. Dieser Prozess steht in meinen Fällen noch am Anfang, aber es gibt Fälle in denen diese Debatte weiter fortgeschritten ist. Die MigrantInnen sind oft sehr selbstbewusst, wollen aber die Dorfgemeinschaft nutzen, da sie diese für den richtigen Ort halten und dem Staat misstrauen. Die entsprechenden Arten des Einbezugs auf lokaler Ebene erklären auch, warum bisher in Hidalgo eher wenig MigrantInnen formale politische Posten einnehmen, während dies in anderen Bundesstaaten üblich ist und in Michoacán sogar Parlamentssitze für Abgeordnete der MigrantInnen reserviert sind. So ist die Organisation in Vereinen also keine zwingende Voraussetzung für die Teilhabe von MigrantInnen an politischen Entscheidungsprozessen und erst recht kein sicheres Zeichen für eine generelle Demokratisierung des politischen Systems. Das Beispiel des Valle del Mezquital deutet darauf hin, dass gerade das Gegenteil der Fall sein kann. Die Fälle von Migrantenorganisationen und des politischen Transnationalismus der MigrantInnen selbst, aber auch von mexikanischen Politikern und ihnen nahestehenden Organisationen, zeigen beispielhaft wie einerseits Kooptationsversuche in Anlehnung an eine klientelistische Logik von statten gehen, andererseits wie das Misstrauen gegenüber Politikern und staatlichen Stellen Aushandlungen beeinflusst und zu einer teilweisen Verweigerung führt. Dies entspricht im Kern den Prozessen die auf lokaler Ebene in den transnationalisierten Dorfgemeinschaften stattfinden, wo MigrantInnen oft Lideres misstrauen, die wiederum versuchen sie über Diskurse zur Gemeinschaft zu beeinflussen. Hierbei wird die Problematik sichtbar, dass solche Prozesse wie im Valle del Mezquital, die sicherlich auch andernorts in Mexiko Entsprechungen haben, aufgrund von als allgemeingültig gehandelten Annahmen aus anderen Fällen, offenbar kaum wahrgenommen werden. Dadurch besteht ein unvollständiges Bild des Wechselspiels verschiedener Organisationsformen von MigrantInnen, der Beziehung zu politischen Prozessen in den Herkunftsregionen und schließlich ihrer Erfahrungen und Handlungslogiken. Dies fügt sich zu teils noch gängigen Bewertungen des ländlichen Raumes als sowohl im ökonomischen wie auch im politischen Sinne rückständig und so wird in der Folge von einem Demokratiedefizit bei MigrantInnen aus diesen Regionen ausgegangen. Potential für ein politisches Engagement wird ihnen nur zugetraut, wenn sie formal organisiert sind und Anführer haben, die sie einen und dem Staat gegenüber vertreten können. Meine Forschungsergebnisse legen dagegen nahe, dass andere Arten von Organisation in welche MigrantInnen eingebettet sind und in denen sie, wie es bei an der dörflichen Selbstorganisation angelehnten Formen

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der Fall ist, entsprechend ihrer Erfahrungen und Logiken agieren können, mehr Aufmerksamkeit verdienen. Bisher werden diese aber eher übersehen oder gar als Hindernis für die Entwicklung einer Perspektive von Demokratie verstanden, da sie als dem überbrachten klientelistischen System verhaftet gelten. Das emanzipatorische Potential dieser hochflexiblen und dynamischen Formationen mit Arenen in denen Mitglieder der Dorfgemeinschaften trotz aller Widerstände und Schwierigkeiten als eigenständige Akteure transformatorisch aktiv werden können, wird kaum wahrgenommen. Daher ist es nötig die Perspektive zu erweitern und diverse Formen sozialer Organisation und darin fußender politischer Aushandlungsmodi in ihrer Bedeutung für politische Prozesse und die Herstellung einer Perspektive von Demokratisierung, im Sinne einer größeren Teilhabe der BürgerInnen, anzuerkennen. So können Prozesse politischen Wandels umfassend analysiert werden, um eine angemessene Einschätzung aktueller Vorgänge zu erreichen.

8. Doing Democracy im Valle del Mezquital: Die Herstellung demokratischer Handlungsmodi in zwei transnationalisierten indigenen Dorfgemeinschaften

Drei politische Ereignisse des Jahres 2012 werfen Schlaglichter auf das politische Mexiko der Gegenwart. Erstens gewann der Kandidat der PRI die Präsidentschaftswahlen, worin viele kritische Stimmen einen Rückschritt für die Demokratie des Landes sehen. Die Ernennung alter Kader der früheren Staatspartei, sowie auf den Wahlkampf bezogene Manipulationsvorwürfe stützen diese Sichtweise. Zweitens formierte sich im Vorfeld der Wahlen überraschend eine neue Protestbewegung, „Yo soy #132“, die zunächst vor allem von Studierenden der Universidad Iberoamericana, einer jesuitischen Eliteuniversität, getragen wurde. Sie bewies eine unerwartete Stärke und großes Mobilisierungspotential. Drittens erklärte sich die Stadt Cherán im Bundesstaat Michoacán für autonom und setzte den Bürgermeister sowie die lokale Polizei ab. Begründet wurde dies mit der fehlenden Unterstützung staatlicher Behörden und der Polizei gegen Übergriffe von Mafia-Organisationen. Diese holzten die geschützten Wälder in der Umgebung ab und wurden dabei von korrupten Politikern und Polizisten aller Ebenen gedeckt. Die BürgerInnen von Cherán nutzten daraufhin ihr System der Selbstorganisation, um eigene politische Vertreter einzusetzen, die Lokalverwaltung zu übernehmen und Bürgerwehren zum Schutz der lokalen Ressourcen aufzustellen.1 Sie konnten größere Erfolge verzeichnen, hatten aber auch den Tod mehrerer Gemeindemitglieder zu beklagen. Diese Ereignisse stehen miteinander in Beziehung und sind wichtige Facetten der gleichen politischen Entwicklung im 1

Beals (1970 [1946]) verfasste eine ausführliche anthropologische Studie zu Cherán aus der sich schließen lässt, dass der Ort eine für die damalige Zeit typische Entwicklung nahm. Er beschreibt zwar auch Konflikte und gewaltsame Auseinandersetzungen (S. 112f.), aber es wird deutlich, dass es sich um eine gewöhnliche Stadt handelte. Seine Arbeit belegt zudem welche Bedeutung die Wälder damals als bienes comunales hatten (S. 15f.).

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Land. Sie haben zudem einen Bezug zu den in dieser Arbeit analysierten Prozessen politischen Wandels und des doing democracy, denn sie entsprechen bestimmten Aspekten der analysierten Phänomene in meinen Fallstudien im Valle del Mezquital. Entsprechendes gilt auch für das „Verschwindenlassen“ der 43 Studierenden von Ayotzinapa im Jahr 2014, das weltweit Aufmerksamkeit erregte, und die darauf folgenden monatelangen Proteste in Mexiko. Sie zeigen, wie unterschiedliche soziale und politische Prozesse miteinander verwoben sind. Sie haben bedeutende transnationale bzw. translokale Dimensionen und tragen damit zu übergreifenden Transformationsprozessen in dieser Region bei, die als beispielhaft für andere Teile Mexikos angesehen werden können. Im Folgenden fasse ich die verschiedenen relevanten Elemente und Dimensionen dieses Wandels kurz zusammen, um sie im Sinne einer Theoretisierung mittlerer Reichweite zu verknüpfen und damit einen Beitrag zu Debatten über Demokratisierungsprozesse und politischen Wandel vor dem Hintergrund transnationaler Migration in sozial und insbesondere ethnisch differenzierten Gesellschaften zu leisten. Bestimmten Aspekten messe ich dabei eine besondere Bedeutung zu, da die Auswertung meiner Daten zu anderen Erklärungen führte, als dies in der gängigen Literatur der Fall ist. So sollen meine Forschungsergebnisse auch einen Beitrag zur Erweiterung der Perspektive entsprechender Debatten leisten. Ausgehend von meinen Analysen werde ich als Ausblick verschiedene Fragestellungen und potentielle Richtungen für weitere Studien in diesem Themenkomplex aufzeigen.

8.1 D EMOKRATISIERUNGSPROZESSE IN TRANSNATIONAL VERNETZTEN INDIGENEN D ORFGEMEINSCHAFTEN In dieser Arbeit habe ich mich auf Grundlage einer umfassenden ethnographischen Forschung damit befasst, wie in einer als indigen bezeichneten vorwiegend ländlichen Region in Zentralmexiko (Lokal-)Politik durch Aushandlung zwischen unterschiedlichen Akteuren einen Transformationsprozess durchläuft. Politische Transformation wurde dabei nicht als institutioneller politischer Wandel verstanden, bspw. bezogen auf neue Regelwerke wie Verfassungen und Parteistatuten oder auf veränderte Wahlergebnisse. Vielmehr habe ich sie als einen Prozess konzeptualisiert, in dem sich Sichtweisen von Politik, politische Handlungslogiken, Interaktionsmodi, Rationalitäten in oft sehr subtiler Weise verändern. Analytisch festgemacht werden können diese Transformationen an Aushandlungsprozessen, die sich an den Encounters at the Interface (Long 1989) der verschiedenen beteiligten Akteure ergeben. Der dynamische Charakter dieser sozialen Schnittstellen trägt maßgeblich den Prozess des Wandels. Daher geht es nicht nur um Interaktionen die auf bestimmte Arenen und Themen bezogen sind, die im Feld oft mit negativem Beiklang als „la Política“

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bezeichnet werden. Vielmehr geht es auch um Interaktionen im Sinne der Alltagspolitik, die von lokalen Akteuren oft nicht einmal als politisch angesehen werden. Doch gerade sie haben eine große Bedeutung für das Leben der sozialen Akteure in den Dörfern, wie bspw. Aushandlungen im Rahmen von (Entwicklungs-)Projekten oder der Positionierung der Dorfgemeinschaft gegenüber staatlichen und parteipolitischen Akteuren zeigen. Politik wird hier stark durch indigene Selbstverwaltung in den Dorfgemeinschaften und deren relative Autonomie einerseits und transnationale Verflechtungszusammenhänge andererseits beeinflusst. Die Relevanz dieser Forschung ergibt sich daher erstens aus der subalternen Position in der sich die Bevölkerung ländlicher und indigener Gebieten in der mexikanischen Gesellschaft befindet. Sie beruht auf meist abwertenden Zuschreibungen, die Teil sozialer Konstruktionsprozesse sind, und führt dazu, dass sie selten als Protagonisten von Demokratisierungsprozessen gelten. Zweitens werden die vielfältigen auf verschiedenen Ebenen untersuchten Prozesse selten in Zusammenhang gebracht oder übergreifend betrachtet. Die ursprüngliche Forschungsfrage richtete sich auf mögliche Demokratisierungsprozesse auf lokaler Ebene, nachdem die PRI im Jahr 2000 nach über 70-jähriger Herrschaft abgewählt worden war. Damals wurde ein Diskurs verbreitet, dem zu Folge Mexiko endlich demokratisch sei, auch wenn es selbst auf nationaler Ebene nicht zu einem strikten Wandel kam (vgl. Boris/Sterr 2002, 110f.). Im Kontext einer ländlich geprägten Region, die als sehr PRI-treu galt und deren Bewohner sich zu einem großen Teil in Institutionen indigener Selbstverwaltung verorten, wollte ich untersuchen, ob tatsächlich eine Demokratisierung stattfindet. Es hat sich herausgestellt, dass dies zwar nicht im herkömmlichen Sinn der Fall ist, aber sehr wohl Veränderungen zu konstatieren sind, die allerdings oft widersprüchlich sind. Dennoch konnte ich Elemente und Dimensionen des aktuellen Wandels herausarbeiten, die sicherlich auch in Zukunft politische Prozesse beeinflussen werden. Dazu habe ich den Leitlinien einer gegenstandsbezogenen ethnographischen Forschung entsprechend verschiedene Bereiche betrachtet, deren Relevanz sich aus dem Feld ergab. So konnte ich herausarbeiten, wie lokale politische Veränderungen mit anderen Prozessen zusammenhängen und zwar erstens in anderen gesellschaftlichen Bereichen und zweitens transnational und translokal über geographische Räume sowie unterschiedliche Ebenen sozialer Organisation hinweg. Beispiele für den ersten Punkt sind Veränderungen der internen Organisation insbesondere von Gemeinschaftsgütern und -arbeit sowie von Rechten und Pflichten der migrierten Mitglieder, oder der Geschlechterverhältnisse in den Dorfgemeinschaften, sowie die Bedeutung sich wandelnder Muster von Bildungs- und Einkommensstrategien, die Teil eines allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Wandels in Mexiko sind. In den zweiten Bereich fallen u.a. Prozesse, die mit der transnationalen und translokalen Vernetzung der Dorfgemeinschaften und der damit einhergehenden Transnationalisierung der Dorfgemeinschaft als Institution und als Raum zusammenhängen und auf der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der (trans-)lokalen Akteure beruhen. Des Weiteren wurde deutlich,

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wie der historische und kulturelle Hintergrund die soziale Aushandlung neuer gesellschaftlicher und politischer Regeln und Ordnungen beeinflusst. 8.1.1 Demokratisierung als Wandel politischer Handlungslogiken und Bedeutungsgebungen Die Verbindung von Elementen unterschiedlicher Herkunft und Zuordnung ist Grundlage des Wandels der Politik im Valle del Mezquital. Dieser besteht insbesondere in veränderten Voraussetzungen für Interaktionen in diversen politischen Bereichen. So erhalten einige Akteure eine neue Position und verändertes Gewicht in Aushandlungen, neue Akteure gewinnen Bedeutung und nicht zuletzt wird die Vorstellung dessen, was Politik insgesamt ist bzw. sein sollte, neu ausgehandelt. Die aktuellen politischen Handlungslogiken sind jedoch nicht gänzlich neu, sondern fußen in den überbrachten klientelistisch geprägten. Somit bestehen politische Strategien und Praktiken, wie bspw. die Art in der Bürger entscheiden für welchen Kandidaten sie bei Wahlen stimmen, aus Elementen die eher klassischen Sichtweisen entsprechen und solchen die neuer sind. Dabei sind die klassischen Spielregeln für politische Aushandlungen oft weiterhin zentraler Referenzpunkt, denn selbst Akteure die ihre alternative politische Haltung im Gegensatz zum „herrschenden PRI-System“ betonen möchten, arbeiten sich an diesem Set von Regeln und Normen ab. Schließlich handelt es sich um allgemein bekannte Regeln, deren Logik verstanden wird und die relativ konkrete Anweisungen für die Interaktion umfassen. Daher kann davon ausgegangen werden, dass die entsprechenden Codes und Signale allgemein verstanden werden. In Interaktionen mit Politikern werden sie strategisch eingesetzt, um die Akzeptanz des alten Regelsystems zu inszenieren, selbst wenn diese nicht mehr gegeben ist. Dies habe ich u.a. daran gezeigt, wie Politiker versuchen Dorfgemeinschaften zur Unterstützung bei Wahlen zu mobilisieren und diese auf eine Weise reagieren, die ihnen verschiedene Möglichkeiten offen hält. Wie unterschiedliche individuelle und kollektive Akteure bei ihrem Aufeinandertreffen in politischen Arenen interagieren ist situativ bedingt und kontextabhängig. Damit sind politische Erwägungen meist erheblich komplexer geworden, als es in einem einfachen klientelistischen System der Fall war (vgl. Cornelius 1977; Foster 1977, 18f.; Fox 1994). In diesem Prozess verändert sich insbesondere die Position der Akteure, die als Mittler zwischen der lokalen Ebene und den Institutionen und Parteien auf regionaler und nationaler Ebene fungieren. Diese Funktion verlieren sie nicht, gleichwohl sind sie nicht mehr die einzige Verbindung zwischen Dorfgemeinschaft und Außenwelt. Wie meine Analyse gezeigt hat, verlieren insbesondere die Maestros Bilingües, die seit den 1970/80er Jahren Anführer und Vertreter der Dörfer waren, nach und nach ihren früheren Status als Líderes (vgl. Kugel 1995; Mendoza 2001). Dies ist erstens

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Folge eines sozialen Prozesses, in dem sie viele Alleinstellungsmerkmale wie Bildung oder die Kenntnis von Regeln und Sprache des Umgangs mit externen Akteuren verloren. Es entstanden neue Gruppen die über höhere Bildung oder spezielle Kenntnisse z.B. im Sinne sozialer Remissen (Levitt 1998; Levitt/Lamba-Nieves 2011) verfügen und somit Wissensmonopol und Deutungshoheit der bisherigen Líderes anfechten können. Zweitens ist ihr Bedeutungsverlust Teil eines politischen Prozesses, in dem sie durch die Entstehung von Alternativen nicht mehr die alleinige Kontaktmöglichkeit in die politische Sphäre hinein sind. Als dritter Grund ist ihr sinkendes Ansehen auszumachen. Auf Grundlage von Vorwürfen des Amtsmissbrauchs, nicht erfüllter Versprechen, der Verfolgung persönlicher politischer Ziele und der Handlangerfunktion eines korrupten Systems bzw. einer korrupten Partei, verlieren sie ihre Legitimation gegenüber der Gemeinschaft. Denn es besteht der Vorwurf, sie arbeiteten aus eigenen Interessen und nicht mehr zum Wohl der Gemeinschaft, was aber als ihre einzige Aufgabe gilt. In der Folge findet eine Repositionierung dieser Gruppen statt, bei der neue Akteure entweder einbezogen oder alte Machtgruppen abgelöst werden. Dies sind in der Regel MigrantInnen die als erfolgreich gelten oder die Licenciados mit universitärer Ausbildung. Auf Grundlage ihrer materiellen Ressourcen, Kenntnisse und Erfahrungen oder ihrer Bildung können sie Teil der lokalen Eliten bzw. einer Art organischer Intelektueller (Gramsci 1996, 1502) werden. Mittler bleiben aber für die Gemeinschaft grundsätzlich sehr wichtig, um sich als Kollektiv zu präsentieren und mit staatlichen Institutionen aber auch anderen Dorfgemeinschaften zu interagieren. Dabei nehmen sie eine Funktion ein, die der von Entwicklungsmaklern (Bierschenk et al. 2003) ähnelt. Diese Veränderungen sind sehr subtil und aufgrund der Verwobenheit überbrachter und neuerer Logiken zunächst schwer zu erkennen, können aber eine große Reichweite haben. Letztlich stellt sich jedoch die Frage, ob es einen nachhaltigen Wandel von einem klientelistisch geprägten zu einem offeneren System gibt, in dem die Teilhabe der BürgerInnen gestärkt wird. Es wird in Zukunft zu sehen sein, welchen Stellenwert Elemente einer klientelistischen Logik und solche aus einer eigenständigen Position in der Re-Konfiguration politischer Handlungslogiken haben und wie sie sich auf längere Sicht miteinander verbinden. Meine Ergebnisse lassen erwarten, dass eine größere Vielfalt an politischen Praktiken und Strategien angewandt werden wird, im Kern aber immer wieder klientelistische Spielregeln gelten werden. Nichtsdestotrotz entstünde damit ein eigener Modus von Demokratie bzw. der Aushandlung von Demokratie, weil klientelistisch geprägte Elemente durch BürgerInnen freier und strategischer eingesetzt werden, weil lokale Akteure einen größeren Handlungsspielraum gewinnen. Sie entscheiden immer öfter, auf welche politischen Beziehungen sie sich einlassen und welche Strategien und Regeln sie in Aushandlungen mit Parteipolitikern einsetzen. So kann politische Interaktion traditionell-klientelistisch wirken, aber letztlich Ausdruck einer demokratischen Wahl des Vorgehens sein. Oft

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zeugt sie von Positionierungsversuchen und dem Bemühen nach Teilhabe an politischen Prozessen und kann nicht als Ausdruck von Hilflosigkeit oder politischer Apathie gelten. Diese veränderte Position vieler „einfacher“ BürgerInnen wird durch ein sich verbreitendes „neues“ Verständnis eigener Rechte und der Aufgaben und Pflichten von Staatsbediensteten, sowie durch Demokratiediskurse unterstützt, so diffus sie auf lokaler Ebene auch sein mögen. Zwar umfasst dieser Prozess bei weitem nicht alle Akteure im ländlichen Raum. Da sich aber gleichzeitig die Positionierung vieler Dorfgemeinschaften verändert, unterstützt durch ihre Autonomie und die Verteidigung des eigenen Handlungsraumes, werden viele Menschen zumindest indirekt von dem Wandel der Beziehung zu Parteipolitikern und Repräsentanten des Staates erfasst. Insgesamt lässt sich eine verhältnismäßig hohe Politisierung der Landbevölkerung konstatieren, die mit einem gewandelten Selbstverständnis einhergeht, das im Empowerment vieler Akteure auf dem Land mündet. Während oft angenommen wird, dass vorwiegend die städtische Bevölkerung kritisch sein kann und Demokratisierungsprozesse befördert, weil die ländliche zu sehr in Klientelstrukturen verfangen sei, zeigt meine Analyse eine deutlich andere Position der ländlichen Regionen. Ein Ausdruck davon sind die umkämpften Gouverneurswahlen im Jahr 2011 in Hidalgo oder der angesprochene Fall der Kleinstadt Cherán in Michoacán. 8.1.2 Multiple Verflechtungen politischer und sozialer Prozesse Verwobenheit politischen und sozialen Wandels Ein wichtiges Ergebnis meiner Arbeit ist die Verknüpfung von Transformationen im politischen Bereich mit einem breiteren sozialen Wandel. Der politische Raum ist eng mit gesellschaftlichen Bereichen verwoben, so dass politische Prozesse immer vor dem Hintergrund ihrer (lokalen) gesellschaftlichen Einbettung betrachtet werden müssen. Zumindest in einem Feld, in welchem politische Aushandlungen stark mit dem Alltag der Menschen verbunden sind, da sie einerseits direkte Auswirkungen auf ihr Leben haben und sie dabei andererseits wichtige Akteure sind (und sei es zunächst nur als Mobilisierungsmasse), macht es keinen Sinn diese Prozesse für sich zu betrachten. Sie laufen gleichzeitig ab und verstärken sich gegenseitig auf eine Weise, in der lokale Akteure eine Stärkung ihres Selbstbewusstseins und -vertrauens erfahren und beginnen, offen aktiv zu werden, kritische Positionen einzunehmen und die Teilhabe an Entscheidungsprozessen einzufordern. Diese mündet letztlich im Auftreten neuer politischer Akteure und Gruppen. An zwei Punkten habe ich dies relativ ausführlich dargelegt. Zum einen am grundlegenden strukturellen Zusammenhang zwischen der Transformation und Wahrnehmung der dörflichen Organisation und deren Implikationen für politische Prozesse. Zum anderen an der sich teils wandelnden Geschlechterordnung innerhalb

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von Dorfgemeinschaften und Politik. Wie gezeigt, fußt das politische System letztlich (auch) in den Dörfern bzw. ist auf diese angewiesen. Daher beziehen sich viele Felder politischer Interaktion auf Bereiche, die wie lokale Entwicklung und Migration Menschen aus den Comunidades betreffen. So haben bspw. Veränderungen in der wirtschaftlichen und sozialen Situation der Gemeinschaften und mit ihnen oft einhergehende Repositionierungsprozesse kollektiver Akteure in den Dörfern Auswirkungen auf politische Interaktionen. Da diese Aushandlungen an sozialen Schnittstellen stattfinden, werden sie aufgrund ihres dynamischen Charakters von Veränderungen der beteiligten Akteure beeinflusst. Der Wandel von Positionen, Perspektiven, Wissensbeständen und Logiken mancher Akteure aus den Dorfgemeinschaften sind dabei wichtige Elemente. Diese Veränderungen werden von Arenen auf lokaler Ebene über Aushandlungen auf andere Ebenen vermittelt. Eine Dimension dabei sind neue und differenziertere Positionen von Frauen, die ihnen den Anspruch auf politische Teilhabe ermöglichen. Sie hängen u.a. mit einem höheren (formalen) Bildungsniveau, eigenständiger Berufstätigkeit, den Aktivitäten als Vertreterinnen männlicher Bürger in den Dorfgemeinschaften, eigenen Migrationserfahrungen und der Teilnahme an diversen Protestformen zusammen. Diese breiteren Prozesse, die selten direkt ersichtlich sind, bilden in unterschiedlichsten Kombinationen die Grundlage für ein verstärktes Interesse und Engagement von Frauen an Politik. Damit sind sie letztlich ein zentrales Element für die Neuaushandlung. Allerdings ist diese Position auf allen Ebenen umkämpft. In den Comunidades existiert ein öffentlicher Raum, in dem entsprechende Diskurse im Widerstreit sind, die u.a. durch Wissensvorräte und damit verbundene Machtverhältnisse beeinflusst werden. Denn gerade unterschiedliche Bedeutungsgebungen sind zentral in den Aushandlungsprozessen. Dieser lokale Prozess entspricht vom Grundsatz her der Aushandlung auf anderen Ebenen. Diese Formen des Ineinandergreifens von sozialem und politischem Wandel waren in meinen Fallstudien sehr relevant. Aufgrund der in vielen Regionen Mexikos ähnlichen lokalen Organisationsstrukturen gehe ich davon aus, dass sie in anderen Regionen, die auf ähnliche Weise wie das Valle del Mezquital in das politische System Mexikos eingebunden sind und in den letzten Jahren Veränderungen durchlaufen, eine vergleichbare Bedeutung haben. Grundsätzlich dürfte dies auf Regionen zutreffen, in denen lokale Akteure, darunter einfache BürgerInnen, in politische Prozesse eingebunden werden. Besonders dann, wenn keine ausreichend funktionierenden repräsentativ-demokratischen Strukturen vorhanden sind. In meinen Fallstudien konnte ich feststellen, dass es drei Bereiche gibt, die sowohl für die Prozesse des sozialen Wandels bedeutend, als auch in der Politik zentral sind. Dementsprechend ziehen sich diese als drei Achsen durch meine Arbeit. Dies sind erstens Geschlechterverhältnisse und –ordnungen und die Position von Frauen in den untersuchten Prozessen, zweitens Entwicklung als wichtiges Feld politischer Aktivitäten und als Arena, in der Interaktionen vieler relevanter Akteure stattfinden,

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sowie drittens Migration und Transnationalität. Letztere haben einen wichtigen Einfluss auf die analysierten Transformationen, sind aber ein relativ neues Feld für Parteipolitiker, dem die bedeutende Gruppe der MigrantInnen als relativ neuer politischer Akteur entstammt. In allen drei Bereichen geht es also nicht nur um die Bedeutung der Politik, sondern auch um die sich aktuell stark wandelnde Position entsprechender Gruppen in politischen Interaktionen, also von Frauen in Geschlechterverhältnissen, MigrantInnen durch Transnationalität und Dorfgemeinschaften in Entwicklung. Allerdings sollten nicht sie allein als wichtige Akteure begriffen werden, denn obwohl ein besonderes Gewicht auf ihnen liegt, gibt es andere Gruppen, wie z.B. die Jugendlichen in den Dorfgemeinschaften und der Politik, die zwar aktuell nicht im Fokus politischer Diskurse und Interaktionen stehen, aber wie ich gezeigt habe in Zukunft an Bedeutung gewinnen können. Verflechtung zwischen lokalen und transnationalen Prozessen Die Bedeutung von finanziellen und nicht-materiellen Ressourcen, wie sozialen Remissen, die transnational vermittelt werden, weist auf einen ähnlichen Zusammenhang zwischen lokalisierten (auch regionalen und nationalen) und transnationalen Prozessen im Sinne der Translokalität hin. Sie verändern den Hintergrund, auf den Akteure an Schnittstellen zurückgreifen können. Da sie in den Encounters at the Interface vorwiegend lokalen Akteuren aus den Dorfgemeinschaften zur Verfügung stehen, verändert sich deren Position gegenüber parteipolitischen und staatlichen Akteuren. Es sind aber eben nicht nur transnationale Einflüsse, welche zu den Veränderungen führen, denn die relevanten Aushandlungen finden in konkreten Kontexten und spezifischen Situationen statt, die in der Regel lokal gerahmt sind. In diesen verbinden sich lokale und transnationale Prozesse und ermöglichen erst so den aktuell zu beobachtenden politischen und sozialen Wandel. Die transnationale Dimension stößt nicht alleine die Veränderungen an, sondern wirkt vielmehr wie eine Art Katalysator, der bereits ablaufende lokale Prozesse verstärkt und dynamischer werden lässt. Neben materiellen Transfers zeigt sich dies u.a. an Vorstellungen und Orientierungen, die von MigrantInnen aus den USA in die Dorfgemeinschaften eingebracht werden und dort Aneignungsprozessen unterliegen. Dieses Zusammenspiel ist in den untersuchten Fällen offenbar deshalb so ausgeprägt, weil die Fähigkeit der Dorfgemeinschaft, transnationale und lokale Elemente miteinander zu verbinden, eine historisch-kulturelle Dimension hat. In der Geschichte der Dörfer fand eine translokale Einübung des Umgangs mit verschiedensten Einflüssen statt, in der die Flexibilität und Offenheit der Dorfgemeinschaften gefestigt wurde. Diese Grundlage für den erfolgreichen Umgang mit externen Interventionen oder der geographisch-räumlichen Abwesenheit von Mitgliedern der Gemeinschaft ist meiner Analyse nach eine der wichtigsten Ressourcen indigener Gemeinschaften (s.u.).

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8.2 I NDIGENITÄT ALS H INTERGRUND POLITISCHEN W ANDELS : G EMEINSCHAFT , B ÜRGERSCHAFT , AUTONOMIE UND DIE A BWESENHEIT VON M IGRANT I NNENORGANISATIONEN Der indigene Hintergrund vieler Akteure ist in meinen Fällen von grundlegender Bedeutung für die Art, in der Prozesse sozialen und politischen Wandels ablaufen. Dies hängt einerseits mit ihrer sozialen Kategorisierung und Positionierung zusammen, die ein zentrales Element des Hintergrunds bildet, vor dem relevante Encounters at the Interface stattfinden. Andererseits ist er die kulturelle Grundlage auf der Leben und Institutionen der Menschen in den Dorfgemeinschaften organisiert sind. So löst gerade die Indigenität von Akteuren in meinem Feld ein scheinbares Paradox zwischen Autonomie und Eigenständigkeit auf der einen, sowie Offenheit, Flexibilität und Transnationalität auf der anderen Seite auf. In einem indigenen Kontext scheint entgegen Vorstellungen von Autonomie einerseits und von Abgeschlossenheit andererseits beides zueinander zu passen und sich teils sogar zu bedingen. Dadurch können indigene MigrantInnen über alle wichtigen Grundlagen für eine idealtypische Transnationalität verfügen und wenden sie in ihren Transborder Lives (Stephen 2007) fortwährend an. Die translokal und transnational eingeübte Flexibilität, die hohe soziale Kohäsion, das Belonging (Pfaff 2011) zur Gemeinschaft sowie historische Grundlagen machen aus indigenen Gemeinschaften potentiell idealtypische transnationale Akteure. Drei Aspekte, die mit dem indigenen Hintergrund vieler Akteure in meinem Feld zusammenhängen, waren für diese Untersuchung besonders relevant, da sie ihre Aushandlung im politischen Raum beeinflussen. Diese sind die Verfassung in Dorfgemeinschaften, die lokale Bürgerschaft welche die interne Positionierung bedingt, sowie die relative Autonomie dieser Gemeinschaften. Damit ist als ein vierter Punkt die geringe Bedeutung formaler MigrantInnenorganisationen verbunden. Gemeinschaft Ein zentrales Element der sozialen Organisation in meinem Feld ist die Dorfgemeinschaft. Diese erhält im Rahmen der Migrationsprozesse in die USA zunächst eine transnationale Dimension und wird dann immer weiter als Institution und als sozialer Raum transnationalisiert. Dieser Prozess stützt sich insbesondere auf den indigenen Hintergrund dieser Gemeinschaften, denn obwohl Indigene oft als lokal festgelegt und wenig mobil angesehen werden, scheinen paradoxerweise gerade ihr kultureller Hintergrund und die Verbindung zur Herkunftslokalität den Prozess der Transnationalisierung zu erleichtern. Bezogen auf bisherige Konzeptualisierungen von transnationalen Gemeinschaften handelt es sich um einen eher wenig diskutierten Typus. In

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der Literatur wird der Begriff transnationaler Gemeinschaften vorwiegend für solche Gemeinschaften verwandt, die sich als Folge eines Migrationsprozesses und transnationaler Verflechtungen im Ankunfts- und Herkunftsland herausbilden (vgl. Portes 2000; 1996; Faist 1998, 221f.; Pries 2008a, 190f.). Sie entstehen also weitgehend erst durch transnationale Migration, während die von mir untersuchten Dorfgemeinschaften bereits fest etabliert sind und dann transnationalisiert werden. Selbst in Studien die sich damit befassen, liegt der Fokus, mit Ausnahmen wie Besserer (2004), Besserer/Kearney (2006), Smith (2006) oder Martínez Escobar (2006), meist auf neuen Formationen im Ankunftsland als Ausdruck der transnationalen Gemeinschaft, aber nicht auf der Transformation der ursprünglichen Gemeinschaft (vgl. Beiträge in Fox/Rivera Salgado, 2004). Oft werden indigene Gemeinschaften und Organisationsformen weiter als vormodernes Relikt angesehen und fast im Sinne Tönnies‘ (1912) wird ihre allmähliche Auflösung in einem Prozess gesellschaftlicher Modernisierung mit dem Übergang von der Gemeinschaft in die Gesellschaft erwartet. Demgegenüber zeigt meine Analyse, dass die Gemeinschaft gerade durch ihre Verfasstheit als nicht strikt formalisierte soziale Organisationsform keineswegs an Bedeutung verliert, da sie durch die Fähigkeit zur Anpassung an sich wandelnde äußere Bedingungen einen großen Wert für ihre Mitglieder und eine zentrale Position in deren lebensweltlichen Relevanzstrukturen hat. So kann die Organisation in Dorfgemeinschaften sogar als Facette einer translokal vermittelten multiplen (oder fragmentierten) Moderne angesehen werden. Eine Besonderheit indigener Gemeinschaften ist die weitgehende Wahrung dieser Flexibilität, die immer ein grundlegendes Element ihrer Organisationsform war. So ist ihre flexible Grundhaltung nicht erst kürzlich etwa durch die Auflösung traditioneller Strukturen entstanden, sondern in einer Phase der Formalisierung und Anpassung an staatliche Vorstellungen der Organisation erhalten geblieben. Möglicherweise geschah dies in Verbindung mit ihrer Autonomie (s.u.) als Verteidigung des eigenen Raumes, der weiterhin in Einklang mit den Regeln der Gemeinschaft strukturiert sein sollte. Trotzdem ist der staatliche Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der gemeinschaftlichen Organisation sichtbar, was ein deutlicher Beleg dafür ist, dass die Gemeinschaft seit langem in der Lage ist, über Aushandlungsprozesse mit äußeren Einflüssen umzugehen. In den 1970er Jahren wurden insbesondere staatliche Vorstellungen angeeignet, welche die formale Struktur der Vertretung der Gemeinschaft betreffen, denn einerseits verlangte der Staat eine bestimmte Art von Ansprechpartnern für Projekte. Andererseits wurde dieser Aufbau der Delegación und von Komitees relativ schnell von den Gemeinschaftsmitgliedern als etwas Eigenes begriffen, obwohl die so entstandene Position des Delegado nominell deutlich schwächer war, als die des früheren Juez. Eine solche selbstbewusste Anpassung der

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Gemeinschaft an externe Ansprüche sichert letztlich ihren Erhalt. Die aktuelle Aushandlung politischer Kommunikationsmodi und Regeln ist die aktuelle Ausprägung dieser historischen Reihe von Transformationen. Gegenwärtig stellt die Dorfgemeinschaft eine Mischung aus formalen Elementen, die insbesondere die Interaktion mit der Außenwelt erleichtern, und solchen mit offenem und flexiblem Charakter dar, der die Aneignung externer Elemente2 sowie die Anpassung an Veränderungen ermöglicht. Die Comunidad ist damit eine zentrale Grundlage für die Organisation und das Alltagsleben in der Gemeinschaft, auch wenn lokale Akteure ganz unterschiedliche Sichtweisen haben. Unterstützt wird dies durch ein kollektives Gedächtnis zur Geschichte der Gemeinschaft mit zentralen Mythen, die durch die Betonung der Notwendigkeit dieser Institution ihrer sozialen Kohäsion dienen. Die Bedeutung der Gemeinschaft wird auch in der Politik und von Entwicklungsbehörden anerkannt, allerdings oft verbunden mit Versuchen der Instrumentalisierung. Dies ist ein Grund, warum die Dorfgemeinschaften bzw. deren Líderes nicht an einer dramatischen Umwälzung des politischen Systems interessiert sind. Wenn die Möglichkeiten einer geschickten Positionierung genutzt werden, haben Dorfgemeinschaften Vorteile in Aushandlungsprozessen, die nicht riskiert werden. Dazu gehört mittlerweile die Praxis, dass manche Gemeinschaften vor Wahlen ihre gesamten Stimmen als Verhandlungsmasse gegenüber Kandidaten einsetzen, während sie der klassischen Logik entsprechend von außen mobilisiert werden mussten und dann quasi-automatisch der „offiziellen Partei“ (der PRI) zufielen. Hervorzuheben ist, dass indigene Dorfgemeinschaften heterogene Gebilde sind, die eine große Diversität unterschiedlicher Akteure umfassen, deren Inszenierung als geschlossene Gemeinschaften aber von der Mehrheit der Mitglieder getragen wird. Bürgerschaft In Teilen der Literatur zu Migration und Transnationalität ist Citizenship ein zentrales Thema. Meist wird sie als Marker für die Integration von MigrantInnen in Ankunftsgesellschaften und als Mechanismus zu Regelung ihrer Position, sowie einer abgesicherten transnationalen Einbettung durch parallele Mitgliedschaften, wie im Falle doppelter Staatsbürgerschaften, betrachtet (Faist/Kivisto 2008; 2007; Faist 2000b, 201f.; 1998, 218). Neben diesen Ansätzen die sich mit formaler (Staats-) Bürgerschaft befassen, wurden neue Konzepte von Bürgerschaft entwickelt, die als kulturelle oder flexible Bürgerschaft (Rosaldo 2003; 1997; Ong 1999; 1996, 737f.; Miller 2002, 232f.) eher auf die Positionierung in und Teilhabe an einer Gesellschaft Bezug nehmen, ohne dass es dabei um den Besitz der Staatsbürgerschaft des entsprechenden Landes geht. Bisherige Versuche diese Konzeptionen auf die Position von Indigenen (MigrantInnen) in deren Herkunftsländern anzuwenden, sind der sozialen 2

Vgl. auch Kaltmeier 2004, 34f.

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Realität meiner Fälle nicht angemessen (z.B. Peña 1999a; 1999b; 1995). Hier ist eine translokalisierte Bürgerschaft der Dorfgemeinschaft ein zentrales Element für die Teilhabe an Entscheidungsprozessen innerhalb der Gemeinschaft und damit indirekt an politischen Aushandlungen mit externen Akteuren. Denn sie entspricht einem formalen Status, der es den Mitgliedern erlaubt in den Foren der Gemeinschaftsorganisation ihre Meinung zu äußern und abzustimmen. Obwohl sie eine zentrale Institution der Dorfgemeinschaften ist, unterliegt auch sie einem fortwährenden Wandel und ist relativ flexibel. So wurden zusätzlich zu den älteren vor Ort lebenden Männern in den letzten Jahren mehr Frauen und jüngere Männer eingebunden. Zudem können viele der zentralen Rechte und Pflichten auf VertreterInnen übertragen werden, welche dann die Bürgerschaft ausüben und praktizieren, so dass sie wie die Gemeinschaft an sich translokalisiert bzw. transnationalisiert wird. Ausgehend davon entwickelt sich im transnationalen Kontext eine abgeleitete wenig formalisierte Bürgerschaft, welche die Mitgliedschaft aller Angehörigen der Gemeinschaft und ihre praktische Bürgerschaft (Goldring 2002; 2001; 1998) umschreibt. Aus dieser entstehen nach und nach Ansprüche auf eine gleichberechtigte Teilhabe innerhalb der Organisation der Dorfgemeinschaft. Gleichzeitig lässt sich dieses Konzept von Bürgerschaft auf die gesellschaftliche Stellung Indigener in Mexiko übertragen. Zusätzlich zur nationalen Bürgerschaft, die ihnen in der Regel zugänglich ist, üben in Gemeinschaften organisierte Indigene eine eigene indigene Bürgerschaft so aus, dass sie einen gewissen Gegenpol zum Staat bildet. Diese Bürgerschaft, die Elemente von Goldrings, Rosaldos und Ongs Konzepten enthält, ermöglicht im Rahmen der eigenen Organisation und Autonomie einen gewissen Widerstand gegenüber externen Akteuren, sowie die angesprochene flexible Reaktion auf externe Einflüsse und Erwartungen, die über Schnittstellen an sie herangetragen werden. Damit ist diese spezifische transnationalisierte indigene Bürgerschaft, die auf den sog. Usos y Costumbres beruht, Ausdruck der Flexibilität und Handlungsmacht dieser Akteure und nicht etwa, wie oft angenommen, ein Mittel zur Ausgrenzung von Minderheiten innerhalb einer rigiden traditionalistischen sozialen Ordnung. Dies zeigt sich insbesondere in den internen Geschlechterordnungen. Eine verbreitete Kritik an Systemen indigener Selbstverwaltung ist deren angeblicher Widerspruch zu vielen individuellen Menschenrechten. Dieser Vorwurf wird insbesondere auf die Position von Frauen bezogen, die von internen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und damit machtlos seien. Meine Analyse belegt aber, dass gerade durch die Usos y Costumbres eine Öffnung der Sphären stattfinden kann, in denen Entscheidungen getroffen werden. Es entstehen informelle Möglichkeiten zur Teilnahme und mit der Zeit Teilhabe an der „internen Politik“ der Gemeinschaften. Teils fordern Frauen diese aufgrund ihrer speziellen Position ein, z.B. bedingt durch Berufstätigkeit oder ein hohes Bildungsniveau, teils werden sie als Vertreterinnen männlicher Bürger oder als eigenständige Bürgerinnen sogar dazu gezwungen. Meist

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ist Frauen aber eine eigenständige Teilnahme wichtig, da sie sich so Rechte erarbeiten, um nicht von anderen abhängig zu sein. Zudem geht es oft darum, die Mitgliedschaft und Rechte für ihre Kinder zu wahren, bis sich diese selbst darum kümmern können. Dies ist ein fortlaufender Prozess der einen entscheidenden Anteil an den Transformationen der gemeinschaftlichen Organisation hat. Allerdings kommt es durchaus auch dazu, dass gebildete Frauen keinen Zugang mehr zur Gemeinschaft finden, da sie sich quasi von dieser entfremdet haben. Diese Art der Bürgerschaft ist auch für Entwicklungsprozesse in den Dorfgemeinschaften bedeutend. Durch die angesprochene Verbindung interner politischer Prozesse in den Dörfern mit solchen auf anderen Ebenen sowie die Bedeutung von Entwicklung als zentralem politischen Feld wird über die Bürgerschaft eine zumindest indirekte Teilnahme an Aktivitäten in beiden Bereichen eingefordert. Entscheidend ist, dass die BürgerInnen gezwungen sind ihre Rechte und Pflichten wahrzunehmen, um ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bewahren zu können. Dahinter stehen sowohl praktische Erwägungen als auch eine dem Konzept des Belonging entsprechende Bindung an die Dorfgemeinschaft. Damit ist die indigene Ciudadanía umfassender als bspw. die reine Mitgliedschaft in politischen oder in migrantischen Organisationen und mit erheblichen Zwängen verbunden. Bezogen auf Entwicklungsprojekte der Gemeinschaften bedeutet dies unter anderem, dass sie, falls Bürgerschaft und Zugehörigkeit ausreichend zum Tragen kommen, erfolgreich Projekte mit einem hohen Maß an Eigenständigkeit umsetzen können. Dies verschafft ihnen eine gestärkte Position gegenüber Entwicklungsbehörden und Berufspolitikern und damit auch Zugang zu weiteren Ressourcen (vgl. Martínez Escobar 2006). Zentral ist dabei, dass Indigene und insbesondere indigene MigrantInnen die alltägliche Erfahrung machen, nur in der eigenen Comunidad (relativ) gleich zu sein und gleiche Rechte zu haben. Überall sonst sind sie durch verschiedene kontextabhängige und situative soziale Kategorisierungen auf Grundlage von Ethnizität, Position im Arbeitsprozess, Staatsangehörigkeit, Bildungsgrad etc., also konkret als Indigene, Migranten, Landarbeiter usw., immer ungleich, anders oder fremd. Wie es Stephen (2007) in ihrem Transborder-Ansatz ausdrückt, werden Indigene fortwährend mit Grenzen konfrontiert, sobald sie die Gemeinschaft verlassen. Ihre eigene Bürgerschaft bewahren sie aber in den unterschiedlichsten Konstellationen und tragen diese quasi mit sich, wodurch sie auch translokal und transnational aktiviert werden kann (vgl. Schmidt/Crummett 2004). Vor dem Hintergrund, dass in der Literatur meist angenommen wird, dass Indigene aufgrund ihrer sozialen Position eine reduzierte Bürgerschaft haben, erscheint dies paradox. Indigene und indigene MigrantInnen sind jedoch nicht einfach bloß von Diskriminierung betroffen, die zur eingeschränkten Praktizierung von Bürgerrechten führt, sondern es muss berücksichtigt werden, dass sie über ihre eigene Form von Bürgerschaft und damit ihren eigenen Ethos als Bürger verfügen. In ihrer Lebenswelt verliert die nationale Bürgerschaft dadurch an Rele-

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vanz gegenüber der transnationalisierten indigenen Bürgerschaft. Die damit einhergehenden gefestigten Vorstellungen über ihre Zugehörigkeit, Rechte und Werte erleichtern die flexible Anpassung an unterschiedliche soziale Kontexte, ohne den eigenen Hintergrund und Wert in Frage zu stellen. Dabei bezieht sich diese Art der Bürgerschaft immer auf eine Gemeinschaft mit einer konkreten Lokalität, zu der andere in Beziehung gesetzt werden. So wie die Dorfgemeinschaft als Raum und Organisation translokalisiert wird, so ist auch die Bürgerschaft translokal und damit über Grenzen hinweg und in diversen Kontexten aktiv. So ermöglicht sie letztlich einen sehr „modernen“ und mobilen Lebensstil. Autonomie Für die Transformation der Politik im Valle del Mezquital ist gerade die Interaktion auf mittlerer Ebene von großer Bedeutung. Auf dieser treten die Dorfgemeinschaften als kollektive Akteure auf. Dort wo ihre Organisation und die entsprechenden Institutionen nicht als bloßes funktionales Element des dörflichen Zusammenlebens verstanden werden, sondern auf die Eigenständigkeit der Comunidad und ihre Hoheit über alle Entscheidungen gepocht wird, welche die Gemeinschaft, ihre Mitglieder oder ihr Territorium betreffen, besteht ein Raum in dem Veränderungen stattfinden können. Zudem erhält sie eine gewichtige Position in Aushandlungen mit externen Akteuren. Da politische Akteure letztlich oft auf die Unterstützung durch Gemeinschaften angewiesen sind, die eine Grundlage des politischen Systems bilden, gewinnen die Gemeinschaften durch ihre Autonomie eine Aushandlungsmacht, die nicht ignoriert werden kann. Wichtig ist, dass es in dieser Art von Autonomie nicht zur Abkoppelung von der Außenwelt oder der Illusion einer Autochthonie (Geschiere 2009) kommt, denn Verbindungen zu externen Akteuren werden akzeptiert, gepflegt und genutzt. Es findet keine Abkehr vom Staat und seinen Vertretern statt, sondern im Gegenteil wird die Erfüllung deren Aufgaben und Pflichten eingefordert. Sehr wohl wird aber eine Distanz eingehalten, die im Zweifelsfall vor Ein- und Übergriffen, Korruption und Vereinnahmung schützen kann. Durch diese moderate Autonomie besteht eine Schnittstelle zwischen Dorfgemeinschaft und Außenwelt, die letztlich Möglichkeiten zur Neuaushandlung politischer Regeln und Positionen bietet. Daher bilden nicht nur Gemeinschaften wie Barranca Empinada, die ihre Eigenständigkeit sehr deutlich betonen und teils sogar aggressiv umsetzen, einen möglichem Raum für Veränderungen, sondern auch Dörfer wie El Thonxi, die fest in ein überbrachtes politisches Beziehungsgeflecht eingebunden scheinen. In allen Fällen schafft die Autonomie einen Raum der entsprechend Scotts Konzepten der Hidden Transcripts (1990) und der Weapons of the Weak (1985) zur Abschwächung äußerer Interventionen und der Wahrung einer selbstbestimmten Domäne genutzt wird. Es bleibt aber eben nicht bei der reinen Verteidigung des eigenen Raumes, sondern in ihm finden grundlegende Prozesse für die Teilhabe an der Neuaushandlung von Politik außerhalb der Gemeinschaft statt.

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Die Autonomie wird zudem durch die Transnationalisierung der Gemeinschaften gestärkt, denn sie gewinnen neue Ressourcen, die sie weniger abhängig von staatlichen Leistungen machen, was ihnen eine stärkere Position in Aushandlungen verleiht. Früher bestand die Vorstellung, dass die Gemeinschaften ohne externe Hilfe nichts erreichen können, und daher wird auch heute noch zunächst immer eine externe Finanzierung für Projekte gesucht. Die neue Position vieler Gemeinschaften führt aber dazu, dass sie nicht mehr zwingend das akzeptieren müssen, was ihnen von staatlicher Seite angeboten wird. So hat der Staat im Prinzip Definitionsmacht über Entwicklung in den Dörfern eingebüßt. Auf dieser Grundlage laufen Interaktionen anders ab, als dies von früher berichtet wird. Dies zeigt sich auch darin, dass jetzt auf allen Ebenen institutionelle Versuche unternommen werden, Ressourcen der Migranten einzubeziehen, bspw. auf nationaler Ebene im Programm 3x1 und im regionalen Kontext durch Aktivitäten parteinaher Organisationen, die versuchen finanzielle Unterstützung durch Migranten einzuwerben. So ermöglicht die paradox anmutende Kombination einer mit Bedacht gewahrten und notfalls verteidigten Autonomie und einer ausgeprägten Relationalität mit vielfältigen Verbindungen zu externen Akteuren, die insbesondere Kooperationen mit politischen Akteuren und staatlichen Stellen umfassen, den Dorfgemeinschaften erfolgreiche Aushandlungen und bietet eine Perspektive zur Überwindung von Klientelismus. Da dies auf der Organisation der Dorfgemeinschaften auf Grundlage der Usos y Costumbres fußt, sind diese trotz der genannten negativen Sichtweisen ein potentiell wichtiges Element eines spezifischen Demokratisierungsprozesses in Zentralmexiko. Fehlen von MigrantInnenorganisationen Die Relevanz der gemeinschaftsbasierten indigenen Organisationsformen wird dadurch unterstrichen, dass ich keine formale Organisation von MigrantInnen im Valle del Mezquital beobachten konnte. Alle Formen auf die ich stieß hingen eng mit der Dorfgemeinschaft zusammen und sind wichtige Elemente der Transnationalisierung dörflicher Institutionen. Und dies obwohl eigens eine Regierungsbehörde gegründet wurde, um die Schaffung formaler Vereinigungen zu fördern. Solche Organisationen und Vereinigungen gelten als Ausdruck des Engagements von MigrantInnen, wobei oft angenommen wird, dass dies zur Demokratisierung der Herkunftsgesellschaft beiträgt. Sie sollen MigrantInnen eine veränderte Aushandlungsposition dem Staat gegenüber bieten und bspw. angemessenere Entwicklungsprojekte für ihre Herkunftsorte anstoßen. Davon ausgehend wird teils angenommen, dass formale Migrantenorganisationen eine Voraussetzung für eine migrantische Zivilgesellschaft und ein Indikator für Demokratisierung an sich sind (Escala Rabadán /Bada/ Rivera Salgado 2006, 162f.).3 Zwar wurde von Cahidee und in der Literatur auf Home Town 3

Vgl. auch die Diskussion in Fox/Bada 2008 (S. 445f.).

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Associations und Migranten-Clubs in Hidalgo hingewiesen (Escala Rabadán 2005; Schmidt/Crummett 2004), aber ihre Bedeutung scheint nicht annähernd so groß zu sein, wie in anderen Regionen Mexikos, insb. Guanajuato, Jalisco, Michoacán, Puebla, Oaxaca und Zacatecas (vgl. Fox/Bada 2008; Orozco 2003; Portes/Escobar/Walton Radford 2006). Trotzdem konzentrieren sich sowohl staatliche Stellen, als auch Teile der Forschung stark auf diese Organisationen, so dass die von mir herausgearbeitete offenbar verbreitete Form transnationaler Organisation der MigrantInnen kaum beachtet wird. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass insbesondere staatliche Akteure Schwierigkeiten haben mit Organisationen umzugehen, die nicht formal verfasst sind. Gegen eher flexible und als informell wahrgenommene Organisationsformen existieren Vorbehalte u.a. bezüglich der Zuverlässigkeit, Wahl der Ansprechpartner sowie Legitimation und Reichweite der Vertretung. Formalität wird als Ideal angesehen und soll gefördert werden, obwohl es nicht zur gewohnten Organisationsform indigener MigrantInnen aus dem Valle del Mezquital passt. In deren sozialer Realität wird nämlich die Stärke einer flexiblen und anpassungsfähigen Organisations- und Lebensweise erfahren. Sie sind gerade durch die Fähigkeit zu ständiger Anpassung in interner und transnationaler Migration ökonomisch wie sozial besonders erfolgreich. Neben der Sorge um eine mögliche Kooptation durch Berufspolitiker sind viele MigrantInnen in meinen Fallstudien aus diesem Grund kaum an einer separaten formalen Organisation interessiert. Zum anderen werden prominente Fälle in der Literatur verallgemeinert, so dass spezifische Muster ohne systematischen Vergleich auf andere Regionen übertragen werden. Portes und Vickstrom (2011) stellen dies beispielhaft für die Diskussion zu Migration und Entwicklung fest, in welcher im amerikanischen Kontext Migrantenorganisationen aus Zacatecas als Blaupause behandelt und mögliche abweichende Ausprägungen solcher Prozesse in anderen Fällen kaum beachtet werden. Entsprechendes gilt für die generelle Debatte um indigene Migration in der vorschnell von manchen regionalen Fällen (insbesondere in Oaxaca) auf allgemeine Prozesse geschlossen wird. Wie ich gezeigt habe, können gerade andere Arten der Organisation und Einbindung von MigrantInnen Perspektiven für Demokratisierung und Entwicklung eröffnen. So zeigt die geringe Anzahl formaler MigrantInnenorganisationen gerade nicht eine mangelnde demokratische Reife der MigrantInnen, sondern ist im Gegenteil Ausdruck ihrer Vorstellung von politischer Interaktion und ihrer Demokratievision. Sie verweigern sich dieser Art von Zusammenarbeit mit dem Staat, da sie befürchten, dass die Organisationen von Politikern oder dem Staat kooptiert und somit ihr Engagement instrumentalisiert werden könnte. Stattdessen nutzen sie andere Wege sich an politischen Aushandlungsprozessen und der Entwicklung ihrer Gemeinschaften zu beteiligen. Dieses Misstrauen und die resultierende Verweigerung können Beleg für ein wachsendes demokratisches Bewusstsein.

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8.3 D EMOKRATISIERUNG ODER „ MODERNISIERTER TRANSNATIONALER K LIENTELISMUS “? Abschließend möchte ich Beobachtungen hervorheben, die vermuten lassen wie sich die politischen Aushandlungsprozesse im Valle del Mezquital und darüber hinaus entwickeln könnten. Denn die analysierten Prozesse eines Doing Democracy im Valle del Mezquital bleiben nicht ohne Reaktion, sondern manche politische Akteure stellen sich auf die veränderte Situation ein. So treten neben zuvor politisch kaum relevanten Gruppen innerhalb der Dorfgemeinschaften, wie Frauen, MigrantInnen und Jugendlichen, auch auf anderen Ebenen neue Typen politischer Akteure auf den Plan. Während viele Politiker alten Deutungsmustern verhaftet bleiben und sich an gewohnte Strategien klammern, reagieren manche AktivistInnen aus parteinahen (Klientel-)Organisationen offen und kreativ. Sie passen sich den Erwartungen der BürgerInnen an, vermitteln ein Bild der Offenheit im Gegensatz zu verkrusteten politischen Strukturen und versuchen relevante neue Themen aufzunehmen. Eine entsprechende Strategie ist bspw. Hilfestellungen bei der Interaktion mit Behörden zu geben, so dass sich ein Dienstleistungscharakter statt der früher vorherrschenden klientelistischen Beziehung entwickelt. Durch ihre ungewohnte Haltung sind solche Akteure gerade für Frauen aus den Dorfgemeinschaften interessante Ansprechpartner, da sich diese von klassischen Politikern oft nicht ernstgenommen oder durch mangelnde Kenntnis der politischen Spielregeln befangen und unwohl fühlen. Ein weiterer Bereich auf den dies besonders zutrifft ist das Feld der transnationalen Migration. Denn Organisationen, die ursprünglich zur Festigung klientelistischer Netze gegründet wurden, versuchen auf einen befürchteten Abbruch der Klientelbindungen durch die angewachsene Migration zu reagieren, indem sie gerade MigrantInnen zu einem Hauptfokus ihrer Arbeit machen. So existieren spezielle Angebote an MigrantInnen, wie z.B. eine sicherere Rückreise, die Registrierung von in den USA geborenen Kindern oder die Legalisierung mitgebrachter Fahrzeuge. Gleichzeitig versuchen sie in den USA MigrantInnen zu organisieren und ihnen Angebote zu machen. Ein prominentes Beispiel aus Hidalgo ist die MigrantInnenorganisation Consejo de la Bahía de Tampa in Florida, die einen eigenen Ausweis ausstellt, der offenbar von US-amerikanischen Behörden anerkannt wird. Offenbar wird so versucht Klientelnetze zu „reparieren“, transnational auszuweiten und gleichzeitig von den Ressourcen der MigrantInnen zu profitieren. Dazu wird auch versucht ethnische Identität durch neo-traditionalistische Diskurse zu instrumentalisieren, um das Bild einer übergreifenden ethnischen Gemeinschaft zu konstruieren, als deren Vertreter man sich präsentieren möchte. Es wird versucht, eine Art transnationaler Politik zu implementieren, die ich als transnationalen Klientelismus konzeptualisiere. Auch

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wenn diese zunächst dem Doing Democracy entgegenstehen, kommt durch Anpassungsversuche weitere Bewegung in das politische Gefüge. Es zeigt sich, dass die vielfältigen Modi der lokalen Herstellung von Demokratie (multiple modes of doing democracy) durch die analysierte Vernetzung von Prozessen des Wandels in unterschiedlichen Sphären im Alltag der Akteure begründet sind und sich in alltäglichen Praktiken äußern. Aus dem Alltag der Dorfgemeinschaften heraus entsteht eine lokal angepasste Form der Demokratisierung, die sich in Aushandlungen manifestiert und über soziale Schnittstellen auf andere Ebenen vermittelt wird. Bemerkenswert ist, dass diese aufgrund ihres Entstehungskontextes den Charakter eines von unten angestoßenen politischen Wandels mit einer potentiell breiten Basis hat. Somit besteht die Perspektive einer Transformation von Politik die erstens von außerhalb des Parteiensystems initiiert und zweitens nicht „von oben verordnet“ wird. In diesem Sinne kann die Dorfgemeinschaft als wichtige Sphäre im Demokratisierungsprozess verstanden werden, die sowohl lokal verankert und damit abgesichert ist, als auch durch transnationale Vernetzung und nationale sowie globale Diskurse zu Demokratie bestärkt wird (vgl. Lachenmann 2006; 1997). Viele Berufspolitiker bleiben im Gegensatz dazu eher klientelistischen Logiken verhaftet. Oft nehmen sie Veränderungen bei den BürgerInnen entweder nicht wahr oder sind so sehr davon überrascht, dass es ihnen schwer fällt zu reagieren und versuchen, sich an die bisher gültigen Regeln zu klammern. Andere wiederum scheinen bewusst auf den Erfolg klientelistischer und damit gewohnter politischer Interaktion zu setzen. Sogar solche Politiker, die explizit gegen die ehemalige Staatspartei PRI antreten, fallen regelmäßig in entsprechende Verhaltensweisen zurück, da diese ihrer politischen Ausbildung entsprechen. Sie hoffen auf deren Wirksamkeit oder werden sogar durch Erwartungen von BürgerInnen dazu bewegt. Auch dies entspricht letztlich der Verbindung klassischer und neuerer Logiken, welche die Grundlage vieler aktueller politischer Strategien bildet. Dazu gehören die angesprochenen aktualisierten Strategien und die Entstehung anderer Typen parteipolitischer Akteure. Obwohl die überbrachten Logiken partiell fortbestehen, existieren daher neue Anlaufpunkte für die BürgerInnen, wodurch Gruppen, denen bisher kaum politische Teilhabe zugestanden wurde, leichtere Zugänge einerseits zu politischen Akteuren und damit zum politischen System und andererseits schlicht zu staatlichen Leistungen erhalten. Diese Neuaushandlung politischer Interaktion kann also zu einer größeren politischen Teilhabe führen, aber möglicherweise auch zu einem modernisierten Klientelismus. Dieser ambivalente Prozess, der letztlich dem Charakter sozialer Schnittstellen entspricht, zeigt, dass die Akteure der Dorfgemeinschaft als Teil von Zivilgesellschaft nicht nur staatliche Instanzen kontrollieren und deren Beziehungen zu den BürgerInnen verändern, sondern gleichzeitig im Sinne Gramscis (1996, 1502; 1992, 783) eine gewisse Stabilisierung der Machtverhältnisse eintritt.4 4

Siehe auch Neubert 2001, Votsos 2001 und Kebir 1991.

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Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Wandel generell im bisherigen System fußt und daher von entsprechenden Logiken durchzogen ist. Nichtsdestotrotz findet aber eine Transformation statt, die als besonderer Fall der praktischen Herstellung von Demokratie analysiert werden muss. Die Richtung in die sich Politik im Valle del Mezquital und darüber hinaus entwickeln wird, ist aufgrund des dynamischen Charakters der zugrunde liegenden Aushandlungen unsicher. Dies hängt u.a. auch damit zusammen, dass die Dorfgemeinschaften selbst oft nicht ausreichend geeint sind. Obwohl es eine starke soziale Kohäsion gibt, der Stellenwert der Gemeinschaft hoch ist und ihre Mitglieder auf eine flexible Zusammenarbeit angewiesen sind, wird der gemeinschaftliche Charakter häufig durch interne Reibereien untergraben, die bspw. auf Neid, Mißtrauen und internen Konflikten um Ressourcen beruhen. Problematisch wird dies, wenn es zu einer formalen Spaltung kommt oder die Gemeinschaft so geschwächt wird, dass sie nicht mehr in der Lage ist, gemeinsame Forderungen zu stützen. So wird das bestehende Potential, das ihre soziale Organisationsform bietet, relativ selten genutzt. Die vorliegenden Forschungsergebnisse zeigen, welche subtilen Veränderungen sich bei politischen Handlungslogiken, Strategien und Interaktionsmodi vollziehen. Gleichzeitig wurde verdeutlicht, dass es Gegentendenzen zu dieser Eröffnung demokratischer Perspektiven gibt und oft überbrachte und neuere politische Logiken und Strategien miteinander kombiniert werden. Dadurch bekommen die aktuellen Transformationen einen unberechenbaren Charakter, der es erschwert, zukünftige Entwicklungen zu prognostizieren. So entsteht ein widersprüchliches Bild unterschiedlicher Tendenzen, für die stellvertretend auf nationaler Ebene die drei oben genannten aktuellen politischen Ereignisse stehen. Mit Sicherheit werden sich die Prozesse fortsetzen und weiter Forderungen nach politischer Teilhabe aufgestellt. Sie werden aber nicht schnell zu einer abgeschlossenen demokratischen Transformation führen. Eine entscheidende Frage ist, ob diese Veränderungen auf die nationale Ebene vermittelt werden können. Dies ist m.E. schwierig, da ein Großteil der Akteure die, wie z.B. politische Führungspersönlichkeiten und Abgeordnete, zu dieser Vermittlung in der Lage wären, zu sehr dem klassischen politischen System Mexikos verhaftet sind oder sich ihm mit der Zeit anpassen. So kommt das analysierte Doing Democracy bisher nicht mit ausreichender Kraft über die lokale und regionale Ebene hinaus. Dies ist vermutlich erst dann möglich, wenn eine übergreifende soziale Bewegung entsteht, die auf den beschriebenen Prozessen aufbauen und Anknüpfungspunkte für diverse Arten der Forderung nach Teilhabe bieten kann. In dieser Situation bleibt zu beobachten, ob sich tendenziell eher Perspektiven der Demokratisierung ausbreiten oder diese aufgefangen und in einen „modernisierten transnationalen Klientelismus“ umgewandelt werden.

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Glossar fremdsprachlicher Begriffe und Abkürzungen

Acarreo | Politische Praxis, bei der möglichst viele BürgerInnen zu Wahlkampfveranstaltungen und anderen politischen Ereignissen „herangefahren“ werden, um die Stärke der jeweiligen Parteibasis zu demonstrieren. Oft werden im Gegenzug Geschenke verteilt. Aguas Negras | Abwässer aus Mexiko-Stadt, mit denen landwirtschaftliche Flächen bewässert werden Agraristas | Politische Strömung im postrevolutionären Mexiko, die Anliegen der ländlichen Bevölkerung vertrat Alternancia de Poder | Macht- bzw. Regierungswechsel Asamblea | Versammlung, hier Dorfversammlung Asistencialismo | Antragsstellermentalität, Gewöhnung daran, auf staatliche Transfers zu warten, statt Eigeninitiative zu ergreifen Autoridades | Autoritäten, gewählte Amtsträger innerhalb der Dorfgemeinschaft; oft aber auch spezifisch für die Inhaber der höchsten Ämter genutzt Barrendero | s. Vocales „Bienvenido Paisano“ | Staatliches Programm, das MigrantInnen die sichere Heimreise erleichtern soll, sie sollen sich willkommen fühlen Bienes Comunales | Form des kollektiven Landbesitzes Cahidee | Dirección General de Atención al Migrante – dem Entwicklungsministerium zugeordnete Behörde, die sich um die MigrantInnen des Bundesstaates Hildalgo kümmern soll Cargo | Amt innerhalb der Dorfgemeinschaft Caudillo/Caudillismo | Charismatischer Anführer mit großer Anhängerschaft bzw. entsprechende politische Handlungsrationalität CDI | Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas – dem Zentralstaat zugeordnete Behörde, soll die Entwicklung indigener Völker fördern Ciudadanía | Bürgerschaft, hier speziell als Bürgerschaft einer indigenen Dorfgemeinschaft, die bestimmte Rechte und Pflichten impliziert

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Clausura | Abschlussfeier eines Schuljahres Comisariado | Vorsitzender eines Ejidos Comisión/Comisiones | Ausschuss einer Dorfgemeinschaft für die Verhandlung mit staatlichen Behörden Comités | Komitees für spezifische Aufgabenbereiche in der Dorfgemeinschaft Compadrazgo | Quasi-familiäre Beziehung über eine Patenschaft Comunidad | Gemeinschaft oder spezifisch (indigene) Dorfgemeinschaft Cooperaciones | Finanzielle Beiträge die BürgerInnen für Projekte der Dorfgemeinschaft leisten müssen Coyote | „Schleuser“ an der Grenze zu den USA CSH | Consejo Supremo Hñähñu – PRI-nahe Organisation, die u.a. durch ethnische Diskurse versucht WählerInnen in der Region, aber auch MigrantInnen anzusprechen Dedazo | Bestimmung des nächsten Präsidenten durch Fingerzeig des Vorgängers Delegación | Der Delegado und seine Mitarbeiter, höchstes Komitee im Dorf Delegado | Oberste Autorität der Dorfgemeinschaft, vertritt sie nach außen und hat nach innen Aufgaben eines Friedensrichters Dispensa | Lebensmittelpaket Distrito Federal | Verwaltungseinheit die Mexiko-Stadt umfasst Ejido | Form des kollektiven Landbesitzes EZLN | Ejército Zapatista de Liberación Nacional – (Indigene) Guerillaorganisation im süden Mexikos Estado Expulsor | Bundesstaat der MigrantInnen „aussendet“ Faena | Gemeinschaftsarbeit die von BürgerInnen der Dörfer zu leisten ist Feria | Kirchliches Patronatsfest, in der Regel das zentrale Fest eines Ortes Frente Democrático Nacional | Oppositionelles Wahlbündnis bei der Präsidentschaftswahl 1988, wurde um den Sieg betrogen Graduación | Erfolgreicher Abschluss des Schulbesuchs Guías | Führen MigrantInnen beim irregulären Grenzübertritt Hidalguenses | Personen aus Hidalgo INI | Instituto Nacional Indigenista – in der Hochphase des Indigenismo gegründete Vorgängerorganisation der CDI Indígena | Indigene/r Indigenismo | Politik, die die Integration und schließlich Assimilierung Indigener in die mexikanische Nationalgesellschaft zum Ziel hatte Juez | Richter – hier Friedensrichter auf Dorfebene Junta | Versammlung, teilweise für Dorfversammlungen verwandt, sonst spezifischer die Arbeitstreffen von Komitees oder der Delegación La Política | „Die Politik“ – Terminus, mit dem sich einfache BürgerInnen oft auf den politischen Bereich bzw. auf politische Interaktionen und insbesondere die aus ihrer Perspektive negativen Aspekte beziehen

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Licenciado/a | Träger/in des niedrigsten akademischen Grads in Mexiko, umgangssprachlich für Anwälte genutzt Liderazgo | Führerschaft Líderes | Anführer oder Vertreter eines Dorfes bzw. eienr bestimmten Gruppe Maestro/a | Lehrer/in Maestros/as Bilingües | Lehrer/innen im bilingualen Schulsystem, stammen selbst aus indigenen Gemeinschaften oder Regionen Maras | Kriminelle Jugendbanden, v.a. in Zentralamerika aktiv Mayordomia | Kirchliches Ehrenamt Mestizaje | Oft rassistisch konnotierte Vorstellung der Verbindung („Vermischung“) indigener und europäischstämmiger Gruppen oder auch deren Kulturen Milpa | Kleine Felder, die mit Mischkulturen in kleinbäuerlicher Wirtschaftsweise bestellt werden Municipio | Politische Gemeinde – formal niedrigste politische und Verwaltungseinheit in Mexiko, hat in der Regel eine beachtliche territoriale Ausdehnung und umfasst eine Vielzahl einzelner Ortschaften Nueva Alianza | Siehe PANAL Oportunidades | Zentrales Sozialprogramm des mexikanischen Staates PAN | Partido Acción Nacional – konservative Partei die vom Jahr 2000 bis 2012 die Regierung auf nationaler Ebene stellte und zuvor die älteste Oppositionspartei war; im Valle del Mezquital aber weitgehend unbedeutend, u.a. weil sie eher als Partei der Besserverdienenden, Unternehmer oder Städter angesehen wird PANAL | Partido de la Nueva Alianza – Partei die als Abspaltung von der PRI entstand und vor allem von Mitgliedern der LehrerInnengewerkschaft SNTE getragen wird Paro Forzado | Erzwungener Streik, oft unter Gewaltandrohung Partido Oficial | Bezeichnung für die PRI, die auf ihren früheren Status als de facto Staatspartei Bezug nimmt PIVM | Patrimonio Indígena del Valle del Mezquital – Organisation zur regionalen Entwicklung des Valle del Mezquital, die dem Zentralstaat unterstand PFP | Policía Federal Preventiva – Bundespolizei Pollero | s. Coyote Posadas | Vorweihnachtliches Ritual das an die Herbergssuche von Maria und Josef erinnern soll Presidencia | Hier Bezeichnung für die Verwaltung eines Municipios und/oder den Bürgermeister und seinen Stab Presidente | Bürgermeister eines Municipios PRI | Partido Revolucionario Institucional – Partei die 72 Jahre lang Mexiko regierte, lange als Quasi-Staatspartei, im Jahr 2000 die Präsidentschaftswahlen verlor, aber viele Bundesstaaten weiterhin regiert und 2012 auch wieder die Präsidentschaftswahlen gewann.

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Priista/Perrdista/Panista | Anhänger oder Aktivist der jeweiligen Partei PRD | Partido de la Revolución Democratica – links-liberale Oppositionspartei, lange als einzige wirkliche Oppositionspartei angesehen, in den 1980er als Abspaltung von der PRI und aus verschiedenen oppositionellen Gruppen gegründet Profesionista | Person die eine formale Ausbildung hat und einer formalen Arbeit nachgeht Progresa | Vorläufer von Oportunidades Servicios | Dienstleistungen – hier Ausdruck für alle Versorgungseinrichtungen, Dienstleistungen und Infrastruktur, die im Rahmen der dörflichen Organisation geschaffen werden, v.a. aber Wasser- und Stromversorgung SNTE | Sindicato Nacional de los Trabajadores de la Educación – Lehrergewerkschaft, früher sehr staatstragend und PRI-treu Subdelegado | Vertreter des Delegados Suplente | Vertreter in einem Komitee o.ä. Tornillo | Früher sehr gebräuchlicher Hut aus Palmfasern Usos y costumbres | Sitten und Gebräuche – interne Regeln der Dorfgemeinschaften und ihrer Organisation Vecinos | Nachbarn – Bezeichnung für die anderen Bewohner eines Dorfes Viejas criticonas | „Nörglerische Alte“ – Ausdruck der genutzt wird, um aktive Frauen zu kritisieren, wird aber auch von ihnen selbst, dann ironisch, verwandt Viejitos | Ältere Dörfler die schon im „Ruhestand“ und damit keine Bürger mehr sind Vocal | Niedrigstes Amt in Komitees und der Delegación, ist insbesondere dafür zuständig, Informationen im Ort zu verbreiten Voz y Voto | Stimme und Wahlstimme – bezeichnet die Rechte von BürgerInnen in der dörflichen Organisation „Ya soy Hidalguense!“ | Programm des Bundesstaates Hidalgo das die Registrierung im Ausland geborener Kinder erleichtern und forcieren soll Zapatisten | Historisch Anhänger der Revolutionsarmee Emiliano Zapatas, heute Anhänger der EZLN 3x1 (tres por uno) | Kofinanziertes Entwicklungsprogramm, in dem staatliche Stellen für jeden von MigrantInnen eingesetzten Peso drei weitere hinzugeben

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IM TEXT GENANNTE INFORMANTINNEN (IN REIHENFOLGE DER N ENNUNG) Paco | Politischer Aktivist aus einem Dorf im Valle del Mezquital Brandt | Ehemaliger Mitarbeiter einer deutschen Stiftung, kennt das Valle del Mezquital seit mehreren Jahrzehnten Profesor Averno | Lehrer in Barranca Empinada, Protestant Julio | Junger Mann aus Cardonal, Tourismus-Studium, arbeitete für Lokalpolitiker Comisariado von Salvador | Vorsitzender des Ejidos von Salvador Juan | Lehrer, Líder in El Thonxi, zeitweise Delegado, später Posten in der Gemeindeverwaltung, Pri-Anhänger, später zu Panal Sebastián | Licenciado aus Barranca Empinada, lokaler Líder, im Municipio politisch aktiv Don Pablo | Älterer Mann aus El Thonxi, Campesino, arbeitete in Mexiko-Stadt Don Salvador | Älterer Mann aus El Thonxi, Campesino Adrián | Erster Einwohner von El Thonxi, der in die USA migrierte, kehrte depressiv zurück Doña Carmen | Ältere Frau aus El Thonxi, arbeitete in ihrer Jugend als Hausmädchen in Mexiko-Stadt Inés | Jüngere Frau, migrierte mit Ehemann in die USA, mit Kindern zurückgekehrt Don Raimundo | Älterer Migrant aus El Thonxi, lebt in USA, kommt sporadisch nach Mexiko, Wegbereiter für viele MigrantInnen Doña Luisa | Gehört zur Gruppe „kritischer Frauen“ in Barranca Empinada, arbeitete in der Jugend in Nordmexiko, Ehemann ist migriert Doña Adriana | Gehört zur Gruppe „kritischer Frauen“ in Barranca Empinada, arbeitete in der Jugend in Nordmexiko, Migrationserfahrung mit Ehemann in den USA, aktuell wieder dort Catalina und Lucio | Ehepaar aus El Thonxi, Migrationsrückkehrer Silvia | Jüngere Frau, migrierte mit Ehemann in die USA, mit Kindern zurückgekehrt Comisariado von Barranca Empinada | Vorsitzender des Ejidos von Barranca Empinada, aktiv in der Gruppe, die nicht zu den Licenciados gehört Tomás | Delegado von Barranca Empinada, migrierte in die USA, entschloss sich zur endgültigen Rückkehr, jetzt Kleinbauer Maximino | Migrant aus El Thonxi, steht Líderes nahe, in viele dorfinterne Konflikte involviert Pablo | Früherer Migrant, kehrte krank aus den USA zurück, zeitweise Subdelegado Mariana | Lehrerin, lange Laufbahn, Bürgerin in El Thonxi, sehr aktiv Catarina | Lebt in el Thonxi, kombiniert kleinere Einkommensquellen, Teilnahme an Frauenprojekten, Ehemann ist Lehrer Don Lázaro | Líder in Barranca Empinada, früher städtischer Aktivist, unter PRDBürgermeister Amt in der Gemeindeverwaltung von Ixmiquilpan

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Doña Elena | Ältere Frau aus El Thonxi, gehörte zu kirchlich initiierter Frauenkooperative, seit langem verwitwet Goyo | Líder in El Thonxi, Lehrer, PRI-Anhänger, später Panal, zeitweise Delegado Francisco | Jugendlicher aus El Dinzhi, Schüler Doña Lydia | Lebt in El Thonxi Doña Pancha | PRI-Sympathisantin in Barranca Empinada Don Carlos | PRI-Sympathisant, früher wichtige Position in Barranca Empinada Dorothea | PRI-Aktivistin in El Thonxi, lebte lange in Mexiko-Stadt, arbeitete zeitweise für das DIF, sehr aktiv in der Parteipolitik Benedicto | Kleinbauer, ursprünglich aus El Dinzhi, verheiratet in El Thonxi Polizeikommandant | Kommandant der regionalen Polizeistation der Policía Federal Preventiva in Ixmiquilpan Don Rupestre | Enger Mitarbeiter des PRD-Bürgermeisters in Cardonal Magdalena | Lebt in Cardonal, Tochter eines früheren Bürgermeisters Salvador | Bauer aus einem Ort bei Ixmiquilpan, Mitglied der Delegación Leiterin Cahidee | Leiterin der Regierungsbehörde, die sich um MigrantInnen kümmert Roberto | Migrant aus el Thonxi, lebt seit mehreren Jahren dauerhaft mit deiner Familie in den USA, kann sich keine Rückkehr vorstellen Manuel | Arbeitet mit MigrantInnen-Organisationen in den USA, stammt aus Michoacán Alberto | Junger Migrant aus El Thonxi, beklagt mangelndes Engagement der MigrantInnen

IM TEXT GENANNTE BEOBACHTUNGSPROTOKOLLE UND MEMOS (IN REIHENFOLGE DER N ENNUNG) Dorfversammlung El Thonxi Jahresendversammlung El Thonxi Migration Líderes, Clearwater Gruppendiskussion MigrantInnen SC Konflikt Jugendliche Auseinandersetzung El Thonxi Maximino Wasser Clausura Wahlkampfveranstaltung

Wahlkampffinale Proteste Ixmiquilpan Proteste Cardonal Verkehrsunfall Neuer Wahlkampf Nach Machtwechsel Besuch Landwirtschaftsministerium Wahlkampf Ixmiquilpan Kampagne Pachuca Besuch CSH

Politikwissenschaft Jennifer Schellhöh, Jo Reichertz, Volker M. Heins, Armin Flender (Hg.)

Großerzählungen des Extremen Neue Rechte, Populismus, Islamismus, War on Terror April 2018, 214 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4119-6 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4119-0 EPUB: ISBN 978-3-7328-4119-6

Winfried Brömmel, Helmut König, Manfred Sicking (Hg.)

Populismus und Extremismus in Europa Gesellschaftswissenschaftliche und sozialpsychologische Perspektiven 2017, 188 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3838-7 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3838-1 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3838-7

Werner Schiffauer, Anne Eilert, Marlene Rudloff (Hg.)

So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch 90 wegweisende Projekte mit Geflüchteten 2017, 344 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3829-5 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3829-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3829-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Politikwissenschaft Werner Schiffauer, Anne Eilert, Marlene Rudloff (Hg.)

So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch Bedingungen für die nachhaltige Projektarbeit mit Geflüchteten. Eine Bilanz Februar 2018, 318 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3830-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3830-5

Ines-Jacqueline Werkner

Gerechter Frieden Das fortwährende Dilemma militärischer Gewalt Januar 2018, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4074-8 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4074-2

Dominik Hammer, Marie-Christine Kajewski (Hg.)

Okulare Demokratie Der Bürger als Zuschauer 2017, 198 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4004-5 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4004-9

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