Brüderlichkeit und Bruderzwist: Mediale Inszenierungen des Aufbaus und des Niedergangs politischer Gemeinschaften in Ost- und Südosteuropa 9783737001366, 9783847101369, 9783847001362


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German Pages [552] Year 2014

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Brüderlichkeit und Bruderzwist: Mediale Inszenierungen des Aufbaus und des Niedergangs politischer Gemeinschaften in Ost- und Südosteuropa
 9783737001366, 9783847101369, 9783847001362

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Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas / Cultural and Social History of Eastern Europe

Band 2

Herausgegeben von Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner, Claudia Kraft, Julia Obertreis, Stefan Rohdewald und Frithjof Benjamin Schenk

Tanja Zimmermann (Hg.)

Brüderlichkeit und Bruderzwist Mediale Inszenierungen des Aufbaus und des Niedergangs politischer Gemeinschaften in Ost- und Südosteuropa

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0136-9 ISBN 978-3-8470-0136-2 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Jugoslav Vlahovic´ : Vier Hände Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Tanja Zimmermann (Konstanz) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I. Konzepte und Ausprägungen der »Brüderlichkeit« im 20. und 21. Jahrhundert Stefan Troebst (Leipzig) Kommunistische Nationskonstruktionen. Indigenisierung, Zwangsassimilierung, Zwangsumsiedlung, separatistisches Nation-Building und supranationale Konzeptionen . . . . . . . . . . . .

49

ˇ olovic´ (Belgrad) Ivan C Unsere Brüder, unsere Freunde. Ein Beitrag zur Anthropologie der internationalen Freundschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Jan Dutoit / Boris Previsˇic´ (Basel) Zwischen Stammesdenken und internationaler Solidarität. Bratstvo im Ersten und Zweiten Jugoslawien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Aleksandar Jakir (Split) Die Sokol-Bruderschaft zwischen den Weltkriegen in Dalmatien . . . . .

99

Christian Voß (Berlin) Zur Vergleichbarkeit jugoslawischer und EU-europäischer Brüderlichkeitsdiskurse – aus Sicht der Eurokrise seit 2010 . . . . . . . . 115

6

Inhalt

Mirt Komel (Ljubljana) “Brotherhoods and Unities”. European Citizenship and Nationalism in Yugoslavia’s Successor States applied to the case of post-Dayton Bosnia and Herzegovina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

II. Mediale Konstruktionen der Brüderlichkeit Kristin Lindemann (Konstanz) Slawen oder Muslime? Bosnisch-muslimische Intellektuelle zwischen „Blutsbrüdern“ und „Glaubensbrüdern“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Milka Car (Zagreb) Brüderlichkeitsdiskurse im Spiegel der Rezeptionsgeschichte im kroatischen Nationaltheater in Zagreb um 1918 . . . . . . . . . . . . . . 169 Anna Bohn / Jean-Claude Fombaron (Berlin – Saint-Di¦-des-Vosges) Vom Feind zum Bruder. Zu medialen Inszenierungen der Verbrüderung an der Ostfront im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Nenad Makuljevic´ (Belgrad) Jugoslawien vor Jugoslawien. Südslawische Brüderlichkeit unter Künstlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Tanja Zimmermann (Konstanz) Ausstellungswesen und transnationales nation building im Ersten und Zweiten Jugoslawien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Katarina Mohar (Ljubljana) Representations of the National and Supranational in Socialist Slovenia. A Case Study of Two Historical Frescoes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Milan Popadic´ (Belgrade) On the Ruins of Socialist Novi Pazar. Memories of the One Brotherhood-and-Unity Vision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Andrea Rehling (Mainz) Brüder international. Jugoslawiens Welterbe als Gedächtnis der blockfreien Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Inhalt

Dmitri Zakharine (Konstanz) Vom christlichen osculum pacis zum sozialistischen Bruderkuss. Kollektive Identitätsbildung in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg

7

. 301

Jan Rand‚k (Prag) Geschichtsbilder im Dienste der sozialistischen Freundschaft. Die Hussiten in den Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Manuela Schwärzler (Konstanz) Zu Besuch bei Brüdern. Tschechische Reiseberichte über Jugoslawien . . 353 Tatjana Petzer (Berlin/Zürich) Vestimentäre Brüderlichkeit. Moden der Einheit in Jugoslawien und der Tschechoslowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Ljiljana Reinkowski (Basel) Die letzte Welle der Brüderlichkeit? Die Neue Welle als kulturelle Bewegung in Jugoslawien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

III. Mediale Dekonstruktionen traditioneller „Brüderlichkeit“ Bohunka Koklesov‚ (Bratislava) Tschechen und Slowaken vor dem Zweiten Weltkrieg – ihre Auseinandersetzungen und Konflikte im Spiegel der Presse und der Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Katrin Winkler (Konstanz) Medien und Regionalismus in Jugoslawien. TV und regionale Konzepte in der Fernsehzeitschrift Studio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Davor Beganovic´ (Konstanz/Tübingen) Bedrückende Brüderlichkeit. Drastische Körperbilder in Mirko Kovacˇs Gubilisˇte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Ruzˇa Fotiadis (Berlin) Von orthodoxen Brüdern und traditionellen Freunden – die Idee der griechisch-serbischen Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

8

Inhalt

Aida Gavric´ (Sarajevo) Der „Mischling“ – die Verkörperung der Brüderlichkeit oder der Uneinigkeit in Bosnien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Renata Makarska (Mainz / Germersheim) Neue Polykulturalität in Zentraleuropa. Tschecho-Vietnamesen zwischen Inklusion und Exklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Andrea Zink / Tatjana Simeunovic´ (Innsbruck – Basel) Verlorene Brüder? Miljenko Jergovic´s jugoslawische Spurensuche Kurzbiografien

. . . . 519

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543

Vorwort

Der vorliegende Sammelband entstand im Rahmen des dreijährigen Forschungsprojekts Mediale Konstruktionen der „Brüderlichkeit und Einheit“ in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien, das vom Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Baden-Württemberg im Juniorprofessorenprogramm „Zukunftsoffensive IV – Innovation und Exzellenz“ vom September 2010 bis Dezember 2013 finanziert wurde. Er versammelt Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern und Fächern wie Geschichte, Anthropologie, Kunstgeschichte, Film- und Literaturwissenschaft, die sich mit dem Thema der Brüderlichkeit und des Bruderzwistes auf ihrem jeweiligen Gebiet beschäftigen. Den Autoren und Autorinnen danke ich herzlich für ihr Vertrauen. Weitere Impulse bezog der Sammelband aus zwei Workshops. Der erste zum Thema Distinction and Unification, Regional and Supraregional Memories, den ich mit Unterstützung des DAAD und zusammen mit Ivana Zˇivancˇevic´-Sekerusˇ ausgerichtet habe, fand vom 26. bis zum 28. Mai 2011 an der Universität Novi Sad statt. Der zweite mit dem Titel Strategien – Konstruktionen – Visionen der Einheit. Die Idee des Slawentums in Mittel-, Ost- und Südosteuropa im 20. Jahrhundert, den ich mit Unterstützung des Schroubek Fonds gemeinsam mit Tom‚sˇ Glanc organisiert habe, fand am 1. und 2. Dezember 2011 an der Humboldt Universität zu Berlin statt. Bei der redaktionellen Arbeit haben mich insbesondere Anja Fetzer, Tina Schlagenhaufer und Julia Timm unterstützt, denen ich für ihr Engagement, ihre Gründlichkeit und Ausdauer sehr herzlich danke. Schließlich geht mein Dank auch an die Herausgeberinnen und Herausgeber von „Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas“ für Anregungen und die Aufnahme des vorliegenden Sammelbandes in die neu gegründete Reihe. Konstanz, 7. März 2014

Tanja Zimmermann (Konstanz)

Einleitung

Brüderlichkeit und Bruderzwist Sollten unterschiedliche soziale Schichten, religiöse Glaubensgemeinschaften, Ethnien oder Nationen in einer politischen Bewegung1 oder in einem Staat geeint werden, so gab man Parolen der „Brüderlichkeit“ aus. Vom Panslawismus in seinen verschiedenen Ausprägungen zu den multinationalen Staaten wie die Tschechoslowakei, Jugoslawien und die UdSSR, von frühchristlichen Idealen zum Kommunismus, von geheimen Vereinigungen zu proletarischen Bünden, von Sportvereinen zu Waffenbruderschaften reichten die Szenarios, durch die kulturelle Gemeinsamkeiten als „Brüderlichkeit“ begründet wurden. In Osteuropa folgte die Gründung moderner Nationalstaaten nur in wenigen Ländern wie Polen und Bulgarien unmittelbar auf die Auflösung der Imperien. In einigen signifikanten Fällen gingen aus panslawistischen Projekten des 19. Jahrhunderts multinationale Gebilde hervor, die international wirksame, jedoch prekäre Identitätsmodelle der Verbrüderung entwickelten. So hat Hans Lemberg schon wenige Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, der Tschechoslowakischen Republik und Jugoslawiens daran erinnert, dass bereits ihre Gründung nicht von einer Nation getragen worden war.2 Die Konstruktion synthetischer Supranationen der Tschechoslowaken und Jugoslawen wurde vielmehr jahrzehntelang 1 Schneider, Wolfgang: ,Brüderlichkeit. Bruderschaft, Brüderschaft, Verbrüderung, Bruderliebe‘, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart 19742, S. 552 – 581. Der Autor verfolgt den Begriff der „Brüderlichkeit“, seiner Derivate und Proliferationen von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, erfasst aber nicht dessen staatsgründende Potentiale im 20. Jahrhundert. Sein Interesse gilt vor allem dem Wandel des Begriffs – von seiner Rolle bei der Gründung und Affirmation von Gesinnungen zu den institutionalisierten Formen politischer Brüderlichkeit in Bündnissen. 2 Lemberg, Hans: ,Unvollendete Versuche nationaler Identitätsbildung im 20. Jahrhundert im östlichen Europa. Die „Tschechoslowaken“, die „Jugoslawen“, das „Sowjetvolk“‘, in: Berding, Helmut (Hg.): Nationales Bewusstsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 2. Frankfurt/M. 1994, S. 581 – 607.

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Tanja Zimmermann

durch Amalgamierung angestrebt. Obwohl beide Staaten bereits in den 1930er Jahren mit Nationalismus und Autonomiebestrebungen zu kämpfen hatten, wurde das Experiment nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Bedingungen des Kommunismus wiederholt. Die Entstehung des Staatensystems in Osteuropa war somit nicht nur eine Geschichte des Aufbaus, sondern auch der Zerstörung und der Neugründung von Gemeinschaften. Brüderlichkeit und Bruderzwist sind die leitenden Metaphern, um die Geschichte der verschiedenen Entwürfe politischer Identität und ihre mediale Rhetorik zu umreißen. Verbrüderung war nicht nur ein Angebot, sondern immer wieder auch ein Zwang. Die Liebe nicht verwandter, metaphorisch geeinter „Brüder“ konnte in die Zwänge erpresserischer „Familienclans“ umschlagen, die ihre Ziele durch Rassismus und Biopolitik zu erreichen suchten. Die Spannung von Brüderlichkeit und Bruderzwist bis hin zum Brudermord hat sich in Osteuropa mehr als andernorts in den mythischen Gründungsakten der Staaten bis in die 1990er Jahre eingeschrieben. Bei der Konstruktion staatlicher Gemeinschaft führten die den Aufbau der communitas begleitenden Emotionen zu nationaler Einigung auf der einen Seite, zu Vertreibung, Krieg und Völkermord auf der anderen. Doch auch im Innern der Gemeinschaft sind die Vorteile der Zusammengehörigkeit untrennbar mit dem Zwang zur Einordnung verbunden. Ihr Wechselspiel sieht der italienische Philosoph Roberto Esposito bereits in der Etymologie des Wortes communitas (Gemeinschaft) angelegt, einem Kompositum aus communis (allgemein) und munus (Pflicht, Aufgabe, Last).3 Den Ursprung der kommunitären Beziehung bestimmt laut Esposito weniger der allgemeine, gemeinsame Besitz als die zirkuläre Verbindlichkeit von Gabe und Tausch infolge des Mangels. Im Kern der komunitären Gegenseitigkeit steht also kein Gut, sondern eine Schuld, die das kollektive Band herstellt und zusammenhält. Auch die christliche communitas leitet der Philosoph weniger von der communio als Gemeinschaft der Gläubigen in der Ekklesia als vielmehr von der griechischen koinonia (joimym_a) ab, der eucharistischen Gemeinschaft durch Teilhabe.4 Auch hier wird die horizontale Gleichheit der Partizipation durch die vertikale Beziehung von Gott und Mensch durchkreuzt. Zudem ist die Brüderlichkeit „in Christo“ nach der Auferstehung Jesu auf einem Entzug gegründet; sie beruht vor allem auf gemeinsamem Leiden und Hoffen.5 Diese Vorstellung findet man bereits bei Augustinus, der die Gemeinschaft der in der Nächstenliebe Geeinten als eine Schuldgemeinschaft verstand, die dem Erbe

3 Esposito, Roberto: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. Berlin 2004 (it. Communitas. Origine e destino della comunit—, Torino 1998), S. 7 – 35. 4 Esposito 2004, S. 21. 5 Ebd., S. 20 – 22.

Einleitung

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Kains und dem am Beginn jeglicher Zivilisation stehenden Brudermord entsprungen war.6 Der communitas stellt Esposito daher nicht die Partikularität des Subjektiven, des Eigenen gegenüber, sondern die immunitas („Immunität“), die Gesamtheit all derer, denen gegenüber die Glieder der Gemeinschaft von jeglicher Pflicht befreit sind. Die „Immunen“ sind stets vom Ausschluss bedroht.7 Gerade das Verhältnis des sozialen und des asozialen Aspekts entscheidet über Schutz und Vernichtung des Lebens und darüber, welche Gemeinschaft als gefährlich oder gefährdet angesehen wird,8 und welcher dagegen ein „Gesicht“ verliehen wird.9 In Osteuropa ist die seit der Französischen Revolution so wirksame Metapher der fraternit¦ geradezu durchwirkt mit Geschichten des Bruderzwistes. Die hochtrabenden Brüderlichkeitsparolen sind bekanntlich notorisch anfällig dafür, dass mit ihnen das Gegenteil von Verbrüderung betrieben wird.10 Mit dem Slogan libert¦, ¦galit¦, fraternit¦ wurde in Frankreich die erste Republik gegründet. Doch kam das Konzept der Brüderlichkeit in den Verfassungen von 1791, 1793 und 1795 nur marginal oder gar nicht vor.11 Erst in der Präambel der Revolutionsverfassung von 1848 wurde die fraternit¦ als staatstragende Gesinnung verankert und zugleich mit der revolutionären Expansion gleichgesetzt.12 Die revolutionäre fraternit¦, die von der Aufklärung, vor allem von der durch Rousseau in Du contrat social (1762) entwickelten Idee des durch einen gemeinsamen Willen (volont¦ g¦n¦rale) geeinten Staates geprägt war, entwickelte sich im Verlauf der Revolution vom Ideal einer universellen Verbrüderung zur immer exklusiveren Bruderschaft der Jakobiner, die schließlich 1793 – 94 in den Jahren der terreur mit Brudermord endete. Mit dem Slogan der fraternit¦ hatte schließlich schon das Ancien R¦gime seine Kräfte mobilisiert.13 Mit Brüderlichkeit wurde dabei nicht die Gleichheit der Blutsverwandten, sondern eine Familienhierarchie assoziiert, in der ein jüngerer Bruder Anspruch auf Schutz hat, der ältere dafür den Gehorsam der jüngeren einfordern durfte. Nach der 6 Ebd., S. 23. 7 Esposito, Roberto: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens. Berlin 2004 (it. Immunitas. Protezione e negazione della vita, Torino 2002), S. 7 – 31. 8 Butler, Judith: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt/M. 2012 (am. Precarious Life. The Politics of Mourning and Violence. London 2004). 9 L¦vinas, Emmanuel: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den anderen. Wien 1995 (fr. Entre nous. Essais sur le penser-—-l’autre. Paris 1991). 10 Schneider 1974, S. 565, 571, 577. 11 MontÀgre, Gilles: ,La fraternit¦ r¦volutionnaire. Discours et pratiques entre France et Italie‘, in: Bertrand, Gilles / Brice, Catherine / MontÀgre, Gilles (Hg.): Fraternit¦. Pour une histoire du concept (=Les Cahiers du CHRIPA 20). Grenoble 2012, S. 83 – 102. 12 Schneider 1974, S. 572. 13 Brice, Catherine / Bertrand, Gilles / MontÀgre, Gilles:,Introduction‘, in: Bertrand / Brice / MontÀgre (Hg.) 2012, S. 5 – 16, hier S. 9; M¦nissier, Thierry : ,R¦publique et fraternit¦. Une approche de th¦orie politique‘, in: Brice / Bertrand / MontÀgre (Hg.) 2012, S. 35 – 51.

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Revolution übernahm das Bündnis der Heiligen Allianz den Begriff, um damit die monarchisch-konservative Solidarität zwischen Russland, Österreich und Preußen zu bezeichnen.14 Wohl auch vor dem Hintergrund dieser Pervertierung nahmen ethische Grundbegriffe der Französischen Revolution nach 1848 eine kalauerartige Form an. Jede gleichschaltende Gesinnungspropaganda wurde nun als nur scheinbar philanthrop, in Wirklichkeit aber tyrannisch gegeißelt: „Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag’ ich dir den Schädel ein.“15 In Deutschland wurde die Brüderlichkeit als politische Metapher schließlich sowohl von den restaurativen Kräften als auch von nationalstaatlich gesonnenen Liberalen verwendet. Die einen verteidigten damit die fortbestehende Kleinstaaterei und den Antagonismus von Preußen und Österreich-Ungarn, die anderen appellierten an die Versuche, nach französischem Vorbild zur nationalstaatlichen Einheit zu gelangen. Wolfgang Schneider und Marco Meriggi weisen auch auf eine semantische Verrschiebung hin, bei der wenig von der französischen Revolutionsparole bleibt.16 Sowohl für reaktionäre als auch für revolutionäre Gruppen war der Horizont der Verbrüderung weniger der Staat als vielmehr unterschiedliche geheime Gruppierungen, die sich als exklusive, in der Tradition der religiösen und ständischen Bruderschafen (fraternitates) stehende, institutionalisierte Bündnisse verstanden. Wenn der Apell an die Brüderlichkeit selbst von der Heiligen Allianz übernommen wurde, so schwingt auch darin ein bündisches Element mit. Martin Schulze Wessel hat in einer Studie über Revolution und religiösen Dissens dargelegt, dass sich die Parolen der Revolutions- und Religionsbrüderschaften problemlos für entgegengesetzte Ziele einsetzen ließen.17 In einer Dialektik der Aufklärung legitimierte „Brüderlichkeit“ sowohl aufklärerische als auch entgegengesetzte Tendenzen. In allen aufklärerischen Bewegungen bis hin zur Frazösischen Revolution spielten masonische und ihnen struktural ähnliche Geheimbünde wie die Rosenkreuzer und die Illuminaten eine zentrale Rolle. Obwohl sie von sittlichmoralischen Erziehungs- und Disziplinierungszielen ausgegangen waren, poli-

14 Schneider 1974, S. 571 f. 15 Brice / Bertrand / MontÀgre (Hg.) 2012, S. 9; Ash, Thimoty G.: Und willst Du nicht mein Bruder sein. DDR heute. Berlin 1993; Krienen, Tanja: ,Europäische Union. Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein‘, 28. 05. 2013, verfügbar unter : [Zugriff: 30. 09. 2013]. 16 Schneider 1974, S. 567; Meriggi, Marco: ,Fraternit¦ / Brüderlichkeit. Le ambivalenza della ricerzione tedesca (1789 – 1815)‘, in: Bertrand / Brice / MontÀgre (Hg.) 2012, S. 103 – 114. 17 Schulze Wessel, Martin: Revolution und religiöser Dissens. Der römisch-katholische und der russisch- orthodoxe Klerus als Träger religiösen Wandels in den böhmischen Ländern und in Russland 1848 – 1922 (=Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 123). München 2011, S. 1.

Einleitung

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tisierten sie ihre Zielsetzungen schon während der Frühaufklärung.18 Das Band der Bruderliebe gehörte auch hier zu den grundlegenden Idealen, die auf horizontaler Freundschaft und gegenseitiger Unterstützung beruhten. In ihren Bünden nahmen sie das egalitäre Prinzip der Französischen Revolution insofern vorweg, als dass sie trotz elitärem Anspruch ständischen Eliten meist keinen Sonderstatus einräumten. Allerdings führten sie durch die Inszenierung des Lebens ihrer Mitglieder als Aufstieg auf einer Skala der Sittlichkeit doch andere, durchaus nicht weniger wirksame Hierarchien und Machtansprüche ein. Der Idee der Harmonie standen, wie Reinhart Koselleck und Wolfgang Hardtwig herausgearbeitet haben, sowohl die vertikale Obedienz als auch die Abgrenzung gegenüber den Profanen, die nicht in die Geheimlehren initiiert waren, entgegen.19 Die aufklärerischen Ziele konnten dabei in antiaufklärerische Herrschaftstechnik oder in systemstabilisierende, bisweilen reaktionäre Bemühungen einmünden. Andere geheime Vereinigungen wie die „Internationale theosophische Verbrüderung“, gegründet 1875 von Helena Blavatsky, stellten sich zwar dem Nationalismus entgegen, doch bildete sich auch hier eine Hierarchie der Völker aus. Rudolph Hermann, Vorsitzender der deutschen theosophischen Gesellschaft, unterschied im Jahre 1905 zwischen Rassen und Nationen auf den „aufsteigenden Stufen in der Entwicklung des Bewusstseins und der Liebe zum reinen, freien Menschentum“.20 Entsprechend der Stereotypen der damals aktuellen Völkerpsychologie schrieb die Theosophische Gesellschaft in Deutschland mit Sitz in Leipzig den Deutschen eine philosophisch-mystische Natur zu. Entsprechend konnten sie sich auf der Leiter zum Göttlichen höher platzieren: „Möchten recht viele im deutschen Volke ihre Mission erkennen!“, so schloss Hermann Rudolph seinen Vortrag über den „Patriotismus und die theosophische Verbrüderung der Menschheit“.21 Ähnlich wurden die Brüderlichkeitspostulate der Arbeiterbewegungen, die sich in ihrer Gründungsphase Mitte des 19. Jahrhunderts auf christliche Wurzeln beriefen, im Bund der Kommunisten allmählich eliminiert.22 Der Bruderruf zur

18 Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt/M. 1973, S. 49 – 103; Schneider 1974, S. 563 – 565; Hardtwig, Wolfgang: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. München 1997, S. 304 – 359. 19 Koselleck 1973; Vgl. auch: Conti, Fulvio: I fratelli e i profani. La massoneria e l’idea die fratellanza fra Sette e Ottocento, in: Bertrand / Brice / MontÀgre (Hg.) 2012, S. 137 – 155. 20 Rudolph, Hermann: ,Der Patriotismus und die theosophische Verbrüderung der Menschheit‘, in: Arthur Weber (Hg.): Geheimwissenschaftliche Vorträge 17, Leipzig s.t., S. 3 – 28, hier S. 18. 21 Ebd., S. 28. 22 Schneider 1974, S. 573 – 577.

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sozialen Solidarität wurde durch den politischen Aufruf zum Klassenkampf aller Proletarier ersetzt. Die so folgenreiche Rhetorik von Brüderlichkeit und Bruderzwist, die nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg die multinationalen Staaten in Osteuropa auf unterschiedlichen ideologischen Grundlagen zusammengehalten hatte, war in den letzten Jahrzehnten auch ein Hauptthema der politischen Satire. In der Karrikatur aus der Periode des Zerfalls Jugoslawiens wurden die Symbole der Brüderlichkeit in ihr Gegenteil gewendet: Die Tänzer im Reigen des slawischen Kreistanzes Kolo fallen in eine Grube, Zwillingsbrüder ziehen mit den gleichen Parolen der Brüderlichkeit in entgegengesetzte Richtungen, die Finger ein und derselben Hand führen ein Eigenleben und geraten untereinander in Konflikt, ein Knoten brüderlicher Hände löst sich auf, weil jede Hand die andere verletzt – sie kneift, kratzt oder schlägt.23 Populäre Gesänge der Brüderlichkeit wurden Ende der 1980er Jahre mit neuen parodistischen Texten unterlegt. Das Lied „Jugoslavijo“ besingt das stolze, schöne, von der Sonne erleuchtete TitoJugoslawien vom Vardartal in Makedonien bis zu den slowenischen Alpen im ˇ olic´ vorgetragen, wurde es in den 1970ern zum Hit in Norden.24 Von Zdravko C allen Teilrepubliken. In einer neuen Variante von Bora Öord¯evic´ aus dem Jahre 1989 kündigt es den Zerfall Jugoslawiens an: „Od Vardara pa do Triglava / veliko se sranje odigrava. / Dovid¯nja draga Jugo / radije bi nesˇto drugo.“25 Brüderlichkeit und Bruderzwist sind ein janusgesichtiges Zwillingspaar, die untrennbar miteinander verbunden und letztlich austauschbar sind.

Nähe und Enge Zum Phantasma wird die Brüderlichkeit, wenn die Verwandtschaftsmetapher für Solidarität und Gleichheit von anderen Metaphern überwuchert wird, wie der von einem einzigen, zusammengewachsenen Körper.26 Die unterschiedli23 Zimmermann, Tanja: ,,Brüderlichkeit und Einheit‘ in Tito-Jugoslawien und ihr Umschlag in die Rhetorik des Brudermords‘, in: Drews-Sylla, Gesine / Makarska, Renata (Hg.): Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989, Bielefeld 2014 (im Druck). 24 ,Jugoslavijo‘, verfügbar unter : [Zugriff: 30. 09. 2013]. „Od Vardara pa do Triglava / od Öerdapa pa do Jadrana / Kao niska sjajnog Öerdana / Svijetlim suncem obasjana / ponosito sred Balkana / Jugoslavijo, Jugoslavijo.“ 25 Öord¯evic´, Bora: Hej Sloveni. Pesme, Beograd 1989, S. 8. „Vom Vardar bis zum Triglav, spielt sich eine große Scheiße ab. / Auf Wiedersehen liebe Jugo / ich möchte lieber was anderes.“ 26 Zu Familienmetaphern in der Politik vgl.: Rigotti, Francesca: Die Macht und ihre Metaphern. Über die sprachlichen Bilder der Politik. Frankfurt/M. 1994; Koschorke, Albrecht / Lüdemann, Susanne / Frank, Thomas / Matala de Mazza, Ethel: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/M. 2007; Tjarks, Anjes: Fa-

Einleitung

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chen slawischen Völker, die im 19. Jahrhundert, aufgeteilt zwischen großen Imperien, noch keine selbständigen Nationalstaaten gründen konnten, vergleicht der slowakische Panslawist J‚n Koll‚r in seiner Schrift Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation mit den „disjecta membra“, die sich wieder zu „einem Blut, einem Körper, einem Volk“ vereinigen sollten.27 Nur durch die Verbrüderung aller Slawen konnte für ihn die Spaltung überwunden werden. In einem umfangreichen Sonettzyklus Die Tochter der Slava (Sl‚vy dcera, 1824) beschwört er die Einheit: von den Kosaken bis zu den Einwohnern von Dubrovnik, vom Plattensee bis zum Baltikum, von Prag bis nach Moskau, Kiew und auf die Kamtschatka sollten die Brüder der „Allslavia“ (Vsˇesl‚via) sich nicht im „kannibalischen Mord“ entzweien, sondern vielmehr im Tanz zueinanderfinden. Auch die mit der Brüderlichkeit stets assoziierte Metapher der Familienverwandtschaft kann ins Phantasmagorische gesteigert und mit dem Bild von dem einen Leib verbunden werden. Der slowakische Philologe, Schriftsteller und Politiker Lffldev†t Sˇtfflr rief in seiner auf Deutsch verfassten Schrift Das Slawenthum und die Welt der Zukunft, die 186728 und 190929 zuerst in russischer Übersetzung veröffentlicht wurde, „alle Brüder von Geburt, geprüft von denselben Schicksalen und Erben einer und derselben Zukunft“, dazu auf, sich zu ˇ ech, Lech und Rus, die das vereinen.30 Der legendäre Bruderzwist zwischen C väterliche Haus verlassen und die slawischen Stämme entzweit hatten, sollte wieder rückgängig gemacht werden. Als Angehörige einer einzigen Familie, deren Stämme sich auch physiognomisch „wie eine Schwester der anderen gleichen“,31 würden die Slawen das Zusammenleben der Gemeinschaft als ein

27 28 29 30 31

milienbilder gleich Weltbilder. Wie familiäre Metaphern unser politisches Denken und Handeln bestimmen. Wiesbaden 2010; Berge, Wolfgang: „Herrschende Dienerin“ der politischen Theorie. Metaphern vom Staat. In: Kink, Markus / Zigler, Jeanine (Hg.): Staatsansichten – Staatsvisionen. Ein politik- und kulturwissenschaftlicher Querschnitt, Berlin 2012, S. 45 – 74, hier S. 65 f.; Brice, Catherine: ,M¦taphore familiale et monarchie constitutionell. L’incertaine figure du roi „pÀre“ (France et Italie au XIXe siÀcle)‘, in: Bertrand / Brice / MontÀgre (Hg.) 2012, S. 157 – 185. Koll‚r, Johann [J‚n]: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation. Pesth 1837, S. 119 (tschech. Rozpravy o slovansk¦ vz‚jemnosti. Souborn¦ vyd‚n† usporˇ. Milosˇ Weingart. Praha 1829). Sˇtur, Ljudevit: Slavjansto i mir budusˇcˇego. Poslanie slavjanam s beregov Dunaja. Perevod neizdannoj nemeckoj rukopisi. S primecˇanijami Vladimira Lamanskogo. Moskva 1967. Sˇtur, Ljudevit: Slavjansto i mir budusˇcˇego. S biografiej Ljudevita Sˇtura i dopolnitel’nimi primecˇanijami professora T.D. Florinskogo i portretom avtora pod redakciej K.Ja. Grota i T.D. Florinskogo. Moskva 1909. Sˇtfflr, Lffldev†t: Das Slawenthum und die Welt der Zukunft. Slovanstvo a sve˘t budoucnosti. Bratislava 1931, S. 15. Ebd., S. 18.

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Familienleben auffassen. Diese Vorstellung manifestiert sich laut Sˇtfflr in der engen Bindung an das Vaterland und im Gedenken der Vorfahren. Die Slawen hängen vor allem dem Familienleben an, worin sie sich an dem Glücke der zur Familie Gehörigen erfreuen und in diesem Glücke sich selbst genießen. Nirgends hat das Wort „rodina“ (Familie) diese innige Bedeutung wie bei den Slawen, nirgends ist der Antheil an allen ihren Gliedern so lebhaft wie bei ihnen und der Pole, wenn er sein angebetetes „ojczyzna“ (Vaterland) ausspricht, denkt wohl zunächst nur an seine Nächsten und an die Nächsten dieser, die im weiteren Sinne das Volk ausmachen. Kein anderes Volk feiert die Familienfeste mit solcher Innigkeit, Poesie, Pracht, wie die Slawen, aber auch der Abgang der aus dem Familienkreis auf Ewig Scheidenden, die da nach den Worten der einheimischen Sprache „zu den Vätern gehen“, wird nirgends so tief gefühlt, so innig bedauert und beklagt, wie bei ihnen. Dieses Leben ist für den Slawen ein Kreis, in dem er sich immer bewegt, in dem er mit innigstem Vergnügen weilt, auf welchen er aus der Ferne mit Wehmut blickt und alle seine liebsten Gedanken zurückführt.32

Die Vorstellung der Familienzugehörigkeit überträgt Sˇtfflr auf das öffentliche, politische Leben der Slawen, das Demokratie, Solidarität und gemeinschaftliches Eigentum kennzeichnen. Wie bei Koll‚r findet sich auch hier die Vorstellung von einem gemeinsamen slawischen Körper, der zerstückelt und in fremde Kleidungsstücke eingezwängt worden sei.33 Sˇtfflr greift sogar auf die altägyptische Mythologie zurück, um die politische Zukunft der Slawen in einem geeinten Körper zu beschwören: Wie Isis die verstreuten Leichenteile ihres Bruder-Gemahls Osiris zusammenlegte und wiederbelebte, so soll der Geist der Slawen als Horus im slawischen Körper wieder auferstehen.34 Bei der Auflösung der brüderlichen Gemeinschaft wurde die Metaphorik der Familiennähe durch die des erpresserischen Familienclans und des zu eng gewordenen Hauses verdrängt.35 Kurz vor dem Zerfall Jugoslawiens veröffentlichte der slowenische Schriftsteller Taras Kermauner mehrere essayistische „Briefe an einen serbischen Freund“ („Pisma srpskom prijatelju“), die vom Mai bis September 1987 in der serbischen Zeitschrift NIN (Nedeljne informativne novine) erschienen und 1989 noch einmal in einem Buch versammelt wurden. In einem der Briefe heißt es: Bruder ist Bruder. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ich mit dem Bruder in demselben Haus leben möchte. Es reicht nicht aus, dass er mit mir leben will. Vielleicht verbirgt er hinter seinen brüderlichen Gefühlen Eigennutz. Vielleicht verursacht er mir so viel Schaden, dass mir seine Nähe keine Freude bereitet. Vielleicht zeigt er Eigenschaften, 32 33 34 35

Ebd., S. 23. Ebd., S. 17, 19, 20. Ebd., S. 19. Zur Hausmetapher vgl. auch: Lüdemann, Susanne: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären. München 2004, S. 136.

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die mich im alltäglichen Leben abstoßen. Von einem Bruder, der den Willen zeigt, in meinem Haus zu herrschen, sage ich mich schon im Voraus ab. […] Ich erkläre, dass mich eine stammes-familiäre, genetisch-naturhafte Verbindung mit den Brüdern nicht verpflichtet. Ich halte sie für eine gerissene Ideologie, die mir meine Souveränität nimmt. Die Magie der Verwandtschaft lehne ich dankbar ab. Es ist mir lieber, mit einem Fremden in der Nachbarschaft zu leben, der meine Lebensgewohnheiten respektiert, meinen Kulturtypus und meine Autonomie, als mit einem Bruder, der mir vor der Nase mit der Verfassung der Republik Slowenien wedelt, seine Vorrechte und seine Übermacht über mich mit der Ethik der Blutsverpflichtungen gegenüber dem jüngeren und weniger kräftigen Bruder begründet, also mir gegenüber, weil ich angeblich nicht weiß, auf welchem Weg mich Glück erwartet. […] Was ich dir geschrieben habe, Freund, gilt sowohl für meine südslawischen als auch für meine slowenischen Brüder ; und ebenso für den nordöstlichen größten Bruder, der sich viel Mühe gegeben hat, um mich bis zum äußersten zu befreien, was ihm aber, Gott möge es ihm belohnen, nicht gelungen ist. Ich fühle Mitleid mit den Tschechen und den Ukrainern, mit den Weißrussen und den Slowaken, die seine Ferse anbeten müssen, dabei aber so reden müssen, als sei diese Ferse der Himmel. […] Überhaupt wächst mir diese Brüderlichkeit schon über den Kopf. […] Die Zuckerseiten des Gruppenlebens akzeptiere ich nur als zeitweilige Verbindungen. […] Ich mag weder Jugoslawien noch Slowenien, wenn es sich um die Gemeinschaft der zusammen Geborenen handelt! Allen Brüdern und Schwestern übermittele ich auf dem Luftweg, dass ich mein Glück alleine suche; dass ich für diese Suche selbst die Verantwortung übernehme. Wenn ich was weiß, dann weiß ich, dass das Glück in brüderlicher Umarmung eng, ja beklemmend, ist.36

36 Kermauner, Taras: Pisma srbskemu prijatelju. Klagenfurt/Celovec 1989, S. 161 – 172, hier S. 167 f., 171. „Brat je brat. Je pa vprasˇanje, cˇe zˇelim z bratom zˇiveti v isti hisˇi. Ne zadosˇcˇa, da zˇeli zˇiveti on z mano. Morda skriva za svojimi bratovskimi cˇustvi koristoljubje. Morda mi dela toliko sˇkode, da me njegova blizˇina ne veseli. Morda kazˇe lastnosti, ki me v vsakdanjem zˇivljenju odbijajo. Bratu, ki kazˇe voljo, da bi v moji hisˇi zavladal, se odpovedujem zˇe v naprej. […] Izjavljam, da me rodovno druzˇinska gentilisticˇna naturna povezava z brati ne obvezuje. Imam jo za prekanjeno ideologijo, ki mi jemlje suverenost. Magijo sorodnisˇtva hvalezˇno odklanjam. Mileje mi je zˇiveti v sosesˇcˇini s tujcem, ki uposˇteva moje zˇivljenske navade, moj kulturni tip, mojo avtonomijo, kot z bratom, ki mi maha pred nosom z zakonikom RS, utemeljuje svoje predpravice in nadoblast nad mano z etiko krvnih dolzˇnosti do mlajsˇega in manj obilnega brata, to je do meine, ki bojda ne vem, na kateri poti me cˇaka srecˇa. […] Kar sem ti napisal, prijatelj, velja tako za moje juzˇnoslovanske kot za slovenske brate; in enako za severovzhodnega najvecˇjega brata, ki se je precej trudil, da bi me do kraja osvobodil, a se mu ˇ ehi in Ukrajinci, Belorusi in Slovaki, ki ni. Bohmupoplacˇaj, ni posrecˇilo. Socˇustvujem s C morajo moliti njegovo pÞto, ob tem pa govori(cˇi)ti, da je ta pÞta nebo. […] Sploh pa imam tega bratstva cˇez glavo. […] Skupinske sladkosti sprejemam kot zacˇasne zveze. […] Ne maram ne Jugoslavije ne Slovenije, cˇe sta skupnosti skupaj narojenih! Vsem bratom in sestram sporocˇam par avion, da si srecˇo isˇcˇem sam; da prevzemam za to iskanje sam ˇ e kaj vem, potem vem, da je srecˇa v bratovskem objemu tesn(obn)a.“ Der odgovornost. C zitierte Brief wurde in tendenziös gekürzter Version ins Serbische übersetzt und am 9. August 1987 unter dem Titel „Warum wird Slowenien jugoslawisiert“ („Zasˇto se Slovenija jugoslovenizuje“) in der Zeitschrift NIN veröffentlicht

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Der Metapher des Hauses ist die der Brücke zur Seite zu stellen. Als Realmetapher ist sie besonders wirksam, da sie sich über die metaphorische Ebene hinaus auf wirkliche Brücken bezieht und sie so als politische Orte in die Prozesse der Integration und Desintegration einbezog.37 Der Nobelpreisträger Ivo Andric´, der Vorzeigeautor des Tito-Jugoslawien, sah in ihnen „Zeichen des ewigen und immer ungesättigten Wunsches der Menschen, alles miteinander zu verbinden, zu versöhnen und zu vereinen, was vor unserem Geist, unseren Augen und Füßen auftaucht, damit es keine Trennung mehr gäbe, keine Gegnerschaft und keinen Abschied.“38 Ein symbolisches Ende der jugoslawischen Brüderlichkeitspolitik markiert die Zerstörung der Alten Brücke von Mostar durch kroatische Truppen im Jahre 1993. Sie lag nicht im Verlauf der Frontlinie, der Angriff auf das kulturelle Erbe der verhassten Nation war vielmehr eine gezielte Form der „Tötung der Stadt“.39 Als die Brücke 2004 als Symbol der kroatisch-bosnischen Versöhnung mit Unterstützung der UNESCO erneut errichtet wurde, hat ihr Jean-Luc Godard in seinem Film Notre musique ein visuell-philosophisches Denkmal gesetzt. Mitten auf dem nur provisorisch reparierten Bauwerk wird L¦vinas’ philosophisches Werk über die Gemeinschaft, Entre nous. Essai sur le penser-—-l’autre, von einer Journalistin aus Israel vorgelesen.40

Familienhierarchien Die Stoßrichtung der Metapher der Brüderlichkeit ist egalitär, die Metaphorik vom Gemeinschaftskörper unterstreicht dagegen die Hierarchien in einer Gemeinschaft. Das ungleiche Verhältnis der einzelnen Glieder im Ganzen, die Privilegierung des Kopfes vor den Gliedern, wurde von der Antike41 bis ins frühe Christentum betont, selbst in der paulinischen Gemeinschaft der Gleichen.42 Das 37 Zur Metaphorik der Brücke: Göktürk, Deniz: ,Projecting Polyphony. Moving Images Travelling Sounds‘, in: Göktürk, Deniz / Soysal, Levent / Türeli, Ipek (Hg.): Orienting Istanbul. Cultural Capital of Europe? London 2012, S. 187 – 198, hier S. 182 – 185; Petzer, Tatjana: ,Brücken – Architekturen der Passage‘, in: TRAJEKTE. ZEITSCHRIFT DES ZENTRUMS FÜR LITERATUR- UND KULTURFORSCHUNG 2009/10 – 19, S. 4 – 8; Zimmermann, Tanja: ,Bosnische Brücken als Naht der Kulturen‘, in: Makarska, Renata / Schwitin, Katharina / Kratochwil, Alexander / Werberger, Anette (Hg.): Kulturgrenzen in postimperialen Räumen. Bosnien und Westukraine als transkulturelle Regionen. Bielefeld 2013, S. 301 – 334. 38 Andric´, Ivo: ,Brücken‘ (1932), in: Bihalji-Merin, Oto (Hg.): JUGOSLAVIJA. ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT 12: Reisen. Beograd 1956, S. 150. 39 Bogdanovic´, Bogdan: Architektur der Erinnerung. Klagenfurt 1994, S. 107 – 117. 40 Zimmermann 2013 ,Bosnische Brücken‘, S. 326. 41 Lüdemann 2004, S. 79 – 87; Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza 2007, S. 15 – 20. 42 RanciÀre, Jacques: ,Die Gemeinschaft der Gleichen‘, in: Vogl, Joseph (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt/M. 1994, S. 101 – 132; Lüdemann 2004, S. 88 – 100.

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fragile Bündnis von politischer Ökonomie und Solidarität, das Verhältnis von Arbeit und Muße, von Gütergemeinschaft und Ausbeutung wird durch die Metapher vom Körper der Gemeinschaft in der Balance gehalten. Auch in den Brüderlichkeitsdiskursen in Osteuropa hatten die Slawen bis ins 21. Jahrhundert sich immer wieder zu einem Körper zu einen, in dem dann die Rollen zwischen Kopf und Gliedern verteilt wurden. Das Spannungsverhältnis von Familiennähe und Patriarchat, demokratischer Brüderlichkeit und zentralistischem Einigungszwang wurde durch den Rückgriff auf die beiden Leitmetaphern immer wieder neu ausgehandelt. Russland erhob in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Anspruch auf die Führungsrolle beim politischen Zusammenschluss aller orthodoxen Slawen. Hatte sich das Zarenreich Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts noch für die Orthodoxie – die Griechen mit eingeschlossen – eingesetzt, verstand es sich seit dem Krimkrieg vor allem als Hüter der orthodoxen Südslawen im Osmanischen Reich, der Bulgaren und Serben. Die Metapher des „älteren“, erfahreneren und der „jüngeren“ Brüder drückte die Akzentverschiebung von der religiösen zur ethnischen Identität aus.43 Metaphern eines mächtigen Flusses, in dem die schwächeren Nebenflüsse aufgehen, während andere zuvor versickern,44 eines Kolosses mit Russland als Kopf,45 der russischen Sonne, die von anderen Nationen als deren Planeten umkreist wird, lassen weniger an eine Gemeinschaft von Gleichen als an Bevormundung denken.46 Die Gegner des russischen Imperialismus, der sich unter der Maske der Brüderlichkeit Polen und andere slawische Nationen inkorporierte, verlangten daher nach einer Unterscheidung zwischen dem russischen und anderen Panslawismen. In seiner Schrift Les deux panslavismes. Situation actuelle des peuples slaves vis-—-vis de la Russie (1847) unterscheidet Cyprien Robert, Nachfolger Adam Mickiewiczs am Lehrstuhl für Slawistik am CollÀge de France in Paris, zwischen einer „russischen“ und einer „slawischen“ Ausprägung. Der „russische Panslawismus“, so Robert, pflege im Gegensatz zu demokratischen Varianten die Vorstellung von Russland als „Vater“ der anderen slawischen Nationen.47 An diese Unterscheidung knüpfte später auch Tom‚sˇ Garrigue Masaryk an, wenn er zwischen einem „zentralistischen“ und einem „demo43 Uspenskij, Gleb: ,Pis’ma iz Serbii‘, in: Polnoe sobranie socˇinenij Gleba Uspenskago. Tom 5. S kriticˇeskoj stat’ej N. K. Michajlovskago i biograficˇeskim ocˇerkom N.A. Rubakina. Sankt Petersburg 1908, S. 629 – 664. 44 Ebd., S. 663 f. 45 Vgl. auch Robert, Cyprien: Der zweifache Panslawismus. Die gegenwärtige Lage der slawischen Völker gegenüber von Russland. Mit Anmerkungen von Jan Petr Jordan. Leipzig 1847. 46 Masaryk, Tom‚sˇ G.: Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914 – 1918. Berlin 1925, S. 15. 47 Robert 1847, S. 58 – 75.

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kratischen“ Panslawismus unterschied.48 Mit der Gründung der Transnation, besonders im Stalinismus, wurde die Metapher der solidarischen Familienfürsorge durch die des strengen Vaters und der gehorsamen Kinder überschrieben, ähnlich wie am Ursprung der monotheistischen Religionen. Jan Assmann erläutert am Beispiel der Bücher Deuteronomium und Numeri, wie mit dem Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus der Gehorsam gegenüber dem Glaubensvater über die brüderliche Liebe gestellt wurde.49 So wird der gehorsame Sohn vom Vater sogar dazu aufgerufen, mit Gewalt gegen seinen ungehorsamen Bruder vorzugehen. Der Panslawismus der russischen Slawophilen, der den Gegensatz zwischen Russland und dem Westen, die mystische „sobornost’“ (Gemeinschaftlichkeit) der orthodoxen Kirche und die messianische Rolle Russlands beschwor, wurde in den 1870er Jahren zunehmend politisiert und dabei ethnisch und nationalistisch zugespitzt.50 Obwohl diese Ideologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum dominanten Szenario slawischer Verbrüderungsapelle anwuchs, formierten sich in Russland auch andere Brüderlichkeitsdiskurse, die dem imperialen entgegengesetzt waren. Für eine anarchisch-revolutionäre Form, die sich auf die polnische Emigration stützte und von dem preußischen Teil Polens Russland erfassen sollte, hatte sich Michail Bakunin schon in den 1840er Jahren begeistert.51 Eine pazifistische Form der Verbrüderung, die sich auf die universelle, christlich geprägte All-Einheit jenseits nationaler Zugehörigkeit stützte, vertrat Lev Tolstoj in seinen philosophischen und literarischen Werken.52 Gegen Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts übernahm die 48 Masaryk 1925, S. 15 – 23; In der jüngeren Forschung unterscheidet man zwischen dem russischen Panslawismus und der „slawischen Idee“ bei den Tschechen und Slowaken; vgl. Lemberg, Hans: ,Hej Slovan¦! Die slawische Idee bei Tschechen und Slowaken‘, in: OSTEUROPA. GEMEINSAM EINSAM. DIE SLAWISCHE IDEE NACH DEM PANSLAWISMUS 2009/59 – 12, S. 21 – 39, hier S. 24; Troebst, Stefan: ,Slavizität. Identitätsmuster, Analyserahmen, Mythos‘, in: Ebd., S. 7 – 19, hier S. 13 ff. 49 Vgl. Assmann, Jan: Monotheismus und die Sprache der Gewalt (=Wiener Vorlesungen im Rathaus 116). Wien 2004. 50 Zum slawophilen Panslawismus in Russland vgl.: Utechin, Sergej V.: Geschichte der politischen Ideen in Russland. Stuttgart 1966, S. 78 ff.; Berkenkopf, Galina: Welterlösung, ein geschichtlicher Traum Russlands. München 1962, S. 77 ff.; Golczewski, Frank / Pickhan, Gertrud: Russischer Nationalismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jahrhundert. Darstellung und Texte. Göttingen 1998; Eismann, Wolfgang: Einheit und Selbständigkeit der Slawischen Völker. Frankfurt/M. 2002; Sˇpidl†k, Tom‚sˇ : Die russische Idee – Eine andere Sicht des Menschen. Würzburg 2002. 51 Borisenok, Jurij: Michail Bakunin i pol’skaja intriga. 1840 – 3 gody. Moskva 2001. 52 Kliger, Ilya / Zakariya, Nasser: ,Poetics of Brotherhood. Organic and Mechanistic Narrative in Late Tolstoi‘, in: SLAVIC REVIEW 2011/70 – 4, S. 754 – 772; Donskov, Andrew / Woodsworth, John (Hg.): Lev Tolstoy and the Concept of Brotherhood. Proceedings of a Conference at the University of Ottawa 22 – 24 February 1996. New York / Ottawa / Toronto 1996.

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russische Arbeiterbewegung53 Verbrüderungsapelle aus Deutschland, die schon den Ursprung der Arbeiterbewegung in der Revolution von 1848 begleitet hatten.54 An der Ost- und Westfront kam es im Ersten Weltkrieg auch zur spontanen Verbrüderung zwischen den Soldaten, obwohl darauf eine strenge Strafe verhängt wurde.55 Zu derart subversivem Zusammensein mit dem Gegner, zu gemeinsamem Essen, Trinken und Rauchen, zum Spielen und Musizieren kam es vor allem zu christlichen Feiertagen, etwa zu Weihnachten und zu Ostern, insbesondere 1914 an der West- sowie 1915 und 1917 an der Ostfront. Solchen Soldatenverbrüderungen widmete Johannes Becher im Jahre 1916, bevor er zum großen Sänger Stalins und der DDR wurde, seinen Gedichtband Verbrüderung. Im namensgebenden Gedicht spricht er den russischen Feind als Bruder an: Brüder! Brüder! Kann es längst vergessen Ein sich spinnen in entfernter Bucht?! Dostojewskis Feueraugen fressen. Rasend Tolstoi in der Weite sucht. Haben Mütter euch zum Mord geboren?! Euer Schicksal –: schwank und qualgehetzt. Öffnet, öffnet eurer Brust die Tore. Drein Azursee stürzt!!!56

Spontane Fraternisierungen an der Front wurden 1917 von den Bolschewiken politisch instrumentalisiert.57 So ermutigte Lenin in seiner Ansprache an die Soldaten vom 28. April 1917 in der Pravda dazu, sich mit den Proletariern aus allen Ländern zu verbrüdern, um die sozialistische Weltrevolution voranzutreiben.58 Die bolschewistischen Gegner in der Übergangsregierung warnten dagegen in Ausgaben der Izvestija vor Verbrüderung, da sie dem Feind die 53 Weinberg, Robert: ,The Politicization of Labor in 1905. The Case of Odessa Salesclerks‘, in: SLAVIC REVIEW 1990/49 – 3, S. 427 – 445. 54 Quarck, Max: Die erste deutsche Arbeiterbewegung. Geschichte der Arbeiterverbrüderung 1848/49. Ein Beitrag zur Theorie und Praxis des Marxismus. Leipzig 1924, S. 199 – 208, 219 – 241, 280 – 304; Schneider 1974, S. 573 – 576; Alkemeyer, Thomas: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit…“, in: Nutt, Harry (Hg.): Teils brüderlich…: Brudergeschichten, Bruderbegriffe, Bruderbeziehungen. Berlin 1989, S. 91 – 102. 55 Ferro, Marc / Brown, Malcolm / Cazals, R¦my / Mueller, Olaf: FrÀres de tranch¦es. Paris 2005; Rieker, Heinrich: Nicht schießen, wir schießen auch nicht! Versöhnung von Kriegsgegnern im Niemandsland 1914 – 1918 und 1939 – 1945. Bremen 2007; Kleinschmidt, Johannes: „Do not fraternize“. Die schwierigen Anfänge deutsch-amerikanischer Freundschaft 1944 – 1949. Trier 1997, S. 16 – 19. 56 Becher, Johannes: ,Verbrüderung‘, in: ders.: Verbrüderung. Gedichte. Leipzig 1916, S. 39 – 42, hier S. 39. 57 Ferro et al. 2005, S. 267 – 287. 58 Ebd., S. 275 – 276.

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Spionage hinter den Linien ermögliche.59 In den sowjetischen filmischen Inszenierungen der Fraternisierung, wie in Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (Bronenosec Potemkin, 1925) oder Oktober (Oktjabr’, 1927), lag der Akzent weniger auf der Friedensbereitschaft als vielmehr auf der Verschmelzung zum revolutionären Kollektiv. Die Einigung der Südslawen im Ersten Jugoslawien, dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, folgte ebenso dem russischen Modell des älteren Bruders. Obwohl man ein multikulturelles Modell beschwor, dominierten im Land, insbesondere nach der Einführung der Königsdiktatur zum orthodoxen Weihnachten am 6. Januar 1929, die Serben, die sich durch die Kosovo-Mythologie zur heldenhaft aufopfernden Nation stilisierten.60 Andere südslawische Völker wurden ins Kosovo-Narrativ integriert, obwohl die Schlacht nicht zu ihrem nationalen Gedächtnis gehörte. Die patriarchale Variante der Familienmetapher blieb in der sowjetischen Politik insgesamt prägend. Jan Behrends hat gezeigt, dass die Rhetorik der Brüderlichkeit während des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar danach in Polen erneut in diesem Sinne instrumentalisiert wurde.61 Erst mit der Gründung der DDR 1949 wurde die ethnisch begründete „Brüderlichkeit“ der Slawen zur „großen Freundschaft der Völker“ umformuliert, um auch den nichtslawischen Nationen einen Anschluss an den Ostblock zu ermöglichen.

Verbrüderung und Kollektivismus Das Spannungsverhältnis von Brüderlichkeit und einem unmenschlichen Kollektivismus spielte schon in den Debatten um die Französische Revolution eine Rolle, und zwar sowohl bei den Anhängern der Monarchie wie auch bei den Republikanern. Seit der Antike wurden die Organisation und der Fleiß von Bienen bestaunt. In den Debatten um die Revolution wurde der Ameisenstaat zur 59 Ebd., S. 279. 60 Wachtel, Andrew B.: Making a nation, breaking a nation. Literature and cultural politics in Yugoslavia. Stanford 1998, S. 53 – 66; Zimmermann, Tanja: ,Die Schlacht auf dem Amselfeld im Spiegel der internationalen Politik. Permutationen eines panslawistischem Mythos vom 19. bis ins 21. Jahrhundert‘, in: Ga˛sior, Agnieszka / Karl, Lars / Troebst, Stefan (Hg.): PostPanslawismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert? (=Moderne europäische Geschichte Bd. 9). Göttingen 2014, S. 289 – 305. 61 Behrends, Jan C.: Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 172 – 226; Behrends, Jan: ,Die „sowjetische Rus‘“. Die slawische Idee in Russlands langem 20. Jahrhundert‘, in: OSTEUROPA. GEMEINSAM EINSAM. DIE SLAWISCHE IDEE NACH DEM PANSLAWISMUS 2009/59 – 12, S. 95 – 114; von Rauch, Georg: ,Eine taktische Waffe. Der sowjetische Panslawismus‘, in: Ebd., S. 115 – 123.

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Metapher, mit der man sich gegen Ungleichheit und Versklavung wandte.62 Dieselbe Skepsis prägte die kritischen Diskurse über die Formalisierung der Gesellschaft und die Geometrisierung der Städte in kommunistischen AntiUtopien, darunter Evgenij Zamjatins Roman Wir (My, 1926). Auf einem Revolutionsplakat von Gustav Klucis Erfüllen wir den Plan der großen Arbeit (Vypolnim plan velikich rabot, 1930) werden die Hände der Arbeiter in die große Hand Stalins einmontiert, als wäre diese ein riesiger Handschuh.63 Das Plakat, das an Bildvorstellungen des Absolutismus anknüpft,64 drückt nicht nur den kollektiven Geist der sowjetischen Gesellschaft aus, sondern zugleich auch die Unterwerfung des Kollektivs unter den stalinistischen Herrscherkult. In vielen Massenliedern aus den 1930er Jahren, wie etwa „Das Leben ist besser geworden“ („Zˇit’ stalo lucˇsˇe“) von Vasilij Lebedev-Kumacˇ und Aleksandr V. Aleksandrov, wird Stalin zwar als Verwandter (rodnoj) angeredet, aber nicht als Bruder.65 Eine umstrittene „Ode an Stalin“ (1937) des russischen Dichters Osip Mandel’sˇtam, die den Diktator zwar Vater (otec) nennt, in ihm aber zugleich auch einen Zwillingsbruder (bliznec) erblickt, wurde von diesem nicht goutiert.66 Ein Jahr später starb der Dichter in einem Arbeitslager in der Nähe von Vladivostok. Der serbische Schriftsteller Radomir Konstantinovic´ gab dem Zustand des überwachten Kollektivismus im sozialistischen Jugoslawien den Namen „Palanka“, einer abgeschotteten Enklave zwischen dem Stammesdenken und dem Internationalismus, in der Menschen „Buchstaben im Alphabet dieses Systems, Symbole in der Wertetafel“ seien.67 Der Bewohner der „Palanka“ ist daher für Konstantinovic´ kein Individuum, sondern „summum einer Erfahrung“, denn der „Geist des kollektiven Willens, der uns in seine Obhut nahm, schützt uns vor

62 Drouin, Jean-Marc: ,L’images des societes d’insectes en France a l’epoque de la revolution‘, in: REVUE DE SYNTHESE 1992/4, S. 333 – 345; ders.: ,Ants and Bees. Between the French and the Darwian Revolution‘, in: LUDUS VITALIS XIII 2005/24, S. 3 – 14. 63 Zur medialen Sprache der Kollektivisierung in der Sowjetunion: Zimmermann, Tanja: Abstraktion und Realismus im Literatur- und Kunstdiskurs der russischen Avantgarde (=Wiener Slawistischer Almanach 68), München/Wien 2007, S. 303 – 317, Abb. auf S. 309. 64 Zur absolutistischen Vorstellung des Staates als Korporation: Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza 2007, S. 103 – 113. 65 Lebedev-Kumacˇ, Vasilij / Aleksandrov, Aleksandr V.: Zˇit’ stalo lucˇsˇe, verfügbar unter : [Zugriff: 04. 11. 2013] 66 Zu Manel’sˇtams „Ode an Stalin“ vgl.: Coetzee, J.M.: ,Osip Mandelstam and the Stalin Ode‘, in: REPRESENTATIONS 1991/35, S. 72 – 83, hier S. 76. 67 Konstantinovic´, Radomir: Filozofija palanke. Beograd 2004, S. 8; Zur Kritik der „Palanka” vgl. auch: Zimmermann, Tanja: ,Radomir Konstantinovic´ and the Yugoslav „third way“‘, in: SERBIAN STUDIES RESEARCH 2012/3 – 1, S. 123 – 136; dies.: ,Konstantinovic´ kao autor praga. Jugoslavenska i postjugoslavenska mitologija palanke‘, in: SARAJEVSKE SVESKE 2013/41 – 42, S. 132 – 142.

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allem, besonders vor uns selbst, vor allen Herausforderungen und Verführungen, die ,Ich‘ heißen.“68 In Jugoslawien wurde der patriarchale, sowjetische Typ der Verbrüderung nach Titos Bruch mit Stalin 1948 durch eine demokratisch anmutende Variante ersetzt. Tito zeigte sich seither auf Fotoaufnahmen stets mitten in einer Gruppe von Arbeitern oder Pionieren. Die vertikale, sowjetische Komposition wurde zugunsten einer horizontalen ersetzt, wodurch die vermeintliche Nähe, ja die Verschmelzung des Diktators mit dem Volk ausgedrückt wurde.69 Titos Ideologen propagierten im Zweiten Jugoslawien eine multikulturelle Politik, die Andrew Baruch Wachtel als „supranational“ bezeichnet, weil aus bestehenden Kulturen eine neue, sozialistische Gemeinschaft jenseits nationaler Zugehörigkeiten entstehen sollte.70 Der Mythos des gemeinsamen Partisanenkampfes, in den verschiedene ältere Mythologien von Bauernaufständen oder Kämpfen der Heterodoxie gegen die herrschende Orthodoxie Eingang fanden, trat nach dem Zweiten Weltkrieg an die Stelle des serbischen Kosovo-Mythos.71 Die Partisanen mit ihrem Anführer Josip Broz Tito an der Spitze, die dank ihrer detaillierten geografischen Kenntnisse der Heimat und der Nähe zum Volk die Befreiung aus eigener Kraft erringen konnten, wurden zu Vorbildern der jugoslawischen Integration.72 In den 1970er Jahren wurde der Partisanenkult medial an die neue Pop- und Rock-Generation angepasst, was seine Verankerung jenseits der

68 Konstantinovic´ 2004, S. 17. 69 Zum Tito-Kult in Jugoslawien: Kuljic´, Todor : Tito – sociolosˇkoistorijska studija. Beograd 1998; Brkljacˇic´, Maja: ,Tito’s bodies in Word and Image‘, in: NARODNA UMJETNOST 2003/ 40 – 1, S. 99 – 128; Sretenovic´, Stanislav / Puto, Artan: ,Leader cults in the Western Balkans (1945 – 90). Josip Broz Tito und Enver Hoxha‘, in: Apor, Bal‚zs / Behrends, Jan C. / Johnes, Polly u. a. (Hg.): The Leader Cult in Communist Dictatorship: Stalin and the Eastern Block. Chippenham-Eastbourne 2004, S. 208 – 223; Petzer, Tatjana: ,Tito – Symbol und Kult: Identitätsstiftende Zeichensetzung in Jugoslawien‘, in: Richter, Angela / Bayer, Barbara (Hg.): Geschichte (ge-)brauchen. Literatur und Geschichtskultur im Staatssozialismus. Jugoslawien und Bulgarien. Berlin 2006, S. 113 – 130; Zivojinovic, Marc: ,Der jugoslawische Tito-Kult – Mythologisierte Motive und ritualisierte Kulthandlungen‘, in: Ennker, Benno / Hein-Kircher, Heidi (Hg.): Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts. Marburg 2010, S. 181 – 199. 70 Wachtel 1998, S. 128 – 172. 71 Zimmermann, Tanja: ,From the Haiducks to the Bogomils. Transformation of the Partisan Myth after World War II‘, in: Wurm, Barbara (Hg.): Kino! Partizanski film 10. Ljubljana 2010, S. 62 – 70. 72 Zu Partisanenfilmen in Jugoslawien und der Idee der „Brüderlichkeit und Einigkeit“: Jakisˇa, Miranda: ,Memory of the Past to Come. Yugoslavia’s Partisan Film and the Fashioning of Space‘, in: Tanja Zimmermann (Hg.): Balkan Memories. Media Constructions of National and Transnational History. Bielefeld 2012, S. 111 – 120; Dies.: ,Der „tellurische Charakter“ des Partisanengenres. Jugoslavische Topo-Graphie in Film und Literatur‘, in: Kilchmann, Esther / Pflitsch, Andreas / Thun-Hohenstein, Franziska (Hg.): Topographien pluraler Kulturen. Europa vom Osten gesehen. Berlin 2011, S. 207 – 223.

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Ideologie der „Brüderlichkeit und Einigkeit“ ermöglichte.73 Die überkommenen Symbole der Einheit lebten als entleerte und manchmal ins ironische Pastiche transformierte Pathosformeln im Rahmen von Nostalgiewellen fort.74 Beim Aufbau der Bewegung der blockfreien Staaten wurde die jugoslawische Ideologie der „Brüderlichkeit und Einheit“ in den 1950er und 1960er Jahren auf andere Kontinente, besonders auf Asien und Afrika übertragen.75 Neue Brüder fand Tito vor allem in Nehru in Indien und in Nasser in Ägypten, während man zu den unmittelbaren Nachbarn im Ost- und Westblock Distanz suchte. In seiner glamourösen Privatresidenz auf der Insel Brioni (Brijuni) an der Adria, umgeben von paradiesischer Flora und Fauna, zeigte sich Tito in familiärem Beisammensein mit Politikern aus Ost und West, wodurch eine Weltverbrüderung der Gegensätze demonstriert werden sollte. ***

Im ersten Teil des vorliegenden Sammelbandes Konzepte und Ausprägungen der Brüderlichkeit im 20. und 21. Jahrhundert stellen die Autoren unterschiedliche Modelle der Verbrüderung in Osteuropa vor, die von der lokalen bis zur Staatsebene reichen und für das nation building einer einzelnen Nation oder für die Konstruktion einer Supranation instrumentalisiert wurden. Ausgehend von einem historischen Überblick über Ost- und Südosteuropa werden auch gegenwärtige Integrationsdiskurse gegenüber der EU ausgewertet. Der Beitrag von Stefan Troebst gilt unterschiedlichen kommunistischen Nationskonstruktionen in Osteuropa. Brüderlichkeitsdiskurse haben von den 1930er Jahren bis zum Ende des Kalten Krieges verschiedene, oft entgegengesetzte politische Praktiken untermauert. Diese reichten von der sowjetischen Indigenisierungspolitik, von Russifizierung, Zwangsumsiedlung und erzwungener Verbindung unterschiedlicher Nationen in gemeinsamen Staatsformationen bis zur Spaltung eines einzigen in zwei Völker. Symptomatisch ist ein Fall aus den späten 1980er Jahren – die Zwangsassimilation durch Namensänderung der muslimischen Pomaken in Bulgarien. 73 Senjkovic´, Reana: ,Their Youth is within us. The Second World War and Yugoslav Youth Magazines in the 1970s’‘, in: Zimmermann (Hg.) 2012, S. 121 – 128. 74 Zur Nostalgie in Osteuropa vgl.: Velikonja, Mitja: Titostalgia – A Study of Nostalgia for Josip Broz. Ljubljana 2008; Slapsˇak, Svetlana: ,Twin Cultures and Rubik’s Cube Politics. The Dynamics of Cultural Production in Pro-YU, Post-YU, and Other YU Inventions‘, in: SÜDOSTEUROPA. ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT 2011/59 – 3, S. 301 – 314. 75 Zimmermann, Tanja: ,Jugoslawien als neuer Kontinent – politische Geografie des „dritten Weges“‘, in: Jakisˇa, Miranda / Pflitsch, Andreas (Hg.): Jugoslawien – Libanon. Verhandlungen von Zugehörigkeit in den Künsten fragmentierter Kulturen. Berlin 2012, S. 73 – 100.

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In seinem Beitrag zur Anthropologie der internationalen Freundschaften ˇ olovic´ deren Genese sowie ihre Pflege in Institutionen und untersucht Ivan C Ritualen. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Völkerfreundschaft zumeist auf ethnischer Verwandtschaft und religiöser Verbundenheit fundiert, wie etwa die Freundschaft zwischen den Russen und den orthodoxen Südslawen. Sie entstand aber auch durch Waffenbruderschaft im Krieg, wie etwa zwischen Franzosen und Serben. Im Nachkriegs-Europa bildete die gemeinsame, schmerzhafte Erinnerung an Kriegsgräuel das paradoxe Fundament für Versöhnungen, wie die zwischen Deutschland und Frankreich. Zugleich stellt der Autor eine Verschiebung der Freundschaftsmanifestationen von der staatlichen auf die lokale Ebene fest, wie z. B. im Falle der Städtepartnerschaften. Jan Dutoit und Boris Previsˇic´ verfolgen die historische Begriffsentwicklung und -verschränkung in den unterschiedlich gelagerten Brüderlichkeitsdiskursen im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) bzw. im Königreich Jugoslawien sowie im sozialistischen Nachkriegsjugoslawien. Wie die Autoren zeigen, vermischt sich im jugoslawischen bratstvo-Diskurs die französische fraternit¦ als solidarische Willensgemeinschaft mit dem naturhaften, blutsverwandten Stammesverbund. Während im Ersten Jugoslawien der Akzent auf der Bruderschaft lag, verschob er sich im Zweiten auf die Brüderlichkeit. Hinter dem prozessual gedachten Syntagma bratstvo i jedinstvo (Brüderlichkeit und Einheit/ Einigkeit) verbarg sich ein Widerspruch zwischen Föderalismus und Zentralismus. Der Slogan wurde schließlich auch von den Nationalisten beansprucht, wodurch er seinen transnationalen Charakter verloren hat. In allen slawischen Ländern breitete sich aus Böhmen der Sportverein „Sokol“ (Falke) aus, doch vor allem bei den Tschechen und den Südslawen wuchs er zu einer nationalen und transnationalen Einigungsbewegung an. Der 1862 von Miroslav Tyrsˇ gegründete Verein wirkte der Germanisierung entgegen und förderte die Verbindung zwischen den slawischen Völkern.76 Die Idee ging paradoxerweise auf den umstrittenen und verfolgten Initiator der deutschen Turnbewegung, Friederich Ludwig Jahn („Turnvater“ Jahn), zurück, der den Sport zuerst gegen die napoleonische Besatzung und später für die Einung der Deutschen instrumentalisierte.77 Von Böhmen sprang der Funke zu den Südslawen über, zuerst 1863 zu den Slowenen, in den nächsten Jahrzehnten zu allen anderen.78 In ihren Broschüren, Zeitschriften und auf ihren Versammlungen bzw. „Zusammenflügen“ (sleti) propagierten die Sokol-Mitglieder den altgrie76 Nolte, Claire E.: The Sokol in the Czech Lands to 1914. Training for the Nation. Basingstoke 2003. 77 Bartmuß, Hans-Joachim / Kunze, Eberhard / Ulfkotte, Josef: ,Einleitung‘, in: dies. (Hg.): „Turnvater“ Jahn und sein patriotisches Umfeld. Briefe und Dokumente 1806 – 1812. Köln/ Weimar/Wien 2008, S. 13 – 24. 78 Paar, Adolf: Hrvatski Sokol. Samobor 2011.

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chischen Kult der wie aus Stein gemeißelten Muskeln im Dienst des Kollektivs – der Nation, die zum großen Gebäude der slawischen Transnation aufgebaut werden sollte. Aleksandar Jakir erläutert an regionalen Beispielen aus Dalmatien, wie der projugoslawisch eingestellte Sportverein, der sich hier gegen die Italienisierung einsetzte, seit den 1920er Jahren sowohl mit dem großserbischen als auch mit dem kroatischen Nationalismus zu kämpfen hatte. Mit der Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen wurde die Organisation verstaatlicht und zunehmend auch militant für die großserbischen Ziele eingesetzt, was auf kroatischem Gebiet zu Austritten und zur Gründung neuer regionaler Vereine führte. Attacken auf die Mitglieder in den 1930er Jahren demonstrieren, wie der inzwischen geschrumpfte Verein als Verkörperung der Idee des Jugoslawismus in Kroatien selbst zum Hassobjekt wurde. Auf Parallelen zwischen den jugoslawischen Brüderlichkeitsdiskursen und den Appellen an ein Gemeinschaftsgefühl in der EU weist Christian Voß hin, warnt jedoch zugleich vor einer pauschalisierenden Übertragung des jugoslawischen multikulturellen Modells auf das europäische. Der Autor stellt verschiedene Inszenierungen der Brüderlichkeit vor, von den Sprachbüchern bis zum Film, die seit den 1960er Jahren zunehmend nationalisiert wurden. Der schwachen, immer weniger wirksamen Integrationsideologie stand in Jugoslawien eine Dezentralisierungspolitik gegenüber, die zu ethnisch-territorialen Verfestigungen führte. Sie nahm den Zerfall vorweg, und darin sieht der Autor Analogien zur EU. Mirt Komel widmet sich der Frage nach Korrelationen zwischen der „Brüderlichkeit und Einheit“ in Jugoslawien und dem Nationalismus in Post-DaytonBosnien. Die paradoxe Situation im Land, wo drei konstitutive Nationen keine nationale Gemeinschaft und zwei getrennte Territorien keinen Staat gründen können, bringt es mit sich, dass Nationalität und Staatsbürgerschaft einander ausschließen. In dieser Pattsituation, die durch den Dayton-Vertrag zementiert worden ist, sieht Komel nicht nur das Ergebnis des Krieges. Im Bewusstsein der bosnischen Nationen setzt sich darin vielmehr die jugoslawische Ideologie der „Brüderlichkeit und Einheit“ fort. Die Unmöglichkeit, eine transnationale Staatsbürgerschaft mit der nationalen Souveränität in Einklang zu bringen, kennzeichnet für ihn nicht nur die Lage in Bosnien-Herzegowina, sondern – wie für Christian Voß – die der EU. Im zweiten Teil des Sammelbandes, Mediale Konstruktionen der „Brüderlichkeit“ verfolgen die Autorinnen und Autoren unterschiedliche mediale Ausprägungen von Brüderlichkeit in Osteuropa. Diese reichen von der Presse bis hin zum Theater, von der Monumentalkunst zur Musik, von der Fotografie zum Film, vom Radio zum Internet, vom Ausstellungswesen zur Denkmalpflege. Kristin Lindemann untersucht die Positionierung der bosnischen Muslime Ende des 19. Jahrhunderts zwischen zwei konkurrierenden Identitätsangeboten – dem

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slawischen, das sich auf Sprache und Stammeszugehörigkeit stützte, und dem islamischen, dessen Fundamente auf der Glaubensbruderschaft beruhten. Während sich die proslawisch, aufklärerisch und laizistisch orientierten Bosnier um die Zeitschrift Bosˇnjak (Der Bosniake) versammelten, wurde Behar (Blüte) zum Organ der promuslimischen Bosnier. Anhand von Aufführungen im Nationaltheater in Zagreb verfolgt Milka Car die Entwicklung des Brüderlichkeitsdiskurses in Kroatien vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Entstehung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. Die ambivalente Rezeption und zunehmende Ablehnung von deutschsprachigen Autoren wie Friedrich Schiller oder Arthur Schnitzler beruhte nicht auf der Text- und Bühnenästhetik, sondern auf den neo-illyristischen Tendenzen, die den „brüderlichen“ slawischen Stücken Vorrang einräumten. Als später jedoch die Unzufriedenheit im gemeinsamen Staat zunahm, wurden im Theater wieder mehr deutschsprachige Stücke aufgeführt. Anna Bohn und Jean-Claude Fombaron untersuchen Fotografien und Filme mit Verbrüderungsszenen aus dem Ersten Weltkrieg an der Ostfront. Seltene Fotos, die an der Front entstanden und meistens der Zensur zum Opfer fielen, zeigen deutsche und russische Soldaten, posierend im friedlichen Beisammensein. Filme wie Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk (1918) oder Sergej Eisensteins Oktober (Oktjabr’, 1927) waren dagegen Bestandteile der offiziellen Politik. Im ersteren kommen vor allem die hochrangigen Unterzeichner des Friedensvertrags zwischen dem Deutschen Kaiserreich und der Sowjetunion vor, in letzterem wird die Verbrüderung im bolschewistischen Kollektiv vorgeführt. Der wenig bekannte Film Vorstadt (Okraina, 1933) von Boris Barnet zeigt dagegen, wie die bereits bestehenden familiär-freundschaftlichen Beziehungen zwischen einem Russen und einem Deutschen durch die Kriegserklärung auseinandergerissen wurden. Der russische „Bruder“ wird am Ende nicht von den deutschen Soldaten, sondern von einem Strafkommando der provisorischen Regierung erschossen, das sich im Gegensatz zu Lenin dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk entgegenstellt. Die Trennung zwischen dem alten und dem neuen politischen System in der Sowjetunion wiegt in den 1930er Jahren schwerer als der Gegensatz zwischen Russen und Deutschen. Während sich der Panslawismus im 19. Jahrhundert überwiegend auf die sprachliche Gemeinschaft der Slawen berief und seinen Ausdruck vor allem in literarischen und in Propagandatexten fand, wurden Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend bildkünstlerische Strategien eingesetzt. Die bildende Kunst als nicht-diskursives Medium konnte außenpolitische Handlungen symbolisch vorbereiten oder auch überkommene skopische Ordnungen durch einen subversiven Umgang mit transkulturellen Hierarchien missachten. Wie der Faschismus bediente sich auch der Panslawismus der Ästhetisierung der Politik und der Strategien der Inszenierung der Massen als Gesamtkunstwerk. Nenad

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Makuljevic´ gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die Entwicklung der Idee der Brüderlichkeit bei den südslawischen Künstlern, die eine herausragende Rolle bei der Herausbildung einer gemeinsamen kulturellen Identität spielten. Dieser Prozess begann mit der Konstruktion einer gemeinsamen künstlerischen Vergangenheit und verstärkte sich mit der Gründung von proslawisch orientierten Gesellschaften, Vereinen und Akademien. Vor allem auf Ausstellungen jugoslawischer Kunst in Südosteuropa sowie auf der Internationalen Ausstellung in Rom 1911, wo der kroatische Bildhauer Ivan Mesˇtrovic´ der südslawischen Mythologie auf der Grundlage des serbischen Kosovo-Mythos Gestalt verlieh, wurde die südslawische Einigkeit propagiert. Mesˇtrovic´s Aktivitäten während des Ersten Weltkriegs in London verfolgt die Herausgeberin. Im Victoria & Albert Museum stellte der Bildhauer 1915 einen Kosovo-Tempel aus, mit dem er nicht nur die südslawische Einigung unter der Führung des serbischen Volkes propagierte, sondern diese auch als Teil des gemeinsamen Kampfes der Alliierten präsentierte. An derartige theatralische Inszenierungen knüpften nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Organisatoren einer Ausstellung mittelalterlicher jugoslawischer Kunst in Palais de Chaillot in Paris 1950 an, die zur internationalen Demonstration des jugoslawischen „dritten Weges“ ausgeweitet wurde. Katarina Mohar analysiert zwei monumentale Freskenzyklen, die von Slavko Pengov, dem wichtigsten Wandmaler des Sozialistischen Realismus in Jugoslawien angefertigt wurden. Die früheren Fresken in der Villa Bled in Slowenien aus dem Jahre 1947 feiern die Brüderlichkeit der Partisanen, die sich um ihre Verletzten sorgen, und der Arbeiter, die Hand in Hand zu einer Demonstration marschieren. Im slowenischen Parlament, das 1958 mit Szenen aus der Geschichte des slowenischen Volkes seit seinen Anfängen im Frühmittelalter bis in die Gegenwart geschmückt wurde, tritt mit der Darstellung der Befreiung von Triest, das 1954 wieder an Italien verloren ging, das nationale Thema sowie die Unzufriedenheit mit dem jugoslawischen Föderalismus in den Vordergrund. Die Ideologie der „Brüderlichkeit und Einheit“ manifestierte sich auch im Urbanismus, dem Straßen- und Städtebau. Milan Popadic´ beschreibt die Entwicklung der südserbischen Stadt Novi Pazar in verschieden Phasen des Sozialismus von den 1960er bis in die 1980er Jahre. In neue Einrichtungen wie dem Stadtpark und dem Hotel „Vrbak“ sowie in Symbolen wie dem Stadtwappen schrieb sich auf unterschiedliche Weise die Brüderlichkeitsideologie ein. Der Stadtpark, der in den Mauern der alten Festung angelegt wurde, überformte als Ort friedlicher Erholung die von den früheren, ethnisch-religiösen Kriegen geprägt Vergangenheit. Doch mitten in der Anlage wurde ein Partisanen-Denkmal aufgestellt, das die Erinnerung an den gemeinsamen Kampf aller Ethnien gegen den Faschismus präsent hielt. Das Hotel „Vrbak“, errichtet am Ort der zerstörten Moschee, avancierte zum laizistischen Versammlungsort der Gemeinde. Das

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Stadtwappen aus der Spätphase des Sozialismus, als die ideologische Kraft der Brüderlichkeitsideologie bereits weitgehend ausgeschöpft war, griff verzweifelt nach veralteten, entleerten Pathosformeln des sowjetischen Kollektivismus. Die Idee der Brüderlichkeit übertrugen die jugoslawischen Ideologen in den 1970er Jahren auch in die internationale Politik, wo sie sich als ein vorbildhaftes multikulturelles Land in Szene setzten wollten. Während man sich in der frühen Phase des „dritten Weges“ vor allem der Rhetorik der doppelten Negation gegenüber Ost und West bediente,79 ist in der späten Phase seit Mitte der 1970er Jahre von Synthese und Vermittlung zwischen Ost und West die Rede, wie Andrea Rehling zeigt. Sie demonstriert anhand der jugoslawischen UNESCOWelterbepolitik, wie das Land in der Gemeinschaft der Blockfreien eine Vorreiterrolle für sich beanspruchte und sich als Modell für die Entwicklungsländer anbot. Gerade die Lage in der Kontaktzone zwischen Ost und West wurde bei der Auswahl von Denkmälern entscheidend. Obwohl in der jugoslawischen Erinnerung der Partisanenkampf stets präsent blieb, wurden die Stätten der großen Offensiven auf der internationalen Bühne pazifistisch als Naturparks inszeniert. Während sich das sozialistische Jugoslawien mit der „dritten Welt“ verbrüderte und selbst zum Ort der Überwindung der Gegensätze von Ost und West wurde, demonstrierte die Sowjetunion familiäre Nähe insbesondere zu ihren Satellitenstaaten. Dmitri Zakharine weist anhand von Presse, Tages- und Wochenschauen nach, dass die Sowjetunion bei Staatsbesuchen oder -empfängen Familiarität und Friedensbotschaft durch den „Bruderkuss“ in hierarchisch stark abgestufter Form demonstrierte. Dieses politische Ritual, vom christlichen osculum pacis sowie von alten Zeremonien am russischen Hof inspiriert, wurde den Besuchern der Wochenschauen und den Fernsehzuschauern von den 1950er bis in die 1990er Jahre bei Begegnungen von Staatsführern im Ostblock in großen, halbnahen Kameraeinstellungen vorgeführt. Mit diesem symbolischen Begrüßungsakt, der den kommunistischen Verbündeten vorbehalten war, wurde eine symbolische Grenze gegenüber den kapitalistischen Ländern gezogen. Der Autor verfolgt die medien- sowie die sozialhistorische Perspektive des Rituals, das sich von ungeschickten, spontanen Akten zum formalisierten Ritual verfestigte. Während man sich in Jugoslawien auf die Tradition der häretischen Bogomilen berief, durch die man den „dritten Weg“ antizipiert sah,80 waren für Tom‚sˇ G. Masaryk die Hussiten und die Böhmischen bzw. die Mährischen Brüder Vorläufer der Verbrüderung von Tschechen und Slowaken.81 Jan Rand‚k de79 Zimmermann, Tanja: ,Titoistische Ketzerei. Die Bogomilen als Antizipation des „dritten Weges“ Jugoslawiens‘, in: ZEITSCHRIFT FÜR SLAWISTIK 2010/55 – 4, S. 445 – 463. 80 Ebd. 81 Masaryk, Tom‚sˇ : Jan Hus. Nasˇe obrozen† a nasˇe reformace. Praha 1896; Schulze Wessel 2011, S. 165 – 176.

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monstriert anhand von Propagandabroschüren, wie sich kommunistische Ideologen bemühten, in der tschechischen Gesellschaft ein positives Verhältnis zur DDR, dem ehemaligen Erzfeind, aufzubauen. Tschechische Ideologen erinnerten dazu an die deutsche Klassik, vor allem an Goethe, sowie an die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels. Vor allem der Hussitismus, interpretiert als patriotische Bewegung, welche die deutsche Reformation und die bäuerischen Bruderschaften der Bauernkriege beeinflusste, wurde als eine bereits in der Frühen Neuzeit existierende Verbindung zwischen den beiden Völkern gedeutet. Die Konstruktion eines historischen, gemeinsamen tschechisch-deutschen Widerstands gegen die Feinde der Reformation sollte der Integration der DDR in den Ostblock und der Versöhnung mit der benachbarten Tschechoslowakei positive Impulse geben. Bereits im 19. Jahrhundert waren Reisen ein effektives Mittel, um die slawischen „Brüder“ in anderen Ländern besser kennenzulernen und Verbindungen zu stärken.82 Wie sich diese Tradition auch unter den Bedingungen des Sozialismus fortsetzte, untersucht Manuela Schwärzler. Anhand tschechischer Reiseberichte nach Jugoslawien aus den 1950er und 1960er Jahren analysiert sie die Aktualisierung des alten slawischen Brüderlichkeitsdiskurses. Parallelen entdeckten die Tschechen im gemeinsamen Schicksal der West- und der Südslawen, zuerst in der Mission der ,Slawenapostel‘ Kyrill und Method, dann im Kampf gegen den fremden Feind, die Türken bei den Südslawen und die Deutschen bei den Tschechen. Tschechen und Slowaken werden zudem als Mitkämpfer in den Partisanenmythos eingebunden. Bruderschaften, seien es Mönchsorden, Sokol-Mitglieder oder Pioniere der kommunistischen Organisation, demonstrierten ihre Verbundenheit auch durch einheitliche Erkennungszeichen und Uniformen. Für die neue Rolle der Frau als „Schwester“ und „Kameradin“ in der kommunistischen Gesellschaft sollte auch ein neuer Habitus kreiert werden.83 Mit diesem wurden die überkommenen Stereotypen jedoch nur oberflächlich überschrieben. In der Mode blieb die Frau weiterhin zwischen der traditionellen Rolle als Mutter und Sexualobjekt in begrenzten Szenarios von Gleichberechtigung und Emanzipation gefangen. Tatjana Petzer führt vor, wie sich die neue sozialistische Ordnung in Jugoslawien und in der Tschechoslowakei auf die Kleidercodes auswirkte. 82 Glanc, Tom‚sˇ : ,Die Erfindung der Slawia. Zur Rolle des Reisens in der Formierung der „slawischen Idee“‘, in: KAKANIEN REVISITED 24. 04. 2008, [Zugriff: 22. 01. 2012]. 83 Behrends, Jan C.: ,Schwester, Freundin und Vorbild. Bilder der „sowjetischen Frau“ im stalinistischen Polen und in der SBZ/DDR‘, in: Kraft, Claudia (Hg.): Geschlechterbeziehungen in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Soziale Praxis und Konstruktionen von Geschlechterbildern (=Bad Wisseer Tagungen des Collegium Carolinum 25). München 2008, S. 59 – 86.

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Während die Parteien anstrebten, die Klassen- und Geschlechterunterschiede zu nivellieren, amalgamierte man in der Mode heimische Folklore mit Merkmalen der westlichen Konsumkultur. Auch in der Kleiderordnung schlug Jugoslawien einen „dritten Weg“ ein und etablierte einen modernen Ethnolook, der nationale folkloristische Ornamente mit internationaler Mode wie z. B. dem Minirock verknüpfte. Musik und Gesang, ausgeführt im Chor, waren besonders geeignet, um Kollektive nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch den Rhythmus zusammenzubinden. In Folge der Entwicklung des Radios und des Tonfilms in den 1930er Jahren konnten die akustischen bzw. die audio-visuellen Medien in der Sowjetunion für die kommunistische Propaganda in Dienst genommen werden.84 Nach dem Zweiten Weltkrieg verfuhr man im sozialistischen Jugoslawien ähnlich. Hier wurden vor allem der gemeinsame Partisanenkampf sowie dessen Anführer, Josip Broz Tito, besungen.85 In den 1960er Jahre wurde auch in der Musik die sozialistische Kultur mit den westlichen ebenso wie mit folkloristischen Elementen verflochten. Wie es Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre in der jugoslawischen Pop-Rock-Musikszene zu einer spontanen Verbrüderung kam, hat Ljiljana Reinkowski recherchiert. Die Bewegung der sogenannten „Neuen Welle“, die sich über ganz Jugoslawien ausbreitete, proklamierte Brüderlichkeit zwar nicht, setzte sie dafür aber umso mehr in die Tat um. Als sich in der Politik nach Titos Tod 1980 die nationalen Auseinandersetzungen verschärften, war die „Neue Welle“ der letzte Ort, an dem „Brüderlichkeit und Einheit“ noch praktiziert wurden. Das anationale, freundschaftliche Zusammensein, das diese Unterhaltungskultur hervorrief, verband als letztes ,gemeinsames‘ Kulturprojekt die Generation des jugoslawischen Sozialismus. Der dritte Teil des Sammelbandes ist Strategien der medialen Dekonstruktion traditioneller „Brüderlichkeit“ gewidmet. Bekanntlich hatten die multinationalen Staaten in Osteuropa, die oft nicht-slawische Bevölkerungen sowie Andersgläubige oder kleinere slawische Nationen mit einer eigenen Identität integrierten, trotz der massenmedial inszenierten Brüderlichkeit von Anfang an mit wachsendem Nationalismus zu kämpfen. Die erste Fallstudie betrifft einen frühen Versuch der Zerstörung der Tschechoslowakei während der Periode des 84 Murasˇov, Jurij: ,Sowjetisches Ethos und radiofizierte Schrift: Radio, Literatur und die Entgrenzung des Politischen in den frühen dreißiger Jahren der sowjetischen Kultur‘, in: Frevert, Ute / Braungart, Wolfgang (Hg.): Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte. Göttingen 2004, S. 217 – 245; ders.: ,The Birth of Socialist Realism out of Spirit of Radiophonia. Maksim Gorky’s Project „Literaturnaja ucheba“‘, in: Postoutenko, Kyrill (Hg.): Totalitarian Communication. Hierarchies, Codes and Messages. Bielefeld 2010, S. 177 – 196. 85 Fister, Vesna: ,Ti, nasˇe pesmi zacˇetek! – Kult osebnosti marsˇala Tita v pesmih od vojne do ˇ ASOPIS ZA KRITIKO ZNANOSTI 2002/30, S. 217 – 231; Zimmermann, Tanja: 1980‘, in: C ,Yugoslav Partisan Poetry. Songs for the Leader‘, in: Gilic´, Nikica / Jakisˇa, Miranda (Hg.): Partisans. Narrative, Staging and Afterlife, Bielefeld 2014 (im Druck).

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Nationalsozialismus. Nach zwanzig Jahren gemeinsamen Lebens in einem Staat trennten sich die vorwiegend protestantischen Tschechen und die katholischen Slowaken im Bruderzwist. Wie Schulze Wessel gezeigt hat, folgte der Klerus jedoch nicht immer dem ethnischen Prinzip. Insgesamt nivellierte der alle Konfessionen durchziehende Antagonismus gegenüber den Deutschen die Unterschiede.86 Gerade der nationale Kult um die ,Slawenapostel‘ Kyrill und Method blieb lange Bindeglied für beide Religionsgruppen.87 Nach dem Münchener Abkommen 1938, als die tschechischen Sudetengebiete dem Deutschen Reich zugeschlagen wurden, nutzten die untergeordneten Slowaken die Situation aus, um auch ihre Unabhängigkeit von Prag zu proklamieren. 1939 folgte die Gründung einer der nationalsozialistischen Ideologie nahestehenden Republik. Bohunka Kokleksov‚ verfolgt anhand der offiziellen Presse und Fotografie die Radikalisierung der Debatten während der Auflösung der Tschechoslowakei 1938 – 39. Die Presseagenturen der Tschechen und der Slowaken vermittelten ein unterschiedliches Bild der Trennung: Während sich die tschechische Agentur noch um gemeinsame Aufnahmen bemühte, um Brüderlichkeit zu demonstrieren, bevorzugte die slowakische Fotos, die ausschließlich slowakische Politiker zeigten, um die neu errungene Selbständigkeit zu demonstrieren. Wie sich die ersten Brüche in der „Brüderlichkeit und Einheit“ in Jugoslawien bereits in den 1960er und 1970er Jahren ankündigten, demonstriert Katrin Winkler. Mit der Verfassungsänderung von 1974 wurde der Staat dezentralisiert und die Zuständigkeit für die Massenmedien auf die Ebene der Republiken übertragen. Auch das neue Medium des Fernsehens, in dem lokale mündliche Idiome gepflegt wurden, verstärkte die Tendenzen zur Regionalisierung und zur Bildung von nationalen Identitäten. Hatten die panslawistischen Sprachforscher im 19. Jahrhundert die Differenzen zwischen den einzelnen slawischen Sprachen als minimal angesehen – als handle es sich lediglich um „Mundarten“ einer einzigen Sprache –,88 verselbstständigten sich die dialektalen Unterschiede zwischen dem Kroatischen, Serbischen und Bosnischen in der Imagination der jugoslawischen Bürger allmählich in unterschiedlichen Sprachen.89 Mit dem

86 87 88 89

Schulze Wessel 2011, S. 23, 162 – 167. Ebd., S. 174 – 176. Koll‚r 1837, S. 11. Zur Sprachpolitik in Jugoslawien und in der post-jugoslawischen Zeit: Okuka, Milosˇ : Eine Sprache – viele Erben. Sprachpolitik als Nationalisierungsinstrument in Ex-Jugoslavien. Klagenfurt 1998; Greenberg, Robert D.: Language and Identity in the Balkans. SerboCroatian and its Disintegration. Oxford 2004; Cvetkovic´-Sander, Ksenija: Sprachpolitik und nationale Identität im sozialistischen Jugoslawien (1945 – 1991). Serbokroatisch, Albanisch, Makedonisch und Slowenisch (=Balkanologische Veröffentlichungen 50), Wiesbaden 2011.

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Zerfall Jugoslawiens und der Gründung neuer Nationalstaaten wurde vor allem das Kroatische vom serbischen und vom bosnischen Idiom gereinigt.90 Davor Beganovic´ analysiert die Umwandlung der universellen Brüderlichkeit in die lokalen, abgeschlossenen Bruderschaften in dem Roman Schafott (Gubilisˇte, 1962) des jugoslawischen Schriftstellers Mirko Kovacˇ. Einem Vater und seinem Sohn, die aus der orthodoxen Gemeinschaft ausgestoßen wurden, bleiben nur die Rollen des heiligen Narren und des Verbrechers. Im hermetischen, fast sujetlosen Roman voller christlicher Symbole und biblischer Zitate keimt gerade mit Blick auf die aus der orthodoxen Glaubensgemeinschaft Ausgestoßenen die Hoffnung auf eine universelle Annäherung. Gerade die Andersgläubigen, die Muslime, erweisen sich als Beschützer der Exkommunizierten. Doch trotz dieses Hoffnungsfunkens endet auch diese subversive Verbrüderung in der Gleichschaltung der Gemeinschaft. Wie sich in den 1990er Jahren auf den Ruinen Jugoslawiens eine neue griechisch-serbische Freundschaft etablieren konnte, untersucht Ruzˇa Fotiadis. Die Vertreter der griechisch-orthodoxen Kirche gingen sogar so weit, dass sie Radovan Karadzˇic´ während des Bosnien-Krieges zu sich einluden. Medien berichteten über den Besuch sowie über die Beteiligung griechischer Freiwilliger an der Einnahme von Srebrenica. Die Autorin bewertet dieses Phänomen nicht nur als irrationale, nationalistisch unterfütterte Rhetorik, sondern stellt sie in den Kontext der griechischen nationalen und internationalen Politik. Griechenland fühlte sich durch die Anerkennung der ehemaligen jugoslawischen Republik Makedonien als souveränen Staat seitens Europa um seine ,historischen‘ Ansprüche auf das antike Makedonien betrogen, weswegen sich im Land eine antiwestliche Stimmung ausbreitete. Im Zerfall slawischer Gemeinschaftlichkeit konnte für kurze Zeit wie im 19. Jahrhundert die Einheit der Orthodoxen wieder aufleben, dieses Mal ohne Russland dabei eine Führungsrolle zuzuschreiben. Ein entgegengesetzter Weg zur Desintegration zeichnet sich im gegenwärtigen Bosnien ab. Dem sogenannten „Mischling“, dem Abkömmling einer ethnisch-religiösen „Mischehe“, gilt der Beitrag von Aida Gavric´. Während der Begriff in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Wortschatz gestrichen wurde, wird er in Bosnien nach dem Krieg von 1992 – 95 wieder verwendet. Von der Verkörperung der „Brüderlichkeit und Einigkeit“ in Jugoslawien wurde der „Mischling“ gegenwärtig zu einer unerwünschten Figur der Entzweiung und der Gefährdung der nationalen Einheit. Die Autorin untersucht anhand von akademischen Publikationen fundamentalistisch gesonnener In-

90 Zur Geschichte des serbisch-kroatischen Variantenstreites: Cvetkovic´-Sander 2011, S. 202 – 245.

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tellektueller und von Internetbeiträgen auf unterschiedlichen Nachrichtenportalen Prozesse der Marginalisierung, die sich bis zum Rassismus verschärfen. Ein Gegenbeispiel für derartige Szenarien des wechselseitigen Ausschlusses präsentiert Renata Makarska. Sie stellt ein bemerkenswertes Beispiel der Inklusion innerhalb der postkommunistischen Tschechischen Republik vor. Der vietnamesischen Gemeinde in der Tschechischen Republik wurden 2013 Minderheitsrechte zugesprochen, obwohl es sich um keine autochthone Bevölkerung handelt – ein einmaliger politischer Akt in Europa. In Martin Rysˇavy´s filmischer Trilogie sowie in Romanen eines tschechischen Autors, der ein weibliches vietnamesisches Pseudonym, Lan Pham Thi, trägt, wird die schwierige Lage der so bezeichneten Tschecho-Vietnamesen geschildert. Diese werden zwar nie Brüder genannt, aber dennoch zeigt die Autorin, welche anderen Strategien der Annährung vorgeführt werden. Andrea Zink und Tatjana Simeunovic´ begeben sich in ihrem Beitrag über Miljenko Jergovic´ auf die Spurensuche nach der jugoslawischen „Brüderlichkeit und Einheit“. Der kroatische Schriftsteller tritt zusammen mit dem serbischen Autor Marko Vidojkovic´ im dokumentarischen Roadmovie The Long Road Through Balkan History (2010) des Regisseurs Zˇeljko Mirkovic´ auf. Zu zweit fahren sie in einem roten Yugo entlang der Autobahn der „Brüderlichkeit und Einheit“, die sich von Slowenien über Kroatien und Serbien bis nach Makedonien erstreckte und von der jugoslawischen Jugend und der Armee 1950 – 1977 erbaut wurde. Überall auf ihrem Weg müssen sie feststellen, dass es keine Einheit mehr gibt und dass auch die jugoslawische Geschichte in eine Pluralität von nationalen Geschichten zerfallen ist. Auch in seinen Romanen blickt Jergovic´ nur noch retrospektiv auf die ehemalige Brüderlichkeit zurück, deren ruinenhafte Reste aus entleerten Pathosformeln und aus den Floskeln der literarischen oder filmischen Vergangenheit Jugoslawiens bestehen.

Nachbar oder Bruder? Die Auflösung der transnationalen Bündnisse, die im Namen der panslawischen Verbrüderung nach dem Ersten Weltkrieg gegründet worden waren, kündigte sich in den wachsenden Nationalismen der 1930er Jahren an. 1939 trennten sich die Slowaken von den Tschechen und gründeten einen unabhängigen Staat unter der Obhut des Deutschen Reiches. Das Königreich Jugoslawien zerfiel im Bürgerkrieg, der die faschistische Okkupation begleitete. Die Parolen der Brüderlichkeit, nach 1945 unter den kommunistischen Regimes erneut eingesetzt, sind nach dessen Niedergang 1989 wohl für immer verstummt. Als Phrasen für den Erhalt des Kollektivismus haben sie ihre Glaubwürdigkeit endgültig verloren. Gerade in Jugoslawien, wo die Brüderlichkeit am stärksten propagiert worden

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war, kam es schließlich zu den schlimmsten rassistischen Exzessen. So formulierte Jean-Luc Nancy, dass „der Rassismus nie überwunden wird, solange man ihm eine generische Bruderschaft der Menschen entgegenstellt, anstatt ihm das Auseinanderfallen unserer Rassen und unserer Gesichtszüge […] entgegenzuhalten.“91 Die rassistischen Exzesse wurden nicht durch die Entfremdung ursprünglich brüderlicher Völker hervorgerufen, sondern gerade dadurch, dass benachbarte und auch sprachverwandte Ethnien in Nähe zueinander und in ein gemeinsames politisches Schicksal hineingezwungen wurden. Es sind die kleinen Unterschiede, welche die Rassismen groß machen. Insofern dürfen die neuen Rassismen in Osteuropa nicht nur in die Nachfolge des Nationalsozialismus gestellt werden, sondern müssen vielmehr gerade von der ursprünglichen Brüderlichkeit abgeleitet werden. Gerade weil die Metapher forciert und missbraucht wurde, haben die vermeintlichen Brüder gründlich miteinander abgerechnet. Blickt man auf die relativ friedliche Auflösung der Gemeinschaft von Tschechen und Slowaken schon durch die Umwandlung der gemeinsamen Republik in einen föderalistischen Staat von Nachbarschaft bereits im Jahre 1969, ferner auf die Trennung der Föderation in zwei souveräne Staaten in 1993 sowie auf ein Einzelphänomen wie die Akzeptanz der neuen Minderheit der Vietnamesen in der Tschechischen Republik seit 2013, so scheint die Nachbarschaft vielleicht eine brauchbarere Metapher als die Brüderlichkeit. In seinem Plädoyer für die Nachbarschaft unmittelbar vor dem Zerfall Jugoslawiens 1987 – 89 unterstrich Taras Kermauner deren Vorzüge gegenüber der Brüderlichkeit – den Akzent auf gegenseitigem Respekt und Abstand trotz räumlicher Nähe.92 Doch schon Soziologen wie Georg Simmel und Max Weber begegneten auch dem Apell an gute Nachbarschaft mit großer Skepsis. In einem „Exkurs über den Fremden“ (1908) sieht Simmel ausschließlich im Fremdsein ein objektives, gleichberechtigtes Gegenüber, dessen Kommen und Gehen als Synthese von Nähe und Ferne akzeptiert wird.93 Lässt sich der fremde Gast jedoch nieder, tritt er in ein nachbarschaftliches Nahverhältnis, das nur durch ein enges Zusammenhörigkeitsgefühl getragen werden kann. Daraus entsteht eine Lebensgemeinschaft mit gegenseitigen Rechten und Pflichten, die in vielem einer Hausgemeinschaft ähnelt und somit in die Nähe der Familie rückt. Gerade wegen der gegenseitigen Angewiesenheit bringt die Nachbarschaft für Weber die Gefahr des Autonomieverlustes mit sich.

91 Nancy, Jean-Luc: Corpus. Aus dem Französischen von Nils Hodyas und Timo Obergöker. Berlin 2003 (fr. Corpus. Paris 2000), S. 34. 92 Kermauner 1989, S. 168; Vgl. auch Anm. 36. 93 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Form der Vergesellschaftung. Bd. 2. Frankfurt/M. 1992, S. 764 – 771.

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Der Nachbar ist der typische Nothelfer, und „Nachbarschaft“ daher Trägerin der „Brüderlichkeit“ in einem freilich durchaus nüchternen und unpathetischen, vorwiegend wirtschaftlichen Sinne des Wortes. […] Dass die Nachbarschaftsgemeinde die typische Stätte der „Brüderlichkeit“ sei, bedeutet natürlich nicht etwa, dass unter Nachbarn der Regel nach ein „brüderliches“ Verhältnis herrsche. Im Gegenteil: wo immer das von der Volksethik postulierte Verhalten durch persönliche Feindschaft oder Interessenkonflikte gesprengt wird, pflegt die entstandene Gegnerschaft, gerade weil sie sich als im Gegensatz zu dem von der Volksethik Geforderten stehend weiß und zu rechtfertigen sucht und auch weil die persönlichen Beziehungen besonders enge und häufige sind, zu ganz besonders scharfem und nachhaltigem Grade sich zuzuspitzen.94

Nur solange die Nachbarschaft „jene nüchterne ökonomische ,Brüderlichkeit‘ in Notfällen“ bleibt,95 garantiert sie laut Weber Vergesellschaftung. Webers nachbarschaftliche „Brüderlichkeit“ beinhaltet somit Solidarität, doch ohne Anspruch auf wechselseitige Liebe und ohne dauerhafte Abhängigkeit. Auch Slavoj Zˇizˇek, Eric L. Santner und Kenneth Reinhard betrachten in ihrer psychoanalytischen Studie The Neighbor. Three Inquiries in Political Theology (2005) die Nachbarschaft skeptisch. Vielfach manifestiere sich gerade im übermäßigen Liebesanspruch eine Neigung zur Agression und zur gegenseitigen Feindschaft.96 Die Verkehrung des biblischen Imperativs „Liebe deinen Nächsten!“ in Hass leiten die Autoren, wie vor ihnen auch Freud und Lacan, von dem Gründungsvater der primordialen Horde – von Moses (für Freud ein Ägypter) – ab, der jedoch noch vor der Ankunft im gelobten Land Kanaan von der jüdischen Gemeinschaft ermordet und zur Kompensation der primordialen Untat vergöttlicht wurde. Die ,ethische Gewalt‘ der Liebe zu einem Gott und zum Vater, welche die Gesetzestafeln zusammen mit anderen Geboten vorschrieb, rückt das Verhältnis der religiösen Gemeinschaft in die Nähe des hierarchischen Familienverbandes. Auch Sandra Evans und Schamma Schahadat geben in ihrer Einleitung zum Sammelband Nachbarschaft, Räume, Emotionen. Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform (2011) Beispiele für das gefährliche Oszillieren der Nachbarschaft zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit, zwischen Freundschaft und Verwandschaft.97 Obwohl die Beiträge ein eher negatives Bild der Nachbarschaft zeichnen, räumen die Herausgeberinnen gerade Emotionen, die Intimität erzeugen, die Chance ein, eine gute Nachbarschaft aufzubauen.

94 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Fünfte, revidierte Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann. Tübingen 1972, S. 215 – 218, hier S. 216 f. 95 Ebd., 218. 96 Zˇizˇek, Slavoj / Santner, Eric L. / Reinhard, Kenneth: The Neighbor. Three Inquiries in Political Theology. Chicago 2005. 97 Evans, Sandra / Schahadat, Schamma (Hg.): Nachbarschaft, Räume, Emotionen. Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform. Bielefeld 2011, S. 7 – 27.

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Die emotionale und räumliche Nähe der Nachbarschaft kann also sowohl als Motivation für Solidarität als auch für Konflikte wirksam werden. Dennoch lehrt die Geschichte der Tschechoslowakei einerseits und Jugoslawiens andererseits, dass man zwischen der nüchternen Einsicht von Nachbarstaaten und dem Apell an emotionale Schicksalsgemeinschaften differenzieren sollte. Nachbarn können fair miteinander verhandeln, Brüder verlangen unbedingte Gefolgschaft. Zum rassistischen Genozid der 1990er Jahre kam es vor allem dort, wo man zuvor Nachbarvölker gezwungen hatte, einander gemäß der Metapher der Brüderlichkeit mit bedingungsloser Solidarität zu begegenen.

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I. Konzepte und Ausprägungen der »Brüderlichkeit« im 20. und 21. Jahrhundert

Stefan Troebst (Leipzig)

Kommunistische Nationskonstruktionen. Indigenisierung, Zwangsassimilierung, Zwangsumsiedlung, separatistisches Nation-Building und supranationale Konzeptionen

Die Vorstellung, Wir-Großgruppen sowohl kreieren, amalgamieren als auch dividieren zu können, war ein zentraler Bestandteil des für das 20. Jahrhundert so prägenden Sozialingenieurtums.1 Im östlichen Europa galt dies von den ersten Ansätzen bolschewistischer Nationalitätenpolitik im Sowjetrussland der 1920er Jahre bis zu den gewaltförmigen Versuchen der Schaffung einer „einheitlichen sozialistischen bulgarischen Nation“ bis in die 1980er Jahre. Im Folgenden soll dieser rote Faden staatssozialistischer Ethnopolitik in sechs Abschnitten nachverfolgt werden. Diese sind erstens die ideologischen Grundlagen des (austro-)marxistisch-leninistischen Baukasten-Verständnisses von Nation, wie es zweitens in der sowjetischen Politik unter dem ersten Nationalitätenkommissar Stalin in der Konzeption der Indigenisierung wirkungsmächtig wurde. Drittens ist Zwangsassimilierung als einschlägige Methode ethnischer Purifizierung zu nennen – neben den häufig parallel angewendeten Mitteln der Binnenzwangsumsiedlung und der Ausweisung über die Staatsgrenze hinweg, sei es mittels vertraglich geregelter Aussiedlung, staatlicherseits betriebener Fluchtverursachung, ungeregelter ethnischer Säuberung oder organisierter Vertreibung. Als Beispiel dient dafür Bulgarien. Viertens wird separatistisches Nation-Building am Beispiel der moldauischen Nation in der UdSSR als „Ausgründung“ aus der rumänischen Nation sowie der makedonische Nation in Jugoslawien mittels De-Bulgarisierung thematisiert. Ein Seitenblick gilt dabei der DDR. Fünftens werden supranationale Konzeptionen wie der Tschechoslowakismus, der Jugoslawismus und das Konzept des „Sowjetvolks“ 1 Zu aktuellen Überblicken vgl. Madajczyk, Piotr / Popielin´ski, Paweł (Hg.): Inz˙yneria społeczna. Mie˛dzy totalitarna˛ utopia˛ a cza˛stkowym pragmatizmem. Warszawa 2012; Etzemüller, Thomas: ,Social Engineering‘, in: Docupedia-Zeitgeschichte vom 11. Februar 2010, verfügbar unter : [Zugriff: 02. 08. 2013]; Etzemüller, Thomas (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009. Weiterhin aufschlussreich ist die polemische Schrift des Soziologen Walter Sulzbach, in der er den Begriff der „Verwaltungsnation“ prägte: Sulzbach, Walter : Die Zufälligkeit der Nationen und die Inhaltlosigkeit der internationalen Politik. Berlin 1969, S. 2.

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behandelt. Und sechstens wird die Frage nach den Spätfolgen kommunistischer Nationskonstruktionen nicht nur in Moldova, Bulgarien und Makedonien, sondern auch in der neuen Russländischen Föderation gestellt.

Ideologische Grundlagen Die ideologischen Grundlagen kommunistischer Nationskonzeptionen legte Lenin in Revolution und Bürgerkrieg zwischen 1917 und 1922. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, einschließlich des Austritts aus dem Staatsverband, und der föderative Staatsaufbau Sowjetrusslands waren dem Primat der Revolution, nicht ideologischen Prinzipien geschuldet. Nicht Karl Marx und Friedrich Engels, sondern Otto Bauer und Karl Renner waren dabei Leitfiguren Lenins für die Umgestaltung eines multiethnischen, vielsprachigen und plurireligiösen imperialen Gebildes in einen Gegensätze dieser Art möglichst weitgehend abfedernden kommunistischen Ein-Parteien-Staat – temporäre Bündnisse mit nicht-russischen „Klassengegnern“ eingeschlossen.2 Hinzu kam die weltrevolutionäre Dimension samt einem „Klassenbrüder“-Postulat, welche im Zweiten Weltkrieg durch das Konzept „slavischer Brüderlichkeit“ mit „antifaschistischer“ Stoßrichtung ergänzt wurde. Der mit Blick auf die sowjetischen Satelliten Ungarn, Rumänien und Albanien sowie die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands, ab 1949 DDR, ohnehin problematische Bezug auf das Slaventum wurde bereits im Zuge des Tito-Stalin-Bruches 1948 über Bord gekippt3 und durch das Moskauer Oktroi einer „sozialistischen Brüderlichkeit“ ohne Ethnizitätsbezug ersetzt. Dabei war klar, dass es nur einen „großen Bruder“ gab – neben etlichen „kleinen Brüdern“, die auf den „großen“ zu hören hatten. Der erstmals 1956 in Ungarn angewendete Sanktionsmechanismus gegen einen „kleinen Bruder“ wurde 1968 implizit in die nach dem damaligen sowjetischen Parteichef Leonid I. Brezˇnev benannte Doktrin von der beschränkten Souveränität staatssozialistischer Staaten im sowjetischen Einflussbereich gefasst.4

2 Mommsen, Hans / Martiny, Albrecht: ,Nationalismus, Nationalitätenfrage‘, in: Kernig, Claus D. (Hg.): Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Bd. 4. Freiburg 1971, S. 623 – 695. 3 Behrends, Jan C.: ,Stalins slavischer Volkskrieg. Mobilisierung und Propaganda zwischen Weltkrieg und Kaltem Krieg (1941 – 1949)‘, in: Ga˛sior, Agnieszka / Karl, Lars / Troebst, Stefan (Hg.): Post-Panslavismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert. Göttingen 2014, S. 79 – 108. 4 Ouimet, Matthew: The Rise and Fall of the Brezhnev Doctrine in Soviet Foreign Policy. Chapel Hill/North Carolina u. a. 2003.

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Stalinsche Nationalitätenpolitik Die genannte Leninsche ideologische Flexibilität galt bis in die 1930er Jahre hinein für die Politik der Indigenisierung (korenizacija), der zufolge die Eliten nicht-russischer nationaler Minderheiten durch staatliche Förderung ihrer ethnokulturellen Spezifik für die Sache des Kommunismus gewonnen werden sollten. Terry Martin hat darauf den Terminus der positiven Diskriminierung der Minderheiten im Vergleich zur russischen Mehrheitsnation angewandt,5 Yuri Slezkine denjenigen „chronischer Ethnophilie“ des sowjetischen Regimes.6 Die Nationsdefinition Stalins von 1913, der von 1917 an als Volkskommissar für Nationalitätenfragen amtierte, wurde zur Staatsdoktrin. In seiner Schrift Marxismus und nationale Frage hatte er auf die nationsprägenden Faktoren Geschichte, Sprache, Territorium und Wirtschaft sowie die „sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarende psychische Wesensart“ abgehoben.7 Zwar war die UdSSR formal eine multinationale Föderation mit zahlreichen Subjekten, in der politischen Realität stellte jedoch die hierarchisch-zentralistisch aufgebaute KPdSU die Weichen. Dabei markierte die von Stalin im Zweiten Weltkrieg geprägte Losung eines „Sowjetpatriotismus“ wie die Formel von den „Völkern der Sowjetunion“ bereits eine Spannungslinie zwischen Nationalem und Supranationalem.8 Im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft vom Ende der 1920er Jahre an formierte sich politischer Widerstand unter nicht-russisch-nationalem Vorzeichen, was zum Abbruch der Indigenisierungspolitik führte. Primat erhielt jetzt eine durchgängige Russifizierung von Staat und Partei. Unternommen wurden überdies zahlreiche dirigistische Experimente, etwa das Pferchen zweier antagonistischer nationaler Gruppen in eine autonome Sowjetrepublik, ein autonomes Gebiet, einen autonomen Kreis u. a. zum Zwecke ihrer Neutralisierung qua Dauerkonflikt – etwa von Tschetschenen mit Inguschen, von Karatschaiern mit Tscherkessen oder von Kabardinern mit Balkaren.9 Im Vorfeld und während des Zweiten Weltkrieges ließ Stalin ganze Nationen aus ihren europäischen Siedlungsgebieten nach Zentralasien deportieren, so Wolga-Deutsche und

5 Martin, Terry : The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923 – 1939. Ithaca/New York 2001. 6 Slezkine, Yuri: ,The USSR as a Communal Apartment, or How a Socialist State Promoted Ethnic Particularism‘, in: SLAVIC REVIEW 1994/53, S. 414 – 452, hier S. 32. 7 Stalin, Josef W.: Marxismus und nationale Frage (1913). Hier zit. nach ders.: Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage. Köln 1976, S. 26 – 93, hier S. 32. 8 Oberländer, Erwin: Sowjetpatriotismus und Geschichte. Dokumentation. Köln 1967. 9 Mark, Rudolf A.: Die Völker der Sowjetunion. Ein Lexikon. Opladen 1989.

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Krim-Tataren, aber auch Bulgaren, Kalmücken, Mes’cheten-Türken und andere.10

Zwangsassimilierung und Zwangsumsiedlung War die Leitlinie sowjetischer Nationalitätenpolitik von den 1930er Jahren an die Herstellung von „Übersichtlichkeit“ und „Ordnung“ zum Zwecke von Sowjetisierung und Gewährleistung russischer Dominanz, so hielten die Staaten des Moskauer Hegemonialbereiches im Kalten Krieg in aller Regel an ihren präkommunistischen nationalen Traditionen in der Minderheitenpolitik fest. Lediglich in der Periode des Spätstalinismus wurden Versatzstücke Stalinscher Nationalitätenpolitik mechanisch und temporär übertragen – etwa in Rumänien, wo der ungarischen Minderheit vorübergehend Territorialautonomie gewährt wurde.11 Ganz anders hingegen Polen unter Bolesław Bierut, wo zur Erhöhung ethnischer Homogenität die Deutschen vertrieben, die Ukrainer binnenzwangsumgesiedelt und die Kaschuben unter Polonisierungsdruck gesetzt wurden.12 Ein in mehrfacher Hinsicht extremer Fall war das kommunistische Bulgarien und seine Politik gegenüber muslimischen Minoritäten. Während die Zahl der türkischsprachigen Muslime in den 1950er bis 70er Jahren durch Aussiedlungsabkommen mit der benachbarten Türkei reduziert werden sollte, was aufgrund der dramatischen Unterschiede in der Geburtenrate nicht gelang, sollten die Pomaken, d. h. bulgarischsprachige Muslime, mit Brachialgewalt säkularisiert werden. Dies galt für das Verbot der Beschneidung, der Bestattung auf Holzbahren, des Tragens von Schleier und Pluderhosen usw. Auch dabei waren die Erfolge mehr als bescheiden.13 1984 traf das Politbüro der Bulgarischen Kommunistischen Partei dann die erratische Entscheidung, sämtlichen türkischsprachigen Staatsbürgern – und das waren knapp 900.000 bzw. zehn Prozent der Bevölkerung – anstelle ihrer arabisch-muslimischen Vor-, Vatersund Nachnamen bulgarisch-christliche Namensformen zu oktroyieren. Be10 Brandes, Detlef / Sundhaussen, Holm / Troebst, Stefan (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien/Köln/Weimar 2010. 11 Mihûk, Brigitte: ,Die rumänische Nationalitätenpolitik seit 1945‘, in: SÜDOSTEUROPA 1990/ 39, S. 204 – 221. 12 Fleming, Michael: Communism, Nationalism and Ethnicity in Poland, 1944 – 50. London/ New York 2010. 13 Büchsenschütz, Ulrich: Minderheitenpolitik in Bulgarien. Die Politik der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) gegenüber den Juden, Roma, Pomaken und Türken 1944 – 1989. Ms., Berlin 1997, verfügbar unter : [Zugriff: 02. 08. 2013]).

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gründet wurde dies mit der Notwendigkeit der Herstellung der besagten „einheitlichen sozialistischen bulgarischen Nation“ als Vorstufe einer „kommunistischen Nation“.14 Zwar gelang die massenhafte Namensänderung mittels massivem Einsatz von Miliz, Staatssicherheit, Truppen des Innenministeriums und Armee, der Dutzende Tote und Hunderte Verletzte forderte, doch war der dadurch ausgelöste Dauerkonflikt zwischen dem Regime und der großen türkischen Minderheit mittelfristig nicht steuerbar. Im Zuge einer breiten Protestwelle bulgarischer Türken im Frühjahr 1989 entschloss sich die HardlinerFraktion im Politbüro daher zur gezielten Schaffung einer Fluchthysterie bei gleichzeitiger Öffnung der Grenzen zur Türkei. Binnen weniger Wochen verließen 370.000 türkischsprachige Bulgaren Hals über Kopf das Land Richtung Edirne und Istanbul.15 International wie intern war die Führung um Partei- und Staatschef Todor Zˇivkov nun so diskreditiert, dass sie am 10. November 1989 einer Riege von Reformkommunisten Platz machen musste. Bemerkenswert bezüglich der brutalen ethnischen Homogenisierungspolitik war die internationale Reaktion darauf: Während die Sache im Westen als „Familienstreit“ innerhalb des Ostblocks betrachtet wurde, in den man sich nicht einmischen sollte, führte der Zˇivkovsche Alleingang zum De facto-Bruch mit Moskau, wo damals Michail GorbacˇÚv regierte.16

Separatistisches Nation-Building Die beiden prominentesten Fälle separatistischen Nation-Buildings sind zweifelsohne das Projekt einer Nation der Moldauer in der Moldauischen Sozialistischen Sowjetrepublik, wie sie 1940 gegründet wurde, sowie die administrativ bewerkstelligte Gründung einer Nation der Makedonier in der jugoslawischen Teilrepublik Makedonien von 1944 an. Beide Großprojekte zielten auf die Abspaltung einer auf dem jeweils eigenen Territorium ansässigen Bevölkerung von benachbarten Nationalstaaten nicht nur in politisch-administrativem, sondern gerade auch in ethnonationalem Sinne – im moldauischen Falle von Rumänien und den Rumänen und im makedonischen von Bulgarien und den Bulgaren. Bei näherer Betrachtung beruhten beide Vorhaben stärker auf Abgrenzung denn auf 14 Troebst, Stefan: ,Zum Verhältnis von Partei, Staat und türkischer Minderheit in Bulgarien 1956 – 1986‘, in: Schönfeld, Roland (Hg.): Nationalitätenprobleme in Südosteuropa. München 1987, S. 231 – 253. 15 Vassilev, Vassil: Nationalismus unterm Roten Stern. Vorgeschichte, Durchführung und Auswirkungen der Namensänderungskampagne 1984 – 89 gegenüber der türkischen Minderheit in Bulgarien. Zürich/Münster 2008. 16 Troebst, Stefan: ,Bulgarien 1989. Gewaltarmer Regimewandel in gewaltträchtigem Umfeld‘, in: Sabrow, Martin (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt. Göttingen 2012, S. 356 – 383.

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Identifikation. Dies galt vor allem für das moldauische Nationsbildungsprojekt, das sich nur auf eine sehr dünne historische Traditionslinie berufen konnte. Auch bestand hier das Dilemma weitgehender sprachlicher Gleichheit, so dass das Neue an der neuen Nationalsprache Moldauisch gegenüber dem Rumänischen nicht Grammatik, Lexik, Phonetik o. ä., sondern das Alphabet war – kyrillisch statt lateinisch.17 Die Konstrukteure der makedonischen Nation profitierten hingegen von einer relativ großen dialektalen Kluft zwischen der bulgarischen Standardsprache und dem eigenen regionalen Idiom, wie sie sich überdies auf eine zwar kurze, aber doch programmatisch ausformulierte Eigenständigkeitstradition berufen konnte. Dennoch wussten die Makedonier vor 1944 wesentlich genauer, wer sie nicht sein wollten, nämlich keine Serben, Bulgaren, Griechen oder Albaner, als wer sie sein bzw. wie sie heißen wollten. Ersatzweise nannten sie sich „Hiesige“, „Unsrige“, „Christen“, „Bauern“ oder „Rechtgläubige“. Da im makedonisch-bulgarischen Fall Grammatik, Lexik und Phonetik hinreichend unterschiedlich waren, konnte es beim selben – kyrillischen – Alphabet belassen werden, indes unter Einfügung bzw. Streichung einiger Buchstaben.18 In beiden Fällen, der moldauischen wie der makedonischen Nationsbildung, war jedoch die Konstruktion einer möglichst weit in die Vergangenheit zurückreichenden Nationalgeschichte sowie das Anfertigen, sprich: Schreiben einer Nationalliteratur erforderlich. Beides wurde innerhalb eines Jahrzehnts bewerkstelligt. Ein Problem war allerdings die Frage nach einer eigenen Nationalkirche: Eine solche wurde im makedonischen Fall 1958 mittels Abspaltung von der Serbischen Orthodoxen Kirche gegründet – im moldauischen Fall hingegen nicht. Hier blieb die regionale Kirchenorganisation unter der Zugehörigkeit zur Russischen Orthodoxen Kirche des Patriarchen in Moskau. Bezeichnenderweise waren beide Projekte, das moldauische und das makedonische, „von oben“ wie von außen initiiert, also von Moskau und Belgrad. Hingegen endete ein eigeninitiativ unternommener Vorstoß, nämlich der Plan des SED-Chefs Walter Ulbricht zur Proklamierung einer „sozialistischen deutschen Nation der DDR“ – in Abgrenzung zur „kapitalistischen deutschen Nation der BRD“ – um 1971 erfolglos: Weder unterstützte die sowjetische Führungsmacht das Vorhaben, noch gab es in der DDR ein positives Echo. Selbst SEDIdeologen bemängelten, dass das Ulbrichtsche Nationsbildungsprojekt die

17 Dumbrava, Vasile / Cas¸u, Igor : ,Die Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik (1944 – 1991)‘, in: Bochmann, Klaus et al. (Hg.): Die Republik Moldova. Republica Moldova. Ein Handbuch. Leipzig 2012, S. 98 – 108; in: ebd. S. 609 – 616. 18 Troebst, Stefan: ,Makedonische Antworten auf die „Makedonische Frage“ 1944 – 1992. Nationalismus, Republiksgründung und nation-building in Makedonien‘, in: SÜDOSTEUROPA 1992/41, S. 423 – 442.

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„westdeutsche Arbeiterklasse im Stich lasse“19, sie gleichsam „dem Monopolkapitalismus ausliefere“. Unter Honecker reduzierte das Regime in seiner Propaganda dann die Bezüge auf Nation, Deutschtum und Deutschland und benutzte neutralere Formeln wie „unsere Republik“ oder „unser sozialistischer Staat“ bzw. „die friedliebende Bevölkerung der DDR“ oder „unsere Menschen“. Das Spannungsverhältnis zu vor dem Mauerbau geprägten sowie danach beibehaltenen Bezeichnungen wie Neues Deutschland (als Titel des Parteiorgans) oder Sozialistische Einheitspartei Deutschlands und Freie Deutsche Jugend, gar Deutsche Reichsbahn oder Deutsche Post, wurde damit nur noch offenkundiger.

Supranationale Konzeptionen Es ist kein Zufall, dass die 1991 unabhängig gewordenen Nationalstaaten Moldova und Makedonien aus Föderationen hervorgingen, in denen sie einen Teilrepublikstatus genossen. Die drei kommunistischen Bundesstaaten Sowjetunion, Jugoslawien und (ab 1969) Tschechoslowakei waren es dann auch, welche supranationale Konzeptionen unterschiedlicher Prägekraft entwickelt haben. Dabei konnten die beiden letztgenannten an nicht-kommunistische Vorläuferstaaten anknüpfen. Sowohl die Tschechoslowakische Republik der Jahre 1918 bis 1939 und erneut von 1945 bis 1948 als auch das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen – 1929 bis 1941 unter der Bezeichnung Königreich Jugoslawien firmierend – hatten mit den Konstrukten Tschechoslowakismus und Süd- bzw. Jugoslawismus experimentiert. Im letztgenannten Fall mit der Formel eines „dreinamigen Volkes“ (troimeni narod) bestehend aus Serben, Kroaten und Slowenen. In beiden Fällen war der Erfolg allerdings gering.20 Dazu waren die Hegemonialnationen von Tschechen und Serben jeweils zu dominant. Während der Tschechoslowakismus auch unter kommunistischem Vorzeichen unbedeutend blieb und der Jugoslawismus nach einem durch die Zunahme von interethnischen Eheschließungen bedingten Aufschwung in den 1950er und 60er Jahren an Dynamik verlor, machte die Sowjetunion unter Brezˇnev Ende der 1970er Jahre ihrerseits einen supranationalen Anlauf. Zwar gab es bereits unter Stalin und Nikita S. ChrusˇcˇÚv das Ideologem, die „Völkerfreundschaft“ (druzˇba narodov) innerhalb des sowjetischen Staatsverbandes bewirke eine „Annähe19 Naumann, Gerhard / Trümpler, Eckhard: Der Flop mit der DDR-Nation 1971. Zwischen Abschied von der Idee der Konföderation und Illusion von der Herausbildung einer sozialistischen deutschen Nation. Berlin 1991. 20 Lemberg, Hans: ,Der Versuch der Herstellung synthetischer Nationen im östlichen Europa im Lichte des Theorems vom Nation-Building‘, in: Schmidt-Hartmann, Eva (Hg.): Formen des nationalen Bewußtseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien. München 1994, S. 145 – 161.

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rung der Völker“ (sblizˇenie narodov), was im Endstadium des Kommunismus in einer „Völkerverschmelzung“ (slijanie narodov) resultieren würde. Doch ging es Brezˇnev mit seinem Konzept des „Sowjetvolks“ (sovetskij narod) nicht so sehr um ein ethnisch integriertes Ganzes, als vielmehr um ein ideologisch-klassenmäßiges Konzept, um eine „neue historische Menschengemeinschaft“. Dieses gattungsmäßig noch nie da gewesene Kollektiv sollte allerdings selbstredend das Russische als „Sprache der Freundschaft und der Zusammenarbeit der Völker der Sowjetunion“ benutzen, zu möglichst großen Teilen in der KPdSU organisiert sein und ethnonationale Identifikationsmuster aus dem öffentlichen Raum in die Privatsphäre verlegen. Entsprechend stieß Brezˇnevs Sowjetvolk-Idee in den ukrainischen, baltischen, kaukasischen und zentralasiatischen Sowjetrepubliken auf gebremste Zustimmung, partiell gar auf offenen Widerstand, so dass sie im Zuge der Krise der 1980er Jahre klammheimlich in der Versenkung verschwand.21

Spätfolgen Wie sehen die Spätfolgen der skizzierten kommunistischen Nations- und Supranationskonstruktionen aus? Am deutlichsten zu besichtigen sind sie in den seit 1991 unabhängigen Staaten Moldova und Makedonien mit ihren Titularnationen von Moldauern und Makedoniern. Beide Staaten sind in ihrer Geschichtspolitik bemüht, das Stigma ihrer „kommunistischen Empfängnis“ durch die Konstruktion von Traditionslinien in die fernere Vergangenheit loszuwerden – im moldauischen Fall durch Bezüge auf das Mittelalter, im makedonischen gar bis in die Antike, ins vierte vorchristliche Jahrhundert zu Alexander dem Großen, der auf Makedonisch Alexander der Makedonier heißt. Zwar ist in beiden Fällen der Anteil derjenigen, die frühere nationale Identifikationsmuster bevorzugen, also rumänisch bzw. bulgarisch, niedrig, aber dennoch werden diese Gruppen als Nuclei potentieller fünfter Kolonnen der Nachbarstaaten Rumänien und Bulgarien beargwöhnt. Darüber, dass man als EU-Mitglied mit Blick auf die Gegenwart und auch auf die Zukunft besser nicht von einer Revision der Staatsgrenzen sprechen sollte, herrscht zwar auch in Bukarest und Sofija Konsens, doch um so heftiger sind die rumänischmoldauischen und bulgarisch-makedonischen Kontroversen, wenn es um die Vergangenheit geht. „Wir akzeptieren Eure Existenz als Staat und in Gottes Namen auch als Nation“, so die patronisierende Sichtweise in Sofija auf Skopje und in Bukarest auf Chis¸ina˘u, „aber nicht Eure nationale Meistererzählung, das Konstrukt Eurer Nationalgeschichte“. Dies hindert allerdings weder Rumänien noch Bulga21 Lewytzkyj, Boris: „Sovetskij narod“ – „Das Sowjetvolk“. Nationalitätenpolitik als Instrument des Sowjetimperialismus. Hamburg 1983.

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rien daran, Hunderttausenden von Moldauern und Makedoniern unbürokratisch die rumänische bzw. bulgarische Staatsbürgerschaft zu verleihen und sie damit nicht nur zu Rumänen und Bulgaren, sondern auch zu EU-Bürgern zu machen. Während supranationale Konstruktionen kommunistischer Art höchstens noch für China eine gewisse Bedeutung haben, hat das Identitätsmanagement der Europäischen Union von der Vorstellung einer neuen Kollektivität von Unionseuropäern bislang wohlweislich Abstand genommen. Brezˇnevsches Denken spielt allerdings in gewissem Umfang eine Rolle für das Selbstverständnis der Russländischen Föderation Vladimir V. Putins, genauer für das Spannungsverhältnis zwischen Russentum (russkost’) und Russländertum (rossijskost’). Ist das Russland der Gegenwart der Nationalstaat der Russen, in dem auch nicht-russische Minderheiten leben – oder nicht vielmehr ein multiethnisch-imperiales Gebilde in der Nachfolge von Zarenreich und Sowjetunion? Vjacˇeslav Nikonov, Berater des damaligen Präsidenten Dmitrij Medvedev, hat 2010 in einem programmatischen Text diesen beiden Alternativen noch eine dritte hinzugefügt: Nämlich diejenige, dass Russland mit seinen 135 ethnischen Gruppen sich auch als qualitativ gänzlich „neue historische Gemeinschaft“ definieren könnte – gemäß der kommunistischen Sowjetvolk-Doktrin der 1970er Jahre, jetzt indes mit Imperialität statt Ideologie.22 Schließlich sei auf einen Umstand verwiesen, der gleichfalls als Spätfolge kommunistischer Nationskonstruktion gedacht werden kann. Gemeint ist das unmittelbar nach dem Epochenjahr 1989 erfolgte Auftreten politischer Akteure bzw. „ethnischer Unternehmer“, die sich als Sprecher „neuer“ Nationen ausgaben – und zwar nicht zufällig vor allem in den hier genannten Regionen des östlichen Europa. Dies gilt für die sich als „Ägypter“ bezeichnenden Roma in Makedonien, Kosovo und Serbien23, für das „Volk Transnistriens“ im separaˇ SFR und der tistischen Ostteil Moldovas,24 für die „mährische Nation“ in der C Tschechischen Republik sowie vor allem für die Russinen in der Ukraine, aber auch in der Slovakei, Ungarn und Serbien.25 Die Vorstellung, neue Nationen mittels politischer Mobilisierung konstruieren zu können, wirkt hier bis heute 22 Nikonov, Vjacˇeslav : ,Ideja nasˇej nacii‘, in: IZVESTIJA 246/247, 30. 12. 2010 – 10. 01. 2011, S. 7, verfügbar unter : [Zugriff: 02. 08. 2013]. 23 Finger, Zuzana: ,Ägypter‘, in: Brandes, Detlef / Sundhaussen, Holm / Troebst, Stefan (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien/Köln/Weimar 2010, S. 23 – 24. 24 Troebst, Stefan: ,The “Transdniestrian Moldovan Republic”, 1990 – 2002. From ConflictDriven State-Building to State-Driven Nation-Building‘, in: EUROPEAN YEARBOOK OF MINORITY ISSUES (2002 – 2003/2), S. 5 – 30. 25 Troebst, Stefan: ,Regionalismus und Autonomiestreben im Ostmitteleuropa der Nach„Wende“-Zeit. Mährer und Russinen im Vergleich‘, in: Löwe, Heinz-Dietrich / Tontsch, Günther H. / Troebst, Stefan (Hg.): Minderheiten, Regionalbewußtsein und Zentralismus in Ostmitteleuropa. Köln/Weimar/Wien 2000, S. 67 – 104.

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fort, allerdings mit bescheidenem Erfolg. Der politische Auftritt der „Mährer“ war ein Resultat der „samtenen Scheidung“ der Tschechen von den Slovaken, das nur wenige Jahre wirkmächtig war. Und die zwischen 1989 und 1992 erfolgte Formierung der zuvor unbekannten „Transnistrier“ dürfte sich sowohl im Falle einer Wiedereingliederung des östlichen Dnjestr-Ufers in die Republik Moldova als auch durch eine eventuelle „Heimholung“ ins russische Reich verflüchtigen. Das sowjetische Nationsbildungsprojekt der Moldauer hingegen nimmt sich gleich dem jugoslawischen der Makedonier als irreversibel aus. Insofern reichen kommunistische Nationskonstruktionen weit über das „kurze 20. Jahrhundert“ hinaus. Im Gegensatz dazu haben die Konstruktionsversuche supranationaler Gemeinschaften des vergangenen Säkulums im 21. Jahrhundert keine Fortsetzung gefunden. Weder spielt das (Ost-)Slawentum in der westlichen GUS eine Rolle, noch hat Brüssel den Versuch der Kreierung von „EUropäern“ unternommen.

Literatur Behrends, Jan Claas: ,Stalins slavischer Volkskrieg. Mobilisierung und Propaganda zwischen Weltkrieg und Kaltem Krieg (1941 – 1949)‘, in: Ga˛sior, Agnieszka / Karl, Lars / Troebst, Stefan (Hg.): Post-Panslavismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert. Göttingen 2014, S. 79 – 108. Bochmann, Klaus: ,Die Staatssprache – „Moldauisch“ oder „Rumänisch“?‘, in: Bochmann, Klaus et al. (Hg.): Die Republik Moldova. Republica Moldova. Ein Handbuch. Leipzig 2012, S. 609 – 616. Brandes, Detlef / Sundhaussen, Holm / Troebst, Stefan (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien/Köln/Weimar 2010. Büchsenschütz, Ulrich: Minderheitenpolitik in Bulgarien. Die Politik der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) gegenüber den Juden, Roma, Pomaken und Türken 1944 – 1989. Berlin 1997, verfügbar unter : [Zugriff: 02. 08. 2013]. Dumbrava, Vasile / Cas¸u, Igor : ,Die Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik (1944 – 1991)‘, in: Bochmann, Klaus et al. (Hg.): Die Republik Moldova. Republica Moldova. Ein Handbuch. Leipzig 2012, S. 98 – 108. Etzemüller, Thomas: ,Social Engineering‘, in: Docupedia-Zeitgeschichte vom 11. Februar 2010, verfügbar unter : [Zugriff: 02. 08. 2013]. Etzemüller, Thomas (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009. Finger, Zuzana: ,Ägypter‘, in: Brandes, Detlef / Sundhaussen, Holm / Troebst, Stefan (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien/Köln/Weimar 2010, S. 23 – 24.

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ˇ olovic´ (Belgrad) Ivan C

Unsere Brüder, unsere Freunde. Ein Beitrag zur Anthropologie der internationalen Freundschaften

Historische Genese Die Idee, dass zwei Völker mit Freundschaftsbanden verbunden sein können, stammt – zumindest wenn es um die moderne Geschichte geht – aus der Entstehungszeit der Nationalismus-Ideologien und der Nationalstaaten. Da Völker als kollektive historische Subjekte mit besonderem nationalen Charakter ideologisch konstituiert sind, werden sie zu den autonomen Akteuren der Geschichte respektive der geschichtlichen Narration und bekommen dadurch, als eine unter vielen anderen, auch die Aufgabe zugeteilt, die Verwandtschaft und die Verbundenheit mit den anderen souveränen Völkern zu erkennen und sie zu pflegen. Diese Verwandtschaft und die Verbundenheit sind auf zwei Arten definiert und legitimiert. Als Erstes wird die scheinbare biologische Verwandtschaft zwischen den einzelnen Völkern – die Blutsverwandtschaft – betont, welche als Basis für die verschiedenen Pan-Bewegungen diente, wie etwa den Panslawismus, Pangermanismus, Panlatinismus, und danach auch die religiöse Verbundenheit, das Existieren von Nationalkirchen, die zu ein und derselben Religion gehören. Fände man heraus, dass zwischen zwei Völkern eine Verwandtschaft auf diesen beiden Grundlagen besteht, so könnte man von einer sogenannten ewigen Freundschaftsbindung sprechen, etwa so dargestellt wurde, als ob sie durch Blut und Glauben fundiert wäre. Manchmal ist aber selbst das nicht genug. Eine andere Art von Verbundenheit zwischen den Völkern kann sich als die wichtigere, entscheidendere als eine angebliche Bluts- und Glaubensverbundenheit herausstellen: das ist die Verbundenheit, die im Krieg hergestellt und bestätigt wird, die Waffenbrüderschaft. Zum Beispiel sind die Bulgaren und die Serben als slawische Völker, dazu mehrheitlich orthodox, geradezu dafür prädestiniert, Brüder zu sein. Aber die Tatsache, dass sie sich in den Kriegen während des 19. und 20. Jahrhunderts meistens auf verfeindeten Seiten gegenüberstanden und dass sie auch gegeneinander gekämpft haben, hat lange Zeit nicht zugelassen, dass sich die ethnische und die Glaubensverbundenheit dieser zwei Völker in Freundschaft um-

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wandelt. Auf der anderen Seite war allein die Tatsache, dass die Serben und die Franzosen im Ersten Weltkrieg Verbündete waren, ausreichend, um eine Idee der französisch-serbischen Freundschaft entstehen zu lassen und sie lange Zeit am Leben zu halten, einer Freundschaft zwischen zwei Völkern, welche durch ihre ethnische Herkunft und ihre dominanten Religionen eher voneinander getrennt als miteinander verbunden sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg eröffneten sich neue Perspektiven für das Schließen von internationalen Freundschaften, insbesondere in Europa, wo das Projekt der europäischen Integration die Versöhnung zwischen ehemaligen Kriegsgegnern gefördert hat, so wie beispielsweise zwischen Deutschen und Franzosen. Was die neuen Freundschaften festigt und stärkt, ist nicht mehr die ethnische Verwandtschaft oder die religiöse Verbundenheit, auch nicht die während des Krieges geschlossene Allianz, sondern die gemeinsame schmerzhafte Erinnerung an die Gräuel des Krieges, während dessen sich die Völker gegenseitig bekämpft, umgebracht und vernichtet haben. So entstand die Idee, dass paradoxerweise die stabilsten Freundschaften unter den Völkern, diejenigen sein könnten, welche als Frucht des überwundenen Ressentiments, des bekämpften Hasses, entstünden. Heutzutage sind zum Beispiel die freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen den Partnern aus Frankreich und Deutschland hergestellt werden – wenn man die Anzahl der Clubs, Vereine, Zirkel, Initiativen und der anderen Formen des Praktizierens von französisch-deutschen Beziehungen, abgesehen von den offiziellen zwischenstaatlichen Beziehungen, in Betracht zieht – intensiver als andere derartige Beziehungen in Europa. Auf der Liste der französischen und der französisch-deutschen Vereine in Bayern, die man auf der Homepage des Generalkonsulats Frankreichs in München abrufen kann, befinden sich 29 verschiedene Clubs und Zirkel nur für diesen Teil Deutschlands.1 Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden im Kontext der Gründung eines neuen, vereinigten Europas Initiativen ins Leben gerufen, um freundschaftliche Beziehungen vor allem zwischen ehemaligen Feinden herzustellen, Freundschaften sozusagen auf beiden Seiten der Schützengräben. Sogar die Gedenkfeier für die wichtigen Augenblicke und Helden der vergangenen Kriege zeigen sich als günstige Gelegenheit für das Zelebrieren der neuen Freundschaft zwischen den alten Kriegsfeinden. Das ist seit einigen Jahren auch mit der traditionellen Siegesparade der Fall, mit welcher Frankreich an den Sieg am Ende des Zweiten Weltkrieges erinnert und anlässlich welcher auch Angehörige der heutigen deutschen Armee anwesend sind – im Jahre 2009 nahm zum ersten Mal auch die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, daran teil. 1 Vgl. 26. 07. 2013].

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Partner Als Partner dieser kollektiven Freundschaften können politische Regierungen auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene auftreten, oder die mehr oder weniger unabhängigen Clubs, Vereine und Bürgerinitiativen, welche dafür die Unterstützung des Staates, der Sponsoren, der Unternehmen oder der Kirchen erhalten. Manchmal befinden sich die Partner derartiger Freundschaften im gleichen multinationalen Staat, in gleicher Union oder Föderation. Für derartige Vereinigungen wird hier der Terminus „interethnische Freundschaften“ verwendet – analog zu dem Terminus „interethnische Konflikte“. Wenn Freundschaften zwischen Partnern geschlossen werden, die in verschiedenen Staaten leben, wird von „internationalen Freundschaften“ gesprochen. Auf der anderen Seite können diese Partner in unmittelbarem Kontakt zueinander stehen, sie können Nachbarn sein oder geografisch weit voneinander entfernt sein. Wenn es um die Wichtigkeit und die Größe geht, respektive um das Format der Instanzen, welche als Akteure dieser Freundschaften in Erscheinung treten, unterscheidet man zwischen Situationen, in denen diese Instanzen auf beiden Seiten vergleichbar ähnliche Bedeutung und Größe aufweisen, und asymmetrischen Situationen, in denen auf der einen Seite wesentlich kleinere (schwächere, ärmere, von einer geringeren Anzahl, unwichtigere) Partner stehen als auf der anderen Seite. Dieser Größenunterschied, diese Asymmetrie, beeinflusst natürlich sehr das Aussehen des Rahmens bzw. der narrativen Matrix, in welche die Geschichte über eine solche Freundschaft eingefügt wird, besonders dann, wenn es um die Freundschaftsbeziehungen zwischen Staaten geht. So wird den ,großen Völkern‘ und den ,großen Staaten‘ die Rolle der mächtigen, aber gnädigen Beschützer zufallen, während ihre kleinen Freunde mit solchen Tugenden wie Tapferkeit, Würde, Kämpfergeist rechnen können, mit Tugenden, die oft formelhaft mit „klein, aber“ verbunden werden, wie z. B. „kleines, aber tapferes Volk“, „kleines, aber stolzes Volk“ usw. Nach dieser narrativen Matrix wurde während der Balkankriege und des Ersten Weltkrieges in Frankreich das Bild vom kleinen tapferen und vom großen Frankreich geliebten Serbien erstellt. Der Journalist Charles Diehl veröffentlichte im Jahr 1915 in einem französischen Blatt den Artikel mit dem Titel „Heroisches Serbien. Große Lehren eines kleinen Volkes“ („L’h¦roque Serbie. Grande leÅons d’un petit peuple“).2 Ein noch besseres Beispiel für den narrativen Kontext, in dem damals Serbien und Frankreich zueinander gebracht wurden, stellt das Buch dar, das 1918 unter dem Titel Kleines Serbien (La Petite Serbie)

2 Pavlovic´, Mihailo: T¦moignages franÅais sur les Serbes et la Serbie 1912 – 1918. Êdition bilingue. Beograd 1988, S. 31.

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erschienen ist.3 Das ist eine Art geopolitisches Märchen, in welchem Serbien, ähnlich wie Rotkäppchen, als kleines Mädchen beschrieben wird, das durch andere ebenfalls personifizierte Nationen in menschlicher oder tierischer Gestalt verfolgt bzw. beschützt wird. Kollektive politische Freundschaften sind im Prinzip bilateral. Aber ein Land, ein Volk oder auch eine Stadt können gleichzeitig freundschaftliche Beziehungen mit zwei oder mit mehreren Partnern schließen und pflegen, was bedeutet, dass die Moral dieser Freundschaften ziemlich liberal ist, dass sie den Partnern eine Art Promiskuität erlaubt, besonders dann, wenn diese multilateralen freundschaftlichen Beziehungen in Grenzen gemeinsamer politischer Affinitäten aller bilateraler Beziehungen bleiben, respektive im Rahmen des Bildes von einer Familie, in welcher sich alle Mitglieder untereinander lieb haben. In der Sowjetunion wurden zwei Freundschaftsnetzwerke zwischen den Völkern untereinander geschaffen – das eine verband die nichtrussischen Völker mit dem großen russischen „Bruder“, das andere umfasste die freundschaftlichen Beziehungen der nichtrussischen Völker untereinander. Auf der Homepage NetArmenie.com4 findet sich ein interessanter Erlebnisbericht eines Esten über diese zwei Freundschaftsnetzwerke unter den Völkern der ehemaligen Sowjetunion: „Ich erinnere mich“, erzählt er, „dass es zur Sowjetzeit eine Art verschwörerische Verbundenheit zwischen den kleinen Republiken gab, die untereinander Besuche, Kulturtreffen, Ausstellungen, Bruderschaftsrituale und Ähnliches organisiert haben. Das war eine authentische Kooperation der Kleinen vor den Augen des ,großen russischen Bruders‘“.5 Eine Stadt oder eine Gemeinde konnte ihre freundschaftlichen Beziehungen ebenso mit mehreren Partnern herstellen, mit einer größeren Zahl unterschiedlicher Städte oder Gemeinden, wobei sie untereinander durch nicht mehr verbunden sein mussten, als durch die Tatsache, dass sie die Ehre hatten, Freunde mit derselben Stadt oder Gemeinde zu sein bzw. mit dem Kollektiv, auf wessen Initiative die ersten Freundschaften initiiert wurden. Ein Beispiel für ein so hergestelltes Freundschaftsnetzwerk mit einem Initiator in der Mitte stellen Freundschaften der Stadt Sarajevo dar. Beginnend 1957 bis heute wurde Sarajevo durch rituelle Partnerschaften mit 29 ausländischen Städten verbunden, unter ihnen Tlemcen, Baku, Magdeburg, Stockholm, Tripolis, Tianjin, Calgary, Serre Chevalier, Kuwait und Dayton.6

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Pavlovic´ 1988, S. 31. Vgl. [Zugriff: 2004]. Ebd. [Zugriff: 26. 07. 2012].

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Von der Freundschaft zwischen den Völkern bis zur Gemeindepartnerschaft Die Evolution der internationalen Freundschaften verlief von der Freundschaft, die während des Krieges erprobt wurde, bis hin zur Freundschaft der ehemals Verfeindeten.7 Sie entwickelten sich zugleich auch in Richtung auf Dezentralisierung und ,Übertragung‘ der Initiativen auf lokales Niveau. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es ausschließlich die Aufgabe der Diplomaten, Ministerien und Staatsinstitutionen im Bereich der Bildung und Kultur sowie der nationalen Gesellschaften für Freundschaften (wie z. B. der „Gesellschaft für serbisch-jugoslawische Freundschaft“/„Drusˇtvo srpsko-jugoslovensko prijateljstva“), die Kontakte mit anderen Völkern zu knüpfen. Sie standen unter der Kontrolle eines oder beider betreffender Staaten, deren finanzielle Unterstützung sie genossen. Der Anteil der Bürgerbeteiligung an derartigen Formen von Freundschaften war verschwindend gering. Sie hatten darin eine passive Rolle, die Rolle des Konsumenten der dargebotenen Programme. Die Hauptakteure waren die Vertreter der Staaten, die unzählige Freundschafts-Chartas und ähnliche symbolische Dokumente unterzeichneten. Die Tradition der zeremoniellen zwischenstaatlichen Freundschaften hat auch zur jetzigen Zeit nicht gänzlich aufgehört, aber ihre Intensität ist wesentlich geringer. Eine weit größere Bedeutung haben heutzutage lokale Initiativen für die Herstellung von Kontakten mit Ausländern, so dass nun über die ,Verbrüderungsbewegungen‘ gesprochen wird, womit eine größere Zahl an zeremoniell hergestellten Beziehungen zwischen Städten oder vielmehr Gemeinden zweier Länder umschrieben wird. Die Idee von einer solchen ,Verbrüderung‘ oder präziser gesagt von einer „Städtepartnerschaft“ (engl. „twinning“, franz. „jum¦lage“) wurde gleich nach Ende des Zweiten Weltkrieges geboren.8 Als erste europäische Städte haben Orl¦ans und Dundee im Jahr 1956, Montb¦liard und Ludwigsburg im Jahr 1950 den Partnerschaftseid („Serment de Jum¦lage“) unterzeichnet. Heute wird die größte Hoffnung in die Gemeindepartnerschaften gelegt; seit kurzem werden sogar die Förderer und Organisatoren von internationalen Freundschaften auf lokaler Ebene in Europa, besonders solchen, die in Form von Städtepartnerschaften erfolgen, auch finanziell durch die Europäische Kommission unterstützt. Der Rat der Gemeinden und Regionen Europas verleiht jedes Jahr den Preis „Goldene Sterne der Städtepartnerschaft“, welche, so ist es in der Satzung bestimmt, an „zehn Partnerschaftsprojekte gehen, welche sich dadurch aus7 Zu internationalen Freundschaften vgl.: Oelsner, Andrea / Vion, Antoine (Hg.): ,Special issue: Friendship in international relations‘, in: INTERNATIONAL POLITICS 2011/48 – 1, S. 1 – 9. 8 [Zugriff: 26. 07. 2012].

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zeichnen, dass sie einen fruchtbaren Beitrag für das europäische Integrationsprojekt und die gegenseitige Annäherung zwischen den Bürgern Europas“ leisten.9 Laut einem Bericht der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2003 haben sich „fast 13.000 Gemeinden in 15 Mitgliedsländern der EU, der Schweiz und den Ländern Zentral- und Osteuropas aktiv an Städtepartnerschaftsaktionen beteiligt“.10 Darin wird besonders ein Aspekt dieser Initiativen hervorgehoben, nämlich der, dass sie quasi ,da draußen‘ dank Initiativen ,einfacher Bürger‘ entstehen und nicht durch Oktroyieren von oben, dass sie ihren wirklichen Bedürfnissen entsprechen, mit Menschen anderer Länder Freundschaften zu schließen. „Städtepartnerschaften“, wird in diesem Bericht erklärt, „beruhen auf der politischen Willensbildung in der Kommune, aber auch auf der Kooperationsbereitschaft der Bürger […] Sie verlangen eine direkte Beteiligung der Einzelpersonen oder auch der Gruppen, welche am Austausch interessiert sind.“11

Aktuelle und traditionelle Verbrüderungen Interessanterweise wird im bereits erwähnten Dokument der Europäischen Kommission u. a. über den rituellen und symbolischen Charakter der neuen Verbrüderungen gesprochen. „Eigentlich“, so heißt es dort, „hat das Wort ,Städtepartnerschaft‘ (jum¦lage) keine rechtliche Grundlage. Es sei vor allem ein moralischer Vertrag zwischen zwei Kollektiven, welcher von einem Partnerschaftseid begleitet werden kann, der seitens der Vertreter zweier Städte niedergeschrieben wird.“12 Diese moralischen Verträge und symbolischen Chartas erinnern Anthropologen an rituelle Verbindungen, welche in traditionellen Gesellschaften zwischen Personen geschlossen werden, die nicht einer und derselben Gruppe angehören. Ein erstes Zeugnis über derartige Verbindungen geht auf Herodot zurück. Er hat das Bruderschaftsritual bei den Skythen beschrieben. In einen großen Tonbecher wird Wein gegossen vermischt mit dem Blut derer, die den Bund schließen wollen. Danach werden Schwerter, Pfeile oder Speere darin getaucht und lange Verschwörungsformeln gesagt, und am Ende trinken alle Akteure des Bundes sowie die wichtigsten Zeugen von dem Trank aus dem Becher.13 9 Vgl. [Zugriff: 27. 06. 2012]. 10 Verfügbar unter : [Zugriff: 27. 06. 2012]. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Botasˇev, =stislav : ,Pobratimstvo v sovremennom Karacˇe‘, in: ZˇIZN’ NACIONALNOST’EJ 2000/1, S. 57 – 79, hier S. 57 – 59.

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Neben der Untersuchung der Rolle dieser symbolischen Verwandtschaft in der Folklore einzelner Völker (in Frankreich unter dem Namen „affrÀrement“ bekannt, in den südslawischen Sprachen und im Russischen als „pobratimstvo“) haben die Ethnologen und Soziologen versucht, auch ihre soziale Funktion zu beleuchten. „In der Organisation der echten Beziehungen in einer traditionellen Gemeinschaft“, schreibt Dunja Rihtman-Augusˇtin, „überträgt eine Bruderschaft die brüderliche Beziehung und alle Verpflichtungen, die aus ihr hervorgehen, auch auf die Personen außerhalb der engeren Verwandtschafts-, oder sogar der ethnischen und religiösen Gemeinschaft“.14 Laut Rihtman-Augusˇtin ist es „offensichtlich, dass beide Kirchen im Südosten Europas zu bestimmten Zeiten nach diesen traditionellen Gesellschaftsformen gegriffen haben, mithilfe welcher sie die Toleranz fördern wollten“.15 Sie stellt am Ende die Frage: „Können wir heute überhaupt noch Bruderschaften und Patenschaften erneuern und in welcher Form wäre das noch möglich?“16 Als sie diese Frage im Jahr 1999 stellte, hatte sie die Feindseligkeiten vor Augen, welche während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien entstanden waren, und sie überlegte, auf welche Art und Weise sie in der Zukunft verringert oder eventuell sogar überwunden werden könnten, und was die Anthropologie des Balkans dazu zu sagen hätte. Sie sieht im Modell der verwandtschaftlichen Bande nicht die Grundlage für die Versöhnung zwischen den Völkern, die in den 1990er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den Krieg verwickelt waren, denn es hat sich gezeigt, „dass sich die verwandtschaftliche Bande hin und wieder im Gewebe der modernen und postmodernen Gesellschaft als funktional negativ auswirkt“ bzw. dass sie mancherorts „eine gute Grundlage für erfolgreiche mafiaähnliche Verbindungen schafft“.17 Ausgehend vom Beispiel der Nachbarn verschiedener Nationalitäten, die sich während der letzten Kriege gegenseitig geholfen und beschützt haben, nennt sie daher als eine Möglichkeit der Wiederherstellung von Toleranz die gute, nicht-verwandtschaftlich bestimmte Nachbarschaft, bzw. wie sie selber sagt: die Wiederherstellung der „Rhetorik der guten Nachbarn, der aufopfernden Nicht-Verwandten“.18

14 Rihtman-Augusˇtin, Dunja: ,O susjedima‘, in: Jaksˇic´, Bozˇidar (Hg.): Interkulturalnost i tolerancija, Beograd 1999, S. 151 – 164, hier S. 160. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Rihtman-Augusˇtin 1999, S. 160.

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Von den politischen Ritualen bis zu den Volksfesten Unter den Ritualen, die zwecks Feiern von kollektiven Freundschaften organisiert sind, sind einige auf staatlichem Niveau geordnet und ihre Akteure sind meistens Regierungen und Staatschefs. Das bekannteste und am häufigsten praktizierte Ritual ist die feierliche Unterzeichnung des Partnerschaftsabkommens zwischen zwei Ländern. Des Weiteren werden kollektive Freundschaften auf staatlichem Niveau symbolisch bestätigt, indem man Denkmäler für ausländische Personen errichtet, welche sich durch ihre Freundschaft gegenüber dem Volk des Landes ausgezeichnet haben, in dem man das Denkmal aufstellt, ebenso in Form von Gedenktreffen, anlässlich welcher man die Erinnerung an ein wichtiges Datum des gemeinsamen Kampfes zweier Völker ins Gedächtnis ruft. Als Veranstalter dieser Rituale und der Gedenkfeier können auch Gesellschaften zur Pflege der Freundschaft zwischen diesen zwei Völkern auftreten, welche mit Unterstützung der ausrichtenden Regierung eines Staates arbeiten. Seit in der Politik der internationalen Freundschaften den lokalen Manifestationen einer Freundschaft Vorrang gegeben wird, sind gewisse Volksfeierlichkeiten zur Verbrüderung mit Ausländern häufiger geworden, die zwischen Städten und Gemeinden organisiert werden. Hierbei handelt es sich nicht nur um grenznahe Orte. Ein Beispiel für eine solche Feierlichkeit ist ein Fest, das die italienische Stadt Vogogna organisiert, um die Städtepartnerschaft mit der französischen Stadt LanÅon-de-Provence zu feiern. Und selbstverständlich kam es zur offiziellen Unterzeichnungszeremonie der Partnerschaftscharta, welche im Garten des Schlosses Vogogna erfolgte unter Teilnahme von 10 Gruppen Hochländer aus den umliegenden Bergorten samt Geschenkeaustausch; darunter waren auch zwei Bilder der Altstadt von Vogogna, eine berühmte keltische Maske und ein handbemalter Teller in den Farben unserer zwei Städte, welche alle Gäste aus Frankreich erhalten haben. Und diese haben ihren Freunden aus Vogogna ein Bild des historischen Zentrums von LanÅon, eine Malerstaffelei aus Olivenholz und einige Flaschen provenzalischen Öls und Weins geschenkt.19

Im Text gibt es eine Stelle, die zur Schlussfolgerung führt, dass die politische Bedeutung dieser Manifestationen, die aus Gründen der gegenseitigen Annäherung der Bürger Europas auf lokalem Niveau organisiert werden, aus dem Rahmen der zu erwartenden politischen Korrektheit fallen kann. Es kann auch eine Auffassung von internationalen Freundschaften als einer Verbundenheit, die nur für einander ethnisch und kulturell nahestehende Völker reserviert ist, in Erscheinung treten, was jedoch impliziert, dass aus ihr a priori alle anderen ausgeschlossen sind: 19 Vgl. [Zugriff: 2004].

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Diese zwei Tage werden tief verwurzelt in unserem Gedächtnis bleiben! Ungeachtet unserer Besonderheiten und der Tatsache, dass in den Venen vieler Einwohner LanÅons das Blut der Urahnen aus Piemont und den anderen entfernteren italienischen Gegenden fließt, schöpfen wir alle aus derselben Kulturquelle und teilen dasselbe Erbe, welches auf unserem gemeinsamen Erbe der lateinischen Zivilisation beruht.20

Vom Krieg zum Alltag Die Narrationen über „unsere Freunde, unsere Brüder“ unterscheiden sich auch dadurch, wem die Rolle des Haupthelden zugeteilt wird. Ihre Helden, dramatis personae, können Völker oder Staaten sein. Sie sind diejenigen, die Bündnisse schließen, gemeinsam schwierige Herausforderungen durchstehen, ihre Freundschaften in Kriegen und Krisensituationen abhärten und mit Blut besiegeln. Die Narrationen darüber finden sich in den Geschichts- und den nationalen Literaturlehrbüchern, danach werden sie – nach den stereotypen Klischees – in die Alltagssprache übertragen. Nachdem sie Teil der Populärkultur geworden sind und sich tief in die populäre politische Mythologie verwurzelt haben, zeigen die Vorstellungen über „unsere Freunde, unsere Brüder“, eine Resistenz gegenüber Veränderungen bzw. sie können nur schwer den Veränderungen des historischen und politischen Kontextes folgen. So ist es auch mit den Veränderungen in den Beziehungen zwischen Serbien und den Ländern, die sich die Reputation eines großen Freundes gesichert haben, wie Russland oder Frankreich. Im Falle, dass sich ein Volk mit der Reputation eines ,zeitlosen‘ Freundes schlecht aufführt, wird in der Narration, auf welcher diese Freundschaft basiert, diese Wende akzeptiert, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Dies geschieht, indem an der Oberfläche des Narrativs ein Motiv der Trennung (Krise, Missverständnisse, Verrat, Irrweg usw.) eingeführt wird, welches dazu führt, dass Freunde bzw. Brüder im Stich gelassen werden. Das grundlegende, ,zeitlose‘ Narrativ über die Freundschaft, welches zeigt, dass diese es schaffen kann, alle Krisensituationen zu meistern, bleibt unverändert. Auf diese Art und Weise bleibt in der serbischen Öffentlichkeit zum Beispiel der Ruf der serbisch-russischen Freundschaft weiterhin unangefochten, ungeachtet der historischen Tatsachen, die selten eine Grundlage für dieses heute noch in Serbien weitverbreitete Bild über Russland als dem „großen Bruder“ und „Beschützer“ bieten.21 Die Idee von der zeitlosen Freundschaft kann selbst dann überleben, wenn sich ,ewige Freunde‘ eine schlechte Meinung über das Land 20 Ebd. 21 Milosavljevic´, Olivera: U tradiciji nacionalizma. Ili stereotipi srpskih intelektualaca o ,nama‘ i ,drugima‘. Helsinsˇki odbor za ljudska prava u Srbiji. Bd. 1, Beograd 2002, S. 278.

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bilden. Das bestätigt das Beispiel der französisch-serbischen Freundschaft und die Reden darüber während der Krisen und der Kriege im ehemaligen Jugoslawien. In Belgrad wurde im Jahr 1926 ein Denkmal der Dankbarkeit dem Volk Frankreichs wegen dessen freundschaftlichen Beziehungen zu Serbien im Ersten Weltkrieg vom Bildhauer Ivan Mesˇtrovic´ errichtet. Aber während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien 1991 – 1999 war Frankreich bekanntlich nicht auf der Seite Serbiens, sondern vielmehr sogar an der NATO-Intervention gegen Serbien aktiv beteiligt. Um ihrer Entrüstung wegen dieses ,Verrats‘ seitens Frankreichs Ausdruck zu verleihen, inszenierten Milosˇevic´s Anhänger am 25. März 1999 ein Ritual der symbolischen Beerdigung Frankreichs, des Denkmals zu Ehren Frankreichs und der serbisch-französischen Freundschaft, dessen Hauptakt in der Verhüllung des Dankbarkeitsdenkmals mit schwarzem Kreppstoff lag. Wie in einem nicht namentlich gekennzeichneten Artikel veröffentlicht wurde, befindet sich unter dem schwarzen Krepp Frankreich selbst bzw. das Denkmal, das „vor unseren Augen verhüllt, in der Dunkelheit, in welche die Nachkommen der glorreichen französischen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg sie hineingestoßen haben, um dort für die Sünden der neuen Generation zu büßen“22 steht. Anstelle der Postamentinschrift: „Wir lieben Frankreich, wie es uns geliebt hat 1914 – 1918“, wurde über dem schwarzen Krepp die Botschaft geschrieben: „Ewiger Ruhm sei Frankreich gewiss, das es nicht mehr gibt“. Diese Botschaft zeigt deutlich, dass auch in dem Augenblick der Mythos über die serbischfranzösische Freundschaft intakt geblieben ist. Frankreich als Freund Serbiens lebt nicht mehr, diese Freundschaft verspüren die heutigen Franzosen nicht mehr, im serbischen Narrativ aber besteht sie fort. Den Völkern und den Staaten wird in verschiedenen Episoden die Rolle der Haupthelden der Narration über die internationale Freundschaft zugewiesen, vor allem wenn es um die sog. „Waffenbrüderschaft“ (bratstvo po oruzˇju) geht. Selbstverständlich tauchen auch in diesen Narrationen einzelne Helden auf: Ausländer, die im Kampf für Serbien ihr Leben geopfert haben, verschiedene Freiwillige, Ärzte und Krankenschwestern, die in den Kriegssituationen an der serbischen Seite standen, alle Herausforderungen und Opfer ertragend. In diese Kategorie der Helden gehören auch ausländische Politiker, Journalisten, Schriftsteller, Intellektuelle, die sich vor die internationale Öffentlichkeit gestellt und die ,serbische Angelegenheit‘ verteidigt haben. Aber auch diese Einzelpersonen haben auf dem Freundschaftsbild immer einen sogenannten asymmetrischen Partner dabei und das ist das Volk als Ganzes. Sie treten immer in ein und derselben, gleich beschriebenen Funktion als die ,großen Freunde des serbischen Volkes‘ auf und obwohl es sich um sehr berühmte Personen wie Peter ˇ ERNE NOVOSTI, 26. 03. 22 Anonym: ,Neka je vecˇna slava Francuskoj koje visˇe nema‘, in: VEC 1999.

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Handke handelt, sind in dieser Art Narration ihre Eigenschaften auf die Funktion ,Freunde von uns‘ reduziert, so dass sie abstrakt bleiben und einander sehr ähneln. Im Gegensatz zu internationalen Freunden besitzen die Freunde auf lokaler Ebene individuellere Züge und sind in höherem Maße humanisiert. Die Werte, die sie in solchen Narrativen verkörpern, bleiben nach wie vor abstrakt: Toleranz, Frieden und Kooperation. Obwohl sie zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den Völkern und den Staaten beitragen, lassen sich ihre große Effekte im alltäglichen Leben beobachten. Wenn Städtepartnerschaften oder Treffen der verbrüderten lokalen Gemeinden organisiert werden, kommen die Gäste in aller Regel in den Häusern der Gastgeber dieser Programme unter, das Programm selbst spielt sich in den Schulen, Sportanlagen, Museen oder lokalen Theatern ab. Des Weiteren begrenzen sich diese Programme nicht auf Kulturmanifestationen, sondern schließen oft auch den Austausch praktischer Erfahrungen mit ein; oder wie der Präsident des Komitees für Städtepartnerschaften von Rennes und Alma-Ata formuliert hat: „Der gewöhnliche Tourismus gehört nicht zu unseren Zielen. Die Reisen werden so organisiert, dass die Teilnehmenden die Gelegenheit haben, am Alltag ihrer Gastgeber aktiv teilzunehmen.“23 Folglich verlangt die Poetik der Narration über die lokale Städtepartnerschaft, dass ihre Helden, die sogenannten ,kleinen Leute‘, entsprechend authentisch, lebendig und konkret sind. Wenn sie manchmal etwas Großes tun, wenn von ihnen aus eine Initiative für manche großen Projekte ausgeht, mit denen man die Freundschaft zwischen den Völkern festigt, ist das dank der Tatsache möglich, dass es sich um gewöhnliche Menschen handelt, um bescheidene Bürger. Ohne diese grundlegende Tugend würden die internationalen Freundschaften toter Buchstabe bleiben. Die Strategie dieser Partnerschaften sucht für die Verwirklichung ihrer Ziele ihren Halt in der Banalität des Alltags, was sie von der Strategie der Freundschaften unterscheidet, welche auf einem Kriegsbündnis gründen. In einem Artikel, welchen die Vorsitzende des Komitees für die Städtepartnerschaften der Stadt Voiron geschrieben hat – einer Stadt, welche zur Zeit der Entstehung dieses Beitrags drei Städtepartnerschaften hatte: Bassano del Grappa (Italien), Voiron (Frankreich) und Sˇibenik (Kroatien) – ist die Idee erkennbar, auf welcher die Strategie der lokalen Städtepartnerschaften gründet. Am Anfang werden die Worte Jean Monnets zitiert, eines der Urheber der Idee von der Vereinigung Europas: „Es geht nicht darum, Länder miteinander zu verbünden, sondern Menschen zu vereinen“, und dann hebt die Autorin die Erfolge hervor, welche ihr Komitee, die Vision Monnets über die europäische Einheit befolgend, verzeichnen kann: 23 Verfügbar unter : [Zugriff: 05. 01. 2013].

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Im Laufe der Jahre wurde zwischen vielen deutschen, kroatischen, französischen und italienischen Familien eine unkündbare Freundschaft geschlossen. Die Menschen fahren nicht nur zu Besuch nach Herford, Sˇibenik oder Bassano del Grappa, sondern sie fahren zu ,ihren Familien‘, und diese Freundschaft, welche von Einzelpersonen geschlossen wurde, ist die Freundschaft unserer Städte, welche zusammenkommen, um gemeinsam eine Herausforderung, eine Freude oder eine andere Emotion zu teilen.24

Also, von den Einzelpersonen hin zur Stadt, von der Stadt hin zum ganzen Land, das ist der Weg der Verbreitung von Freundschaften, welchen die Projekte der Städtepartnerschaften dieser Art im Blick haben. Auf sie soll die Anthropologie ihr Augenmerk richten.

Übersetzt von Slavica Stevanovic´

Literatur Botasˇev, =stislav : ,Pobratimstvo v sovremennom Karacˇe‘ In: ZˇIZN’ NACIONALNOST’EJ 2000/1, S. 57 – 79. Milosavljevic´, Olivera: U tradiciji nacionalizma. Ili stereotipi srpskih intelektualaca o ,nama‘ i ,drugima‘. Helsinsˇki odbor za ljudska prava u Srbiji, Bd. 1, Beograd 2002. Oelsner, Andrea / Vion, Antoine (Hg.): ,Special issue: Friendship in international politics‘, in: INTERNATIONAL POLITICS 2011/48 – 1, S. 1 – 9. Pavlovic´, Mihailo (Hg.): T¦moignages franÅais sur les Serbes et la Serbie 1912 – 1918. Beograd 1986. Rihtman-Augusˇtin, Dunja: ,O susjedima‘, in: Jaksˇic´, Bozˇidar (Hg.): Interkulturalnost i tolerancija, Beograd 1999, S. 151 – 164. [Zugriff: 26. 07. 2013]. [Zugriff: 2004]. [Zugriff: 26. 07. 2012]. [Zugriff: 26. 07. 2012]. [Zugriff: 27. 06. 2012]. [Zugriff: 27. 06. 2012]. [Zugriff: 2004]. [Zugriff: 05. 01. 2013]. [Zugriff: 2004].

24 Vgl. [Zugriff: 2004].

Jan Dutoit / Boris Previsˇic´ (Basel)

Zwischen Stammesdenken und internationaler Solidarität. Bratstvo im Ersten und Zweiten Jugoslawien

„Kroatien und Serbien funktionieren und werden immer funktionieren wie eine Art siamesische Zwillinge oder besser gesagt wie getrennte siamesische Zwillinge“, stellte Miljenko Jergovic´ unlängst in einer serbischen Fernsehsendung fest.1 Mit diesem provokativen Bild verweist der bosnisch-kroatische Schriftsteller zwar in erster Linie auf die heutigen Verhältnisse nach den postjugoslawischen Kriegen, gleichzeitig erinnert die Aussage aber auch an die in den ersten beiden Jugoslawien sehr unterschiedlich gelagerten Brüderlichkeitsdiskurse. Diese sind mit den in der politischen Realität nur schwer zu vereinbarenden Begriffen von Gleichheit, Gleichberechtigung und Einheit – nicht nur zwischen den damals noch vereinten „siamesische[n] Zwillinge[n]“, sondern auch zwischen den anderen ,Völkern und Völkerschaften‘ – eng verknüpft. Der Slogan „bratstvo i jedinstvo“, der nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Formelhaftigkeit erstarrt, welche wiederum ihr eigenes Konfliktpotential in sich birgt, ist das bekannteste Beispiel für die Brüderlichkeitsrhetorik, die jedoch bereits vorher weit verbreitet war. In diesem Aufsatz soll die Geschichte deshalb nicht vom Ende Jugoslawiens her gedacht werden, sondern umgekehrt aus der Perspektive einer historischen Begriffsentwicklung und Begriffsverschränkung von Bratstvo, dessen Etymologie sich von seinem scheinbaren deutschen Pendant „Brüderlichkeit“ stark unterscheidet2 und sich auch deshalb zur Aktualisierung 1 Jergovic´, Miljenko: ,Izmed¯u redova‘, 05. 12. 2010, [Zugriff: 13. 05. 2013]. 2 Das Wort „bratstvo“ entstand als Bezeichnung für eine Untereinheit eines Stammes. Skok, Petar : Etimologijski rjecˇnik hrvatskog ili srpskog jezika, Zagreb 1971 – 1974, Bd. 1, S. 200. In dieser Bedeutung wird für „bratstvo“ als Synonym auch ,Clan‘ genannt. Siehe Enciklopedija Jugoslavije. Drugo izdanje. Zagreb 1980. Bd. 2, S. 412; Enciklopedija leksikografskog zavoda. Zagreb 1955 – 1964. Bd. 1, S. 604. „Bratstvo“ wird in diesem Kontext teilweise mit „Bruderschaft“ ins Deutsche übersetzt, wobei es religiöse oder weltanschauliche Bruderschaften in Südosteuropa ebenfalls gab, diese jedoch wiederum nicht als „bratstvo“ bezeichnet wurden. Vgl. die Einträge ,Stamm, Stammesgesellschaft und Bruderschaften‘, in: Hösch, Edgar u. a. (Hg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Wien/Köln/Weimar 2004, S. 658 – 659 bzw. S. 131. Mit der Zeit näherte sich „bratstvo“ jedoch in seiner Bedeutung dem abstrakten

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verschiedener Konzepte eignet: Zum einen wird im Bratstvo-Diskurs auf die französische „fraternit¦“, welche wiederum christliche und kommunistische Ideologeme unter dem Vorzeichen von Willensgemeinschaft zusammenbringt, zum andern auf eine naturhafte Konstitution ,Herder’sch-Darwinistischer‘ Provenienz zurückgegriffen. Damit entwickeln und verhärten sich im 19. Jahrhundert zwei Konzepte von Bratstvo, welche trotz desselben metaphorischen Bildspenders in ihrer Verwendung kaum zusammengedacht werden, doch spätestens im titoistischen Jugoslawien konfligieren. Kurzum: Das begriffliche Sprengpotential der Bratstvo-Konzepte im Ersten und Zweiten Jugoslawien ergibt sich erstens aus der Konjunktion mit dem ebenso ambivalenten „jedinstvo“, das – wie noch zu zeigen sein wird – zwischen ,Einigkeit‘ und ,Einheit‘ oszilliert, und zweitens aus der Vereinigung der beiden skizzierten Metaphernfelder von Bratstvo. Bevor wir genauer auf die Begriffsentwicklung und Begriffskontextualisierung im jugoslawischen 20. Jahrhundert eingehen, gilt es zunächst, die beiden Traditionen zu skizzieren, um sie in den jeweiligen Diskursen genauer zu orten und ihre spezifische Gemengelage zu bestimmen. Es handelt sich um verschiedene Metaphorisierungsgrade von Bruderschaft, die in fast allen älteren Kulturen als heilig erachtet wird; ihre Verletzung gilt als besonders verwerflich. Dies bezeugt das alttestamentliche, altägyptische, altgriechische, altrömische mythische Motiv des Brudermords: Kain-Abel, Osiris-Set, Eteokles-Polynekes, Romulus-Remus. Die Übertragung des Bruderverhältnisses auf andere Bindungsformen ist von entsprechender Wirkungsmacht. Das erste Konzept von Bratstvo rekurriert auf die ethisch und religiös-mystisch begründete „Brüderlichkeit“, welche im Christentum alle Gläubigen als ,Kinder Gottes und Brüder Christi‘ (Tertullian) umfasst. Das zweite Konzept unterstreicht die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Sippe, zu einem Stamm oder – im abstraktesten Fall – zu einem Volk oder sogar zu einer noch größeren ethnisch gedachten Gemeinschaft

deutschen Begriff „Brüderlichkeit“ an, und wird heute durchgängig mit „Brüderlichkeit“ übersetzt. Bei dieser Übersetzung geht jedoch verloren, dass bei „bratstvo“ noch die Konnotation einer nicht oder nur sehr beschränkt metaphorisch gebrauchten brüderlichen Sozialform mitschwingt. Für den deutschen Begriff „Brüderlichkeit“ gilt dies hingegen nicht: Er entstand erst nach der französischen Revolution, sollte eine adäquate Übersetzung für „fraternit¦“ darstellen und unterscheidet sich klar vom stark institutionell und rechtlich geprägten Begriff der „Bruderschaft“: ,Brüderlichkeit, Bruderschaft, Brüderschaft, Verbrüderung, Bruderliebe‘, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 552 – 581, S. 567 f. Im Folgenden wird „bratstvo“ klein geschrieben. Ist jedoch die Rede von Bratstvo als Diskurs oder Konzept, wird der Begriff groß geschrieben, da es hier allgemeiner um das Bruderdenken geht.

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wie dem Südslawentum oder dem Slawentum.3 Zur Differenzierung wird dafür der Begriff der „Bruderschaft“ verwendet. Die religiös-christliche Metaphorik der „Brüderlichkeit“, der Willensgemeinschaft, findet sich wieder im rousseauistischen Konzept der „fraternit¦“, welche als Gegenpol zur individuellen Freiheit, zur „libert¦“, am besten mit „Verbrüderung“ übersetzt wird.4 Das prozessual gedachte Konzept geht somit explizit von einem solidarischen Verhältnis zum einen zwischen Individuen, zum anderen zwischen dem einzelnen Individuum und dem Gemeinwesen aus. Die sozialistische Internationale versteht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die begriffliche Weiterentwicklung des „Bruderbunds“ als letzte Bedingung zur Befreiung der Arbeiter von der Macht des Kapitals, wie das der aus der Pfalz stammende und in der Schweiz tätige Aktivist Johann Philipp Becker in der Zeitschrift Der Vorbote deutlich macht: Heran ihr deutschen und schweizerischen Arbeiter! Laßt uns in der internationalen Genossenschaft die Freimaurer der Tat werden, und in rüstiger Arbeit Vorbereitungen treffen, dem Baue des aller Geister erhebenden und aller Herzen erquickenden Völkertempels zur Besiegelung des ewigen Bruderbundes granitfesten Schlußstein einzufügen, um endlich auf seiner Kuppelspitze das Erlösungszeichen der ganzen Menschheit aufzupflanzen.5

Dass ,Volk‘ in diesem Kontext nicht ,völkisch‘, sondern als Klassenmerkmal verstanden wird, unterstreicht auch der Befund, dass sich die internationale „Verbrüderung“ der Arbeiterklasse gegen jegliche Staatenbildung und somit gegen jegliche ethnisch-etatistische Konturierung wendet.6 Die internationale Solidarität steht somit in der Tradition der ersten Kommunisten. Man findet sie bereits 1840 im Prozessbericht über Marius DarmÀs, den Attentäter gegen LouisPhilippe I. Darin wird die Aufnahmeerklärung der „Travailleurs Êgalitaires“ zitiert, welche die Ihresgleichen, die „R¦publicains communistes“, als „nos frÀres“ bezeichnen.7 „Fraternit¦“ wird unter den Kommunisten und Sozialisten somit von Anfang an in jeglicher Hinsicht groß geschrieben.8 3 Unter dem Stichwort ,Bruder‘ in: Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden. Bd. 4, Mannheim 1987, S. 43. 4 Stahl, Friedrich J.: Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht. Bd. 1. Heidelberg 1847, S. 310. 5 Becker, Johann P.: ,Was wir wollen und sollen‘, in: DER VORBOTE. POLITISCHE UND SOZIAL-ÖKONOMISCHE ZEITSCHRIFT 1866/1, S. 9. Zitiert nach „Internationale“, in: Brunner / Conze / Koselleck 2004, Bd. 5, S. 382. 6 Ebd. 7 De L’Ain, Girod / Gaspard, Am¦d¦e L.: Cours des Pairs. Attentat du 15 octobre 1840. Rapport fait — la Cour par M. le Baron Girod de l’Ain, Paris 1841, S. 71. Zitiert nach ,Kommunismus‘, in: Brunner / Conze / Koselleck 2004, Bd. 5, S. 471. Wie der politisch engagierte Kunsthistoriker Th¦ophile Thor¦ schreibt, basiere der Kommunismus auf „le sentiment de l’Êgalit¦ et de la solidarit¦ humaine, le sentiment de la Fraternit¦, le sentiment d’une r¦partition selon la

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Die zweite, in den beiden Jugoslawien sicherlich ebenso virulente Bedeutung von Bratstvo, aktivieren insbesondere Nationaldichter wie Njegosˇ, dessen Gorski Vijenac (Bergkranz) aus dem Jahre 1847 die Solidarität zwischen den einzelnen montenegrinischen Stämmen mit der Bruder-Anrede unterstreicht. Die romantische Formel beschwört die Blutsverwandtschaft, welche im Familienclan (ebenfalls „bratstvo“) ihr Grundkonzept findet. Auch wenn das Verhältnis zwischen Stamm (pleme) und Familienclan nicht immer genau definiert werden kann, so bezieht sich „pleme“ hauptsächlich auf die Region, „bratstvo“ auf einen Verwandtschaftskreis, innerhalb dessen meist ein gegenseitiges Heiratsverbot herrscht und somit lediglich exogame Vermählungen erlaubt sind.9 So sehr in den Augen serbischer bzw. montenegrinischer Ahnenforscher diese Sozialform einmalig zu sein scheint,10 so sehr deutet ihre Entstehung im 14. Jahrhundert auf ein allgemeineres Phänomen einer parainstitutionellen sozialen Organisationsform in der Peripherie des Osmanischen Reichs. So entspricht der albanische Begriff „vÚllazuija“ ziemlich genau dem südslawischen „bratstvo“.11 Genau genommen kann somit bei diesem zweiten Konzept nur von einer unvollständigen Metapher gesprochen werden, da sich sowohl die örtliche als auch die verwandtschaftliche Zuschreibung – noch unabhängig von einer ethnisch übergeordneten Einheit, wie sie im Laufe der Nationalisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert auf dem Balkan aktiviert wurde – darin essentialisiert. Nun könnte man vermuten, dass im Zwischenkriegsjugoslawien vor allem das zweite Konzept von Bratstvo im Sinne der „Bruderschaft“ aktiviert wurde, während im Jugoslawien nach 1945 die sozialistisch-kommunistische Idee von „Brüderlichkeit“ prägend war. Wie zu zeigen sein wird, scheint es sich jedoch

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justice, le sentiment des droits et des devoirs“. Thor¦, Th¦ophile: La v¦rit¦ sur le parti d¦mocratique. Paris/Bruxelles 1840, S. 27. Zitiert nach Brunner / Conze / Koselleck 2004, Bd. 5, S. 473. Marx und Engels wendeten sich bald gegen den Begriff und versuchten ihn – jedoch ohne großen Erfolg – aus dem Wortschatz der Arbeiterbewegung zu verdrängen und durch den der Solidarität zu ersetzen: „Mit der fortschreitenden Formulierung ihrer politischen Theorie des Klassenkampfes, ist der Begriff der Brüderlichkeit für Marx und Engels jedoch in zunehmendem Maße unbequem geworden. Schon im Herbst 1846 mokierte sich Engels über das Gestöhn der Brüderlichkeit. Nach ihrem Eintritt in den „Bund der Gerechten“ und dessen Umformung in den „Bund der Kommunisten“ ersetzten sie 1847 dessen alte Parole Alle Menschen werden Brüder durch das klassenkämpferische Proletarier aller Länder vereinigt euch! Diese Änderung entsprang zweifellos der Befürchtung, daß das Ziel allgemeiner Menschenverbrüderung von dem Programm proletarischer Klassensolidarität ablenken könnte.“ ,Brüderlichkeit, Bruderschaft, Brüderschaft, Verbrüderung, Bruderliebe‘, in: Brunner / Conze / Koselleck 2004, Bd. 1, S. 552 – 581, S. 577. Boehm, Christopher : Montenegrin Social Organization and Values. New York 1983, S. 43 f. Exemplarisch dazu die Seite der Montenegrin Ethnic Association of Australia, verfügbar unter: [Zugriff: 13. 05. 2013]. Curtis, Matthew C.: Petar II Petrovic´ Njegosˇ and Gjerji Fishta. Composers of National Epics. Pittsburgh 2007, S. 1.

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eher um eine komplexe Pendelbewegung zwischen den Konzepten zu handeln. Im Folgenden wird zu fragen sein, in welchen Kontexten und in welcher Form Bratstvo in der Staatsdoktrin als dominanter politischer Diskurs und als Ideologisierungsprogramm des Ersten und Zweiten Jugoslawiens auftaucht und wie und wo diese Doktrin symbolisch ihren Ausdruck findet. Entsprechend folgen die Ausführungen der historischen Sukzession: Während im ersten Teil die Bratstvo-Rhetorik im Ersten Jugoslawien und kurz vor der Gründung des Staates behandelt wird, soll der Fokus im zweiten Teil auf die Begriffsverwendung und -entwicklung im Jugoslawien Titos gelegt werden. Hier muss besonders die Entstehungsgeschichte des Syntagmas „bratstvo i jedinstvo“ vor und während dem Zweiten Weltkrieg mitreflektiert werden. Aufgrund der Fülle des Quellenmaterials, welches die verbreitete Bratstvo-Rhetorik im Ersten und Zweiten Jugoslawien hinterließ, kann es nicht das Ziel dieses Aufsatzes sein, unverrückbare Resultate zu präsentieren. Vielmehr sollen erste Thesen und Überlegungen formuliert werden, die im besten Fall zu weiterführenden Forschungen anregen.

„Bratstvo“ im Ersten Jugoslawien Obwohl im Ersten Jugoslawien, dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (Königreich SHS) und ab 1929 dem Königreich Jugoslawien, das Syntagma „bratstvo i jedinstvo“ nicht gebräuchlich war, bestimmt die Rhetorik von der „Brüderlichkeit“ bereits die Zwischenkriegszeit und zwar oft im Zusammenhang mit dem Begriff der ,Einheit‘. Die Dokumente über die Entstehung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen 1914 – 191912 bezeugen die verbreitete Rhetorik von den slawischen und insbesondere den südslawischen Brüdern rund um die Gründung des ersten jugoslawischen Staates am 1. Dezember 1918: Vom „brüderlichen Russland“, dem „brüderlichen Montenegro“, den „jugoslawischen Brüdern“ oder den „Brüdern Serben, Kroaten und Slowenen“ ist immer wieder die Rede. Bemerkenswert ist die Häufigkeit der Verwendung, die es zu kontextualisieren gilt. Im Vorfeld der Staatsgründung wurde von den Verfechtern eines gemeinsamen jugoslawischen Staates die Einheit der Serben, Kroaten und Slowenen gebetsmühlenartig beschworen. Das „Jugoslawische Komitee“ (Jugoslovenski odbor), der sich aus bedeutenden südslawischen Emigranten aus ÖsterreichUngarn zusammensetzte und vorwiegend in London und Paris für die Vereinigung der Südslawen kämpfte, klärte 1915 die englische Regierung auf, „die 12 Sˇisˇic´, Ferdo (Hg.): Dokumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca, 1914 – 1919. Zagreb 1920.

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jugoslawischen Völker, welche die Geschichte unter dem Namen der Serben, Kroaten und Slowenen kennt“, seien „ein und dasselbe Volk.“13 Die Beschwörung der Einheitsformel sollte das „Prinzip der nationalen Selbstbestimmung, das um 1918 in diplomatischen Zirkeln en vogue war“, legitimeren.14 Dabei diente die Familien- und Brudermetaphorik dazu, das Gemeinsame zwischen Serben, Kroaten und Slowenen zu unterstreichen. Ein weiteres Motiv war der Aufruf zum gemeinsamen Widerstand. So verkündete die Adriatische Legion (Jadranska Legija) pathetisch: „Der Slowene, Kroate, Serbe sind der einen Mutter Söhne, die Träne desselben Auges, das Blut der gleichen offenen Wunde.“15 Die biologizistische Formel der gemeinsamen Mutter ist für die Kampfrhetorik nicht nur im Ersten Weltkrieg, sondern auch als Antizipation zukünftiger Trennungen – wie im Zweiten Weltkrieg – entscheidend. Gemeinsames wurde stärker betont als Trennendes. Der gebürtige Slowene und Bischof von Krk, Antun Mahnic´ (slow. Anton Mahnicˇ), der sich für die Maideklaration16 aussprach, bemerkte: „Die Serben sind keine Katholiken, aber sie sind nichtsdestoweniger Christen; […] die Serben sind durch ihr Blut und ihre Sprache unsere Brüder.“17 In der anfänglichen Begeisterung für einen gemeinsamen Staat der Südslawen, wie sie in Dalmatien besonders stark verbreitet war, bediente man sich ebenfalls gerne der Bruderformel. So begrüßte der Spliter Politiker und Anwalt Josip Smodlaka die serbische Armee am 20. November 1918 mit folgenden Worten: Willkommen unsere ruhmbedeckten Brüder, unsere Rächer und jetzt auch Wächter unseres blauen Meeres! […] Heldenhafte Söhne des heldenhaften Landes, die ihr nach sechs schweren Kriegsjahren an unsere für euch geschmückte Küste kommt […]. Ihr schafft ein neues und mächtigeres Reich, Jugoslawien, unseren gemeinsamen Staat und unsere Mutter.18

13 Ebd., S. 27. 14 Ramet, Sabrina P.: Die drei Jugoslawien. Eine Geschichte der Staatsbildungen und ihrer Probleme. München 2011, S. 65. 15 Sˇisˇic´ 1920, S. 16. 16 Im Mai 1917 setzten sich Abgeordnete des Südslavischen Klubs (Jugoslovenski klub) für die Gründung eines Staates der Slowenen, Kroaten und Serben innerhalb der Donaumonarchie ein. Siehe Ramet 2011, S. 72 – 73. 17 Zit. nach Ramet 2011, S. 74. Obwohl hier als Beispiel für die Betonung des Gemeinsamen verwendet, zeigt gerade ein weiteres von Sabrina Ramet angeführtes Zitat, dass in anderen Kontexten das Gemeinsame schnell zur Ausgrenzung des Anderen herangezogen werden kann. Der Führer der bosnischen Kroaten, Mate Boban, meinte in den 1990er Jahren: „Die Serben sind unsere Brüder in Christo, doch die Muslime sind für uns nichts, ganz davon abgesehen, dass sie über hunderte von Jahren unsere Mütter und Schwestern vergewaltigt haben.“ Ebd., S. 59. 18 Zit. nach Jakir, Aleksandar : Dalmatien zwischen den Weltkriegen. Agrarische und urbane Lebenswelt und das Scheitern der jugoslawischen Idee. München 1999, S. 91.

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In welcher intrikaten Weise das ,familiäre‘ Possessivpronomen „unser“ zwei verschiedene Zugehörigkeiten implizieren kann, belegt diese Textstelle eindrücklich: Während „unsere Mutter“ inkludierend für Serben wie für Dalmatiner zu verstehen ist, exkludiert „unser blaues Meer“ die Anderen.19 Doch gerade die Rolle des Königreichs Serbien als Befreier musste bei vielen auch Ängste vor einer serbischen Hegemonie wecken. Darum verkündete die serbische Regierung bereits am 24. November 1914, der Krieg sei „seit seinem Beginn auch ein Kampf für die Befreiung und die Vereinigung aller unser unfreien Brüder Serben, Kroaten und Slowenen“20 und sah im Königreich Serbien das „Piemont der Südslawen“. Dabei setzte man auf eine Rhetorik, die das Jugoslawentum und nicht das Serbentum betonte.21 Die Deklaration von Korfu, die vom Jugoslawischen Komitee und von der serbischen Regierung am 20. Juli 1917 verabschiedet wurde, ließ die heikle Frage nach dem Aufbau des Staates außen vor.22 Man betonte hingegen, dass Serben, Kroaten und Slowenen „ein und dasselbe dreinamige Volk“ seien und dies „dem Blute, der gesprochenen und geschriebenen Sprache, den Gefühlen der Einheit nach“.23 Das „bizarre Syntagma vom dreinamigen Volk der Serben, Kroaten und Slowenen“, das auf dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Syntagma vom „zweinamigen Volk der Serben und Kroaten“ aufbaute, spielte nach Srec´ko M. Dzˇaja „im jugoslawischen Vereinigungsprozess eine Schibbol-

19 Die Tatsache, dass die Zuordnung „nasˇ jezik“ („unsere Sprache“) anstatt „serbisch“, „kroatisch“, „bosnisch“ etc. auch im Zeichen politischer Korrektheit nach den postjugoslawischen Kriegen im ganzen südslawischen Raum verwendet wird, bildet bei Slavenka Drakulic´ den Ausgangspunkt zu ihren Überlegungen, warum sie noch immer nicht nach Belgrad gehen könne: Die Formel des Gemeinsamen könne ebenso die Aufarbeitung der begangenen Kriegsverbrechen verhindern. Vgl. dazu Drakulic´, Slavenka: ,Why I Haven’t Returned to Belgrade. The Balkan wars of the 1990s may be of the past, but their legacy still haunts the region‘, in: IP JOURNAL 01. 10. 2008, verfügbar unter : [Zugriff: 11. 04. 2013]. 20 Sˇisˇic´ 1920, S. 10. 21 Dzˇaja, Srec´ko M.: Die politische Realität des Jugoslawismus (1918 – 1991) mit besonderer Berücksichtigung Bosnien-Herzegowinas. München 2002, S. 10, sowie Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 77. 22 Ramet 2011, S. 75. Bereits im Vorfeld der Gründung stand die Frage im Raum, ob der Staat zentralistisch oder föderalistisch aufgebaut sein sollte. Die kroatische und slowenische Seite forderte im Gegensatz zum Großteil der serbischen politischen Elite, die sich durchsetzte, ein föderalistisches System. Nach der Staatsgründung wurde die Frage Zentralismus oder Föderalismus dann zu einem lang anhaltenden Streitpunkt, der die Politik im ersten Jugoslawien maßgeblich prägte und zu gravierenden nationalen Spannungen führte. Zu den unterschiedlichen Positionen vor der Verabschiedung der Vidovdan-Verfassung siehe Ferhadbegovic´, Sabrina: Prekäre Integration. Serbisches Staatsmodell und regionale Selbstverwaltung in Sarajevo und Zagreb 1918 – 1929. München 2008, S. 68 – 105. 23 Sˇisˇic´ 1920, S. 96 – 97.

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ethrolle“.24 Obwohl „Politiker, Diplomaten und Wissenschaftler begannen, die jugoslawische Nation akademisch zu konstruieren“,25 ließ sich diese Vorstellung in der Zwischenkriegszeit nicht in der Bevölkerung verankern. Die große Mehrheit der Eliten glaubte, dass es sich bei Serben, Kroaten und Slowenen um drei Stämme eines Volkes handelte.26 Es gab jedoch auch Stimmen wie die des Führers der kroatischen Bauernpartei, Stjepan Radic´, der von drei verschiedenen Völkern ausging. Der zukünftige Staat sollte laut der Deklaration von Korfu eine „konstitutionelle, demokratische und parlamentarische Monarchie mit der Dynastie Karad¯ord¯evic´ an der Spitze“ sein.27 Besonders betont wurden die gleichen Rechte für alle drei „Stämme“, „die Gleichberechtigung aller drei Volksnamen für eine Nation der Serben, Kroaten und Slowenen, die Gleichberechtigung der serbischen, slowenischen und kroatischen Flaggen und Wappen, der beiden Alphabete, der Religionsgemeinschaften und die Gleichstellung aller Staatbürger vor dem Gesetz.“28 So wird bereits im ersten Jugoslawien deutlich, wie sehr die beiden Konzepte von Bratstvo in Form von „Brüderlichkeit“ und „Bruderschaft“ verschmelzen: Während die Frage nach der definitorischen Einheit von „Stamm“ und – graduell weniger – von ,Volk‘ auf das natürlich gewachsene verwandtschaftliche Verhältnis und somit auf die „Bruderschaft“ rekurriert, klingt in der Forderung nach völkischer Gleichberechtigung das Ideal von „fraternit¦“ nach, die aber hier vom Individuellen auf das Abstraktum der Nation übertragen wird. Im Zusammenhang mit der Rede von den drei gleichberechtigten Stämmen einer Nation wurde immer wieder auf das Bruderdenken zurückgegriffen. Die offizielle Ideologie entsprach jedoch keineswegs der Realität des neuen Staates mit seinen zwölf Millionen Einwohnern und seiner vielfältigen ethnischen Zusammensetzung.29 Und selbst zwischen Kroaten, Serben und Slowenen herrschte 24 Dzˇaja 2002, S. 10. Das Syntagma lässt sich auch in Verbindung mit dem Christentum lesen: „Die integrative Formel vom ,dreinamigen Volk‘ beschrieb die Beziehung zwischen Slowenen, Kroaten und Serben als trinitarisch, analog zur biblischen Dreifaltigkeit, und dies sollte gefälligst auch den ungebildeten Schichten einleuchten.“ Calic 2010, S. 87. 25 Ebd., S. 78. 26 Ebd., S. 87. 27 Sˇisˇic´ 1920, S. 98. 28 Ferhadbegovic´ 2008, S. 63. Ausführlich zur Deklaration von Korfu siehe ebd., S. 62 – 64. Dass hier von den „Volksnamen“ gesprochen wird, zeigt, dass die Rhetorik von den drei Stämmen nicht konsequent durchgezogen wurde. Im Original ist die Rede von „sva tri narodna imena“ („Alle drei Volksnamen“). Sˇisˇic´ 1920, S. 98. 29 Zur ethnischen Zusammensetzung siehe Ramet 2011, S. 78. Das neue Regime stieß u. a. wegen seiner Nationalitätenpolitik auf erheblichen Widerstand. Insbesondere in Makedonien, Montenegro und im Kosovo führte dies auch zu schweren gewaltsamen Konflikten (siehe Ramet 2011, S. 80 – 83). Zur Politik des Regimes gegenüber dem Kosovo, die durch den Versuch geprägt war, „die ethnischen Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Serben [zu] verändern“ (Schmitt, Oliver J.: Kosovo. Kurze Geschichte einer zentralbalkanischen Land-

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kein Konsens über die Ausgestaltung des Staates. Wie heikel die Umsetzung der Gleichberechtigung war, zeigt das Beispiel des ersten Entwurfes eines Staatswappens, das sowohl das serbische, slowenische und kroatische Wappen beinhalten sollte: Der Entwurf missachtete heraldische Prinzipien und ließ, durch die Anordnung der Rechtecke, im kroatischen Wappen das weiße Kreuz, das Merkmal des serbischen Wappens, erahnen. Der Fehler wurde nach lautem Widerspruch aus Kroatien behoben, doch in der kroatischen Wahrnehmung blieb der Vorgang als eine bewusste Erniedrigung des eigenen Landesteils haften.30

Im Staatsaufbau setzte sich das von den serbischen Politikern bevorzugte zentralistische Modell durch, das sich stark von der öffentlichen Rhetorik eines additiven Zusammenhalts der verschiedenen Stämme unterschied. Die Zentralisten forderten die Bildung einer neuen jugoslawischen Nation, wobei die Unterschiede zwischen den Stämmen auf die Fremdherrschaft zurückgeführt wurden: „[D]er neue, jugoslawische Mensch, aus verschiedenfarbigem Ton geschaffen, hatte nun, fleißig durchgeknetet, in einer Farbe zu erscheinen.“31 schaft. Köln/Weimar/Wien 2008, S. 189), siehe ebd., S. 189 – 211. Die bosnischen Muslime sahen hingegen im Jugoslawismus auch eine Möglichkeit, den Nationalisierungsversuchen von kroatischer und serbischer Seite zu entgehen: „Die JMO [Jugoslawische Muslimische Organisation, Anm. der Verfasser] predigte das Jugoslawentum nicht als nationale Orientierung, sondern aus rein pragmatischer Politik, die eine Entzweiung muslimischer Massen in ein serbisches und ein kroatisches Lager verhindern sollte. Die jugoslawische Ideologie bot sich an, um die Wähler der JMO vor dem Einfluss serbischer bzw. kroatischer Nationalideologie zu schützen.“ Ferhadbegovic´ 2008, S. 99. 30 Ebd., S. 137. „Wie der Nationsname, so fiel auch das Staatswappen additiv – nicht integrativ – aus. Es kombinierte das serbische Wappen mit dem (byzantinischen) zweiköpfigen weißen Adler und dem roten Schild mit den vier kyrillischen ,S‘ – Samo sloga Srbina spasava (Nur Einigkeit rettet den Serben) –, mit den Symbolen der anderen beiden ,Stämme‘, Kroaten und Slowenen, ergänzt um einen weißen Halbmond für Bosnien-Herzegowina.“ Sundhaussen, Holm: Geschichte Serbiens. 19.–21. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2007, S. 257 f. Gegen Sundhaussens Ausführungen ist Folgendes einzuwenden: Erstens handelt es sich beim weißen Halbmond nicht um ein Symbol für Bosnien-Herzegowina, sondern für das alte Illyrien bzw. Slowenien. Vgl. dazu Sˇisˇic´ 1920, S. 292, sowie Ferhadbegovic´ 2008, S. 137. Zweitens ist die Bedeutung der vier kyrillischen „S“ nicht eindeutig geklärt. Ein Artikel über die Forschung von Vaso Vojvodic´ erwähnt, dass der Slogan von dem Dichter Jovan Dragasˇevic´ (1836 – 1915) erfunden wurde, indem er sich von den vier „S“ inspirieren ließ. Bald wurde er zu einem Volkssprichwort, worüber sich Dragasˇevic´ beschwerte, da er ja diese Zeile erfunden habe. Vgl.: [Zugriff: 22. 05. 2013]. Siehe auch: Vojvodic´, Vaso S.: ,,Samo Sloga Srbina Spasava‘ – When and How the Expression Originated‘, from Danica – srpski narodni ilustrovani kalendar za godinu 2000, Beograd 1999, in: SERB WORLD U.S.A. 2007/23 – 3. Vieles deutet also darauf hin, dass die vier „S“ eigentlich etwas anderes bedeutet haben, der Slogan dann erst im ausgehenden 19. Jahrhundert dazu „gedichtet“ wurde. 31 Ferhadbegovic´ 2008, S. 69.

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Durch eine Aufteilung des Staates in 33 Distrikte (oblasti) strebte man nach einer Vereinheitlichung, die historisch gewachsene Räume bewusst unberücksichtigt ließ und deshalb von kroatischer Seite als „Zerstückelung Kroatiens“ und „Vernichtung seiner Identität“ wahrgenommen wurde.32 Um einen einheitlichen Nationalstaat zu suggerieren, wurden Volkszählungen nicht nach der Stammeszugehörigkeit, sondern nach der Muttersprache vorgenommen: „Dies hatte zur Folge, dass die unterschiedliche Identität der Serben, Kroaten, Makedonier, Montenegriner und der Bosnischen Muslime im Serbokroatismus unterging.“33 Auch im Schulsystem strebte man nach der Durchsetzung der unitaristischen Doktrin. Unterschiedliche Traditionen und historische Entwicklungen der einzelnen Landesteile,34 Misstrauen zwischen den politischen Gruppen und weitere Gründe erschwerten jedoch die Einführung eines einheitlichen Schulwesens, die erst 1929 nachgeholt werden konnte.35 In Schulbüchern verglich man die dreinamige Nation als „numerous families of the same name“36, wobei in der Geschichte besonders die angeblichen Parallelen betont wurden:

32 Ebd., S. 115. „In scharfem Kontrast zum additiven Charakter des Staatsnamens, des Staatswappens und der Staatshymne stand die innere Gestaltung des Staates. Nach dem Motto ,Eine Nation – ein Staat‘ wurde der nationale Unitarismus mit einer zentralistischen Verwaltungsgliederung nach französischem Vorbild verknüpft. Der Staat soll nicht entsprechend den historischen Landesteilen, sondern nach geographischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten in Gebiete (oblasti) – entsprechend etwa den französischen Departements – eingeteilt werden.“ Sundhaussen 2007, S. 258. Das Neue an dieser Aufteilung sollte auch der Begriff „oblast“, für den Ferhadbegovic´ im Gegensatz zu Sundhaussen die Übersetzung „Distrikt“ wählt, symbolisieren: „Für den serbokroatischen Begriff ,oblast‘ wurde in der Übersetzung bewusst die Bezeichnung ,der Distrikt‘ gewählt, um auch im Deutschen der Logik der SHS-Gesetzgeber zu folgen und ebenso wie im Serbokroatischen mit einer neuen Bezeichnung sprachlich die Besonderheit der neuen Verwaltungsgliederung zu betonen.“ Ferhadbegovic´ 2008, S. 13, Anm. 8. Wie viel Wert auf die Begriffswahl gelegt wurde, zeigt auch die Wahl der Bezeichnung „veliki zˇupan“ (Obergespan) für den Vorsteher der Distrikte. Hiermit bemühte man sich, begrifflich sowohl an eine serbische wie auch an eine kroatische Tradition anzuknüpfen. Ebd., S. 107. 33 Dzˇaja 2002, S. 21. 34 Überblicke zu unterschiedlichen Traditionen im Schulsystem und in der Selbstverwaltung bieten Mayer, Martin: Elementarbildung in Jugoslawien (1918 – 1941). Ein Beitrag zur gesellschaftlichen Modernisierung. München 1995, S. 39 – 55 bzw. Ferhadbegovic´ 2008, S. 27 – 59. 35 Jelavich, Charles: ,Education, Textbooks and South Slav Nationalisms in the Interwar Era‘, in: Sundhaussen, Holm / Reiter, Norbert (Hg.): Allgemeinbildung als Modernisierungsfaktor. Zur Geschichte der Elementarbildung in Südosteuropa von der Aufklärung bis zum Zweiten Weltkrieg. Berlin 1994. S. 127 – 139, hier S. 129 f. 36 Dimic´, Ljubodrag / Alimpic´, Danko: ,Stereotypes in History Textbooks in the Kingdom of Yugoslavia‘, in: Höpken, Wolfgang (Hg.): Öl ins Feuer? Schulbücher, ethnische Stereotypen und Gewalt in Südosteuropa. Hannover 1996. S. 89 – 98, hier S. 91.

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The stories about the common historical fate were full of parallels and symmetries. Thus the pupils learned that the Serbs and Croats created their states ,at the same time‘, that the Croats died in the Battle of Krbava ,just the same‘ as did the Serbs in battles of Marica and Kosovo, that discord ruled over the Croats ,just the same‘ as it ruled over the Serbs, that the Serbs and Croats suffered ,just the same‘ under the aliens, that they longed for freedom ,in the same way‘, grieved ,in the same way‘, were happy ,in the same way‘, were worried ,in the same way‘, and so on.37

Als Aufruf zur Einheit und Reaktion auf die anhaltenden politischen Konflikte im Zwischenkriegsjugoslawien lassen sich zahlreiche Geschichten in den sogenannten Lesebüchern (cˇitanke) interpretieren. Das Konzept von Bratstvo im Sinne von „Bruderschaft“ tritt bei einigen dieser Lehrstücke deutlich hervor, wobei die kurze Erzählung „Bratstvo“ im Lesebuch für die vierte Klasse der Grundschule von 1934 exemplarischen Charakter für mehrere Geschichten hat.38 Sie handelt von der Zeit, in der sich die Hausgemeinschaften (zadruge) langsam zu trennen begannen: „Es kam die Zeit, als die Brüder einander nicht mehr anhören wollten, sondern schrien: ,Wir trennen uns‘.“39 Dies schmerzt den Geistlichen im Dorf, der bei jeder Gelegenheit darauf hinweist, wie gut doch das Leben in der Hausgemeinschaft eigentlich sei. Die „guten Leute“ lassen sich schlussendlich von seinen Worten überzeugen: „Weise spricht der Geistliche, wir aber wollen jeder in einem eigenen Topf kochen, beim eigenen Feuer, aber in Hausgemeinschaften könnten uns eine Tenne und eine Feuerstätte nähren. Möge Gott unter uns Brüderlichkeit und Eintracht [bratstvo i sloga] zurückkehren lassen.“40 Die Bratstvo-Rhetorik stand vor allem im Zusammenhang mit Gleichheit und Einheit, wie die Aussage von Ljubomir Protic´, einem einflussreichen serbischen Pädagogen, in Bezug auf die Grundschule exemplarisch unterstreicht: 37 Ebd., S. 92. ˇ itanka za IV razred osnovnih ˇskola u Kraljevini Jugo38 Trstenjak, Davorin: ,Bratstvo‘, in: C slaviji. Zagreb 1934, S. 20 – 21, hier S. 20 f. 39 Ebd., S. 20. ˇ itanka za III razred osnovnih 40 Ebd., S. 21. In einem anderen Lesebuch für die dritte Klasse (C sˇkola u Kraljevini Jugoslaviji. Zagreb 1934) findet sich zudem die als Volkserzählung deklarierte Geschichte „Dva brata“ („Zwei Brüder“, S. 12 – 14), die von zwei Brüdern handelt, die zusammen in einer Hausgemeinschaft leben. Alles ist zunächst in bester Ordnung, sie leben „in Eintracht und Liebe“ („u slozi i ljubavi“, S. 13). Der jüngere Bruder schlägt jedoch vor, die Hausgemeinschaft aufzulösen, man wisse ja nicht, ob die Kinder auch so gut miteinander auskommen werden wie sie, und er wolle sich im Guten trennen. Bei der Teilung des Weizens will kein Bruder den anderen benachteiligen, so dass jeder dem anderen immer mehr Weizen als sich selber zuzusprechen gedenkt. Als sie dies bemerken, kommen sie zum Schluss, dass sie sich doch nicht trennen wollen: „Solange wir so in Eintracht leben, werden wir glücklich sein und diese Eintracht werden wir unseren Kindern ins Herz einimpfen, so werden auch sie in Eintracht leben und brüderlich sich lieben.“ (S. 14) Zu weiteren, sehr ähnlichen Beispielen, in denen die Brudermetapher verwendet wird, siehe Jelavich 1994, S. 135 sowie S. 137 f.

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Zuerst gilt es festzuhalten, dass wir alle, Serben, Kroaten und Slowenen, Brüder sind, dass wir einer Volksgemeinschaft angehören […] Wir sind alle gleich, wir wollen alle gleich sein, wir müssen alle gleich sein, denn in der Einheit liegt die Rettung, […] der Fortschritt des Landes und des Volkes.41

Die Verknüpfung von Bratstvo, Gleichheit und Einheit ist in verschiedener Hinsicht problematisch. Bratstvo betont zwar die Verbindung und die Ähnlichkeiten zwischen den Völkern; das Konzept impliziert aber auch Unterschiede und schließt eine völlige Gleichheit aus. Denkt man folglich Einheit als Gleichheit der einzelnen Elemente, erscheint das Syntagma „Brüderlichkeit und Einheit“ als Oxymoron.42 Gerade die Vereinheitlichung in sprachlicher und kultureller Hinsicht ließ die Differenzen stärker hervortreten und zielte größtenteils auf eine Serbisierung ab.43 Das Gefühl der Einheit konnte dadurch kaum gestärkt werden. Ein verbindendes, einheitsstiftendes Element sollte auch König Aleksandar darstellen. Indem er seine Söhne auf den Namen je eines serbischen, kroatischen und slowenischen mittelalterlichen Herrschers (Petar, Tomislav, Andrej) taufen ließ,44 deklinierte er nicht nur das ,additive Ideologem‘ der dreinamigen Nation der drei Bruderstämme, sondern auch seine Stellung als Vater der Gesamtnation aus. Sich selbst sah er hingegen in der Nachfolge des serbischen mittelalterlichen Königs Stefan Dusˇan und pflegte den Kosovo-Mythos.45 Auch sein Machtstreben, das mit einer serbischen Hegemonialisierung Hand in Hand ging, trug nicht dazu bei, dass er „als unabhängige, über dem parteipolitischen Geschehen und Streit stehende Persönlichkeit das Gemeinsame, das Einheitliche im jugo-

41 Zit. nach Mayer 1995, S. 60. 42 Emilija Mancˇic´ verweist in Anlehnung auf Andrew Baruch Wachtel auf diese Problematik. Mancˇic´, Emilija: Umbruch und Identitätszerfall. Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext. Tübingen 2012, S. 99. Verbreiteter scheint jedoch das Verständnis von Einheit als eine Verbindung ähnlicher, aber nicht identischer Elemente zu einem Ganzen. Siehe auch die Definitionen von ,jedinstvo‘ in: Anic´, Vladimir: Veliki rjecˇnik hrvatskog jezika. Zagreb 2003. S. 369; Enciklopedija leksikografskog zavoda. Zagreb 1955 – 1964. Bd. 3. S. 655. 43 Zu welchen Problemen eine erzwungene Serbisierung führen konnte, zeigte sich beispielsweise in Makedonien, das in der Zwischenkriegszeit als ein Teil „Südserbiens“ galt und dessen Bewohner zu Serben erklärt wurden: Die makedonischen Lehrer und Lehrerinnen, die in der serbischen Sprache unterrichten sollten, verfügten selbst meistens nicht über ausreichende Kenntnisse des Serbischen und wurden von den Schülern und Schülerinnen oft auch nicht verstanden, wenn sie auf Serbisch unterrichteten. Siehe Bosˇkovska, Nada: Das jugoslawische Makedonien 1918 – 1941. Eine Randregion zwischen Repression und Integration. Wien/Köln/Weimar 2009, S. 269 – 271. 44 Calic 2010, S. 87. 45 Wörsdörfer, Rolf: ,„Kolosse aus Bronze und Stein“ – Geschichtsbilder des ersten und zweiten Jugoslawien‘, in: Richter, Angela / Beyer, Barbara (Hg.): Geschichte (ge-)brauchen. Literatur und Geschichtskultur im Staatssozialismus: Jugoslavien und Bulgarien. Berlin 2006. S. 61 – 76, hier S. 62 f.

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slawischen Staat verkörpern“ konnte.46 Dennoch zeigte die Ermordung des Königs 1934, dass dieser beispielsweise bei den Kroaten, wo sein Tod tiefe Trauer auslöste und zu erneuten Loyalitätsbekundungen für den jugoslawischen Staat führte, „als einziger unter den serbischen Politikern einen gewissen Nimbus“ besaß.47 Die Einführung der Königsdiktatur am 6. Januar 1929, am Tag der orthodoxen Weihnachten, verwies – wie bereits die Vidovdan-Verfassung vom 28. Juni 1921 – durch ihr nicht zufällig gewähltes Datum explizit auf die serbische Tradition. Mit der Diktatur wurde ein noch unitaristischerer Kurs eingeschlagen und Stammes- bzw. Nationalflaggen und farben, Vereine und Parteien „mit religiösem oder stammlichem [nationalem] Charakter“ verboten.48 Die Umbenennung des Staates in Königreich Jugoslawien erfolgte noch im gleichen Jahr und auch die Verwaltungseinheiten wurden neu bestimmt. Die neun, meist nach Flüssen benannten Banschaften richteten sich nicht nach den historischen Landschaften – Bosnien und Herzegowina allein war beispielsweise auf vier Banschaften aufgeteilt – und sollten dem ,Stammesbewusstsein‘ der Menschen entgegenwirken. Nach dem Attentat auf König Aleksandar 1934 und dem Antritt Milan Stojadinovic´s zum Ministerpräsidenten erfolgte eine Lockerung in der Nationalitätenpolitik. Man sprach sich wiederum für die „Gleichberechtigung von Stämmen und Religionen“ aus; dennoch setzte sich in dieser Zeit endgültig die Meinung durch, es handle sich eben doch um drei Völker und nicht um drei Stämme.49 Auch der sogenannte Sporazum (Abkommen) zwischen dem neuen Ministerpräsidenten Dragisˇa Cvetkovic´ und dem Führer der Kroatischen Bauernpartei, Vladko Macˇek, der zu einer kroatischen Banschaft führte, schaffte keine Aussöhnung zwischen den einzelnen Nationen, sondern stieß vielerorts auf heftigen Protest.50

Entstehung und Bedeutungsverschiebung von „Bratstvo i jedinstvo“ im Zweiten Jugoslawien Die Frage nach dem Diskurs um Bratstvo im sozialistischen Jugoslawien muss sich in erster Linie51 mit der Parole „bratstvo i jedinstvo“ auseinandersetzen.52 46 47 48 49 50 51

Ferhadbegovic´ 2008, S. 82. Zu Aleksandar siehe ebd. S. 81 – 83. Ramet 2011, S. 135. Dzˇaja 2002, S. 27; Ramet 2011, S. 122. Calic 2010, S. 122 – 123. Siehe Ramet 2011, S. 153 – 158. Igor Grdina fragt, inwieweit Bratstvo auch ohne den Begriff der Einheit funktioniert: „Die Parole von der Brüderlichkeit und Einheit stellt ihrerseits ein nicht geringes semantisches

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Wann genau die Losung, welche die Nationalitätenpolitik im Zweiten Jugoslawien prägen sollte und in der die einzelnen Nationen und Nationalitäten als Brüder fungierten, Eingang in die Rhetorik der jugoslawischen Kommunisten fand, blieb lange unerforscht. Erst kürzlich hat der Zagreber Historiker Drago Roksandic´ die Entstehungsgeschichte von „bratstvo i jedinstvo“ im Kontext der nationalen Frage der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) aufgezeigt.53 Bis in die Mitte der 1930er Jahre tauchten in der Rhetorik der jugoslawischen Kommunisten die beiden Begriffe nicht auf. Besonders der Einheitsbegriff, der im Königreich, von dem sich die KPJ distanzierte, im Sinne eines integralen Jugoslawismus inflationär verwendet wurde, war stark vorbelastet.54 Während die KPJ in den 1920er Jahren nahezu allen jugoslawischen Nationen ein Recht auf Selbstbestimmung und Abspaltung zugestand, änderte sich ihre Nationalitätenpolitik mit dem Aufschwung des Faschismus und der neuen Volksfrontpolitik der Komintern. Obwohl man grundsätzlich das Recht auf Selbstbestimmung weiter betonte, setzte man sich nun gegen eine Aufspaltung Jugoslawiens ein, da diese nur den Plänen der „faschistischen Imperialisten und ihren Kriegszielen in die Hände spielen würde“.55 Ein föderatives Jugoslawien wurde nun, insbesondere durch den Einfluss

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Problem dar. Denn es ist nicht klar, ob die Konjunktion ,und‘ dabei kumulative oder additive Bedeutung hat. Doch eine historische Analyse zeigt rasch, daß die führenden jugoslawischen Machthaber auf eine kumulative Interpretation der Parole schworen. 1971 wurden jene Kroaten, die nur ,Es lebe die Brüderlichkeit‘ (,Naj zˇivi bratstvo‘!) riefen und sich nicht gleichzeitig auch für die Einheit begeisterten, als nationalistische Opposition zum Regime empfunden. Das heißt, daß die Brüderlichkeit nicht als selbstständiger Wert verstanden wurde: Nicht nur, daß sie ohne Einheit nichts bedeutete, sie war in diesem Fall sogar Ausdruck der Gegnerschaft zum Regime.“ Grdina, Igor: ,Brüderlichkeit und Einheit – Wahrheit und Dichtung‘, in: Moritsch, Andreas / Mosser, Alois (Hg.): Den Anderen im Blick. Stereotype im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M. 2002. S. 51 – 66, hier S. 56. Obwohl das Syntagma im ,Bratstvo‘-Diskurs sicherlich dominant war, ließen sich auch zahlreiche Beispiele anfügen, in denen die Brüderlichkeit ohne Einheit beschworen wurde. Der Kontext, der bei Grdinas Argumentation nicht berücksichtigt wird, scheint bei der Verwendung der Begriffe entscheidend. „Bratstvo i jedinstvo“ oder teilweise nur „Bratstvo-jedinstvo“ wird mit „Brüderlichkeit und Einheit“ oder neuerdings auch mit „Brüderlichkeit und Einigkeit“ übersetzt. Siehe beispielsweise Stefanov, Nenad: Wissenschaft als nationaler Beruf. Die Serbische Akademie der Wissenschaften 1944 – 1992. Tradierung und Modifizierung nationaler Ideologie. Wiesbaden 2011, S. 258, oder Mancˇic´ 2012, S. 98. Im Buch von Sabrina Ramet 2011 wird der Begriff „jedinstvo“ lediglich im Glossar auf S. 836 mit „Einigkeit“ übersetzt. In verschiedenen Wörterbüchern findet man den Vermerk ,Einheit‘ und ,Einigkeit‘ als Entsprechung für „jedinstvo“, wobei ältere Wörterbücher nur die Übersetzung „Einheit“ angeben. Zudem deutet der Entstehungskontext darauf hin, dass „jedinstvo“ als Einheit verstanden wurde. Roksandic´, Drago: ,“Bratstvo i jedinstvo“ u politicˇkom govoru jugoslovenskih komunista 1919 – 1945 godine‘, in: Mitrovic´, Momcˇilo / Milosˇevic´, Miladin (Hg.): Tito – vid¯enja i tumacˇenja. Beograd 2011. S. 28 – 42. Ebd., S. 31. Resolution des ZK der KPJ vom Sommer 1936 zit. nach ebd., S. 35.

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Titos, als Lösung der jugoslawischen Frage propagiert, wobei auch die Rede von Bratstvo ins Spiel kam. Dies zeigte sich deutlich bei der Gründung der Kommunistischen Parteien Sloweniens und Kroatiens 1937. Der Verlautbarung des Gründungskongresses der Kommunistischen Partei Kroatiens im Herbst desselben Jahres, an der Tito maßgeblichen Anteil hatte, verkündete: KROATISCHES VOLK […] Die Gründung der Kommunistischen Partei Kroatiens ist nicht zufällig, sondern resultiert aus dem langjährigen Kampf der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, die nicht nur die Interessen der Arbeiterklasse verteidigt hat, sondern immer auch auf ihre Fahne die Idee der nationalen Freiheit, der Gleichberechtigung und der Brüderlichkeit zwischen den Völkern [bratstva med¯u narodima] geschrieben hatte. […] Es lebe die Eintracht und das brüderliche Einvernehmen zwischen allen Völkern in Jugoslawien! [Zˇivjela sloga i bratski sporazum izmed¯u svih naroda u Jugoslaviji!]56

Obwohl hier noch nicht von „bratstvo i jedinstvo“, sondern von „sloga i bratski sporazum“ die Rede ist, näherte man sich offensichtlich langsam der Parole an. Dennoch ging es noch einige Zeit bis die Formel stand. Die zahlreichen unterschiedlichen, aber ähnlichen Formulierungen deuten auf die lange Suche nach einem prägnanten Syntagma hin.57 Die bekannte Losung muss sich in den Jahren 1941 – 42 herauskristallisiert haben. Tito formuliert sie u. a. im Dezember 1942 im Artikel „Die nationale Frage in Jugoslawien im Lichte des Volksbefreiungskampfes“: Brüderlichkeit und kämpferische Einheit [bratstvo i borbeno jedinstvo], welche sich in diesem schweren Befreiungskampf aus dem Blut der besten Söhne unserer Völker schmiedet, gibt eine klare Perspektive, dass die Freiheit und Unabhängigkeit unserer

56 Zit. nach ebd., S. 36 f. 57 Man sprach von der „brüderlichen Eintracht“ („bratska sloga“, 1937, zit. nach ebd., S. 37) der „Freiheit und Brüderlichkeit aller Völker Jugoslawiens“ („sloboda i bratstvo svih naroda Jugoslavije“, 1938, zit. nach ebd. S. 37), von der „freien brüderlichen Gemeinschaft“ („slobodna bratska zajednica“, 1941, zit. nach ebd., S. 39) oder von „Brüderlichkeit und Eintracht der jugoslawischen Völker“ („bratstvo i sloga naroda Jugoslavije“, April 1941, Tito, Josip B.: Sabrana djela. Beograd 1977 – 1989, Bd. 6, S. 191). Auffallend ist, dass der Begriff „sloga“, der mit „Eintracht“, „Einigkeit“ sowie „Einheit“ übersetzt werden kann und somit „jedinstvo“ sehr nahe kommt, im Umfeld der „Bratstvo“-Rethorik des Ersten Jugoslawiens sowie in der kommunistischen Rhetorik nach 1937 weit verbreitet scheint. Man kann vermuten, dass der Begriff zu stark in nationalen Diskursen verankert war und deshalb schlussendlich doch nicht als Teil einer kommunistischen Losung in Frage kam. Neben dem bereits erwähnten serbischen „Samo sloga Srbina spasava“ scheint der Begriff auch im nationalen kroatischen Diskurs verwendet worden zu sein. So trug beispielsweise ein bedeutender Verein im Kroatien der Zwischenkriegszeit, welcher der kroatischen Bauernpartei nahe stand, den Namen „Seljacˇka sloga“ („Bäuerliche Eintracht“). Siehe Grandits, Hannes: Familie und sozialer Wandel im ländlichen Kroatien (18.–20. Jahrhundert). Wien/Köln/Weimar 2002, S. 306 – 309.

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Völker tatsächlich errungen werden wird, dass es in Jugoslawien keine nationale Unterdrückung und soziale Ausbeutung mehr geben darf.58

„Bratstvo i jedinstvo“ war untrennbar mit der zweiten, weniger spezifisch jugoslawischen Parole „Smrt fasˇizmu – sloboda narodu“ („Tod dem Faschismus – Freiheit dem Volk“) verbunden und galt als Gegenthese zum Faschismus.59 Hier wird der Begriff des Volks (vor allem in der Einzahl) kaum im völkischen Sinne der Abstammung verwendet, als vielmehr die soziale Schicht in Absetzung von Bürgertum oder Aristokratie thematisiert, was wiederum auf eine Uminterpretation des Bratstvo-Begriffs hindeudet.60 Der Begriff Bratstvo scheint für die jugoslawischen Kommunisten geradezu prädestiniert gewesen zu sein: Einerseits stand er bekannten sowjetischen Losungen wie „bratstvo narodov“ (Brüderlichkeit der Völker) nahe, andererseits war er auch der zu einem großen Teil bäuerlichen Bevölkerung Jugoslawiens, die es während des Zweiten Weltkriegs für den gemeinsamen Kampf zu gewinnen galt, verständlich. „Bratstvo i jedinstvo“ ist eng mit der Person Titos und dem Partisanenkrieg, als dessen Errungenschaft „Brüderlichkeit und Einheit“ gepriesen wurde, verbunden. Obwohl bereits im Ersten Jugoslawien im Zusammenhang mit Brüderlichkeit von der Einheit die Rede war, gab es bei der Verwendung der Begriffe klare Unterschiede.61 Im oben zitierten Artikel erteilt Tito dem „dummen Geschwätz“ von den Serben, Kroaten und Slowenen als drei 58 Zit. nach Roksandic´ 2011, S. 39. Dass es sich zu dieser Zeit bereits um ein festes Syntagma handelte, zeigt die Verwendung der dritten Person Einzahl (schmiedet) anstelle der dritten Person Plural (schmieden). Die Reihenfolge der beiden Begriffe scheint jedoch noch lange nicht endgültig bestimmt gewesen zu sein. Am 2. Mai 1944 hielt Tito beispielsweise eine Rede am Kongress der Antifaschistischen Jugend Jugoslawiens, wo er zweimal von „jedinstvo i bratstvo“ sprach. Ebd., S. 41. 59 Ebd., S. 39. 60 „Titos Jugoslawismus war von Anfang an und blieb bis zu seinem Tod eine politische und soziale Kategorie, die niemals (ethno-)national konnotiert war. Der in vielen Reden und Dokumenten verwendete Begriff ,jugoslovenski narod‘, der sowohl ,jugoslawisches Volk‘ wie ,jugoslawische Nation‘ bedeuten kann, wurde von Tito und seinen engsten Vertrauten stets im Sinne von ,arbeitendes Volk/Werktätige‘ gebraucht und nie im Sinn einer ethnischen Nation. ,Narod‘ war also nicht Ethnos, sondern Klasse. Erst im Verlauf der 1980er Jahre verdrängte das ,Volk‘ die Klasse.“ Sundhaussen, Holm: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Wien/Köln 2012, S. 168. 61 Tatjana Petzer betont in ihrer Arbeit über Tito hingegen, dass die Parole keineswegs originell gewesen sei: „Greift man auf die rückblickende Einschätzung von Öilas zurück, so bringt Tito keine eigenständigen Ideen und Konzepte des jugoslawischen Wegs hervor. Einzig die Parole ,Bratstvo i jedinstvo‘ ist auf Tito zurückzuführen, obwohl diese bereits in ähnlicher Form im Königreich Jugoslavien zum Einsatz kommt, um das Jugoslaventum und die Souveränität des neuen Staates zu stützen.“ Petzer, Tatjana: ,„Tito“ – Symbol und Kult. Identitätsstiftende Zeichensetzung in Jugoslavien‘, in: Richter, Angela / Beyer, Barbara (Hg.): Geschichte (ge-)brauchen. Literatur und Geschichtskultur im Staatssozialismus: Jugoslavien und Bulgarien. Berlin 2006. S. 113 – 130, S. 115.

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Stämmen, das nur eine Serbisierung der Slowenen und Kroaten zum Ziel gehabt habe, eine deutliche Abfuhr.62 Im Gegensatz zur Doktrin des Ersten Jugoslawiens wird von der KPJ denn auch nicht die Gleichheit der Brüder, sondern die Gleichberechtigung betont. Der Akzent verschiebt sich somit im Übergang vom Ersten zum Zweiten Jugoslawien zunächst sehr deutlich und explizit weg von einem Konzept von „Bruderschaft“ hin zu einem solchen von „Brüderlichkeit“. Gleichzeitig dient bis zum Bruch mit Stalin 1948 die jugoslawische BratstvoRhetorik dazu, Loyalität mit der Sowjetunion zu bekunden und den gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus zu propagieren. Dabei korreliert diese mit der panslawischen Formel, wie sie im 19. Jahrhundert63 und während des Ersten Weltkriegs gebraucht worden ist. So lautet ein Aufruf des Zentralkommitees der KPJ an die jugoslawischen Völker im November 1941: „Es lebe die Einheit und die Brüderlichkeit der slawischen Völker im Kampf gegen die faschistischen Feinde des Slawentums!“64 Dass die Huldigung des Slawentums mit derjenigen der Sowjetunion und den jugoslawischen Partisanen teilweise eng verknüpft war, zeigt auch ein Zitat aus dem Kriegstagebuch „S partizanima“ („Mit den Partisanen“) des kroatischen Schriftstellers Vladimir Nazor : Ich glaube an die Zukunft des Slawentums und an eine gerechtere gesellschaftliche Ordnung, die es der Welt bringen wird – ich glaube an Stalin! Ich glaube an den schlussendlichen Sieg – sei er auch nur moralisch – unserer Partisanenbewegung – ich glaube an Tito! Ich glaube, dass nur das gemeinsame Leiden und die gemeinsame Marter, die Notwendigkeit der gemeinsamen Verteidigung und des gemeinsamen Widerstandes die Menschen vereint und gleichstellt, ich glaube an die schlussendliche Verwirklichung einer wahren Gemeinschaft zwischen Brüdern.65

Die panslawische Komponente des Bratstvo-Diskurses vermischt sich teilweise auch mit der Vorstellung eines ethnischen Südslawentums als Grundlage des brüderlichen Verhältnisses im neuen Staat. Dadurch wird klar, dass Bratstvo als ,Bruderschaft‘ auch in Bezug auf die Beziehung zwischen den Völkern Jugoslawiens weiter aktiv bleit. Marie-Janine Calic stellt in diesem Sinne die Losung „bratstvo i jedinstvo“ direkt in Verbindung mit der die Slawen feiernden Staatshymne des Zweitens Jugoslawiens:

62 Roksandic´ 2011, S. 39. 63 Nach Igor Grdina wurde der Begriff im 19. Jahrhundert „in den Bergen und Tälern des Balkans und Mitteleuropas gerne verwendet […] und das mit einer ausgeprägt panslavischen Konnotation.“ Grdina 2002, S. 58. 64 „Zˇivjelo jedinstvo i bratstvo slovenskih naroda u borbi protiv fasˇisticˇkih neprijatelja slovenstva!“ Tito 1979, Bd. 7, S. 181. 65 Zit. nach Perica, Vjekoslav / Velikonja, Mitja: Nebeska Jugoslavija. Interakcije politicˇkih mitologija i pop-kulture. Beograd 2012, S. 44. Weiter zu panslawischen Elementen bei den Partisanen und bei Tito siehe ebd., S. 43 f.

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Titos Wahlspruch stand in der Tradition panslawischer Solidarität des 19. Jahrhunderts. Die 1945 angenommene jugoslawische Staatshymne Hej, Sloveni (Hej, Ihr Slawen) war eine Adaptation der 1848 beim Prager Slawenkongress verabschiedeten ,Nationalhymne der Slawen‘.66

Trotz oder vielleicht gerade wegen des ständigen Gebrauchs des Ideologems kann kaum davon gesprochen werden, dass Klarheit darüber herrsche, was die nie gesetzlich definierte „politisch-ideologische Parole“67 „bratstvo i jedinstvo“ alles beinhaltete.68 Eine der wenigen Definitionen aus dem sozialistischen Jugoslawien findet sich in der Kleinen politischen Enzyklopädie von 1966.69 Auffallend ist hier die ausschließliche Verknüpfung des Ideologems mit dem Zweiten Weltkrieg ohne einen Verweis auf die Nachkriegszeit. Dies wird bereits im Eingangssatz deutlich: Brüderlichkeit und Einheit ist eine der wichtigsten Programm- und Aktionsparolen im Volksbefreiungskrieg und in der sozialistischen Revolution in Jugoslawien 1941 – 1945, formuliert auf der Grundlage der Nationalitätenpolitik der Kommunistischen Partei Jugoslawiens.

Diesem Satz folgen längere Ausführungen über das Erste Jugoslawien und den Zweiten Weltkrieg. Am Ende der Definition wird die Entstehung der Brüderlichkeit, „[d]ie Verwirklichung von ,Brüderlichkeit und Einheit‘ der jugoslawischen Völker im bewaffneten Kampf“, eindeutig bestimmt. Diese Formulierung ähnelt der gängigen Redeweise von der „Brüderlichkeit und Einheit“, die im „Volksbefreiungskrieg geschmiedet“ worden sei. „Brüderlichkeit und Einheit“ wird hier nicht als ein schon immer gegebenes, ethnisch begründetes Verhältnis 66 Calic 2010, S. 180. 67 Roksandic´ 2011, S. 29. 68 In der wissenschaftlichen Literatur werden zahlreiche Phänomene mit dem Ideologem in Verbindung gebracht, ausführlichere Definitionen gibt es hingegen selten. Eine Ausnahme stellt die im Überblickswerk von Sabrina Ramet dar : „Brüderlichkeit und Einigkeit (bratstvo i jedinstvo) – normatives Prinzip, mit dem alle Völker des sozialistischen Jugoslawien zu ,Brüdern‘ erklärt und zugleich angehalten wurden, von Kämpfen und Auseinandersetzungen untereinander abzulassen. In der sozialistischen Regierungspraxis nahm es Gestalt an durch die Verwendung von ,nationalen Verteilungsschlüsseln‘, durch die regelmäßige Ämterrotation wie auch durch das Verbot für Parteimitglieder, Kritik an Mitgliedern von Parteigliederungen aus dem Kreis anderer Nationalitäten oder an deren Politik zu üben.“ Ramet 2011, S. 836. Obwohl zahlreiche Oppositionelle eines Verstoßes gegen die „Brüderlichkeit und Einheit“ angeklagt wurden, kann kaum von einem allgemeinen Verbot, „Kritik an Mitgliedern von Parteigliederungen aus dem Kreis anderer Nationalitäten oder an deren Politik zu üben“, gesprochen werden, betrachtet man beispielsweise die Debatten über das Verhältnis zwischen den Republiken und Nationen während des Jahres 1968. Siehe Klasic´, Hrvoje: Jugoslavija i svijet 1968. Zagreb 2012, S. 275 – 347. 69 Mala politicˇka enciklopedija. Beograd 1966. S. 110. Der Eintrag in der Politischen Enzyklopädie von 1975 (Politicˇka enciklopedija. Beograd 1975. S. 92) ist mit dem aus der Kleinen politischen Enzyklopädie identisch.

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verstanden, sondern als eines, das im Zweiten Weltkrieg, dem Gründungsmythos des Zweiten Jugoslawiens, geschaffen wurde. Gemäß den Formulierungen „geschmiedet“ bzw. „verwirklicht“ erscheint es jedoch als ein von nun an für immer gegebenes Verhältnis.70 Die wachsenden Spannungen zwischen den einzelnen ,Völkern und Völkerschaften‘ machten jedoch bald klar, dass dem nicht so ist. Dem entsprechend wird in dem an die Jugend gerichteten Band Bratstvo i jedinstvo von 1969 betont, dass „Brüderlichkeit und Einheit“ nicht ein für allemal gegeben und der „entscheidende Faktor der Brüderlichkeit und Einheit“ die „nationale Gleichberechtigung“ sei.71 Verstärkt tritt hier folglich wieder das prozessual gedachte Konzept der „Brüderlichkeit“ in den Vordergrund. Die Familienmetaphorik als Teil des Bratstvo-Konzeptes im Sinne von „Bruderschaft“ findet jedoch ebenso Eingang in den politischen Diskurs des Zweiten Jugoslawiens und ist somit kein Spezifikum des Zwischenkriegsjugoslawiens. So wird durch die Inszenierung Titos als Vater aller jugoslawischen Völker und Völkerschaften – obwohl er zugleich als größter Sohn aller jugoslawischen Völker und Völkerschaften galt – gleichzeitig das Bild der Untergebenen als Brüder hervorgerufen.72 Die Vaterrolle Titos zeigt sich in seiner 70 Ein kleines Detail des Eintrags in der Kleinen politischen Enzyklopädie sei hier noch angemerkt. Die unter dem Lemma aufgeführten Übersetzungen ins Makedonische („Bratstvo i edinstvo“), Slowenische („Bratstvo in enotnost“), Englische („Brotherhood and unity“), Deutsche („Brüderlichkeit und Einheit“), Russische („Bratstvo i edinstvo“) und Spanische („Fraternidad y unidad“) folgen der gängigen Wortabfolge des Syntagmas im Original. Die französische Übersetzung lautet hingegen „Unit¦ et fraternit¦“, womit möglicherweise durch die Wortstellung eine Nähe zum Slogan „Libert¦, ¦galit¦, fraternit¦“ suggeriert werden sollte. 71 Vasilev, Kiro H.: ,Bratstvo i jedinstvo naroda Jugoslavije – razvoj, tekovine i savremeni problemi‘, in: Prelic´, Miroslav (Hg.): Bratstvo i jedinstvo. Jugoslavija 1941 – 1969. Beograd 1969. S. 3 – 5, hier S. 4 f. In diesem Sinne wird beispielsweise auch in der Verfassung von 1974, in der „damals längsten Verfassung der Welt“ (Ramet 2011, S. 440), erwähnt, dass sich die Völker Jugoslawiens bewusst seien, dass „eine weitere Verfestigung ihrer Brüderlichkeit und Einheit im gemeinsamen Interesse“ sei. Vgl.: [Zugriff 22. 05. 2013]. 72 Petrovic´, Tanja: ,Otac svih jugoslovenskih naroda i narodnosti. (Re)interpretacije patrijarhalne figure J. B. Tita u sec´anjima bivsˇih Jugoslovena‘, in: Mitrovic´, Momcˇilo / Milosˇevic´, Miladin (Hg.): Tito – Vid¯enja i Tumacˇenja. Beograd 2011. S. 626 – 638, hier S. 626. In alten Kulturen – selbst in patriarchalen, wie im alten Israel, – gibt es die Auffassung, dass die Abstammung von einer gemeinsamen Mutter stärker bindend sei für die Bruderschaft, als diejenige von einem Vater. Vgl. dazu die Begründung Abrahams zur Vermählung mit seiner Halbschwester Sara: „Auch ist sie wirklich meine Schwester, die Tochter meines Vaters, nur nicht die Tochter meiner Mutter. So konnte sie meine Frau werden.“ 1. Moses 20, 12. Daraus lässt sich unter anderem schließen, dass mit der Vaterfigur Tito explizit auf eine andere Überlieferungslinie zurückgegriffen wird. Dabei ist in erster Linie an die balkanische Tradition zu denken, welche die Stammeszugehörigkeit patrilinear definiert: In einer solchen Tradition dürfen explizit nur Frauen geheiratet werden, „mit denen keine Verwandtschaft

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Funktion als Vermittler und Richter zwischen den Nationen sowie auch in seiner Haltung gegenüber der Jugend: „Bilder Titos, umringt von Pionieren, im Gespräch mit Jugendlichen zeigten den Herrscher im wahrsten Sinne des Wortes als Landesvater.“73 Dass Tito diese Rolle äußerst gezielt wählte und sie auch mit Erfolg inszenierte, beweist beispielsweise seine Rede an die revoltierenden Belgrader Studenten am 6. Juni 1968. Nachdem er sich in einer internen Sitzung noch gegen die Studenten aussprach, signalisierte er bei der öffentlichen Ansprache volles Verständnis für sie und klang wie „ein gutmütiger Vater, der sich um seine Kinder sorgt“.74 Wir müssen davon ausgehen, dass sich gerade in Zeiten der Krise und der existentiellen Bedrohung der gesellschaftspolitischen Einheit zeigt, wie sehr scheinbar althergebrachte Ideologeme für diskursive Kontinuität sorgen.75 Dass daneben die Losung „Brüderlichkeit und Einheit“ durch ihre Allgegenwart immer mehr zur Phrase verkam, wie das die nicht ganz ernst gemeinte Definition im Lexikon der YU-Mythologie umschreibt, erstaunt kaum:

besteht“. Vgl. dazu Schmitt, Oliver J.: Die Albaner. Eine Geschichte zwischen Orient und Okzident. München 2012, S. 77. 73 Zˇivojinovic´, Marc: ,Die Sichtbarkeit der Macht. Visualisierung von Herrschaft im sozialistischen Jugoslawien‘, in: Grigore, Michai-D. u. a. (Hg.): Herrschaft in Südosteuropa. Kulturund sozialwissenschaftliche Perspektiven. Göttingen 2012. S. 155 – 174, hier S. 166. Zˇivojinovic´ erwähnt zudem die Instition des ,kumstvo‘, in der die Vaterrolle Titos zum Ausdruck kommt: „Die bislang nur wenig erforschte Institution der kumstvo (Patenschaft), die der Staatschef auf Antrag jedem siebten Kind einer Familie angedeihen ließ, verweist ebenfalls deutlich auf den traditionellen, paternalistischen Gehalt der Herrschaft. Die Übernahme einer solchen Patenschaft war zumeist mit einem kleinen Ritual verbunden: Ein Gesandter überbrachte im Namen des Staatschefs Glückwünsche, die örtlichen Parteikader garnierten die Zeremonie mit eigenen Redebeiträgen und am Ende saßen die Beteiligten zusammen und sangen (Partisanen-)Lieder. Mit der Patenschaft verband sich ein Anspruch auf materielle Zuwendungen durch das Büro des Staatschefs, und alleine deswegen war die Institution für die zumeist armen, kinderreichen Familien von Interesse. In einem Kosten-Nutzen-Kalkül gehen die Vorgänge allein jedoch nicht auf. Auch hier zeigen Briefe die emotionale Bedeutung, die viele der betroffenen Familien der kumstvo und damit ihrer darin begründeten ,unmittelbaren‘ verwandtschaftlichen Beziehung mit dem Staatschef beimaßen. Die genaue Anzahl der übernommen Patenschaften ist bis heute ungewiss, aber nach Schätzungen waren etwa 45.000 Familien involviert.“ Ebd. Die Verbindung zwischen Titokult und der Jugend zeigt sich besonders auch im ,Tag der Jugend‘, der am 25. Mai, dem angeblichen Geburtstag Titos, gefeiert wurde. Siehe hierzu Zˇivojinovic´, Marc: ,Die Stafette der Jugend zu Ehren des Marschalls. Der 25. Mai als Festtages des Titokultes‘, in: SÜDOST-FORSCHUNGEN 2009. S. 253 – 276. 74 Klasic´ 2012, S. 180. Zu den beiden Reden siehe ebd., S. 177 – 181. 75 Insbesondere nach Titos Tod erlebte seine „Rolle als ein über den Nationen stehender ,Übervater‘“ einen regelrechten Boom. Höpken, Wolfgang: ,Vergangenheitspolitik im sozialistischen Vielvölkerstaat. Jugoslawien 1944 bis 1991‘, in: Bock, Petra / Wolfrum, Edgar (Hg.): Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich. Göttingen 1999. S. 210 – 243, hier S. 218.

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Ausdruck, mit dem das gegenseitige Verhältnis unserer Völker, Völkerschaften und Volksminderheiten (solange sie existierten) beschrieben wurde; obligatorischer Teil aller Reden, Referate und Artikel usw. Bei jedem seiner öffentlichen Auftritte verwendete Tito die Phrase: ,Hütet die Brüderlichkeit und Einheit wie euren Augapfel‘. Wurde auch für Objekte verwendet: Autobahn ,Brüderlichkeit und Einheit‘ und ähnliches. Vom andauernden Gebrauch verlor die Losung ihre wahre, ursprüngliche Bedeutung vollkommen.76

Die einstige sozialistische Solidarisierungsformel wurde weiter ihrer ursprünglichen Bedeutung enthoben, als Slobodan Milosˇevic´, sich noch 1987 in seinem Machtanspruch auf den Revolutionär Tito berufend,77 von derselben „Brüderlichkeit und Einheit“ zu sprechen vermeinte. Ende April 1987, kurz nachdem er in Prisˇtina gegenüber demonstrierenden Serben und Montengrinern seinen bald schon legendären Satz „Niemand darf euch schlagen“ ausgesprochen hatte, erklärte er noch: Wir müssen Brüderlichkeit und Einheit wie unseren Augapfel hüten. Wir können nicht und wir wollen nicht die Bevölkerung in Serben und Albaner teilen, aber wir müssen eine Linie ziehen zwischen den ehrlichen und fortschrittlichen Leuten auf der einen und den Konterrevolutionären und Nationalisten auf der anderen Seite.78

Im Gegensatz zu Milosˇevic´, der seine Amselfeldrede mit „Es lebe der Frieden und die Brüderlichkeit zwischen den Völkern“79 beendete, stellten andere die Parole selbst und die damit verbundene jugoslawische Ideologie, die inzwischen völlig korrumpiert war, in Frage. So schrieb der Slowene Taras Kermauner, Philosoph und Literaturhistoriker, in seinem 1987 veröffentlichten „Brief an einen serbischen Freund“: A brother is a brother. The question, however, is whether I want to live with my brother in the same house. It’s not enough that he wants to live with me. Perhaps behind this brotherly feelings he hides a desire to freeload. Perhaps he causes enough damage that his closeness does not make me happy.80

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Zwischenkriegszeit vor allem das Konzept eines tribalen Bratstvo – durchsetzt von einzelnen Merkmalen solidarischer „fraternit¦“ – aktiv ist, sich Tito zunächst aber davon absetzt, indem er 76 Adric´, Iris / Arsenijevic´, Vladimir / Matic´, Öord¯e: Leksikon YU Mitologije. Beograd, Zagreb 2004, S. 86. Die Einleitung und einige ausgewählte Beiträge des Lexikons sind auch in deutscher Übersetzung zugänglich in JUGOSLAVIJA REVISITED 2010, S. 80 – 83. 77 Nach Kosta Nikolic´ ahmte Milosˇevic´ den Tito der Vorkriegs-, Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren nach. Siehe Nikolic´, Kosta: ,“I posle Tita – Tito“. Odrzˇavanje i rusˇenje Titovog kulta u Srbiji 1980 – 1990‘, in: Mitrovic´, Momcˇilo / Milosˇevic´, Miladin (Hg.): Tito – vid¯enja i tumacˇenja. Beograd 2011. S. 760 – 778, hier S. 763 – 767. 78 Zit. nach Sundhaussen 2012, S. 247. 79 Zit. nach ebd., S. 262. 80 Zit. nach ebd., S. 267.

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sich am anderen Ende der Skala, nämlich auf der Seite der sozialistischen „Brüderlichkeit“, positioniert. Doch auch während des Zweiten Weltkriegs finden sich in der Bratstvo-Rhetorik der Kommunisten panslawische und südslawische Einheitsbekundungen wieder, wie sie schon vor und aus dem Ersten Weltkrieg bekannt sind. Im Gegensatz zur Beschwörung des Zweiten Weltkriegs als Gründungsmythos und somit eines prozessualen Bratstvo-Konzeptes, ist nicht nur die Staatshymne, sondern auch die Inszenierung Titos als Vater aller Völker und Völkerschaften ein Zeichen, dass die alte Formel von ethnisierender „Bruderschaft“ weiter aktiv bleibt. Mit dem allgegenwärtigen Slogan „bratstvo i jedinstvo“ wurde die Brüderlichkeitsrhetorik überstrapaziert, verkam allmählich zur Phrase und wurde in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre durch die Vereinnahmung von serbischen Nationalisten völlig diskreditiert. Heute kann man sich kaum vorstellen, dass sich eine ernsthafte Wiederannäherung im ehemaligen Jugoslawien von neuem der Bratstvo-Rhetorik bedienen würde. Zu groß scheint der Kontrast zwischen den einstigen Beschwörungen der Brüderlichkeit und den Kriegen der 1990er Jahre. Einer der wohl eindrücklichsten Aufrufe zum Dialog, das Lied „Pismo Milanu“ („Brief an Milan“, Album „Troyanac“, 2012) des bosnischen Rappers Frenkie, macht dies in den folgenden Zeilen deutlich: Wir sind keine Brüder und scheiß auf die alten Tage / Als wir einander an Bajram und Slava besuchten / All das ging schnell zugrunde, sie haben es verraten / Und die Brüder schlachteten einander über Nacht ab / Ich will nicht, dass wir die Opfer messen und zählen die Toten / Niedergebrannte Moscheen und eingestürzte Kirchen / Wer will, der soll / Ich aber will nicht mit fremdem Schmerz manipulieren / Will dich anhören und dass wir reden / Denn so kommen wir nirgendwohin / Ich weiß, dass es schwierig ist, wenn sie dich ständig beschuldigen / Und wenn du von den Meinen die Phrase „genozidales Volk“ hörst / Aber wisse auch du, ich denke nicht so / Refrain: Es ist schwer den anderen sein Beileid auszusprechen / Die Deinen werden dich treten und die anderen werden dich anspucken / Missbrauchen und in einen neuen Konflikt drängen / Und so wird das Feuer wieder auflodern / Es ist schwer den Anderen sein Beileid auszusprechen / Die Deinen werden dich treten und die Anderen werden dich anspucken / Wir können den Anderen unser Beileid aussprechen / Oder uns noch 20 Jahre weiter so im Kreis drehen.81 81 „Nismo brac´a i jebesˇ stare dane / Kad smo drugima isˇli na Bajrame i Slave / Sve to brzo propade i sve to prodasˇe / A brac´a se preko noc´i poklasˇe / Nec´u da mjerimo zˇrtve i brojimo mrtve / Spaljene dzˇamije i srusˇene crkve / Nek izvoli ko voli / Ali ja nec´u manipulirati tud¯om boli / Ja hoc´u da te saslusˇam i da pricˇamo / Jer ovako ne idemo nikamo / Znam tesˇko je kad te optuzˇuju stalno / I kad cˇujesˇ od mojih onu genocidan narod / Nisi takav i kontam nije lahko / Al znaj i ti, ja ne mislim tako. Refrain: Tesˇko je drugima izraziti suc´ut / Tvoji c´e te sˇutnut’ a oni pljunut’ / Zloupotrebiti u novi sukob gurnut’ / I tako c´e vatra opet buknut’ / Tesˇko je drugima izraziti suc´ut / Tvoji c´e te ˇsutnut’ a oni pljunut’ / Mozˇemo drugima izraziti suc´ut / Ili josˇ 20 godina ovako u krug!“

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Doch eines bleibt, und dazu zum Abschluss der altbekannte Witz: Fragte man in der DDR jeweils danach, warum sie denn die Sowjetunion als den großen Bruder bezeichneten, bekam man die einschlägige Antwort, dass man sich Freunde aussuchen kann, den Bruder eben nicht. Auch wenn dieser Witz der Vergangenheit angehören mag, so illustriert er immer noch unter dem ambivalenten Banner von Bratstvo die Schicksalsgemeinschaft auf dem Balkan, welche selbst nach ,Bruderkriegen‘ immer noch anhält.

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Aleksandar Jakir (Split)

Die Sokol-Bruderschaft zwischen den Weltkriegen in Dalmatien1

Rolle und Charakter der Sokol-Bewegung, die unter dem Namen „Prager Gymnastische Gesellschaft“ im Jahr 1862 vom „Jungtschechen“ und dem späteren Reichsratsabgeordneten und Professor der Prager Universität Dr. Miroslav Tyrsˇ sowie dem Prager Bankdirektor Dr. Jindrˇich Fügner als national-tschechische Organisation gegründet wurde, werden nach wie vor unterschiedlich interpretiert. Es ist davon auszugehen, dass ihr die von Friedrich Ludwig Jahn initiierte deutsche „Turnbewegung“ sicherlich als Vorbild gedient hatte. Als schließlich am 2. Februar 1908 in Wien der „Allslawische Sokolverband“ gegründet wurde, hatte die Sokol-Bewegung bereits einige Jahrzehnte der erfolgreichen Verbreitung im slawischen Sprachraum hinter sich, was die südslawischen Gebiete natürlich mit einschloss.2 Im Kontext der südslawischen Staatsgründung 1918 lässt sich der „Sokol“ (Falke)3 als Organisation beschreiben, die sich Schaffung und Ausbau einer gesamt-südslawischen Integration und Identitäts(er)findung auf die Fahnen geschrieben hatte, und die versuchte, „die Ju-

1 Vorliegender Beitrag ist eine erweiterte und überarbeitete Version des Kapitels ,Der „Jugoslavenski sokol“‘ in: Jakir, Aleksandar: Dalmatien zwischen den Weltkriegen. Agrarische und urbane Lebenswelt und das Scheitern der jugoslawischen Integration. München 1999, S. 370 – 380. 2 Erste Sokol-Vereine wurden 1863 in Slowenien, 1867 in Polen, 1871 in der Slowakei, 1874 in Kroatien, 1891 in Serbien, 1906 in Montenegro und 1908 in Makedonien gegründet. In Bulgarien kommt es zu einer ähnlichen Gründung unter dem Namen „Junak“. Vgl. Brozovic´, Ante et al. (Hg.): Historija Sokolstva. Beograd 1930 und Kessler, Wolfgang: ,Der Sokol in den jugoslawischen Gebieten (1863 – 1941)‘, in: Blecking, Diethelm (Hg.): Die slawische Sokolbewegung. Beiträge zur Geschichte von Sport und Nationalismus in Osteuropa. Dortmund 1991, S. 198 – 218; Jakovcˇev, Gojko: ,Idejno-politicˇki i strucˇni profil sokolske organizacije jugoslavenskih naroda od 1863. do 1941. godine‘, in: POVIJEST SPORTA 1989/20, S. 251 – 257. 3 Der Name „Sokol“ (Falke) wurde von Emanuel Tonner vorgeschlagen, der in den südslawischen Volksepen den Falken „als das Synonym für alles Mutige, Heldenhafte und Edle“ gefunden zu haben glaubte. Die roten Hemden, in denen die Mitglieder öffentlich auftraten, sollten an den italienischen Volkshelden Garibaldi erinnern, der als Kämpfer für die nationale und staatliche Einheit Italiens als eine Art Vorbild betrachtet wurde.

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gend im Geiste des integralen Jugoslawismus zu erziehen“4. Als Turnverband und als national-politische Bewegung ist der „Sokol“ ein bis jetzt eher selten untersuchtes Phänomen geblieben, trotz seiner unbestreitbaren Relevanz, die er im öffentlichen Leben des ersten jugoslawischen Staates als Massenorganisation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte. Auch wenn die meisten Vereinsarchive nicht erhalten geblieben sind, so liegen für den kroatischen Raum5 aber mittlerweile eine ganze Reihe von lokalen und regionalen Untersuchungen vor, die ein klares Bild von den Aktivitäten des Sokol vermitteln.6 Im Jahr 1914 existierten nicht weniger als 169 Sokol-Vereine in den verschiedenen kroatischen Gebieten.7 Als es nach dem Ersten Weltkrieg zur Gründung des südslawischen Staates kam, schien auch die Stunde des Sokol geschlagen zu haben, hatte dieser in seiner Eigenbeschreibung doch stets den „Kampf für die Brüderlichkeit der jugoslawischen Völker“8 betont. Martialisch bezeichnete sich der Kroatische Sokol noch vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs als „Armee des Volkes“ und proklamierte das Ziel der „Erweckung des Volksbewußtseins“ sowie „Opferbereitschaft“ für die imaginierte (süd)slawi4 Petranovic´, Branko: Istorija Jugoslavije 1918 – 1988. Beograd 1989, S. 183. 5 Nach dem ersten Sokol-Verein in Zagreb, der 1874 gegründet wurde, entstanden Vereine in Varazˇdin (1877), Bjelovar (1884), Krapina (1884), Zadar (1885), Karlovac (1885), Vukovar (1885), Koprivnica (1887), Ogulin (1889), Split (1893), Makarska (1894) etc., ebenso unter Aussiedlern in den Ländern, in denen es eine starke Arbeitsmigration aus den kroatischen Gebieten gab: Chicago (USA) 1896, Peyarn (Argentinien) 1905, Sao Paolo (Brasilien) 1907, Acebal (Argentinien) 1909, Punta Arenac (Chile) 1912 etc. Vgl. Hristic´, Ivan: ,Hrvatski sokol u Makarskoj (1894.–1914.)‘, in: HISTORIJSKI ZBORNIK 2013/1, S. 79 – 98, hier S. 81. 6 Vgl. Paar, Adolf: Hrvatski Sokol. Samobor 2011; Barcˇot, Tonko: ,Prilozi iz povijesti sokolskog ˇ ULE 2006/11, S. 281 – 316; Benasˇic´, pokreta na Korcˇuli‘, in: GODISˇNJAK GRADA KORC Zvonko: Hrvatski sokol u Öakovu 1906.–2006. Öakovo 2006; Bosˇnjakovic´, Renata / Lucˇevnjak, ˇ ulig, Mirko: ,Sokolstvo u Karlovcu do Silvija: Sokolski pokret u nasˇicˇkom kraju. Nasˇice 2003; C Prvog svjetskog rata‘, in: POVIJEST SPORTA 1993/24, S. 21 – 30; Habdija, Melita: ,Rad drusˇtva Hrvatski sokol u Krizˇevcima do 1914. godine‘, in: CRIS 2003/5, S. 67 – 74; Horvat, Marijan: ,Drusˇtva Hrvatskog sokola u Podravini‘, in: PODRAVSKI ZBORNIK 1991/17, S. 183 – 188; Hristic´ 2013, S. 79 – 98; Glavicˇic´, Ante: ,Iz prosˇlosti Hrvatskog sokola u Senju‘, in: SENJSKI ZBORNIK 1994/21, S. 239 – 252; Geric´, Bozˇidar (Hg.): 100 godina Hrvatskog sokola u Bjelovaru. Bjelovar 2005; Mendesˇ, Pavao: ,Hrvatski sokol i HPGD Zoranic´ u Zadru o 90. obljetnici (uz 113. obljetnicu Sokola i 90. obljetnicu Zoranic´a)‘, in: ZADARSKA SMOTRA 1999/47, S. 71 – 82; Rasˇkovic´, Dusˇan: ,Devedeset godina od zacˇetka djelovanja Hrvatskog sokola u Drnisˇu‘, in: POVIJEST SPORTA 1991/22, S. 30 – 39; Resanovic´, Nikola: U desnici snaga, u srcu odvazˇnost, u misli domovina: Zagrebacˇko tjelovjezˇbeno drusˇtvo Hrvatski sokol 1874.–2001. Zagreb 2002; Sviben, Branko: ,Hrvatski sokol u Zlataru‘, in: POVIJEST SPORTA 1992/24, S. 21 – 29; Virc, Zlatko: ,Hrvatski sokol u Valpovsˇtini‘, in: VALPOVACˇKI GODISˇNJAK 1999/4, S. 87 – 102; Vrdoljak, Stipe: ,Hrvatski sokol u Splitu od 1893. do 1910. godine‘, in: POVIJEST SPORTA 1972/3, S. 889 – 903. 7 Vgl. Barcˇot 2006, S. 287 und Hristic´ 2013, S. 82. 8 Vgl. das Stichwort ,Sokol‘ in: Enciklopedija leksikografskog zavoda Jugoslavije, Bd. 7. Zagreb 1964, S. 543 und Jakovcˇev, Gojko: Sokolska organizacija u borbi za bratstvo jugoslavenskih naroda do 1918. godine. Progon sokolske organizacije u Hrvatskoj. Zagreb 1970.

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sche Nation.9 Als diese dann 1918 mit dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen ihren „Nationalstaat“ geschaffen zu haben schien, sollte die „Brüderlichkeit“ des „dreinamigen Volkes“ der Serben, Kroaten und Slowenen, wie es offiziell die Verfassung von 1921 definierte, Garantie für die Stabilität des neugegründeten Staates sein. Die Sokol-Vereine mussten von der Existenz solch einer „dreinamigen Nation“ nicht erst überzeugt werden, hatten die Vereine ihrem Selbstverständnis nach doch noch zu Zeiten Österreich-Ungarns für die Idee eines südslawischen Staates gearbeitet. In den südslawischen Gebieten der Donaumonarchie war der „Sokol des Südens“ (Juzˇni Sokol) 1863 in Ljubljana gegründet worden, 1874 dann der „Kroatische Sokol“ (Hrvatski Sokol) in Zagreb.10 Beide Vereine vereinigten sich bald nach der Staatsgründung 1919 mit ihrem serbischen Pendant (Beogradsko gimnasticˇko drusˇtvo Soko – Belgrader Gymnastik-Verein Sokol) zum „Sokolski savez Srba, Hrvata i Slovenaca“ (Sokol-Bund der Serben, Kroaten und Slowenen), der sich 1920 in „Jugoslavenski sokolski savez“ (Jugoslawischer Sokol-Verband) umbenannte. In die Geschichtsschreibung ist der Sokol der Zwischenkriegszeit in Jugoslawien jedoch nicht als Organisation eingegangen, welche „Brüderlichkeit“ befördert hat – ganz im Gegenteil: Bereits die Historiografie im zweiten, sozialistischen Jugoslawien betonte, dass „in der Zwischenkriegszeit […] die hegemonistischen Machthaber versuchten, den Sokol zum Mittel ihrer Politik zu machen“, weshalb es bereits ein Jahr nach dem Zusammenschluss der verschiedenen Sokol-Vereine „wegen der (serbischen, A. J.) zentralistischen Bestrebungen der Vereinsleitung und anderer national-chauvinistischer Tendenzen zum Konflikt und zum Bruch mit dem Sokol in Zagreb“ gekommen sei, so dass „der Hrvatski Sokol wiederbegründet“ wurde. Nach Ausrufung der Diktatur und Umbenennung des Staates in „Königreich Jugoslawien“ durch den König Aleksandar 1929 wurde ein „Gesetz über die Gründung des Sokol-Verbandes des Königreichs Jugoslawien“ erlassen, welches eine einheitliche Organisation vorsah und die gesamte Sokol-Bewegung verstaatlichte.11 Welchen Platz der Sokol nach der Gründung des südslawischen Staates in der Gesellschaft einnahm, und was seine Ziele waren, lässt sich gut am regionalen Beispiel der Küstenregion Dalmatien zeigen, wo 1885 in Zadar/Zara der erste Sokol-Verein der Region unter dem Namen „Kroatischer Sokol“ gegründet worden war. Acht Jahre später erfolgte dann die Gründung des Sokol in Split.

9 ,Zadac´a sokolstva kao narodne vojske‘, in: HRVATSKI SOKOL 1 (Zagreb), 15. 01. 1913, S. 1, hier zit. nach Hrstic´ 2013, S. 82. 10 Erste Sokol-Vereine in Bosnien-Herzegowina wurden 1896 in Mostar und 1900 in Sarajevo gegründet. 11 Vgl. Enciklopedija leksikografskog zavoda Jugoslavije, Bd. 7, Zagreb 1964, S. 63.

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Ganz im Sinne seiner national-slawischen Ausrichtung war das erklärte Ziel des Sokol der Kampf gegen „Germanisierung“ und „Madjarisierung“ im kroatischen Binnenland bzw. gegen die „Italianisierung“ im Küstenland und in Dalmatien. Gemeinsame Ausflüge der Vereinsmitglieder, öffentliche Auftritte und andere Aktivitäten im Dienst der „nationalen“ (süd)slawischen Sache bestimmten das Programm, das Turnen war dabei „eher Nebensache“.12 In der Verbandszeitschrift Sokolski glasnik gab man sich Anfang der 1920er Jahre überzeugt: „Den Jugoslawismus wollen alle, da gibt es keine Unterschiede!“13 In der Realität des 1918 gegründeten Königreichs sah es freilich anders aus. Dabei hatte der „Hrvatski sokol“ durchaus bei der Agitation für ein nationales jugoslawisches Bewusstsein, nach der Durchsetzung der Nationalpartei im sogenannten preporod, der „nationalen Wiedergeburt“, als Sozialisationsinstanz eine wichtige Rolle gespielt. Am Beispiel Splits lässt sich aufzeigen, wie unter seinem Gründer, dem Anwalt und Volkstribun Josip Smodlaka, der Sokol ab 1883 zu einer der wichtigsten Institutionen wurde, welche den jugoslawischen „nationalen Geist“ vermittelte sollte: „Alle angemeldeten Mitglieder mussten die Schule des Nachwuchses durchlaufen, um beim Sokol aufgenommen zu werden“, erinnerte sich später der ehemalige Reichsratsabgeordnete Smodlaka. „In dieser Schule, an der hauptsächlich ich unterrichtete, wurde den Neuen erklärt, wo und wie das kroatische Volk lebt, was seine Vergangenheit war, wie wir mit den Serben und den übrigen Slawen verwandt sind, und was die Ziele unserer nationalen Politik sind“.14 In den Augen der österreichischen Geheimpolizei waren die Ziele des Sokol jedenfalls eindeutig staatszersetzend und es erfolgten Repressionsmaßnahmen. Unter den Namen der in Dalmatien wegen jugoslawischer Agitation Verhafteten finden sich zahlreiche Sokol-Mitglieder.15 Nach Kriegsausbruch 1914 wurden viele aktive Sokol-Mitglieder mit Hochverratsprozessen überzogen.16 Viele der mobilisierten Mitglieder desertierten aus der österreichisch-ungarischen Armee 12 Siehe Kessler 1991, S. 204, hier wird die Mitgliederzahl in Zadar 1913 mit 437 angegeben. 13 „Jugoslovenstvo hoc´e svi, tu razlike nema!“, vgl. SOKOLSKI GLASNIK. ZVANICˇAN ORGAN ˇ ESˇKO-SLOVACˇKOG I JUGOSLAJUGOSLAVENSKOG SOKOLSKOG SAVEZA I SAVEZA C VENSKOG SOKOLSTVA. 1921, S. 1 – 12. Mit dem „Sokol-Boten, Offizielles Organ des jugoslawischen Sokol-Verbandes und des Verbandes des tschechoslowakischen und des jugoslawischen Sokol“ war Ende 1920 wenigstens in Form einer gemeinsamen Zeitschrift das ambitionierte Ziel der Schaffung eines „allgemeinslawischen oder Allslawischen Sokol (opc´e Slovenskog ili Sveslovenskog Sokolskog saveza) erreicht, das jedoch bald nicht mehr praktisch verfolgt wurde, da man mehr mit der Festigung des Zusammenhalts innerhalb des jugoslawischen Verbandes zu tun hatte. 14 Smodlaka, Josip: ,Zapisi: „Rad u Sokolu“‘, in: SOKOLSKI GLASNIK 1921, S. 34 – 41, hier S. 36, wo auch das gesamte militärische Zeremoniell geschildert wird, wie das Grüßen der (vor 1918 kroatischen) Fahne, Abspielen der Hymne etc. Vgl. ebd. S. 38. 15 Vgl. Sokolsko drusˇtvo Sinj: Spomenica 1905 – 1935. Sinj 1935, S. 32. 16 Sokolski veleizdajnicˇki proces u Zagrebu iz 1915.–1916. g. Zagreb 1927.

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und meldeten sich in jugoslawischen Freiwilligenverbänden. Die zur serbischen Armee gehörende „Freiwilligeneinheit der Serben, Kroaten und Slowenen“ soll 1917 um die 30.000 Mann gezählt haben.17 In der „Sokolska zˇupa Split“ mussten die Aktivitäten nach Kriegsausbruch 1914 eingestellt werden, die „Sokolana“, die Turnhalle des Vereins, wurde von der Armee genutzt, die aktiven Mitglieder wurden an die Front geschickt, einige sogar verhaftet und des Hochverrats beschuldigt. Diejenigen, die sich einer Verhaftung entziehen konnten, traten Verbänden der Alliierten bei. Nach dem Krieg ehrte die Zeitschrift Sveslavensko sokolstvo (Allslawisches Sokoltum) die Gefallenen, die „ihr Blut auf serbischer Erde vergossen und dieses Land gegen die Fremden verteidigt haben“: „Der Sokol von Split und die gesamte Stadt können stolz auf sie sein!“ Auch der Matrose Ljubomir Kraus gehörte zu jenen, an die zu Zeiten des ersten jugoslawischen Staates nicht nur Sokol-Mitglieder mit Stolz zurückdenken sollten. Wie es die integral-jugoslawische Legende berichtete, habe Ljubomir Kraus mit heldenhaftem Mut vor den Gewehrläufen des Hinrichtungskommandos vor seinem Tod in der Boka Kotorska, nach dem Aufstand der Matrosen, die berühmten Worte gesprochen: „Mich könnt ihr leicht töten, nicht aber dreizehn Millionen Jugoslawen!“18 Berichten konnten davon Männer wie Joso Antunovic´, dem es gelungen war, zur serbischen Armee überzulaufen, und der es nach der „nationalen Befreiung“ dann durch einträgliche Staatsaufträge zu Wohlstand brachte. Als 1918 schließlich die österreichische Staatsmacht auch in Dalmatien zerfiel, sah der Sokol seine Aufgabe darin, die „vollständige Einigkeit des Volkes“ im „einheitlichen Staat“ sicherzustellen, wozu Mannschaften zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, der Ruhe und Ordnung“ aufgestellt wurden.19 Jugoslawische Histo17 Slijepcˇevic´, Pero: Nasˇi dobrovoljci u svetskom ratu. Zagreb 1925, S. 11 – 14 und S. 17 – 21. 18 SVESLAVENSKO SOKOLSTVO. Beograd 1930, S. 183 und Jakovcˇev 1970, S. 28 mit detaillierten biografischen Angaben; vgl. auch SOKO NA JADRANU. GLASILO SOKOLSKIH ZˇUPA SUSˇAK-RIJEKA 1928/3. Sˇibenik-Zadar, S. 78 – 80. 19 Je nach Zählung waren es sieben oder acht Staaten, zu denen das einstige Kronland Dalmatien nach dem Untergang Österreich-Ungarns im 20. Jahrhundert gehört hat: Der im Oktober 1918 auf dem Gebiet der ehemaligen Monarchie entstandene Staat der Slowenen, Kroaten und Serben, den die öffentliche Meinung auch in Dalmatien am Ende des „Großen Krieges” herbeisehnte, wurde am 1. Dezember 1918 Teil eines von Belgrad aus regierten Königreichs. Dieses nannte sich seit 1929 Königreich Jugoslawien. Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges begannen für Dalmatien am 6. April 1941 mit der Bombardierung der Stadt Split durch Flugzeuge des faschistischen Italiens. Mussolini annektierte schließlich den größten Teil Dalmatiens. Bis zum Kriegsende stand die Region dann unter deutscher Besatzung und gehörte zum sogenannten „Unabhängigen Staat Kroatien“, der durch Hitlers Vasallen Ante Pavelic´ regiert wurde, den Führer der nationalistischen Ustasˇa-Bewegung, die ihre ideologischen Vorbilder im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland hatte. Nach dem Sieg von Titos Partisanen im überaus blutig geführten Krieg und Bürgerkrieg wurde im April 1945 in Split die erste kroatische Regierung für die Teilrepublik innerhalb des föderativen Tito-Jugoslawiens gebildet. Dalmatien gehörte somit

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riker haben später hervorgehoben, dass der Sokol Anfang Dezember 1918 „heldenhaft die Stadt (Zagreb, A. J.) und das Volkseigentum vor dem Mob und dem sicheren Untergang“ verteidigt habe.20 Die kroatische Geschichtsschreibung sprach dagegen bereits zu sozialistischer Zeit vom Niedermähen unbewaffneter, republikanisch-kroatisch gesinnter Demonstranten durch Maschinengewehrfeuer am 5. Dezember 1918 am Jelacˇic´-Platz im Stadtzentrum von Zagreb. Das Blutbad, das mindestens 14 Tote unter den Demonstranten forderte, wurde durch „dalmatinische Matrosen, Polizisten und Sokol-Mitglieder (Hervorh. A. J.) unter der Führung des Dr. Grga Andjelinovic´“ verübt.21 Was genau an jenem Tag geschah und eine Woche vorher, als 300 bewaffnete Mitglieder des Sokol, ebenfalls in Zagreb, diesmal unter der Führung eines Bogdan Stopar, am 28. November 1918 eine erste anti-jugoslawische Demonstration erstickten, ist immer noch unzureichend erforscht.22 Bewaffnete „Legionen“ oder „Nationalgarden“, die hauptsächlich aus Sokol-Mitgliedern bestanden,23 erlitten bei verschiedenen Zusammenstößen mit aufständischen kroatischen Bauern im Zwischenmurgebiet gleichfalls Verluste. Diese – in der Diktion des Sokol und spä-

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zunächst zur „Demokratischen Volksrepublik Kroatien“ und später zur „Sozialistischen Republik Kroatien“. Seit der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens im Juni 1991, nach den ersten Mehrparteienwahlen im Jahr 1990, ist Dalmatien Teil der heutigen Republik Kroatien. Die dalmatinische Gesellschaft war noch zu Beginn des 20. Jh. in starkem Maße polarisiert: von den ca. 416 000 Einwohnern im Jahr 1846 waren 90 % Bauern. Das sollte sich noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts kaum ändern. Das „Bürgertum“ bestand hauptsächlich aus Landeigentümern und Beamten, die größtenteils in den Städten lebten. Dazu kam eine überaus dünne Schicht von Gebildeten, die sich aus den höheren gesellschaftlichen Rängen sowie dem Klerus rekrutierten. Als Folge der osmanischen Eroberungen und der späteren Schaffung der Militärgrenze und der Ansiedlung von orthodoxen Wehrbauern überwog im dünnbesiedelten kontinentalen Teil Dalmatiens, im Hinterland von Zadar und um Knin herum, die Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche, während an der Küste und auf den Inseln die Bevölkerung fast ausschließlich katholisch war. ˇ ulinovic´, Ferdo: Jugoslavija izmed¯u dva rata. Zagreb 1961, S. 163 f. Jakovcˇev 1970, S. 30 f.; C Vgl. Kulundzˇic´, Zvonimir : Atentat na Stjepana Radic´a. Zagreb 1961, Kapitel „Masakr republikanaca“, S. 119 ff.; Horvat, Josip: Hrvatska na mucˇilisˇtu. Zagreb 1942, S. 54 ff.; Jankovic´, Dragoslav : Drusˇtveni i politicˇki odnosi, in: Jugoslovensko pitanje i Krfska deklaracija 1917. Godine, in: Historija XX veka, Zbornik radova, Beograd 1969, S. 7 – 107, hier S. 94 f.; ders., Stvaranje prve jugoslovenske drzˇave. Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca (1914 – 1918). Beograd 1977; Muzˇic´, Ivan: Stjepan Radic´ u Kraljevini Srba, Hrvata i Slovenaca. Zagreb 1988, S. 35 f. und auch die Erinnerungen des Garden-Führers in Zagreb, vgl. Mazzura, Lav : ,Pribic´evic´ i Radic´‘, in: OBZOR 1922/63 – 58, S. 3. Vgl. Kolar-Dimitrijevic´, Mira: ,Gospodarsko-socijalni rad narodne vlade Narodnog vijec´a Drzˇave SHS 1918. Godine‘, in: RADOVI ZAVODA ZA HRVATSKU POVIJEST 1993/26, S. 309 – 218. Nach dem 28. November 1918 übernahmen so praktisch der Sokol (und desertierte Soldaten) in manchen Orten kurzzeitig die Macht, wie in der Gemeinde Tisno in Nord-Dalmatien oder der „Grüne Kader“ aus Betina, der ausschließlich aus Mitgliedern des Sokol bestand; vgl. Jakovcˇev 1970, S. 31.

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terer jugoslawischer Historiker „Opfer auf dem Altar der vereinigten Heimat“24 – wurden während der Zwischenkriegszeit zu Märtyrern des Jugoslawismus erklärt. Dementsprechend war im Selbstverständnis des Sokol „in keiner anderen Organisation die jugoslawische Sichtweise so klar, bestimmt und fest“, was den Autor des in der Mitgliederzeitschrift publizierten Artikels „Jugoslovensko sokolstvo“ zu dem Schluss führte, dass „nur die jugoslawische Sokol-Idee“ die „alten Stammessichtweisen“ überwunden habe.25 Doch nicht einmal innerhalb des Verbandes waren diese tatsächlich überwunden. Obwohl es anfangs so aussah, als könnten die Mitglieder des „Hrvatski sokol“ in dem 1919 gegründeten Sokol-Verband im Königreich SHS eine Heimat finden, spaltete sich bereits am 28. Mai 1922 ein wiederum „Kroatischer Sokol“ genannter Teil ab.26 Nach dem Krieg hatten vor allem die Sokol-Verbände aus Dalmatien, die sich auf eigene Initiative in „Jugoslawischer Sokol“ umbenannt hatten, auf eine Vereinheitlichung des Verbandes gedrängt.27 Die Parole „Ein Volk, ein Staat, ein Sokol“ wurde am 28. Juni 1919, dem Vidovdan (Sankt-VeitsTag) mit der Gründung des „Sokolski savez Srba, Hrvata i Slovenaca“ in die Tat umgesetzt. Ein Jahr später wurde der Name dann in „Jugoslovenski sokolski savez“ umgeändert.28 Der Sokol in der Region Split (Sokolska zˇupa Split) gliederte sich in 24 Unterabteilungen und organisierte 1922/23 3167 männliche und 491 weibliche Mitglieder.29 Auch im Selbstverständnis der Bewegung war der Sokol nie nur beschränkt auf Körperertüchtigung: „Der Körper wird in der Sokol-Bewegung begriffen als Materie, aus der die Mittel des organisierten Kampfes für das Bestehen der Nation gewonnen werden, die nicht nur nach außen stark sein will, sondern auch von innen wiedergeboren werden will“, hieß es. Dabei berief man 24 Jakovcˇev 1970, S. 31. 25 Vgl. Petranovic´ 1989, S. 201. 26 Einstimmig beschloss der „Hrvatski sokol“ auf seiner letzten, außerordentlichen Sitzung am 15. 12. 1929, als mit der Gründung des Sokol des Königreichs Jugoslawien alle anderen Vereine mit nationalen Bezeichnungen aufgelöst wurden, nicht dem gesamt-jugoslawischen Verband beizutreten, sondern alle Untersektionen aufzulösen. 27 Mudrinic´, Milutin: Istorija telesnog vezˇbanja, Drugi dio. Zagreb 1938, S. 217; Jakovcˇev 1970, S. 45. 28 Ebd. 29 Gruppen gab es in Donja Kasˇtela, Dugi Rat, Hvar, Igrane, Imotski, Jelsa, Jesenice, Suc´urac, Klis, Knin, Makarska, Milna, Nerezˇisˇc´e, Omisˇ, Podgora, Postire, Selca, Sinj, Solin, Split, Stobrecˇ, Supetar, Trogir und Vranjic. Als „aktive Übungstreibende“ der Region Split galten 626 Männer und 70 Frauen. Der männliche Nachwuchs zählte bei den männlichen Jugendlichen 319, bei den weiblichen 206. Bei den Kindern waren es 589 Knaben und 454 Mädchen. In der Stadt Split sah die Mitgliederstruktur folgendermaßen aus: 3 Ehrenmitglieder, 16 Gründungsmitglieder, 328 „ausgeübte Mitgliedschaften“, davon 239 männliche und 89 weibliche; männliche Jugendliche (14 – 18 Jahre) 80, weibliche 60; Kinder (6 – 14 Jahre): 140 Jungs und 80 Mädchen; vgl. Sˇkarica, Matej (Hg.): Splitski shematizam. Split 1923, S. 77.

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sich auf die obskuren Ideen eines „jugoslawischen Typus“, den der Geograf Jovan Cvijic´ als „dinarischen Typ“ bezeichnet hatte, der „uns den Staat erkämpft“ habe. Zu finden sei dieser Typ Mensch in „Montenegro, in der Herzegowina und in Bosnien, in Dalmatien, Serbien, der Lika, im südlichen Krain und im Küstenland“. Die angestrebten „großen Ziele des Sokol“ seien neben dem Nationalstaat „echte Demokratie, vollkommene brüderliche Gleichheit und Solidarität“.30 Daneben war es wohl auch die Freude an der Geselligkeit und dass man sich in den bunten Uniformen und roten Hemden bei Aufmärschen zeigen konnte.31 Wichtigste Aufgabe des Sokol sei der Kampf für einen jugoslawisch verstandenen Nationalstaat. In Dalmatien, so wurde es in der Verbandszeitschrift betont, habe sich der Sokol „schon immer“ für die Vereinigung eingesetzt und „gegen die Italianisierung“ gekämpft.32 Doch trotz großer Bemühungen der „national bewussten“ Presse wurde bemerkt, dass „die Massen unbeweglich und träge“33 geblieben seien. So kam es nur zu „einigen kleinen Manifestationen“ des Sokol in Split34, die hauptsächlich im öffentlichen mehr oder minder synchronen Vorturnen unter jugoslawischen Fahnen bestanden. Der anti-kommunistische Charakter des Sokol während der Zwischenkriegszeit wird in den Erinnerungen von KP- und Gewerkschaftsfunktionären stark betont, und die oft gewalttätig verlaufenden Auseinandersetzungen werden in fast allen Memoiren beschrieben. Die verschiedenen Sokol-Veranstaltungen in den (wenigen) Industriebetrieben Dalmatiens wurden seitens der Fabrikleitungen „moralisch und materiell“ nach Kräften unterstützt, da doch der Sokol, wie andere pro-jugoslawische Organisationen, den „verhängnisvollen Kommunismus“ unter der Arbeiterschaft bekämpften.35 Unter die zu bekämpfenden separatistischen Tendenzen wurde auch die katholische Kirche subsumiert. Die Bekämpfung des „Klerikalismus“ nahm manchmal drastische Formen an.36 Das Protokoll der „ordentlichen Hauptversammlung der Sektion Split vom 20. Fe-

30 Vgl. Prohaska, Dragutin: O juzˇnoslovenskom tipu cˇoveka – Govor izrecˇen na proslavi drzˇavnoga blagdana u centrali prasˇke Sokolske Jednote, dne 12. prosinca 1920. 31 Vgl. Smodlaka 1972, S. 37 f. 32 SOKOLSKI GLASNIK 1921/1, S. 255. 33 ,Osvrt na sokolske prilike u Primorju u god. 1920‘, in: SOKOLSKI GLASNIK 1921/1, S. 115. 34 Ebd. 35 Vgl. Stanic´, Grisˇa: Radnicˇki pokret i socijalisticˇka revolucija na podrucˇju Omisˇa 1900 – 1950. Split 1981, S. 72 ff., S. 118 ff. und S. 125 f. mit Quellenangaben; vgl. auch zahlreiche Artikel im Organ der Orjuna Pobeda, z. B. POBEDA 1, 06. 01. 1925, S. 3. 36 Jakovcˇev 1970, S. 49 ff., führt zahlreiche Beispiele an, wie die Kirche publizistisch und in Predigten vor dem „atheistischen und gottlosen Sokol“ warnte. Auf den Inseln Bracˇ und Hvar drohten katholische Priester den Gläubigen sogar an, ihnen keine Sakramente mehr zu spenden und auch keine Beerdigungen von Sokol-Mitgliedern durchzuführen. Die Agitation gegen den Sokol gipfelte in der Warnung eines Kaplans: „Was willst Du als Kroate im Sokol? Das ist ein serbischer Verein.“ Vgl. SOKOLSKI GLASNIK, 19. 03. 1933.

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bruar 1921“37 notierte die Klagen über „Schwierigkeiten, die einer erfolgreichen Tätigkeit in der Sektion Split im Wege“ standen, unter besonderem Augenmerk auf die „sehr schlechte finanzielle Situation und auf die Nachlässigkeit einiger lokaler Unterabteilungen“.38 In verschiedenen Artikeln in der Verbandszeitschrift wurde die Rolle im „Kulturkampf“39 in Dalmatien und im gesamten Königreich betont, der „im Geist der jugoslawischen Idee“ geführt werden sollte. Aufgabe sei es: „Kern und Ansporn für das jugoslawische Volk zu sein“. Doch auch hier fand sich die Klage über „unsere tiefschwarze Umgebung, in der geistige Lethargie herrscht“. Gegen die „Vertreter der Dunkelheit“, die (kroatische) katholische Kirche, wurde polemisiert, dass sie „alles, was fortschrittlich und modern ist“, negiere und „ihre dunklen und ungesunden Ideen“ dem Nachwuchs aufdrängen wolle, um so „den ersten Funken der Heimatliebe und des Lichts“ auszutreten. Der Sokol rufe „den Verächtern der Aufklärung, den Freunden der Dunkelheit zu“: Auch wenn ihr euren Einfluss und eure Macht in unserer unglücklichen Heimat verbreitert habt, so braucht ihr nicht einmal davon zu träumen, dass die Falken aus Imotski es zulassen werden, dass der Klerikalismus, der seine giftigen Pfeile auf die Sokol-Bewegung abgeschossen hat, siegen wird. Wir wissen zu gut, dass es unsere Pflicht ist, im Volke all das zu suchen, was uns national einigt, und wir stehen auf gegen alles, was uns entzweit. Eine Sprache, gleiche Bräuche, gemeinsame Ziele und Glaubenstoleranz einigen uns, während uns religiöser Fanatismus und starrsinniger Klerikalismus entzweien.40

Unterstützung in diesem Kampf fand der Sokol natürlich bei der gesamten integralen Presse, vornehmlich in den Presseorganen der Demokratischen Partei. Gegen die „Feinde des Staates“ könne ruhig mit aller Härte vorgegangen werden. Dem Sokol wurde, da er dieselben Anliegen vertrat, in dieser Presse entsprechend viel Platz eingeräumt. Der „klerikale Zorn auf den Sokol“, so der Verband, könne den Sokol nicht davon abbringen, „anständige Bürger und

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SOKOLSKI GLASNIK 1922, S. 261 f. Ebd. Ebd., S. 365. Imotski Sokol u kulturnoj borbi. Nach eigenen Angaben hatte der Sokol von Imotski zwei Jahre nach seiner Gründung 150 Übende beiderlei Geschlechts (Kinder eingeschlossen), und beinahe 220 weitere Mitglieder (ebd., S. 438) bei einer damaligen Einwohnerzahl von „1600 – 1800 Seelen!“ Der Ortsverein war „mit eigenem Blasorchester, Kultur-, Tamburizza- und Schauspielabteilung und Vergnügungsausschuß“ ausgestattet. Er besaß einen „eigenen Lesesaal, eine Bücherei, einen Sommerübungsplatz und beinahe alle nötigen Turngeräte“. Eine eigene Turnhalle fehlte dem Verein „noch“. Die Mitglieder übten „in der Gymnastikhalle der örtlichen Schule, die jedoch zu klein“ sei. An Aktivitäten wurden viele öffentliche Veranstaltungen aufgezählt, eingeschlossen „öffentliche Diskussionen, Ausflüge und öffentliche Übungen“. Vgl. SOKOLSKI GLASNIK 1921, S. 265 f.

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Staatsbürger körperlich und moralisch zu erziehen“.41 Auch die Ortsgruppe aus Vranjic in der Nähe von Split sah sich „allen möglichen anti-nationalen Elementen“ gegenüber, von denen es, so der Sokolski glasnik, „hier viele gibt“.42 Doch hoffnungsvoll wurde „die harmonische Opferbereitschaft unserer Kinder als schönstes Unterpfand einer glücklicheren Zukunft“ gepriesen.43 Diese „glückliche Zukunft“ sah der Sokol in Dalmatien immer mehr durch wachsende national-kroatische oder sozial-kommunistische Stimmungen gefährdet. Erst nach der Proklamation der Königsdiktatur 1929 äußerte sich auch der dalmatinische Sokol wieder zufrieden, und betonte in einem Telegramm an den Monarchen, den „ersten aller Falken im Staate“, dass „ein Staat auch nur ein Volk und einen Namen haben muß, genauso wie nur einen Sokol“.44 Aus zahlreichen Akten im Archiv der Banschaftsverwaltung wird deutlich, dass der Staat solche Loyalität belohnte und den Sokol logistisch und finanziell nach Kräften unterstützte.45 Schenkt man etlichen Dorfchroniken Glauben, so versuchten Sokol und Orjuna in vielen Regionen Dalmatiens „jugoslawische Brüderlichkeit“ auch mit Gewalt durchzusetzen. Die „kulturelle und bildungsmäßige Hebung des Volksniveaus durch Vorträge und Körperertüchtigung“ artete nicht selten in Schlägereien mit kroatischen und linken Vereinen aus. Kroatische Vereine und Parteien hoben hervor, dass sich im Sokol überdurchschnittlich viele Serben in führenden Positionen befinden würden, wenn es auch vorkam, dass eine zum Empfang in voller Montur angetretene Sokol-Formation die kroatische Nationalhymne „Lijepa nasˇa“ intonierte.46 Doch es war nicht zu übersehen, dass der Sokol immer offener ein Instrument der serbischen Dynastie wurde. Dass sich ˇ edo Milic´, nach 1941 C ˇ etnikbeispielsweise der Leiter des Sokol in Mostar, C Verbänden anschloss, war in der Entwicklung der Zwischenkriegszeit angelegt.47 Doch je mehr der Staat an Akzeptanz verlor, umso stärker wirkte sich die massive staatliche Unterstützung für den Sokol negativ für den Verband aus.48 41 42 43 44 45 46 47 48

Vgl. ,Klerikalni bijes na Sokolstvo‘, in: SOKOLSKI GLASNIK 1923, S. 440 ff. Ebd., S. 370. Ebd., S. 439. Telegramm des Sokol an den König, hier zit. nach: Kraljevina Jugoslavija i njena upravna podjela na banovine. Zagreb 1930, S. 20. Vgl. die Akten und Korrespondenz der Kgl. Banschaftsverwaltung bzgl. des Massenaufmarsches (6000 – 8000 Sokol-Mitglieder) am Sankt.-Veits-Tag 1931: Slet sokolstva na Jadranu – Split 1931, 1355/31 vom 13. 05. 1931 im Bestand des Drzˇavni arhiv in Split. JADRANSKA POSˇTA, 26. 08. 1929. Vgl. Grabovac, Viktor : Prolozˇac kroz prostor i vrijeme. Prolozˇac 1995, S. 123. Statistiken (hier zit. nach dem Akten- u. Archivmaterial im Drzˇavni arhiv Split, fond TOK) gaben für 1927 noch die Zahl von 126.567 Sokol-Mitgliedern an (107.223 erwachsene männliche u. 19.334 weibliche Mtglieder), sowie 63.912 Nachwuchsmitglieder im Kinderund Jugendalter. Von den insgesamt 845 Sokol-Sektionen im gesamten Königreich waren in der Region Split 33 und in Sˇibenik 22 registriert. Die Organisationsstruktur des Sokol für das

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Abb. 1: Plakat der Sokol-Versammlung in Split, Juni 1931.

Ab Mitte der 1930er Jahre nahm die Zahl der Mitglieder rapide ab. Immer mehr ehemalige Sokol-Mitglieder blieben einfach weg und zahlten keine Beiträge mehr.49 Als der Vorsitzende der Kroatischen Bauernpartei, Vladko Macˇek, nach 1935 seine Anhänger dazu aufforderte, den Sokol zu verlassen, weil dieser unter der Maske des Jugoslawismus die groß-serbische Unterdrückung Kroatiens unterstützte, hatte sich die politische Situation vollständig geändert. Auch in vielen Orten Dalmatiens schlug dem Sokol in den 1930er Jahren, wie dem jugoslawischen Staat auch, heftiger Widerstand entgegen, so dass mancher Ortsverein des Sokol seine Tätigkeit ganz einstellte. Der Sokol musste konstatieren, dass sich die „Feinde der nationalen und staatlichen Einheit“, wie es in der Diktion des Verbandes hieß, durchgesetzt hatten. An einigen Beispielen lässt Jahr 1938 wird angegeben mit: 25,2 % Bauern, 13,6 % Beamte, 11,9 % Handwerker, 9,3 % Lehrer, 8,0 % Angestellte, 7,9 % Arbeiter, 7,6 % Händler, 3,2 % Soldaten, 2,4 % Schüler und Studenten, 1,4 % Apotheker u. Ärzte, 0,8 % Anwälte, 0,6 % Geistliche, 0,5 % Matrosen u. Fischer sowie 7,5 % sonstige. ˇ 49 Vgl. Glavna skupsˇtina Sokolskog saveza. Beograd 1933, S. 117; JUGOSLAVENSKA RIJEC 09. 03. 1936 und Izvjesˇtaj o radu uprave Saveza sokola Kraljevine Jugoslavije za godinu 1938. Beograd 1938, S. 126 f.

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sich dies gut demonstrieren: Der Ortsverein Stankovci aus Nord-Dalmatien schrieb beispielsweise am 9. Juli 1936, dass er mit „Stammes- und religiöser Intoleranz“ schwer zu kämpfen habe, und den „Schlägen der Klerikalen und des Kroatischen Bauernschutzes“ ausgesetzt sei. Dem Ministerium für Körperertüchtigung in Belgrad teilte die Dachorganisation des Sokol Ende März 1937 mit, dass die Gemeindeverwaltungen von Trogir, Donja Kasˇtela, Kasˇtel Luksˇic´ und Omisˇ den Sokol-Vereinen die Gemeinderäume kündigen wollten. In Orebic´ und Cavtat seien die Gemeindesäle bereits gekündigt worden. Vorher sei in Cavtat das Vereinsheim sogar angesteckt worden. Es wurden fünf Mitglieder der Bauerenpartei verdächtigt, den Brand gelegt zu haben. Am 17. Januar 1938 beschwerte sich der Verband, dass in Gornje selo auf der Insel Sˇolta der Bürgermeister die Einrichtung der an den Sokol vermieteten Räume und die Sportgeräte der Turnhalle einfach auf die Straße gestellt hätte. Die Räumlichkeiten habe er nun der Bauernpartei zum Abhalten von Tanzveranstaltungen überlassen. Das gleiche Vorgehen wurde in Jesenice befürchtet. Solche Fälle von Vandalismus und Feindseligkeit häuften sich.50 Mitte Juli 1938 riefen in einem Demonstrationszug zu Ehren des Geburtstags des Vorsitzenden der Bauernpartei die Anhänger selbiger wüste Drohungen gegen den Sokol aus; Rufe wie „Nieder mit dem Sokol!“ wurden laut. Der Ortspfarrer, so beschrieb es der örtliche Sokol-Vorsitzende, „drohe damit, den Verband auseinanderzujagen. Unter solchem Druck habe der Eigentümer des angemieteten Gebäudes die Kündigung des Vereins in Aussicht gestellt“. Vielerorts kam es nun in Dalmatien zu Übergriffen auf Vereinsheime des Sokol, wie in Solin und Rogoznica Ende Juni 1938. Es werde, wie die Dachorganisation des Sokol in einem Brief schrieb, „öffentlich gegen den König, Jugoslawien und die Serben“ gehetzt, die Mitglieder sollten außerdem innerhalb von acht Tagen in den Bauernschutz übertreten. Der Verband in Rogoznica erbat eine „dringliche Intervention bei der Regierung“, so dass es möglich bleibe, „im freien Vaterland frei die jugoslawische Idee vertreten zu können“. In einem weiteren Schreiben vom 28. Juli 1938, das der Dachverband des Sokol an das Sportministerium richtete, war die Rede von einem Vorfall in Dalmatien, wo sich 500 Mitglieder des kroatischen Bauernschutzes mit Messern, Revolvern und großen Prügeln bewaffnet vor der SokolÜbungshalle „zusammengerottet“ hätten. Zwei Stunden später seien „aus Primosˇten und Umgebung noch 800 weitere Mitglieder, die auf dieselbe Weise bewaffnet waren“, dazugestoßen. Die Polizei habe sich nicht auf die Straße getraut. Für „(jugoslawisch)national gesinnte Menschen“ sei das alles „furchtbar“. Doch der Tag ging glücklicherweise ohne Tote und Verletzte, nur mit 50 Vgl. die Berichterstattung der dalmatinischen Zeitungen. Im Arhiv Jugoslavije wurde das Archiv des Sportministeriums (Fond MFVN, invbr, 71 fasc. 3 jed. 8) von Gojko Jakovcˇev 1970 ausgewertet (a.a.O., S. 52 – 67).

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Sachschaden zu Ende.51 Nicht nur für Dalmatien ließen sich etliche solcher und ähnlicher Fälle berichten. In Zagreb und Slawonien hatte der Sokol einen noch schwereren Stand seit Mitte der 1930er Jahre. Vor allem nach der Schaffung der „Banovina Hrvatska“ (Banschaft Kroatien) 1939 war es endgültig mit der staatlichen Unterstützung des Sokol in den kroatischen Gebieten vorbei. In Sinj wurde das Sokol-Heim von der Verwaltung der Banschaft versiegelt, so dass es nicht mehr benutzt werden konnte, nachdem sich der Sokol vorher geweigert hatte, der Aufforderung des Bürgermeisters Anicˇic´ Folge zu leisten und das Haus zu räumen.52 Im Dorf Betina in der Gemeinde Sˇibenik, das 1918 eine komplette Sokol-Garde gestellt hatte, wurde der „psychische und physische Druck“ der Anhänger der Kroatischen Bauernpartei schließlich so stark, dass am 16. Oktober 1939 aufgebrachte Demonstranten während einer Sokol-Veranstaltung die Teilnehmer zwangen, das Heim zu verlassen, um es dann zu demolieren. Am nächsten Tag kehrten sie noch einmal zurück, warfen die zertrümmerten Möbel auf die Straße und zündeten sie an, „tanzten um das Feuer und schossen in die Luft aus Pistolen und Gewehren“. Dem Sokol sei ein „Schaden von ca. 15.000 Dinar“ entstanden. In seinem Brief machte der örtliche Vorsitzende dafür „die Mitglieder des Bauernschutzes und der ,Gospodarska sloga‘ von Betina“, also Anhänger der Kroatischen Bauernpartei, verantwortlich.53 Auch die Konfiszierung von drei Jagdgewehren durch Mitglieder des Bauernschutzes in Sukosˇan, für die die Sympathisanten des Sokol und der Regime-Partei JRZ eine „Genehmigung“ gehabt hätten, und eines Revolvers am 11. Februar 1940 in Vrsina bei Zadar sind später von manchen Autoren, die mit dem Sokol sympathisierten, als Beispiel der „Verfolgung“ des Sokol angeführt worden.54 Nach den Angaben der Zeitschrift Soko na Jadranu gab es zwischen 1939 und 1940 90 Fälle von „Entlassungen und Versetzungen“ von Sokol-Mitgliedern als Schikanen der kroati-

51 Arhiv Jugoslavije, Fond MFVN, inv.br. 71 fasc. 14 jed. 8, hier nach Jakovcˇev 1970, S. 56 ff. 52 Vgl. Die Aktenbestände ebenda unt. D. Signatur AVII, k. 6, f. 2 dok. 24, hier zit. nach Jakovcˇev 1970, S. 67. 53 Vgl. Die Aktenbestände ebenda unt. D. Signatur AVII, k. 6, f. 2 dok. 26, hier zit. nach Jakovcˇev 1970, S. 67 f. Interessanterweise schreibt der Verfasser, der für seine Arbeit Mitglieder des Sokol aus Betina befragt hat, in einer Fußnote (FN 46, 69), dass „die jüngeren Mitglieder des Vereins auch nach Zerstörung ihrer Übungsräume […] mit der vormilitärischen Ausbildung […] fortfuhren, um sich so auf die Verteidigung des Landes vorzubereiten“. Jakovcˇev lobt dieses „patriotische und enthusiastische“ Verhalten der Sokol-Organisation. Möglicherweise hätte er darin aber auch den Grund, der ihm unklar bleibt, für die Verwüstungsaktion entdecken können? 54 Vgl. Jakovcˇev 1970, S. 70 f. Er dokumentiert aber nur einen einzigen Fall von Körperverletzung und Mord. Karlo Kuzmanic´, Mitglied des Sokol von Milna auf der Insel Bracˇ, wurde am 16. 07. 1940 von „einer Gruppe von Mitgliedern des Bauernschutzes“ verprügelt und erlag später im Krankenhaus von Split seinen Verletztungen. Vgl. SOKO NA JADRANU, 1940/8 – 9, S. 72.

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schen Behörden an der Küste. Immer mehr Ortsvereine in Dalmatien lösten sich auf. Am 26. Oktober 1940 fand die zehnte ordentliche Versammlung des jugoslawischen Sokol in Belgrad statt, wo eine ernüchternde Bilanz gezogen wurde: „Das Jugoslawien, für das die Sokol-Bewegung gekämpft hat und für dessen Verwirklichung es eingetreten ist“, gäbe es nicht mehr. Der Kampf gegen den Sokol in Kroatien sei „ein Kampf gegen den Jugoslawismus, gegen die Idee der staatlichen und nationalen Einheit“. In einer besonderen „Resolution“ wurden die unter „gesetzlosen Angriffen leidenden Brüder und Schwestern“ in Kroatien der „vollen Hilfe und Unterstützung“ versichert.55 Die „Feinde des Sokol“ würden „alle Mittel“ nutzen, um die Arbeit des Verbandes zu verunmöglichen. Sokol-Heime würden geschlossen oder konfisziert, weswegen „viele Untergliederungen auf dem Gebiet der Banschaft Kroatien die Arbeit verringern oder einstellen“ müssten.56 Letztlich wurden fast alle Ortsvereine in Kroatien aufgelöst. Alle noch verbliebenen Mitglieder des Sokol wurden aufgefordert „unbedingt“ zur Jahreshauptversammlung zu kommen, die knapp drei Monate vor dem definitiven Ende des ersten jugoslawischen Staates nach dem Überfall der Achsenmächte im April 1941 einberufen wurde.57 Das völlige Fiasko der 1918 angetretenen Kräfte, welche die (süd)slawische Brüderlichkeit und eine „jugoslawische Synthese“ erstrebt hatten, wird somit auch in der Geschichte des Sokol in den kroatischen Gebieten vor dem endgültigen Ende des ersten jugoslawischen Staates deutlich.

Abbildungen Abb. 1: Plakat der Sokol-Versammlung in Split, Juni 1931.

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Christian Voß (Berlin)

Zur Vergleichbarkeit jugoslawischer und EU-europäischer Brüderlichkeitsdiskurse – aus Sicht der Eurokrise seit 20101

Angesichts der im Kontext der Eurokrise und der drohenden Pauperisierung der südeuropäischen EU-Mitglieder zu beobachtenden Entsolidarisierung und Renationalisierung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zwingt sich der Vergleich zu einem anderen supranationalen Experiment des 20. Jahrhunderts auf: Jugoslawien kann von seinem Ende her beschrieben werden als ein Bundesstaat, dem in der verschärften ökonomischen Krisensituation der 1980er Jahre das schon vor der Staatsgründung 1918 bestehende massive Nord-SüdWohlstandsgefälle zum Verhängnis wurde: Zwischen den wohlhabenderen nördlichen Republiken und den weniger industrialisierten Republiken im Süden wurde ein Stereotypen- und Feindbildhaushalt aktiviert, der später in offenen hate speech umschlug und die diskursive Prädisposition für die gegen die Zivilbevölkerung gerichtete ethnische Gewalt wurde. Dieser Prozess scheint in der Europäischen Union in Gang zu sein: Begonnen hat er mit dem FOCUS-Artikel Betrüger in der Euro-Familie, letzter Höhepunkt ist der diplomatische Eklat um den Ausspruch von Peer Steinbrück bezüglich der italienischen „Polit-Clowns“ im Februar 2013.

Zur Kommensurabilität supranationaler Verbünde Der Vergleich des jugoslawischen und EU-europäischen Selbstverständnisses zwischen Familienverband und Solidargemeinschaft hat seinen Ausgangspunkt in augenscheinlich parallelen Slogans wie „Jugoslawien: Land der Völker Jugoslawiens“, „Brüderlichkeit und Einigkeit“ und dem EU-Leitspruch „In Vielfalt geeint“ oder „Europa der Völker“. Es geht um die Frage des Umgangs mit kul1 Der vorliegende Text ist eine gekürzte Fassung meiner Antrittsvorlesung an der HumboldtUniversität zu Berlin am 01. 02. 2008; vgl. Voß, Christian: Einheit in der Vielfalt? Eine Gegenüberstellung der Kulturpolitik in Tito-Jugoslawien und der Europäischen Union. Berlin 2008.

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tureller Vielfalt. Zunächst soll eine formelhafte Ebene adressiert werden: Peter Stachel et al. haben unterschiedliche Identitätsmodelle beschrieben, die sie auf das Habsburgerreich und die USA angewendet haben und die hier nun auf Jugoslawien und die EU angewendet werden sollen.2 Zunächst besteht das Uniformitätsmodell: A + B + C = A: Der ethnisch homogene Nationalstaat hat nur Platz für eine Religion, Sprache und Kultur. In gewisser Hinsicht waren die Serben nach 1918 die Variable A in diesem Modell. Das Komponentenmodell, das wir in konföderativen und föderalistisch organisierten Gemeinwesen treffen, trägt die Formel A + B + C = A + B + C. Das Emergenzmodell hingegen, das infolge eines Austauschprozesses die Verschmelzung der beteiligten Gruppen zu einer neuen Einheit zur Folge hat, lautet A + B + C = D. Titos Jugoslawien kann in der Frühphase als Emergenzmodell bezeichnet werden, nach dem Föderalisierungsschub 1974 als Komponentenmodell. Für die EU stellt sich nun die Frage, ob bei gegenseitiger Annäherung der europäischen Nationalkulturen ein Weiterbestehen der Vielfalt angestrebt wird, oder ob die Stärkung von Regionalismen die nationale Ebene weitgehend neutralisieren soll: Dies entspräche der Formel A + B + C = AD + BD + CD oder sogar = DA + DB + DC. Vor dem jugoslawischen Hintergrund soll der Frage nachgegangen werden, ob die kulturelle Vielfalt, metaphorisch gesprochen, Sand oder Öl im Getriebe der europäischen Einigung ist. Der Vergleich Jugoslawiens mit der EU ist nicht neu, und er ist sehr unterschiedlich besetzt worden: Jugoslawien war spätestens seit der Niederschlagung des Prager Frühlings eine Projektionsfläche für Träume der Linken – dies gilt für den Westen wie für den Osten. Seit einigen Jahren wird diese Sicht jedoch revidiert und durch Kritik an der jugoslawischen Nationalitätenpolitik ersetzt – stellvertretend sei hier Mappes-Niediek genannt:3 „Die Europäische Union ist viel zu hochmütig, um zu begreifen, wie jugoslawisch ihre Probleme sind.“ Aus einem anderen ideologischen Lager kommt ein ähnlicher Vorstoß, der das jugoslawische Desaster ebenfalls nicht als etwas Vergangenes, sondern als ein Zukunftsszenario für den Westen auffasst. Im Unterschied zur linken Position, die die künstliche Ethnisierung der Gesellschaft beklagt, ist kulturelle Andersheit für Samuel Huntington eine primordiale Größe, die zudem immer konfliktträchtig und gefährlich ist. Bereits in Clash of Civilizations hat er den Bosnien-Krieg 1992 – 1995 als typischen Bruchlinienkrieg dargestellt, der vor 2 Stachel, Peter / Ornig, Nikola / Weiler, Bernd: ,Methodische Überlegungen zur vergleichenden Analyse politischer und kultureller Beziehungen in multiethnischen Gesellschaften‘, in: Cs‚ky, Moritz et al. (Hg.): Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne. Innsbruck u. a. 2004, S. 45 – 62, hier S. 51 – 54. 3 Mappes-Niediek, Norbert: Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann. Berlin 2005, hier S. 23.

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allem in der Konfrontation von muslimischen und nichtmuslimischen Gruppen seine Brisanz erlange.4 Diesen Aspekt fokussiert Huntington 2004 und vergleicht die bosnischen Muslime Jugoslawiens mit den sogenannten Hispanics in den USA:5 An der qualitativ und quantitativ neuen Immigration von spanischsprachigen Mexikanern drohe die integrativ-assimilierende Kraft des American Dream zu zerbrechen, der den Kern der US-amerikanischen Identität ausmache. Der fehlende Wille zur kulturellen und sprachlichen Integration der Hispanics, die in einigen Jahrzehnten die weiße Bevölkerung der USA majorisieren werden, eröffne eine inneramerikanische Kulturkampffront, die zu einem nativistischen white nationalism führen werde. Dies bringt ihn dann dazu, das Verhältnis zwischen Hispanics und den sogenannten Wasps (White Anglo-Saxon Protestants) mit dem von Muslimen und Serben in Bosnien-Herzegowina seit den 1960er Jahren gleichzusetzen: Es reiche die gefühlte Bedrohung und Marginalisierung, damit sich die dominante, sich als Staatsgründer begreifende Gruppe nationalistisch geriere. Dieser Vergleich ist unter der Rubrik „Trivialisierung des Balkans“ abzulegen in dem Sinne, dass man das jugoslawische Desaster überhaupt für einen Vergleich mit dem Westen zulässt, und es sei auf das Buch des Nobelpreisträgers Amartya Sen 2007 verwiesen:6 Sen wirft Huntington vor, den Menschen auf eine einzige, kulturellreligiöse Identität zu reduzieren, hierbei seine Wahlfreiheit aus einer Vielzahl von Gruppenzugehörigkeiten einzuschränken und so eine Ideologie der Gewalt voranzutreiben.

Jugoslawische Brüderlichkeit vor 1944 Das jugoslawische Mantra lautete „bratstvo i jedinstvo“ – „Brüderlichkeit und Einigkeit“. Dass es mehr war als ein rhetorisches Echo der Französischen Revolution, werde ich nun in einem Kurzporträt Jugoslawiens darlegen: „Jugoslawien“ war das „Land der Südslawen“. Das slawische Wort jug „der Süden“ hat zwei Ableitungen: Die gewöhnlichere juzˇno- ist wertneutral, während das Kompositumsvorderglied jugo- auf tschechische Panslawisten des 19. Jahrhunderts zurückgeht und somit immer programmatisch und politisch verwendet wurde.7 In dieser Form ist es bis in die moderne Alltagswelt vorgedrungen: Stolz auf eine der wenigen südosteuropäischen PKW-Produktionen, 4 Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München/Wien 1996. 5 Huntington, Samuel P.: ,The Hispanic Challenge‘, in: FOREIGN POLICY 2004/3 – 4, S. 30 – 45. 6 Sen, Amartya: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München 2007. 7 Garde, Paul: Le discours balkanique. Des mots et des hommes. Paris 2004, hier S. 181 – 182.

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belegte man den jugoslawischen Fiat-Ableger liebevoll mit dem politischen Programm. Jugoton war folgerichtig das bekannteste Schallplattenlabel, die Badelatschen für den Strand waren von Jugoplastika, Jugosˇik hieß das beste Belgrader Modehaus. Die Einigung der Südslawen geschah im 19. Jahrhundert zunächst auf sprachlicher Basis.8 Der Jugoslawismus als kulturelles Integrationsprogramm war gewissermaßen ein antibalkanisches Modell, wenn man ihn mit Bulgarien, Griechenland oder Rumänien und ihrem Umgang mit Minderheiten im 20. Jahrhundert vergleicht. Das Jugoslawien der Zwischenkriegszeit folgte dem Verfassungsprinzip „eine Nation – ein Staat“, und zwar in extrem gewöhnungsbedürftiger Form: Serben, Kroaten und Slowenen galten als Stämme eines dreinamigen Volkes, das aber der monarchistischen Dynastie Serbiens huldigen musste. Dies entsprach dem serbischen Selbstverständnis, die kleinen Brüder befreit zu haben, die sich angesichts des Belgrader Zentralismus recht bald als die ,Jugo-Ossis‘ fühlten. Titos Staat war eine Kurskorrektur der Nationalitäten- und Sprachenpolitik dieses Ersten Jugoslawiens. Das erste Jahrzehnt nach 1945 – und dies macht es vergleichbar mit der Europäischen Bewegung derselben Zeit – lebte vom Impetus des „Nie wieder Krieg gegeneinander“. Das Ideologem „jedinstvo“ war nun nicht mehr oktroyierte Serbisierung, die im Gewand eines ethnonational definierten Jugoslawentums daherkam. Nein, Jugoslawien wurde jetzt vor allem politisch definiert – durch sein sozialistisches Gesellschaftsmodell, das sich die Jugoslawen, so die offizielle Lesart, im gemeinsamen Kampf gegen die italienischen und deutschen Besatzer mutig erkämpft hatten. Dennoch bediente sich die Symbolik im ethnonationalen Arsenal, ablesbar etwa am ethnischen Feindbilderhaushalt als Basis für den paranoiden Diskurs permanenter Bedrohung von außen oder an der aus dem 19. Jahrhundert übernommenen Nationalhymne „Hei Ihr Slawen“, in der der „slawische Geist“ als „Geist unserer Ahnen“ besungen wird.9

Eine postnationale brüderliche Kultur? Wie wurde nach 1944 versucht, eine supranationale jugoslawische kulturelle Identität zu schaffen? Die Ausgleichspolitik zwischen Kroaten und Serben nach 8 Zum größeren ideologischen Rahmen vgl. den Sammelband von Glanc, Tom‚sˇ / Meyer, Holt (Hg.): Inventing Slavia. Prag 2005; Merchiers, Ingrid: Cultural Nationalism in the South Slav Habsburg Lands in the Early Nineteenth Century. The Scholarly Network of Jernej Kopitar (1780 – 1844). München 2007. 9 Im Original lautete die erste Strophe: „Hej Sloveni, josˇ ’te zˇivi duh nasˇih dedova, dok za narod srce bije njihovih sinova.“

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1945 musste auch auf sprachlicher Ebene geregelt werden. Im Jahr 1954 wurde daher ein prominent besetztes Sprachkomitee einberufen. Im Abkommen von Novi Sad erklärte man Serbokroatisch (oder Kroatoserbisch) zu einer Sprache, die über zwei „Aussprachen“ (izrazi) verfüge. Andere Unterschiede wurden nicht zugestanden: Die Konkurrenz zwischen Kroatisch und Serbisch – hier euphemistisch als „westlich“ und „östlich“ bezeichnet – wurde auf einen Dualismus reduziert, der angeblich nur im Schriftsystem und der Dialektbasis existierte. Das Novi Sad-Abkommen war die von oben bestellte Umsetzung der neuen „bratstvo i jedinstvo“-Ideologie auf sprachlicher Ebene, die die Egalität der beiden Varianten betonte. Kulturikone Jugoslawiens war Ivo Andric´, ein Katholik aus einer bosnischserbischen Grenzstadt, der im Ersten Jugoslawien Karriere als Diplomat gemacht und nie kommunistische Anwandlungen gezeigt hatte. Seine 1961 nobelpreisgekrönten historischen Romane zu Bosnien überspannten in der auktorialen Erzählposition die Sichtweisen der Ethnien in Bosnien und lieferten eine wichtige Lektion für das jugoslawische nation-building: Kulturelle Differenz kann zwar nicht aufgehoben werden, aber sie kann in Formen von Koexistenz funktionieren, Gegensätze können letztlich gelöst werden, und dies in einer Region Jugoslawiens, die vertikal und horizontal durch kontinuierliche und radikale kulturelle Mischung geprägt ist. Der Bruch mit Stalin und das Ausscheren aus dem Ostblock 1948 hatten Tito zu einem maßgeblichen Architekten der Blockfreien-Bewegung gemacht – die Bevölkerung nahm dies vor allem im Sport wahr : Jugoslawien spielte bei Basketball-Weltmeisterschaften der 1970er und 1980er Jahre meist im Endspiel mit der UdSSR oder den USA. Der Jugo-David stellte so die Aufteilung der Welt in zwei Reiche in Frage.10 Heute spielen die Ex-Jugoslawen vor allem Tennis – auch dies sehr erfolgreich, aber eben ohne kollektiven Subtext. Der Selbstanspruch, dass sich im Kommunismus die nationale Frage von allein löse, konnte für Jugoslawien nur bedingt gelten, da offensichtlich zwischen „schlechten“ und „guten“ Nationalismen unterschieden wurde: Bekämpft wurde der Nationalismus in Serbien und Kroatien, da er mit Hegemonismus bzw. Separatismus verbunden wurde, hochgepäppelt hingegen wurden alle kleineren Nationen – bis auf die Albaner, die als Nichtslawen ja bereits per Definition nicht dazugehörten und eher eine serbische Kolonialschuld darstellten. Die Nationalitätenpolitik stellte das Bestehen alter nationaler Identitäten nicht in Frage, sondern konstruierte in der Verfassung von 1946 sechs Repu10 Dimitrijevic´, Branislav : ,Sozialistischer Konsumismus, Verwestlichung und kulturelle Reproduktion. Der ,postkommunistische‘ Übergang im Jugoslawien Titos‘, in: Groys, Boris et al. (Hg.): Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus. Frankfurt/M. 2005, S. 195 – 277, hier S. 197.

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bliken, frei nach dem Motto „national in der Form, sozialistisch im Inhalt“. Diese Republikgrenzen scheinen heute selbstverständlich, da Jugoslawien nach 1991 entlang dieser Linien auseinandergebrochen ist. So einfach ist es aber nicht. Wo kommen diese Grenzen her? Im Ersten Jugoslawien waren sie bewusst verwischt worden. Umso kurioser erscheint dieser Rückgriff auf historische Legitimation durch die Kommunisten. Mit der Kooptation der bosnischen Muslime im Laufe der 1960er Jahre war das verhängnisvolle Konstrukt geschaffen, das jeder Nation in Jugoslawien eine Republik, ihr homeland, zuordnete; oder anders gesagt: Jede Republik bildete den Kern einer Nation. Diese Logik hatte auch eine sprachliche Komponente:11 Die Verfassung von 1974 schrieb auf Republikebene ein montenegrinisches und ein bosnisch-herzegowinisches „Standardidiom“ fest und territorialisierte somit das Serbokroatische in vier Sprachvarietäten: Diese Verstärkung der Verbindung zwischen Ethnizität, Identität und Sprache hat in vielem die postjugoslawische Entwicklung vorweggenommen.

Renationalisierung in der Kultur (am Beispiel Film und Sprache) Die heutigen Debatten um Jugoslawien drehen sich vor allem um die Gründe für sein Scheitern: Warum ist gerade dieses im osteuropäischen Vergleichsrahmen so offene und kulturell verwestlichte Land in derartigen Gewaltexzessen versunken? Einen konzisen Überblick geben Crawford und Ramet.12 Als Kern eines Clusters von Erklärungsansätzen ist es nach Ramet und auch Crawford vor allem das Zusammenspiel von zwei Faktoren, das die akute Legitimitätskrise Ende der 1980er Jahre hervorgerufen hat: der wirtschaftliche Verfall infolge des ineffizienten eigenständigen Sozialismus-Modells (der sog. Arbeiterselbstverwaltung), und der ethnisch definierte föderative Charakter des Landes. Die entscheidende Zäsur in der jugoslawischen Politik unter Tito markierten die frühen 1960er Jahre, als die Idee der jugoslawischen Integration zugunsten einer Renationalisierung bzw. Reethnisierung der Gesellschaft aufgegeben wurde. Es ist zu betonen, dass diese Sichtweise in diametralem Gegensatz zur landläufigen Meinung steht, Tito habe die Völker Jugoslawiens bis zu seinem 11 Blum, Daniel: Sprache und Politik. Sprachpolitik und Sprachnationalismus in der Republik Indien und dem sozialistischen Jugoslawien (1945 – 1991). Würzburg 2002. 12 Crawford, Beverly : ,Explaining Cultural Conflict in Ex-Yugoslavia: Institutional Weakness, Economic Crisis, and Identity Politics‘, in: Crawford, Beverly / Lipschutz, Ronnie D. (Hg.): The Myth of ,Ethnic Conflict‘. Politics, Economics, and ,Cultural‘ Violence. Berkeley 1998, S. 197 – 260, hier S. 230 ff.; Ramet, Sabrina P.: Thinking about Yugoslavia. Scholarly Debates about the Yugoslav Breakup and the Wars in Bosnia and Kosovo. Cambridge, New York 2005, hier S. 67.

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Tod mit eiserner Faust zusammengehalten. Die neue Politik führte zur „Föderalisierung der Föderation“, die in der Verfassung von 1963 den Republiken erstmals das Sezessionsrecht einräumte. Föderalismus war in Jugoslawien also niemals dekorativer Deckmantel eines straffen Zentralstaates, sondern ist bis an die Grenzen des Konföderativen gegangen: der Bundesstaat als Staatenbund. Diese staatlich geförderte Bildung von separaten, national definierten Kulturblöcken geschah im Kontext politischer Liberalisierung nachdem 1966 der serbische Geheimdienstchef Rankovic´ gestürzt worden war. Innerhalb der jugoslawischen Gesellschaft sollte die immer stärkere Verlagerung von politischer Macht auf die Republiken in den 1960er und 1970er Jahren, etwa durch den Republikproporz im Parteipräsidium, verheerende Folgen haben: Als Versuch der Partei, nationale Spannungen zu entschärfen, hat diese Politik letztlich versagt: Indem man neben dem Kommunismus keine anderen Legitimationsideologien zuließ, ging das zentripetale Element des „jedinstvo“ allmählich unter. Kulturpolitisch war der Dezentralisierungsschub ebenfalls spürbar : Die Zielvorgabe der Schaffung einer spezifisch jugoslawisch-sozialistischen Einheitskultur wurde durch die Interpretation von kultureller Differenz als Zeichen der Stärke abgelöst: Multinationalität wurde zentraler Bestandteil der jugoslawischen Selbstdarstellung im In- und Ausland. Dieser Prozess, der als zentrale These zu Jugoslawien und zugleich als Brücke zum folgenden EU-Vergleich fungiert, soll anhand von zwei Fallbeispielen belegt werden:13 zunächst anhand von Partisanenfilmen, dem wohl prägnantesten Teil des jugoslawischen Bildergedächtnisses, dann in deutschen Sprachlehrbüchern.

Jugoslawische Selbstinszenierung im Film Das für die jugoslawische Kohäsion nach 1945 so zentrale Genre des Partisanenfilms lässt eine deutliche Dynamik bei der Reinszenierung ethnonationaler Differenz erkennen. Gewiss waren Titos Partisanen eine supraethnische Kampfeinheit, und dennoch entsprach die monopolisierte offizielle Erinnerungskultur nicht der Realität. Das Ende Jugoslawiens kündigte sich in den 13 Vgl. Voß, Christian: ,Dimensionen von Ethnizität im titojugoslawischen Partisanenfilm‘, in: Ressel, Gerhard (Hg.): Vom Umgang mit Geschehenem: Mechanismen der Kriegsverarbeitung und Strategien der Friedenssuche in Geschichte und Gegenwart der kroatischen und serbischen Literatur und Kultur. Frankfurt/M. 2011, S. 267 – 277; Voß, Christian: ,Serbokroatizität in deutschsprachigem Lehrmaterial des Serbokroatischen (bzw. des Kroatischen und Serbischen) in jugoslawischer und postjugoslawischer Zeit‘, in: Raecke, Jochen / Golubovic´, Biljana (Hg.): Bosnisch/Kroatisch/Serbisch als Fremdsprache an den Universitäten der Welt. München 2008, S. 203 – 216.

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1980er Jahren vor allem auch dadurch an, dass dieses Trugbild durch einen inoffiziellen Diskurs der Gegenerinnerung zersetzt wurde.14 Für einige der Partisanenfilme hat Tito persönlich die Zensur übernommen, so dass sie unmittelbar die staatliche Linie widerspiegeln. Der erste jugoslawische Film15 nach 1945 Slavica hat innerhalb eines Jahres mehr als zwei Millionen Kinozuschauer gehabt. Diese enorme Zahl ist dadurch zu erklären, dass der in Schuljahrgängen organisierte Kinobesuch von Kriegsfilmen als Abhärtungsmaßnahme der Pioniere gedacht war – wenn Kinder heulten, mussten sie den Film ein zweites oder drittes Mal anschauen.16 Slavica spielt in einem Fischerdorf mit markant dalmatinischem Dialekt: Eine Dorfgemeinschaft weigert sich, ein neu gebautes Boot den italienischen Besatzern zu überlassen, wird somit kriminalisiert und schließt sich der Partisanenbewegung an, die in Dalmatien tatsächlich den größten Zulauf innerhalb Kroatiens hatte. Der Film – im Jahr 1947 noch gezeichnet durch die sowjetische Ästhetik des Sozrealismus – umgeht das Tabu des serbisch-kroatischen Antagonismus und ˇ etnici, indem er mit Dalmatien einen monoethnischen Neder Ustasˇe und C benkriegsschauplatz wählt, der gewissermaßen als Indigenisierung des Kommunismus auf kroatischem Boden gelesen werden kann und eine starke Inklusionswirkung ausgeübt hat. Slavica ist übrigens ein Frauenname, auf den hier neben der Titelheldin auch das Boot getauft wird, mit zumindest volksetymologischer Nähe zum Staatsnamen. Der zweite Film Diverzanti (Die Saboteure) von 1967 inszeniert bereits offensichtliche Solidarität der unterschiedlichen Ethnien Jugoslawiens und ist ein prominentes Beispiel für das Genre der jugoslawischen „Roten Western“, die weltweit populär waren: In der Volksrepublik China war der Partisanenfilm „Walter verteidigt Sarajevo“ desselben Regisseurs der meistgesehene Film aller Zeiten, so dass für den Hauptdarsteller Velimir Bata Zˇivojinovic´ gar die Biermarke „Walter“ auf den Markt gebracht wurde.17 Im Film Diverzanti geht es um ein achtköpfiges Himmelfahrtskommando, das einen deutschen Luftwaffen14 Sundhaussen, Holm: ,Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten. Konstruktion, Dekonstruktion und Neukonstruktion von „Erinnerungen“ und „Mythen“‘, in: Flacke, Monika (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Mainz 2004, S. 373 – 413, hier S. 385 ff. 15 Zum jugoslawischen Film vgl. Goulding, Daniel J.: Liberated Cinema. The Yugoslav experience, 1945 – 2001. Bloomington, Indianapolis 2002, sowie Levi, Pavle: Disintegration in Frames. Aesthetics and Ideology in the Yugoslav and Post-Yugoslav Cinema. Stanford 2007. 16 Zur Gewaltverherrlichung in Jugoslawien vgl. Basˇic´, Natalija: ,Jeder Tag war „Allgemeine Volksverteidigung“ (ONO). Zur militaristischen Kultur und Gewalterziehung im sozialistischen Jugoslawien (SFRJ) 1945 – 1990‘, in: JAHRBÜCHER FÜR GESCHICHTE UND KULTUR SÜDOSTEUROPAS 2002/4, S. 69 – 90; Basˇic´, Natalija: ,Der Zweite Weltkrieg im Fernsehen. Filmpartisanen im kroatischen und serbischen Familiengedächtnis‘, in: ETHNOLOGIA BALKANICA 2004/8, S. 57 – 77. 17 Adric´, Iris et al. (Hg.): Leksikon YU mitologije. Belgrad, Zagreb 2004, hier S. 443.

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stützpunkt angreifen soll, um den in Bosnien eingekesselten Partisanen den Rückzug zu ermöglichen. In der Truppe befinden sich u. a. der Roma Gavran und als Sprengstoffexperte ein jugoslawischer Jude, der in Heidelberg studiert hat. Die Gruppe ist also erkennbar multiethnisch, allerdings betont sie nicht eine serbisch-kroatische Männerfreundschaft, sondern zwei marginale Ethnien. Der Jugoslawismus der Männer wird also nicht positiv, sondern gewissermaßen negativ definiert: Der Hass der Deutschen auf sie macht sie zu Kampfgefährten, was sich etwa in einer Szene äußert, als die Saboteure gefangen genommen werden und der deutsche Kommandant den deutschsprachigen Juden fragt, wie er den Gestank des Zigeuners aushalten könne. „Bratstvo i jedinstvo“ wird also auch in diesem Film auf einer unpolitischen, wenig brisanten Ebene behandelt. Dies ändert sich mit zwei berühmten Filmen: Bitka na Neretvi (1969) und Sutjeska (1973). Hier wird historische Realität in einer zuvor nicht gekannten Weise zugelassen, indem die militärische Frontsituation nicht mehr auf den Gegensatz Partisanen versus deutsche Besatzer heruntergebrochen wird, sondern die beiden zunächst sehr viel gefährlicheren ideologischen Gegner der ˇ etnici – dargestellt werden. Dies war heikel: Beide Partisanen – Ustasˇe und C extremistischen Gruppen haben eine unverhohlene Genozid-Politik betrieben, gelten heute aber als Symbol für den kroatischen und serbischen militanten Nationalismus. Angesichts erster Legitimitätskrisen Tito-Jugoslawiens stellen diese beiden Filme sozusagen eine cineastische Großoffensive dar, um mit nationalem und internationalem Staraufgebot den zentralen Gründungsmythos zu betonieren: Richard Burton, Orson Wells, Curd Jürgens, Irini Papa. Der reflexartige Griff in die historische Mottenkiste scheint der letzte Trumpf des Jugoslawismus gewesen zu sein. Beide Filme zeichnet das Phänomen „ethnischer Salienz“ aus. Hiermit ist die demonstrativ inszenierte Ethnizität gemeint. Sie funktioniert auf der Ebene der Namensgebung, von eingespielten Liedern, Gebäuden oder Denkmälern, oder auch im Sprachgebrauch: Yul Brynner als Vlado in Schlacht an der Neretva verwendet etwa den Diskursmarker „bolan“ und ist so eindeutig als Bewohner Bosniens erkennbar. Dies wird noch deutlicher in Igmanski marsˇ (Marsch über den Berg Igman) von 1981: Stärker als zuvor wird Jugoslawien hier nicht als Land der Jugoslawen, sondern der Völker Jugoslawiens vorgeführt, die durchweg eine stereotype ethnische Identität besitzen. In der Eingangsszene versammeln sich junge Kämpfer und alte Kommunisten aus der Zwischenkriegszeit in einem bosnischen Dorf. Ein junger Serbe aus Kragujevac sieht eine montenegrinische Truppe und fragt seinen Kommandanten: „Gibt es hier irgendjemanden ohne Schnauzbart?“ („Ima li neko bez brkova?“). Auch in anderen Szenen ist die ethnische Salienz sehr hoch: Zwei Männer treffen sich vor dem Abmarsch am

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Feuer zum Aufwärmen: Der Bosnier Mustafa und Gane aus Kragujevac. Als das Signal zum Abmarsch kommt, verabschieden sie sich wie folgt: „Wo gehst Du hin, Bosnier? – Man sieht sich, Sˇumadiner!“ Die Sˇumadija gehört zu Kernserbien und kann daher als prototypisch gelten.

Jugoslawische Selbstinszenierung im Fremdsprachenunterricht In einer Analyse von deutschen Lehrwerken des Serbokroatischen kann zu dem Ergebnis gekommen werden, dass seit den frühen 1970er Jahren Lehrwerke dominieren, die die Polarität des Serbokroatischen selbstbewusst darstellen und auf diese Weise die sprachpolitische Entwicklung nach 1991 antizipieren. Die Verfassung von 1974 bestätigte exakt die Forderungen des bereits erwähnten politischen Kroatischen Frühlings 1967 – 1971, für die die kommunistische Parteispitze Kroatiens entmachtet worden war, nämlich die „Freiheit des Bekenntnisses zu ihrer nationalen Kultur und die Freiheit des Gebrauchs ihrer Sprache und Schrift“ und auch der Sprachbezeichnung. Die kroatische Verfassung von 1974 verwendete dann eine diplomatische Amtssprachenbezeichnung: „kroatische Schriftsprache, die auch ,kroatisch oder serbisch‘ genannt wird.“ Nach mehreren Jahrzehnten orthografischer und allgemein normsprachlicher Deprivation ging es um nicht weniger als die Legalisierung kroatischer sprachlicher Differenz. Die unmittelbare Umsetzung der Sprachemanzipation in deutschen Lehrbüchern lässt sich durch den zeitlichen Zusammenfall mit dem deutschen Massentourismus erklären, der die kroatische Adria entdeckte. In einem der meist benutzen Lehrwerke im Hochschulbetrieb lesen wir : „Die Standardsprache war schon von Anfang an im kroatischen und serbischen Bereich nicht völlig identisch. […] In diesem Lehrbuch wird der eine Begriff: ,Serbokroatisch‘ durch die zwei Begriffe: Kroatisch und Serbisch ersetzt.“18 Derartige Sätze – die einzige Berücksichtigung von Serbokroatizität im Buch – mussten nach 1991 nicht herausgenommen oder geändert werden. Dass man ein prononciertes kroatisches Eigensprachlichkeitsbewusstsein mit jugoslawischer Ideologie verbinden konnte, belegt der gut gewählte, in nationaler Hinsicht neutrale Titel des Lehrwerks Dobar dan! (Guten Tag!, Erstauflage 1980) und die Komposition des Titelblatts mit vier Fotos, auf denen politisch korrekt der Flughafen Belgrad, der Bahnhof Zagreb, eine adriatische Marktszene und eine muslimische Familienszene abgebildet sind. Dieser kurze Blick auf Sprach18 Drilo, Stjepan: Kroatisch-Serbisch. Lehrbuch mit Grammatik für Anfänger. Zagreb 1975, S. 8.

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lehrwerke zeigt, dass das Jahr 1991 keine Zäsur im Zerfallsprozess der serbokroatischen Sprache darstellt. Resümierend kann festgehalten werden, dass die mit der Liberalisierung der späten 1960er Jahre freigesetzte Energie nicht in Demokratisierung, sondern in Nationalisierung investiert wurde – mit den bekannten Folgen. Dieses Zwischenergebnis soll im Folgenden mit der Kulturpolitik der EU verglichen werden.

EU-europäische Brüderlichkeit I: „Einheit“ Was die ökonomische und mentale Heterogenität ihrer Bewohner angeht, sind Jugoslawien und die EU durchaus vergleichbar. Dieser Vergleich zwingt sich geradezu auf. Verficht auch die EU ein „bratstvo i jedinstvo“? Wie sähe eine solche „Brüderlichkeit und Einigkeit“ aus? Den Genderaspekt, nämlich das androzentrisch-patriarchal-körperliche Moment der jugoslawischen Brüderlichkeit im Gegensatz zum allegorisch-mythologischen Stammbaum des femininen Europas, muss hier außen vor gelassen werden. Gilt für die EU die Warnung von Wood,19 der von der „falschen Authentizitätsversprechung der Vielfalt“ spricht, wenn sie weniger Diversität von Ideen und Individuen ist, sondern eher Stereotypen festigt? Die Strategie des EU-Projekts ist seit fünfzig Jahren die Schwächung nationaler Gegensätze und Grenzen, so dass man sich auf das regionale Element stützt. In gewisser Weise geht dieser Mechanismus parallel zu Tito-Jugoslawien, der den ,großen‘ nationalen Gegensatz – das serbisch-kroatische Verhältnis – mit Argusaugen bewacht und daher Pluralismus inszeniert hat. Wie definiert man in Brüssel Europa? Als staatsbürgerliche Wertegemeinschaft oder als quasiethnisch-kontinental definierte kulturelle Einheit? Zur Beantwortung dieser Fragen soll ein Blick auf die Schrift Ein Europa der Völker bauen. Die Europäische Union und die Kultur20 geworfen werden. Im Maastrichter Vertrag von 1992 haben sich, so heißt es, die Unterzeichnerstaaten zu einem Europa der Völker bekannt, das „sich wesentlich über die Kultur definiert“ (S. 3). Zugleich wird das Konzept der „Unionsbürgerschaft“ eingeführt, das für gemeinsame europäische „Grundwerte“, „aber auch das großartige europäische Kulturerbe“ stehe. Dann wird ein weiterer Gegensatz eröffnet, ohne ihn aufzulösen: „Bei allen Unterschieden haben die europäischen Völker doch 19 Wood, Peter : Diversity : The Invention of a Concept. San Francisco 2003. 20 Amt für öffentliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften: Ein Europa der Völker bauen. Die Europäische Union und die Kultur, 2002, verfügbar unter : [Zugriff: 03. 05. 2013].

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eine gemeinsame Geschichte, die Europas Standort in der Welt definiert und seine Eigenart ausmacht. ,Europäische Kultur‘ meint einerseits Achtung des kulturellen Ausdrucks eines jeden Volkes, andererseits kulturellen Austausch und Zusammenarbeit…“ (S. 3). Später heißt es, dass sich das „Europa der Vielfalt“ „aufgrund seines gemeinsamen Erbes doch als Einheit darstellt“ (S. 4). Dies ist nicht logisch gedacht, wenn gleich anschließend „die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Kulturraumes“ gefordert wird und später ein Kapitel „Förderung der Kreativität“ mit dem Satz beginnt: „Allmählich entsteht ein europäischer Kulturraum“ (S. 10). Das mit einem Budget von 236,5 Millionen Euro ausgestattete langfristige EU-Programm Culture 2000 definiert sein Ziel ähnlich: „The objective of Culture 2000 is to promote a common cultural area characterised by its cultural diversity and shared cultural heritage.“21 Sind Einheit bzw. Vielfalt Essenz oder Konstrukt? Entsteht aus einer gemeinsamen Geschichte die synchrone Vielfalt? Oder ist die heutige Einheit einer diachronen Vielfalt entwachsen? Ein föderatives oder konföderatives Gebilde muss eine integrative und inkludierende Ideologie anbieten, die nicht als assimilativ aufgefasst werden kann. In Titos Jugoslawien musste sie demonstrativ nicht-serbisch sein. Das jugoslawische Kulturmodell im frühen 19. Jahrhundert in Form epischer Heldenlieder war nach Wachtel22 aber ein sekundär jugoslawisiertes und primär serbisches Kulturmodell, das von den Kroaten begeisterter aufgenommen wurde als von den Serben selbst: Nur so erklärt sich das Kuriosum, dass die großartigsten künstlerischen Umsetzungen des Kosovo-Mythos von einem Kroaten stammen, der bis in die Zwischenkriegszeit Jugoslawe war, nämlich vom Bildhauer und Architekten Ivan Mesˇtrovic´. Das jugoslawische Modell war keine Synthese aus identifizierbaren Elementen mehrerer separater Kulturen, sondern kam aus dem prototypisch balkanischen Raum: aus Montenegro und dem Kosovo. Das Fehlen eines synthetischen, multikulturellen Modells manifestierte sich im Zerfallsprozess Jugoslawiens: War das Serbokroatische gerade aus kroatischer Sicht ab den 1970er Jahren immer mehr ein Komponentenmodell, so flackerte ab den 1980er Jahren immer stärker eine großserbische Sichtweise auf, die das traditionelle Uniformitätsmodell belebte.23 21 ,Culture 2000‘, verfügbar unter [Zugriff: 03. 05. 2013]. 22 Wachtel, Andrew B.: Making a Nation, Breaking a Nation. Literature and Cultural Politics in Yugoslavia. Stanford 1998, S. 52. Wachtel wird bestätigt durch eine Analyse der Osmanenexotik im kroatischen Illyrismus: vgl. Zoric´, Andreja: Nationsbildung als „kulturelle Lüge“: Eine vergleichende Untersuchung zur kroatischen und tschechischen nationalen „Wiedergeburtsbewegung“ des 19. Jahrhunderts. München 2005. 23 Vgl. Okuka, Milosˇ : ,Die serbische Standardsprache in Theorie und Praxis‘, in: DIE WELT

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In der EU gibt es kein derartiges Problem, da das Englische als dominanteste Sprache in der EU aus zwei Gründen keine kulturellen Implikationen hat: Zum einen aufgrund der traditionellen splendid isolation der Briten, die nicht zum Gründerzirkel der EU gehören, und zum anderen aufgrund des globalen Weltsprachenstatus des Englischen, das somit kein binneneuropäisches Symbolpotential besitzt. Wo ist dann die „Einheit“? In der Broschüre Europa in 12 Lektionen24 lesen wir im Kapitel „Das Europa der Bürger“: „Bestimmte Symbole stehen bereits für eine gemeinsame europäische Identität. Beispiele hierfür sind der 1985 eingeführte europäische Pass, die Europahymne (Beethovens Ode an die Freude) sowie die Europaflagge. Seit 1996 stellen die Mitgliedstaaten auch einen europäischen Führerschein aus.“ Dies wirkt doch sehr ernüchternd als Leistungsschau des europäischen Einigungswerks fünfzig Jahre nach dem Vertrag von Rom. Wer identifiziert sich schon gern mit seinem Führerschein? Die auch genannten gemeinsamen Werte der Europäer wie Demokratie, nachhaltige Entwicklung, gesunde Umwelt, Achtung der Menschenrechte und soziale Marktwirtschaft, werden verdächtig niedrig gehängt. Durch den Lissaboner Reformvertrag vom 13. 12. 2007 ist vieles bereits obsolet: Hymne und Flagge ebenso wie der Leitspruch „In Vielfalt geeint“ sind nicht als „Symbole der EU“ aufgenommen. Aus der Sicht der Linguistik soll ein Diskursstrang europäischer Identitätssuche vorgeführt werden, der aus Brüssel initiiert, heute aber bereits ein Selbstläufer ist – nicht zuletzt aufgrund der Existenzbedrohung der sogenannten Kleinen Fächer im Bologna-Prozess: Die Rede ist von den „EuroGeisteswissenschaften“. Ein großes Projekt an der Freien Universität Berlin Ende der 1980er Jahre lautete EUROTYP: Nach dem Motto „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ wurde mit Finanzierung des European Science Foundation die typologische Konvergenz der europäischen Sprachen bewiesen.25 Die Ergebnisse sind nicht als falsch zu bezeichnen, aber dennoch hat sich die Forschung hier auf ein ideologisches Feld begeben, nämlich als Lieferant einer Europa-Ideologie. Die Slawisten schauen bis heute zu, wie Romanistik und Germanistik ein auf ihren Sprach- und Regionalkompetenzen beruhendes Europamodell entwerfen, das linguistisch in Konzepten wie „Standard Average European“ (so EUROTYP) DER SLAVEN 2000/45, S. 233 – 248; Greenberg, Robert: ,Language politics in the Federal Republic of Yugoslavia: The crisis over the future of Serbian‘, in: SLAVIC REVIEW 2000/ 59 – 3, S. 625 – 640. 24 Amt für öffentliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften: Europa in 12 Lektionen, 2007, verfügbar unter : [Zugriff: 03. 05. 2013], hier S. 43. 25 Die Schärfe der Formulierung findet sich im Handout von Martin Haspelmath auf der „Eurolinguistik“-Konferenz (Leipzig, 01.–02. 10. 2007): Haspelmath war als Assistent von E. König unmittelbar am EUROTYP-Projekt beteiligt.

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oder „Charlemagne-Sprachbund“ greifbar wird, deren Epizentrum – eine selffulfilling prophecy – immer die Benelux-Staaten und somit Brüssel sind. Auch dem „EuroLinguistischen Parcours“26 ist der Vorwurf zu machen, dass er in seinem statischen, den slawisch-orthodoxen ebenso wie den muslimischen Raum ausschließenden Europaverständnis das Kontingenzbewusstsein der modernen Kulturwissenschaften ignoriert. Gerade Ostmittel- und Südosteuropa helfen, historische Diskontinuitäten aufzuzeigen und so den Konstruktcharakter von Identität nicht aus dem Auge zu verlieren. Jeder kulturelle Definitionsversuch Europas, der dann Basis für Ausschluss sein soll, ist ein Holzweg. Im jugoslawischen Bosnien wurde ein- und dieselbe Sprache in seiten-, tage- oder wochenweiser Alternation mal kyrillisch, mal lateinisch geschrieben – was sollen wir hier mit dem Europäizitätskriterium Latinität? Bereits im Weißbuch der EU Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft von 1995 wird der 1+2-Europäer gefordert, der neben seiner Muttersprache zwei weitere Gemeinschaftssprachen beherrschen soll.27 Mit der abgeschlossenen EU-Osterweiterung in den Runden von 2004 und 2007 scheint die europäische Mehrsprachigkeitspolitik stärker in den Vordergrund zu rücken und so die Minderheitensprachpolitik zu verdrängen. Seit 2004 ist die Mehrsprachigkeit Teil des Bildungsressorts. 2007 – 10 gab es sogar einen EU-Kommissar für Mehrsprachigkeit, der 2010 wieder ins Bildungsressort zurückverlegt wurde. Ein kurzer Blick in den Entwurf des Verfassungsvertrags von 2004 zeigt, dass die EU zwar explizit „die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“ achtet, hierbei aber eher die individuellen Rechte im Rahmen des Diskriminierungsverbots stärkt. Am 31. 01. 2008 hat eine von der EU-Kommission einberufene „Intellektuellengruppe für den interkulturellen Dialog“ einen Bericht vorgelegt, der jedem EU-Bürger eine „persönliche Adoptivsprache“ nahe legt, die seine zweite Muttersprache werden soll. In Jugoslawien hat es keine Mehrsprachigkeitspolitik gegeben: Serbokroatisch war die dominante lingua franca, was allein auf die in Belgrad und Zagreb zentrierten Massenmedien zurückführbar ist. Niemals lernte ein Serbe oder ein Kroate Makedonisch oder Slowenisch (geschweige denn Albanisch), zumal die kleinen Nationen vor allem jenseits der eigenen Republikgrenzen mehr oder weniger bereitwillig Serbokroatisch gesprochen haben. Sprachpolitisch ist in Jugoslawien zwar an der Einheit des Serbokroatischen gebastelt worden, der Gleichberechtigungsgedanke eines vielsprachigen Staates ist jedoch nie eingelöst worden, was slowenische Intellektuelle Ende der 1980er Jahre auf folgende pathologische Metapher zugespitzt haben: Slowenen würden nur zu Hause 26 Grzega, Joachim: EuroLinguistischer Parcours. Kernwissen zur europäischen Sprachkultur. Frankfurt/M./London 2006. 27 De Cillia, Rudolf: ,Tendenzen und Prinzipien europäischer Sprachpolitik‘, in: Krumm, HansJürgen (Hg.): Sprachenvielfalt. Babylonische Sprachverwirrung oder Mehrsprachigkeit als Chance? Innsbruck u. a. 2003, S. 27 – 40, hier S. 32.

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fließend ihre Muttersprache sprechen, während sie auswärts aus politischer Angst zu serbokroatischen Stotterern würden.28

EU-europäische Brüderlichkeit II: Sprachliche Vielfalt Susan Gal warnt davor, dass die offizielle EU-Ideologie sprachliche Vielfalt zu sehr territorialisiere, was dem europäischen Ideal von Prosperität garantierender, hoher Mobilität widerspreche.29 Es häufen sich in letzter Zeit die Stimmen, die der EU ein essentialistisches Verständnis von Nationalität und Ethnizität vorwerfen. Dies mag zunächst die Diskrepanz zwischen einer geisteswissenschaftlichen Forschung sein, die jede Art von Identität nur situativ und performativ begreift, die also immer aufs Neue ausverhandelt und gestaltet werden muss, und einer langen europäischen Tradition, die Sprache als Kriterium benutzt, um im 19. und 20. Jahrhundert politische Grenzen durch die zerfallenden Vielvölkerstaaten zu ziehen. Herder hatte in seinem Aufsatz „Über die Fähigkeit zu sprechen und zu hören“ Ende des 18. Jahrhunderts Sprache als Voraussetzung zur Bildung und Formung eines Volkes gesehen und ihre Bewahrungs- und Erneuerungsfunktion betont.30 Dieser Sprachideologie steht wie gesagt eine jüngere Sichtweise gegenüber, die sie als kulturelles Artefakt und Ergebnis sprachpolitischer Planungsprozesse begreift.31 Wir sehen also einen starken Kontrast zwischen der populären, auch in Politikerköpfen präsenten Vorstellung von der engen Verbindung von Sprache, Kultur und Identität auf der einen und einem akademischen Diskurs auf der anderen Seite, der genau diese Verbindung hinterfragt.32 28 Stokes, Gale: From Stalinism to pluralism. A documentary history of Eastern Europe since 1945. New York 1996, hier S. 283 – 284. 29 Gal, Susan: ,Migration, Minorities and Multilingualism: Language Ideologies in Europe‘, in: Mar-Molinero, Clare / Stevenson, Patrick (Hg.): Language Ideologies, Policies and Practices. Language and the Future of Europe. Basingstoke/New York 2006, S. 13 – 27, hier S. 26. 30 Vgl. Sundhaussen, Holm: Der Einfluß der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie. München 1973, hier S. 26 – 27. 31 Stukenbrok, Anja: Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617 – 1945). Berlin/New York 2005; Wright, Sue: Community and communication. The role of language in nation state building and European integration. Clevedon 2000; zu Südosteuropa vgl. Hopf, Claudia: Sprachnationalismus in Serbien und Griechenland. Theoretische Grundlagen sowie ein Vergleich von Vuk Stefanovic´ Karadzˇic´ und Adamantios Korais. Wiesbaden 1997. 32 O’Reilly, Camille: ,When a Language is ,Just Symbolic‘. Reconsidering the Significance of Language to the Politics of Identity‘, in: Hogan-Brun, Gabrielle / Wolff, Stefan (Hg.): Minority languages in Europe. Frameworks, Status, Prospects. Basingstoke/New York 2003, S. 16 – 33.

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Wie sieht die Sprachförderung der EU aus?33 Ein wichtiges Instrument ist die nichtbindende European Charter for Regional or Minority Languages, die der Europarat – sicherlich kein politisches Schwergewicht – initiiert hat. Sie enthält einen Maßnahmenkatalog zur Verbesserung der Stellung von Regional- und Minderheitensprachen in den Bereichen Bildungswesen, Justiz, Verwaltungsbehörden, Medien, Kultur, im wirtschaftlichen und sozialen Leben und im grenzüberschreitenden Austausch. Bezeichnenderweise exkludiert sie Migranten und nicht-ethnische Europäer. Der unpräzise und unreflektierte Umgang der europäischen Politik mit dem Begriff Sprache wird hier akut spürbar, denn wie definiert man dann „Minderheitensprache“? Hier lässt man sich unter politischem Druck auf euphemistische Bezeichnungen ein wie „lesser-used, regional, marginalized, less widely-taught“ usw. Die Charter ist von 21 Staaten des Europarates sowie von Montenegro ratifiziert worden. Craith sieht in ihr einen katalytisch wirkenden Mechanismus zur Legitimation neuer Sprachen, die zuvor Dialektstatus besaßen, infolge des Definitionswandels von Sprache ihre Nationalstaaten aber zu einer Aufwertung ihres Status zwingen können.34 Auch der ZEIT-Korrespondent Reiner Luyken hat mehrfach auf die kleinen Nationalismen hingewiesen,35 die durch die EU-Kulturpolitik starken Aufwind erfahren. Aufbauend auf der Forderung nach Anerkennung kultureller regionaler Vielfalt hat sich die transnational agierende „Europäische Freie Allianz“ gegründet, die Versatzstücke der europäischen Kulturideologie geschickt für ihren Neonationalismus einsetzt. In Fraktionsgemeinschaft mit den Grünen ist die EFA im Europäischen Parlament eine der größten Gruppierungen. Ihre Brüssler Deklaration von 2000 ist die Darlegung der Regionalismusprinzipien der „staatenlosen Nationen“, wie es wörtlich heißt – laut Luyken „eine kuriose Mischung sozialistischer, ökologischer und zivilgesellschaftlicher Phraseologie“. Parteien sind u. a. vertreten aus Schottland, Flandern, Katalonien, Galicien, dem Baskenland, der Bretagne, Okzitanien, Südtirol, dem Elsass, Schlesien, Pommern, Mähren, der Lausitz. Dass das Fluidum zwischen Regionalismus und ethnonationalem Autonomismus auch die Bundesrepublik Deutschland betrifft, zeigt der Status der Bayernpartei als Mitglied mit Beobachterstatus (schon 1949 forderte sie in ihrem Urprogramm „subsidiaritäre Zuständigkeiten für die his-

33 Vgl. Rindler Schjerve, Rosita: ,Europäische Sprachenpolitik und Minderheiten‘, in: Krumm, Hans-Jürgen (Hg.): Sprachenvielfalt. Babylonische Sprachverwirrung oder Mehrsprachigkeit als Chance? Wien 2003, S. 49 – 60. 34 Nic Craith, Mairead: ,Facilitating or Generating Linguistic Diversity. The European Charter for Regional or Minority Languages‘, in: Hogan-Brun, Gabrielle / Wolff, Stefan (Hg.): Minority languages in Europe. Frameworks, Status, Prospects. New York 2003, S. 56 – 72. 35 Vgl. Luyken, Reiner: ,Schafft zwei, drei, viele Staaten. Schotten, Basken, Okzitanier… Europas Sezessionisten arbeiten an der EU der 61‘, in: DIE ZEIT 2001/12, S. 12 – 13, hier S. 12.

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torisch gewachsenen Regionen in einem bürgernahen und demokratischen Europa“). Die nicht unproblematische Metamorphose von antinationalen Regionalismen in Klein-Nationalismen ist bereits in der „slawenlosen“ EU vor 2004 akut. Mit der Integration der ehemaligen Ostblockstaaten erhält dieses Thema eine neue Brisanz und Dimension: Gruppen wie die Russinen oder Schlesier ethnisieren die im Kommunismus erlebte Totalitarismuserfahrung, wodurch das hohe Mobilisierungspotential von ethnoregionalen Bewegungen erklärt werden kann. Beer hat in seinem Buch zu ethnischen Revivalbewegungen in Frankreich deren Entstehungsbedingungen exakt benannt,36 nämlich rapide Modernisierungsprozesse in Regionen, die unterentwickelt und häufig intern kolonisiert waren: Diese Definition trifft aber flächendeckend für das ehemalige kommunistische Osteuropa zu. Hinter den üblichen Verdächtigen – Flamen, Lega Nord, Wallisern oder Basken – wartet also schon die zweite und dritte Kohorte von slawischen Regionalautonomisten, die sich alle kulturell und vor allem sprachlich legitimieren. Die sozioökonomische Dynamik verleiht den Mut zur black is beautiful-Losung, die das Stigmatisierungsmerkmal aufwertet.37 Sprache wird zum Oppositionssymbol und erhält nativistische Widerstandsfunktion. Es ist das Versagen der Slawistik, diesen Prozess noch nicht begriffen zu haben, sondern sich darauf zu beschränken, die Ergüsse von kleinsprachlichen Feierabendphilologen zu verwalten und zu dokumentieren.38 Schlaue Bücher zu slawischen Minderheiten kommen leider nie aus der Slawistik: Genannt seien hier zwei Bespiele. Die Ethnologin Toivanen hat 2001 anhand der Sorben in Brandenburg und Sachsen und der Saamen in Finnland gezeigt, wie minoritäre Identitätsoptionen durch nationalstaatliche Minderheitenpolitik dimensioniert werden:39 Indem von oben (auch aus Brüssel) von einheitlichen Gruppen ausgegangen wird, muss das identity management der Minderheiteneliten darauf abzielen, die ab- und eingrenzenden Merkmale der Gruppe zu homogenisieren und durch die Konstruktion einer übergreifenden, nationalisierenden Identität der Erwartungshaltung von außen zu entsprechen.

36 Beer, William R.: The Unexpected Rebellion. Ethnic Activism in Contemporary France. New York/London 1980. 37 Giordano, Christian: Ethnizität: ,Soziale Bewegung oder Identitätsmanagement?‘, in: SCHWEIZERISCHE ZEITSCHRIFT FÜR SOZIOLOGIE 1981/7, S. 179 – 198, hier S. 186. 38 Symptomatisch hierfür ist die exklusiv slawistische Rezeption des Konzepts „Mikroliteratursprachlichkeit“ von Aleksandr D. Dulicˇenko. So führt der von Milosˇ Okuka herausgegebene Band Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens (=Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens, Bd. 10. Klagenfurt/Celovec 2002) 40 slawische Sprachen auf. 39 Toivanen, Reetta: Minderheitenrechte als Identitätsressource? Die Sorben in Deutschland und die Saamen in Finnland. Münster 2001.

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Konstanze Glaser bestätigt dies in einem Vergleich zwischen Gälisch- und Sorbischsprechern :40 Angesichts der kulturellen Assimilation und Hybridisierung der eigenen Gruppe reproduzieren die Eliten Gruppengrenzen bewahrende Kriterien des romantischen Kulturnationalismus (vor allem Sprache, Abstammung und Territorium). Dies impliziert eine puristische, Sprachmischung ächtende Sprachpolitik, die von den verunsicherten Sprechern der Minderheitensprache nicht mitgetragen wird, so dass im Endeffekt EU-Förderprogramme direkt zu einem beschleunigten Sprachtod von Kleinsprachen beitragen, die man eigentlich retten wollte. Es kann festgehalten werden, dass im EU-Europa Kultur in einem reziproken Prozess politisiert und territorialisiert wird, ohne ihre Vitalität nachhaltig zu sichern.

Fazit Grundlage des Vergleichs waren Koinzidenzen im jugoslawischen und EU-europäischen supranationalen Selbstverständnis. Zunächst sei betont, dass das Scheitern Jugoslawiens keine pauschalierenden Rückschlüsse auf multikulturelle Gesellschaftsmodelle zulässt – hierfür war Jugoslawien definitiv zu undemokratisch und reformunfähig. Es soll auf einige Destabilisierungsfaktoren hingewiesen werden, die die Unterschiede zwischen Jugoslawien und der EU verdeutlichen: Die EU hat keine serbische und auch keine albanische Frage. Was heißt das? Die EU besitzt keine Nation, die sich als EU-Gründer sähe und die zudem große Minderheiten außerhalb ihrer Republik bzw. ihres Nationalstaates besäße wie Serbien. Bedingung für die EU damals war die Aussöhnung und Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland sowie den Benelux-Staaten und Italien. Außerdem besitzt die EU kein Land oder keine Länder, die auf ökonomischer und auf ideologisch-symbolischer Ebene auch nur annähernd ausgeschlossen worden wären wie die Albaner im Land der Südslawen. Weiterhin gibt es – bei allen deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Irritationen der letzten Jahre – keine historischen Altlasten, die über Jahrzehnte tabuisiert worden wären wie die Gemetzel während und nach dem Zweiten Weltkrieg entlang ethnischer und/oder ideologischer Linien. Die EU ist darüber hinaus nicht von der geopolitischen Großwetterlage abhängig wie es Jugoslawien war, nämlich als Zünglein an der Waage des Kalten Kriegs. Eine Destabilisierung, wie sie die Magnetwirkung der EU auf die reicheren nördlichen Republiken Jugoslawiens ausgeübt hat, ist auch nicht in Sicht. 40 Glaser, Konstanze: Minority Languages and Cultural Diversity in Europe. Gaelic and Sorbian Perspectives. Clevedon u. a. 2007.

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Das vielleicht zentralste Problem Jugoslawiens war das Fehlen einer konstanten und konsequenten Integrationsideologie. Hier muss sich die EU noch mehr einfallen lassen und der Ruf nach „Vertiefung statt Erweiterung“ deutet dies bereits an. In einer soziologischen Studie zu Werteeinstellungen von Jugendlichen in Serbien 1973 wurde nachgewiesen, dass sich bildungsfernere und wenig urbanisierte Bevölkerungsschichten deutlich weniger mit dem Jugoslawismus identifizierten.41 Das höchste jemals erzielte Ergebnis für die Volkszählungskategorie „Jugoslawe“ wurde 1981 erreicht, und zwar mit 5,4 % (in absoluten Zahlen 1,2 Millionen Menschen). In ähnlicher Weise sind EU-Ideale wie Mehrsprachigkeit und hohe Mobilität in bildungsferneren Schichten weniger anzutreffen, wo die EU-Politik grundsätzlich Legitimationslücken hat, so dass Europawahlen in der Regel als Protestwahlen genutzt werden. In Jugoslawien war es die ökonomisch desolate Lage, die zur Eskalation geführt hat: Jugoslawien verwandelte sich nach 1945 zwar von einem rückständigen Agrarland in ein industrielles Schwellenland, trotz der transfergesteuerten Solidaritätspolitik vergrößerte sich aber das bereits 1918 krasse Wirtschaftsgefälle von Nordwest nach Südost. Auch die EU sucht die bestehenden Ungleichgewichte durch Strukturmaßnahmen zu beheben, um den Binnenmarkt zu stärken. Es bleiben frappante Parallelen im EU-europäischen und titojugoslawischen „Handling“ von nationaler Differenz. Sie sind zurückzuführen auf ein weitverbreitetes essentialistisches Verständnis von Nationalität,42 das heißt der politischen Romantik des 19. Jahrhunderts, die eine ursprüngliche Einheit von Sprache, Nation und Kultur ansetzt und mit genetischen Modellen wie Stammbaum, Familie und Verwandtschaft arbeitet.

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“Brotherhoods and Unities”. European Citizenship and Nationalism in Yugoslavia’s Successor States applied to the case of post-Dayton Bosnia and Herzegovina

If what we have witnessed during the Yugoslav War was a veritable fratricide between brethren Slavic nations – “brethrened” beforehand by the ideology of “brotherhood and unity” – then we could safely assume that any past brotherly link between these nations definitely no longer exists. Instead of a unified “brotherhood and unity” we now have a plurality of “brotherhoods and unities”, a plurality of nations that achieved unity within a given state through the same ethno-centric ideology that was witnessed by history during the formation of most European nation-states. What we are therefore dealing with today in the case of the so-called Yugoslav successor-states are not nations in the old Yugoslav sense of “narod” or “the people”, but “nations” in the traditional European fashion.1 This is of course a larger issue that cannot be addressed here fully. I instead propose an approach to the dissolution of Yugoslavian “brotherhood and unity” and the subsequent constitution of its successor nation-states from the viewpoint of citizenship. The theoretical problem addressed here is concerned with the relationship between nationalism and citizenship in the context of the modern national state. The empirical focus is placed on ex-Yugoslavia and its successor states in general and on Bosnia and Herzegovina in particular. The main thesis of the article is that even if the Yugoslavian war was a fratricide between brethren nations, the ideology of “brotherhood and unity” was not the cause, but rather the effect, but only if we can manage to change the usual perspective by switching the terminology from singular to plural: Yugoslavia’s successor-states as a plurality of national “brotherhoods and unities”. According to our thesis nationalism was not only an element of the violent state-dissolution 1 In Slovenian as well as in other Slavic languages, spoken in the post-Yugoslav region, there is a distinction not known in the English language, namely between “narod” and “nacija”. The former refers to the more generic term of “the people” (as in the ancient Greek political terminology demos), the latter more to the ethno-centric term of “nation” (as, again in ancient Greek, ethnos). The difficulty with the English language is that it uses the terms “nation” and “nationality” in various senses, in one case designating the demos, in others the ethnos. And again in some other cases the term is even more confusingly identified with “citizenship”.

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of Yugoslavia, but also and more importantly the means of state-building processes, which gave birth to Yugoslavia’s successors as national states. Elementary evidence of this can be found in the inclusive/exclusive structure of the various citizenship regimes in each and every Yugoslav successor-state, especially in Bosnia and Herzegovina, which, as we will try to demonstrate, is quite far from being the supposed “exception to the rule”, but rather the proverbial “exception that confirms the rule”.2

The question of the citizen, the quest for citizenship We cannot pose the question of citizenship in post-Yugoslavia and the related problem of “brotherhoods and unities” if we do not – at least to a certain degree – first ‘open’ the question of citizenship as such. When I say that we must open the question of citizenship in general in contemporary Europe I mean literally ‘to open it’, because this question is closed and more or less strongly anchored in a tradition, which started with the birth of the modern nation state and where citizenship equaled national membership. Only recently, in the period of consolidation of the European Union (EU) as a ‘supra-state’ and ‘supra-national’ organization and therefore as an uncanny reflection of ex-Yugoslavia itself, was the question of citizenship posed again. However, the question was posed not in the category of state, rather quite the contrary, in the category of nation: there was talk of “a loss of national identity” and other “worrying phenomena” which were more tied to the concept of “national membership” than to the concept “state and citizenship”.3 If we simplify, we can say that the primary worry was not for the state, but for the 2 Here and further on I will use the concept of “citizenship regime” as coined by Jo Shaw and Igor Sˇtiks. The concept itself can be a very fruitful analytical tool for our purpose, because it encompasses “a range of different legal statuses, viewed in their wider political context, which are central to the exercise of civil rights, political membership and – in many cases – full socioeconomic membership” (Shaw, Jo / Sˇtiks, Igor : ,Europeanisation of Citizenship in the Successor States of Former Yugoslavia: an Introduction‘, in: CITSEE working paper series 2010/ 11, p. 6). The concept of citizenship regime therefore manages to include all the three kinds of rights in Marshall’s classical concept of citizenship (1950) (civil, political and social), for it demands the enactment of all the three kinds of rights as a criterion of full membership in a given citizenship regime. 3 According to the “Eurobarometer” national identities are the predominant form of collective identification when compared to the trans-national European identity. Socio-psychological reasons can be identified as people’s emotional indifference towards the EU, prevalent attachment to their particular national identities, heterogeneous perspectives of different European states regarding the way European identity should be established, and the democratic deficit of the EU (Sˇabec, Ksenija: Homo europeaus: nacionalni stereotipi in kulturna identiteta Evrope. Ljubljana 2006, pp. 214 – 216).

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nation and in this case we cannot speak of an opening. At the most this is a kind of patching, which uses either old “supra-national” categories such as “citizens of the world” or “cosmopolitan citizenship” (which are far from being the same; the second is Greek in origin, while the first is its modern version). Or it creates new ones, such as “European citizenship”, which is a paradox ad adjecto at least because when we speak of the EU we obviously do not talk of a state: quite the contrary, the EU implies a decline of the nation state. This means that if we want to consider the concept of citizenship – as established in Europe together with the emergence of the modern European nation state – we must consider it also in the light of, or rather, in the shadow of what Hannah Arendt names “the decline of the European national state”.4 Our thesis is that the most evident manifestation of this decline can be seen precisely in the post-Yugoslav context, where the European model of national state last emerged, while its paradigmatic example is, perhaps surprisingly, not Slovenia (as the first to split from Yugoslavia and the first to enter the EU as its most trustworthy candidate), but rather Bosnia as a paradoxical national state. Bosnia is neither a nation (it is divided between three “ethnic entities”) nor a state (its constitution is part of the Dayton peace agreement). The most common mistake made in modern political science studies is to compare the complex status of citizenship in Bosnia as a deviation from the norm, which is more often than not an idealization of citizenship as found in the member-states of the EU (such as in France, Germany, Italy, etc. – and, most importantly, as we will se, in Slovenia); we propose to twist the usual relationship between the two and show how the problems of defining the status of citizenship in Bosnia are inherent to the problem of citizenship as found in most EU national states.5 Usual research approaches towards the socio-political situation in the socalled “Western Balkans” in general and Bosnia and Herzegovina in particular clearly detect the phenomena of nationalism as a key issue. However, the problem is that they – by employing a specific view defined by Todorova as Balkanism – confine extreme nationalism, usually linked to religious fanaticism, as a specific and traditional problem of the people of the Balkans.6 Our “Zˇizˇkian”7 twist would in this sense consist not in the usual defense of the Balkans as 4 Arendt, Hannah: Vita Activa. Ljubljana 1996, p. 271. 5 The questionability of such a comparison lies in three underlying presumptions, without which the comparison is not even possible: first, it is presumed that citizenship in the states of the EU is a fait accompli, and that it represents the norm of citizenship in general; second, citizenship in Bosnia is a deviation from such a norm; and third, if citizenship in Bosnia is to consolidate as a true citizenship, it has to become European according to the model of citizenship in the other member-states of the EU. 6 Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York 1997. 7 Zˇizˇek, Slavoj: Violence. New York 2008.

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“not as extreme as it looks”, but rather in saying that if there is anything more extremist than the extreme, it is the norm itself. The real problems therefore do not lie in the various violent outbursts of nationalism or extreme religious fundamentalism, but in the very symbolic orders of nationalism and religion themselves. From this perspective it is no coincidence that the birth of the nation state system dates back to the Peace of Westphalia (1648). This can be seen as the real precursor for the Dayton peace accords since it interrupted a hundred years of religious warfare in central Europe and realized the Peace of Augsburg (1555) which functioned by the logic of “whose realm, his religion”.8 The foundation of the modern European national state is based foremost on ethnical and religious purity, a stain of violence that still echoes today in the situation of post-Dayton Bosnia. In this regard it is important to pose the question of citizenship because only then can we hope to understand why it is not the national state, but rather citizenship as such in crisis today. And it is precisely by opening the question of citizenship in Bosnia that we can address the question of citizenship in the member states of the EU and therefore ask ourselves what does it mean to be a citizen today – neither a “citizen of the world” as proclaimed by the well-known romantic idea of “cosmopolitan citizenship” (a unitaristic idea per definitionem since it transforms the multitudes of the world into a globalized one-dimensional world), and neither a “European citizen” (contradictio ad adjecto), but specifically a citizen of a member-state of the EU.

State citizenship and national sovereignty As with all historical forms of organizing political communities, the nation state has its beginning and end, which seem to occur in our time, especially with the formation of the EU as a supra-national entity : the EU is not an affirmation of the ‘power’ of national states, but exactly the opposite – an affirmation that they are in a crisis and that they have to use an organizational model with which they are not compatible. To understand this crisis which preludes the end of the modern nation state, we must look at the beginning, or better, at the dawn of the forming of states as we know them from western political experience. We must look back all the way to ancient Greece where politics originated (and where the notion of politics greatly differ from ours), and where they first 8 It seems that the only exception was France, where the “national majority” of Catholics had to avouch the Huguenot minority, because it was so well organized (in comparison to other religious minorities in other countries). However, the Edict of Nantes which avouched the Huguenot minority was removed a century later by Louis XIV, the “Sun King”.

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formed the polis (something we can, speaking in minimalistic terms, call a “nonnational state”), which was the basis for the evolution of the modern notion of nation state. We will not emphasize the differences between the ancient Greek (polis), Roman (res publica), medieval (monarchy), and lastly, modern national state, whose successor is the post-modern European national state, but rather demonstrate how a concept of citizenship from past political experiences is possible despite the usual identification with national membership, which today certainly does not seem commonplace. The understanding of politics in ancient Greece was tied to the organizing of political communities into city-states. The specific of the Greek polis, the Greek city-state, is precisely in the fact that it was not a state in the modern meaning of the word, but, as the term itself suggests: a city-state. The most erroneous conceptions in regard to the Greek polis can be best grasped in the various ways how Plato’s Politea is translated into English: apart from translating it with The State the usual wordings include also The Republic, which is vehemently a Roman understanding of ancient Greece. The Republic first appears in Roman times, again not in the modern meaning of the word, but in the Latin meaning of res publica or “the public thing”, as Cicero stressed out the etymology adding res publica res populi, “the public thing is the thing of the people.” Which is exactly the meaning of the Latin word inter es before the term was colonialized by economic ideology and transformed into the unilateral economic-profitable sense of “having interest.”9 The main difference between the Greek polis and roman Republic lied mostly in the fact that the republican Rome was a city-state in an expanded, colonial-imperialistic form (even if the Romans are regarded as the cultural heirs of the Greeks, their politics were more similar to the Persian empire than the Greek city-state polis, which was for sure exclusive, but not expansionistic). The second most common mistake which is made when we look back at the ancient Greek situation from the modern national state perspective is when all the Greeks, or more specifically, all the population of the separate city-states, are framed in one category as a “nation”.10 There can be no greater error than to look at ancient Greece from the perspective of a modern national state: this perspective tells us that Greece was a state into which different nations were united, almost as if employing the old Yugoslav notion of “brotherhood and unity.” In the Iliad Homer uses for the Greek side a common term, he refers to them as “Helens”, “Achaeans” or “Danaians”, but he never refers to them as “Greeks” 9 Arendt, Hannah: Between Past and Future. London 2006. 10 Popular culture is the best way to see the common understanding of many political issues: in the movie Troy (which is at least honest enough to Homer to admit that is inspired by and not based on Homer’s Iliad), we can see in the beginning the spontaneous modern view about Greece: a collection of different nations-tribes, which were unified in the war against Troy.

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(the term comes into existence only with Latin, when the Romans do with ancient Greece the same thing as we usually do: all city-states are thrown together in a single box and this box is then “nationalized”). In short, it is true that Greece was, in Homer’s mythological universe, unified for the first time, but this did not mean that it self-understood itself as a “one nation” and not even “nation” – at least not in the modern sense of the word.11 If we look across the chasm between us, “heirs of the national state”, and the Greeks who lived in the polis, it seems that this chasm is insurmountable. The stubborn character of this obstacle is derived from the specific and contradictory (looking from a polis-oriented perspective) character of the national state with its two climaxes grounded in the American Declaration of Independence (1776) and the French Revolution (1789). After all, the idea of national sovereignty, which appealed to both the Americans and the French, is in flagrant contradiction with what they promoted at the same time as a crucial intersection with the past, namely, the idea of citizenship-based equality. The concept of sovereignty is of Roman origin, potestas, and Hannah Arendt, summarizing the distinction between authority and sovereignty from Cicero, who stated Cum potestas in populo, auctoritas in senatu sit (“Sovereignty is with the people, authority with the senate”), demonstrates how the concept was transferred at the end of the Roman empire to the monarchs and monarchic families. Authority, auctoritas, belonged to the Church since at least for a certain period no monarch was enthroned without the papal approval.12 In the monarchic period of Europe state-membership was defined primarily by territory and territorial divisions were the basis on which the well-know idea of “national sovereignty on one’s own territory” grew. The events that mark this change are the American Declaration of Independence and the French Revolution: the former because it demanded a territory which was considered a colony of the British Crown; the later because it emerged against the established monarchic nobility and the clergy in the name of citizens’ rights and equality, although it mixed citizenship with national membership and thus produced the modern notion and paradox of national citizenship.13 11 Homeric language and the Homeric universe became the official language mostly in Greek regal courts, which does not mean that Homeric language became the national language, but, if anything, an international common language, when the common fate of the city-states was at stake against foreign aggressors, such as during the Persians Wars. In this context it is noteworthy that the “Pan-Hellenic idea” is very similar to the irreducibility of the European national states, where no one wishes to relinquish their own particularities. 12 Arendt 2006, p. 126. 13 “Revolution and nationalism had mixed their ideals with real and egoistic interests. The ideas of liberty and equality in France were set against absolutism and coexisted with the idea of ethnical hostilities, which aimed at foreigners. During the Jacobin’s dictatorship the authorities encouraged hostilities against the Prussians, Austrians and all non-French

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After the experience of the modern national state is it even possible to contemplate citizenship apart from national membership? I am afraid that the only political concept or governmental form that has succeeded in severing the connection between national membership and citizenship throughout European history was the form or concept of Empire, here broadly conceived as a supernational entity, for which the inauguration gesture can be seen in the constitution of the Roman Empire. And as Hannah Arendt adds, the attempt to repeat the Roman political experience coincides with the forming of the national state, but it was again and again defeated by various aggressive national politics.14 Modern political models, which can help us understand the concept of Empire conceived as a supra-national entity (Soviet Union, Ottoman Empire, Austria-Hungary, latter Czechoslovakia, and both Yugoslavia’s, the Kingdom of 1918 and the Socialist Federative Republic of 1945), had all expected that citizenship on a supra-national level would transcend national membership on a sub-imperial level, but all failed to coup with the more and more aggressively emerging nationalisms. The violent breakup of Socialistic Federative Republic of Yugoslavia (SFRY) is a paradigmatic one: in Yugoslavia it was evident in the ideology of “brotherhood and unity”, where brotherhood stood for the relationship of equality (either real or desired) between nations, while “unity” stood for united adherence not only to the idea, but especially to the actual membership as a Yugoslav citizen, which was by this account a de facto “no longer a classical federation”, “nor a classic confederation”, but a “community of nations.”15 Even if the violent dissolution of Yugoslavia resulted in the emergence of national states (which again proved the victory of the national state over super-national entity), the concept of “dual citizenship”, present in the former Yugoslavia, still allows us to think of citizenship apart from national membership. The Constitution of the SFRYof 1974 was a topic of much confusion in the legal literature, where the question of primacy between federal and republican citizenship aroused and where no consensus exists whether one or the other had primacy. While various authors

people, who opposed the Republic, as well as French citizens who did not speak French.” (Katunaric´, Vjeran: Sporna Zajednica-novije teorije o naciji i nacionalizmu. Zagreb 2003, p. 97) 14 The first person who spoke about the state in the modern sense was actually Machiavelli, who also detected the compelling force of emerging nationalism: “The fact that he was aware of the contemporary beginnings of the birth of nations and the need for a new body politic, for which he therefore used the hitherto unknown term lo stato, has caused him to be commonly and rightfully identified as the father of the modern nation-state and its notion of a ‘reason of state’.” (Arendt 2006, p. 138) 15 Ramet, Sabrina P.: Nationalism and Federalism in Yugoslavia 1962 – 1991. Bloomington/ Indianapolis 1992, p. 63.

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put into evidence the primacy of federal citizenship16 or of republican citizenship17, others try to keep the relation in terms of simultaneity18 and this seems to be the trend most recently as well19 in insisting on the “duality” or “dual character” of the federal-republican citizenship in Yugoslavia. If we now take a look at the present political situation in post-Dayton Bosnia, and especially if we look at the original situation of Yugoslavia, all seem to indicate that we should answer negatively the question above: “citizenship cannot be separated from national membership.” However, a negative answer would be based merely in the fact that the “republican citizenship” prevailed over the trans-national “federal citizenship.” The former would become “national citizenship” at full effect the latter would disappear – at least until the entrance of the first of the former SFRY republics, Slovenia, into the EU, resulting in a new supra-national citizenship. Yet while Slovenia has an overwhelming national majority, the case of Bosnia is far from the same; things become even more complicated when we consider that in Bosnia the question of citizenship is not only closely tied to question of membership in a multi-ethnical national, but also with religion, which came to the forefront in the past tragic events which accompanied the violent dissolution of Yugoslavia. The people involved in the Yugoslav wars were mobilized by explicitly nationalistic and religious politics, which were quite more rational than most are prepared to admit. Whoever advocates some kind of misuse of religion for the needs of nationalistic politics forgets that the nationalistic politics were also misused by religion; and this mutual connection between nationalistic parties and politics on one side and religious communities and institutions one the other was indeed very useful for both sides: “National, political and military mobilization was not possible without religious reasoning, while on the other side, the religious communities were not able to achieve their goals without the support of nationalistic parties and politics.”20 Or, as Mitja Velikonja states in his Contemporary Mitographies: “In this process of religious and national re-traditionalization – combined with religious and national exclusivism – one side needed the other : religious institutions excused chauvinist politics and had

16 Drouet, Michel: ,Citoyennet¦ dans un Etat plurinational. Le Cas de l’ex-Yougoslavie‘, in: BALKANOLOGIE 1997/1, pp. 81 – 94. 17 Rakic´ Vesna: ,State Succession and Dissolution: the Example of FR Yugoslavia‘, in: CROATIAN CRITICAL LAW REVIEW 1998/1 – 2, pp. 57 – 70. 18 Pejic´, Jelena: ,Citizenship Statelessness in the Former Yugoslavia‘, in: O’Leary, S†ofra / Tiilikainen, Teija (Hg.): Citizenship and Nationality Status in the New Europe. London 1998, pp. 169 – 186. 19 Sˇtiks, Igor: ,Nationality and Citizenship in the Former Yugoslavia‘, in: SOUTHEAST EUROPEAN AND BLACK SEA STUDIES 2006/4 – 6, pp. 483 – 500. 20 Velikonja, Mitja: Mitografije sedanjosti. Ljubljana 2003, p. 97.

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given them new perspectives and vice versa.”21 Through the process of re-traditionalization the religious and national identities consolidated in pre-modern, pre-secular categories, as if the division between the State and the Church never actually happened: the Serbian national identity was linked with Orthodoxy, and the Croatian with Catholicism and Bosnian with Islam. Only after the war secularization repeated itself, at least on a formal state-level, being a member of an ethnical community now does not necessarily mean being a member of a specific religious group.22 From this perspective we can see how the Dayton Peace Accords have worked as an attempt at a peculiar secularization – this time on the level of nationalism – since it emptied the place of sovereignty occupied by the national majority in a typical European national state: in France these are “the French”, in Germany “the Germans”, in Slovenia “the Slovenians” – but in Bosnia there is no such group to fill in the shoes of sovereignty. Many are eager to state that Bosnia is in permanent crisis because there is either no sovereignty or national majority or both – but from our perspective the modern European nation state is in crisis precisely because it did not undergo such a “Daytonic” secularization by imposing a clear-cut division between the State and the Nation.

Bosnian Ethnopolis and the rule of Nobody How citizenship in Bosnia is defined in the present post-Dayton legal and political situation is not (or not only) a result of the wars, but especially (in its juridical and political formalization and effects on “state consciousness” of people and on the overall “political climate”) a result of the Dayton Peace Accords. If anything, they politically formalized the effects of war. This means that they have only aggravated them even more in giving them a formal political form; or, to put it simply, the Dayton Peace Accords have not only institutionalized the problem, but also legalized and legitimized it. 21 Ebd. 22 This is most palpable, maybe surprisingly, in Bosnia where there is no religious holiday that is institutionalized by the state: every citizen has the right to take two days off for his religious holidays, and no religious group has any extra privileges in relation to the state. I mention this, because from this perspective, European states are even pre-modern in comparison to Bosnia. In Slovenia, for example, there are institutionalized Catholic and Protestant religious holidays, as if the division between the State and the Church never happened. The most flagrant case is the Reformation Day, which is a protestant religious holiday, but is promoted by the state as a ‘national’ holiday, with the argument that reformation had a decisive role in the process of establishment of the Slovenian national language.

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However, it would be erroneous to say that the Dayton Peace Accords only legalized a de facto situation, i. e. legalized ethnical differences which existed before: what they actually did was formalize those differences on the level of citizenship in the sense of Staatsangehörige (“under the wing of the state”), thus actually wiping away all citizenship-based political rights in favor of ethnonationalistic politics. To radicalize this statement, political rights were reduced to national rights, or more precisely, to rights valid only for the “three constitutive nations in Bosnia”: equality here is not political equality anymore, but rather equality “under the wing of a three-headed state” and therefore not citizen equality ; and plurality is not plurality of individuals as individuals, but plurality of national communities. This means that one individual differs from another only in one category, and this category is not political, but ethnical and thus antipolitical. The Appendix number 6 of the Dayton Agreement, where the “three constitutive nations” are mentioned, is supposed to function as the Bosnian constitution, but the situation is quite the opposite – the Bosnian constitution functions as a peace accord between the “three constitutive nations”: “The constitutional framework as the annex of the Dayton Agreement enforces only one kind of procedural democratic – or more exactly, oligarchic – political representative: ethnical groups (constitutional nations).”23 The constitution clearly shows that only ethnically defined political interests can be “politically legitimate” and thus transform Bosnia into an “Ethnopolis”:24 “The community which is characterised by the political priority of the ethnical groups over individuals […] the rights of the ethnical groups over rights of the citizens, and where the membership of the citizens in the political community is overcome by the membership in the ethnical community.”25 The Dayton Peace Accords thus represents the constitutive inability of forming any kind of supra-ethnic entity, be it the “territorial state” (since the Bosnian territory is divided in two) or the “national majority” (since no one ethnic “constitutive nation” has privilege over the other): none of the three constitutive ethnicities can develop into a “national majority” because this would mean that it would position itself above the other two, and at the same time a “fourth”, common Bosnian nationality cannot be formed, because it 23 Mujkic´, Asim: Mi, grad¯ani etnopolisa. Sarajevo 2007, i. 24 Article 5. of the Dayton constitution of the state of Bosnia reads as follows: “The Presidency of Bosnia and Herzegovina shall consist of three Members: one Bosniac, one Croat, each directly elected from the territory of the Federation, and one Serb directly elected from the territory of the Serbian Republic.” The legitimacy of the political interests of the singular ethnic groups is expressed through this “three-part presidency”, where each member is chosen in relation to his territorial-ethnical membership. 25 Mujkic´ 2007, iii.

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would be always understood as a threat to the existing three. In this situation it is imperative to count on citizenship which would not be tied to national membership and in spite of ethnic differences all should recognize themselves in a “secular”, i. e. non-nationalistic citizenship. This means “being a citizen of Bosnia and Herzegovina” conceived as a state and not as a national state; if there is something we can count on is a Citizen’s Bosnia, not a National Bosnia: “In the citizenship ethos there is the chance of preserving the complex unity of the Bosnian society as a whole […] it is the answer to ethno-ghetto-ization and to localistic particularism, and their national pretensions.”26 The problem exposed – the still ongoing inability to establish a citizenship that would not be tied to ethnical or national membership in Bosnia and Herzegovina – repeats itself in the European context and is tied to a specific understanding of the modern juridical state as a national state and thus grounded in the old demand that a “nation should be sovereign on its own territory”. The situation of post-Dayton Bosnia, where no ethnic group can overrun the others by becoming the “national majority” primarily because of existing territorial divisions, thus implies certain consequences for the European nation state. Bosnia is regarded as a state divided primarily on the basis of territory, and secondarily on the basis of ethnicity : if there is no unified territory, national homogeneity in the European sense is not possible. Moreover, the sovereign territories of European countries that are occupied by more or less homogenous nations are vacant in the case of Bosnia, or more precisely, divided into three parts. Conversely and this time looking from the Bosnian perspective: the European national state can function homogeneously precisely because it is territorially and nationally already unified. Territorial unity of course does not exhaust the functioning of the modern state as a national state: unity is a necessary condition on other levels too: on the level of trade, language, legislature, etc. What is ‘self-evident’ in a typical modern European nation state is permanently suspended in Bosnia and put into question; hence, there is no unified legislature, trade or language. When we speak about the European nation state, we speak about a state that understands itself as constituted through a specific nation, which is sovereign on its own unified territory ; Germany is “German” because its citizens are Germans, France is “French” because its citizens are French, etc. The problem with this perspective is in identifying citizenship with nationality or national membership: to be a citizen means to belong to a nation, not to any nation, but to the predominant one.27 In this case predominant is not understood so much 26 Zgodic´, Esad: Grad¯anska Bosna. Tuzla 1996, p. 12. 27 The problems that arise when we identify citizenship with national membership becomes visible, as soon as we take a look at the situation in France, where under the effect of the so-

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quantitatively (in this sense the term “national majority” can be misguiding), rather politically, or as Hannah Arendt would say, antipolitically ; or, if we paraphrase Orwell: All citizens in the state are equal but some are more equal than others. The philosophical problem with national membership is that it reproduces its own exclusion: with the logic of exclusion that is practiced by various nationalisms it is always possible to exclude potentially anyone, because it is possible, in any moment, on the basis of any characteristic and attribute, to create a group and with it a minority. Or, as Deleuze and Guattari have shown, in the end no-one can truly meet the criteria of the majoritarian, ideal, standard, because the majority, if analytically included in an abstract standard, is never anyone, but always Nobody – while the minority is always becoming anyone, the potential becoming of anybody to be a deviation from the standard.28 The abstract standard of the majority, norm, or ideal serves only a minority, even if it does not fulfill the same standards, to use the abstract standard to exclude other minorities. The bottom line is that nobody suits the standard, or, if anyone, precisely Nobody. The situation of Bosnia, where nobody – no ethnic minority or constitutive majority – can fit the shoes of the sovereign nation thus presents the inverse, the negative or flip side of the European situation: if in the first instance we have a rule of nobody, then in the second we can clearly see how Nobody rules. And conversely, one can say the same about the “brotherhood and unity” ideology that, as we stated at the beginning, was not the cause, but rather the effect of the dissolution of Yugoslavia. Thus transformed into a plurality “brotherhoods and unities” in the new European political framework: Bosnia can appear as a miniature prolongation of the old Yugoslav ideology only if we conceive it not simply as the European Other par excellence, but first and foremost as its most intimate and uncanny reality.

called globalization and migration flux, a question appeared in many conservative papers in France France without French – is this the future of France? The title of this article was based on the statistical ‘fact’ that 70 % migrants and ‘only’ 30 % ‘autochthon’ Parisians live in Paris. The problem is that in the conservative perspective it is unimportant that those 70 % migrants did acquire citizenship, that they are citizens of France with full rights; when they put the emphasis on national membership, they equaled France to a state with the French as a nation, and that they moved the question of citizenship to the question of national membership. 28 Deleuze, Gilles / Guattari, Felix: A Thousand Plateaus. London 2003, p. 105.

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References Arendt, Hannah: Vita Activa. Ljubljana 1996. Arendt, Hannah: Between Past and Future. London 2006. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. New York 1964. Deleuze, Gilles / Guattari, Felix: A Thousand Plateaus. London 2003. Drouet, Michel: ‘Citoyennet¦ dans un Etat plurinational. Le Cas de l’ex-Yougoslavie’, in: BALKANOLOGIE 1997/1, pp. 81 – 94. Katunaric´, Vjeran: Sporna Zajednica-novije teorije o naciji i nacionalizmu. Zagreb 2003. Mujkic´, Asim: Mi, grad¯ani etnopolisa. Sarajevo 2007. Pejic´, Jelena: ‘Citizenship Statelessness in the Former Yugoslavia’, in: O’Leary, S†ofra / Tiilikainen, Teija (Hg.): Citizenship and Nationality Status in the New Europe. London 1998, pp. 169 – 186. Rakic´ Vesna: ‘State Succession and Dissolution: the Example of FR Yugoslavia’, in: CROATIAN CRITICAL LAW REVIEW 1998/1 – 2, pp. 57 – 70. Ramet, Sabrina P.: Nationalism and Federalism in Yugoslavia 1962 – 1991, Bloomington/ Indianapolis 1992. Shaw, Jo. / Sˇtiks, Igor : ‘Europeanisation of Citizenship in the Successor States of Former Yugoslavia: an Introduction’, in: CITSEE working paper series 2010/11. Sˇabec, Ksenija: Homo europeaus: nacionalni stereotipi in kulturna identiteta Evrope. Ljubljana 2006. Sˇtiks, Igor: ‘Nationality and Citizenship in the Former Yugoslavia’, in: SOUTHEAST EUROPEAN AND BLACK SEA STUDIES 2006/4 – 6, pp. 483 – 500. Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York 1997. Velikonja, Mitja: Mitografije sedanjosti. Ljubljana 2003. Zgodic´, Esad: Grad¯anska Bosna. Tuzla 1996. Zˇizˇek, Slavoj: Violence. New York 2008.

II. Mediale Konstruktionen der Brüderlichkeit

Kristin Lindemann (Konstanz)

Slawen oder Muslime? Bosnisch-muslimische Intellektuelle zwischen „Blutsbrüdern“ und „Glaubensbrüdern“

Die Frage, wie sich die bosnischen Muslime zwischen der slawischen und der islamischen Welt positionieren, stellt sich unwillkürlich, wenn man die Anfänge ihrer Nationalbewegung Ende des 19. Jahrhunderts nachverfolgt.1 Sahen sie sich, vereinfacht ausgedrückt, als Muslime und strebten eine panislamische, überstaatliche Einheit mit den verbleibenden Türken im Osmanischen Reich an? Oder hatten sie ein slawisches Selbstverständnis und verorteten sich als Teil einer suprakonfessionellen (Sprach-)Familie mit den Kroaten und Serben? Mit dem Berliner Kongress 1878 war die muslimische Oberschicht in der katholischen Habsburger Monarchie zu einer religiösen Minderheit geworden – ein Zustand, der sich sowohl im Königreich als auch in der Republik Jugoslawien nicht mehr ändern sollte. Die Vermutung liegt nahe, dass sich die muslimischen Bosnier damals stärker an der islamischen Welt, der verlorenen spirituellen Heimat, orientierten als an einer (pan-)slawischen Sprach- und Blutsverwandtschaft. Die Eingrenzung der muslimischen Länder durch nicht-muslimische Herrschaftsgebiete und der Verlust der islamischen Staatsordnung unter christlicher Kolonialherrschaft im 19. Jahrhundert hatten zu einem allgemeinen Gefühl des Zusammenrückens innerhalb der umma, der islamischen Gemeinschaft, geführt. Auch die Konfrontation von islamischen Traditionen und westlicher Moderne rief bei der Mehrheit der Muslime weltweit eine Orientierung an der bestehenden Ordnung hervor.2 Im bosnischen-herzegowinischen Fall scheint die Frage spätestens mit der Anerkennung der ,bosnischen Muslime als Nation‘ in den Jahren 1961 bzw. 19683 beantwortet zu sein: Der Islam bildete die Identitätsgrundlage ihrer nationalen Zugehörigkeit.

1 Vgl. Babuna, Aydın: Die nationale Entwicklung der bosnischen Muslime. Frankfurt/M. 1996. 2 Landau, Jacob M.: The Politics of Pan-Islam. Ideology and Organization. Oxford 1990, S. 9. 3 Vgl. Dick, Christiane: ,Die Bosˇnjasˇtvo-Konzeption von Adil Zulfikarpasˇic´. Auseinandersetzung über den nationalen Namen der bosnischen Muslime nach 1945‘, in: GESCHICHTE 2003/5 (=Digitale Osteuropa-Bibliothek), verfügbar unter : [Zugriff: 18. 01. 2010].

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Beim Lesen von Bosˇnjak – list za politiku, pouku i zabavu (Der Bosniake – Blatt für Politik, Bildung und Unterhaltung, Sarajevo: 1891 – 1910), einer der größten und einflussreichsten islamischen Zeitungen der Jahrhundertwende und dem selbsterklärten „wahren Sprachrohr“4 der muslimischen Bosnier,5 präsentiert sich jedoch ein anderes Bild.6 In der ersten Ausgabe des zweiten Jahres veröffentlichte Safvet-beg Basˇagic´, Historiker, Mitherausgeber von Bosˇnjak und späterer Präsident des bosnischen Parlaments unter österreichisch-ungarischer Herrschaft, das Gedicht „Was ist der Bosniake?“: Was ist der Bosniake? Ein kleiner Zweig Des großen Stammes der Slawen, Dessen Name auf die Vorderseite schreibt Der Geschichtenschreiber der heldenreichen Schlachten. Was ist der Bosniake? Ein heiliger Name Den die Welt schon lange kennt, Welcher Wien und Budapest erschütterte Ebenso Carigrad und den Kosovo. Was ist der Bosniake? Ein Rittervolk, Dessen Feen die Flügel ausspannten, Von Durmitor bis zu den Hügeln der Karpaten, Vom Balkan bis zum wasserblauen Meer. […] Was ist der Bosniake? Ein kleines Volk, Welches zwischen zwei Welten stand, Welches die europäische Kraft bezwang Und christliche Krieger zerschmetterte. 4 Alle Übersetzungen aus Bosˇnjak und Behar stammen von der Verfasserin. 5 ,Aufruf an die Abonnenten‘, in: BOSˇNJAK 1891/1, S. 1. 6 In Sarajevo publiziert und gedruckt, war die Autoren- und Leserschaft jedoch eingeschränkt: Das Blatt war innerhalb der jungen, urbanen Intelligenz entstanden, die sicher nicht repräsentativ für alle muslimischen Bosnier Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet werden kann. Es liegen jedoch kaum Forschungen zur bosnisch-muslimischen Gesellschaft unter österreichisch-ungarischer Herrschaft vor, die die einzelnen politischen und kulturellen Bewegungen differenziert betrachtet hätten. In diesem Beitrag wird eine kleine Gruppe bosnisch-muslimischer Intellektueller im Mittelpunkt stehen, die sich selber als fortschrittliche Muslime (napredni muslimani) bezeichneten und die Ende des 19. Jahrhunderts in Sarajevo zahlreiche Zeitschriften und Organisationen gründeten. Obwohl sie nicht die Mehrheit vertraten, hofften sie doch, die Massen von ihrer Idee überzeugen zu können. Wann immer die Rede von der bosnisch-muslimischen Intelligenz ist, beziehe ich mich auf diese Gruppe. Für eine Darstellung der bosnisch-muslimischen Gesellschaft unter österreichisch-ungarischer Herrschaft, vgl. Pinson, Mark: The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Historic Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia. Cambridge 1993; Babuna 1996 und für eine detaillierte Präsentation der einzelnen Intelligenzschichten, vgl. Dzˇaja, Srec´ko M.: BosnienHerzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878 – 1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München 1994.

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Was ist der Bosniake? Das Patenkind Davors, Ein heiliges Kind – aber mit blutigen Herzen; Zehn Mal – nicht einmal gestorben, Das Bosniakentum kann man nicht verleugnen. (Bosˇnjak 1/1892, 4)

In diesem Gedicht definierte Basˇagic´ im romantischen Tonfall das bosnische Volk in Raum und Zeit: Der Bosnier/Bosniake7 sei ein „kleiner Zweig des großen Stammes des Slawen“. Sein Territorium erstrecke sich von Montenegro im Süden bis zu den Karpaten im Norden, in der Ost-West-Ausrichtung vom Balkan bis ans Meer – beschützt von Davor, dem südslawischen Kriegsgott. Auffällig ist jedoch, dass der Bosniake nicht über den Glauben definiert wurde. Warum aber griff Basˇagic´, ein gläubiger Muslim und bosni(aki)scher Patriot, nicht auf die Religion zurück, noch dazu in dieser ausdrücklich muslimischen Zeitung?

Die bosnisch-muslimischen Intellektuellen – Bosnier oder Muslime? Mit dem Beginn der österreichisch-ungarischen Verwaltung kam es in BosnienHerzegowina zu einem Zusammenprall der islamischen Gesellschaft mit den Auswirkungen der westlichen ,Moderne‘ (u. a. Nationalstaat, Humanismus, Rationalität, Kapitalismus, Wissenschaft und Atheismus)8, welcher die traditionelle bosnisch-muslimische Gemeinschaft vor eine große Herausforderung stellte. Die politisch unklare Lage nach dem Berliner Kongress verkomplizierte die Situation noch zusätzlich: Zwischen 1878 und 1908 waren Bosnien und die Herzegowina zwar offiziell Teil der Habsburger Monarchie, de jure behielt der osmanische Sultan jedoch die Oberhoheit. Der mufti von Istanbul durfte weiterhin in den Freitagsgebeten genannt werden und Kaiser Franz Josef I. versprach am Tag der Okkupation in seinem Memorandum an die Bewohner Bosniens: „Eure Gesetze und Einrichtungen sollen nicht willkürlich umgestossen, Eure Sitten und Gebräuche sollen geschont werden. Nichts soll gewaltsam 7 Generell werden die Bewohner Bosniens als „Bosnier“ (Bosanac) bezeichnet, während „Bosniake“ (Bosˇnjak) sich hauptsächlich auf die bosnischen Muslime bezieht. Beide Begriffe sind jedoch bis heute nicht klar definiert und wurden besonders in der Habsburger Zeit synonym verwendet. Für einen Überblick über die Diskussion, vgl. Hösch, Edgar / Nehring, Karl / Sundhaussen, Holm (Hg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Wien 2004. Für diesen Beitrag gilt: „Bosnisch“ wird für alle Bewohner Bosniens, gleich welcher Religion, verwendet – außer in den Zitaten. 8 Karcˇic´, Fikret: The Bosniaks and the challenges of modernity. Late Ottoman and Hapsburg times. Sarajevo 1999, S. 23.

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verändert werden, ohne reifliche Erwägung dessen, was Euch notthut“.9 Aus Angst eine Revolte innerhalb der bosnisch-muslimischen Oberschicht zu provozieren, passte die Habsburger Regierung die neuen Verwaltungsbereiche nur schleppend an ihre eigenen Standards an. So bestanden mehrere Jahrzehnte lang zwei Parallelgesellschaften in Bosnien-Herzegowina: eine islamische, in der muslimische Schüler zunächst lernten den Koran zu rezitieren und später neben Arabisch und Türkisch auch islamisches Recht, orientalische Geschichte und Literaturen studierten. Sowie eine zweite, eine ,staatliche‘, in der Kinder auf öffentliche, konzeptionell überkonfessionelle Schulen geschickt werden konnten, in denen neben den Naturwissenschaften auch Deutsch, Ungarisch, Französisch und vor allem die bosnische Muttersprache unterrichtet wurde.10 Ebenso wie in anderen islamischen Ländern unter westlicher Herrschaft brachte dieses duale Verwaltungssystem eine kleine Gruppe muslimischer Intellektueller hervor, die gleichermaßen in beiden Denkschulen aufgewachsen waren. Diese jungen Bosnier besuchten erst die madrasa, die islamische Grundschule, in ihren Heimatstädten. Später gingen sie auf ein Gymnasium in Sarajevo, gefolgt entweder von einem Studium des islamischen Rechts in Sarajevo und Istanbul, in Verbindung mit Jura in Zagreb oder Wien oder östlicher und westlicher Sprachen und Literaturen in den gleichen Städten. Beide Kulturräume beeinflussten das Denken der jungen Muslime in hohem Maße: Bildung wurde als Grundlage jeden Fortschritts gesehen und die Sprache, besonders die Muttersprache, wurde als Fundament jeglicher Gemeinschaft – und im nächsten Schritt jeder Nation – erachtet.11 Die Religion blieb jedoch ein wesentlicher Bestandteil des spirituellen und kulturellen Lebens. Das Ziel dieser westlich geprägten Muslime war es, einen homo islamicus novus12 zu erschaffen, einen modernen Humanisten, der durch Bildung zum besseren Gläubigen wurde. Auch Safvet-beg Basˇagic´ war Teil dieser Bewegung. Zusammen mit Gleichgesinnten bildete er eine kleine Gruppe bosnisch-muslimischer Intellektueller, die sich selber als napredni muslimani (fortschrittliche Muslime)13 bezeichne9 Zitiert nach Dzˇaja 1994, S. 58. 10 Vgl. Dzˇaja 1994. 11 Die bei u. a. Johann Gottfried Herders formulierte grundlegende Bedeutung von Sprache, besonders der Muttersprache, für die „Bildung und Formung eines Volkes“ (Sundhaussen, Holm: Der Einfluß der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie. München 1973, S. 27) fand auch innerhalb der bosnisch-muslimischen Intelligenz großen Anklang, ebenso wie in anderen Teilen der Slawia. Eine ausführliche Studie über die Herder-Rezeption der muslimischen Bosnier liegt jedoch noch nicht vor. 12 Noack, Christian: Muslimischer Nationalismus im russischen Reich. Nationsbildung und Nationalbewegung bei den Tataren und Baschkiren. 1861 – 1917. Stuttgart 2000, S. 164. 13 Kemura, Ibrahim: Uloga Gajreta u drusˇtvenom zˇivotu muslimana. Novi Sad 1986.

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ten. Sie waren Anhänger des tanzimat, der von der Aufklärung beeinflussten Modernisierungsbewegung in der islamischen Welt. Diese Modernisierungsbewegung bedeutete weit mehr als eine „Trennung von Staat und Kirche“, in dem Sinn, dass mit dem tanzimat ein komplett neues Wertesystem eingeführt wurde. Gesellschaft, Nation und Öffentlichkeit wurden auf der Grundlage einer Moral, die sich auf die ratio, nicht auf Religion stützte, neu definiert.14 Als Konsequenz forderten die napredni muslimani laizistische Konzepte der politischen Gemeinschaftsstiftung. Das widersprach jedoch einem wichtigen Aspekt der islamischen Religion: Der Einheit von öffentlicher und privater Sphäre (alIslam din wa dawla = der Islam ist Religion und Staat zugleich) und der innerund außerhalb der islamischen Welt weit verbreiteten Annahme, dass die Muslime sich „nur mit der Gemeinschaft der Gläubigen (umma) identifizieren können“15. Hinzu kam in Bosnien noch das traditionelle Überlappen von ethnischer und religiöser Identität, welches aus der jahrhundertelangen Organisation der Gesellschaft in konfessionellen Gemeinschaften (millet) entstanden war.16 Die napredni muslimani, die zwar Vertreter der Voltair’schen Religionskritik waren, jedoch ausdrücklich keinen Atheismus anstrebten, standen vor einer scheinbar unlösbaren Aufgabe: Sie mussten ihre kulturelle Identität innerhalb der christlichen, österreichisch-ungarischen Monarchie und ihre Beziehung zu den kroatischen und serbischen Nachbarn definieren – in Harmonie mit dem Koran. In den im Rahmen der Modernisierungsbewegung neu entstandenen Zeitungen diskutierten sie die Problematik öffentlich. Besonders Bosˇnjak – list za politiku, pouku i zabavu sowie Behar – list za pouku i zabavu widmeten sich fast ausschließlich diesem Diskurs. Hierbei stellte sich die Problematik des wachsenden religiös motivierten oder zumindest religiös formulierten Nationalismus, nicht nur innerhalb der einzelnen ethnischen Gruppen im eigenen Land, sondern auch in Kroatien und Serbien, als besonders virulent dar.

14 Vgl. Roy, Olivier : Secularism confronts Islam. New York 2007, S. 16. 15 Roy 2007, S. 42. 16 Weiterhin wurde die Definition von Nation, umma und millet in der islamischen Welt – ebenso wie im Westen – durch die Doppeldeutigkeit der Begriffe erschwert: Im 19. Jahrhundert waren „Nation“ (vatan) und „Gemeinschaft“ (umma) innerhalb der muslimischen intellektuellen Kreise austauschbar (siehe: Wieland, Carsten: Nationalstaat wider Willen. Politisierung von Ethnien und Ethnisierung der Politik: Bosnien, Indien, Pakistan. Frankfurt/M. 2000, S. 90 f.).

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Bosˇnjak – list za politiku, pouku i zabavu Bosˇnjak – list za politiku, pouku i zabavu (Der Bosniake – Blatt für Politik, Bildung und Unterhaltung, Sarajevo: 1891 – 1910) wurde 1891 von Mehmed-beg Kapetanovic´ (1839 – 1902), einem Experten für orientalische Sprachen und Literaturen, gegründet. Es erschien wöchentlich immer donnerstags. Kapetanovic´ wollte eine muslimische Zeitung schaffen, die sich jedoch weltlichen, überkonfessionellen, d. h. „bosnisch-herzegowinischen“ Themen widmete: Die Zeit sei gekommen, so der „Aufruf an die Abonnenten“ in der ersten Ausgabe von Bosˇnjak, „dass auch wir Muslime ein Blatt in unserer Muttersprache gründen, welches unser Recht verteidigt […] und welches das wahre Sprachrohr von uns Muslimen und unserem Bosnien und Herzegovina wird; besser gesagt, welches unserem Geiste und der heutigen Zeit entspricht“17. Alle Artikel wurden in lateinischen Buchstaben gedruckt. Beiträge konnten jedoch, um alle Bevölkerungsgruppen zu erreichen, auch in „Türkisch, Kyrillisch, Lateinisch und in unserer alten Bosancˇica“18 eingereicht werden. Mit „wir Muslime“ sowie „unser Bosnien und Herzegowina“ wurde die Aufgabe Bosˇnjaks klar formuliert. Im Mittelpunkt der Arbeit stand die Selbstbestimmung der muslimischen Bosnier und ihr Verhältnis zur Heimat. Die Frage, wie sich die Autoren von Bosˇnjak zwischen der slawischen und der islamischen Welt positionierten, wurde bereits in der vierten Ausgabe des Jahres 1891 in der Reihe „Wir achten jeden, aber auf uns sind wir stolz!“ beantwortet: „Wir werden nie leugnen, dass wir ein Teil des südslawischen Volkes sind“, schrieb der Verfasser, „aber wir wollen auch klar und deutlich beweisen, dass die Bosnier auf der ersten Stufe des südslawischen Volkes stehen. Wir werden immer Bosnier bleiben, so wie unsere Vorväter – und nichts anderes!“19 Die muslimischen Bosnier definierten sich, dies wird klar benannt, in erster Linie als Bosnier und zusätzlich als Südslawen. Dabei stellten sie jedoch einen autochthonen „Zweig des südslawischen Astes“ dar, wie es Safvet-beg Basˇagic´ bereits in dem Gedicht Was ist der Bosniake? formulierte. Diese Zugehörigkeit zur slawischen Welt wurde in „Unsere Mektebs“20 noch verdeutlicht: „Wir Mohammedaner aus Bosnien und der Herzegovina […] fallen, Gott sei Dank, unter die große Gemeinschaft der slawischen Völker, welche fähig sind, alles zu lernen und welche heute eine große Reihe berühmter Leute haben“. Es seien „vor allem Völker, welche sich zu den kulturellen und gebildeten Völkern der Welt zählen“ dürfen und „wir Mohammedaner in Bosnien und der Herzegovina, als Slawen, 17 18 19 20

,Aufruf an die Abonnenten‘, in: BOSˇNJAK 1891/1, S. 1. Vgl. Krusˇivac, Todor: Bosansko-hercegovacˇki listovi u XIX veku. Sarajevo 1978, S. 241 f. ,Wir achten jeden, aber auf uns sind wir stolz!‘, in: BOSˇNJAK 1891/4, S. 1. ,Unsere Mektebs‘, in: BOSˇNJAK 1894/43, S. 1.

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Abb. 1: Bosˇnjak – list za politiku, pouku i zabavu 2, 1891, Titelseite.

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haben in uns das Bedürfnis, uns den fortschrittlichsten Völkern der Erde anzunähern und zu zeigen, dass wir nicht anderen geistig untertänig sind.“21 Die erklärte Verwandtschaft des südlawischen Volkes – bei gleichzeitiger Distanzierung von der (islamischen) Religion – wirft jedoch ein neues Problem auf: Wie sollten sich die muslimischen Intellektuellen, die von der historisch nachvollziehbaren Eigenständigkeit des bosnischen Volkes überzeugt waren, von den Kroaten und den Serben abgrenzen? Der Artikel „Kroaten oder Serben“22 benennt diese Problematik. In vergangenen Werken häuften sich Artikel von unseren Brüdern, den Kroaten und Serben, welche sie uns in ihren verschiedenen Blättern zusenden. Einer möchte, dass wir Kroaten werden, und der andere, dass wir Serben werden. Sie verdächtigen uns fälschlicherweise, dass wir uns von ihnen abgrenzen, dass wir uns nicht als Slawen betrachten, sie tadeln uns, dass wir uns entfernen, dass wir den Separatismus vergrößern, dass wir unsere kroatischen Brüder zurückweisen – sagen die einen, und die serbischen Brüder – sagen die anderen; letztlich rufen sie uns von einer Seite zu, dass wir nicht zur anderen Seite tendieren sollen usw. […] Erstens weisen wir die Unterstellung zurück, dass wir uns nicht als Slawen betrachten. Das haben wir nie behauptet. Im Gegenteil, wir haben viele Male klar und deutlich gesagt, dass wir ein Zweig des jugoslawischen Volkes sind. Das denken wir auch heute noch, wissend, dass es nie anders sein wird. Das beweist unsere Vergangenheit, unsere Sprache, unsere Bräuche, unsere Lieder, das ganze Volksleben.

Die Zugehörigkeit zur slawischen Welt wird hier über die Sprache und ihre Ausdrucksformen (Lieder) sowie die geteilte Kulturgeschichte (Brauchtum, Volksleben) erklärt. Eben diese Bruderschaft, von der die Intellektuellen ausgingen, dass sie schriftlich und mündlich bewiesen sei, führte jedoch zu einer Kontroverse, die die nächsten Jahre der Redaktionstätigkeit bei Bosˇnjak bestimmte: In der 32. Ausgabe aus dem Jahr 1892 ist ein Kommentar zu einem Artikel der kroatischen Zeitung Crvena Hrvatska (Rotes Kroatien) mit dem Titel „Wohin wollen unsere Muslime?“ zu lesen.23 „Fühlen sie sich etwa Erger und Berger“, also den Österreichern, näher als ihren „gleichblütigen Brüdern, die dieselbe Sprache sprechen und durch deren Adern das gleiche – slawische – Blut fließt?“ 21 Neben der Nähe zum slawischen Volk wird in diesem Abschnitt auch die Nähe zum westeuropäischen Kulturraum gesucht. Trotzdem richtete sich der Blick der muslimischen Bosnier für ihre „Modernisierungsmission“ eher Richtung Osten als Richtung Westen. Der laizistische Modernismus des Inders Sayyid Ahmad Khan sowie der moderne Islamismus von Dschamal ad-Din al-Afghani dienten ihnen wohl eher als Vorbilder. Für eine Darstellung beider Bewegungen, vgl. Ansary, Tamim: Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht. Frankfurt/M. 2009; sowie Keddie, Nikki R.: Sayyid Jamal ad-Din „alAfghani“. A political Biography. Berkeley 1972 und Troll, Christian: The contribution of Sayyid Ahmad Khan to a new nineteenth century „Ilm al-kalam“. London 1975 für Biografien der beiden Modernisierer. 22 ,Kroaten oder Serben‘, in: BOSˇNJAK 1892/35, S. 1. 23 ,Wohin wollen unsere Muslime?‘, in: BOSˇNJAK 1892/32, S. 1.

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wird der kroatische Autor zitiert, der neben der Sprachverwandtschaft auch auf die „Blutsbrüderschaft“ als Intensivierung bzw. Verdinglichung der südslawischen Einheit verweist. Dieser Ausdruck wird jedoch in Bosˇnjak nur sehr selten verwendet. Hier werden die Kroaten und die Serben zumeist lediglich als „Nachbarn“ oder „Freunde“ bezeichnet: „In ihren Angriffen gegen uns sind sich unsere Nachbarn einig, welche wir, damit man es besser versteht, Jovo und Ivo nennen werden […]. Freund Jovo empfiehlt uns, dass wir seinen Namen annehmen, aber Freund Ivo sagt „Nein, Bosniake, du bist meins und musst meinen Namen umarmen.“24 Auf den Artikel in Crvena Hrvatska antwortete ein Autor in Bosˇnjak dementsprechend: Lasst uns in Ruhe, liebe Leute! Gebt uns Frieden! Jedem das seine, aber Frieden für Bosnien! Wir können Freunde sein und Bosnier bleiben, so wie unsere Vorfahren. Wir werden unsere Vergangenheit nie vergessen, unsere Sprache, unsere Lieder, unsere Geschichten, unsere Volkstraditionen […] Die Leute von „Crvena“ glauben, dass sie jetzt Unterstützung aus Bosnien und der Herzegowina bekommen und dass sie auf diese zählen können. Wir wollen dem nicht widersprechen, aber wir fürchten, dass sie sich verrechnet haben. Sie sollten sich daran erinnern, was Bruder Antun Knezˇevic´ einmal gesagt hat: „In Bosnien, da gibt es die Bosniaken, und wer Kroate sein will, soll ein Kroate sein und die Serben sollen nach Serbien gehen“. Bis vor sehr Kurzem gab es allerdings über dieses Thema keine Diskussionen, so wie unser junger Dichter geschrieben hat: „Von Trebinje bis zur Broder Pforte, gab es keine Serben und keine Kroaten“. Aber neuerdings hat sich bei den Christen [d. h. den Orthodoxen, Anm. d. Verfasserin] die Mode ausgebreitet zu sagen: Wir sind Serben! Und bei den Katholiken: Wir sind Kroaten! Will der Nationalismus etwa, dass wir uns den Konfessionen nach trennen, so wie unsere Regierungen das fordern? Ist das nützlich oder natürlich? Definitiv nicht, aber was soll man machen mit diesen erhitzten Köpfen, die dem Fanatismus verfallen sind?25

Auch hier wird die Zugehörigkeit zur südslawischen Familie erneut bekräftigt. Bemerkenswert ist jedoch die Inversion der klassischen Rollenverteilung der Moderne: Die Christen werden hier als „religiöse Fanatiker“ angesehen, die nicht zwischen Religion und Nationalismus differenzieren können. Die bosnisch-muslimischen Intellektuellen empfanden sich als „aufgeklärter“, als die Anhänger der moderneren und modernisierungsfreundlicheren Religion. Doch Bosˇnjak sollte sich auf weltliche Themen, auf die Bosnier, konzentrieren. Die Orientierung an der Slawia ist dabei nicht überraschend, da die bosnischen Muslime Ende des 19. Jahrhunderts nicht einmal 50 % der Bevölkerung BosnienHerzegowinas stellten.26 Die zweite Zeitung, Behar – list za zabavu i pouku (Blüte – Blatt für Unterhaltung und Bildung, Sarajevo: 1900 – 1910), widmete sich ge24 ,Wir achten jeden, aber auf uns sind wir stolz!‘, in: BOSˇNJAK 1891/4, S. 1 f. 25 Vgl. BOSˇNJAK 1892/32, S. 1 f. 26 Vgl. Dzˇaja 1994.

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zielt dem Islam als Theologie. Modernisierung und Glauben waren die beiden programmatischen Schlagwörter. Gleichzeitig war die Zeitung jedoch patriotisch ausgerichtet: so repräsentierte Behar, das türkische Wort für Blüte, die Wiedergeburt der bosnisch-muslimischen Identität.

Behar – list za zabavu i pouku Die Titelseite schmückte ein aufwendiges Logo: Die Gazi Husrev-Beg (auch: Begova) Moschee aus Sarajevo, die älteste und größte Moschee Bosniens aus dem Jahre 1530. Sie verortete die Zeitung nach Bosnien und ins islamische Milieu. Der Name Behar war dabei sowohl in arabischen als auch in lateinischen Buchstaben auf einer nach islamischer Kunst verzierten Steintafel dargestellt, an deren oberen Ende ein Halbmond leuchtete. Um die Tafel rankten sich Knospen und Blüten, das Erwachen der literarischen und kulturpolitischen muslimischen Bewegung in Bosnien symbolisierend.27 Im Hintergrund erstreckten sich die bosnischen Berge. Das Datum stand sowohl nach christlicher (1. maja 1900) als auch nach islamischer (1. muharema 1318) Zeitrechnung auf der ersten Seite. Praktischerweise fiel der 1. Mai 1900 in jenem Jahr genau mit dem islamischen Neujahrstag zusammen: So verkörperte das Datum den Beginn eines neuen (=modernen) Zeitalters für die bosnisch-herzegowinischen Muslime.28 Ebenso wie in Bosˇnjak wurde auf der ersten Seite der ersten Ausgabe das angestrebte Programm veröffentlicht. Und während in Bosˇnjak die politische (Volks-)Identität der muslimischen Bosnier definiert werden sollte – ohne die islamische Religion als Grundlage verwenden zu können – wurde in Behar die Identität des bosnischen Islam bestimmt. Mit den Bereichen Bildung, Schule, Familie und Kunst sollte er als kulturstiftende Komponente der bosnisch-muslimischen Gemeinschaft gelten. Diese Beschränkung des Islam auf eine unpolitische, private Dimension verdeutlichen die Diskussionen rund um Konzepte der „Glaubensbruderschaft“. Zahlreiche hadithe, d. h. direkte Überlieferungen des Propheten Mohammeds, die die Bruderschaft zwischen Muslimen betreffen, wurden in Behar gedruckt, zum Beispiel in der Ausgabe Nr. 18 aus dem Jahr 1905: „Ihr werdet nicht in das Paradies eingehen, wenn ihr nicht glaubt. Ihr werdet nicht glauben, bevor keine Bruderschaft zwischen euch ist.“ Oder : „Was Liebe und Bruderschaft zwischen den Muslimen betrifft, ist dies das erste Glaubensgebot.“.29 Auch die Reihe „Die 27 Rizvic´, Muhsin: Knjizˇevno stvaranje muslimanskih pisaca u Bosni i Hercegovini u doba austrougarske vladavine. Sarajevo 1973, S. 33. 28 Vgl. Gelez, Philippe: Safvet-Beg Basˇagic´ (1870 – 1934) – Aux racines intellectuelles de la pens¦e nationale chez les musulmans de Bosnie-Herz¦govine. Paris 2010, S. 339. 29 Vgl. BEHAR 1905/18, S. 1 f.

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Abb. 2: Behar – list za zabavu i pouku 1, 1900, Titelseite.

panislamische Idee“ widmete sich diesem Thema: „Der Islam wurde auf den Prinzipien der Gemeinschaft gegründet und die Muslime empfinden immer eine gleichbleibende Liebe für ihre „Glaubensbrüder“, gleich in welcher Gegend der Welt sie leben mögen.“30 Dies waren jedoch lediglich spirituelle Konzepte. Eine politische Bruder30 ,Die panislamische Idee‘, in: BEHAR 1907/1, S. 1 f.

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schaft im Sinne von „einer Nation“ wurde nur in einem einzigen Gedicht ausgedrückt, nämlich in Basˇagic´’ Gajret – und hier bezieht sich die Bruderschaft auf das bosnische Volk: Söhne, brüllt wie der Donner, Wenn die Angelegenheit eure Brüder betrifft […]. So dass wir unserer Nation vertrauen können – unserer ruhmreichen Nation!31

Gajret war eine von Safvet-beg Basˇagic´ und Osman Nuri Hadzˇic´ neu gegründete Stiftung. Sie sollte muslimischen Studenten Stipendien für den Besuch einer Universität zur Verfügung stellen. Gajret (türk. gayret=Bestreben, Fleiß; auf Bosnisch oft mit Hilfe, pomoc´, übersetzt) wurde schnell zur bedeutendsten Organisation innerhalb der bosnisch-muslimischen Gemeinschaft.32 Basˇagic´ benennt hier zwar eindeutig eine muslimische Bruderschaft, doch beschränkt er diese auf die bosnisch-muslimische Gemeinschaft bzw. die bosnische Nation. Auch Osman Nuri Hadzˇic´, Basˇagic´’ Kollege in der Redaktion von Behar, griff den Bruderbegriff auf. In der Reihe „Papierne Kreuzzüge“33 fragte sich der Autor, ob er in einer Zeit der Kreuzzüge lebe, denn er beobachte immer häufiger Angriffe von „der rechten und linken Seite“ (dies als geografische, nicht politische Begriffe) auf seinen islamischen Glauben. „Bücher und Zeitungen werden gedruckt“, sagt er, „nur um den Islam zu beleidigen“. Er bezeichnete den Prozess als „literarischen Vandalismus durch unsere Brüder (?!?) [sic] an der Drina und der Save“. Weiter schrieb er : Und einer wie der andere bezeichnet uns als „Bruder“, lieb und teuer, und wenn sich ihm nicht die Gelegenheit bietet, dann beleidigt er uns auch nicht. Hierher „Brüder“! auf allen Seiten, so dass es uns schon die Ohren betäubt sind von dem leeren „Brüder“ Geschrei, aber sie schlagen nach uns und unserem Glauben, dass man es nicht mehr aushalten kann. Im politischen Kampf schlagen sie sich gegenseitig blutig über unsere „Bruderschaft“, aber was den Angriff auf unseren heiligen Glauben angeht, da sind sie sich einig wie eineiige Zwillinge. So beweisen sie uns von der einen und der anderen Seite, dass wir „Brüder“ seien, dass sie unsere religiösen und gesellschaftlichen Bräuche respektieren, dass uns in der Gesellschaft mit ihnen keine Not aufgrund des Glaubens drohe und so weiter, auf der anderen Seite liefern sie sich einen Wettbewerb, wer uns und unseren Glauben am übelsten beleidigt, suchen in der Literatur, um denjenigen zu übersetzen, der gegen den Islam ist, und um uns das dann im Namen der „Bruderliebe“ unter die „brüderliche“ Nase zu reiben. Aber wenn wir uns zur Verteidigung unseres Heiligtums erheben, wenn wir ihnen, den Islam beschützend, auf dem Weg eine Ohrfeige verpassen, dann rufen sie uns zu, dass wir unausstehlich, intolerant seien, „dass wir uns streiten mit den vereinten Brüdern 31 Vgl. u. a. in: BEHAR 1902/21. 32 Gelez 2010, S. 368 f. 33 Vgl. ,Papierne Kreuzzüge‘, in: BEHAR 18/1905 und BEHAR 1/1907, S. 1 f.

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(!?!) [sic],“ – in einem Wort verlangen sie von uns, dass wir schweigen, dass wir nicht auf ihre gemeinen Angriffe reagieren. Taugt dies für Bruderliebe? Unmöglich!34

Hadzˇic´ sieht demnach die Südslawen als „Brüder“, miteinander verbunden durch die Kultur und die Sprache. Getrennt werden sie „nur“ durch den Glauben. Die Polemik dieses Artikels, der den Kroaten und Serben eine „Mission“ gegen das Bosniertum vorwarf, soll nicht von der Tatsache ablenken, dass eine mögliche politische Union wie später in Jugoslawien immer nur mit den südslawischen Nachbarn, nie mit den türkischen oder arabischen muslimischen Glaubensbrüdern diskutiert wurde. Der Grund hierfür ist erneut die von Herder übernommene Überzeugung, dass sich Völker durch ihre Muttersprache bestimmen: „Heute leben Muslime in allen Teilen der Welt und sie gehören, ihrer Herkunft entsprechend, verschiedenen Nationen an“. Alle Araber „sprechen die gleiche Sprache, die die meisten Wörter aller Sprachen der Welt hat“. Die zweitgrößte islamische Nation seien die Türken. Doch auch „die Türken sind ihren Dialekten entsprechend in mehrere Völker aufgeteilt“.35

Muslime und Slawen: Gläubige Blutsbrüder Die bosnisch-muslimischen Intellektuellen definierten Konzepte der politischen Gemeinschaftsstiftung über zwei Faktoren: Herkunft und Sprache. Keine andere Zugehörigkeit, besonders nicht die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe, war für sie bestimmender als diese beiden Aspekte. Hiermit folgten die muslimischen Bosnier einem Trend in der islamischen Welt, in der man den ,modernen‘ Nationalismus als eine Idee, die aus dem Westen importiert worden war, auch mit westlichen Konzepten umsetzte. Ein neuer Rationalismus war mit der Aufklärung in die islamische Religion eingegangen, ohne jedoch den Glauben zu schwächen. Denn der Islam, so der Verfasser des Artikels „Der Islam als Kulturgrundlage“36, erwarte von seinen Anhängern nicht, „dass sie die Verbindungen mit den ihrigen (Sippe, Stamm) aufgeben, selbst wenn diese einem anderen Glauben angehören“. Die Grundlage hierfür lieferte ein weiterer hadith: Mohammed (er ruhe in Frieden) und die ersten Muslime haben uns die schönsten Vorbilder geliefert, wie man mit Menschen anderen Glaubens zusammen leben sollte. Er ging mit ihnen zu Vergnügungen, er spazierte mit ihnen, er begleitete ihre Toten, drückte sein Mitgefühl aus, wenn sie unglücklich waren und lebte einfach mit ihnen in der Art und Weise wie Menschen an einem Ort und unter den gleichen Umständen zusammen leben sollten. Es ist auch belegt, dass er Geld von ihnen lieh und dass er seine 34 Ebd. 35 ,Die panislamische Idee‘, in: BEHAR 1906/2, S. 1 f. 36 ,Der Islam als Kulturgrundlage‘, in: BEHAR 1905/21, S. 1 f.

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Wertgegenstände als Pfand gab. Und das liegt nicht daran, dass er kein Geld hätte von Muslimen leihen können. […] Wir sehen, dass ein Muslim in einem nicht-islamischen Land leben kann, er kann dort heiraten usw. Keine andere Philosophie verlangt von ihren Anhängern so viel Respekt anderen Menschen gegenüber wie der Islam.37

Der Islam verpflichte seine Anhänger, ganz im Gegenteil, Mitbürger anderer Religionen „gut zu behandeln, unsere Pflichten ihnen gegenüber vollständig zu erfüllen“, denn Gott habe „sicher nicht die Erlösung gebracht, nur um dann Sippen, Völker, Mitbürger und die Menschheit an sich zu entzweien. Ein Muslim kann in einer Familie leben, selbst wenn alle anderen Familienmitglieder einen anderen Glauben haben“.38 Diese Modernisierungsbewegung der „napredni muslimani“ (fortschrittliche Muslime) die eine brüderliche Freundschaft – keine politische Einheit – der Südslawen, gleich welcher Religion, propagierte, hatte jedoch keinen großen Erfolg: Zwar ließen die Gegenstimmen Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend nach, doch die einsetzende Nationalbewegung im eigenen Land orientierte sich immer stärker an der religiösen Zugehörigkeit. Die Gründung der ersten muslimischen Partei (Muslimanska narodna organizacija, 1906) in Bosnien-Herzegowina bedeutete somit das (frühe) Ende der laizistischen Idee; der Zusammenschluss der einzelnen Länder zum Königreich Jugoslawien im Jahr 1918 das vorläufige Ende der bosnischen Eigenständigkeit.

Abbildungen Abb. 1: Titelblatt, BOSˇNJAK – LIST ZA POLITIKU, POUKU I ZABAVU 2, 1891. Abb. 2: Titelblatt, BEHAR – LIST ZA ZABAVU I POUKU 1, 1900.

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Milka Car (Zagreb)

Brüderlichkeitsdiskurse im Spiegel der Rezeptionsgeschichte im kroatischen Nationaltheater in Zagreb um 1918

„Unter den Vertretern der österreichischen Moderne nimmt Arthur Schnitzler einen hervorragenden Platz ein“,1 konstatiert anlässlich der kroatischen Erstaufführung der Liebelei von Arthur Schnitzler im November des Jahres 1898 der Rezensent der Agramer Zeitung, einer von 1848 bis 1912 in Zagreb publizierten deutschsprachigen Zeitung. An erster Stelle hebt der Rezensent den hohen Status des Wiener Autors hervor, der als erster Repräsentant der Wiener Moderne auf der damaligen Zagreber Bühne, dem einzigen Nationaltheater auf kroatischem Boden aufgeführt wird. Jedoch ist der Ton der Theaterrezension im Weiteren nicht nur positiv : „Die Novität hat einen sehr schönen Succ¦s davongetragen, wir wählen das Fremdwort absichtlich, denn ein so ganz voller Erfolg war es nicht, woran freilich weder der Verfasser noch die Darstellung oder das Publicum die Schuld trägt.“2 Der Rezensent versucht Erklärungen für die ambivalente Rezeption des bedeutenden modernistischen Dramas anzubieten. Vor allem hebt er hervor, dass dieses Drama des „besten jungen Bühnendichters Wiens“ trotz seiner Modernität doch „viel zu sehr im heimatlichen Boden“ verwurzelt sei – es zeige „ein Stück Wiener Leben“, so dass „trotz manchem verwandtschaftlichen Zuge der Wiener und der Agramer Bevölkerung“ das Publikum den geschilderten „Wiener Typen“ doch „kein volles Verständnis entgegenbringen“ könne. Offensichtlich weist gerade das fremde Wort – Succ¦s – auf das Grundproblem hin, nämlich auf die kulturell und sozialgeschichtlich vielfach belasteten Kontakte mit der deutschsprachigen Dramatik und damit implizit auch auf Versuche, an die anderen, v. a. slawischen Theatermodelle anzuknüpfen, die dem Publikumsprofil mehr entsprächen. Das in der Rezension des S-n., wahrscheinlich unter Pseudonym schreibenden Ivan Souvan, eines damals einflussreichen Theaterkritikers, zum Ausdruck gebrachte Unbehagen entstammt v. a. dem „fremden Gewande und […] fremder Umgebung“ und ist nicht in bühnenästhetischen oder textimmanenten Verhältnissen zu suchen. 1 S-n.: ,Kunstchronik-Landestheater‘, in: AGRAMER ZEITUNG 257, 09. 11. 1898, S. 4. 2 Ebd.

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Milka Car

Vielmehr wird in seiner Rezension, wie es in damaligen Theaterrezensionen sehr oft der Fall ist, eine mehr oder weniger explizite Opposition zwischen der ,unseren‘, ,nationalen‘, ,slawischen‘ auf der einen und der ,fremden‘ wienerischen bzw. deutschsprachigen Kultur auf der anderen Seite hergestellt, die dann auch die Rezeption maßgeblich steuert. In der hier angeführten, für die Zeit exemplarischen Rezension, ist die für das kroatische Theater in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristische ambivalente Einstellung gegenüber der deutschsprachigen Dramatik erkennbar. Die Ambivalenz geht aus der Tatsache hervor, dass das Nationaltheater in Zagreb starken Einflüssen der deutschsprachigen Dramatik unterliegt, zugleich aber im Zuge der Artikulation nationaler Identität große gesellschaftliche Integrationskraft bekommt. Dass solche langfristig existierenden und immer wieder aufbrechenden Oppositionen allmählich mit einer genuin mythopoetischen Struktur der „Brüderlichkeit“ in Zusammenhang gerückt werden, ist insbesondere in der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg und nach der Gründung des Königreich SHS zu beobachten. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts ist die Tendenz bemerkbar, slawische Stücke wegen der „zerrissenen Lage“3 in der Heimat stark zu bevorzugen, so dass z. B. das Drama Zimsko sunce („Winterliche Sonne“)4, ein „Bild aus dem Leben in Istrien“ des modernistischen kroatischen Autors Viktor Car Emin 1903 mit Begeisterung in allen Zeitungen als bedeutendes patriotisches Drama angekündigt wurde. Aufgabe des Nationaltheaters, so hebt ein Rezensent in der Zeitung Obzor angesichts der Uraufführung dieses Dramas hervor, sei es, den „Geist der Liebe“ zu pflegen, und zwar „nicht der ,platonischen‘, ,tischrednerischen‘ oder ,humanen‘“, sondern der „lebendigen Liebe, die das ganze Volk zu Brüdern macht“.5 Zur gleichen Zeit erfolgt die Aufführung des bekannten Schauspiels Das Vermächtnis von Arthur Schnitzler. Allerdings ist der Aufführung Schnitzlers unter Regie von Gavro Savic´ kein „allzugroßer Erfolg“6 beschieden. In der Rezension der Agramer Zeitung wird bemängelt, dass das „eigentliche Animo“ fehle, wahrscheinlich infolge „des schwachen Besuches […], den die Vorstellung aufzuweisen hatte“.7 Der Grund für den unerwartet 3 „Da i nije nepreporne pjesnicˇke ciene, ono bi za cielo vec´ kao etnolosˇki prilog bilo od neprocjenjive vriednosti za med¯usobno zblizˇenje, pa drzˇim, da je stoga upravo duzˇnost nasˇega Zagreba, koji se rado smatra ponosnim ,caput regni‘, da jednakom djelotvornom ljubavi prati svako kulturno nastojanje diljem cˇitave nam raztrgane domovine.“ Anonym: ,Zimsko sunce od Emina Cara‘, in: OBZOR 199, 30. 08. 1902, S. 5. 4 Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen aus dem Kroatischen ins Deutsche von der Autorin. 5 „Careva je drama jasno dokazala da nema ljubavi domovine bez ljubavi – naroda, i to ne ,platonske‘, ,nazdravicˇarske‘ ili ,humane‘ ljubavi, nego one zˇive ljubavi, koja od cˇitava naroda cˇini brac´u.“ ar.: ,U cˇem je snaga Careva ,Zimskog sunca?‘, in: OBZOR 7, 10. 01. 1903, S. 1. 6 Anonym: ,Landestheater‘, in: AGRAMER ZEITUNG 61, 16. 03. 1903, S. 5 – 6. 7 Ebd.

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spärlichen Besuch wird verschwiegen, die oppositionellen Zeitungen gehen jedoch auf diesen Umstand ausführlich und kritisch ein. Es wird der Theaterleitung vorgeworfen, diese interessante und attraktive Novität ausgerechnet am selben Abend des „patriotischen Konzerts“ für die patriotische Gesellschaft ´ iril und Metod“8 angesetzt zu haben, so dass das Theaterhaus „halb leer“ „C gewesen sei, bzw. nur diejenigen anwesend waren, die ins Konzert „nicht wollten oder aus ,höheren‘ Gründen nicht durften“ – wie der Theaterleitung in der Zeitung Obzor vorgeworfen wurde.9 Aus dem um die Zeitschrift Hrvatsko pravo versammelten Lager der kroatischen Nationalisten erfolgen scharfe Attacken auf die regimetreue Agramer Zeitung, die den „alten fremden-schwäbisch-magyarischen Geist“10 nicht aufgeben kann und das patriotische Konzert,11 dieses „Fest der Vaterlandsliebe“, einfach verschwiegen habe. So wird mit diesem Konzert, das dem „grundsätzlichen nationalen Zweck“ der Anerkennung der unter italienischer Herrschaft in Istrien lebenden kroatischen Ethnie gewidmet ist, die Rezeption Schnitzlers infolge der Leere und der „Begräbnisatmosphäre“ im Theater12 einerseits als negativ markiert, andererseits werden gerade anhand der Opposition gegenüber dem fremden ,schwäbisch-magyarischen Geist‘ die patriotisch aufgeladenen Brüderlichkeitsdiskurse als ästhetische Figurationen des Politischen im Theater aktiviert. Darin sind die gleichen Mechanismen erkennbar, die die Institution Theater unmittelbar mit dem nationalbildenden Diskurs verknüpfen und in ein Ho8 „Kazalisˇtna uprava htjela je preksinoc´ stvoriti cˇudo: primamiti naime publiku na premieru ´ irila i Schnitzlerova ,Amaneta‘ i odvratiti ju tim nacˇinom od koncerta u korist druzˇbe sv. C Metoda. Ali nije uspjela ni na pola, jer je kuc´a bila skoro prazna, a i ono malo obc´instva, koje je predstavi prisustvovalo, sacˇinjavali su oni, koji na koncert nisu smjeli ili nisu htjeli – iz ,visˇih‘ razloga, te novinari i stranci. Vrlo je sgodno neki dan primjetio jedan ovdasˇnji dnevnik, da bi bilo umjestno preksinoc´ ne davati nikakove predstave, a josˇ manje premieru i to iz obzira prama patriotskoj svrsi koncerta za istarsku druzˇbu, no kazalisˇtna uprava kao da je to previdila ili joj je stigao ferman s visoka.“ Anonym: ,Amanet‘, in: HRVATSKA 61, 16. 03. 1903, S. 3. 9 „Kad se radi o takvim obc´enarodnim svrhama, kojima se sluzˇi n. pr. nasˇa istarska druzˇba, onda bi nasˇem misˇljenju i hrvatsko kazalisˇte moralo prema ovakvoj svrsi imati duzˇni obzir. […] upravo zievalo prazninom. Neko sprovodno razpolozˇenje vladalo je u subotu u nasˇem kazalisˇtu.“ Anonym: ,Amanet‘, in: OBZOR 61, 16. 03. 1903, S. 154. 10 „[…] docˇim je duh lista, ostao onaj stari, mi c´emo odmah dodati tudjinsko – sˇvabsko – magjarski. To se najbolje vidjelo iz njezinog jucˇerasˇnjeg broja. Znade o svemu i svacˇem na dugo i sˇiroko klafrati, ali o hrvatskom slavlju u kazalisˇtu i na ulici prigodom predstave „Zimskog sunca“ na dan sv. Tri kralja ni slovceta.“ Anonym: ,Agramericˇino izvjesˇc´ivanje‘, in: HRVATSKO PRAVO, 2147, 08. 01. 1903, S. 2. ´ irila i Metoda za Istru wurde im Jahre 1893 in Pula gegründet, 11 Die Gesellschaft Druzˇba sv. C mit dem Ziel, das kroatische und slowenische Schulwesen in Istrien zu gründen und die kroatische Allgemeinbildung voranzutreiben. Sie wird u. a. als ein Ausdruck der kroatischen Wiederbelebungstendenzen in Istrien im Rahmen der kulturell-aufklärerischen Tendenzen verstanden. 12 Anonym 61, 16. 03. 1903, S. 154.

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mogenisierungsprojekt überführen. So werden zehn Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Stücke je eines österreichischen und eines kroatischen Vertreters der Moderne völlig unterschiedlich in entscheidender Abhängigkeit von exogenen, zeitpolitischen und ideologiegebundenen Faktoren rezipiert. In seinem einflussreichen Aufsatz unter dem Titel Wer braucht Identität? erinnert Stuart Hall daran, dass Identitäten „vor allem auf der Grundlage von Differenz“ konstruiert werden. Demzufolge brauchen sie das „konstitutive Außen“.13 Im Falle der kroatischen Nationalidentität ist diese Rolle fortwährend doppelt besetzt: einerseits ist es eine überwiegend nicht-slawische Umgebung, innerhalb derer die Genese der nationalen Identität im 19. Jahrhundert erfolgt, andererseits existiert ein ambivalentes Konkurrenzverhältnis zur nachbarlichen slawischen Umgebung „ineinander verschränkter Peripherien“14 in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Brüderlichkeitsdiskurs wird eingesetzt, um diese Brüche im Projekt einer neuen slawischen Nation zu kitten.15 Dass gerade das Theater als Institution unmittelbar gesellschaftlichen und politischen Erschütterungen ausgesetzt ist, ist hinreichend bekannt. Deshalb sollen in dieser Arbeit die exogenen Bedingungen dargestellt werden, um die im Rahmen der Monarchie wirkenden integrativen Mechanismen der damals neuen jugoslawischen Ideologie im Theater verfolgen zu können. Rekonstruiert wird ein historisch bedingter Erfahrungshorizont, in dem die ihm zugrunde liegenden Mechanismen der Integration und nationalen Mobilisierung im Diskurs der Brüderlichkeit aktualisiert werden, um das Theater als primäres kulturelles Medium im Sinne der Mobilisierung, Stärkung und Betonung einer einheitlichen ideologischen Position zu funktionalisieren. Dies führt zur Frage nach dem spezifischen Status des Nationaltheaters zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der im ersten Teil der Arbeit historisch umrissen wird, um im zweiten Teil die exponentielle Verbreitung von Brüderlichkeitsdiskursen und die damit verbundene Ablehnung der deutschsprachigen Dramatik zu analysieren. Darüber hinaus soll

13 Die einmal unhinterfragt angenommenen Kategorien von Identität, Nation und Kollektiv sind deshalb als Effekte von sozialen Praktiken und Diskursen zu deuten: „Die Gesellschaft erscheint so […] nicht als eine dem Einzelnen gegenüberstehende Größe, sondern als konstituierendes Element seiner selbst. Identität, auch Ich-Identität, ist immer ein gesellschaftliches Konstrukt und als solches immer kulturelle Identität.“ Hall, Stuart: ,Wer braucht Identität?‘, in: Ders.: Ideologie. Identität. Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hamburg 2004, S. 167 – 187, hier S. 171. 14 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2007, S. 625. 15 Zu Brüchen und Unstimmigkeiten im Projekt einer jugoslawischen Nation vor Vereinigung u. a.: Jovic´, Dejan: ,Neki aspekti hrvatsko-srpskih odnosa u Slavoniji uocˇi i nakon stvaranja ˇ ubrilovic´, Vasa (Hg.): Stvaranje jugoslavenske drzˇave 1918. gojugoslavenske drzˇave‘, in: C dine. Beograd 1989, S. 263 – 274.

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das Thema dieser Arbeit sein, wie kulturelle Narrative im Theater erzeugt und imaginiert werden. In der für das 19. Jahrhundert in kroatischen Landen typischen Situation politischer Unterdrückung und wirtschaftlicher Rückständigkeit steht die Kultur im Dienste der Herausbildung einer spezifischen nationalen Identität – in diesem Modell ist die nationale Identität immer auf die kulturelle angewiesen. So sieht sich auch die Institution Theater dem romantisch-nationalen Mythos16 der Einheit von Kultur und Politik verpflichtet. Das Ringen um die Etablierung nationaler wissenschaftlicher und kultureller Institutionen ist nicht nur eine Frage der Forderung der Nationalkultur, sondern steht in direktem Zusammenhang mit dem Ausbau der bürgerlichen Gesellschaft. Insofern kam dem Nationaltheater eine identitätsstiftende Rolle zu. Die oft gebrauchte Wendung vom Sendungsbewusstsein und von der privilegierten Rolle des Theaters reflektiert das vom ersten Intendanten des neu eröffneten kroatischen Nationaltheaters in Zagreb und bedeutendsten Theaterreformer Stjepan Miletic´ übernommene und weitergeführte Programm der patriotischen Pädagogik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Seine Definition des Publikumsprofils in Kroatien liefert die Gründe dafür, da es von „Beamten, Schülern und einigen Literaten“17 gebildet werde, während das Bürgertum vollständig fehle. Zagreb hatte im Jahre 1895 etwa 60 000 Einwohner und das neue Theatergebäude verfügte über 900 Plätze, die oft nicht vollständig besetzt werden konnten. Auch andere Angaben können helfen, das Bild von der Aufnahmebereitschaft der Öffentlichkeit abzurunden – in der Zeit um 1895 waren 84,53 % der kroatischen Bevölkerung noch in der Landwirtschaft tätig, 66,9 % waren Analphabeten.18 Der Prozess der Entstehung eines repräsentativen Repertoires geht Hand in Hand mit der Entfaltung und Konsolidierung des Bildungsbürgertums, das nicht nur im 19., sondern auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in „vorindustriellen Bevölkerungsverhältnissen“19 lebte. Die einheitsstiftende Rolle der Kultur einer im Entstehen begriffenen Nation wird mit Hilfe der Arbeit am nationalen Kanon realisiert. Die Herausbildung einer nationalen Theaterkultur bürgerlichen Zuschnitts, in der die moralische und nationale Identität mittels ,ästhetischer Erziehung‘ gesichert werden soll, steht im Mittelpunkt aller Bemühungen um das Nationaltheater. Das Theater 16 Zu diesem aus Frankreich importierten Modell der nationalen Homogenisierung vgl. Suppan, Arnold: ,Cuius regio eius natio‘, in: Ders.: Oblikovanje nacije u grad¯anskoj hrvatskoj (1835 – 1918.). Zagreb 1999, S. 21 – 37. 17 Miletic´, Stjepan: Iz raznih novina. Odabrani sastavci o kazalisˇtu, umjetnosti i knjizˇevnosti. Bd. 2. Zagreb 1909, S. 186. 18 Sˇidak, Jaroslav / Gross, Mirjana / Karaman, Igor / Sˇepic´, Dragovan: Povijest hrvatskog naroda 1860 – 1914. Zagreb 1968. 19 Gross, Mirjana: Pocˇeci moderne Hrvatske. Zagreb 1985, S. 353.

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erweist sich in dieser Perspektive als Medium für ideologische und nationale Inhalte, wobei ausdrücklich gefordert wird, die gerade erst erworbene südslawische Identität abzusichern. Die Sendung des kroatischen Nationaltheaters, die aus dem Schwung der illyrischen Bewegung hervorgeht, wird für die Bestätigung der nationalen Repräsentationsbedürfnisse mit nationalen und integrativen Elementen aufgeladen, was ein langfristiger Prozess ist, der die ganze erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnet. Die klaffenden Unterschiede zwischen dem industrialisierten Zentrum und den unterentwickelten Randgebieten der Habsburger Monarchie verschärfen die ungelösten nationalen Fragen. Die Innenpolitik erschöpft sich in Versuchen, jegliche Form nationaler Emanzipation zu verhindern. Dadurch aber werden gerade die Autonomiebestrebungen der Völker zusätzlich verstärkt. Als Antwort auf die Machtpolitik Wiens und die Durchsetzung imperialistischer Ziele nach dem 1879 geschlossenen Bündnis der Monarchie mit dem Wilhelminischen Deutschland – als „Drang nach Osten“ bezeichnet und gefürchtet20 – werden die pro-slawischen Tendenzen immer stärker. Die Idee der Zusammengehörigkeit wird dadurch virulent. Zurückgegriffen wurde dabei auf bestimmte, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene Ideen der illyrischen Bewegung, die sich in der Entwicklung aller südslawischen Völker als kulturelle und nationalpolitisch-konstitutive geschichtliche Kraft21 erwiesen hatten und auch nach dem Ende dieser geschichtlichen Periode beharrlich weiterlebten. In Kreisen der gebildeten Eliten formierten sich soziale Gruppen, die bestrebt waren, die Imagination der nationalen Gemeinschaft voranzutreiben und zum historischen Träger des Nationalbewusstseins zu werden.22 Die Illyristen, junge gebildete Nationalisten, sahen im Nationalstaat die Voraussetzung jeglichen Fortschritts. Ihr Ziel war die Konsolidierung einer einheitlichen slawischen Nation in einem eigenen Verfassungsstaat, um sich der aus Wien kommenden Assimilierungstendenzen zu erwehren. Die unter verschiedenen Fremdherrschaften lebenden Südslawen mussten sich als Kulturnationen erst formieren, wobei dem Konzept des ,integralen‘ Nationalismus eine entscheidende Rolle zukam. Die illyrische Bewegung wird dabei als eine Ausprägung des so genannten integralen Nationalismus (Charles Mauras) innerhalb der „slawischen Renaissance“23 gedeutet. In ihr wird 20 Als eine imperiale Gefahr wird es ausdrücklich von Ante Trumbic´ bezeichnet, in: Trumbic´, Ante: ,Proglas Jugoslovenskoga odbora Britanskom narodu‘, in: Sˇisˇic´, Ferdo: Dokumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914.–1919. Zagreb 1920, S. 46 – 47. 21 Vgl. dazu eine klassische historiografische Studie zur illyrischen Frage: Sˇidak, Jaroslav : Studije iz hrvatske povijesti 19. stoljec´a. Zagreb 1973. 22 Zur illyrischen Ideologie vlg.: Coha, Suzana: ,Mitom stvorena i mitotovorbena ideologija hrvatskoga narodnog preporoda, ilirizma i romantizma‘, in: Uzˇarevic´, Josip: Romantizam i pitanja modernoga subjekta. Zagreb 2008, S. 377 – 426. 23 Kann, Robert A.: Geschichte des Habsburgerreiches 1526 – 1918. Wien-Graz 1977, S. 226.

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das Bild der Nation als einer Gemeinschaft mit gemeinsamer Kultur als Kernpunkt entworfen, die Entwicklung dieser Nationalkultur ist die Voraussetzung der ,Erweckung‘ des Nationalbewusstseins. Die Kultur wird somit zum entscheidenden Faktor der nationalen Integration – die kulturelle Homogenisierung soll auch die politische vorantreiben. In einer von der Mobilisierungsideologie24 bestimmten Kultur haben sich sämtliche Teilbereiche diesem feststehenden Sinn unterzuordnen. So sieht man auf kroatischer Seite den Hauptfeind der kulturellen Integration, die der nationalen Integration in der fremden – also deutschen Kultur – vorangehen soll. Zwei Drittel des Zagreber Repertoires entfallen auf romanische und germanische Dramen, zählt Fran Hrcˇic´ in der Zeitschrift Savremenik25 auf und fordert eine stärkere gemeinsame Produktion südslawischer Autoren. Neo-illyrische Tendenzen kommen stärker zum Tragen. Den Unterschied zur Bewegung des Illyrismus im 19. Jahrhundert beschreibt Milan Marjanovic´ so: „Es ist nicht eine Nation, die erwacht, sondern eine, die erst im Entstehen begriffen ist.“26 Die südslawische Idee der Einheit wird zu einer kulturellen und nationalpolitisch-konstitutiven geschichtlichen Kraft. Das Konzept des integralen Nationalismus ist somit eng mit der organischen Nationenvorstellung verbunden, wie sie im 20. Jahrhundert in der Sphäre der Familie domestiziert wird, um ihr mythopoetisches Potential entfalten zu können. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich aus den vagen illyrischen Ideen von slawischer Solidarität unterschiedliche politische Strömungen heraus, die das politische Leben in Kroatien in den nächsten Jahren bestimmen sollten. Das neue ideologische System des Jugoslawismus setzte sich vom illyrischen Namen ab und sah im Slawentum die Bedingung für die Existenz auch der kroatischen Nation. Die Ziele der neuen Nationalideologien waren nicht nur die Schaffung einer bürgerlichen Hochkultur, sondern auch die Mobilisierung der Bevölkerung zur beschleunigten Modernisierung der kroatischen postfeudalen Gesellschaft.27 Auf der einen Seite regte die jugoslawische Idee liberales Bürgertum und gebildete Priestereliten zu politischen und kulturellen Aktionen an, auf der anderen Seite vertraten die Ideologen des kroatischen historischen Staatsrechts mit der Idee des exklusiven kroatischen Nationalismus die Interessen noch nicht ausdifferenzierter kleinbürgerlicher Schichten, die in den 80ern endgültig an Einfluss gewinnen sollten. Beide Ideologien, die des Jugoslawentums und die des Kroatentums, beeinflussten alle kulturellen Bemühungen dieser Zeit in wechselndem Ausmaß. Insbesondere der 24 Ebd., S. 267. 25 Hrcˇic´, Fran: ,O uzajamnosti proizvodnje juzˇnoslovjenskih autora‘, in: SAVREMENIK 1, 1906, S. 419. 26 Gross, Mirjana: ,Nacionalne ideje studentske omladine u Hrvatskoj uocˇi I. svjetskog rata‘, in: Historijski zbornik XXI – II, Zagreb 1968/69, S. 132. 27 Gross, Mirjana: Die Anfänge des modernen Kroatiens. Wien 1993, S. 264.

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Jugoslawismus hatte eine komplizierte Struktur, weil er das Kroatentum und das Slawentum im unterschiedlichen Ausmaß miteinander kombinierte. Im Jahre 1903 war die Krise des Dualismus schließlich voll entbrannt und der „Nationalismus wurde zum Phänomen des Alltags“.28 In Kroatien hatte die Revision des Finanzausgleichs mit Ungarn 1902 zu Massenkundgebungen geführt. Im Jahre 1903 kam es nach der Ermordung eines Demonstranten in Zapresˇic´ zu fast revolutionsartigen Ausschreitungen, in deren Folge Banus Khuen-H¦derv‚ry, nach dem Fehlschlagen seines Auftrags in Kroatien, am 23. Juni 1903 nach Wien abberufen wurde. Aus der Krise der Monarchie und dem daraus resultierenden Erstarken der jugoslawischen Einigungsbestrebungen entstand die Politik des „Neuen Kurses“. Die Vereinigung aller südslawischen Gebiete in einen Staat wurde von ihr zum Programm erhoben. Die Idee einer trialistischen Neukonstruktion der Monarchie verlor an Kraft, da es kein durchführbares trialistisches Programm gab. Die führenden kroatischen Politiker des ,Neuen Kurses‘, Frano Supilo und Ante Trumbic´, versuchten ein föderalistisches Konzept der jugoslawischen Vereinigung mit Erhaltung und Erstarkung der nationalen Identitäten durchzusetzen. In der Resolution von Fiume 1905 wurden zum ersten Mal die gemeinsamen Interessen der Kroaten und Serben u. a. als „Versprechen des Friedens und der Brüderlichkeit“29 definiert. Mit der Bildung der serbischkroatischen Koalition 1906 fiel eine Entscheidung der kroatischen Politik für die jugoslawische Idee und die neue jugoslawische Nation wurde als „Brudernation“, in Anlehnung an die Ideale der „französischen Revolution“,30 entworfen. Die Verbindung der jugoslawischen Ideologie mit Brüderlichkeitsdiskursen geht aus der Proklamation vom Dezember 1905 hervor, in der ausdrücklich betont wird, „dass die Koalition die Überzeugung vertreten muss, Serben und Kroaten seien nicht zwei Völker, sondern Teile eines Volkes“.31 Von der raschen Verbreitung solcher Brüderlichkeitsdiskurse zeugt die Tatsache, dass in der Genfer Deklaration des Jugoslawischen Komitees vom 9. November 1918 die neue Regierung als „brüderlich“ bezeichnet wird. Das Kraftfeld der Politik breitete sich auch auf das Theater aus, wo nun eine starke pro-jugoslawische Kampagne einsetzte. Der bedeutende kroatische Theater28 Rumpler, Helmut: Österreichische Geschichte 1804 – 1914. Eine Chance für Mitteleuropa – bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Wien 1997, S. 490. 29 Trumbic´, Ante: ,Naknadni memoar Jugoslovenskog odbora, predan francuskoj vladi‘, in: Sˇisˇic´, Ferdo: Dokumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914.–1919. Zagreb 1920, S. 50 – 58, hier S. 56. 30 Trumbic´, Ante: ,Izjava Jugoslovenskog odbora prigodom krunisanja cara i kralja karla Habsbursˇkoga‘, in: Sˇisˇic´, Ferdo: Dokumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914.–1919. Zagreb 1920, S. 82 – 85, hier S. 83. 31 „Da je koalicija stala na gledisˇte, da Srbi i Hrvati nisu dva naroda, vec´ dijelovi jednog istog naroda.“ Zit. nach: Budisavljevic´, Srdan: Stvaranje Drzˇave Srba, Hrvata i Slovenaca. Povodom cˇetrdesetgodisˇnjice jugoslovenskog ujedinjenja. Zagreb 1958, S. 60.

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historiker Nikola Batusˇic´ formuliert die These von der untrennbaren Verbundenheit geschichtlicher und geopolitischer Faktoren in der Entwicklung des kroatischen Theaterlebens.32 In diesem Sinne wird betont, dass Stücke mit „nationaler Tendenz“33 weit relevanter für die kroatische Bühne seien. So wird 1903 in der Zeitschrift Obzor vor Saisonbeginn die Rolle des Theaters rekapituliert, indem seine „Aufgabe“ als „kulturelle Institution“ erörtert wird, als eine „in der ersten Linie kroatische und slawische Kulturinstitution“. Damit verbunden ist die Notwendigkeit, „uns von der fremden Abhängigkeit zu emanzipieren“.34 Dem Dramaturgen des Zagreber Nationaltheaters Nikola Andric´, einem ausgezeichneten Kenner der deutschen literarischen Produktion, wird von den damaligen Theaterkritikern vorgehalten, sein Repertoire zu offensichtlich am Vorbild des Wiener Burgtheaters auszurichten. Er mache aus dem Zagreber Theater eine „Filiale des deutschen Theaters“.35 Damit prägt die Genese des pro-jugoslawischen Gedankens die Theaterrezeption und ist insbesondere in der Ablehnung deutschsprachiger Stücke klar ablesbar. Politisch wird sie als Opposition zum „deutschen Imperialismus“ gerechtfertigt, so dass gerade die Rezeption deutschsprachiger Dramatik eine Projektionsfläche für die Entfaltung der neuen, heterogenen Idee der südslawischen Einheit bietet. In der der nationalintegrativen Ideologie entspringenden ablehnenden Einstellung gegenüber deutschsprachigen Stücken, kommen typische Mechanismen von Inklusion und Exklusion zum Tragen, gestützt von der Aufgabe, eine neue Identität zu stiften, indem das Fremde mit negativem Vorzeichen versehen wird. Somit gewinnt der Brüderlichkeitsdiskurs eine „politisch-legitimative Funktion“,36 die einerseits eine neue Politik der Identität signalisiert, andererseits ihre Kraft aus einer archaischen Symbolebene schöpft. Die Verflechtung theatergeschichtlicher Normen mit einer durch Spannungen zwischen südslawischer Vision und kroatischem Inhalt gekennzeichneten Ideologie bleibt charakteristisch für diese Periode. Die geschichtlich verankerte Rolle des Theaters wird in Hinblick auf dessen zukünftige Mission im Projekt der einheitlichen südslawischen Nationenbildung37 umformuliert. Insbesondere in der Vorkriegs- und Kriegszeit kommt es 32 Batusˇic´, Nikola: Povijest hrvatskoga kazalisˇta, Zagreb 1978, S. 89. 33 Grado, Artur: ,Mlada Hrvatska‘, in: MLADOST 1, 15. 02. 1898, S. 178. 34 „A mi treba da se postavimo na samostalne noge, i da se od tudjinske ovisnosti emancipujemo svuda, na svim poljima, a napose u kulturnom.“ Dezˇman-Ivanov, Milivoj: ,U ocˇi nove kazalisˇne sezone‘, in: OBZOR 267, 01. 09. 1903, S. 4. 35 „Sadasˇnji g. dramaturg slavenskih literatura naprosto ne pozna […] te c´e kazalisˇte ostat kao i za prof. Milera filijalka njemacˇkog pozorisˇta.“, Ebd. 36 Cipek, Tihomir : ,Politike povijesti u Republici Hrvatskoj. Od ,pusˇka pucˇe‘ do „Hristos se rodi“‘, in: Cipek, Tihomir / Milosavljevic´, Olivera: Kultura sjec´anja. 1918. Povijesni lomovi i svladavanje prosˇlosti. Zagreb 2007, S. 13 – 27, hier S. 14. 37 Zu verwickelten Antagonismen und Einheitlichkeitsdiskursen vgl. Kann, Robert A.: Das

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zu einer Verbindung mit den virulent gewordenen Brüderlichkeitsdiskursen. So wird der Krieg als ein „Kampf für die Befreiung und Vereinigung aller unserer unfreien Brüder Serben, Kroaten und Slowenen“38 gedeutet. Dabei wird deutlich, dass das Postulat einer ästhetischen Erneuerung auf die Omnipräsenz der Vergangenheit mit der traditionellen Forderung nach Wahrnehmung ihrer pädagogisch-aufklärerischen Rolle stößt, die die Funktion des Nationaltheaters in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in entscheidender Weise definiert. Das Theater zollt dem patriotischen Utilitarismus den schuldigen Respekt, seine Doppelgesichtigkeit zwischen dem Streben nach Autonomie einerseits und der nationalen Selbstverpflichtung anderseits prägt insbesondere die Rezeption der Kriegszeit. Dieses Dilemma beschreibt der zeitgenössische Kritiker Zdenko Vernic´ wie folgt: „Unser Landestheater ist schon an und für sich so fremdartig gebaut und im Inneren so sonderbar geschmückt, daß es wohl billigsten Internationalismus darbietet. […] Und hier, auf der Bühne selbst, vermissen wir unsere eigene nationale Note.“39 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verliert die alte Angst vor akuter Gefährdung der eigenen Kultur durch die deutsche Sprache nach und nach an Bedeutung, zumal die deutsche Dramatik immer mehr von der als patriotisch wichtiger eingestuften slawischen Dramatik verdrängt wird – dem „demokratischen und slawischen Fundament“40 des Theaters. So wird das Theater von einem spezifischen Sendungsbewusstsein dominiert, dessen Wurzeln bis tief ins 19. Jahrhundert reichen. Wie dieses Sendungsbewusstsein mit der organizistischen Vorstellung von Nation im Diskurs der „Brüderlichkeit“ verschränkt wird, soll im Weiteren anhand einiger exemplarischer Theaterrezensionen vor 1918 gezeigt werden. Der Diskurs der „Brüderlichkeit“ ist dabei als Element im nationalen Mobilisierungsprogramm zu verstehen: einerseits stiftet er Gruppenkohäsion in einer chronotopischen, langfristigen Dimension, andererseits unterstreicht er die Rolle des Einzelnen – des Bruders – im neuen ideologischen

Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918. 2. Bände. Graz/Köln 1964. 38 ,Program londonskog Odbora zasigurno je racˇunao s izjavom srbijanske vlade 1914, koju je odobrila Narodna skupsˇtina, da rat Srbije s Austro-Ugarskom Monarhijom ujedno znacˇi borbu za oslobod¯enje i ujedinjenje sve nasˇe neslobodne brac´e [Hervorhebung durch die Autorin] Srba, Hrvata i Slovenaca‘, in: Krisˇto, Jure: ,Slusˇanje dobroga ili zlog and¯ela. Svibanjska deklaracija 1917. i propast srednjoeuropske Monarhije‘, in: Matijevic´, Zlatko (Hg.): Godina 1918. Prethodnice, zbivanja, posljedice. Zbornik radova s med¯unarodnoga znanstvenog skupa odrzˇanog u Zagrebu 4. i 5. prosinca 2008. Zagreb 2010, S. 73 – 89, hier S. 76. 39 Vernic´, Zdenko: ,Ein kritischer Rückblick. Der erste Monat der Theatersaison‘, in: AGRAMER TAGBLATT 228, 04. 10. 1913, S. 1 – 3. 40 „[…] postavi na demokratski i slavenski temelj. To je izhodna tocˇka.“ Anonym: ,U ocˇi nove kazalisˇtne sezone I‘, in: OBZOR 196, 29. 08. 1903, S. 1.

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Gefüge und mobilisiert die individuell verankerte Solidarität mit dem kollektiven Leiden der Nation. Vor dem Ersten Weltkrieg gibt es in Zagreb kein deutschsprachiges Theater mehr ; trotzdem sind bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts Reminiszenzen bezüglich der deutschen Übermacht unter so stereotypen Formeln wie ,Germanisierungsgefahr‘, ,Zentralismus‘, ,Assimilierungstendenzen‘ oder ,Unterdrückung der kroatischen Sprache‘ zu beobachten. Weltanschauliche Dispositionen zur Rezeption der deutschsprachigen Dramatik werden auch als Ausgangspunkt für die Profilierung der neuen Ideologie im Theater benutzt. Während Russland als „brüderliche“ Nation bezeichnet wird, sind die „Deutschen, Ungarn und Türken“ die Ur-Feinde der Familie, in der „Slowene, Kroate, Serbe, die Söhne einer Mutter sind“, wie es in der Proklamation der „AdriaLegion“41 von 1915 heißt. Im Manifest des Jugoslawischen Komitees vom Mai 1915 wird der Erste Weltkrieg als der „auferlegte Bruderkrieg“42 bezeichnet. Der kroatische Dramatiker Srd¯an Tucic´ bearbeitet das Thema vom „brüdermörderischen Kriege“ in seinem Drama Osloboditelji (Die Befreier, 1914), das daraufhin im Jahre 1918 mehrmals aufgeführt wird. Bis zur Julikrise 1914 ist zu lesen, das Zagreber Theater sei das „Zentrum des geistigen Strebens aller Südslawen“ und „Vermittler zwischen den Slowenen und Serben“43 und müsse deshalb mit seinen künstlerischen Leistungen an der Spitze seiner Zeit bleiben. Zagreb sei „die kulturellste Stadt in den südslawischen Ländern“ und dürfe seine integrative Führungsposition nicht hergeben, wird im Feuilleton des Agramer Tagblattes fordernd behauptet. Diese hohe Einschätzung der eigenen Position findet ihre Rechtfertigung in der geschichtlichen Rolle, die es im Kampf um die kulturelle Emanzipation und Homogenisierung der Nation gespielt hat.44 Anlässlich des 20jährigen Jubiläums der Eröffnung des neuen Theatergebäudes im Jahre 1915 wird das Theater „nicht nur als Tempel unserer Bildung, sondern auch unseres nationalen und politischen Bewusstseins“45 ge41 Upravni odbor ,Jadranske legije‘ Jugoslovenima. London-Rim 1915, in: Sˇisˇic´, Ferdo: Dokumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914.–1919. Zagreb 1920, S. 15 – 17. 42 Trumbic´, Ante: ,Manifest Jugoslavenskoga odbora Britanskom narodu i parlamentu‘, in: Sˇisˇic´, Ferdo: Dokumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914.–1919. Zagreb 1920, S. 36 – 37. 43 Z. R.: ,Literarische Revuen‘, in: AGRAMER TAGBLATT 28, 05. 02. 1914, S. 1 – 2. 44 Vgl. dazu: Suppan, Arnold: Oblikovanje nacije u grad¯anskoj Hrvatskoj. 1835 – 1918. Zagreb 1999. 45 „Hrvatsko nas je kazalisˇte probudilo, osvjestilo kulturno i nacijonalno, otreslo zauvijek tudjinsˇtine iza tezˇkog doba absolutizma i pokazalo nama i cielom svietu i onima, koji su nas barbarima zvali, da je i hrvatski duh i hrvatski jezik dorastao za velika umjetnicˇka djela. Hrvatsko narodno kazalisˇte je dakle ne samo hram prosvjete nasˇe, nego i sviesti nasˇe nasˇe nacijonalne i politicˇke.“ Miodragovic´, Lj.: ,Proslava dvadesetogodisˇnjice nove kazalisˇtne zgrade‘, in: HRVATSKA. Glavno glasilo stranke prava za sve hrvatske zemlje 1187, 15. 10. 1915, S. 1.

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feiert. Zieht man zudem die in der Öffentlichkeit gepflegten Brüderlichkeitsdiskurse heran, so entsteht ein Deutungsmuster für die Emotionalisierung und Aktivierung der nationalen Solidarität in krisengeschüttelten Zeiten. Exemplarisch für diese Tendenz ist ein Artikel der Zeitung Novosti zur neuen Balkankrise 1913, in der der Sieg „unserer Brüder aller drei Konfessionen“46 nach der „fünfhundertjährigen Periode türkischer Versklavung“ gefeiert wird. Ein anderes Beispiel für die Mobilisierung der kulturellen Institution findet im Jahre 1914 mit der Ankündigung des Gastspiels des Zagreber Nationaltheaters in Sarajevo statt, um „dem Brudervolke“47 Orientierung anzubieten und um kulturelle Entwicklungshilfe zu leisten. Fast gleichzeitig wird die bedeutendste Klassiker-Aufführung der Kriegsjahre in Zagreb, das Regie-Debüt Branko Gavellas, der als studierter Germanist und Wiener Philosophie-Doktorand im Jahre 1914 Schillers Die Braut von Messina inszeniert, schlicht als „kultur-historisches Dokument der Deutschen“48 abgeschrieben. Ähnlich verläuft die Rezeption der im Herbst 1916 aufgeführten spätnaturalistischen Tragikomödie Gerhard Hauptmanns Die Ratten. Dass das Stück prägende „tiefe Mitleid“49 bringt dem Verfasser den Ehrentitel eines „deutschen Tschechows“ ein. In der Rezension wird auch eine imaginäre „slawische Komponente“ bei Hauptmann erwähnt, die seine deutsche „Korrektheit und Trockenheit“ mildere. Als aus dem „festlichen Anlaß“ des 25jährigen Jubiläums im Jahre 1916 der Einakter-Zyklus Anatol von Arthur Schnitzler erstmals vollständig inszeniert wird, attestiert man dem Zyklus eine „halbslawische literarische Sentimentalität“ mit für slawische Völker typischen „zarten und feinfühligen Sichtweisen“50. Damit werden mentalitätsgeschichtlich bedingte Stereotype bemüht, um die Unterschiede zwischen dem Fremden und dem Eigenen wettzumachen: uns stehen „Bahr, Schnitzler und Altenberg weitaus näher als der schwere, ferne und mystische Swedenborg“51. Mit einem Hauch von Verklärung wird Wien mit seiner litera46 „Nasˇa brac´a svih triju vjeroispovijesti na Balkanu oslobodjena su iz turskog jarma poslije robovanja od petstotina godina.“ Anonym: ,Nova kriza na Balkanu‘, in: NOVOSTI, 29. 05. 1913/142, S. 1 f. 47 „[…] da se udomi medju nasˇom brac´om na jugu spremi sˇto dostojniji dom“ Anonym: ,Zagreb i Sarajevo‘, in: NARODNE NOVINE 65, 20. 03. 1914, S. 4. 48 „[…] da je „Mesinska nevjesta“ samo kulturno-historijski dokument Nijemaca.“ J. D.: ˇ 65, 20. 03. 1914, S. 3. ,Mesinska nevjesta od Schillera‘, in: SLOBODNA RIJEC 49 „I sami njemacˇki kriticˇari cˇesto spominju neku „slavensku natruhu“ u Hauptmannovim djelima, no to mu ne spocˇitavaju, nego upravo isticˇu kao prednost, koja ublazˇava njemacˇku korektnost i suhoparnost.“, Vavra, Nina: ,Parcovi‘, in: NARODNE NOVINE 245, 25. 10. 1916, S. 1 – 2. 50 „Stari Bajovari, Markomani, Kvadi i Vindobonci zacijelo bijehu Slaveni, jer im potomci zadrzˇasˇe iste one njezˇne i tankoc´utne poglede na zˇivot kao i mi Liburnijci, Panonjani i Dalmate.“ Benesˇic´, Julije: ,A. Schnitzler. Anatol‘, in: NARODNE NOVINE 24, 31. 01. 1916, S. 4. 51 Anonym: ,Bahr, Schnitzler i Alternberg, jer ova tri imena su nama blizˇa nego tezˇki, daleki i misticˇni Swedenborg‘, in: Ebd.

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rischen Atmosphäre beschworen: „Seit jeher hat uns diese Stadt angezogen, und wie!“52 Aus dem Diagramm 1. ist ein leichter Anstieg deutschsprachiger Stücke in Kriegszeiten abzulesen. Diese Tatsache ist in vielerlei Hinsicht der politischen Kriegspropaganda zu verdanken, was auch die Anwesenheit des regierenden Banus Skerlecz bei einer Liebelei-Reprise im Jahre 1916 belegt. Auf diese Weise wird ein weiteres Mal die ideologische und identitätsstiftende Funktion des Theaters unterstrichen, die nach dem Muster der Abgrenzung vom Fremden eingesetzt wird. Dass dazu die Brüderlichkeitsdiskurse mit der ihnen innewohnenden mythopoetischen Funktion aktiviert werden, um die archaische Kraft der Solidarität zu nutzen, ist Teil des Programms. Ein Beispiel dafür liefert der einflussreiche kroatische Dramatiker der Moderne Ivo Vojnovic´53 mit seiner Wiederbelebung des Kosovo-Mythos in seinen Dramen. Die Aufführung seiner Tragödie Smrt majke Jugovic´a (Der Tod der Jugovic´-Mutter) wird emphatisch gefeiert: „Wohl sind wir ins Theater gekommen, um mit dem Kunsterlebnis der Tragödie eine nationale Feier zu verbinden, um zu betonen, wie wir uns hier in der Metropole Kroatiens mit unseren serbischen Brüdern eins fühlen, wie die Geschichte ihres Golgatha unsere Geschichte, ihr ethischer damaliger und jetziger Triumph zugleich unser Triumph ist.“54 Im gleichen Ton wird in der Zeitung Novosti der „neue Volksgeist“ als eine „Volksfeier“ und „Fest der Versöhnung und Liebe“55 deklariert. Im Agramer Tagblatt werden anlässlich der wiederholten Aufführung die mythopoetischen Elemente direkt angesprochen: es handele sich im Drama um „die alten Göttinen des Slaventums“56, die die Aufgabe haben, die „Größe des Slaventums“ zu feiern, insbesondere die „alten Göttern der Freiheit und der Kraft“. Damit wird im Theater plakativ das Programm der Einheit propagiert, das der politischen Idee eines gemeinsamen Nationalkörpers entspricht und insbesondere durch die von serbischer Seite vertretenen Idee des Vaterlandes (otadzˇbina) dominiert wird. Sie wird von Serbien ausgehend zu Beginn des Krieges im öffentlichen Diskurs verbreitet und knüpft an die These vom ,drei52 „Kako nas je taj grad vazda privlacˇio!“ Anonym: ,Anatol‘, in: JUTARNJI LIST 1386, 30. 01. 1916, S. 2. 53 Repräsentativ für ihre Entstehungszeit folgende Studie: Prohaska, Dragutin: O pjesniku slobode: studija o knjizˇevnom radu Ive Vojnovic´a povodom njegove sˇezdesetogodisˇnjice. Osijek 1918. 54 Vernic´, Zdenko: ,Die gestrigen Manifestationen im Landestheater‘, in: AGRAMER TAGBLATT 285, 28. 10. 1918, S. 3. 55 „Nikad nije nasˇe kazalisˇte bilo kao sinoc´. Nikad nije odisalo toliko novim narodnim duhom. […] To sinoc´ nije bilo kazalisˇte, nego narodna slava! Bila je to vecˇer slave i ljubavi!“, *: ,Narodna slava u kazalisˇtu. Repriza ’Majke Jugovic´a’ od Iva kneza Vojnovic´a‘, in: NOVOSTI 288, 28. 10. 1918, S 2. 56 M.T.: ,Smrt Majke Jugovic´a. Die Vorstellung des Nationaltheaters zu Ehren des Krsno Ime des Königs‘, in: AGRAMER TAGBLATT 274, 14. 12. 1918, S. 3.

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namigen‘ Volk mit einer integralen ,Volksseele‘ an. Anschaulich wird mit dem Narrativ der Nation als Familie das Kollektiv individualisiert, was Identifikation und damit auch Aktivierung erst möglich macht. In der meinungsbildenden Zeitung Obzor57 wird die Proklamation des Nationalrats veröffentlicht, in der das ganze „Volk mit einem Blute und einer Sprache, mit einem Geist und einer Seele“ eingeladen wird, in ein „brüderliches Reigen“ zu treten. Damit können die politisch definierten „Prinzipien der Volkstümlichkeit“ der „Einheit“ und der „nationalen Volkseintracht der Slowenen, Kroaten und Serben“58 verinnerlicht werden. So sprechen die Politiker in Kroatien im 1917 von einer dringenden „nationalen Konzentration“, damit ein „einheitliches Programm zur nationalen Vereinigung“59 durchgeführt werden könne. Als der kroatische Politiker Dragutin Hrvoj aus der kroatisch-nationalistischen Starcˇevic´-Partei im kroatischen Sabor am 14. Mai 1918 die Unumgänglichkeit des gemeinschaftlichen Handelns betont, um einen „freien brüderlichen Staat“ zu gründen, der als „brüderliche föderative Union“60 nach Schweizer Vorbild zu gestalten ist, wird auch die geteilte kroatische Öffentlichkeit von der Einheitsidee überzeugt. In jedem Falle sind sich die führenden Politiker der Notwendigkeit der propagandistischen Mobilisierung der Massen bewusst. Um nur ein Beispiel zu nennen: so schreibt der Politiker Matej Bosˇkovic´ an Nikola Pasˇic´ in einer Depesche vom 12. Mai 1915, dass die immer noch ungewisse Vereinigung südslawischer Gebiete „hauptsächlich von der Stimmung und der Energie der Volksmassen“61 abhänge. Die Reflexe einer „nationalen südslawischen Kulturpolitik“62 werden insbesondere seit der Proklamation von Korfu, einem von der serbischen Regierung und dem Jugoslawischen Komitee am 20. Juli 1917 in Korfu unterzeichneten Manifest der zukünftigen südslawischen Vereinigung, im kroatischen Nationaltheater in Zagreb manifest. Die integrative und identitätsstiftende Rolle des Theaters wird als „die große Mission der Volksbildung bei einem werdenden Kulturvolk“ beschrieben, wobei „seine Tätigkeit einen integrierenden, höchst

57 „Narodno vijec´e poziva cjelokupni nasˇ narod jedne krvi i jezika, jedne dusˇe i srca […] u bratsko kolo“, in: Anonym: ,Objava Narodnog vijec´a Slovenaca, Hrvata i Srba‘, in: OBZOR 238, 23. 11. 1918, S. 3. ˇ ubrilovic´, Vasa (Hg.): Stvaranje 58 Krizman, Bogdan: ,Hrvatski sabor i ujedinjenje 1918‘, in: C jugoslavenske drzˇave 1918. godine. Beograd 1989, S. 51 – 72, hier S. 62 f. 59 Über die Entwicklung der Kräfte während des Krieges und Genese des jugoslawischen Gedankens aus historiografischer Sicht noch immer maßgeblich: Krizman, Bogdan: Raspad Austro-Ugarske i stvaranje jugoslavenske drzˇave. Zagreb 1977, hier S. 20. 60 Ebd., S. 22. 61 Sˇepic´, Dragovan: Sudbinske dileme rad¯anja Jugoslavije. Italija, Saveznici i jugoslavenskog pitanje 1914 – 1918. Pula/Rijeka 1989, S. 213. 62 Vernic´, Zdenko: ,Theaterpolitik‘, in: AGRAMER TAGBLATT 28, 16. 03. 1920, S. 4.

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wichtigen Bestandteil der Kulturarbeit am Volke“63 bilde. Stärker denn je wird eine slawische Ausrichtung der Bühne gefordert. Gerade vor dem Theater finden im Jahre 1918 projugoslawische Demonstrationen statt. Der Historiker Bogdan Krizman berichtet, dass unter Jubelrufen der Solidarität auch „illyrische Kampflieder“ gesungen werden. Besonders oft erklingt ein Refrain, in dem die Brüderlichkeitsdiskurse angesprochen werden: „Slowene, Serbe und Kroate – für immer Brüder!“64 („Slovenac, Srb, Hrvat – za uvijek brat i brat!“). Die projugoslawisch orientierte Zeitung Novosti berichtet mit Emphase von den „großartigen Manifestationen für den jugoslawischen Staat in Zagreb“65, in deren Rahmen vor dem Theater der Politiker Dr. Grga Budislav Angjelinovic´ dem Nationalrat des SHS Treue schwört. Ähnlich notiert Srd¯an Budisavljevic´, einer der führenden projugoslawischen Politiker der Zeit, dass zum 50sten Jubiläum des Zagreber Theaterhauses am 10. Juni 1918 ein Schreiben aus Prag An die lieben jugoslawischen Brüder!66 eingetroffen ist. Im Agramer Tagblatt ist anlässlich des Jubiläums zu lesen: Die Zeit der hohen nationalen Hoffnungen und heißen Kämpfe erweckt im großen Brudervolke an der Vltava die stolze Erinnerung an eine ähnliche nicht allzu ferne Epoche […] Wir Südslaven, das dreieinige Volk der Slovenen, Kroaten und Serben, fühlen uns ein einig Volk von Brüdern, mit dem gleichen gemeinsamen Ziele.67 Nach der am 1. Dezember 1918 erfolgten Gründung des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen wird deklarativ die Befreiung „von der Atmosphäre des Habsburger-Südslavenhasses“, der „alles Südslawische mit blindem Hasse verfolgte“68 proklamiert, worin emotionalisierende Propagandadiskurse zum Tragen kommen. So verfasst der damalige Theaterintendant Guido Hreljanovic´ in Novosti ein Schreiben, in dem nicht nur die Loyalität gegenüber dem neuen Machtinhaber ausgesprochen wird, sondern auch die Brüderlichkeitsdiskurse in ihrer legitimierenden Funktion aktiviert werden. Erinnert wird an die gemeinsamen „illyrischen Großväter“69, die „zusammen und brüderlich“ 63 Ebd. 64 Krizman 1977, S. 68. 65 Anonym: ,Velicˇanstvena manifestacija za jugoslav. drzˇavu u Zagrebu‘, in: NOVOSTI 282, 22. 11. 1918, S. 4. 66 Budisavljevic´ 1958, S. 106. 67 Anonym: ,Treue um Treue! 16.V.1868 – 16.V.1918‘, in: AGRAMER TAGBLATT 240, 15. 10. 1918, S. 6. 68 Vernic´, Zdenko: ,Zum Theaterjubiläum‘, in: AGRAMER TAGBLATT 255, 15. 10. 1920, S. 5. 69 „Hrvatsko narodno kazalisˇte u Zagrebu stvoreno je u doba nasˇih ilirskih djedova zajednicˇkim i bratskim radom Srba i Hrvata. […] U radu Hrvatskog narodnog kazalisˇta ozˇivotvoreno je bilo od prvih pocˇetaka pa sve do danasˇnjeg dana bratskim sudjelovanjem Srba, Hrvata i Slovenaca na kulturnom polju ideja ujedinjenja.“ Hreljanovic´, Guido: ,Hrvatsko kazalisˇte Regentu. Njegovom kraljevskom Visocˇanstvu Regentu Aleksandru‘, in: NOVOSTI 327, 06. 12. 1918, S. 2.

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das Nationaltheater in Zagreb gegründet haben. Daraufhin bedankt sich der Regent Aleksandar in der gleichen Zeitung für diese „patriotische Gratulation“70 und betont die Idee der Gemeinsamkeit und Eintracht des „dreinamigen Volkes“. Im 27. April 1919 bekommt das Zagreber Theater den Namen Nationaltheater des Königreichs SHS in Zagreb und wird stolz zum „ersten im Königreiche“71 erklärt. Die programmatische Aktivierung der kulturellen und politischen Einigungstendenzen spiegelt sich sogleich auch im Repertoire des Zagreber Theaters wieder. Indikativ im Sinne der Exklusion des Fremden, um das neue Eigene zu behaupten, ist die Tatsache, dass die Vereinigung von einem völligen Verschwinden deutschsprachiger Stücke begleitet wird. Die Zäsur im Jahre 1918 veranschaulicht Diagramm 1. 12 10 8 6 4

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Diagramm 1: Das Repertoire der deutschsprachigen Stücke im Nationaltheater in Zagreb.

Die quantitative Darstellung deutschsprachiger Stücke im Repertoire zeigt eine Amplitude, die den politischen Wandlungen folgt und den rapiden Schwund der Stücke deutschsprachiger Autoren nach 1918 augenfällig macht. Auf der horizontalen Achse ist das Jahr abzulesen, die vertikale Achse bezeichnet die Anzahl der Aufführungen. Der größte Rückgang erfolgte nach dem Jahr 1918, also unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs und parallel zur Auflösung der Monarchie. Im Schwinden deutschsprachiger Stücke werden Tendenzen sichtbar, die sich einerseits als Emanzipation vom deutschsprachigen Vorbild deuten lassen und andererseits deutlich das Bestreben zeigen, die neue slawische Identität einer „imaginären Ethnogemeinschaft der Südslawen“72 zu propagieren. Die slawische Zugehörigkeit wird betont, an die Stelle deutsch70 Anonym: ,Regent Aleksandar hrvatskom kazalisˇtu‘, in: NOVOSTI 333, 12. 12. 1918, S. 2. 71 Anonym: ,Unser Theater am Schluß der Saison‘, in: AGRAMER TAGBLATT 163, 19. 06. 1919, S. 5. 72 Matkovic´, Stjepan: ,Prijelomna 1918. u hrvatskoj politici‘, in: Cipek, Tihomir / Milosavljevic´, Olivera (Hg.): Kultura sjec´anja. 1918. Povijesni lomovi i svladavanje prosˇlosti. Zagreb 2007, S. 77 – 91, hier S. 80.

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sprachiger Autoren treten slawische. Im Agramer Tagblatt wird die Entscheidung „für die Entwicklung der südslawischen Literatur“ betont, um „eine entscheidende Vertiefung in nationaler und künstlerischer Hinsicht“73 zu erfahren. Damit erlebe Zagreb „die begeisterte große nationale Zeit der Tage des Illyrismus“74 wieder, hob der Rezensent hervor, um die identitätsbildende Kontinuität abzusichern. Man spricht sogar von einem Trend wahrer „Russophilie“.75 So gibt es in den Jahren von 1919 bis 1921 keine einzige Premiere deutschsprachiger Stücke – der Grund ist in den genannten politischen und ideologischen Faktoren zu suchen. In der nachfolgenden Periode fällt das deutschsprachige Repertoire76 quantitativ auf den dritten Platz aller übersetzten Stücke77 zurück und wird seine ehemals dominante Position von nun an nicht mehr behaupten können. Dass die slawische Dramatik als ein Instrument der Integration angesehen wird, ist aus dem Repertoirebild abzulesen. Dominiert wird es von Miroslav Krlezˇa, Ivan Cankar und dem populären serbischen Komödienautor Branislav Nusˇic´, der am 17. Dezember 1918 in Zagreb die Uraufführung seines Dramas Hadzˇi-Loja aus dem Anlass des Besuches des Regenten Alexander Karad¯ord¯evic´ feiert und mit 77 Wiederholungen seines Erfolgsstückes Gospodja ministarka der meistgespielte Autor der unmittelbaren Nachkriegszeit ist. Die südslawische dramatische Produktion wird im Diskurs der Brüderlichkeit hochstilisiert und dient dazu, die Vorstellung der organischen Einheit der slawischen Nation zu inszenieren, während die deutschsprachige Dramatik, die eine lange Zeit als Muster und Anregung der einheimischen Theaterproduktion fungierte, nunmehr zum Feind deklariert wird. So wird der Theaterleitung vorgeworfen, Shakespeare immer noch nach deutscher Vorlage zu spielen. Der damalige Dramaturg Nikola Andric´ wird in der Presse wegen seiner kriegsbedingten Anlehnung an das deutschsprachige Repertoire heftig angegriffen. Dass die deutschsprachige Dramatik während des Krieges als Orientierung benutzt wurde, wird jetzt als Negativum gesehen. Damit bezichtigt die jugoslawische Propaganda das kroatische Theater, dem deutsch-österreichischen Kulturparadigma verpflichtet zu sein. Gerade das „kann und darf kein Vorbild für unsere

73 Anonym: ,Smrt majke Jugovic´a. Zur gestrigen Aufführung‘, in: AGRAMER TAGBLATT 244, 28. 10. 1918, S. 3. 74 Ebd. 75 Badalic´, Josip: ,K nekrologu minule kazalisˇne sezone‘, in: JUTARNJI LIST 3388, 06. 07. 1921, S. 2. 76 Zur Übersicht des Repertoires: Hec´imovic´, Branko (Hg.): Repertoar hrvatskih kazalisˇta 1840 – 1860 – 1980. Bd. 1. Zagreb 1990. 77 Vgl. dazu: Kosˇutic´-Brozovic´, Nevenka: ,Hrvatsko dramsko prevoditeljstvo u med¯uratnom razdoblju‘, in: Dani hvarskog kazalisˇta. Med¯uratne godine. Grad¯a i eseji o hrvatskoj drami i teatru. Split 1982, S. 272 – 338.

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Bühne“78 sein. Der zeitgenössische kroatische Diskurs steht somit unter dem Eindruck einer starken südslawischen Agitation, die jede Erinnerung an eine „gemeinsame Vergangenheit“ im monarchistischen Kulturraum als unerwünscht abtut. In der zeitgenössischen Presse häufen sich Forderungen, Stücke slawischer Provenienz zu inszenieren. Stürmisch wird 1922 auf den Titelseiten der führenden Zeitungen das erste Gastspiel eines Ensembles des Moskauer Künstlertheaters von Stanislawski mit „Zdravstvujte!“ begrüßt, der neue „slawische“ Psychologisierungsstil wird der deutschen „pathetischen Deklamationstradition“ entgegengesetzt und ihr vorgezogen. In der Jubiläumsausgabe der Zeitung Obzor schreibt Branko Livadic´, „dieses große Gastspiel [habe] die Schönheit der slawischen Kunst und die Ideale des szenischen Realismus auf die Bühne gebracht“,79 womit auch eine neue Ära im Theater angekündigt wird. Die hier angesprochenen Rezeptionsprozesse lassen erkennen, dass sowohl der Modernisierungsprozess innerhalb der Gesellschaft als auch der Prozess der Nationenwerdung von Brüderlichkeitsdiskursen begleitet werden. Diese Prozesse können mit Eric J. Hobsbawm als ,protonational‘ bezeichnet werden, denn Aufgabe des Theaters bleibe es, „bestimmte Spielarten kollektiver Zugehörigkeitsgefühle [zu] mobilisieren“.80 Insbesondere Theaterinszenierungen sind es, die als Artefakte unmittelbar auf die Mechanismen und Machtstrategien verweisen, durch die kulturelle Identitäten konstruiert und reifiziert werden. Die damalige intellektuelle Elite, die Trägerin des Homogenisierungsprojektes, ist sich der instabilen Lage einer polyglotten, von ungleichen Machtverhältnissen geprägten Gemeinschaft bewusst. Das Theater ist den Erschütterungen in anderen sozialen und kulturellen Bereichen unmittelbar ausgeliefert, so dass das Postulat größerer künstlerischer Autonomie in dieser Periode keine Umsetzung erfährt. Aus politisch-ideologischen Gründen müssen mythopoetische Strukturen einer verklärten Familie die fehlende Gemeinschaft und Solidarität im neuen Staatsgebilde ersetzen. Alles in allem ist das Theaterleben um das Jahr 1918 vom Lavieren zwischen manifestem kulturpolitischem Druck und ideologisch aufgeladenen Brüderlichkeitsdiskursen geprägt. Aus den Rezensionen lässt sich der Prozess der Identitätsbildung in der Institution Theater als polyphoner und dialogischer Austauschprozess ablesen, in dem die Sedimente der Vergangenheit mit der Gegenwart verschmelzen und zugleich die Aufgabe haben, zukunftsweisend zu wirken. Dabei erweist sich das Narrativ der Brüderlichkeit als eine in sich „gespaltene-und-doppelte[n] Form 78 „Njemacˇka nam ne mozˇe i ne smije biti uzor u tom pogledu.“ Anonym: ,Repertoir nasˇega kazalisˇta‘, in: OBZOR 195, 01. 09. 1918, S. 2. 79 Livadic´, Branko: ,Hrvatsko kazalisˇte‘, in: Dezˇman, Milivoj / Maixner, Rudolf (Hg.): Obzor spomen-knjiga 1860 – 1935, Zagreb 1936, S. 139. 80 Hobsbawm, Eric J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt/ New York 2004, S. 59.

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der Gruppenidentifikation.“,81 wie es Homi K. Bhaba in seinem grundlegenden Aufsatz „Wie das Neue in die Welt kommt“ hervorhebt. Dass sich trotz proklamiertem Ziel einer nationalen Homogenisierung die Nationen als „identitäre Hybride“82 erweisen, führt die Grenzen des essentialisierenden Brüderlichkeitsdiskurses einer nie vollständig integrierenden Ethnogenese in aller Deutlichkeit vor Augen. Mit Ruth Wodak kann er als „Dissimilationsstrategie“ beschrieben werden, die „eine bestimmte nationale Identität aufzubauen und zu etablieren [versucht], indem sie sprachlich direkt oder indirekt zu Unifikation, Identifikation, Solidarität, aber auch zu Abgrenzung“83 führt. Ist die Etablierung der Nation im 19. Jahrhundert erst aus einem lang anhaltenden Prozess agonaler Kräfte zu verstehen, lassen sich die langfristigen Folgen solcher Antagonismen von den oft stereotyp wiederholten Brüderlichkeitsdiskursen doch nicht verdecken. So schreiben die Historiker von einem Blutbad in Zagreb am 5. Dezember 1918, das von der damaligen Regierung rasch als „Ausbruch von Militärunruhen“84 vertuscht und erst nachträglich kontrovers diskutiert wird. In Novosti85 wird trocken notiert „Ruhe und Ordnung müssen und werden wohl erhalten werden“, womit zugleich die bisher feierlich proklamierten Brüderlichkeitsdiskurse in ihrem propagandistischen Charakter enthüllt werden, der die immerfort präsenten unterschiedlichen nationalen Positionen zusammen bringen sollte. Die in der letzten Sitzung des kroatischen Parlaments am 29. November 1918 gebrachten Beschlüsse von einer Vereinigung auf Basis der „absoluten Gleichheit“86 aller Völker, werden damit grundsätzlich in Frage gestellt, so dass es im Königreich SHS nicht zu einer gehofften föderalistischen Lösung kommt. Dass die Unzufriedenheit mit dem monarchistischen und unitaristischen Modell des neuen Staates zunimmt, bezeugt eine im Jahre 1928 erschienene programmatische Schrift unter dem Titel Hrvatsko pitanje (Die kroatische Frage), in der die bisher immer noch angenommenen Brüderlichkeitsdiskurse 81 Bhabha, Homi K.: ,Wie das Neue in die Welt kommt‘, in: Ders.: Die Verortung von Kultur. Tübingen 2000, S. 317 – 353, hier S. 346. 82 Wodak, Ruth: ,Zum Nationsverständnis: Staatsnation – Kulturnation – nationale Identität‘, in: Dies.: Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt/M. 1998, S. 19 – 78, hier S. 61. 83 Ebd., S. 76. 84 Den Verlauf beschreibt der Historiker B. Krizman im letzten Kapitel seines Buches (Fn. 58). Eine Innensicht anhand seiner Erinnerungen auf die Vorfälle notiert siehe Budisavljevic´ (Vlg. Fn. 15). Zur neueren kroatischen Behandlung des Themas: Matijevic´, Zlatko (Hg.): Godina 1918. Prethodnice, zbivanja, posljedice. Zbornik radova s med¯unarodnoga znanstvenog skupa odrzˇanog u Zagrebu 4. i 5. prosinca 2008. Zagreb 2010. 85 „Nekoliko nahusˇkanih i neodgovornih elemenata pokusˇalo je jucˇer oruzˇanom silom poremetiti red i mir.“ Anonym: ,Mir i red moraju biti i bit c´e uzdrzˇani‘, in: NOVOSTI 328, 07. 12. 1918, S.4. 86 Anonym:,Sjednica 29. 11. 1918‘, in: NARODNE NOVINE 29. 11. 1918/248, S. 1.

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brüsk abgelehnt werden. Im Theater signalisiert im gleichen Jahr ein Gastspiel des Wiener Burgtheaters87 mit seiner Rezeption die tiefe Spaltung der Öffentlichkeit und markiert das symbolische Ende einer Phase, in der die Brüderlichkeitsdiskurse die Illusion von Solidarität suggerierten. Somit kann in den vermeintlich homogenen Brüderlichkeitsdiskursen um 1918 eine gespaltene und fast abgründige – da konfliktgeladene – Position im Projekt der Einheit innerhalb des Königreichs der SHS festgemacht werden.

Literatur Anonym: ,Unser Theater am Schluß der Saison‘, in: AGRAMER TAGBLATT 163, 19. 06. 1919, S. 5. Anonym: ,Smrt majke Jugovic´a. Zur gestrigen Aufführung‘, in: AGRAMER TAGBLATT 244, 28. 10. 1918, S. 3. Anonym: ,Treue um Treue! 16.V.1868 – 16.V.1918‘, in: AGRAMER TAGBLATT 240, 15. 10. 1918, S. 6. Anonym: ,Landestheater‘, in: AGRAMER ZEITUNG 61, 16. 03. 1903, S. 5 – 6. Anonym: ,Amanet‘, in: HRVATSKA 61, 16. 03. 1903, S. 3. Anonym ,Agramericˇino izvjesˇc´ivanje‘, in: HRVATSKO PRAVO 2147, 08. 01. 1903, S. 2. Anonym: ,Anatol‘, in: JUTARNJI LIST 1386, 30. 01. 1916, S. 2. Anonym: ,Sjednica 29. 11. 1918‘, in: NARODNE NOVINE 248, 29. 11. 1918, S. 1. Anonym: ,Zagreb i Sarajevo‘, in: NARODNE NOVINE 65, 20. 03. 1914, S. 4. Anonym: ,Regent Aleksandar hrvatskom kazalisˇtu‘, in: NOVOSTI 333, 12. 12. 1918, S. 2. Anonym: ,Mir i red moraju biti i bit c´e uzdrzˇani‘, in: NOVOSTI 328, 07. 12. 1918, S. 4. Anonym: ,Velicˇanstvena manifestacija za jugoslav. drzˇavu u Zagrebu‘, in: NOVOSTI 282, 22. 11. 1918, S. 4. Anonym: ,Nova kriza na Balkanu‘, in: NOVOSTI 142, 29. 05. 1913, S. 1 f. Anonym: ,Objava Narodnog vijec´a Slovenaca, Hrvata i Srba‘, in: OBZOR 238, 23. 11. 1918, S. 3. Anonym: ,Repertoir nasˇega kazalisˇta‘, in: OBZOR 195, 01. 09. 1918, S. 2. Anonym: ,U ocˇi nove kazalisˇtne sezone I‘, in: OBZOR 196, 29. 08. 1903, S. 1. Anonym: ,Amanet‘, in: OBZOR 61, 16. 03. 1903, S. 154. Anonym: ,Zimsko sunce od Emina Cara‘, in: OBZOR 199, 30. 08. 1902, S. 5. ar.: ,U cˇem je snaga Careva ,Zimskog sunca?‘, in: OBZOR 7, 10. 01. 1903, S. 1. Badalic´, Josip: ,K nekrologu minule kazalisˇne sezone‘, in: JUTARNJI LIST 3388, 06. 07. 1921, S. 2. Batusˇic´, Nikola: Povijest hrvatskoga kazalisˇta, Zagreb 1978. Benesˇic´, Julije: ,A. Schnitzler. Anatol‘, in: NARODNE NOVINE 24, 31. 01. 1916, S. 4. 87 Car, Milka (2001): ,Das Burgtheater in Zagreb 1928. Gastspiele als Konzept kultureller Begegnungen‘, in: Bobinac, Marijan. (Hg.): Porträts und Konstellationen 1. Deutschsprachigkroatische Literaturbeziehungen. Zagreber Germanistische Beiträge. Beiheft 6. Zagreb 2001, S. 55 – 75.

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Brüderlichkeitsdiskurse im Spiegel der Rezeptionsgeschichte

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Anna Bohn / Jean-Claude Fombaron (Berlin – Saint-Di¦-des-Vosges)

Vom Feind zum Bruder. Zu medialen Inszenierungen der Verbrüderung an der Ostfront im Ersten Weltkrieg

Wenn von der Fraternisierung im Ersten Weltkrieg die Rede ist, dann sind im kollektiven Gedächtnis insbesondere die Bilder des Weihnachtsfriedens von 1914 an der Westfront präsent. Die Ereignisse an Weihnachten 1914, als sich Tausende deutscher Soldaten mit englischen, französischen und belgischen Soldaten verbrüderten, sind von den Historikern auf Grundlage schriftlicher Quellen gut erforscht.1 Gedächtnisinstitutionen wie die Imperial War Museums in London machen in zunehmendem Umfang auch Bildquellen zu den Verbrüderungen „The Christmas Truce on the Western Front, 1914“ verfügbar.2 Durch mediale Inszenierungen des so genannten „Weihnachtsfriedens“ in Spielfilmen sind die Ereignisse auch einem größeren Publikum bekannt geworden, so thematisiert etwa der Film Merry Christmas die Verbrüderung der Soldaten an Weihnachten 1914 an der Westfront in Nordfrankreich.3 Weit weniger bekannt und erforscht ist hingegen das Thema der Verbrüderung (russ.: bratanie) deutscher und russischer Soldaten an der Ostfront. Ganz allgemein gilt, dass die Ereignisse an den Fronten in Ost- und Südosteuropa weniger gut erforscht und in der öffentlichen Wahrnehmung weniger präsent sind als die der Westfront. Darüber hinaus sind auch die visuellen Repräsentationen der Verbrüderungen an der Ostfront in Form von zeitgenössischen Fotografien sowie die Inszenierung dieser Ereignisse in Spielfilmen bislang kaum von der historischen Forschung berücksichtigt worden, was teilweise durch die schwierige Bildquellenlage zu begründen ist. Das kollektive Bildgedächtnis der 1 Stellvertretend für die umfangreiche Forschungsliteratur zum Thema sei hier genannt: Weintraub, Stanley : Silent Night: The Story of the World War I Christmas Truce. New York 2001. 2 Z. B. Fotografien vom 25. Dezember 1914 im Bestand Imperial War Museum, Katalognummern Q 50719, Q 50720, Q 50721, verfügbar unter : [Zugriff: 29. 10. 2013] 3 Merry Christmas [Joyeux Noel]. Regie: Christian Carion, F 2005, 115 min., DVD. Zu Merry Christmas siehe: Laurent V¦ray : La grande guerre au cin¦ma. De la gloire — la m¦moire. Paris 2008, S. 219 – 224.

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Anna Bohn / Jean-Claude Fombaron

Ereignisse an der Ostfront im Zeitraum des Ersten Weltkriegs und insbesondere des Jahres 1917 ist von sowjetischen Spielfilmen geprägt, allen voran von Sergej Eisensteins Oktober (Oktjabr‘, SU 1927). Dem breiten Publikum kaum bekannt, aber von herausragender Bedeutung für die audiovisuelle Repräsentation des Themas der Brüderlichkeit und Verbrüderung an der Ostfront ist der unter Regie von Boris Barnet 1933 in der Sowjetunion gedrehte Film Vorstadt (Okraina). Jedoch existieren auch von der realen Fraternisierung an der Ostfront Fotografien. Anhand ausgewählter zeitgenössischer Bilddokumente aus der Privatsammlung von Jean-Claude Fombaron sollen im Folgenden bislang unbekannte Aspekte der Bildproduktion und fotografischen Überlieferung der Fraternisierung an der Ostfront aufgezeigt und in den Kontext der schriftlichen Überlieferung sowie der Historiografie gestellt werden. Die Fotografien richten den Blick auf die einfachen Soldaten an der Front und können daher als Dokumente der Visual History gelesen werden. Im Gegensatz dazu stellen die in den Archiven erhaltenen Aufnahmen zum Waffenstillstand in Brest-Litowsk das „offizielle“ Bild der Geschichte einer von oben verordneten bzw. sanktionierten Verbrüderung dar. So zeigt etwa ein im Bundesarchiv-Bildarchiv Koblenz archiviertes Foto zum Thema der Verbrüderung das folgende Sujet: „Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens zwischen Deutschland und seinen Verbündeten in Russland am 15. Dezember 1917 in Brest-Litowsk. Der Oberbefehlshaber der Ostfront Generalfeldmarschall Leopold von Bayern, links, bei der Unterzeichnung, rechts die Delegation Sowjetrusslands Adolf Joffe, Leo Kamenew und Bitsenko“.4 Die Unterhändler der Waffenstillstandsvereinbarungen sind naturgemäß auch als Protagonisten in den zeitgenössischen Filmdokumenten zu sehen, wie etwa den in offiziellem Auftrag entstandenen Produktionen des Bild- und Filmamts Der erste Friedensvertrag des Weltkrieges 9. Februar 19185, Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk6 oder Der Waffenstillstand von Brest-Litowsk7. Neben den schrifttextlichen Quellen – darunter insbesondere den Zulassungskarten zu Filmen, die Auskunft über den Inhalt der historischen Aufnahmen geben, sind im Bundesarchiv auch die Filmaufnahmen selbst überliefert. Der Text der Zwischentitel zum Film Der Waffenstillstand von Brest Litowsk8 be4 ,Waffenstillstand in Brest-Litowsk‘, in: Bundesarchiv-Bildarchiv Koblenz, Bild 183-R92623. 5 Produktion: Bild- und Filmamt, 1918, 12 min. Nachgewiesen im elektronischen Filmkatalog des Bundesarchiv-Filmarchivs BSP 20929, sowie die Zulassungskarte der Reichsfilmstelle Prüfnummer 5553. 6 Archiv : Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin, BSL 19083, Zulassungskarte der Reichsfilmstelle Prüfnummer 5292. 7 Zulassungskarte Reichsfilmstelle Prüfnummer 5146. 8 ,Der Waffenstillstand von Brest-Litowsk‘, 1917, 9 min. Bild- und Filmamt, BUFA, Archiv : Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin. Der Film wurde im Rahmen des EU-Projekts EFG1914 –

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schreibt gleichzeitig den Inhalt der Aufnahmen „1. Ankunft der russischen Delegation am Bahnhof in Brest-Litowsk. 2. Mitglieder der Delegation: Joffe, Vorsitzender, Frau A. A. Bicenko, Generalmajor Skalon, Admiral Altvater, Oberstleutnant Fokke, Kapitän z. S. Lipsky, Kameff [Kamenev/Rosenfeld], Dolive-Dobrowolsky, Karachan, Sekretär der Delegation.9 3. Abfahrt der Delegierten in ihr Quartier. 4. Vor dem Quartier der Delegierten. 5. Die russischen Delegierten begeben sich zur Sitzung. 6. Das Haus, in dem die Waffenstillstandsverhandlungen stattfanden. 7. Frau Bicenko auf dem Weg zur Sitzung. 8. Exzellenz Zeki Pascha begibt sich zur Verhandlung. 9. Die bulgarischen Delegierten: Oberst Gantschew, Legationsrat Dr. Anastasow. 10. General Hoffmann begibt sich mit den deutschen und österreichisch-ungarischen Bevollmächtigten zur Sitzung. 11. Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags durch Prinz Leopold von Bayern.“10 Die Verbrüderungen deutscher und russischer Soldaten an der Ostfront werden in den Dokumentarfilmen offizieller Produktion lediglich am Rande und als Folge der Friedensverhandlungen gezeigt. So enthält die Schlusssequenz des Films Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk11 Einstellungen der Verbrüderung deutscher und russischer Soldaten und des Tauschhandels an der Ostfront. Im Fokus des Films stehen allerdings wiederum die Unterhändler und hochgestellten Repräsentanten der verhandelnden Staaten, wie der Text der Zwischentitel zum Film verdeutlicht: 1. Empfang Trotzkis und der russischen Delegierten auf dem Bahnhof durch die Deutschen und Ukrainer. 2. Russische und ukrainische Delegierte mit den deutschen und österreichischen Offizieren auf dem Heimwege vom gemeinschaftlichen Kasino. 3. Die Delegationen begeben sich zur Sitzung. 4. Die österreichische Delegation unter Führung des Feldmarschallleutnants Exz. v. Csicserics.12 5. Die russischen Delegierten. 6. Der russische Fernschreiber, die direkte Verbindung Brest-Litowsk-Petersburg. 7. Verlassen des Gebäudes nach Schluß der Sitzung. 8. Trotzki. 9. General Hoff-

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Filme zum Ersten Weltkrieg digitalisiert. Verfügbar unter : [Zugriff 22. 10. 2013]. Adolf ’ Abramovicˇ Ioffe (1883 – 1927) leitete von November 1917 bis Januar 1918 die sowjetische Delegation, Anastasija Alekseevna Bicenko (1875 – 1938), General Vladimir Evstaf ’evicˇ Skalon (1872 – 1917) beging am 29. November 1917 in Brest Selbstmord, Konteradmiral Vasilij Michajlovicˇ Al’tfater (1883 – 1919), Dzˇon (Ivan) Gugovicˇ (Grigor’evicˇ) Fokke (?-1925), V. V. Lipskij; Lev Borisovicˇ Kamenev (Geburtsname: Rozenfel’d, 1883 – 1936), Boris Iosifovicˇ Dolivo-Dobrovol’skij (1873 – 1938), Lev Michajlovicˇ Karachan (1889 – 1937). Zulassungskarte der Film-Prüfstelle Berlin vom 19. Januar 1922, Prüfnummer 5146. Bundesarchiv-Filmarchiv, Zensurkartenbestand. ,Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk‘, 1918, 10 min. Bild- und Filmamt. Archiv : Bundesarchiv. Digitalisiert im Rahmen des EU-Projekts EFG1914 – Filme zum Ersten Weltkrieg. Verfügbar unter : [Zugriff: 22. 10. 2013]. Maximilian Csicserics von Bacsany (1865 – 1948).

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mann, Staatssekretär Exz. v. Kühlmann, Exz. Minister des Aeuß. Graf Czernin, S. H. der Großwesir Talaat Pascha, S. H. Hakki Pascha, Oberst Gantscheff sowie andere Delegierte. 10. Das Verhandlungsgebäude. 11. Freundschaftliche Beziehungen zwischen den deutschen und russischen Soldaten an der Front. 12. Tauschhandel an der deutschrussischen Front.13

Fotografien, die Szenen der Fraternisierung an der Ostfront im Jahr 1917 darstellen, sind überaus rar.14 Die Einstellung der Feindseligkeiten wird, wie oben erwähnt, zumeist durch offizielle Bilder der zivilen und militärischen Unterhändler der Friedensverhandlungen wachgerufen. Im Gegenzug zensierten oder beschlagnahmten die deutschen Militärbehörden die Dokumente, die von der Front stammten. In der privaten Sammlung Jean-Claude Fombarons sind Fotos der Verbrüderungen deutscher und russischer Soldaten an der Ostfront überliefert. Von den 25 Fotografien deutscher Herkunft aus dieser Privatsammlung, die für diese Skizze herangezogen werden, wurde die Mehrzahl nicht als Postkarte beschrieben, keine davon von der Feldpost befördert. Zwei der Fotografien sind mit einer Bemerkung versehen, die entweder auf eine Einschränkung der Verbreitung durch die Behörden hinweist („Amtl.[ich]Genehmigt-Vervielfält [igung] verboten“) oder auf das Verbot der Publikation („Veröffentlichung verboten“). Die anderen Fotografien sind der Zensur und der Zerstörung entgangen. Nach Frankreich gelangten sie durch elsässische und lothringische Soldaten, die in deutscher Uniform im Ersten Weltkrieg kämpften und zum Kampf an die Ostfront geschickt worden waren, um ihr Desertieren zu vermeiden. Die Aufnahmen wurden zwischen Frühjahr 1917 und Anfang 1918 gemacht. Sie illustrieren etwa eine Waffenruhe, um die Toten zu begraben, den Ostermontag 1917 oder eine Verbrüderung zu Weihnachten desselben Jahres um das Schild „Frieden den Menschen auf Erden – Weihnachten 1917“ (Abb. 1). Der größte Teil des Korpus zeigt deutsch-russische Gruppen in unterschiedlicher Zusammensetzung, die posieren, um das Bild der Verbrüderung zu verkörpern. An anderen Fronten, z. B. in den Karpaten, beteiligen sich österreichische Soldaten an der Seite der deutschen Alliierten an den Verbrüderun13 ,Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk‘, 1918, 10 min. Zulassungskarte Film-Prüfstelle Berlin vom 11. Februar 1922, Prüfnummer 5292 Länge des Bildstreifens: 205 m. Bundesarchiv-Filmarchiv Zensurkartenbestand. 14 So verzeichnet etwa das Staatliche Russische Archiv für Film- und Fotodokumente RGAKFD lediglich sieben Aufnahmen mit diesem Sujet, darunter eine Aufnahme der Fraternisierung von österreichischen Kriegsgefangenen mit russischen Soldaten sowie vier Aufnahmen der Verbrüderung deutscher und russischer Soldaten aus dem Jahr 1917. E-mail Auskunft der ˇ ertilina vom 08. Oktober 2013. Im digiLeiterin der Fotoabteilung des RGAKFD Marina C talen Bildarchiv des Bundesarchivs sind unter dem Schlagwort Verbrüderung 1914 – 1918 insgesamt 23 Fotografien abrufbar. Verfügbar unter : [Zugriff: 25. 10. 2013].

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Abb. 1: Verbrüderung, 1917, Privatsammlung Fombaron.

gen. In dem Erinnerungsalbum des Gefreiten Wilhelm Boll von der bayerischen Reserve-Pionier-Kompagnie 8 sind vier Fotos abgebildet, die friedliche Szenen des gegenseitigen Tausches in der Region von Gyimes zeigen. Eines der Fotos trägt die folgende Bildlegende: „Verbrüderungsszene (bei Ausbruch der russ. Revolution trat an der Front Waffenruhe ein und ein Austausch der Lebensmittel begann wie sonst nie. Bild zeigt Russen in der deutschen Linie“ (Abb. 2). Einige Fotos sind symbolhaft im ,Niemandsland‘ bzw. an der Frontlinie angesiedelt (z. B. an einem Stacheldrahtzaun, (Abb. 3), an einer schon obsoleten Grenze, oder diesseits und jenseits eines Bachs oder eines Flusslaufs (Abb. 4). Die Gruppen zeigen sich mit dem Gesicht dem Fotografen zugewandt untereinander vermischt. Lediglich die Uniformen und Kopfbedeckungen gestatten es, die einen von den anderen zu unterscheiden. Waffen werden nicht gezeigt: Gewehre, Seitengewehre, Säbel sind verbannt. Auf einem einzigen Foto ist ein deutscher Soldat zu sehen, der noch keine Zeit gefunden hat, seine Patronentasche abzulegen (Abb. 5). Das Gesamt der Dokumente wirkt wie ein inszeniertes Ritual erstarrter Fraternisierung. Nur wenige Elemente erlauben es auf den ersten Blick, den Russen vom Deutschen zu unterscheiden (mit Ausnahme der für gewisse russische Einheiten typischen Fellmützen oder der Anwesenheit von Soldatinnen auf einem Dokument, Abb. 6). Keiner ist ungepflegt oder zerzaust; man stellt fest, dass es keinen symbolischen Tausch der Kopfbedeckungen gibt, ganz im Gegenteil zu dem, was man erwarten könnte. Die Idee der Fraternisierung wird durch kleine Signale physischen Kontakts vermittelt. Von den 25 Fotografien zeigt nur ein Viertel einen

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Abb. 2: Verbrüderung in den Karpathen. Aus dem Erinnerungsalbum des Gefreiten Wilhelm Boll von der bayerischen Reserve-Pionier-Kompagnie 8, 1917, Privatsammlung Fombaron.

Abb. 3: Verbrüderung im Schnee – Winter 1917, Privatsammlung Fombaron.

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Abb. 4: Verbrüderung an einem Bach, Rückseite beschriftet: „Vom Waffenstillstand – Verbrüderung im Osten“, 1917, Privatsammlung Fombaron.

Abb. 5: Verbrüderung, Rückseite beschriftet: „Nov-1917. 2 Russen (X 1 Unteroffizier und ein Gemeiner) an unseren Drahtverhau. Wygoroschtschie“, 1917, Privatsammlung Fombaron.

Händedruck, Hände, die auf den Schultern ruhen oder Soldaten, die sich an den Schultern untergefasst haben. Das brüderliche Teilen wird durch die gegenseitig ausgetauschten Zigaretten zitiert. Nur in zwei Fällen ist das Ritual mehr in Szene gesetzt. Auf einer der Fotografien ist inmitten der Gruppe eine improvisierte Tafel mit zwei Flaschen deutschen Schaumweins und vier Gläsern abgebildet,

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Abb. 6: Verbrüderung. Rückseite beschriftet: „Andenken a. d. Waffenstillstand u.d. Friedensverhandlung. An der Schtschara. 1917“, Privatsammlung Fombaron.

um die sich indessen an die fünfzig Soldaten gruppieren, die sich allerdings um einige Offiziere versammelt haben (Abb. 7). Ein anderes Foto ist mit einer außergewöhnlichen Bildlegende versehen: „Hier sende ich dir ein Andenken an den Waffenstillstand. Unsere Musikappele macht Konzert bei den Russen. Es grüßt dich herzlich Camille“ (Abb. 8). Der Absender mit dem in Lothringen gängigen Vornamen Camille lässt durch seine Schreibweise die Herkunft aus einem deutsch-französischen Sprachgebiet erkennen; bei dem Wort „Musikappele“ könnte ein Rechtschreibfehler vorliegen, möglicherweise aber auch ein Wortspiel mit den beiden Wortbedeutungen „Musik-Kapelle“ und „Musik-Appell“. Auf dem Foto bringt das Musikregiment des Landsturm-Infanterie-Regiments 20 ein Ständchen zwischen den Fronten am 17. Dezember 1917 im Sektor von Slosim. Bemerkenswert ist in einigen wenigen Fällen auch das Vorhandensein weißer Tücher und Zeitungen bzw. Flugschriften, die auf den Waffenstillstand hinweisen, darunter eine Zeitung mit dem Titel Tovarisˇcˇ (Der Kamerad) (Abb. 9), die in russischer Sprache im Zeitraum 19. Juni 1917 – 10. März 1918 in dem von den Deutschen besetzten Wilna in der Druckerei der Zeitung

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Abb. 7: Verbrüderung. Rückseite beschriftet: „Hier kannst du sehen unsere Brüderschaft mit den Russen während des Waffenstillstandes“, 1917, Privatsammlung Fombaron.

Abb. 8: Musikregiment des Landsturm-Infanterie-Regiment 20 am 17. Dezember 1917 im Sektor Slosim, Legende: „Reg(imen)t-Musik L(an)dst(urm)-Inf(anterie)-Reg(imen)t 20 + zwischen d(en) Fronten. 17.XII.1917“, Privatsammlung Fombaron.

der 10. Armee produziert wurde, um „auf die breiten russischen Soldatenmassen aufklärend zu wirken, sie mit offiziellen Nachrichten des Vierbunds, mit neutralen Pressestimmen, mit Nachrichten über die Vorgänge in Russland selbst bekanntzumachen und die intensiv betriebene englischen und französische

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Gegenpropaganda zu bekämpfen“.15 Das Foto kann als Beweis für die These dienen, dass die Verbrüderung von deutscher Seite für die Verbreitung von Propaganda-Schriften genutzt wurde mit dem Ziel, die Wehrkraft der russischen Truppen zu zersetzen. Nach Unterzeichnung des Friedensvertrags mit Russland wurde die Produktion der Zeitung mit Erscheinen der Nr. 133 eingestellt.

Abb. 9: Verbrüderung und Propaganda. Soldat mit der Zeitung: „Tovarisˇcˇ“ (Der Kamerad). Rückseite: Stempel: „Veröffentlichung VERBOTEN“, 1917, Privatsammlung Fombaron.

Der größte Teil der hier untersuchten Fotos zeigt also inszenierte feierliche Szenen. Die Fraternisierung selbst materialisiert sich durch die Mischung von Individuen der zwei verfeindeten Lager. Dieses Zusammenleben erscheint selbstgenügsam. Ein physischer Kontakt, der darin besteht, den Feind von gestern mit der Hand zu berühren, ist außergewöhnlich, wie auch der Tausch. Dennoch mögen diese Dinge stattgefunden haben, jedoch in Abwesenheit des fotografischen Blicks. Häufig sind zu den in Archiven verwahrten Fotografien keine Beschriftungen und Bildlegenden überliefert, die eine genaue Zuschreibung und Datierung der Aufnahmen oder die Identifizierung der dargestellten Personen, Orte und Ereignisse ermöglichen. Daher stellen dokumentarische Aufnahmen aus privaten Fotoalben, die mit zeitgenössischer Bildlegende versehen sind, wertvolle Quellen dar. So lautet z. B. die Beschriftung eines in der Sammlung Jean-Claude 15 „Die Entstehung des ,Towarischtsch‘.“ Inhaltsübersicht der Nr. 1 – 133 (19. 06. 1917 – 10. 03. ˇ ’ In: TOVARISˇC ˇ ’ / DER KAMERAD, Nr. 1 bis 133 vom 19. 06. 1918) des KAMERAD / TOVARISˇC 1917 bis 10. 03. 1918. Kriegssammlung der Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur 2”Krieg 1914/ 26168. Für den Hinweis auf die Zeitung danke ich Irina Renz von der Bibliothek für Zeitgeschichte Stuttgart.

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Fombarons überlieferten Fotos aus dem Album eines bayerischen Pioniers (Schanzgräbers): „Verbrüderung. Austausch von Schnaps gegen Zucker“ (Abb. 10).

Abb. 10: Verbrüderung in den Karpathen. Aus dem Erinnerungsalbum des Gefreiten Wilhelm Boll von der bayerischen Reserve-Pionier-Kompagnie 8, 1917, Privatsammlung Fombaron.

Der Wert der Fotografien als historisches Dokument kann in vollem Maße nur dann erschlossen werden, wenn die Aufnahmen nicht lediglich illustrativ verwendet, sondern durch Hinzuziehung weiterer Quellendokumente kontextualisiert und in Bezug zur historiografischen Forschung gesetzt werden können. Von herausragendem Interesse ist daher der Vergleich der Bilddokumente der Fraternisierungen an der Ostfront mit schriftlichen Dokumenten. Aleksandr B. Astasˇov zieht in seiner Studie zu den Verbrüderungen an der russischen Front im Ersten Weltkrieg „Bratanija na Russkom fronte Pervoj mirovoj vojny“16 vormals unbekannte schriftliche Archivdokumente der Kaiserlich Russischen Armee aus dem Staatlichen Russischen Militärhistorischen Archiv (RGVIA) heran und wird in den mit Auszügen aus Frontbriefen versehenen Rapports und den seit Oktober 1915 monatlich oder häufiger angefertigten Zensurberichten fündig. Diese Berichte geben Auskunft über viele negative Vorkommnisse aus dem Leben der Armee: Überlaufen zum Feind, Desertierungen, Selbstverstümmelungen, Marodieren wie auch Fraternisierungen 16 Astasˇov, Aleksandr B.: ,Bratanija na Russkom fronte Pervoj mirovoj vojny‘, in: NOVYJ ISˇ ESKIJ VESTNIK 2011/28 – 2, S. 29 – 41. Hier zitiert nach der elektronischen PublikaTORIC tion: Verfügbar unter : [Zugriff: 29. 10. 2013].

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Demnach sind bereits an Weihnachten 1914 Verbrüderungen auch an der Ostfront belegt. Sie sind Astasˇov zufolge auch 1915 nachweisbar und traten massenhaft ab 1916 und besonders 1917 auf, als Folge der Aushandlung des Waffenstillstands an der gesamten Ostfront, der am 15. Dezember 1917 unterzeichnet wurde und am 17. Dezember um 12 Uhr mittags für eine Frist von 28 Tagen in Kraft trat, nachdem am 7. Dezember 1917 die Vertreter Deutschlands, Österreich-Ungarns, der Türkei und Bulgariens mit den Vertretern Russlands bereits eine zehntägige Waffenruhe beschlossen hatten. Astasˇov weist auch auf einen sowohl in der sowjetischen als auch postsowjetischen Forschung bislang weitgehend unberücksichtigten Aspekt hin: auf die Rolle der religiösen Traditionen bei den Verbrüderungen. In den Quellen findet er Belege für das gegenseitige „Christosovanie“ (d. h. das Austauschen des Ostergrußes), Feierlichkeiten, das Verköstigen mit Alkoholika. Er macht auf den Zusammenhang mit religiösen Feierlichkeiten und der christlich-bäuerlichen Mentalität der Soldaten aufmerksam: Verbrüderungen fanden häufig zu Ostern statt und stehen im Zusammenhang mit der bäuerlich orthodoxen Prägung der Soldaten der russischen Armee. Die Verbrüderungen an der Ostfront des Ersten Weltkriegs unterschieden sich Astasˇov zufolge insbesondere aufgrund der großen Bedeutung der orthodoxen Feiertage in den sozialen Beziehungen zwischen den Bauern stark von denen an der Westfront. So war es in der Osterzeit in russischen Dörfern Brauch, dass die reichen Bauern die armen unterstützten, Osterkuchen (Kulitsch) überreichten, etc. Dasselbe geschah auch unter den Soldaten: Es wurden Lebensmittel miteinander geteilt – Osterkuchen, Eier, Speck, Wurst, Brot und Süßigkeiten. Der Brauch wurde schließlich mitunter sogar auf den Kriegsgegner ausgedehnt. Die Verbrüderungen wurden von den Krieg führenden Parteien teilweise auch zur Zersetzung der Wehrkraft propagandistisch eingesetzt,17 die Ziele der deutschen Propaganda trafen sich hierbei mit denen der Bolschewiki. So verbreitete z. B. die oben erwähnte Zeitung Tovarisˇcˇ (Der Kamerad) Verlautbarungen der Bolschewiki zum Friedensschluss. Die Verbrüderung an der Front war Bestandteil der offiziellen Politik der Bolschewiken. Das schlägt sich auch in den filmischen Inszenierungen nieder. Für die sowjetische Geschichtsschreibung des Jahres 1917 stellte der Spielfilm ein herausragend wichtiges Medium 17 Astasˇov weist auf postsowjetische Forschungen von S. V. Bazanov hin, die das Problem des moralischen Zustands der russischen Armee mit der Zersetzungsarbeit der deutschen Kommandostellen im Jahr 1917 in Verbindung bringen (Bazanov, S. N.: ,K istorii razvala russkoj armii v 1917 godu‘, in: Armija i obsˇcˇestvo, 1900 – 1941 gody: Statii, dockumenty. Moskva 1999, S. 51 – 76). Hingegen sei in der sowjetischen Forschung das Thema der Verbrüderung in der russischen Armee unter dem Aspekt der „Revolutionisierung“ und „Bolschewisierung“ behandelt worden, etwa bei Achun, M. I. / Petrov V. A.: Carskaja armija v gody imperialisticˇeskoj vojny. Moskva 1929, S. 37 (Vgl. Astasˇov 2011)

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dar. Der auf historischen Quellenmaterialen basierende Spielfilm Oktober (Oktjabr‘) wurde im Staatsauftrag zehn Jahre nach den Ereignissen der Revolution von 1917 gedreht und erfüllt eine historiografische Funktion. Er bedient sich des Verfahrens der Inszenierung historischer Ereignisse als Reenactment und erlangte den Status eines geschichtlichen Dokuments. So werden beispielsweise die Szenen der Erstürmung des Winterpalais in Ermangelung historischer Filmaufnahmen überaus häufig in Dokumentationen verwendet und haben im Bildgedächtnis einen quasi dokumentarischen Status erlangt. Dieser pseudodokumentarische Status ergibt sich nicht nur aus der dokumentarisch anmutenden Filmweise, sondern auch aus der Tatsache, dass Eisenstein bei der Bildkomposition der Einstellungen des Oktober-Films auf historische Fotografien und Wochenschau-Aufnahmen zurückgriff.18 Im Eisenstein-Fonds des Russischen Staatsarchivs für Literatur und Kunst RGALI ist ein Dokument mit dem Titel „Fragmente aus Eisensteins Dreharbeiten-Tagebuch zum Oktober“ erhalten. Demnach wurde die Szene der Verbrüderung im April 1927 gedreht: „13. April: Erste Dreharbeit in Leningrad. Die Verbrüderungsszene an der Front. Wir machten die (entsprechende) Stelle ausfindig. Hoben Schützengräben aus. Beeilten uns, um den tauenden Schnee noch mitzukriegen. Der Kameramann des Films Eduard Tiss¦ wurde in der Rolle eines Deutschen gefilmt.“19 (Abb. 11). Der Film folgt in seinem Ablauf der Chronologie der revolutionären Ereignisse 1917: Auf die Szenen der Abdankung des Zaren am 2. (15.) März 1917 folgen Filmszenen der Verbrüderung deutscher und russischer Soldaten an der Ostfront. Im Film treffen sich die deutschen und russischen Soldaten im Grenzbereich, sie trinken zusammen Wein und fassen sich freundschaftlich an den Schultern, umarmen sich. Die Verbrüderung taucht auch als Koseform „bratisˇka!“ („Brüderchen!“)20 in den Zwischentiteln auf. Der Film kontrastiert die Position der provisorischen Regierung, die den Krieg befürwortet, mit der ablehnenden Haltung der Bolschewiki zum Krieg: Die provisorische Regierung kündigt an, sie werde die Pflichten gegenüber den Verbündeten erfüllen und den Krieg fortführen. In Petrograd kommt es im April 1917 zu Massendemonstrationen für den Friedensschluss. Lenin kehrt aus dem 18 So inszenierte er beispielsweise die Ereignisse des 4. Juli 1917, als die provisorische Regierung die Teilnehmer einer friedlichen Massendemonstration an der Kreuzung SadovajaNevskij-Prospekt niederschießen ließ, im Film als Massenpanik und orientierte sich bei der Komposition der Einstellungen u. a. an Fotos von Viktor Bulla vom Juli 1917. 19 RGALI, Fonds 1923, Findbuch 1, Aufbewahrungseinheit 212. Hier zitiert nach: Krasovskij, Jurij: ,Die Entstehungsgeschichte des „Oktober“-Films‘, in: Eisenstein, Sergej M.: Schriften 3. Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ ,Kapital’. München 1975, S. 38 – 64, hier S. 45. 20 Oktjabr’ DVD Russico Zwischentitel:. Bratisˇka! = Brüderchen! TC 00:04:45.

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Abb. 11: Verbrüderung im Spielfilm Oktober (SU 1927): links (Rückenansicht) Eduard Tiss¦ in der Rolle des deutschen Soldaten.

Exil zurück und kommt am Abend des 3. April am Finnischen Bahnhof in Petrograd an. In der Parteiversammlung vom 4. April gibt Lenin die April-Thesen bekannt, gleich die erste These fordert die Beendigung des Kriegs („Organisierung der breitesten Propaganda dieser Auffassung unter den Fronttruppen. Verbrüderung“21). Am 4. Juli lässt die provisorische Regierung Teilnehmer einer friedlichen Massendemonstration an der Kreuzung Sadovaja-Nevskij Prospekt niederschießen. Im Juli führt Kerenski die Todesstrafe für desertierte Soldaten ein. Dies wird im Film u. a. über den Zwischentitel: „Befehl zur Wiedereinführung der Todesstrafe“ vermittelt. Die Szene des Films zeigt Kerenski, der den Befehl unterschreibt. Das Ende des Films zeigt den Zweiten Allrussischen Kongress der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, der vom 26. bis 27. Oktober (nach gregorianischem Kalender 8. bis 9. November) stattfand. Die Bolschewiken setzen den „Rat der Volkskommissare“ unter Führung von Lenin als neue Regierung ein und beschließen das „Dekret über den Frieden“. Sergei Eisenstein inszeniert in seinem historischen Spielfilm Oktober die Verbrüderung der Soldaten an der Front als Reenactment einer Episode der revolutionären Ereignisse und präsentiert das gesamte Revolutionsgeschehen aus der Sicht der Bolschewiki und ihrer Interpretation der Geschichte folgendermaßen: Held des Films ist das revolutionäre Kollektiv. Bei der Darstellung der fraternisierenden Soldaten – wie auch bei den übrigen Figuren des Films – greift Eisenstein auf das Prinzip der typisierenden (Laien-)Darstellung (Typage) zurück. Im Gegenteil dazu setzt Boris Barnet in seinem Spielfilm Okraina 21 Die Thesen dürfte dem sowjetischen Filmpublikum im Wortlaut weithin bekannt gewesen sein. Lenin, Vladimir I.: ,Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution (Die Aprilthesen) (7. April 1917)‘, in: PRAVDA 26, 20. 04. 1917. Hier zitiert nach: [Zugriff: 19. 10. 2013].

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(Vorstadt) Schauspieler ein und behandelt in seiner psychologisierenden Darstellung das Thema der Verbrüderung zwischen Deutschen und Russen auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen. Im Unterschied zu dem 1927 anlässlich des zehnjährigen Jahrestags der Oktoberrevolution im Staatsauftrag produzierten Film Oktober ist Film Okraina (Vorstadt) eine Produktion der deutsch-russischen privatwirtschaftlichen Filmfirma Mezˇrabpomfilm, gedreht 1933 auf Grundlage einer Novelle von Konstantin Finn.22 Okraina spielt in einer Vorstadt des zaristischen Russlands. Man schreibt das Jahr 1914. In der Stadt gibt es Unruhen, zaristische Truppen gehen brutal gegen die streikenden Arbeiter vor. Einer der Arbeiter ist Nikolaj Kadkin, Sohn des Schuhmachers Petr Kadkin. Dieser lebt in unmittelbarer Nachbarschaft mit dem ältere Russen Aleksandr Petrovicˇ, den man Seite an Seite mit seinem Untermieter, dem Deutschen Robert Karlovicˇ sieht: Sie spielen gemeinsam Dame. Da unterbricht ein Telegramm das verschlafene Leben der Vorstadt: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt“. Mit dem Kriegsausbruch zerbricht die Freundschaft zwischen dem Deutschen Robert Karlovicˇ und dem Russen Aleksandr Petrovicˇ. Robert Karlovicˇ verlässt die Stadt. Der Arbeiter Nikolaj Kadkin zieht an die Front. Sein Bruder Sen’ka meldet sich als Freiwilliger. Tausende Soldaten werden in eine sinnlose Attacke geschickt. Indessen macht der russische Fabrikant Mitkin das große Geschäft mit der Produktion von Stiefeln für die Armee. Das Geräusch der Akkord-Produktion der Stiefel montiert Barnet parallel zu den Maschinengewehrsalven an der Front: Die Soldaten sind Kanonenfutter für einige Kriegsgewinnler. An der Front trifft Nikolaj Kadkin auf einen jungen Deutschen, er bringt ihn aber nicht um, sondern erkennt in ihm den Menschen (und Bruder) und nimmt ihn gefangen. Der junge Deutsche kommt als Kriegsgefangener in die russische Vorstadt. Die einfachen Soldaten unter den deutschen Kriegsgefangenen dürfen aufgrund der Lebensmittelknappheit Arbeit suchen, aber die Ressentiments sind groß. Maria, die Tochter von Aleksandr Petrovicˇ, verliebt sich in den jungen deutschen Kriegsgefangenen, der ein Schuhmacher ist, doch ihr Vater ist strikt dagegen. Der junge Deutsche findet schließlich Arbeit als Schuhmacher – ausgerechnet bei Petr Kadkin, dem Vater Nikolajs. Während der deutsche Schuhmacher, Soldatenlieder summend, bei der Arbeit sitzt, kommt ein Brief von der Front, Sen’ka ist gefallen, Nikolaj verletzt. Der Hass auf die Deutschen in der russischen Vorstadt ist groß. Russische Kriegsversehrte ziehen mit einem Trunkenbold los, den Deutschen tot zu prügeln. Einzig Maria geht dazwischen. Der junge Soldat wird später im deutschen Kriegsgefangenenlager – im deutschen Originalton – be22 Zur Geschichte des Studios siehe: Chochlowa, Jekaterina: ,Das Studio der Meister : Filme und Schicksale‘, in: Agde, Günter / Schwarz, Alexander : Die rote Traumfabrik. MeschrapbomFilm und Prometheus 1921 – 1936. Berlin 2012, S. 62 – 75.

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richten: „Aber da kam ein Mädchen. Sie war so nett zu mir. Wenn sie nicht gewesen wäre, sie hätten mich totgeschlagen“. An der Front verbreitet sich die Nachricht von der Abdankung des Zaren. Nikolaj Kadkin steigt mutig aus dem Schützengraben und zieht schutzlos allein mit weißer Fahne vor die feindlichen Truppen (Abb. 12) – die russischen und deutschen Soldaten verbrüdern sich.

Abb. 12: Verbrüderung im Spielfilm Okraina: Der russische Soldat Nikolaj Kadkin (Nikolaj Bogoljubov) mit weißer Fahne, 1933.

Doch die provisorische Regierung beendet den Krieg nicht. Fraternisierung wird mit Erschießen bestraft. Als die Nachricht von der Erstürmung des Winterpalais kommt, liegt Nikolaj von den Gewehrsalven des Strafkommandos niedergemäht auf der Erde. Und Barnet lässt den Helden kurz auferstehen: Bei der Nachricht vom Sieg der Revolution öffnet Nikolaj die Augen, sie leuchten… Boris Barnets Filme sind poetisch: der überirdisch strahlende Blick des toten Helden ist ein Sinnbild für den Sieg der Revolution. Barnet zeigt die Verbrüderung nicht wie Eisenstein historiografisch analytisch distanziert als ein Element in der Chronologie der Ereignisse, als eine Episode der – aus der Perspektive der Bolschewiki erzählten – Revolutionsgeschichte, sondern aus Sicht der einfachen Menschen und ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Deutsche ist väterlicher Freund und Mitglied der Familie (Robert Karlovicˇ), der junge Deutsche als Arbeiter ein Gleicher unter Gleichen („er ist ein Deutscher, aber ebenso ein Schuhmacher“), dem sein russischer „Bruder“ (Nikolaj Kadkin) beim Kampf an der Front nicht das Leben nimmt, sondern ihn gefangen setzt, so dass er schließlich bei seinem Vater Arbeit findet, dem Schuhmacher Petr Kadkin. Das russische Mädchen Maria sieht auch nach dem Kriegsausbruch in Robert Karlovicˇ nicht den Feind und trauert bei seinem Weggang. Sie verliebt sich in den jungen Deutschen, hilft ihm, Arbeit zu finden und spricht mit ihm in seiner Sprache. Außergewöhnlich ist auch die Tongestaltung des Films, in der die

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russische und deutsche Sprache verwoben sind: Die deutschen Soldaten reden deutsch, der junge Deutsche summt bei der Arbeit Soldatenlieder wie „Die Wacht am Rhein“. Auch im Kampf um Leben und Tod an der Front bleibt ein deutscher Feind nicht stumm, sondern man hört ihn in Todesangst auf Deutsch sagen „Tötet mich nicht, ich habe Frau und Kind zu Hause“. Barnet verknüpft im Film die Darstellung der Fraternisierung an der Ostfront mit einer komplexen Ausgestaltung (und Variation) des Motivs der Brüderlichkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen des russischen Hinterlands und erhebt so die Brüderlichkeit und den Humanismus zum zentralen Thema des Films. Er zeigt das friedfertige Zusammenleben der Deutschen und Russen verkörpert durch familiär-freundschaftliche Bande zwischen russischem Vermieter und deutschem Untermieter, die durch den Kriegsausbruch jäh zerreißen. Die Verbrüderung an der Front wird nicht nur in Nikolaj Kadkins lebensgefährlichen heldenhaften Überschreiten der Grenze mit der weißen Fahne versinnbildlicht, sondern auch durch das brüderliche Handeln Nikolajs im Kampf mit dem Feind. Den vom russischen Mob fast zu Tode geprügelte deutsche Schuhmacher lässt der russische Vater auf das Bett seines Sohnes Nikolaj legen. Das Motiv der Brüderlichkeit verbindet sich bei Boris Barnet mit dem Thema der Freundschaft und Liebe über die Grenzen hinweg: Der Feind wird zum Freund, zum Bruder, zum Sohn und zum Geliebten. Im Jahr 1933 war Barnets Darstellung der brüderlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Russen vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland und in der stalinistischen Sowjetunion betrachtet allerdings eher unzeitgemäß. Der Vergleich zwischen den ausgewählten filmischen und fotografischen Repräsentationen der Verbrüderung an der Ostfront verdeutlicht Unterschiede zwischen offizieller und inoffizieller Bildproduktion: Der im offiziellen Staatsauftrag entstandene Spielfilm Oktober zeigt die Verbrüderung als kurze Episode der revolutionären Bewegung unter planvoll gelenkter Führung der Bolschewiki (und steht damit in Einklang mit der offiziellen sowjetischen Historiografie). Der von Boris Barnet für die deutsch-russische Filmfirma Mezˇrabpomfilm gedrehte Film Okraina behandelt das Thema der Verbrüderung auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen und aus der Perspektive der internationalistischen Arbeiterbewegung gegen den imperialistischen Krieg und der proletarischen Solidarität. Sowohl die filmischen als auch die fotografischen Repräsentationen der Verbrüderung sind inszeniert, denn auch die Soldaten an der Front posieren für den Fotografen. Die in Staatsauftrag im Kontext der Berichterstattung über die Waffenstillstandsverhandlungen von Brest-Litowsk entstandene offizielle Bildproduktion unterscheidet sich dennoch von den privaten Aufnahmen und persönlichen Erinnerungsfotos von Soldaten. Diese tragen trotz des Posierens einen inoffiziellen Charakter und waren in der Regel

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nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Für die Historiografie wurden über lange Zeit allerdings vorwiegend die „offiziellen“ Dokumente der Verbrüderung herangezogen, etwa die Äußerungen Lenins zur Fraternisierung oder die Rolle der deutschen Propaganda zugunsten der Fraternisierung, um den Krieg an der Ostfront zu beenden und die Wehrkraft der Russischen Armee zu zersetzen. Durch die zunehmende Online-Verfügbarmachung sowohl von Bestandsinformationen als auch der digitalisierten Bilddokumente der Verbrüderung werden neue Quellen für die Visual History in Umlauf gebracht. Für die Klärung der Zuschreibung oder Kontextualisierung von Bilddokumenten können schrifttextliche Dokumente wie die von Astasˇov recherchierten schriftlichen Archivdokumente der militärischen Zensurbehörden herangezogen werden, um die Bilddokumente der Verbrüderung zu „lesen“. Es existieren darüber hinaus noch zahlreiche unbekannte Dokumente in privaten Sammlungen wie der Fotosammlung von Jean-Claude Fombaron. Diese Fotografien sind überaus wichtige Bildquellen für die Visual History und für die Alltagsgeschichte des Lebens der einfachen Soldaten an der Front. Ein grundsätzliches Desiderat bleibt, die Bildund Filmdokumente und schrifttextlichen Dokumente der Verbrüderungen aus Archiven und Privatsammlungen verschiedener Länder zu verknüpfen, sie zu kontextualisieren und in multimedialen digitalen Editionen zusammengeführt zu präsentieren und der transnationalen Forschung besser Rechnung zu tragen. Der Artikel entstand mit Unterstützung des EU-Projekts CENDARI = Collaborative European Digital Archival Infrastructure. The research leading to these results has received funding from the European Union’s Seventh Framework Programme [FP7/2007 – 2013] under grant agreement n8 284432 (see Article II.30. of the Grant Agreement).

Abbildungen Abb. 1: Verbrüderung, 1917, Privatsammlung Fombaron. Abb. 2: Verbrüderung in den Karpathen. Aus dem Erinnerungsalbum des Gefreiten Wilhelm Boll von der bayerischen Reserve-Pionier-Kompagnie 8, 1917, Privatsammlung Fombaron. Abb. 3: Verbrüderung im Schnee – Winter 1917, Privatsammlung Fombaron. Abb. 4: Verbrüderung an einem Bach. Rückseite beschriftet: „Vom Waffenstillstand – Verbrüderung im Osten“. 1917, Privatsammlung Fombaron. Abb. 5: Rückseite beschriftet: „Nov-1917. 2 Russen (X 1 Unteroffizier und ein Gemeiner) an unseren Drahtverhau. Wygoroschtschie“. 1917. Privatsammlung Fombaron. Abb. 6: Rückseite: „Andenken a. d. Waffenstillstand u.d. Friedensverhandlung. An der Schtschara. 1917“. Privatsammlung Fombaron

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Abb. 7: Rückseite beschriftet: „Hier kannst du sehen unsere Brüderschaft mit den Russen während des Waffenstillstandes“. 1917. Privatsammlung Fombaron Abb. 8: Musikregiment des Landsturm-Infanterie-Regiment 20 am 17. Dezember 1917 im Sektor Slosim, Legende: „Reg(imen)t-Musik L(an)dst(urm)-Inf(anterie)-Reg(imen)t 20 + zwischen d(en) Fronten. 17.XII.1917“. Privatsammlung Fombaron Abb. 9: Verbrüderung und Propaganda: Soldat mit der Zeitung: „TOVARISˇCˇ’“ / DER KAMERAD. Rückseite: Stempel: „Veröffentlichung VERBOTEN“, 1917, Privatsammlung Fombaron Abb. 10: Verbrüderung in den Karpathen. Aus dem Erinnerungsalbum des Gefreiten Wilhelm Boll von der bayerischen Reserve-Pionier-Kompagnie 8. 1917. Privatsammlung Fombaron Abb. 11: Verbrüderung im Spielfilm Oktjabr’ (Oktober)(SU 19127). DVD Ruscico 2008, TC: 0:05:09 Abb. 12: Verbrüderung im Spielfilm Okraina (Vorstadt) (SU 1933). DVD Le Faubourg / Okraina. Bach Films 2006. TC 1:24:05

Literatur Achun, M. I. / Petrov V. A.: Carskaja armija v gody imperialisticˇeskoj vojny. Moskva 1929. Astasˇov, Aleksandr B.: ,Bratanija na Russkom fronte Pervoj mirovoj vojny‘, in: NOVYJ ISTORICˇESKIJ VESTNIK 2011/28 – 2, S. 29 – 41, verfügbar unter : [Zugriff: 29. 10. 2013]. Bazanov, S. N.: „K istorii razvala russkoj armii v 1917 godu.“ In: Armija i obsˇcˇestvo, 1900 – 1941 gody : Statii, dokumenty. Moskva, 1999, S. 51 – 76 Bildarchiv des Bundesarchivs: ,Schlagwort Verbrüderung 1914 – 1918‘, verfügbar unter : [Zugriff: 25. 10. 2013]. Chochlowa, Jekaterina: ,Das Studio der Meister : Filme und Schicksale‘, in: Agde, Günter / Schwarz, Alexander : Die rote Traumfabrik. Meschrapbom-Film und Prometheus 1921 – 1936. Berlin 2012, S. 62 – 75. Imperial War Museum, Katalognummern Q 50719, Q 50720, Q 50721. Fotografien vom 25. Dezember 1914. Verfügbar unter : [Zugriff: 29. 10. 2013] Krasovskij, Jurij: ,Die Entstehungsgeschichte des „Oktober“-Films‘, in: Eisenstein, Sergej M.: Schriften 3. Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ ,Kapital‘. München 1975, S. 38 – 64. Lenin, Vladimir I.: ,Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution (Die Aprilthesen) (7. April 1917)‘, in: PRAVDA 26, 20. 04. 1917, verfügbar unter : [Zugriff: 19. 10. 2013]. ˇ Nr. 1.1917 – 133.1918, Kriegssammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. SignaTOVARISˇC tur 2”Krieg 1914/26168. V¦ray, Laurent: La grande guerre au cin¦ma. De la gloire — la m¦moire. Paris 2008

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,Waffenstillstand in Brest-Litowsk‘, in: Bundesarchiv-Bildarchiv Koblenz, Bild 183R92623. Weintraub, Stanley : Silent Night: The Story of the World War I Christmas Truce. New York 2001.

Filme Barnet, Boris: Okraina [Vorstadt], SU 1933. DVD Le Faubourg / Okraina. Bach Films 2006. Bild- und Filmamt BUFA: Der erste Friedensvertrag des Weltkrieges, D 1918, 12 min. Archiv : Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin. BSP 20929, Zulassungskarte der Reichsfilmstelle Prüfnummer 5553. Bild- und Filmamt BUFA: Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk, D 1918, 10 min. Archiv : Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin. BSL 19083, Zulassungskarte der Reichsfilmstelle Prüfnummer 5292. Verfügbar unter : [Zugriff: 22. 10. 2013]. Bild- und Filmamt BUFA: Der Waffenstillstand von Brest-Litowsk, D 1917, 9 min. Archiv : Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin. Zulassungskarte Reichsfilmstelle Prüfnummer 5146. Verfügbar unter : [Zugriff: 22. 10. 2013]. Carion, Christian: Merry Christmas [Joyeux Noel], F 2005, 115 min., DVD. Eisenstein, Sergej: Oktjabr’ [Oktober], SU 1927. DVD Ruscico 2008.

Nenad Makuljevic´ (Belgrad)

Jugoslawien vor Jugoslawien. Südslawische Brüderlichkeit unter Künstlern

Die Entstehung der modernen europäischen Nationen hat das 19. Jahrhundert stark geprägt.1 In dieser Zeit haben sich auch die gegenwärtigen Nationen auf dem Balkan formiert, aber parallel mit der Entstehung und Entwicklung der serbischen, kroatischen und slowenischen Identität hat sich schrittweise auch die jugoslawische nationale Identität konstituiert. Die Konstituierung moderner Nationen stellt einen Prozess dar, in welchem die Formierung der kulturellen Identität eine Schlüsselstellung einnimmt.2 Gerade die Konstitution der gemeinsamen kulturellen Identität hat die Entstehung von politischen und sozialen Kollektiven erst möglich gemacht. Deswegen nehmen vor allem Intellektuelle und Künstler eine herausragende Position in diesem kulturellen und gesellschaftlichen Prozess ein. Ihr vielschichtiges Handeln im Prozess des nation building wird durch die Arbeit an der Ideenbasis imaginärer nationaler Kollektive charakterisiert, aber auch durch die öffentliche Beteiligung an den gesellschaftlichen und politischen Bewegungen. Eines der Beispiele, das die Bedeutung der Kultur für die Konstruktion einer Nation veranschaulicht, ist die Beteiligung der Künstler an der Konstitution der jugoslawischen nationalen Idee. Die Enstehung und Ausbreitung der jugoslawischen Idee fällt bereits ins 19. Jahrhundert.3 Zu dieser Zeit befand sich der größte Teil der südslawischen Bevölkerung unter der Herrschaft der Habsburger oder des Osmanischen Imperiums, die ersten freien Staaten waren die Fürstentümer Serbien, Montenegro und Bulgarien. Ein solch komplexer politischer Kontext und die starke allslawische-panslawische Bewegung trugen zur gegenseitigen Sympathie bei, zum Gefühl von Kollektivität und dem Bedürfnis nach einem vereinigten poltischen Auftreten der südslawischen Völker. Als Basis für eine gemeinsame Zukunft 1 Hobsbawm, Eric: Nations and Nationalism since 1780. Programme, myth reality. Cambridge 1992, S. 14 – 130. 2 Smith, Anthony D.: National Identity. London 1991, S. 71 – 98. 3 Ekmecˇic´, Milorad: Stvaranje Jugoslavije 1790 – 1918, Bd. 1 und 2, Beograd 1989.

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Nenad Makuljevic´

nahm man die gemeinsame Kultur, welche aus Elementen konstituiert war, die jenseits aller kulturellen und ethnischen Besonderheiten standen. Deswegen war das Propagieren und Kreieren einer gemeinsamen Kultur eine der wichtigsten Aktivitäten in der Herausbildung der jugoslawischen Nation.4 In diesem Prozess haben die geschichtliche und kulturelle Konstituierung des gemeinsamen kulturellen Erbes und das Entstehen der jugoslawischen Brüderlichkeit unter den Künstlern einen wichtigen Platz eingenommen.

Die Entstehung der „Brüderlichkeit“ unter den Künstlern Den Beginn des 19. Jahrhunderts kennzeichnet eine intensive Auseinandersetzung mit der Kunst und dem Schreiben darüber, was zur Affirmation und Konstruktion kollektiver Identitäten beiträgt.5 In dieser Zeit beginnt auch bei den südslawischen Völkern die schriftliche Auseinandersetzung mit der Kunst,6 welche einen wichtigen Beitrag zur Erfindung der nationalen kulturellen Grundlagen und zum Formulieren des nationalen Kanons leistet.7 Die Texte über Kunst im südosteuropäischen Kulturraum folgten vorwiegend den mitteleuropäischen Vorbildern und wurden in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Die Autoren, deren Texte sich mit Kunst auseinandersetzten, verfassten auch die ersten künstlerischen Biografien der südslawischen Künstler, beschrieben Kirchen und Klöster und berichteten über Ausstellungen. Gleichzeitig versuchten sie, solche Werke ausfindig zu machen, die den imaginierten Idealen des ,Nationalgeistes‘ entsprachen und die Entstehung eines nationalen Kanons ermöglichten, der als Vorbild dienen sollte. Ein Beispiel für die Verbindung des Schreibens über Kunst und die Schaffung der nationalen Identität bietet Dimitrije Avramovic´ (1815 – 1855). Avramovic´ erforschte die serbische mittelal4 Ekmecˇic´ 1989, Bd. 1, S. 345 – 484. 5 Locher, Hubert: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750 – 1950. München 2001, S. 195 – 202. 6 Medakovic´, Dejan: Istrazˇivacˇi srpskih starina. Beograd 1985, S. 6 – 250; Mance, Ivana: ZÀrcalo naroda: Ivan Kukuljevic´ Sakcinski: povijest umjetnosti i politika. Zagreb 2012, S. 107 – 147; Bakalova, Elka: ,Art History in Bulgaria: Institutional Frameworks, Research Directions and Individual Scholars‘, in: Rampley, Matthew / Lenain, Thierry / Locher, Hubert (Hg.): Art History and Visual Studies in Europe. Leiden/Boston 2012, S. 287 – 304, hier S. 287 – 292; Makuljevic´, Nenad: ,Art History in Serbia, Bosnia-Herzegovina and Macedonia‘, in: Rampley, Matthew / Lenain, Thierry / Locher, Hubert (Hg.): Art History and Visual Studies in Europe. Leiden/Boston 2012, S. 461 – 472, hier S. 461 – 463. 7 Makuljevic´, Nenad: Umetnosti i nacionalna ideja u XIX veku: sistem evropske i srpske vizuelne kulture u sluzˇbi nacije. Beograd 2006, S. 15 – 70; Makuljevic´, Nenad: ,Inventing and Changing the Canon and the Constitution of Serbian National Identity in the Nineteenth Century‘, in: Stevovic´, Ivan (Hg.): Symmeikta: zbornik radova povodom ˇcetrdeset godina Instituta za istoriju umetnosti Filozofskog fakulteta u Beogradu. Beograd 2012, S. 505 – 516.

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terliche Kunst, verfasste Texte über die serbische Malerei und versuchte, seine Erkenntnisse über die Eigenschaften der serbischen Kunst in die eigene Malerei einzubringen und so eine nationale Kunst zu kreieren.8 Die Entstehung der jugoslawischen Kunst war ein Prozess, welcher mit der Konstruktion der gemeinsamen künstlerischen Vergangenheit begonnen hat. Eine der wichtigsten Personen in diesem Prozess war der kroatische Historiker, Schriftsteller und Politiker, Ivan Kukuljevic´ Sakcinski (1816 – 1899), der sich durch seinen Kampf um die Sprache des Volkes auszeichnete. Als aktiver Anhänger der jugoslawisch-illyrischen Bewegung gab Sakcinski unter anderem auch das Archiv für die jugoslawische Geschichte (Arkiv za povijesnicu jugoslavensku) und das mehrbändige Lexikon der jugoslawischen Künstler (Slovnik umjetnikah jugoslavenskih)9 heraus. In diesem Lexikon findet sich eine Aufstellung der südslawischen Maler, Architekten, Bildhauer, Komponisten, Holzbildhauer und Goldschmiede. Die allslawische Bedeutung und den jugoslawischen Charakter seines Werkes hat Kukuljevic´ Sakcinski im Vorwort erörtert, in dem er feststellt, dass alle europäischen Völker ihre Kunstgeschichten und Kunstlexika haben und dass „nur die Slawen als das größte Volk Europas noch keine solchen Werke in ihrer Literatur vorweisen können.“10 Laut ihm weise Dalmatien den größten kulturellen Reichtum auf als „jener wertvolle Stein des kroatischen und allgemein jugoslawischen geistigen Lebens“, aber auch „andere jugoslawischen Länder seien nicht gerade arm an Künstlern des vergangenen und des jetzigen Jahrhunderts. Das jetzige Kroatien, Serbien, Slawonien, Istrien, Bosnien, Krain, Kärnten, Niedersteiermark, Görz und uns noch so unbekanntes Bulgarien können stolz auf ihre Künstler unterschiedlicher Ausrichtung sein.“11 Im Slovnik führt Kukuljevic´ konsequent alle bekannten Künstlernamen und Personen aus allen südslawischen Gegenden auf, wie Tripo Kokolja, Anastas Jovanovic´, Dimitrije Avramovic´e, Juraj Julije Klovic´ (Giorgio Giulio ClovioCroata), die sich für die Entwicklung der visuellen Kultur verdient gemacht haben. Er präsentiert das gesamte bis dahin gesammelte Wissen über das künstlerische Erbe der einzelnen Völker12 und führt uns zum ersten Mal an einem Ort vereinte Künstler und die kulturelle Vergangenheit der jugoslawi8 Makuljevic´ 2006, S. 23, 162, 193. 9 Ivana Mance hebt in ihren Interpretationen des Werks von Kukuljevic´ Sakcinski insbesondere den „nationalen“ Charakter und vorwiegend seine Verdienste für die kroatische Kultur hervor: Mance, Ivana: ,Kukuljevic´ev Slovnik umjetnikah jugoslavenskih: povijest umjetnosti kao bibliografski univerzum‘, in: RADOVI INSTITUTA ZA POVIJEST UMJETNOSTI 2008/32, S. 1 – 12; Mance 2012, S. 21 – 40, 107. 10 Vgl. Vorwort in: Kukuljevic´ Sakcinski, Ivan: Rjecˇnik umjetnikah jugoslavenskih, Zagreb, Bd. 1 u. 2 1858, s.p. 11 Ebd. 12 Dejan Medakovic´ schätzt den jugoslawischen Charakter im Wirken Kukuljevic´ Sakcinski positiv ein: Medakovic´ 1985, S. 33 – 34.

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schen Völker vor. Bei der Arbeit am Slovnik hat sich Kukuljevic´ verschiedener Schriftquellen und der Literatur bedient – einschließlich aktueller serbischer Kulturzeitschriften. Auch daran zeigt sich, wie systematisch und zielstrebig Kukuljevic´s Arbeit an dieser ersten südslawischen Künstlerübersicht war. Sehr detailiert rekonstruierte er Biografien einzelner Künstler – wie z. B. die von Dimitrij Avramovic´s – und stellte ihr Werk dar. Er fasste alle bis dahin vorhandenen Informationen über ihn zusammen, so dass diese Biografie bis heute einen wichtigen Beitrag zum Verständnis seines Œvres repräsentiert.13 Eines der Markenzeichen von Slovnik waren die darin enthaltenen Illustrationen der Künstlerporträts. Einige von diesen Illustrationen wurden vom „Bulgaren Anastas Jovanovic´“14 angefertigt, einem serbischen Fotografen und Litografen bulgarischer Abstammung, welcher seinerzeit im Gebiet zwischen Wien und Belgrad15 tätig war. Jovanovic´ muss auch in den kroatischen Kulturund Politikkreisen bekannt gewesen sein, denn zur Zeit der 1848er Revolution hat er unter anderem die führende Persönlichkeit der kroatischen nationalen Bewegung, den Banus Jelacˇic´, porträtiert.16 Dank des Engagements von Anastas Jovanovic´ ist es Kukuljevic´ gelungen, den jugoslawischen Charakter seines Werks zu unterstreichen und zu verstärken. Das Lexikon des Ivan Kukuljevic´ Sakcinski ist von großer Bedeutung für die Formierung der kollektiven jugoslawischen künstlerischen Identität. In diesem Buch wurden zum ersten Mal diverse jugoslawische Künstler zusammengefasst und vereint der Öffentlichkeit präsentiert. In alphabetischer Ordnung präsentiert Kukuljevic´ alle bisher bekannten südslawischen Künstler vom Mittelater bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In seiner Auswahl richtet er sich vorwiegend nach der südslawischen Herkunft der Künstler. Auf diese Weise wurde eine gemeinsame künstlerische Vergangenheit konstruiert. Da ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die nationalen künstlerischen Historiografien im Dienste der Formierung der Nationen17 standen, konnte auch Slovnik umjetnikah jugoslavenskih auf jeden Fall als Basis für die Formierung der jugoslawischen künstlerischen Identität dienen. Durch die Imagination einer gemeinsamen Vergangenheit wurde auch eine gemeinsame Zukunft kreiert. Die Arbeit am Lexikon führte somit zur Entstehung der ersten südslawischen Kunstgeschichte. Eine wichtige Rolle bei der Formierung von nationalen kulturellen Gemeinschaften und damit auch der gemeinsamen jugoslawischen Kultur spielte das

13 Kukuljevic´ 1858, S. 13 – 15. 14 Vgl. Kukuljevic´ 1858, s.p. 15 Vasic´, Pavle: Zˇivot i delo Anastasa Jovanovic´a prvog srpskog litografa. Beograd 1962, S. 1 – 159. 16 Vasic´, Pavle: Anastas Jovanovic´ (1817 – 1899), katalog radova. Novi Sad 1964, S. 41, 93. 17 Locher 2001, S. 195 – 202.

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Gründen von kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen.18 Zu den wichtigsten Institutionen zählten die kulturliterarischen Gesellschaften, die man Matica (Mutterfond) nannte. Als erste wurde die Matica srpska im Jahr 182619 gegründet, danach folgten Matica slovenska, Matica ilirska (später zu Matica hrvatska umbenannt), Matica cˇesˇka, Matica slovacˇka und Matica slovenacˇka. Sie pflegten untereinander eine sehr enge Zusammenarbeit und somit waren bei ihnen neben der Arbeit an den nationalen Fragen auch das brüderliche Gefühl der slawischen und insbesondere südslawischen Solidarität und der Verbundenheit stark ausgeprägt.20 Matica-Gründungen entstanden auf dem Gebiet der Habsburger Monarchie als kulturelle und nationale Institutionen der Slawen, deren Nähe durch den Widerstand gegen den deutschen und ungarischen Nationalismus gestärkt wurde. Die gemeinsame Arbeit der Matica-Institutionen bestand aus ständiger Kontaktpflege, Übersetzung der wichtigsten Werke der slawischen Literaturen, Bücher- und Zeitschriftenaustausch sowie internationaler Bekanntmachung bedeutender nationaler Kulturtätiger. Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Institutionalisierung der jugoslawischen kulturellen Beziehungen leisteten auch die Forschungseinrichtungen – die Akademien. In Zagreb wurde auf Initiative des jugoslawisch orientierten Bischofs Josip Juraj Strossmayer die Jugoslawische Akademie der Wissenschaften und der Künste gegründet.21 In Belgrad existierte seit 1841 eine wissenschaftliche Gesellschaft, die Gesellschaft der serbischen Gelehrsamkeit (Drusˇtvo srpske slovesnosti, später Serbische Gelehrtengesellschaft [Srpsko ucˇeno drusˇtvo]), aus welcher 1886 die Serbische königliche Akademie (Srpska kraljevska akademija) hervorging.22 Beide Akademien arbeiteten eng zusammen – die Durchführung verschiedener Programme bestätigte diese enge Bindung und Zusammenarbeit. In der Galerie der Jugoslawischen Akademie in Zagreb waren jugoslawische Künstler versammelt. Eines der Prinzipien der Zusammenarbeit untereinander war das Aufnehmen der Künstler aus anderen jugoslawischen Gegenden in eine der nationalen Akademien. So demonstrierte etwa die Serbische Gelehrtengesellschaft ihren slawischen und jugoslawischen Charakter, indem sie tschechische, polnische, russische und kroatische Künstler wie etwa Mihail Mikesˇin, Jan ˇ erm‚k, Vasilije Veresˇcˇagina, Nikola Masˇic´, Vlaho Bukovac Matejko, Jaroslav C und Ivan Rendic´ als ihre Mitglieder aufnahm.23 Ekmecˇic´ 1989, Bd. 1, S. 381 – 419. Milisavac, Zˇivan: Istorija Matice srpske, T. I 1826 – 1864, Novi Sad 1986, S. 130 – 133. Milisavac, Zˇivan: Istorija Matice srpske, T. II 1864 – 1880, Novi Sad 1992, S. 294 – 317. Zu Strossmayer vgl.: Tomljanovich, William B.: Biskup Josip Juraj Strossmayer i politicˇki katolicizam u Hrvatskoj. Zagreb 2001. 22 Belic´, Aleksandar : Pedestogodisˇnjica Srpske kraljevske akademije: 1886 – 1936. Bd. 1, Beograd 1939, S. 1 – 412. 23 Mezˇinski Milovanovic´, Jelena: ,Nastajanje umetnicˇke zbirke SANU‘, in: Akademici – likovni

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Mitte des 19. Jahrhunderts werden zur Zeit der Stärkung des Gemeinschaftsgefühls und der Gemeinschaftsideologie Kunstwerke geschaffen, deren Entstehung und Funktion in Verbindung mit dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer südslawischen Gemeinschaft stehen. Im Laufe des Jahres 1848 kommt es zur Vernetzung unter den Anhängern der serbischen und kroatischen politischen Bewegung.24 Just zu diesem Zeitpunkt fängt Jovanovic´ mit der Arbeit an seinen Lithographien an, welche nicht nur serbische, sondern auch kroatische Soldaten zeigen. So fertigte Jovanovic´ auch ein Bildnis des Anführers der kroatischen Nationalbewegung, des Banus Jelacˇic´, an.25 Ein Beispiel für die Stiftung der gemeinsamen südslawischen Kultur bietet der kroatische Maler Ferdo Quiqerez. Von ihm stammt das Gemälde mit dem Kosovo-Mädchen (Kosovka devojka), einer der bedeutendsten Frauengestalten in der serbisch-epischen Tradition, gewidmet der Schlacht auf dem Amselfeld im Jahre 1389. Sein Werk wurde in Serbien gut aufgenommen, massenweise reproduziert und an Bürger verkauft, die mit dem Motiven der nationalen Geschichte ihre privaten Räume schmückten.26 Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die Aufmerksamkeit der europäischen und südslawischen Öffentlichkeit auf die Befreiungskriege gegen das Osmanische Reich in Montenegro und Herzegowina gelenkt. In der visuellen Kultur entsteht zu jener Zeit das Bild vom heroischen und mythischen Balkan,27 welches seinerseits das Gefühl der Solidarität und der Verbundenheit zwischen den jugoslawischen Völkern begünstigt. Die populärsten Bilder mit den Darstellungen des imaginären Balkans wie etwa die Bilder von Jaroslav ˇ erm‚k und Paja Jovanovic´ oder die bedeutenden serbischen und kroatischen C nationalen Ikonen reproduzierte der Buchhändler Petar Nikolic´ aus Zagreb. Nikolic´s Reproduktionen waren innerhalb des gesamten jugoslawischen Territoriums verbreitet, was gleichzeitig einen Beitrag zur Ausformung der einzelnen nationalen28 und der jugoslawischen Identität leistete. Für das Ende des 19. Jahrhunderts war die Formierung des jugoslawischen Kulturraums, an welcher mehrere Künstler beteiligt waren, kennzeichnend. Ein gutes Beispiel dafür ist der Maler Vlaho Bukovac, welcher auf der europäischen Szene,29 aber auch in Kroatien, Serbien und Montenegro30 wirkte. Bukovac fer-

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umetnici: iz Umetnicˇke zbirke Srpske akademije nauka i umetnosti. Beograd 2011, S. 21 – 147, hier S. 21 – 22. Ekmecˇic´ 1989, Bd. 1, S. 516 – 542. Vasic´ 1962, S. 41, 93. Popovic´-Vacki, Stevan: ,Kosovka devojka‘, in: Srpske ilustrovane novine 19. Novi Sad 1882, S. 105. Baleva, Martina: Bulgarien im Bild. Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in der Kunst des 19. Jahrhunderts. Köln/Weimar/Wien 2012, S. 75 – 193. Makuljevic´ 2006, S. 245 – 248. Zidic´, Igor: Vlaho Bukovac 1855 – 1922. Zagreb 2009, S. 5 – 112.

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tigte repräsentative Herrscher-Porträts und Bilder an, denen die Bedeutung nationaler Ikonen zukam. Manche seiner Werke wie z. B. das Bild Gundulic´ev san (Der Traum Gundulic´s), das die Vison des Dichters Ivan Gundulic´ im Augenblick des Verfassens seines Epos Osman darstellt,31 waren sowohl in der kroatischen als auch in der serbischen Öffentlichkeit populär. Auf diese Weise erlebte man Bukovac als den ,einheimischen‘ Künstler in unterschiedlichen jugoslawischen Gebieten. Dank der Konstruktion einer gemeinsamen künstlerischen Vergangenheit und der Einflussnahme der nationalen Institutionen und des jugoslawischen Kontexts auf das Schaffen der Künstler wie Vlaho Bukovac, wurden Grundlagen für die Entwicklung einer gemeinsamen jugoslawischen kulturellen Identität geschaffen und die Entstehung der Brüderlichkeit unter den jugoslawischen Künstlern ermöglicht.

Jugoslawische Kunstausstellungen Die Entstehung und Verbreitung der jugoslawischen „Brüderlichkeit“ unter den Künstlern wurde dank der Organisation von gemeinsamen Kunstkolonien und Ausstellungen seitens der jugoslawisch orientierten Künstler realisiert.32 Einer der ersten Träger der Idee der Organisation von jugoslawischen Kunstausstellungen war der angesehene Belgrader Professor, Architekt und Erforscher des künstlerischen und archäologischen Erbes, Mihailo Valtrovic´, welcher intensiv am Aufbau einer serbischen nationalen Kultur arbeitete.33 Valtrovic´ erklärte im Jahr 1898 anlässlich der Ausstellungseröffnung von Rista und Beta Vukanovic´ und Simeon Roksandic´ öffentlich, dass eine erhöhte Nachfrage nach Kunst leicht zur Auffindung der Wege führen würde, wie man „zum Zwecke der regelmäßigen Ausstellungen Künstler aus Serbien, Kroatien, den Küstengegenden und Bulgarien in engeren Kontakt und geistige Vereinigung bringen könnte.“34 Valtrovic´s Anmerkung über die Annäherung der jugoslawischen Künstler untereinander ist ein öffentliches Zeugnis über die Bewusstmachung des Bedarfs nach einem gemeinsamen Handeln von Künstlern aus unterschiedlichen Gegenden. Ein paar Jahre später wird diese Idee Valtrovic´s verwirklicht. Das Organisieren von jugoslawischen Kunstausstellungen begann im Laufe des Jahres 1904 zur Zeit des Dynastiewechsels in Belgrad, als Petar Karad¯ord¯evic´ den Thron 30 31 32 33 34

Bukovac, Vlaho: Moj zˇivot. Beograd 1925, S. 113 – 175. Zidic´ 2009, S. 44 – 45; Bukovac 1925, 162. Tosˇic´ 1983, S. 11 – 230. Makuljevic´ 2006, S. 18; 187 – 189; 194 – 198. Valtrovic´, Mihailo: ,Recˇ kojom je prof. Mihailo Valtrovic´ otvorio umetnicˇku izlozˇbu 20. sept. 1898. u Beogradu‘, in: ISKRA 1898/19, S. 292 – 295, hier S. 292.

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Serbiens bestieg. Zu dieser Zeit wurde der Grundstein für eine neue Kulturpolitik mit starkem jugoslawischen Charakter gelegt und Serbien als Piemont der südslawischen Länder angesehen. Die erste Jugoslawische Kunstausstellung hat die (studentische) Belgrader Hochschuljugend organisiert, welche vom Professor für Archäologie Miloje Vasic´35 vertreten wurde. Zur Zeit der Vorbereitung der Ausstellung waren alle der festen Überzeugung, dass alle Südslawen eine Einheit bilden, was dazu führte, dass man auch Künstler aus Bulgarien zur Ausstellung einlud. Für die Ausstellungsbelange wurden Komitees in Belgrad, Zagreb, Ljubljana und Sofia gegründet. Für die Selektion der Kunstwerke waren hauptsächlich jugoslawisch orientierte Künstler als Mitglieder der Nationalkomitees zuständig. Am 5. September 1904 wurde in Belgrad die erste jugoslawische Ausstellung eröffnet. König Petar Karad¯ord¯evic´ selbst eröffnete sie, seine Krönung erfolgte zwei Tage später. Die Ausstellung wurde während der Dauer des jugoslawischen Jugendkongresses eröffnet. Auf diese Weise erhielt die Jugoslawische Kunstausstellung einen betont politischen Charakter. An der Ausstellung nahmen ungefähr hundert Maler, Bildhauer und Architekten mit über fünfhundert Exponaten teil, die in nationale Abteilungen36 zusammengefasst wurden. Der Erfolg der Ausstellung deutete eine hohe Akzeptanz der jugoslawischen Idee unter den Künstlern und die Entstehung der jugoslawischen künstlerischen Brüderlichkeit an. Der politische und gesellschaftliche Stellenwert dieser Ausstellung wurde auch von der Presse betont. Auch Miloje Vasic´ hob ihre Bedeutung hervor: Die Ausstellung konnte zum ersten Mal einen echten Erfolg auf dem Gebiet der Arbeit an der kulturellen Vereinigung der Jugoslawen verzeichnen. Bis zu dem Zeitpunkt wurde nur theoretisch daran gearbeitet. […] Allein die Kunstausstellung konnte einen Erfolg auf diesem Feld verzeichnen. Monumentale Kunst ist ein Feld, auf welchem sich die jugoslawische Gemeinschaft nicht am besten, aber doch am einfachsten manifestieren kann […], denn […] es gibt keine Sprach- oder Stammes-Barrieren, die durch den Charakter ihrer Ausdrucksmittel für die einzelnen Ideen bedingt sind, wie es etwa mit dem literarischen Feld der Fall ist […]. Im Gegenteil, eine Statue oder ein Bild, ein Genrebild, ein Porträt oder eine Landschaftsmalerei, und darüber hinaus auch ein Historienbild egal von welchem jugoslawischen Künstler wird für jeden jugoslawischen Bruder verständlich sein.37

Später fährt er fort: „Die Ausstellungen und über sie auch ihre Künstler haben die Aufgabe, als Träger dieser großen Idee in den Kampf gegen die Stammeszerrissenheit einzutreten und mit ihren Werken zu bewirken, dass man ihnen zwar ihre Stammeskennzeichen ansieht, aber dass sie sich dennoch durch ihren 35 Tosˇic´ 1983, S. 38 – 41. 36 Ebd., S. 42 – 60. 37 Vasic´, Miloje: ,Jugoslovenska umetnicˇka izlozˇba‘, in: SRPSKI KNJIZˇEVNI GLASNIK 1904/ XIII-2, S. 113 – 116, hier S. 113.

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jugoslawischen Charakter auszeichnen.“38 Der Text von Miloje Vasic´ weist starke programmatische Züge auf. Vasic´ zeigt die Bedeutung der Ausstellungen auf, aber er überträgt den Künstlern auch die Aufgabe, die jugoslawische Kunst zu erschaffen. Eines unter zahlreichen anderen Ergebnissen der ersten jugoslawischen Kunstausstellung war die Herstellung der engeren Zusammenarbeit und das Selbstorganisieren der südslawischen Künstler. In der Besprechung der Ausstellung hat die serbische Malerin Nadezˇda Petrovic´ mit klaren Worten die Vision der künftigen jugoslawischen Kunst erklärt: Die vereinten Jugoslawen werden für sich ihre eigenen Dauerausstellungen konzipieren, für welche sich nur Jugo-Slawen werden bewerben können, sie werden ihre eigene Schule und eigene Kunstgeschichte formieren, die in die allgemeine Kunstgeschichte als ein Ganzes einfließen werden, so wie es die italienische, deutsche, französiche usw. mit ihren verschiedenen Schulen tun.“39

Am Ende dieses Textes betont sie, dass „die jugo-slawischen Künstler jetzt an der Reihe sind, die weitere Arbeit fortzusetzen, diese Idee am Leben zu halten und ihre ideale Form zu wahren, in welcher sie sie erhalten haben.“40 Manche Künstler wollten den jugoslawischen Bund formalisieren und eine gemeinsame jugoslawische Künstlerassoziation bilden. Die herausragenden Vertreter der weiteren jugoslawischen künstlerischen Vereinigung waren die Serbin Nadezˇda Petrovic´, der Kroate Ivan Mesˇtrovic´ und der Slowene Rihard Jakopicˇ. Sie haben zur Zeit der Ersten jugoslawischen Kunstausstellung die Gründung einer jugoslawischen Kolonie abgesprochen, um später dann auch bei der Formierung der gemeinsamen Künstlervereinigung dabei zu sein.41 Die jugoslawische Künstlervereinigung trug den Namen Lada nach einer altslawischen Göttin. Auf diese Weise fand man in der gemeinsamen vorchristlichen Tradition eine gemeinsame Basis für die jugoslawische Zusammenarbeit. Die Tätigkeiten der jugoslawischen Künstler waren zahlreich, sie umfassten das Verfassen von programmatischen Texten, die gemeinsame Arbeit in den Kolonien und das gemeinsame Ausstellen. Das Ziel der Kolonie war die Schaffung einer Gemeinschaft unter den jugoslawischen Künstlern. Die erste jugoslawische Kunstkolonie wurde in den Jahren 1905 – 1906 auf dem Gebiet Serbiens, in Sic´evo, organisiert, wo Nadezˇda Petrovic´, Ferdo Vesel u. a. gemeinsam malten.42 In 38 Ebd., S. 116. 39 Petrovic´, Nadezˇda: Prva Jugoslavenska umetnicˇka izlozˇba u Beogradu, Delo Bd. 33. Beograd 1904, S. 20 – 128, hier S. 128. 40 Ebd. 41 Ambrozic´, Katarina: ,Prva jugoslovenska umetnicˇka kolonija‘, in: Zbornik radova Narodnog muzeja 1956/57-I, Beograd 1958, S. 261 – 285; Ambrozic´, Katarina: Nadezˇda Petrovic´ 1873 – 1915. Beograd 1978, S. 145 – 173. 42 Ambrozic´ 1958, S. 261 – 285; Ambrozic´ 1978, S. 165 – 171.

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diesen Kolonien erkannte man eine wichtige Grundlage der jugoslawischen kulturellen Einheit und zugleich die Anfänge der modernen Kunst.43 Nach der Ausstellung in Belgrad fanden bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges weitere drei jugoslawische Kunstausstellungen statt. Die zweite Ausstellung wurde in Sofia organisiert, die dritte in Zagreb und die vierte im Jahr 1912 in Belgrad.44 Das Organisieren von gemeinsamen jugoslawischen Ausstellungen hat in besonderer Weise das Formieren eines gemeinsamen jugoslawischen Kunst- und Kulturaums begünstigt.

Brüderlichkeit und die gemeinsame Mythologie: Jugoslawentum auf der Internationalen Ausstellung Esposizione di Roma 1911 Den Höhepunkt in der Schaffung der jugoslawischen Identität und die öffentliche Manifestation jugoslawischer Brüderlichkeit und Einheit unter den Künstlern stellte die Internationale Ausstellung in Rom im Jahr 1911 dar, die anlässlich des fünfzigjährigen Vereinigungsjubiläums Italiens ausgerichtet wurde.45 Das Königreich Serbien entschloss sich, diese Gelegenheit für die öffentliche Zurschaustellung und Manifestation der staatlichen Kulturpolitik zu nutzen. Die Organisation der Rom-Ausstellung war gänzlich Ivan Mesˇtrovic´ übertragen worden.46 Mesˇtrovic´ trat vor allem als Künstler im Dienste der jugoslawischen nationalen Idee auf.47 Seine Projekte und insbesondere sein monumentaler Vidovdan-Tempel fanden in Serbien großen Anklang.48 Im Vorfeld der Arbeit an der Rom-Ausstellung hat Ivan Mesˇtrovic´ zusammen mit einer Gruppe kroatischer Künstler in Zagreb 1910 die Ausstellung Der nichtheroischen Zeit zum Trotz (Nejunacˇkom vremenu uprkos) organisiert.49 Dabei kam der projugoslawische Charakter dieser Künstlergruppe deutlich zum Ausdruck, was auf unterschiedliche politische Reaktionen stieß. Im Zuge der Ausstellungsvorbereitung in Rom 1911 wurde Mesˇtrovic´ öffentlich aufgefordert, sich festzulegen, ob er sich der serbischen oder kroatischen Kunst zugehörig fühle. Er hob dem entgegensetzend seine jugoslawische 43 Ambrozic´ 1958, S. 261 – 285. 44 Tosˇic´ 1983, S. 61 – 121. 45 Ambrozic´, Katarina: ,Paviljon Srbije na med¯unarodnoj izlozˇbi u Rimu 1911. godine‘, in: Zbornik radova Narodnog muzeja III, Beograd 1967, S. 237 – 265. 46 Kecˇkemet, Dusˇko: Zˇivot Ivana Mesˇtrovic´a (1883 – 1962 – 2002), Bd. 1, Zagreb 2009, S. 220 – 240. 47 Ebd. 48 Ignjatovic´, Aleksandar : Jugoslovenstvo u arhitekturi 1904 – 1941. Beograd 2007, S. 43 – 60. 49 Kecˇkemet 2009, S. 205 – 215.

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Gesinnung hervor und auch das Bedürfnis nach einem gemeinsamen künstlerischen Handeln: Ein Serbe und ein Kroate das sind zwei Namen für ein Volk… Wir Künstler müssen handeln, reden kann jeder, was er will. Ich werde froh sein, wenn sich alle Serben und Kroaten wie ein Volk fühlen; jetzt freut es mich, dass wir, die serbischen und kroatischen Künstler, im Pavillon des Königreichs Serbien diese echte Einheit des Volkes so deutlich zeigen konnten ungeachtet der unterschiedlichen Namen. Wir werden auch weiterhin diesen Weg beschreiten.50

Mesˇtrovic´ erwähnt die Organisation des Pavillons für die Ausstellung in Rom 1911 auch in seinen Memoiren. Er hebt hervor, dass diese Organisation absolut in seinen Händen lag und dass er vom Königreich Serbien unterstützt wurde.51 Auf der internationalen Ausstellung in Rom unterschied sich der Serbische Pavillon von den anderen nach der Herkunft seiner Aussteller, aber auch nach der Botschaft, die er verbreiten wollte. Unter dem Dach des Pavillons stellten nicht nur Künster aus Serbien, sondern auch aus Österreich-Ungarn aus, so dass es dort keine staatliche, sondern eine nationale jugoslawische Homogenität gab. Es war deutlich, dass das Königreich Serbien sich als Träger der südslawischen Ideologie darstellte, welche auch von den kroatischen Künstlern angenommen wurde. Auf diese Weise wurde die politische Gesinnung der Aussteller öffentlich zur Schau gestellt. Der visuelle Charakter des Pavillons des Königreichs Serbien betonte deutlich die gemeinsame Ideologie der serbischen und kroatischen Künstler. Der Architekt des Pavillons war ein Professor der Belgrader Universität, Petar Bajalovic´,52 aber die symbolische Dekoration und Organisation des zentralen Raums hat Ivan Mesˇtrovic´ übernommen. Der Pavillon sah wie ein assyrischer Tempel aus, was sicherlich der Poetik Ivan Mesˇtrovic´s und seiner archäologischen Rekonstruktion und Imagination der jugoslawischen Vergangenheit entsprungen war (Abb. 1).53 Mesˇtrovic´s Ideologie dominierte den Pavillon. Obwohl auch mehrere serbische Maler vetreten waren, waren ihre Werke nicht so exponiert. Serbische Künstler stellten Werke aus, welche nicht durch ihre politische Komponente dominiert wurden. Mesˇtrovic´ hat auf der anderen Seite zusammen mit einer Gruppe kroatischer Künstler, zu welchen Mirko Racˇki, Ljubo Babic´, Tomislav Krizaman und Toma Rosandic´ gehörten, den zentralen Teil des Pavillons organisiert.54 Diesen Teil des Pavillons prägte eine gemeinsame Thematik: Die zahlreichen 50 51 52 53 54

Ambrozic´ 1967, S. 243. Mesˇtrovic´, Ivan: Uspomene na politicˇke ljude i dogad¯aje. Zagreb 1969, S. 16 – 18. Ignjatovic´ 2007, S. 67 – 72. Ebd., S. 43 – 72. Ambrozic´ 1967, S. 254 – 255.

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Abb. 1: Der serbische Pavillon auf der Internationalen Ausstellung in Rom, 1911.

Arbeiten, die sich der epischen Volkspoesie widmeten. Besonders auffällig waren der Zyklus über den mythischen Helden, Marko Kraljevic´, und der Kosovo-Zyklus, der sich den Geschehnissen um die Kosovo-Schlacht aus dem Jahr 1389 widmete. Die Festlegung auf diesen Themenbereich war der Manifestation einer gemeinsamen jugoslawischen Mythologie geschuldet, welche als Basis für eine gemeinsame Identität diente. Das kam dadurch zustande, dass südslawische Völker größtenteils durch verschiedene Religionen, aber auch das Leben in unterschiedlichen Staaten getrennt waren. Als das Fundament der gemeinsamen Kultur wurden so die Sprache und die mündlich überlieferte Volksliteratur genommen. Die Popularität der Dichtung über Marko Kraljevic´ und den KosovoZyklus prägten den gesamten südslawischen Raum, so dass sie entsprechend als Grundstein der zukünftigen Identität genommen wurden. Darüber spricht auch Ivan Mesˇtrovic´ und erklärt, dass er in epischer Tradition aufgewachsen ist und bereits als Jugendlicher zahlreiche epische Volkslieder auswendig gelernt hat.55 Die Popularisierung des Kosovo-Zyklus gründete vorwiegend auf einer gemeinsamen südslawischen Mythologie des Kampfes gegen die Osmanen. Zugleich symbolisierte sie auch die Militarisierung der jugoslawischen Gesellschaft und deren Breitschaft, durch den gemeinsamen Kampf die Vereinigung und Freiheit zu erringen (Abb. 2). Von der Ideologie und Bedeutung des Pavillons des Königreichs Serbien auf der Internationalen Ausstellung in Rom zeugt auch seine Rezeption, die sich durch Heterogentität auszeichnet. Die italienische Presse schrieb positiv über Mesˇtrovic´, weil man in den südslawischen Bestrebungen für die Einigung Ähnlichkeiten zur italienischen Einigung entdeckte.56 Aber es gab auch negative 55 Kecˇkemet 2009, S. 37. 56 Ambrozic´ 1967, S. 255 – 257.

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Abb. 2: Umschlagseite des Ausstellungskatalogs Esposizione di Roma. Padiglione del regno di Serbia, 1911.

Meinungen in der deutschen Kritik. Hans Barth veröffenlichte in der Zeitschrift Die Kunst für Alle einen negativen Bericht über Mesˇtrovic´s Arbeit.57 Barth schrieb, dass der Pavillon seitens Mesˇtrovic´ eingerichtet wurde, kritisierte aber sowohl seine Skulpturen als auch die ganze Idee des Pavillons scharf. In der Kritik war sogar eine diffamierende Tendenz der gesamten Idee des Pavillons zu erkennen: Und diese Männer! Jeder eine fast obszöne Herkuleskarikatur! Jener Attilaähnliche Heerfürst, der wie eine Tigerkatze auf einem Monstregaule hockt, der mehr als ein Stockwerk hoch ist! Ein unglaubliches Können, eine künstlerische Urkraft, deren Schöpfungen nicht für ein kulturgezähmtes europäisches Publikum des zwanzigsten Jahhunderts, sondern für Tiermenschen der Vorwelt bestimmt scheinen…58

Vermutlich als Gegenreaktion auf diese Berichterstattung wurde in der gleichen Zeitschrift eine affirmative Darstellung des Serbischen Pavillons aus der Feder Dimitrije Mitrinovic´s veröffentlicht.59 Dimitrije Mitrinovic´ war Schriftsteller, Kunst- und Literaturkritiker, der Kunstgeschichte in München studiert und dort 57 Barth, Hans: ,Die Römische Kunstausstellung‘, in: DIE KUNST FÜR ALLE 22, 15. 08. 1911, S. 526 – 528, hier S. 527. 58 Ebd. 59 Mitrinovic´ 1911, S. 53 – 62.

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die Vorlesung mit der Ausstellung Wassily Kandinskys im großen Saal des Deutschen Museums 1914 organisiert hatte.60 Mitrinovic´ hatte serbische Vorfahren und stammte aus Bosnien und Herzegowina. Er hat sich vollkommen in den Dienst der Propaganda für die jugoslawische Idee und für das Königreich Serbien gestellt.61 Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sich der Text in Die Kunst für Alle durch einen ideologischen Schreibgestus auszeichnet, der eine Zuordnung zur unabhängigen Kritik verbietet. Dimitrije Mitrinovic´ hat in seiner Besprechung deutlich die politische Bedeutung der Ausstellung hervorgehoben als ein Symbol der Einheit des noch nicht befreiten südslawischen Volkes: Freilich die offizielle Bezeichnung ,Pavillon des Königreichs Serbien‘ ist irreführend. Die große Masse des serbischen Volkes lebt heute außerhalb Serbiens Grenzen, in Südungarn, Kroatien, Bosnien, Herzegowina, Dalmatien, Montenegro und Mazedonien. Sie alle aber, jene aus Österreich-Ungarn wie die aus Montenegro und der Türkei, haben in dem Pavillon Serbiens ausgestellt, denn sie wollten so, obwohl bescheiden an Zahl und Kraft, ihre nationale Einheit betonen.62

Mitrinovic´ betont die Bedeutung der Person Mesˇtrovic´s, der wie ein Volkspoet zu Aufstand und Versammlung aufgerufen hat: Und wie die Lieder der Guslari dem Volke jahrhundertelang die Widerstandskraft stählten, so hat Ivan Mesˇtrovic´s erweckender Ruf die serbo-kroatische nationale Kulturkraft auf dem Gebiete der Kunst gesammelt; das Volk, das freie wie das unfreie, hat ihn verstanden; es hat aus seinem Rufe dies vernommen: daß man an die Zukunft glauben muß, wenn man sie schaffen will, daß die in zwei Kulturen (die serbischbyzantinische und kroatisch-westliche), in drei Konfessionen (die orthodoxe, die katholische und moslemitische), in vier Staaten und sieben Parlamente gespaltene Nation sich erst geistig, kulturell einigen müsse, wenn sie auf eine staatliche Einigung Anspruch mache wolle; daß man dem kulturellen Europa eigenen Kulturwert beweisen müsse, wenn man das Recht der freien und nationalen Entfaltung erlangen wolle. Diesem Rufe sind sie alle gefolgt, die Kroaten Racˇki, Krizman, Babic´, Becic´, Borelli, die Bosnier Sˇvrakic´ und Drljacˇa, die Dalmatiner Rosandic´, Marinkovic´, Kljakovic´, Lalic´, Katunaric´, Dincˇic´, Penic´, Bodrozic´, wie die Nichtösterreicher Bajalovic´, Arambasˇic´, Glisˇic´ und der Montenegriner Pocˇek; sie alle haben sich in dem serbischen Pavillon zusammengetan, um ihre nationale Einheit zu manifestieren.63

Mitrinovic´s Text in Die Kunst für Alle ist illustriert mit Skulpturen und Bildern, die für das Bild der nationalen Mythologie standen. Auf diese Weise enthält 60 Behr, Shulamith: ,Wassily Kandinsky and Dimitrije Mitrinovic: Pan-Christian Universalism and the Yearbook ,Towards the Mankind of the Future through Aryan Europe‘, in: OXFORD ART JOURNAL 1992/15 – 1, S. 81 – 88. 61 Palavestra, Predrag: Dogma i utopija Dimitrija Mitrinovic´a. Beograd 1977, S. 24 – 39, 53 – 94. 62 Mitrinovic´ 1911, S. 54 63 Ebd., S. 58.

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Mitrinovic´s Text mehrere Bedeutungsebenen: Er agitierte nicht nur für den Künstler und das Königreich Serbien, sondern auch für die jugoslawische künstlerische Brüderlichkeit. Der Pavillon des Königreichs Serbien in Rom 1911 war der Höhepunkt der Manifestation der jugoslawisch-künstlerischen Einheit vor der Gründung Jugoslawiens. In ihm wurden visuell die Fundamente der jugoslawischen Identität dargestellt und die Einheit der jugoslawischen Künstler manifestiert. Das Königreich Serbien präsentierte sich als Zentrum der jugoslawischen staatsgründenden Ideologie, das im Stande ist, die wichtigsten Künsler im südslawischen Raum zu versammeln. Dies bezog sich insbesondere auf die Zusammenarbeit mit Mesˇtrovic´, der der bekannteste südslawische Künstler innerhalb der europäischen Künstler-Szene war. Zugleich hat das Ausstellungsprogramm die internationale Öffentlichkeit mit den Errungenschaften der jugoslawischen Kunst bekannt gemacht. Seit der Schaffung einer gemeinsamen jugoslawischen künstlerischen Vergangenheit im Werk des Ivan Kukuljevic´ Sakcinski bis zur öffentlichen Manifestation der künsterlischen Gemeinschaft in Rom 1911 wurde die jugoslawische künstlerische Einheit allmählich aufgebaut. Vor allem dank des Wirkens der Künster wurde so Jugoslawien noch vor Jugoslawien geschaffen und ein Gefühl der künstlerischen Brüderlichkeit erweckt. Am Beginn des Ersten Weltkriges setzte Ivan Mesˇtrovic´ seine projugoslawische Tätigkeit fort. Sein Einsatz stand nicht mehr nur im Dienst der südslawischen Ideologie, sondern wurde zur Kriegspropaganda im Namen des Königreichs Serbien. Mit seiner Ausstellung im Victoria & Albert Museum in London im Jahre 1915, unter Obhut des Königreichs Serbien, avancierte der serbische Krieg zugleich zum Kampf für die jugoslawische Einigung.64

Übersetzt von Slavica Stevanovic´

Abbildungen Abb. 1: Der serbische Pavillon auf der Internationalen Ausstellung in Rom, 1911. In: Ignjatovic´, Aleksandar : Jugoslovenstvo u arhitekturi 1904 – 1941. Beograd 2007, S. 68. Abb. 2: Umschlagseite des Ausstellungskatalogs Esposizione die Roma. Padiglione del regno di Serbia, Roma 1911.

64 Schmeckebier, Laurence: Ivan Mesˇtrovic´, sculptor and patriot. Syracuse 1959, S. 27 – 28.

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Nenad Makuljevic´

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Tanja Zimmermann (Konstanz)

Ausstellungswesen und transnationales nation building im Ersten und Zweiten Jugoslawien

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückten Kunst und Nation auf nationalen und internationalen Ausstellungen immer enger zusammen. Die Weltausstellungen, begonnen mit The Great Exhibition of Industry of All Nations in Joseph Paxtons Kristallpalast in London 1851, dienten einer kompetitiven Präsentation des Fortschritts und Wohlstands der führenden Nationen sowie deren zivilisatorischer Mission im Zeitalter der imperialistischen Aufteilung der Welt.1 Während ursprünglich alle Nationen unter einem Dach untergebracht wurden, bürgerte sich gegen Ende des Jahrhunderts die neue Ausstellungspraktik der nationalen Pavillons ein, die in historistischen Stilen der glorreichen vaterländischen Epochen erbaut wurden.2 So wurden auch der serbische, rumänische und griechische Pavillon auf der Weltausstellung in Paris 1900 im Stil der byzantinischen Kuppelkirchen errichtet, der bosnische Pavillon auf dem Gelände der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, auf dem keinem einheitlichen Bebauungsplan gefolgt wurde, im Stil der orientalischen bosnischen Häuser- und Kastellarchitektur. 1895 wurde die internationale Kunstausstellung Biennale in Venedig gegründet, für die seit 1907 nationale Pavillons errichtet wurden, welche wie Botschaften einen exterritorialen Status besaßen: 1907 der belgische, 1909 der britische, der ungarische und der bayerische, später in den deutschen umbenannt, 1914 der russische und in den 1920er und 1930er Jahren die meisten anderen Pavillons (1926 der tschechoslowakische, 1938 der jugoslawische).3 Ging es im Jahre 1907 vor allem darum, den Künstlern kleiner Nationen, wie der belgischen, Platz einzuräumen, dienten die späteren Bauten immer mehr der 1 Zu Weltausstellungen: Kretschmer, Winfried: Geschichte der Weltausstellungen. Frankfurt/ M./New York 1999. 2 Meier-Graefe, Julius (Hg.): Die Weltausstellung in Paris 1900. Paris 1900, S. 1 f. 3 Zur Biennale in Venedig: Fleck, Robert: Die Biennale von Venedig. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts. Hamburg 2009, S. 42 – 63; May, Jan A.: La Biennale di Venezia. Kontinuität und Wandel in der venezianischen Ausstellungspolitik 1895 – 1948 (=Schriftenreihe des deutschen Studienzentrums in Venedig). Berlin 2009, S. 74 – 82.

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nationalen Selbstdarstellung, die auch durch den Bau- und Dekorationsstil des jeweiligen Pavillons vermittelt wurde. Dabei griffen jüngere Nationen, wie die Belgier, die modernen zeitgenössischen Architekturelemente auf, andere dagegen, die auf ihre lange Tradition stolz waren, wie beispielsweise die Ungarn, bevorzugten historistische Stile. Die südslawischen Künstler durften schon im Jahre 1907, lange bevor sie einen Staat gründen konnten, ihre Werke gemeinsam im zentralen Gebäude der Biennale vorstellen.4 Man folgte dabei dem Prinzip der ethnischen Zugehörigkeit zu Volksgruppen und gruppierte die Kunstwerke nicht gemäß der Staatszugehörigkeit der Künstler etwa zu Österreich-Ungarn, Serbien oder Montenegro. Wie Robert Fleck unterstreicht, widersprach diese Entscheidung der diplomatischen Gepflogenheit und gab der künstlerischen Freiheit Vorrang.5 Durch die gemeinsame Präsentation der südslawischen Künstler wurde die Idee einer südslawischen Föderation lange vor der Realisierung eines multinationalen südslawischen Staates vorweggenommen. Diese Geste des Respekts von Seiten Italiens gegenüber den zwischen mehreren Staatsgebieten aufgeteilten Völkern hatte jedoch auch einen politischen Hintergrund – nämlich die irredentistische Bestrebung nach der Vereinigung mit den ,unerlösten‘ Gebieten im Trentino sowie in Triest. Im Gegensatz zu Museen als dauerhafte und unveränderbare Erinnerungsund Repräsentationsstätten der Nation6, dienten Wechselausstellungen nicht nur der nationalen Selbstdarstellung. Sie vollzogen vielmehr in visueller Form außenpolitische Handlungen, indem sie eine konkrete politische Entscheidung, wie die Gründung eines neuen National- oder Vielvölkerstaates, vorwegnahmen oder begleiteten. Anders als formale außenpolitische Maßnahmen ermöglichten Kunstausstellungen durch die Missachtung der herkömmlichen skopischen Ordnungen einen subversiven Umgang mit transkulturellen Hierarchien. Derartige visuelle Handlungen gingen über die Bildpropaganda der Historienmalerei und der Kriegsdarstellungen hinaus, weil sie durch Inszenierung und Konzeptualisierung, oft in Form eines Gesamtkunstwerks, den neuen Staat in bildlicher Form ,gründeten‘. Die Nation wurde zu einer ästhetischen Größe, die eine Physiognomie, einen Körper sowie einen Ort erhielt und sich durch ein mythisch-historisches Narrativ als geschichtliches Subjekt konstituierte. Ihre Vergegenwärtigung war somit ein Akt der „Lebenskunst“ oder des „Lebensbauens“,7 der Überführung von Kunst ins politische Leben. 4 Fleck 2009, S. 59. 5 Ebd. 6 Knell, Simon J.: ,National Museum and the National imagination‘, in: Knell, Simon J. / Aronsson, Peter / Bugge Amundsen, Arne (Hg.): National Museums. New Studies from around the World. Routledge 2010, S. 3 – 28. 7 Zum Begriff der „Lebenskunst“ vgl.: Günther, Hans: ,Zˇiznestroenie‘, in: RUSSIAN LITERA-

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Die visuellen Strategien der neuen multinationalen slawischen Staaten, wie die des „Jugoslawismus“ im 1918 gegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen,8 unterschieden sich wesentlich von den imperialen österreichungarischen, die eine enzyklopädische Bestandaufnahme von ethnisch unverbundenen partes im Dienst der Aufklärung in den Vordergrund rückten. Durch Folklorisierung fremder Ethnien, Enthistorisierung ihrer Geschichte und Feminisierung mittels eines Fokus auf Frauengestalten, wurde das Nationale im Rahmen des Imperialen in den Hintergrund gedrängt, wie die Präsentation Bosniens als neues Land der Doppelmonarchie auf der Weltausstellung in Paris im Jahre 1900 bezeugt. Den bosnischen Pavillon schmückte der tschechische Maler Alfons Mucha aus, der durch seine Werbeplakate mit langhaarigen, halbnackten Schönheiten berühmt geworden war.9 Auch die sonst verschleierten bosnischen Frauen zeigten auf seinen Bildern ihre hübschen, exotischen Gesichter. Die Präsentation der Nation oder Multi-Nation verlangte dagegen nach heldenhaft-männlichen Gründungsmythen der Aufopferung sowie nach kohärenten historischen Narrativen, die Einheit in der Vielheit betonten, auch wenn diese nur imaginiert und historisch nicht überliefert waren. Das mythischhistorische Masternarrativ ermöglichte der Multi-Nation sich als einheitliches geschichtliches Subjekt zu konstituieren.

Die Mesˇtrovic´-Ausstellung im Victoria & Albert Museum in London 1915 Eine völlig neue Dimension in der Verknüpfung von Ausstellungspolitik und nation building nahm die Werkschau des kroatischen Bildhauers Ivan Mesˇtrovic´ TURE 1986/20, S. 41 – 48; Schahadat, Schamma: Das Leben zur Kunst machen. Lebenskunst in Russland vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. München 2004; Dies.(Hg.): Lebenskunst – Kunstleben. Zˇiznetvorcˇestvo v russkoj kulˇture XVIII – XX vv. München 1998. 8 Robinson, Connie: ,Yugoslavism in the Early Twentieth Century. The politics of the Yugoslav Committee‘, in: Djokic´, Dejan / Ker-Lindsay, James (Hg.): New Perspectives on Yugoslavia. Key Issues and Controversies. London/New York 2011, S. 10 – 26; Wachtel, Andrew B.: Making a nation, breaking a nation. Literature and cultural politics in Yugoslavia. Stanford 1998, S. 19 – 127; Petzer, Tatjana: ,Figuren der Einheit. Zur Rhetorik und Realität südslawischer Integration‘, in: Ga˛sior, Agnieszka / Troebst, Stefan (Hg.): Gemeinsam einsam. Die Slawische Idee nach dem Panslawismus. Osteuropa 2009/59 – 12, S. 237 – 249; Rusinow, Dennison: ,The Yugoslav Idea before Yugoslavia‘, in: Djokic´, Dejan (Hg.): Yugoslavism. Histories of a Failed Idea 1918 – 1992. London 2002, S. 11 – 26. 9 Hlavacˇka, Milan / Orlikov‚, Jana / Sˇtemberea, Petr : Alfons Mucha – Parˇ†zˇ 1900. Pavilon Bosny a Hercegoviny na sveˇtov¦ vy´staveˇ. Praha 2002; Oberhammer, Monika : ,„…byla nezkrotn‚ zˇiv‚ touha vykonat neˇco, co by prospeˇlo cel¦mu Slovanstvu“‘, in: Institut für Kunstgeschichte an der Universität Salzburg (Hg.): Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie. Gedenkschrift für Hugo Rokyta (1912 – 1999). Furth/Wald 2002, S. 210 – 221.

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(1883 – 1962) im Sommer 1915 im Victoria & Albert Museum in London an. Diese Aktion hatte der Künstler mit dem einflussreichen Politiker Robert William Seton-Watson, einem schottischen Historiker, der während des Ersten Weltkrieges Berater des Intelligence Bureau des Außenministeriums war, abgestimmt.10 Seton-Watson war ein anerkannter Spezialist für die südslawischen Verhältnisse und Autor des Buches The Southern Slav Question and the Habsburg Monarchy (London 1911).11 Die Korrespondenz des engagierten britischen Historikers mit dem Bildhauer und den südslawischen Politikern deckt zahlreiche Details über die Vorbereitung der Ausstellung sowie über andere begleitende Aktivitäten auf, welche die europäische Öffentlichkeit von der Notwendigkeit der Gründung eines südslawischen Staates überzeugen sollten. So schreibt der kroatische Reeder Bozˇo Banac aus Dubrovnik, der während des Krieges seine Schiffe den Alliierten zur Verfügung stellte, in einem Brief vom 10. Dezember 1914 an Seton-Watson, dass die Vorbereitungen für die Gründung eines Jugoslawischen Komitees (Jugoslovenski odbor) auf Hochtouren liefen.12 Das Komitee solle seine Arbeit, den Einsatz für die Gründung eines südslawischen Staates und die Aufklärung Europas in dieser Angelegenheit am 31. Januar 1915 aufnehmen.13 Seine Begründer seien der kroatische Politiker Dr. Ante Trumbic´, der zugleich Vorsitzender des Komitees sei, der kroatische Zeitungsherausgeber und Politiker Frano Supilo, der serbische Politiker Nikola Stojanovic´ aus Bosnien und der Bildhauer Ivan Mesˇtrovic´. Banac berichtet ebenso über die Planung einer Ausstellung von Mesˇtrovic´s Skulpturen in London und bittet Seton-Watson darum, niemandem davon zu erzählen, da sonst die Gefahr bestehe, dass Österreich den Transport der Werke von Split nach London verhindere. Seton-Watson rät Trumbic´ in einem Brief vom 13. März 1915 dazu, auch den berühmten französischen Bildhauer Auguste Rodin als Ehrenmitglied für das Komitee zu begeistern.14 Rodin war bereits 1902 in eine Prager Ausstellung involviert, auf der seine Werke in die nationalen Aktivitäten der Tschechen eingebunden waren.15 Trumbic´ antwortet bereits am folgenden Tag und teilt ihm 10 Wachtel 1998, S. 63, 64. 11 Seton Watson, Hugh / Seton-Watson, Christopher: ,Introduction‘, in: Seton-Watson, Hugh et al. (Hg.): R.W. Seton-Watson and the Yugoslavs. Correspondence I: 1906 – 1941. London/ Zagreb 1976, S. 11 – 40, hier S. 22, 25 – 33; May, Arthur J.: ,Seton-Watson and the Treaty of London‘, in: THE JOURNAL OF MODERN HISTORY 1957/29 – 1, S. 42 – 47; Ders.: ,R.W. Seton-Watson and British Anti-Habsburg Sentiment‘, in: AMERICAN SLAVIC AND EAST EUROPEAN REVIEW 1961/20 – 1, S. 40 – 51. 12 Zu Mesˇtrovic´s Tätigkeit im Jugoslawischen Komittee: Machiedo Mladinic´, Norka: ,Prilog ˇ ASOPIS ZA SUproucˇavanju djelovanja Ivana Mesˇtrovic´a u Jugoslovenskom odboru‘, in: C VREMENO POVIJEST 2007/39 – 1, S. 133 – 156. 13 Seton-Watson et al. 1976, S. 189. 14 Ebd., S. 198. 15 Giustino, Chathleen M.: ,Rodin in Prague: Modern Art, Cultural Diplomacy, and National Display‘, in: SLAVIC REVIEW 2010/69 – 3, S. 591 – 619.

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mit, dass es Mesˇtrovic´ gelungen sei, Rodin für die südslawische Sache zu gewinnen.16 In einem Brief vom 15. März 1915 an die Frau des serbischen Außenministers, Mabel Grujic´, schreibt Seton-Watson über die Vorbereitung von Vorträgen, Pamphleten und anderen Aktivitäten, welche die Ausstellung und die Feier des St. Veits-Tags begleiten sollten. Er zählt zahlreiche angesehene Persönlichkeiten aus hohen Kreisen der Londoner Gesellschaft auf, die er für ein Vidovdan-Komitee (Kossovo-Day-Committee) gewinnen möchte. I am writing several pamphlets – „The Spirit of the Serb“ – a lecture given at London University since I returned, and now appearing in a volume on „The Spirit of the Allies“. I hope to arrange its appearing separately in pamphlet form, for purpose of propaganda […] Meanwhile we are organizing the Mesˇtrovic´ Exhibition, as a presentation of the Southern Slav idea in stone. The Victoria and Albert Museum is housing it, and we are engaged in forming an honorary committee. I hope it may be composed somewhat as follows: – Grey, Runciman, Samuel, Balfour, Curzon, Crawford, Cardinal Bourne, Bishop of London, Countess Benckendorff, Mrs. Asquith, Lady Whithehead, Rodin, Lavery, Sargent, Brangwyn, Tweed, Ricketts, Gill, Roger Fry, Prof. Mackail and Flinders Petrie, Sir Cecil Smith, Sir A. Evans, T.P., Noel B., Steed, Trevelyan, Christian and myself. When we have a fair selection of these, we shall try to get Queen Alexandra or Princess Louis (as a sculptress). We shall publish an illustrated catalogue and organize weekly „crushes“ during the exhibition, with occasional lectures. Our object is of course to show that the Croats and Serbs have a culture of their own, and that its best representatives regard themselves as a single people with two names.17

Aus dem Brief erfährt man ferner, dass sich auch die Tschechen um Professor Masaryk an der Gründung von ähnlichen Komitees beteiligen würden.18 Im Herbst desselben Jahres, am 15. Oktober 1915, hielt der tschechische Philosoph und spätere Präsident der Tschechoslowakei Tom‚sˇ Garrigue Masaryk in London seine Antrittsvorlesung am King’s College über kleine, staatenlose Völker, in der er den Heroismus und die Bedeutung einer eigenen kulturellen Überlieferung als entscheidende Elemente für die Erhaltung einer Nation hervorhob. Beide Komponenten sah er im serbischen Kosovo-Mythos gegeben, der in den serbischen Volksballaden überliefert worden war und sich sogar bei ungebildeten Bauern als ein wirksames erzieherisches Mittel erwies. Während des letzten Krieges gegen die Türken war ich zufälligerweise in Serbien, und ein serbischer Offizier erzählte mir seine Erfahrungen vom Schlachtfelde. Als er an der Spitze seines Regimentes von Bauernsoldaten die Ebene von Kosovo, das berühmte „Feld der Amseln“, erreicht hatte, befiel das ganze Detachement eine Totenstille. Die Mannschaft und ihre Offiziere entblößten ohne jedes Kommando ihre Häupter, be16 Seton-Watson et al. 1976, S. 198. 17 Ebd., S. 202. 18 Ebd.

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kreuzigten sich, und jeder von ihnen versuchte sanft zu schreiten, um nicht den ewigen Schlaf seiner heroischen Vorfahren zu stören. (Hier ahmte mein Freund, ganz in die Erinnerung an jenes große Ereignis verloren, unbewusst ihren Gang nach, und seine Stimme verfiel in ein Lispeln, als er sich der Stille seiner Soldaten erinnerte.) Viele von den gebräunten Gesichtern wurden von unbewussten Tränen feucht, wie das Gesicht meines Freundes war, als er davon sprach. Auch ich war tief gerührt durch die Wiedergabe seiner Erzählung.19

Mesˇtrovic´s Skulpturen warben nicht nur für einen neuen jugoslawischen multinationalen Staat mit serbischer Vorrangstellung, sondern auch für den gemeinsamen Kampf der Alliierten. Die gezeigten Werke schuf der Künstler nicht erst für diese Ausstellung, sondern schon einige Jahre zuvor. Sie waren bereits 1910 auf einer Ausstellung in Zagreb, 1911 auf der Internationalen Ausstellung in Rom und 1912 in Zagreb und Belgrad gezeigt worden.20 Die Werkschau in London wiederholte das Arrangement, welches in zahlreichen Elementen an einen Tempel erinnerte, wie z. B. durch die Reihe von Karyatiden, an deren Ende der Betrachter vor der Sphinx stehen blieb (Abb. 1), stellte sie jedoch in einen europäischen Kontext.

Abb. 1: Ivan Mesˇtrovic´, Sphinx und Karyatiden, 1910, ausgestellt in Victoria & Albert Museum in London, 1915.

19 Masaryk, Tom‚sˇ G.: Das Problem der kleinen Völker in der europäischen Krisis. Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen mit einer Einleitung von Dr. Jan Reichmann. Praha/Leipzig 1922, S. 35 ff. 20 Clegg, Elisabeth: ,Mesˇtrovic´, England, and the Great War‘, in: THE BURLINGTON MAGAZINE 2002/144, S. 740 – 751; Machiedo Mladinic´, Norka: ,Politicˇko opredeljenje i umjetnicˇki ˇ ASOPIS ZA SUVREMENO POVIJEST 2009/1, S. 143 – 170. rad mladog Mesˇtrovic´a‘, in: C

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Die Skulpturen repräsentierten Figuren aus der serbischen Heldenepik – den Helden der Schlacht auf dem Amselfeld, Milosˇ Obilic´, das Reiterdenkmal des Königssohns Marko, die Reliefs serbischer Krieger (Abb. 2), Verletzte sowie die trauernden Witwen der Gefallenen mit ihren Säuglingen.

Abb. 2: Ivan Mesˇtrovic´, Serbische Krieger im Kampf, Victoria & Albert Museum in London, 1915.

Sie wurden als „Fragmente des Kosovo-Tempels“ betitelt, womit einerseits ruinenhafte Reste aus einer weit entfernten Vergangenheit, die membra disjecta der südslawischen Nation, andererseits die im zeitgenössischen Krieg zerstückelten Leichname der Soldaten evoziert wurden.21 Zudem wurde auch ein Modell des geplanten, jedoch nie realisierten Kosovo-Tempels präsentiert, dessen Bauelemente nicht der orthodoxen, sondern eher einer synkretistischen, assyrisch-babylonischen, griechischen und ägyptischen Bautradition folgten (Abb. 3).

Abb. 3: Ivan Mesˇtrovic´, Modell des Kosovo-Tempels. Seitenansicht, Victoria & Albert Museum in London, 1915.

21 Zu Konjunkturen und Umdeutungen des Kosovo-Mythos: Zimmermann, Tanja: ,Die Schlacht auf dem Amselfeld im Spiegel der internationalen Politik. Permutationen eines panslawistischem Mythos vom 19. bis ins 21. Jahrhundert‘, in: Agnieszka Ga˛sior / Stefan Troebst (Hg.): Post-Panslawismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert? Köln 2014, S. 289 – 305.

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Die Südslawen mit den Serben als Anführer werden somit als ein mythischarchaisches Heroenvolk inszeniert. Mesˇtrovic´ selbst avancierte zu einem gottähnlichen Schöpfer der Südslawen. Der kroatische Dichter Vladimir Nazor stilisiert ihn bereits 1910 im Gedicht „Bildwerk“ („Kip“) als Perun, den altslawischen heidnischen Gott des Donners und des Krieges, der aus Wut und Rache seine kämpferischen Bildwerke gestaltet.22 Meister, aus harten Steinen unserer ansässigen Felsen, Behaue für uns, nach dem Bild des furchteinflößenden Gottes, ein Bildwerk: Zwischen seinen finsteren Augenbrauen stell einen drohenden Wirbel, Und am Endpunkt seines Ärgers auf seinem weiten Brustkorb soll ein Gekeuche murmeln. Seine Kiefer soll wie Davors Löwenrachen werden, Über seine Stirn soll Peruns sturmscher Bug fächeln: Unsere ganze ursprüngliche Kraft, die schon lange in uns schläft, Den ganzen Ärger wegen unserer Hinterlistigkeit, wirst du in diesen Stein einfließen. Ein Stempel des Zorns und des Schmerzens prägt sich ihm in die harte Stirn. Öffne finstere Quellen mitten in diesen leeren Augen: Ähnlich wie Moses, als er mit den Tafeln den Berg hinunterging Und das goldene Kalb erblickte, soll der slawische Gott sein! Fülle seinen Löwenrachen mit Tadel aus. Spanne wie mit einem Seil seine riesigen Muskeln der Rechten an. Kennzeichne seines Ärgers Krampf. Er soll Jesus ähnlich sein, als er die Peitsche nahm und entlang des heiligen Tempels Säulen der Händler Krüge zerschlug. Meister, behaue aus dem harten Stein ein Werk aus Rache. Seine Brust soll da sein, wo der Marmor keucht, stelle ihn in deinen Tempel. Unsere Brüder werden kommen; schauen und ihre Stirn runzeln. Augen werden sie in den Staub niederschlagen. Und groß wird ihre Scham sein.

Diese Vorstellung greift auch James Bone im Ausstellungskatalog auf und preist sein Werk als feurige Kriegskunst („the beauty of flames, which is fire itself“),23 die neben dem Leiden des serbischen auch das des belgischen Volkes repräsentiere. Diese Kunst verkörpere nicht nur die Erinnerung an die Vergangenheit, sondern weise ebenso als Prophezeiung in die Zukunft („a single fury of national memories and aspirations“). An dem Werk seien auch Mesˇtrovic´s Schüler aus Serbien, Kroatien, Montenegro, Bosnien und Dalmatien beteiligt, die jedoch nie namentlich genannt werden und auch in den Dokumenten im Archiv des Victoria & Albert Museums nicht vorkommen. Das Meisterwerk eines Individuums 22 Nazor, Vladmir : ,Kip‘, in: NOVA EVROPA 1933/8, S. 371 f. Für die Übersetzung des Gedichts danke ich Iva Radisavljevic´. 23 Bone, James: ,Mesˇtrovic´ and his Art‘, in: Exhibition of the Works of Ivan Mesˇtrovic´. London 1915, s.p.

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wurde offenbar auf diese Weise zum Denkmal eines südslawischen Kollektivs uminterpretiert – eines solchen, das in Zukunft auch einen südslawischen Staat aufbauen sollte. Seton-Watson leitet Mesˇtrovic´s Inspiration für das „südslawische Pantheon“ und die „Apotheose der jugoslawischen Idee“ von den serbischen Volksliedern über die Hajduken-Räuber und die Uskok-Piraten im Kampf gegen die Fremdherrschaft ab, die nicht nur in Serbien und Montenegro, sondern auch im kargen Dalmatien gesungen würden.24 An der Sammlung der Heldenlieder hätten sich sowohl orthodoxe als auch katholische Geistliche beteiligt und dadurch zur Erhaltung einer gemeinsamen südslawischen Tradition beigetragen. Der schottische Historiker macht den kroatischen Bildhauer zum jugoslawischen Künstler par excellence und erklärt den südslawischen Geist seiner Werke mit den politischen Hintergründen der panslawistischen Einigungsbewegung. In den Skulpturen manifestiere sich die elementare Kraft der Serben, die sich auch im Kampf gegen Österreich bewährt und sie auf die Seite der Alliierten geschlagen habe. Andere Broschüren, die im Umfeld des Komitees entstanden sind, beschwören die Auferstehung der toten Krieger auf dem Amselfeld, deren Geist die kämpfenden serbischen Soldaten anfeuern sollte. So rufen beispielsweise Alice und Claude Askew in ihrer Schrift „Kossovo day heroes whose memory will never fade“, veröffentlicht im Pamphlet The Lay of Kossovo (1916 – 17), die toten Krieger an, aufzuerstehen und mit ihren Geistern die kämpfenden serbischen Soldaten zu unterstützen. If only the dead could rise! Ah, if only our dead heroes could rise from their graves on this plain and lead back into battle! Lazar, Milosh Obilitch, Kosanchich Ivan, why do you slumber? Is Serbia to be lost a second time? […] Hail to Kossovo Day, for it will be followed by the day of victory! The day when Serbia will leap up from the dust and, binding her torn locks about her forehead, will once more resume her crown, and twisted in and out that shining circlet will be the fadeless laurel leaves that the living and the dead have won for her on the field of honour.25

Im Brief vom 16. Juli 1916 an den serbischen Geografen und Ethnologen Jovan Cvijic´ berichtet Seton-Watson über die Erfolge seiner Kampagne. Notre agitation pour le Vidovdan est all¦e admirablement. Nous avons organis¦ vers 70 meetings dans tout le pays le 28 juin: on a parl¦ de la Serbie dans plus de 12.000 ¦coles: nous avons „circularis¦“ plus de 23.000 ¦glises, et beaucoup ont tenu des c¦l¦brations d’intercession (par exemple, St. Margaret’s, Westminster, l’¦glise paroissienne du 24 Seton-Watson, Robert W.: ,Mesˇtrovic´ and the Yugoslav Idea‘, in: Exhibition of the Works of Ivan Mesˇtrovic´. London 1915, s.p. 25 Askew, Alice / Askew, Claude: ,Kossovo Day Heroes whose memory will never fade‘, in: Kossovo Day Committee (Hg.): The Lay of Kossovo. Serbia’s Past and Present (1389 – 1917) and The Three Ballads. For the Anniversary of the Kossovo Day Celebration in Great Britain on the 28th of June 1916. London 1917, S. 29 – 31, hier S. 31.

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Parlament). On a donn¦ 1000 cin¦mas, Il y avait des articles – et de trÀs bons – dans presque tout la presse de Londres et des provinces est dans les grandes revues. Nous avons distribu¦ et vendu des masses de brochures sur la Serbie et les Jugoslaves.26

Die Werkschau war eine hervorragend organisierte Verbindung von Politik und Kunst. Ein nationaler Totenkult wurde mit Hilfe der aus Polen entlehnten national-messianischen Idee, wie Mickiewicz und seine Zeitgenossen sie im frühen 19. Jahrhundert nach den Teilungen Polens geprägt hatten, begründet und sogleich für aktuelle politische Zwecke der Südslawen instrumentalisiert. Die ruinenhaften Fragmente der serbischen Heroen, Witwen und Sklaven wurden wie aus dem Gestein auferstandene archaische Gestalten inszeniert. Die englische Dichterin Jean Milne stilisiert sie in einem Mesˇtrovic´ gewidmeten Gedicht Sculptor Prophet sogar zu „the immortal Sons of God“, den großen Meister zum „strange flame from the dark / Gleaming through forms known, yet unknown: The living tree, the vital bronze, the sentient stone, / The elemental clay wrapping anew the age-long hidden spark.“27 Mesˇtrovic´ griff jedoch nicht spezifisch serbische oder andere südslawische Stilelemente, sondern vielmehr internationale auf. Er vereinte Michelangelo wie Rodin, Assyrien wie Ägypten, entlehnte Formensprache in einem Ehrentempel Serbiens und des zukünftigen Jugoslawiens. Die expressive künstlerische Sprache, die unterschiedliche monumentale Stile eklektisch miteinander kombinierte, weckte die Vorstellung von einer uralten titanischen Nation. Von Serbien als Über-Nation, siegreich noch in seiner Niederlage, erwarteten die Alliierten als Gegengewicht gegen die Achsenmächte die Einigung der südslawischen Völker. Das integrative Element der Südslawen war der heroische Kampf gegen einen äußeren, zuerst türkischen und später germanischen Feind.

Die Ausstellung der jugoslawischen mittelalterlichen Kunst im Palais de Chaillot in Paris 1950 Im Jahre 1950, fünf Jahre nach dem Kriegsende und zwei Jahre nach dem Ausschluss des sozialistischen Jugoslawiens aus dem Kominform, knüpfte der kroatische Schriftsteller Miroslav Krlezˇa, führender Kulturpolitiker in Jugoslawien, mit der Organisation einer großen Ausstellung der jugoslawischen mittelalterlichen Kunst im Palais de Chaillot in Paris an die Tradition der Mesˇtrovic´Werkschau an. Inzwischen war der multinationale Staat Jugoslawien, der sich im heldenhaften Partisanenkampf rühmte, so etabliert, dass er auf heimische mittelalterliche Vorbilder, nämlich die südslawische Kunst, zurückgreifen 26 Seton-Watson et al. (Hg.) 1976, S. 270. 27 Milne, Jean: ,Sculptor Prophet‘, in: NOVA EVROPA 1933/8, S. 372.

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konnte. Die Skulptur in Dalmatien als Ausdruck der glagolitischen Kultur in Kroatien (Abb. 4), die Denkmäler der autokephalen südslawischen Kirche in Serbien (Abb. 5) und Makedonien sowie die Grabstellen der häretischen Bogomilen in Bosnien und der Herzegowina (Abb. 6) wurden in das neue kommunistische Programm eingebettet. Sie wurden als „Antizipationen“ des jugoslawischen „dritten Weges“ – der Souveränität Jugoslawiens auf seinem autonomen, von Moskau unabhängigen Weg in den Sozialismus – gepriesen.28

Abb. 4: Portal des Meister Radovan, St. Laurentius in Trogir, Kopie, Ausstellung L’art m¦di¦val yugoslave, Paris 1950.

Krlezˇa lobt im Ausstellungskatalog nicht nur die kriegerische, sondern auch die kulturelle Widerstandsfähigkeit der jugoslawischen Völker gegenüber den fremden Mächten aus Ost und West. Alle diese Antizipationen beweisen, dass es sich um einen ebenso standhaften und widerstandsfähigen Non-Konformismus unseres eigenständigen Elementes handelt, das sich nicht den alten Kräften unterordnen ließ, weder in der gesprochenen Sprache noch in der Schrift, weder im Glauben noch in der Kunst und auch nicht in den politischen Beziehungen der Unterordnung und der Minderwertigkeit.29 28 Zimmermann, Tanja: ,Titoistische Ketzerei. Die Bogomilen als Antizipation des „dritten Weges“ Jugoslawiens‘, in: ZEITSCHRIFT FÜR SLAWISTIK 2010/55 – 4, S. 445 – 463. 29 Krlezˇa, Miroslav : ,Rijecˇ u diskusiji na drugom kongresu knjizˇevnika Jugoslavije (1950)‘, in:

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Abb. 5: Portal des Klosters Studenice in Serbien, Kopie, Ausstellung L’art m¦di¦val yugoslave, Paris 1950.

Sogar den jugoslawischen ,Aufstand‘ von 1948 gegen Stalin stellt er in die Nachfolge der religiösen Widerstandskämpfe der häretischen Bogumilen gegen die West- und Ostkirche im Mittelalter. Die jugoslawische mittelalterliche Zivilisation entstand auf dem Gegensatz zwischen Byzanz und Rom, d. h. in jenem Raum, in dem Jahrhunderte hindurch zwei autokratische Kreise aufeinanderstießen: der des Patriarchats von Konstantinopel und der des cäsarischen lateinischen Papsttums. Unsere Zivilisation „in artibus“, die in ihrer Geschichte niemals Osten und niemals Westen war, erscheint in diesen Koordinationen des Geistes und des künstlerischen Stils als eine dritte Komponente, die an und für sich durch ihr inneres Bewegungsgesetz stark genug war, um nicht stehen zu bleiben, und widerstandsfähig genug, um sich nicht passiv den stärkeren Kräften unterzuordnen, die zivilisierter waren als sie selbst. […] Die Politogenesis unserer mittelalterlichen Souveränität, ebenso wie der Kampf um die Selbstständigkeit der Kirche in seiner bogumilischen, serbischen und glagolitischen Variante beweisen uns, dass unsere Menschen schon im frühen Mittelalter nicht so denken wollten, wie man rings um sie dachte, und dass sie nicht wollten, dass man

Svjedocˇanstva vremena. Knjizˇevno-estetske varijacije. Sarajevo 1988, S. 113 – 121, hier S. 117. „Osnovna formula nasˇe civilizacije danas i ovdje bila je: da su mnogobrojne civilizacije oko nas na mediteranu i Balkanu nestale u mraku historije, a nasˇa da je med¯u zapadnoevropskim i balkanskim jedina koja nije polatinjena ni grecizirana, isto tako kao sˇto je jedina koja je danas socijalisticˇka, na temelju svoje vlastite revolucionarne borbe. […] Sve te anticipacije dokazuju nam da se radi o jednako postojanom i jednako otpornom nonkonformizmu nasˇeg vlastitog elementa koji se nije dao podrediti stranim snagama ni u govoru ni u pismu, ni u vjeri ni u umjetnosti, niti u politicˇkim odnosima podred¯enosti i manjevrijednosti.“

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ihnen eine solche fremde Lebens- und Denkweise als Vorbild aufdrängte, dem sie sich unterzuordnen hätten.30

Krlezˇa interessierten insbesondere der soziale Hintergrund und die staatsbildenden Aspirationen des Bogumilentums. Im mittelalterlichen Bosnien, besonders im 14. Jahrhundert unter dem König Tvrtko I. Kotromanic´ (1376 – 1391), hätten sich die Bogumilen so weit ausgebreitet, dass sie den Status einer Staatskirche erreicht hätten. Bezüglich dieses Sachverhaltes konnte Krlezˇa auf das Werk des kroatischen Historikers Franjo Racˇki, Der Kampf der Südslawen für die Eigenstaatlichkeit im XI. Jahrhundert (Zagreb 1875), zurückgreifen.31 Dieser betrachtet die drei südslawischen mittelalterlichen Staatsformationen der Bulgaren, der Kroaten und der Serben als Bemühungen um einen südslawischen Nationalstaat. Umzingelt von den gleichen Feinden in Ost und West hätten sie angestrebt, einen slawischen Staat überall dort zu gründen, wo das slawische Bewusstsein erhalten geblieben sei. Allein wegen der Kirchenspaltung habe es nicht zu einer Union der Südslawen kommen können. Unfähig, sich mit den Nachbarslawen zu vereinen, hätten sie schließlich ihre Eigenstaatlichkeit verloren. Damit hätte sich der Abstand zwischen den Südslawen, die nunmehr unter verschiedenen Imperien aufgeteilt wurden, immer mehr vergrößert. Der „dritte Weg“ des sozialistischen Jugoslawiens ist somit für Krlezˇa nicht nur ein autochthoner, sondern auch ein autarker Weg der Südslawen, die sich erneut sowohl vom Osten als auch vom Westen abgrenzten. Auf beiden Ausstellungen, in London wie auch in Paris, versuchten die jugoslawischen Politiker und Kulturschaffenden weniger die Besonderheiten der unterschiedlichen südslawischen Nationen auf einen gemeinsamen Nenner zu 30 Kerleja, Miroslav : ,Preface‘, in: Deschamps, Paul (Hg.): L’art m¦di¦val yougoslave. Moulages et copies ex¦cut¦s par des artistes Yougoslaves et FranÅais. Paris 1950, S. 13 – 18, hier S. 14; Krlezˇa, Miroslav : ,Die Ausstellung der jugoslawischen mittelalterlichen Malerei und Plastik‘, in: Bihalji-Merin, Oto (Hg.): JUGOSLAWIEN. ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT. Im Herbst 1950. Belgrad 1950, S. 52 – 61, hier S. 55; Krlezˇa, Miroslav : ,Srednjovjekovna umjetnost naroda Jugoslavije‘, in: Frangesˇ, Ivo (Hg.): Likovne studije. Jubilarno izdanje u povodu devedesetih godina proteklich od autorova rod¯enja. Sarajevo 1985, S. 9 – 38, hier S. 19. „Juzˇnoslovenska srednjovjekovna civilizacija nastala je na antitezi Bizantije i Rima, to jest u prostoru, gdje se stoljec´ima sudaraju dva autokratska kruga: patrijarhata carigradskog i cezarskog papstva laternskog. Nikad u svojoj historiji Istok i nikad Zapad, nasˇa se civilizacija in artibus javlja u ovima koordinacijama duha i umjetnicˇkog stila kao trec´a komponenta koja je sama po sebi, po svom unutrasˇnjem zakonu kretanja, bila dovoljno jaka da se ne zaustavi, i dovoljno otporna da se pasivno ne podredi civiliziranijim snagama od sebe same. Da nasˇi ljudi nijesu vec´ u ranom Srednjem vijeku htjeli misliti na nacˇin kako se mislilo oko njih, i da nisu htjeli da im se takav inostrani nacˇin zˇivota i misˇljenja nametne kao model kome treba da se podrede, to nam dokazuje politogeneza nasˇih srednjovjekovnih suvereniteta isto tako kao i borba za samostalnost crkve u bogumilskoj, srpskoj i glagoljasˇkoj varijanti.“ 31 Racˇki, Franjo: Borba Juzˇnih Slovena za drzˇavnu neodvisnost. Bogomili i Patareni. Belgrad 1931.

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Abb. 6: Bogomilische Sarkophage, Kopie, Ausstellung L’art m¦di¦val yugoslave, Paris 1950.

bringen, als vielmehr eine Einheit auf internationalem Parkett zu demonstrieren. Das slawische Element trat auf der Londoner Ausstellung in den Hintergrund, weil sich der zu gründende südslawische Staat im Konzert der alten europäischen Nationen erst behaupten musste. Mit einem künstlerischen Archaismus, der einen mythisch-archaischen Ursprung in der Geschichte stiften sollte, wurden die weniger monumentalen und untereinander unterschiedlichen südslawischen künstlerischen Traditionen vermieden. Auf der Pariser Ausstellung präsentierte man zwar die genuin jugoslawische Kunst, welche verschiedenen kulturellen Traditionen im Mittelalter entsprungen war, doch wurde auch diesmal nicht das slawische, sondern das häretische Element hervorgehoben. Der Bruch mit den „slawischen Brüdern“ in der Sowjetunion und in den Satellitenstaaten des Ostblocks sowie die bevorstehende Gründung der Bewegung der Blockfreien, die Tito 1956 zusammen mit dem indischen Präsidenten Nehru und dem ägyptischen Präsidenten Nasser initiierte, verlangte nach einer anderen außenpolitischen Rhetorik. Diese wandte sich nicht nur an die europäischen Staaten, eingeteilt in das NATO-Bündnis und den Warschauer-Pakt, sondern vielmehr an die blockfreien Länder auf anderen Kontinenten. In beiden Fällen, im Jahre 1915 wie im Jahre 1950, handelte es sich um außenpolitisch sichtbare Akte, die diplomatischen Handlungen vorangingen oder sie durch nonverbale, massenmediale Strategien begleiteten.

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Abbildungen Abb. 1: Ivan Mesˇtrovic´, Sphinx und Karyatiden, aus: Branimir Vizner-Livadic´ (Hg.), Izlozˇba Mesˇtrovic´-Racˇki, Zagreb 1910, s.p. Abb. 2: Ivan Mesˇtrovic´, Serbische Krieger im Kampf, aus: Exhibition of the Works of Ivan Mesˇtrovic´, London 1915, s.p. Abb. 3: Ivan Mesˇtrovic´, Modell des Kosovo-Tempels. Seitenansicht, aus: Kosta Strajnic´, Ivan Mesˇtrovic´, Beograd 1919, s.p. Abb. 4: Portal des Meister Radovan, St. Laurentius in Trogir, Kopie, Ausstellung L’art m¦di¦val yugoslave, Paris 1950, aus: JUGOSLAWIEN. ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT. Belgrad 1950, S. 53. Abb. 5: Portal des Klosters Studenice in Serbien, Kopie, Ausstellung L’art m¦di¦val yugoslave, Paris 1950, aus: JUGOSLAWIEN. ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT. Belgrad 1950, S. 54. Abb. 6: Bogomilische Sarkophage, Kopie, Ausstellung L’art m¦di¦val yugoslave, Paris 1950, aus: JUGOSLAWIEN. ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT. Belgrad 1950, S. 58.

Literatur Askew, Alice / Askew, Claude: ,Kossovo Day Heroes whose memory will never fade‘, in: Kossovo Day Committee (Hg.): The Lay of Kossovo. Serbia’s Past and Present (1389 – 1917) and The Three Ballads. For the Anniversary of the Kossovo Day Celebration in Great Britain on the 28th of June, 1916. London 1917, S. 29 – 31. Bone, James: ,Mesˇtrovic´ and his Arts‘, in: Exhibition of the Works of Ivan Mesˇtrovic´. London 1915, s.p. Clegg, Elisabeth: ,Mesˇtrovic´, England, and the Great War‘, in: THE BURLINGTON MAGAZINE 2002/144, S. 740 – 751. Fleck, Robert: Die Biennale von Venedig. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts. Hamburg 2009. Giustino, Chathleen M.: ,Rodin in Prague. Modern Art, Cultural Diplomacy, and National Display‘, in: SLAVIC REVIEW 2010/69 – 3, S. 591 – 619. Günther, Hans: ,Zˇiznestroenie‘, in: RUSSIAN LITERATURE 1986/20, S. 41 – 48. Hlavacˇka, Milan / Orlikov‚, Jana / Sˇtemberea, Petr : Alfons Mucha – Parˇ†zˇ 1900. Pavilon Bosny a Hercegoviny na sveˇtov¦ vy´staveˇ. Praha 2002. Knell, Simon J.: ,National Museum and the National imagination‘, in: Simon J. Knell / Aronsson, Peter / Bugge Amundsen, Arne (Hg.): National Museums. New Studies from around the World. Routledge 2010, S. 3 – 28. Kretschmer, Winfried: Geschichte der Weltausstellungen. Frankfurt/M./New York 1999. Krlezˇa, Miroslav : ,Rijecˇ u diskusiji na drugom kongresu knjizˇevnika Jugoslavije (1950)‘, in: Frangesˇ, Ivo (Hg.): Svjedocˇanstva vremena. Knjizˇevno-estetske varijacije. Sarajevo 1988, S. 113 – 121. Kerleja, Miroslav : ,Preface‘, in: Deschamps, Paul (Hg.): L’art m¦di¦val yougoslave. Moulages et copies ex¦cut¦s par des artistes Yougoslaves et FranÅais. Paris 1950, S. 13 – 18. Krlezˇa, Miroslav : ,Die Ausstellung der jugoslawischen mittelalterlichen Malerei und

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Plastik‘, in: Bihalji-Merin, Oto (Hg.): Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift. Im Herbst 1950. Belgrad 1950, S. 52 – 61. Krlezˇa, Miroslav : ,Srednjovjekovna umjetnost naroda Jugoslavije‘, in: Frangesˇ, Ivo (Hg.): Likovne studije. Jubilarno izdanje u povodu devedesetih godina proteklich od autorova rod¯enja. Sarajevo 1985, S. 9 – 38. Machiedo Mladinic´, Norka: ,Prilog proucˇavanju djelovanja Ivana Mesˇtrovic´a u Jugosloˇ ASOPIS ZA SUVREMENO POVIJEST 2007/39 – 1, S. 133 – 156. venskom odboru‘, in: C Machiedo Mladinic´, Norka: ,Politicˇko opredjeljenje i umjetnicˇki rad mladog Mesˇtrovic´a‘, ˇ ASOPIS ZA SUVREMENU POVIJEST 2009/41 – 1, S. 143 – 170. in: C Masaryk, Tom‚sˇ G.: Das Problem der kleinen Völker in der europäischen Krisis. Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen mit einer Einleitung von Dr. Jan Reichmann. Praha/Leipzig 1922. May, Jan A.: La Biennale die Venezia. Kontinuität und Wandel in der venezianischen Ausstellungspolitik 1895 – 1948 (=Schriftenreihe des deutschen Studienzentrums in Venedig). Berlin 2009. May, Arthur J.: ,Seton-Watson and the Treaty of London‘, in: THE JOURNAL OF MODERN HISTORY 1957/29 – 1, S. 42 – 47. May, Arthur J.: ,R.W. Seton-Watson and British Anti-Habsburg Sentiment‘, in: AMERICAN SLAVIC AND EAST EUROPEAN REVIEW 1961/20 – 1, S. 40 – 51. Meier-Graefe, Julius (Hg.): Die Weltausstellung in Paris 1900. Paris 1900. Milne, Jean: ,Sculptor Prophet‘, in: NOVA EVROPA 1933/8, S. 372. Nazor, Vladmir : ,Kip‘, in: NOVA EVROPA 1933/8, S. 371 f. Oberhammer, Monika: ,…„byla nezkrotn‚ zˇiv‚ touha vykonat neˇco, co by prospeˇlo cel¦mu Slovanstvu“‘, in: Institut für Kunstgeschichte an der Universität Salzburg (Hg.): Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie. Furth/Wald 2002, S. 210 – 221. Petzer, Tatjana: ,Figuren der Einheit. Zur Rhetorik und Realität südslawischer Integration‘, in: Ga˛sior, Agnieszka / Troebst, Stefan (Hg.): Gemeinsam einsam. Die Slawische Idee nach dem Panslawismus. Osteuropa 2009/59 – 12, S. 237 – 249. Racˇki, Franjo: Borba Juzˇnih Slovena za drzˇavnu neodvisnost. Bogomili i Patareni. Belgrad 1931. Robinson, Connie: ,Yugoslavism in the Early Twentieth Century. The politics of the Yugoslav Committee‘, in: Djokic´, Dejan / Ker-Lindsay, James (Hg.): New Perspectives on Yugoslavia. Key Issues and Controversies. London/New York 2011, S. 10 – 26. Rusinow, Dennison: ,The Yugoslav Idea before Yugoslavia‘, in: Djokic´, Dejan (Hg.): Yugoslavism. Histories of a Failed Idea 1918 – 1992. London 2002, S. 11 – 26. Schahadat, Schamma: Das Leben zur Kunst machen. Lebenskunst in Russland vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. München 2004. Schahadat, Schamma (Hg.): Lebenskunst – Kunstleben. Zˇiznetvorcˇestvo v russkoj kulˇture XVIII – XX vv. München 1998. Seton-Watson, Hugh et al. (Hg.): R.W. Seton-Watson and the Yugoslavs. Correspondence I: 1906 – 1941. London/Zagreb 1976. Seton-Watson, Robert W.: ,Mesˇtrovic´ and the Yugoslav Idea‘, in: Exhibition of the Works of Ivan Mesˇtrovic´. London 1915, s.p. Wachtel, Andrew B.: Making a Nation. Breaking a Nation. Literature and Cultural Politics in Yugoslavia. Stanford 1998.

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Katarina Mohar (Ljubljana)

Representations of the National and Supranational in Socialist Slovenia. A Case Study of Two Historical Frescoes

Two of the most important Slovenian post-war historical paintings are frescoes in Vila Bled, the summer residence of the former president of the Socialist Federal Republic of Yugoslavia, Josip Broz-Tito, and the National Assembly of the People’s Republic of Slovenia. Both works were created by Slavko Pengov (1908 – 1966),1 the ‘court painter’ for the new political elite and author of the most important and most representational state commissions in the period of the second Yugoslavia. Although both paintings were commissioned by the state, supervised by the same person2 and demonstrate stylistic similarities, a comparison reveals several differences, especially in terms of content. This paper studies the problem of depicting the national and supranational concepts in the historical motifs of the National Liberation War and post-war construction of the new state as manifested in the frescoes in question. Before the 20th century, monumental historical painting was essentially absent 1 Slavko Pengov was born in Ljubljana. He studied painting at the Zagreb Academy of Fine Arts (1926 – 1929) and sculpture at the Academy of Fine Arts in Vienna (1929 – 1931). His vast and varied oeuvre is best known for monumental frescoes, commissioned mostly by the Church in the pre-World War II period (e. g. frescoes in the church of Saint Martin in Bled (1932 – 1937), church of Assumption in Domzˇale (1938), church of Saint Bartholomew in Kocˇevje (1938)), and by the state after 1945. His most important post-war commissioned works include decoration of Vila Bled (1947 – 1948), frescoes for the Central Committee of the League of Communists of Yugoslavia in Belgrade (1948), frescoes for the Faculty of Metallurgy in Ljubljana (1950 – 1951), frescoes in the Municipality building in Nova Gorica (1952), mosaics for Vila Brionka on Brioni Islands (1957) and frescoes in the National Assembly of the People’s Republic of Slovenia (1958). On Pengov see: Sˇijanec, Fran: Sodobna slovenska likovna umetnost. Maribor 1961, pp. 196 – 199; Sˇprager, Elizabeta: Slavko Pengov. Freskant. Ljubljana 1993; Pavlinec, Donovan: ‘Slovenski inzˇenirji cˇlovesˇkih dusˇ. Monumentalne stenske poslikave socialisticˇnega realizma’, in: ZBORNIK ZA UMETNOSTNO ZGODOVINO 2008, pp. 114 – 138. 2 Ivan Macˇek-Matija (1908 – 1993), considered a “national hero”, was one of the leading political figures of Yugoslavia. Some of his most important positions were head of the Committee for the Economy, vice-president of the Executive Council of the People’s Republic of Slovenia, member of the Federal Executive Council and secretary of the Central Committee of the League of Communists of Yugoslavia. See: Pavlin, Mile: ‘Macˇek, Ivan – Matija’, in: Enciklopedija Slovenije 6. Ljubljana 1992, p. 348.

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from Slovene art, save for rare minor attempts. The large multinational states to which Slovenia once belonged did not find it in their interest to promote the history of a single, small nation and thereby heighten the level of its national awareness. However, the newly established political regimes (i. e. the State of Slovenes, Croats and Serbs, the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes and especially the later Kingdom of Yugoslavia and Federal People’s Republic of Yugoslavia) required “grand, heroic, national painting” as a means of their own legitimisation.3 Thus artists were soon faced with the problem of how to create it. According to Nadja Zgonik, the Slovenes “do not have our own victorious, imperialistic past; we do not have great rulers or army leaders to mould into national heroes for present-day use.”4 The Slovenes were considered a nation of culture, not of the state, which is why, when first faced with the task of creating historical artworks and having absolutely no comparable painterly tradition to draw on, Slovene painters turned above all to literary works and painted the most popular motifs from these.5 The first important contest for the decoration of the Province palace in Ljubljana6 was organised in 1938 with a call for images from Slovenian history. The works submitted reveal that the arrival of Saints Cyril and Methodius in Pannonia was the most popular subject matter, followed by depictions of Zollfeld Plain, the settlement of the first Slovenes in their new homeland and the peasant revolts.7 The first prize was awarded to Gojmir Anton Kos (1896 – 1970),8 who was therefore commissioned to create the first two Slovenian monumental historical paintings: one depicting the instalment of the Dukes of Carinthia at Zollfeld, the other an image of the Battle of Krsˇko, a peasant revolt in 1573.9 3 4 5 6

Zgonik, Nadja. Podobe slovenstva. Ljubljana 2002, p. 119. Zgonik 2002, p. 118. Ibid. The seat of Drava Province, one of the nine sub-divisions of the Kingdom of Yugoslavia. The competition was tendered by the head of the province, Marko Natlacˇen, and called for proposals to decorate one of the walls of the main hall connecting the representational rooms of the palace with seven paintings of varying dimensions – two central, large compositions with the most memorable scenes or events from Slovenian history, two smaller, side paintings and three supraportes; see: Lozˇar, Rajko: ‘Zgodovina Slovencev in nasˇa upodabljajocˇa umetnost’, in: KRONIKA SLOVENSKIH MEST 1939/1, pp. 28 – 29. 7 Zgonik 2002, p. 120. 8 On Kos see: Dobida, Karel: ‘Iz slikarstva in kiparstva. Razstava osnutkov za zgodovinske slike’, in: LJUBLJANSKI ZVON 1939/3, pp. 170 – 174; Krzˇisˇnik, Zoran: Gojmir Anton Kos. Ljubljana 1962; Mikuzˇ, Jure (et al.): Gojmir Anton Kos 1896 – 1970. Retrospektiva. Ljubljana 1992. 9 On the competition see: Lozˇar 1939; Dobida 1939; Stele, France: ‘Kako nastane zgodovinska slika? Ob G. A. Kosovi sliki umestitve korosˇkih knezov pri Krnskem gradu’, in: KRONIKA SLOVENSKIH MEST 1940/1, pp. 1 – 10; Mikuzˇ, Jure: ‘Prvi poskus vpeljave zgodovinskega ˇ ASOPIS ZA SLOVENSKO KRAJEVNO slikarstva v slovenski umetnosti’, in: KRONIKA. C ZGODOVINO 1974/2, pp. 122 – 128.; Zgonik 2002.

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With the rise of socialism and the establishment of the Federal People’s Republic of Yugoslavia after the Second World War, the relatively un-established and underdeveloped Slovenian historical painting underwent significant modifications in order to better suit the needs of the new regime. This change was based primarily on ideas of collectivism; as a rule, the concept of the nation as a distinct entity is largely ignored in post-war art, as the “emphasis of any national features in culture and art in the time of Yugoslav federalism would have led to nationalistic outbursts which could have endangered the existence of Yugoslavia.”10 It was in such circumstances that Pengov created his most important state commissions. Primarily a painter of religious commissions before the war, he started working for the State after 1945 and became immensely popular with the authorities, who later awarded most of the highest representational commissions to him. Shortly after the war, in 1947, he was commissioned to decorate Vila Bled; a year later, he painted a commission for the Central Committee of the League of Communists of Yugoslavia in Belgrade,11 and a decade later he completed a monumental frieze depicting the history of the Slovenes for the newly built palace of the National Assembly in Ljubljana. Pengov finished his first important post-war commissioned work – the frescoes in the ceremonial hall of Vila Bled,12 Tito’s fully renovated summer residence – in 1948 and was awarded first prize by the Committee of Culture and Arts of the Federal People’s Republic of Yugoslavia for his work. The frescoes extend over two walls; scenes from the National Liberation War cover the longer wall, and the frieze continues on the shorter wall with images of the post-war reconstruction of the new socialist homeland during the first Five-Year Plan. In a very condensed manner, scenes from the National Liberation War (Ill. 1) depict the course of the Second World War in Yugoslavia, starting with the bombing of Belgrade which marked the beginning of the invasion, followed by the formation 10 Zgonik 2002, p. 9. 11 Pengov painted a monumental triptych for the headquarters of the Yugoslav Communist Party. The paintings show demonstrations against the Tripartite Pact in 1941, a battle scene, and the triumphant march of the builders of socialism. The work is a clear celebration of the role of the Communist Party in the process of liberation and the establishing of the new state; see: Sˇprager 1993, pp. 39 – 41; Pavlinec 2008, pp. 131 – 135. 12 Pengov also created a monumental mosaic depicting working life in post-war Yugoslavia in the Belvedere pavilion on the Vila Bled estate. Only Mirko Jutersˇek (Jutersˇek, Mirko: ‘Pengov, Slavko’, in: Enciklopedija likovne umjetnosti 3. Zagreb 1964, p. 650) attributes the work to Pengov while all other existing literature on the painter (Sˇijanec 1961; Sˇprager 1993; Pavlinec 2008) and Vila Bled (Prelovsˇek, Damjan: ‘Vila Bled’, in: PIRANESI 1998, pp. 6 – 27; Grabar, Nika: Architecture of Vinko Glanz. Between classicism and modernism. Ljubljana 2009 (doctoral dissertation), pp. 117 – 125) fails to include any mention of the mosaic. Several studies and sketches for the mosaic are currently conserved at the National Museum of Contemporary History in Ljubljana.

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of the first attack by partisan units, the crossing of the River Neretva, the crossing of the Drina into the Sutjeska Valley and ending with the final liberation.

Ill. 1: Slavko Pengov, National Liberation War, detail: Crossing of the Drina into the Sutjeska Valley), fresco, Vila Bled, 1948.

The male and female partisans portrayed in the mass battle scenes are strongly stereotyped and idealised, except for a few naturalistic details (i. e. dirt under fingernails). The partisans are dressed in light, sandy-coloured uniforms, which make them easily distinguishable from their opponents in the background. Among them, a small number of people wearing everyday clothing are depicted: a woman in a typical costume and a man wearing a fez help locate most of the historical events in present day Bosnia and Herzegovina (Belgrade, in the far left corner, is the only other location depicted). The main focus is not on battles as such; they serve merely as a backdrop to scenes of camaraderie and mutual aid.13 Most of the foreground is taken up by a long line of soldiers wounded in the Battle of Neretva (1943), where partisan troops rescued a large number of the wounded from the enemy. The emphasis here is on images of the wounded being carried, exaggerated hugging and holding of hands. The combination of Pengov’s creativity, the commissioners’ choice of the so-called Battle for the Wounded as a subject matter and the carefully supervised painting

13 According to Sˇprager 1993, p. 36, whose work recapitulates the content of Slavko Pengov’s currently unavailable personal memoirs and writings, the artist wanted his work to “emphasise the superhuman struggles of the partisans […], depict their heroic struggles, and involve the viewer in the events. He wished to avoid the portrayal of enemies as much as possible and included it only as a necessary explanation […], as the opposite pole of ideal content.”

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process14 resulted in an artwork which, above all, propagates the concept of brotherhood and unity. The second part of the fresco, depicting a large group of triumphant workers parading in front of the factory they helped build, is also dedicated to the idea of brotherhood and unity (Ill. 2).

Ill. 2: Slavko Pengov : Workers’ Parade, 1948, fresco, Vila Bled.

The painting portrays the new, ideal people of socialism: impeccably clean, well-groomed workers of both genders, brimming with health and enthusiasm for work are zealously and fearlessly marching and looking forward towards a ‘brighter future’. In this sense the fresco is a typical example of the Sovietinfluenced art of socialist realism. The figures dressed in everyday workers’ attire have no attributes to indicate their ethnic identity. Some of them do, however, wear accessories corresponding to the Yugoslav tricolour. Holding hands as brothers and sisters on the way to a common goal, they follow a mighty female figure wearing opanke sandals,15 carrying a little boy on her shoulders and a Yugoslav flag in her hands,16 leading the way as an allegory of a brighter future. The boy “could be interpreted as a symbol of the new, recently established 14 “[The ideological and political aspect] was dealt with by a few visits from important political personages, especially the vice-president of the government, Matija Macˇek [Ivan MacˇekMatija], who considered himself competent to make critical observations.” Sˇprager 1993, p. 38. 15 A style of peasant shoe, typically worn in areas of the Balkans, specifically in Croatia, Bosnia and Herzegovina, Macedonia, Bulgaria and Serbia; also considered a national symbol of the latter. 16 The image of the woman with a flag is a clear reference to the personification of Liberty in Eugene Delacroix’s Liberty Leading the People from 1830. The painting has frequently been an inspiration to artists working in socialist regimes (cf. Boris Kustodiev : The Bolshevik, 1921; Gerhard Bandzin: The Way of the Red Flag, Kulturpalast Dresden, 1969) who, in referring to this allegory of revolutionary struggle, depicted the socialist revolution as a continuation of the bourgeois revolution of 1830.

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state. It had to be virile and confident, but grounded in what can be represented by a woman dependent on nature, land and the territory of her homeland, and safe and loving to all.”17 The industrial complex in the background of the workers’ parade is of particular significance. It is an image of Titovi zavodi Litostroj in Ljubljana,18 the first new plant built in Yugoslavia after the war.19 Especially in the early post-war period state authorities often used forced labour to complete their ambitious construction projects (including Litostroj and Vila Bled) and used prisoners of war and political prisoners as the main work force. This fact adds another dimension to the image of the ‘happy builders of socialism’.20 Prisoners who were forced to work are shown happily laying the foundations of the system to which they had just recently been strongly opposed, and now depicted as celebrating. The painting can therefore be interpreted as a definite demonstration of political power based on propagating the concept of brotherhood and unity. Despite the fact that Vila Bled was essentially a residence, it was also one of Tito’s official seats and therefore had a representative and ceremonial importance. This double function is reflected in the painting programme for the villa’s ceremonial hall, where the National Liberation War is clearly depicted as the single process leading to the ‘socialist idyll’, a fact which is also emphasised by the composition – from the viewpoint of a visitor entering the hall, the fresco cycle appears as a continuous undulation of figures, of soldiers seamlessly transitioning into the crowd of workers led by the personification of Yugoslavia on the adjacent wall. The subject matter has two common features – a strong emphasis on the concept of brotherhood and unity among the “Yugoslavs” and a close relation to Tito, the commander in all of the battles portrayed and the person who ceremonially opened the newly built Litostroj plant named in his honour. The pillars of Yugoslav unity as declared by the Bled fresco are the carefully constructed myth of Tito, the personification of brotherhood and unity, and the link connecting all the peoples in the state. Pengov was awarded the commission for the National Assembly based on the 17 Zgonik 2002, p. 145. 18 See Sˇprager 1993, p. 36. A sketchbook, conserved at the National Museum of Contemporary History, Ljubljana includes several panoramas showing the plant from various points of view. 19 The Tito Litostroj Factories, a heavy machinery plant and foundry, was founded in 1946 and began production a year later. It was designed by architects Edo Mihevc and Miroslav Gregoricˇ ; see: Krecˇicˇ, Peter : ‘Mihevc, Edo’, in: Enciklopedija Slovenije 7. Ljubljana 1993, p. 131. 20 The sketch book used in preparation of the fresco (National Museum of Contemporary History in Ljubljana) shows that many of the figures depicted are actual portraits of builders working on the Vila Bled construction site at the time Pengov was preparing his fresco. Also among the depicted are Pengov’s students and friends, such as sculptor Drago Trsˇar, painter France Slana and architect Nives Kalin.

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success of his earlier works in Vila Bled and the Central Committee of the League of Communists of Yugoslavia.21 Faced with the task of painting the “history of Slovenes from the time of settlement until now,”22 he had to reach further back into the past to find appropriate subject matter. Pengov’s fresco is the first attempt to depict Slovenian history in its ‘entirety’, which was made even more difficult by the complex socio-political changes of the post-war period. The newly established state, which was essentially still in the process of construction, had virtually no history to suit its present, and had to legitimise itself by establishing and emphasising continuity with selected historical events and movements. These changes were also reflected in contemporary historiography. In 1946, Slovenian historian Bogo Grafenauer gave his debut lecture at the University of Ljubljana’s Faculty of Arts, in which he announced the onset of a new era in which the historical study of states and rulers must give way to a new focus on mass movements.23 With the new periodisation, Slovene historians prioritised the importance of the National Liberation War, “the most heroic and glorious period in Slovene history so far, which paved the way to a new, socialist period; with it the Slovene people have once again won their true freedom, taken fate into their own hands, overcome all party divisions which separated them by 21 On National Assembly architecture and its decoration see: Grabar, Nika / Sˇirok, Kaja / Vovk, Martina: Parlament – tri zgodbe. Arhitektura, umetnost, spomin. Ljubljana, 2012. 22 Porocˇilo o dosedanjem delu (december 1957-januar, februar 1958) Komisije za pregled umetnisˇkih del in opreme v novi palacˇi Ljudske skupsˇcˇine LRS, National Assembly Archive, Ljubljana. The frieze begins with a depiction of the fall of the Roman Empire and the ensuing Slavic settlement of present-day Carniolia, continues with images from the Carantanian period, the defeat of the ancient Avars, the installation of the Dukes at Zollfeld and the Christianisation of Slavs, including portraits of dukes Gorazd and Hotimir. On the second wall, the fresco continues with depictions of peasant revolts, Turkish invasions and portraits of reformer Primozˇ Trubar and polymath Janez Vajkard Valvazor. The beginning of national awakening is represented by Zˇiga Zois, scientist and patron of the arts, the playwright Anton Tomazˇ Linhart, the poets Valentin Vodnik and France Presˇeren and his circle. The revolution of 1848 is symbolised by the burning Viennese parliament and the politicians Klemens von Metternich and Janez Bleiweis, followed by a portrait of writer and politician Fran Levstik and the “camp movement” which strove for equality of the Slovene language and unification of Slovenes within the Austro-Hungarian empire. The third wall shows the awakening of the proletariat at the end of the 19th century, demonstrations, the founding of the Social-Democratic Party, a miners’ strike in Trbovlje, a portrait of the writer and politician Ivan Cankar, the “Rebirth Movement” which strove for Slavic unity, the fall of the AustroHungarian Empire, the October Revolution, the Kingdom of Slovenes, Croats and Serbs, the oppression of the proletariat and the founding of the Communist party. The last wall depicts subject matter related to the National Liberation War (the three zones of occupation, the founding of the Liberation Front, emigration, internment, the second session of the AntiFascist Council of the People’s Liberation of Yugoslavia, the liberation of Trieste), post-war agrarian reform and workers’ self-management. 23 Grafenauer, Bogo: ‘Problemi in naloge slovenskega zgodovinopisja v nasˇem cˇasu’, in: ˇ ASOPIS 1947/1 – 4, pp. 11 – 26, see p. 23. ZGODOVINSKI C

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class, and liberated themselves from the shackles of foreign and domestic capital. The Slovenes have finally matured into a nation.”24 Again, as in Vila Bled, the main focus of the Assembly frescoes is on scenes from the National Liberation War (Ill. 3) and the post-war reconstruction of the new state (Ill. 4), which together take up the length of one of the longer walls, comprising approximately a third of the whole frieze; recent history takes up as much as half the fresco if images from the 19th century are included. Prominence is clearly given to historical events that feature elements of collectivism and the unity of the people, i. e. peasant revolts, national movements, protests and the National Liberation War.

Ill. 3: Slavko Pengov, History of Slovenes, detail: National Liberation War with the second session of the Anti-Fascist Council of the People’s Liberation of Yugoslavia, fresco, National Assembly of Republic of Slovenia, 1958.

Ill. 4: Slavko Pengov, History of Slovenes, detail: Postwar reconstruction of the state and workers’ self-management, fresco, National Assembly of Republic of Slovenia, 1958.

Alongside depictions of important historical events, the Slovene nation is also delineated by portraits of notable cultural figures from protestant reformer Primozˇ Trubar to writer and politician Ivan Cankar, who are among the few recognisable historical personalities portrayed. No portraits are included in the scenes of peoples’ masses during the war and the post-war period, where images of soldiers and workers predominate.25 24 Grafenauer 1947, p. 23. 25 The depiction of the second session of the Anti-Fascist Council of the People’s Liberation of

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A comparison of images of the National Liberation War and post-war construction in the National Assembly with similar subject matter in Bled reveals a very different interpretation of post-1941 events. The elements in Tito’s villa that are used to convey the message of brotherhood and unity reappear in the Assembly on a significantly reduced scale. Images of the enemy, which by contrast constitute the unity of partisans in Bled, are replaced by symbols of German and Italian aggressors (tanks, she-wolf, and eagle). Where the Bled fresco places great emphasis on mutual aid and care for the wounded with depictions of several dozen figures, the Assembly fresco limits the importance of these ideas by supporting them only with minor images of two nurses providing for the wounded, a small group of hostages holding hands, embraced personifications of the Yugoslav republics, and a group of jubilantly marching youths which completes the frieze. Apart from the depiction of the Yugoslav republics and an image of the second session of the Anti-Fascist Council of the People’s Liberation of Yugoslavia in Jajce, no other subject matter accentuating Slovenia as a part of Yugoslavia is included in the fresco. By default, the Assembly commission required an emphasis on the expression of “Sloveneness”, as reflected in the subject matter that was prescribed and selected. Nevertheless, Pengov’s fresco incorporates surprisingly few typically Slovene iconographic motifs. Slovene territory is indicated by an almost unnoticeable map of the area divided between the German and Italian occupying forces, and also by an image of barbed wire, alluding to the city of Ljubljana which it used to surround. The only traditionally Slovene motif is a picture of a hayrack, which Ivan Macˇek, who supervised the painting process together with a group of historians and a committee which evaluated artworks for the National Assembly, described as a “clerical expression of Sloveneness” and strongly opposed its inclusion.26 National costumes were also considered inappropriate;27 they were included in the painting, nevertheless, although only to denote ethnic identity within the context of the larger, multinational structures of the state, in two groups of figures – the male group personifying the State of Slovenes, Croats and Serbs, the dancing and smiling group of six women denoting the liberated republics of the new, unified Yugoslavia (Ill. 5).

Yugoslavia may possibly include a portrait – the facial features of the central figure in the group show some resemblance to Tito, although no mention of it being a portrait is made in the documentation related to the commission or the painting process. Nevertheless, Tito’s image is present in the fresco-adorned hall in the form of a bronze bust by Boris Kalin, which was commissioned for the National Assembly. 26 Stenografski zapisnik seje Komisije za pregled umetnisˇkih in kiparskih del v novi palacˇi Ljudske skupsˇcˇine LRS, 09. 03. 1958, National Assembly Archive, Ljubljana. 27 Ibid.

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Ill. 5: Slavko Pengov, History of Slovenes, detail: Liberation of Trieste and personifications of the liberated Yugoslavia, 1958, fresco, Ljubljana, National Assembly of Republic of Slovenia.

The latter scene is a good example of the way the concept of the national is embedded into the Assembly imagery. It presents a noticeable contrast between depictions of Slovenia and the other Yugoslav republics – while Bosnia and Herzegovina, Croatia, Serbia, Montenegro and Macedonia appear to be interacting with each other, the female figure representing Slovenia is the only one who appears melancholic, looking away from everyone else, as if feeling isolated even while being in centre of the group embrace. Details such as this accentuate the national aspect in the Assembly fresco despite the general absence of clear and easily identifiable images emphasising the Slovene people instantly and unambiguously. The image of the liberation of Trieste (Ill. 5), a subject very rare in Slovene painting, is of special interest in this context, as it can be interpreted as a further example of criticism of the idea of Yugoslav unity. The image was not originally intended to be included in the fresco: no mention of it is made in commission documents and it is also absent from Pengov’s sketches. The artist depicted the partisan-liberator in front of the Town Hall in Trieste’s Piazza Unit—, removing his uniform with one hand while holding a Slovenian flag in the other and victoriously marching forward towards the group of dancing personifications of Yugoslavia. On 1st May 1945, the city was liberated by the Yugoslav 4th Army together with the Slovenian 9th Corps. In the context of the interpretation of ‘historical truths’, the depiction of the Slovene flag thus unduly emphasises the role of Slovenes and fails to acknowledge the merits of all Yugoslav peoples in the Trieste operation. The inclusion of the subject in the fresco programme alone is indicative of the national problem: on 5th October 1954, Trieste and its surroundings (Zone A/Free Territory of Trieste) were ‘consensually’ annexed to Italy by the London Memorandum, and the state border between the both countries was conclusively defined with the bilateral Treaty of Osimo in 1975. While the official Yugoslav attitude to the solution of the Trieste problem was positive in principle, the Slovene standpoint

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was different, as the loss of Trieste signified a final defeat after decades of attempts to preserve the territory, long considered one of most important economic and cultural centres of the nation. After 1954, the federal authorities ignored all debate regarding the certain loss of Trieste. Accordingly, the painterly ‘reminder’ of the loss of territory can be interpreted as a rare manifestation of Slovenia’s disagreement with the position of official Belgrade and an attempt to undermine the concept of (supra)national unity in favour of Slovene national interests. The differences in the depiction of the concept of national and Yugoslav unity can be attributed to the different functions of the two works of art, as well as to differences in the socio-political circumstances of the period in which they were created. The Vila Bled fresco was completed before the Yugoslav break with the Cominform in 1948, in a period of great centralisation of the state, when the power of republics was strongly limited in favour of the extremely powerful federal authorities. Any reflection of issues concerning individual nations within the Federation was ‘consciously neglected’ by the leading politicians.28 The authorities stressed the importance of the problem of class as more relevant than the national problem, which had supposedly already been solved. According to Boris Kidricˇ, Slovenia’s prime minister at the time, the new kind of patriotism had to be based on the working people, who had finally obtained their own homeland, and therefore could not entail a national connotation.29 Years of underestimation and denial of the severity of the problem of national disunity, which the authorities failed to cover up by promoting brotherhood and unity and attempting to establish a Yugoslav (supra)national awareness, led to increasingly pronounced problems. The first workers’ strike in Zagorje in 1958, which took place while Pengov’s Assembly fresco was being painted, drew the attention of the wider public to what was, in the eyes of Slovenes, a deepening disregard for their Republic within the Federation, and an anti-Yugoslav attitude which was becoming increasingly evident.30 Even Edvard Kardelj31 at this time “admitted that a negative attitude towards the federal authorities had already existed in Slovenia for a long time, and that even some Slovenian party leaders had turned against Belgrade.”32 28 Borak, Neven et al.: Slovenska novejsˇa zgodovina. Od programa Zedinjena Slovenija do mednarodnega priznanja Republike Slovenije 1848 – 1992. 2. del. Ljubljana 2005, pp. 833 – 834. 29 Kidricˇ, Boris: Zbrano delo. Govori, cˇlanki in razprave 1944 – 1946. 2. del. Ljubljana 1978, pp. 316 – 317. 30 Borak 2005, p. 989. 31 Edvard Kardelj (1910 – 1979), key Slovene politician of the post-war period, one of the most important figures of Yugoslav state politics and leading theoretician of Titoism; see: Jogan, Savin: ‘Kardelj, Edvard’, in: Enciklopedija Slovenije 4. Ljubljana 1990, pp. 412 – 415. 32 Borak 2005, p. 989.

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Pengov created three important, state-commissioned frescoes dealing with Yugoslav history. Each of the distinctly programmatic works offers a different representation of the (supra)national, depending largely on the political circumstances and intended function of the painting. The Vila Bled frescoes specifically focus attention on the supranational Yugoslav idea associated with the cult of Tito as the person unifying the country and the pillar of its centralism. Pengov’s commission for the Central Committee in Belgrade also stresses the idea of centralism, but is based almost entirely on the uniting power of the Communist party of Yugoslavia. In contrast, the Assembly frescoes which reflect the political reality of the late 1950s, digress from the idea of Yugoslav unity. By means of a closely supervised painterly interpretation of Slovene history, the fresco clearly highlights the national aspect and is somewhat openly critical of the concept of the supranational unity of Yugoslavia.33

Illustrations Ill. 1: Slavko Pengov, National Liberation War, detail: Crossing of the Drina into the Sutjeska Valley, fresco, Vila Bled, Bled, 1948 ÓUIFS ZRC SAZU, photo: Andrej Furlan. Ill. 2: Slavko Pengov, Workers’ Parade, Fresco, Vila Bled, Bled, 1948 ÓUIFS ZRC SAZU, photo: Andrej Furlan. Ill. 3: Slavko Pengov, History of Slovenes – National Liberation War with the second session of the Anti-Fascist Council of the People’s Liberation of Yugoslavia, fresco, National Assembly of Republic of Slovenia, Ljubljana, 1958 ÓUIFS ZRC SAZU, photo: Andrej Furlan. Ill. 4: Slavko Pengov, History of Slovenes – postwar reconstruction of the state and workers’ self-management, fresco, National Assembly of Republic of Slovenia, Ljubljana, 1958 ÓUIFS ZRC SAZU, photo: Andrej Furlan. Ill. 5: Slavko Pengov, History of Slovenes – Liberation of Trieste and personifications of the liberated Yugoslavia, 1958. Fresco, Ljubljana, National Assembly of Republic of Slovenia. ÓUIFS ZRC SAZU, photo: Andrej Furlan.

Archival sources Porocˇilo o dosedanjem delu (december 1957–januar, februar 1958) Komisije za pregled umetnisˇkih del in opreme v novi palacˇi Ljudske skupsˇcˇine LRS, National Assembly Archive, Ljubljana. 33 The paper is part of a research project for a doctoral dissertation on the National Assembly, which the author is currently preparing at the Graduate School of University of Nova Gorica and France Stele Institute of Art History at the Research Centre of the Slovenian Academy of Sciences and Arts under supervision of Assist. Prof. Dr. Barbara Murovec. It is funded by the Slovenian Research Agency as part of the research program Slovenian Artistic Identity in European Context (P6 – 0061).

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Stenografski zapisnik seje Komisije za pregled umetnisˇkih in kiparskih del v novi palacˇi Ljudske skupsˇcˇine LRS, 09. 03. 1958, National Assembly Archive, Ljubljana. Slavko Pengov’s sketch book for Vila Bled, National Museum of Contemporary History, Ljubljana.

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Milan Popadic´ (Belgrade)

On the Ruins of Socialist Novi Pazar. Memories of the One Brotherhood-and-Unity Vision

Introduction: the city as a mnemotechnical mechanism Cities are the product of time, as Lewis Mumford noted more than half a century ago. The result of this specific production is literally obvious – in the city, time becomes visible. Urban structure, buildings, streets, monuments are testimonies of the age during which they are constructed. In fact, they are often even more convincing testimonies than the written official documents and protocols.1 Or, in the poignant words of art historian Kenneth Clark: “If I had to say which was telling the truth about society, a speech by a Minister of Housing or the actual buildings put up in his time, I should believe the buildings”.2 Thus, the city can be seen as a mnemotechnical mechanism, a space in which memories are stored and transmit the values and ideas of the past. Unlike history, memory suffers from a lack of space.3 Not everything can be remembered or, rather, we often do not want to remember everything. In this paper, whose title was inspired by an essay by Douglas Crimp,4 the specific relationship between space and memory in the city structure is analyzed on the basis of the socialist development of Novi Pazar. It is a city in southwestern Serbia and eastern Yugoslavia (or, so to say, in the north of Sandzˇak, or in the middle of Rasˇka5), a city with diverse multiethnic and multi-confessional heritage. While examining three cases from the socialist period of Novi Pazar (the city park, city hotel and the coat of arms of the city), we will look for the

1 Mumford, Lewis: The Culture of Cities. London 1940, p. 4. 2 Clark, Kenneth: Civilisation. London 2005, p.18. 3 Assmann, Aleida: Rad na nacionalnom pamc´enju. Kratka istorija nemacˇke ideje obrazovanja. Beograd 2002, p. 65. 4 Crimp, Douglas: On the Museum’s Ruins, Cambridge 1993, pp. 44 – 65. 5 Sandzˇak, or the Sanjak of Novi Pazar, is an administrative unit established during the period of Ottoman rule in the Balkans. Rasˇka (Rascia) was a medieval region and the nucleus of the medieval Serbian state.

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relationship between space and memory in an attempt to trace the visions and ideas that this relationship embodies.

Ill. 1: Center of Novi Pazar : the first half of the 20th century, 1960s, 1970s, late 20th century, after 2000.

City Park: revaluation of memories In the early 1950s, Novi Pazar began its recovery from the suffering it experienced during World War II. However, a decade after the war the image of the city was not attractive: “the whole city had the appearance of a small, dirty town, although by its location, population and area it is one of the major cities in our country, and the conditions are given for it to be a beautiful city”.6 The experienced eye – ‘eye that can see’, as Le Corbusier would say – could see a number of qualities. In that sense, architect Jovan Krunic´ writes in 1955: “Novi Pazar is one of the few cities in Serbia (together with Prizren, Pec´, Djakovica), which in the past received, in the formal sense, its distinctive urban physiognomy and pre6 I. K.: ,Grad¯evinska delatnost u Novom Pazaru‘, in: BRATSTVO 02. 11. 1954, p. 3.

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served that physiognomy relatively well. Specific characteristics of that physiognomy are urban composition, residential areas, the relation and shape of its houses. The specificity of the urban assembly is generally reflected in the composition of the urban composure and density of residential settlements separated in divisional quarters (mahalas) with a large percentage of green areas. The characteristic element of this assembly is the old fortress and its environment, which could be developed in the acropolis of the city.”7

Ill. 2: City Park in Novi Pazar, 1950s.

7 Krunic´, Jovan: Kuc´e i varosˇi u oblasti Stare Rasˇke. Beograd 1994, p. 134.

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The City Park was built exactly in the fortress mentioned by Krunic´. The history of the City Park in Novi Pazar begins in 1951, when the Plenum of the People’s Committee of the City decided that the main efforts to create the park should begin and end in 1952. However, the City Park in Novi Pazar was not put into use until the spring of 1957 and with another perhaps minimal but symbolically significant delay. Instead of being officially opened on International Workers’ Day, May 1st, it was opened on May 25th, the first Youth Day in socialist Yugoslavia, the official birthday of President Tito. The military history of the Novi Pazar fortress was completed with the opening of the City Park. However, it has yet to be fully explored when this history begins. The first palisade fortification is attributed to the founder of Novi Pazar, Isa Bey Isakovic´, and thus dates back to the middle of the 15th century. This is not proven by solid evidence though. It is also possible – as was the case with residential areas and sacred objects – that a palisade fortification already existed on the territory of the future Novi Pazar before the arrival of the Ottomans.8 However, until the late 17th century, Novi Pazar had no need to function as a military stronghold. It was a market town deep in the territory of the Ottoman Empire, which secured peace, while trade routes to Dubrovnik and Istanbul secured prosperity. After the unsuccessful siege of Vienna at the end of the 17th century and as a result of the 1683 – 1690 wars, the boundaries of the Ottoman Empire shifted to the south. Novi Pazar gained some strategic military importance, which resulted in the need for a military fortification, but also in the weakening of trade efficiency. Between the late 17th century and first half of the 18th century the fortress of Novi Pazar was built consistently, first with earthen and wooden palisades and then with stone material. Powerful polygonal bastions were probably added onto the fortress of Novi Pazar in 1750, which were then linked with high stone curtains in the second half of the 19th century. These were erected in the place of previous battlements and palisades.9 This image of a massive triangular shaped fortress structure is still recognizable today, with its bastions hanging over the river Rasˇka and the center of Novi Pazar. The construction of military fortifications added new dimensions to city life. The number of soldiers in the city fortress grew constantly and with it the necessary buildings for their accommodation and daily activities. The “inner city” (in the city fortress) was mentioned as early as 1692, and during the next two centuries a number of army barracks, watchtowers, ammunition towers, and religious buildings were built. Today, with bastions and fortification walls, the only remaining building of the fortress from this historical period is the fifty feet-high watchtower. The watchtower, which 8 Premovic´, Dragica / Vujovic´, Slavica: ,Novopazarska tvrd¯ava‘, in: NOVOPAZARSKI ZBORNIK 1999/23, p. 138. 9 Ibid., p. 140.

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probably originated at the turn of the 17th to the 18th century10, is the oldest witness to city life after the prosperous period of the 16th and 17th century. Following this history and its possible narratives, the fortress of Novi Pazar was at the heart of many memories and testimonies about life in Novi Pazar. With the construction of the park, the material remains of these testimonies are mostly gone, with the exception of a few buildings. However, the potential for recollection has been preserved. The monument for fallen soldiers in World War II is located in the center of the City Park, at the cross of the two busiest pedestrian paths. The monument was erected by the municipality of Novi Pazar in honor of “all fighters in the National Liberation War, who died in the course of our Revolution”.11 The monument consists of two white marble blocks of a rectangular shape; on the lower horizontal plate rests a vertical plate, whose upper surface has tapered edges. There was a red five-pointed star on the top of the vertical plate as the pinnacle of the monument. There are two dates that follow the appropriate epitaphs applied on the monument. While the first date (July 4th 1961) testifies to the raising of the monument in the park, the other date (July 7th 1950) implies a long-term strategy of planning the erection of monuments. This date corresponds with an article from the local newspaper Bratstvo (Brotherhood) from July 7th 1950, which reported that seven memorials to fallen soldiers are to be constructed in the seven villages in the Dezˇeva County (the city of Novi Pazar at the time also belonged to this county).12 The article does not mention a monument in Novi Pazar, but a general sketch of those monuments was given: two rectangular plates, a lower horizontal plate and upper vertical one. The similarity of this sketch with the monument in the City Park is obvious; the sketch is almost literally materialized in white marble and placed in the center of the pleasant ambience of the City Park. During the 1990s, the fivepointed star on the top of the monument was damaged and modified several times, and eventually was carved into the marble, as proposed in a sketch from 1950. The monument for fallen soldiers remains the only place of explicit memory in the City Park, because the watchtower (most prominent building in the park) was turned into an empty symbol of the past due to inadequate revitalization. It is important to emphasize that the monument for fallen soldiers is not personalized as a new centerpiece of remembrance; it honors the community of the fallen by the community of survivors. The monument in the forefront of the park, which is framed by a small square in the middle of promenade, was a place of 10 Ibid., pp. 142 – 143. 11 Radovic´, Miodrag / Musˇovic´, Ejup: Borci novopazarskog kraja pali u NOR-u. Novi Pazar 1984, p.232. 12 Musˇic´, Ö.: ,U Srezu dezˇevskom podic´i c´e se 7 spomen-plocˇa palim borcima‘, in: BRATSTVO 16. 05. 1950, p. 3.

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Ill. 3: Monument for the fallen soldiers in the City Park in Novi Pazar ; sketch for the monuments to the fallen soldiers in the Dezˇeva county 1950; monument in 1960s, in 2010.

social rituals (holidays, anniversaries) during which homage was paid to “those who did not greet freedom with us”. Through these representative rituals, which took place for almost three decades, the monument to fallen soldiers was consistently reinforced in the collective memory.

Hotel “Vrbak”: an imaginative vision of the past Hotel “Vrbak” (Willow Grove), built in the mid-seventies of the 20th century, is one of the most impressive architectural achievements in Novi Pazar from the

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period after World War II. It was named after the eponymous restaurant from the interwar period, which was located at approximately the same place and was surrounded with willow grove. The unusual spatial structure and form as well as the distinctive position on the main square made the hotel “Vrbak” an essential focal point in the architecture of the city of Novi Pazar. Thanks to its intriguing structure, this object has achieved the position of an essential element in constructing a visual and symbolic identity of the modern urban center of Novi Pazar from its opening until today. Like most cities in the former Yugoslavia, Novi Pazar has experienced a dramatic urban transformation in the period after World War II due to changing social and ideological premises. The reshaping of the Yugoslav cities was largely based on models of international modernistic urban planning; the uncritical and dogmatic implementation of this model triggered a sharp break with traditional architecture, as well as a kind of visual uniformity in image of cities.13 After World War II, Novi Pazar had twelve thousand inhabitants, in 1961 twenty-one thousand, in 1971 thirty thousand, in 1981 forty-one thousand, and in the end of the socialist period in 1991 it had fifty-two thousand inhabitants (today it counts 125 thousand). However, the ‘urban revolution’ of Novi Pazar, which has taken place since the 1960s, avoids urbanistic uniformity and achieves a specific expression initially based in the morphology of the terrain and distinctive urban heritage, but, above all, in the unorthodox concept of the city center.14 Since its opening in 1976, the hotel “Vrbak” has been something like the crown jewel of this strategy. Hotel “Vrbak” was erected on the west side of the central city square, on the left bank of the river Rasˇka. The hotel has a free-standing structure; its composition, form and treatment are broken down into two visual and spatial elements – a restaurant and an accommodation area. The restaurant structure was positioned perpendicular to the river, while the accommodation structure is slightly rotated to correspond with the design of the surrounding buildings and streets. The position of the river Rasˇka, which flows next to the square, is used effectively and the restaurant structure was conceived as a bridge that connects the area on the right river bank with the square. The monumental acrylic dome, which arches the internal, multi-purpose and multiple-story hall, gives a strong emphasis to the entire composition of the hotel structure. Continuing within the field of socio-political semantics, the specific ‘spirit of the place’ where the hotel was built should be emphasized. While the name and 13 Piûro, Zygmut / Savic´, Milosˇ / Fisher, J. C.: ,Socialist City Planning: A Reexamination‘, in: P. Meadows, Peter / Miyruchi, Ephraim. H. (ed.): Urbanism, Urbanization, and Change. Competitive Perspectives. London 1969, pp. 553 – 565. ´ orovic´ i projekat gradskog centra u Novom Pazaru‘, in: 14 Popadic´, Milan: ,Arhitekt Amir C NOVOPAZARSKI ZBORNIK 2009/32, pp. 209 – 225.

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Ill. 4: Willow Grove at river Rasˇka, the first half of the 20th century ; Hotel “Vrbak”, built in 1976.

purpose were inherited from its predecessor, the social and visual importance of the palace was taken over from the building of the Islamic Religious Community of Novi Pazar located nearby. This building was erected in the 1930s to replace the collapsed mosque of Isa Bey Isakovic´ from the 15th century, which was supposedly the oldest building in the city, allegedly built on the foundations of an older church.15 “Vrbak” – a facility for tourist and restaurant purposes – with 15 Musˇovic´, Ejup: Etnicˇki procesi i etnicˇka struktura stanovnisˇtva Novog Pazara. Beograd 1979, p. 14.

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its intriguing structure in the manner of a radical socialist aestheticism,16 became the new iconic building in an area of traditionally sacred and symbolic space. Instead of a reflection of the complexity of cultural heritage, hotel “Vrbak” turned out to be, as some critics say, an “unfortunate accident in the urban fabric, whose continued presence is not only a chronic assault on the consciousness of the citizens of Novi Pazar, but also an aberration of that consciousness in terms of inducing a false identity”.17

City coat of arms as an expression of socialist realism In the late seventies of the 20th century, Novi Pazar finally obtained its first coat of arms after five hundred years of existence. The coat of arms of Novi Pazar is composed of a polygonal shield on which several elements are represented: the top of the shield shows the blue sky (with a five-pointed star in the header), while in the middle area there are a green three-peaked hill and two symmetrical red bastions, separated by a slender white tower. At the bottom of the tower there is a small white square and composite form consisting of a few sloping segments. The bottom of the shield is separated by the white horizontal beam that represents the road and the wavy dark-blue river, while at the very bottom on a green field (which stands for the ground/grass) there is the number 1461 and the inscription Novi Pazar. All the figures and the shield are outlined with the golden line of variable thickness.

Ill. 5: Coat of Arms of Novi Pazar in 1983 and in 2010.

16 Popadic´, Milan: ,Novi ulepsˇani svet: socijalisticˇki estetizam i arhitektura‘, in: ZBORNIK ZA LIKOVNE UMETNOSTI MATICE SRPSKE 2010/38, pp. 249 – 262. 17 Krunic´ 1994, p. 137.

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The coat of arms of Novi Pazar is not designed according to the rules of heraldry.18 However, some elements of the standard heraldic practice can be identified in its composition. Its shape is a variation of the medieval shield; also “natural figures” (the sky, the triple-hill, field/grass), “the figure of the human hand” (towers, bastions) and the number and name of the city in the function of “motto” are recognizable in the heraldic glossary. Also, the used colors (red, blue, green, white/silver, yellow/golden) are the main heraldic colors. However, the “white square” at the foot of the tower is difficult to interpret in heraldic terms, while a composite element on the right brings additional confusion. Yet as the other figures of the coat of arms can be clearly identified as a stylization of existing structures, it is certain that the “white square“, with its attributes, is the image of a certain, real object. “Natural figures” (hills, rivers) clearly show the characteristic landscape of Novi Pazar valley : the ring of hills around the city and the Rasˇka and Josˇanica river. The “Figure of the human hand” also unmistakably can be identified as bastions of the fortress of Novi Pazar, with the watchtower from the 17th/18th century inside the fortress. The “motto” at the bottom of the coat of arms, represents the year when the name of Novi Pazar was first mentioned in historical records. By means of this location of elements in the coat of arms in real space, we find the answer to the question of what the “white square” stands for. In front of a bastion, under a tower and above the river, exactly where the “white square” is positioned in the coat of arms, stands a small hydroelectric power plant, erected in 1931.19 The “white square” from the coat of arms of Novi Pazar is therefore a hydroelectric power plant. This automatically raises the question: why does this historically ‘young’ object, which is visually not dominant in space and explicitly non-heraldic, appear in a very representative place on the coat of arms? The answer lies in its symbolic, or more precisely in its ideological function. The period after World War II – colloquially the “era of reconstruction and development” – was characterized by the influence of socialist realism in Yugoslav culture and urban practice, which was directly expressed by the formula “national in form and socialist in content”. The issue of “national form”, i. e., national style, resulted in various implications, but the socialist content was undoubtedly rooted in social functions. The coat of arms of Novi Pazar also can be regarded as a reflection of this socialist realism views. The medieval shield, elements of local architecture and natural surroundings define the required national character. The use of neutral symbols of territorial and ethnic-religious elements also shows the suppression of the conflict potential of the Balkan past 18 Cf. Pastoureau, Michel: Heraldry. An Introduction to a Noble Tradition. New York 1997. 19 Radovic´, Miodrag: ,Hidroelektrana u Novom Pazaru‘, in: NOVOPAZARSKI ZBORNIK 1999/ 23, pp. 277 – 307.

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by channeling traditional national culture into the transnational or neo-national structure of the “Yugoslav nation”.20 The coat of arms of Novi Pazar in the representative terms could be functional just with these elements: the hills, river, bastions, towers and inscription are more than sufficient elements for a positive identification of this emblem as a symbol of Novi Pazar. However, it could be assumed that the addition of the hydroelectric power plant (“white square”) in the composition of the coat of arms did not have a visual purpose; its function, as already noted, was rather an ideological one. The five-pointed star in the header of the coat of arms was a too common application and therefore somewhat of a vacant symbol. A hydroelectric power plant, regardless of size, is an industrial facility that produces electricity, a symbol of strength, power, progress, and therefore the credo of socialist rhetoric. (One might say that the motive of the power plant almost directly embodies the formula used in the USSR: “industrialization + electrification = communism”.) Thus, the incorporation of the pictogram of the hydroelectric power plant in the coat of arms of Novi Pazar completes the formula of Yugoslav socialist realism. The small and humble “white square”, representing the hydroelectric power plant, directly provides the required “socialist content” in the “national character” of the coat of arms of Novi Pazar.

Conclusion: on the ruins of brotherhood and unity All three examples analyzed in this paper are still in use. The City Park is a dynamic place due to citizens’ needs for green areas in the city, but also owing to the fact that the fortress walls are occupied by restaurants frequented for nightlife and entertainment. Hotel “Vrbak” was privatized, but preserved its character as the unavoidable place for public celebrations and social gatherings. The coat of arms was only redesigned to a minimal extent. The five-pointed star was removed from the header, and today the coat of arms is more actively used than in the socialist period. It is also legally stipulated in the city statute. The park, the hotel and the coat of arms are nowadays emptied of their initial ideological meanings. However, there is no doubt that the socialist ideology of brotherhood and unity was a formative element in their creation. All three examples show a specific vision of brotherhood and unity in the city with a multiethnic and multi-confessional social structure. The park brought ‘pacification’ to the burden of the war years represented in the fortress. It transformed it into recreational space, but with a clear message of remembrance embodied in the monument to fallen soldiers. The hotel, in the visual and spatial 20 Kuljic´,Todor : Kultura sec´anja. Teorijska objasˇnjenja upotrebe prosˇlosti. Beograd 2006, p.194.

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plane, replaced projections of the complex city heritage with a non-national and pseudo-sacral imaginative vision of the past. The coat of arms has become an inert symbol of the city, emblematically suggesting values that had no ethnic or religious connotations. In other words, the park, the hotel and the coat of arms embodied the vision of brotherhood-and-unity as a supranational, trans-ethnic and non-confessional category. Yet these three examples show something else in the context of the socialist reconstruction of Novi Pazar. The park was created in the ‘preparatory’ phase of socialist development of the city, while the hotel was built in the mature and ‘demiurgic’ stage of socialism, in the 1960s and 1970s, and this stage reshaped the image of the city of Novi Pazar. The coat of arms was designed at the turn of the 1970s to the 1980s, in the phase of inertia, decline and an almost defeatist notion of socialism. Socialist ideology languished, and the vision of brotherhood-and-unity faded out with it. The socialist heritage of Novi Pazar lost its initial values and turned into ideological ruins on which the city continued to live.

Illustrations Ill. 1: Center of Novi Pazar : the first half of the 20th century, the 1960s, the 1970s, the late 20th century‘, after 2000, from: Novi Pazar i okolina, Beograd 1969, p. 281 / Milovanovic´, ´ orovic´, Amir : Detaljni urbanisticˇki plan gradskog centra u Novom Pazaru. Tomislav / C Novi Pazar 1968, not paginated / photo: Milan Popadic´. ´ orovic´, Amir : Ill. 2: City Park in Novi Pazar, the 1950s, from: Milovanovic´, Tomislav / C Detaljni urbanisticˇki plan gradskog centra u Novom Pazaru. Novi Pazar 1968, not paginated. Ill. 3: Monument for the fallen soldiers in the city park in Novi Pazar, 2010. A sketch for the monuments to the fallen soldiers in the Dezˇeva county 1950; monument in the 1960s, from: BRATSTVO 16. 05. 1950 / Novi Pazar i okolina, Beograd 1969, p. 399 / photo: Milan Popadic´ Ill. 4: Willow Grove at river Rasˇka, Hotel “Vrbak”, 1976, from: Milovanovic´, Tomislav / ´ orovic´, Amir : Detaljni urbanisticˇki plan gradskog centra u Novom Pazaru. Novi Pazar C 1968, not paginated / photo: Milan Popadic´ Ill. 5: Coat of Arms of Novi Pazar in 1983 and in 2010, 1982. From: BRATSTVO 01. 05. 1983, not paginated / Coat of Arms in Serbia: , [Access: 25. 05. 2011].

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Andrea Rehling (Mainz)

Brüder international. Jugoslawiens Welterbe als Gedächtnis der blockfreien Bewegung1

Im November 1980 präsentierte Milan Prelog, Kunsthistoriker an der Universität Zagreb und von 1976 bis 1980 Mitglied des ersten Welterbekomitees, Jugoslawien im „UNESCO Courier“ als ein „Kaleidoskop der Kulturen“. Er betonte, der Besucher des Landes werde sofort von der außergewöhnlichen Vielfalt des kulturellen Erbes überwältigt, dessen Unterteilung in eine „östliche“ und eine „westliche“ Einflusssphäre eine zu starke, ideologische Vereinfachung sei. Sie täusche über die originellen und eigenständigen Varianten von Kulturen, Zivilisationen, aber auch Formensprachen hinweg, welche Jugoslawien im Laufe der Geschichte hervorgebracht habe. Ihr Widerhall, der in einer einzigartigen Vermischung von traditionellen Formen und altem Brauchtum mit avantgardistischer Kunst und neuen Medien seinen Ausdruck finde, präge den jugoslawischen Beitrag zur gegenwärtigen gesamteuropäischen Kultur auf besondere Weise. Dieser Beitrag sei erst unter Tito durch die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien möglich geworden, die sich dem provinziellen Separatismus und der Unterdrückung kultureller Ausdrucksformen durch die Vorgängerregime in einem finalen Befreiungskampf entledigt habe. Sie habe die Bedingung für die Lösung vergangener Konflikte geschaffen und Entwicklung angestoßen. Denn erst die Gründung von sechs Teilrepubliken und zwei autonomen Regionen habe den verschiedenen ethnischen Gruppen des Landes ermöglicht, ihre jeweilige kulturelle Identität2 im Rahmen eines multinationalen

1 Ich danke der Max-Weber-Stiftung für die Unterstützung meiner Archivrecherchen durch Gerald D. Feldman-Reisebeihilfen und dem Deutschen Historischen Institut Paris darüber hinaus für ein Karl-Ferdinand-Werner Fellowship. Dem Kulturwissenschaftlichen Kolleg der Universität Konstanz verdanke ich vielfältige Anregungen, die meine Arbeit bereichert haben und die auch in diesen Text eingeflossen sind. 2 Identität ist im Kontext dieses Textes explizit keine Analysekategorie, sondern Quellensprache. Zur Analyse der unter dem Containerbegriff subsumierten Prozesse, Sinngebungen und Zuschreibungen werde ich die im jeweiligen Kontext angesprochenen, spezifischeren Kategorien verwenden; zu der Problematik des Begriffs vgl. Brubaker, Roger / Cooper, Frederick: ,Beyond ‘identity‘‘, in: THEORY AND SOCIETY 2000/29 – 1, S. 1 – 47.

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föderalen Staates auszuleben und in ihn einzubringen.3 Milan Prelog greift in seinem Text gleich mehrere Narrative auf, die einerseits die jugoslawische, staatliche Selbstinszenierung als Vertreter eines „dritten Weges“ oder gar eines „neuen Kontinents“ prägten,4 die andererseits aber auch zentrale Repräsentationselemente der Bewegung der blockfreien Staaten und der „Dritten Welt“ aufgriffen. Neben dem in verschiedenen Konstellationen auftauchenden Befreiungskampf aus kolonialer Fremdherrschaft findet sich hier die Unabhängigkeit von „Ost“ und „West“ sowie der Anspruch darauf, eine Synthese aus den beiden Lagern zu bilden und dadurch auch ein Vermittler zwischen beiden sein zu wollen. Die Schwierigkeit ein Staatswesen zu integrieren, dessen gegenwärtiges Territorium aus verschiedenen, teilweise zufälligen und willkürlichen Grenzziehungen zwischen den Einflusssphären externer Großmächte entstanden ist, findet sich in diesem Text ebenso als Topos wie die Notwendigkeit eigene, unterdrückte Traditionen und kulturelles Erbe wiederbeleben zu müssen.5 Auch deshalb engagierte sich der jugoslawische Staat schon früh im Welterbeprogramm der UNESCO. Bereits am 26. Mai 1975 ratifizierte die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien das 1972 in der UNESCO verabschiedete „Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“. Sie war damit unter den ersten zwanzig Staaten, deren Zustimmung für das Inkrafttreten des Abkommens 1976 mindestens notwendig gewesen war.6 Außerdem war sie – wie erwähnt – durch Milan Prelog im ersten Welterbekomitee vertreten,7 der dort 1979 die Bewerbung von insgesamt sechs Stätten um die Eintragung in die Welterbeliste unterstützte. Bis 1980 wurden so die Altstadt von Dubrovnik, Stari Ras und Sopoc´ani sowie das historische Zentrum von Split mit dem Diokletian Palast als Kulturerbe, der Nationalpark Plitvicer Seen und der Nationalpark Durmitor als Naturerbe sowie die Stadt und der See von Ohrid mit ihrer Umgebung als Kultur- und Naturerbe in den Kanon der Welterbestätten aufgenommen.8 3 Prelog, Milan: ,Yugoslavia: A kaleidoskope of cultures‘, in: THE UNESCO COURIER 1980/33, S. 4 – 18. 4 Zimmermann, Tanja: ,Jugoslawien als neuer Kontinent. Politische Geographie des „dritten Weges“‘, in: Jakisˇa, Miranda / Pflitsch, Andreas (Hg.): Jugoslawien – Libanon. Verhandlung von Zugehörigkeit in den Künsten fragmentierter Kulturen. Berlin 2012, S. 73 – 100. 5 Ebd.; Rubinstein, Alvin Z.: Yugoslavia and the Nonaligned World. Princeton 1970. 6 General Conference. Twenty-first Session, Belgrade 1980, Item 21 of the agenda: Report of the intergovernmental committee for the protection of the world cultural and natural heritage, 30. September 1980, UNESCO Archiv Paris, 21 C/87. 7 Intergovernmental Committee for the Protection of the World Cultural and Natural Heritage. First Session, Paris, 27 June-1 July 1977, Annex I: List of Participants, UNESCO Archiv Paris, CC-77/CONF.001/9. 8 United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization. Convention Concerning the Protection of the World Cultural and Natural Heritage. Bureau of the World Heritage Committee, Second Session, Paris 28 – 30 May 1979, Nominations of cultural and natural properties

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Es ist wenig überraschend, dass die Nominierungen dieser Stätten einem gewissen Proporz der Teilrepubliken folgte, dass sie alle mit bestimmten Aspekten der jeweiligen nationalen Erinnerungskulturen verknüpft waren und dabei aber gleichzeitig die Bedingung erfüllten, nicht die Integration einer jugoslawischen Gesamterinnerung in Frage zu stellen, sondern zu ihr beizutragen.9 Auf die Bedeutung des sozialistischen „dritten Weges“ für das kollektive Gedächtnis des Titoismus10 und auf den Stellenwert, welcher dem internationalen Engagement eines Führers der blockfreien Bewegung im nationalen Rahmen beigemessen wurde, ist in der Literatur bereits verschiedentlich hingewiesen worden. Sie ist auch im Kontext der Welterbestätten unbestreitbar.11 Ich möchte im Folgenden an diese Diagnosen anknüpfen, um von ihnen ausgehend zu zeigen, dass die jugoslawische Regierung das UNESCO Welterbeprogramm darüber hinaus auch dazu genutzt hat, um einerseits für die Gemeinschaft der blockfreien Bewegung eine „Tradition zu erfinden“12 und sich selbst andererseits gleichzeitig quasi als Vorreiter und Prototyp für die Staaten der „Dritten Welt“ in diese Tradition einzuschreiben. Aus dieser doppelten Orientierung ergab sich ein Spannungsfeld zwischen Zielsetzungen, die vor allem von jugoslawischen Interessen geprägt waren, und Rationalitäten, die einer Tradition der „Blockfreiheit“ und der mit ihr verbundenen internationalen Solidarität geschuldet waren. Beides geriet, wie oben bereits angedeutet, keinesfalls zwangsläufig in Konflikt zueinander, sondern war vielmehr in der Regel aufeinander bezogen und miteinander verwoben. Vergleichbare Konstellationen und so entstehende Wechselverhältnisse sind in der politikwissenschaftlichen und soziologischen Analyse zuletzt mit Hilfe eines methodischen Kosmopolitismus gefasst worden.13 Das Konzept, dessen Nutzen

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for inscription in the World Heritage List and Requests for technical co-operation, UNESCO Archiv Paris, CC-79/CONF.005/2. Exemplarisch: Höpken, Wolfgang: ,Vergangenheitspolitik im sozialistischen Vielvölkerstaat: Jugoslawien 1944 bis 1991‘, in: Bock, Petra / Wolfrum, Edgar (Hg.): Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen ´ oric´, Franko: ,Regime-Wechsel und Kultur-Erbe. Vergleich. Göttingen 1999, S. 210 – 246; C Zum Ansatz einer transkulturellen Geschichtsschreibung der Denkmalpflege am Beispiel von Kroatien‘, in: Falser, Michael S. / Juneja, Monica (Hg.): Kulturerbe und Denkmalpflege transkulturell. Grenzgänge zwischen Theorie und Praxis. Bielefeld 2013, S. 201 – 222. Zimmermann 2012. Sundhaussen, Holm: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Wien/Köln/Weimar 2012, S. 96 – 130; Oleszczuk, Thomas: ,The Liberalization of Dictatorship: the Titoist Lesson to the Third World‘, in: THE JOURNAL OF POLITICS 1981/43, S. 818 – 830; Pavlowitch, Stefan K.: The Improbable Survivor. Yugoslavia and its Problems 1918 – 1988. London 1988, S. 21 – 33, 112 – 128; Rubinstein 1970. Anderson, Benedict: Imagined Communities. London/New York 1983; Hobsbawm, Eric / Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge 1983. Beck, Ulrich: Der kosmopolitische Blick oder : Krieg ist Frieden. Frankfurt/M. 2004; Beck,

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seit kurzem auch für die Geschichtswissenschaft diskutiert wird,14 sollte dazu dienen, die nationalstaatliche Orientierung der Sozialwissenschaften zu transzendieren und sie so für andere globale und lokale Bezugssysteme für und von Gesellschaften zu öffnen. In diesem allgemeinen Sinne werde ich an dieses Anliegen anschließen. Gleichzeitig ist das Beispiel Jugoslawien aber auch dazu prädestiniert, aufzuzeigen, dass die verbreitete Orientierung auf den Nationalstaat als analytischer Idealtyp und Normalfall, nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und nicht nur außerhalb Europas irreführend ist.15 Es wird deshalb auch darum gehen, die oft enge analytische Verknüpfung von „kollektivem Gedächtnis“ und „kultureller Identität“ mit dem Nationalstaat oder einer spezifischen ethnischen Gruppen kritisch zu hinterfragen. Dazu werde ich zunächst darauf eingehen, wie sich Jugoslawien als unabhängige, international anerkannte, kosmopolitische Führungsmacht der blockfreien Bewegung im Welterbeprogramm präsentierte. Dann werde ich zeigen, wie Jugoslawien die globale Aufwertung multikultureller Gesellschaften zum Ziel politischer Integrationsbemühungen nutzte, um sich selbst im UNESCO Welterbeprogramm als multikulturellen Staat avant la lettre und damit als Vorreiter künftiger Entwicklung – nicht nur für die Staaten der „Dritten Welt“ – zu präsentieren.16 Als ebenso vorbildlich insbesondere für die „unterentwickelten Staaten“ apostrophierte der jugoslawische Staat die eigene Verbindung von Denkmalschutzpolitik und Nationalparkmanagement mit aktiver Entwicklungspolitik. Der Welterbetourismus versprach die Unabhängigkeit von jeglicher Form von Entwicklungshilfe und wurde damit ebenfalls zu einem spezifischen Modell blockfreier Politik erklärt, worauf ich im dritten und letzten Teil meines Textes eingehen werde. Ulrich / Sznaider, Natan: ,Unpacking cosmopolitism for the social sciences. A research agenda‘, in: THE BRITISH JOURNAL OF SOCIOLOGY 2006/57 – 1, S. 1 – 23; Delanty, Gerard: ,The cosmopolitan imagination: critical cosmopolitanism and social theory‘, in: THE BRITISH JOURNAL OF SOCIOLOGY 2006/57 – 1, S. 25 – 47; Delanty, Gerard: ,The Idea of a Cosmopolitan Europe: On the Cultural Significance of Europeanization‘, in: INTERNATIONAL REVIEW OF SOCIOLOGY 2005/15 – 3, S. 405 – 421. 14 Sluga, Glenda / Horne, Julia: ,Cosmopolitanism: Its Pasts and Practices‘, in: JOURNAL OF WORLD HISTORY 2010/21 – 3, S. 369 – 373. 15 Badie, Bertrand: The Imported State. The Westernization of the Political Order. Stanford 2000. 16 Exemplarisch: Berg, Sebastian: ,Der kurze Frühling des britischen Multikulturalismus‘, in: Metzler, Gabriele / Klöß, Sebastian / Tamme, Reet (Hg.): Das Andere denken. Repräsentation von Migration in Westeuropa und den USA im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2013, S. 35 – 56; Breidenbach, Joana / Ny†ri, P‚l: Seeing culture everywhere. From genocide to consumer habits. Seattle/London 2009, S. 156 – 218; Parekh, Bhikhu C.: Rethinking Multiculturalism. Cultural diversity and political theory. Houndmills 2006; Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Hamburg 2000, S. 9 – 28; 253 – 267; 460 – 500.

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Freiheit und Unabhängigkeit zwischen „Ost“ und „West“ Das erste „achte Weltwunder“17, das Jugoslawien für die Welterbeliste nominierte und von dem überliefert wurde, George Bernhard Shaw habe es dem Besucher als Möglichkeit, den Himmel auf Erden zu erleben, ans Herz gelegt,18 war die Altstadt von Dubrovnik.19 Ihre universale Bedeutung wurde vor allem aus der Geschichte der Republik Ragusa abgeleitet, der es gelungen war, ihre Unabhängigkeit gegen wechselnde Großmächte über mehrere Jahrhunderte bis Anfang des 19. Jahrhunderts zu bewahren.20 Ihr Banner „Libertas“ und der Bezug auf die Unveräußerlichkeit der Freiheit sowie ihre Lage im Schnittpunkt verschiedener Handelswege machte sie zu einer Verbindungsstelle und Kontaktzone zwischen dem lateinischen Westen und dem orthodoxen Osten, aber auch zwischen Christentum und Islam. Sie wurde als im positiven Sinne kosmopolitisch apostrophiert und als Kreuzung beschrieben, an der sich „West“ und „Ost“ trafen und gegenseitig, quasi als Hybridisierung der Kultur avant la lettre, bereicherten.21 Dubrovnik wurde so zum Anfang einer kosmopolitischen Geschichte Europas deklariert, die bis in die damalige Gegenwart durch die kosmopolitische Orientierung Jugoslawiens fortgeschrieben und um eine zusätzliche, dritte Perspektive bereichert werde.22 Auch in den anderen Bewerbungen Jugoslawiens um den Status Weltkulturerbe fehlt der Bezug auf die Tradition einer Kontaktzone zwischen „Ost“ und „West“ nicht – auch wenn sich wohl auch aufgrund der Liberalisierung seit den 1960er insbesondere beim serbischen Kandidaten Stari Ras und Sopoc´ani vergleichsweise stark nationale Bezüge finden.23 Der makedonische „Nationalheilige“24 St. Kliment von Ohrid dagegen wurde 17 Markov, Dmitri: ,The Flowering of Slav Culture‘, in: THE UNESCO COURIER 1979/31, S. 4. 18 Ebd. 19 World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. The Old City of Dubrovnik. Date received: 3.4.79. Identification: 95, UNESCO Archiv, CLT/ WHC/NOM 95, verfügbar unter : UNESDOC, [Zugriff: 29. 07. 2013]. 20 Ebd. 21 Vucˇo, Vuk: ,Dubrovnik. Gateway to the Latin West‘, in: THE UNESCO COURIER 1978/31, S. 44. 22 Ebd., S. 45; Für die Persistenz dieser Interpretation exemplarisch: Birnbaum, Henrik: ,Dubrovnik – a Place of Cultural Transition and Transformation‘, in: SÜDOST-FORSCHUNGEN 1995/54, S. 1 – 22. 23 World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. Stari Ras and Sopoc´ani. Date received: 3.4.79. Identification: 96, UNESCO Archiv, CLT/ WHC/NOM 96, verfügbar unter : UNESDOC, [Zugriff: 29. 07. 2013]; Kandic´, Olivera / Milosˇevic´, Desanka: Le ´ oric´ 2013, S. 215 – 216. Monastere de Sopoc´ani. Belgrad 1985; C 24 Rohdewald, Stefan: ,Sava, Ivan von Rila und Kliment von Ohrid. Heilige in nationalen Diensten Serbiens, Bulgariens und Makedoniens‘, in: Samerski, Stefan (Hg.): Die Renais-

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– von einem kleinen, relativ versteckten Seitenhieb in Richtung Serbien abgesehen – in der Bewerbung der Region Ohrids vor allem als Slawe apostrophiert. In diesem Kontext sollte diese Hervorhebung wohl vor allem der historischen Legitimierung und internationalen Anerkennung des jugoslawischen Anspruchs auf Makedonien dienen.25 Das Anliegen, eine durch langjährige Fremdherrschaft oder Okkupation vermeintlich verschüttete kulturelle Identität mit ihrer Geschichte und ihren Traditionen wiederzuentdecken, und die Strategie, mit Hilfe dieser Bezugnahmen territoriale Ansprüche zu legitimieren, waren seit den späten 1960er Jahren nicht nur bei den Staaten der blockfreien Bewegung und der „Dritten Welt“ als notwendig anerkannt und weit verbreitet.26 Die Trennung in die beiden Sphären „Ost“ und „West“, die sich in Jugoslawien schneiden und ein unabhängiges „Drittes“ hervorbringen, blieb als Topos in allen Bewerbungen stabil. Die jeweils konkreten, historischen Repräsentanten des „Ostens“ und „Westens“ wurden aber unterschiedlich gefüllt. Rom und Byzanz, Venedig und die Türken, die Slawen und die Türken bzw. das Osmanische Reich repräsentierten jeweils einen „Ost-West-Konflikt“ in unterschiedlichen Konstellationen, aber mit quasi globaler Bedeutung.27 Indem es die jeweiligen Einflüsse aufgriff, sich aber möglichst frei von Einflussnahmen hielt, beispielsweise das westlich Mediterrane mit dem Orientalischen verband, ohne einer Richtung Priorität zu geben, gelang es – so die propagierte Lesart – in den sance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert. Köln 2007, S. 182 – 217. 25 World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. The Ohrid region with its cultural and historical aspects and natural environment. Date received: 3.4.79. Identification: 99, UNESCO Archiv, CLT/WHC/NOM 99, verfügbar unter : UNESDOC, [Zugriff: 29. 07. 2013]. 26 Exemplarisch für ein ganzes Spektrum von Projekten, Debatten und Vorstößen: Hoggart, Richard: An Idea and Its Servants. UNESCO From Within. London 2011; Vansina, Jan: ,Unesco and African Historiography‘, in: HISTORY IN AFRICA 1993/20, S. 337 – 352; Mondiacult. Weltkonferenz der UNESCO über Kulturpolitik. Mexiko 1982. Dokumente. Berlin 1983; vgl. auch Maurel, Chlo¦: Histoire de l’UNESCO. Les trente premiÀres ann¦es. 1945 – 1974. Paris 2010, S. 239 – 258; Niethammer 2000. 27 World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. Stari Ras and Sopoc´ani. Date received: 3.4.79. Identification: 96, UNESCO Archiv, CLT/ WHC/NOM 96, verfügbar unter : UNESDOC, [Zugriff: 29. 07. 2013]; World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. The Ohrid region with its cultural and historical aspects and natural environment. Date received: 3.4.79. Identification: 99, UNESCO Archiv, CLT/WHC/NOM 99, verfügbar unter : UNESDOC, [Zugriff: 29. 07. 2013]; World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. The Kotor natural, cultural and historical region. Date received: 15.6.79. Identification: 125, UNESCO Archiv, CLT/WHC/NOM 125, verfübar unter : UNESDOC, [Zugriff: 29. 07. 2013].

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jeweiligen historischen Vorläufern Jugoslawiens die Kulturen und Stile zu vermischen, daraus etwas Neues zu schaffen und zu eigener kreativer Blüte zu bringen.28 Diese Tradition der Syntheseleistung eines marxistisch-dialektisch gedachten „dritten Weges“ zwischen Ost und West wurde von Vertretern des jugoslawischen Denkmalschutzes wie Vlado Madaric und Milan Prelog als historisch fortschrittlich gelesen.29 Jugoslawien und mit ihm die Bewegung der Blockfreien, so die Auffassung, führten als Vertreter des Fortschritts diese Tradition fort und schienen den Weg in eine multikulturelle Zukunft zu weisen. Der Weg in die jeweilige historische Zukunft wurde von Befreiungskämpfen aus kultureller und nationaler Marginalisierung oder Unterdrückung gegen die verschiedenen Großmächte begleitet. In der jugoslawischen Gegenwart waren diese Kämpfe aber überwunden. Sich selbst und die Bewegung der Blockfreien inszenierte Tito als Wahrer des Weltfriedens30 und „Gewissen der Welt“31. Diesem multikulturellen, kosmopolitischen Anspruch entsprechend nominierte Jugoslawien auch keine Erinnerungsorte des jugoslawischen „Volksbefreiungskampfes“32 im Zweiten Weltkrieg oder der jugoslawischen Staatsgeschichte als Weltkulturerbestätten. Sie passten in dieser Form zum einen nicht in die Selbstinszenierung auf der internationalen Bühne und zum anderen war schon früh klar, dass solche Stätten als nur von partikularem Interesse abgelehnt werden würden.33 Das bedeutete aber keineswegs, dass auf die Einschreibung des eigenen Befreiungskampfes und der Geschichte der sozialistischen Republik Jugoslawiens sowie des Titoismus verzichtet wurde. Solche Erinnerungsorte wurden als kulturelles Surplus Nominierungen für Naturerbestätten beigegeben und so gewissermaßen verdeckt zum „Erbe der Menschheit“ erklärt. Am augenfälligsten ist diese Strategie bei der Bewerbung des Nationalparks Brioni nach Titos Tod 1986.34 Aber auch in den Reiseführern zu den Plitvice Natio28 Hier nur exemplarisch für ein geläufiges Motiv : World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. The Kotor natural, cultural and historical region. Date received: 15.6.79. Identification:125, UNESCO Archiv, CLT/WHC/NOM 125, unter : UNESDOC, [Zugriff: 29. 07. 2013]. ´ oric´ 2013, S. 216. 29 Prelog 1980, S. 4 – 18, hier S. 4; C 30 Pavlowitch 1988, S. 112 – 128. 31 Zitiert nach: Heikal, Mohammed: Das Kairo-Dossier. Aus den Geheimpapieren des Gamal Abdel Nasser. Wien u. a. 1972, S. 297. 32 Zu diesem Aspekt der jugoslawischen Vergangenheitspolitik vgl. u. a. Karge, Heike: Steinerne Erinnerung – versteinerte Erinnerung? Kriegsgedenken in Jugoslawien (1947 – 1970). Wiesbaden 2010; Höpken 1999, S. 210 – 246. 33 Item 7 of the Provisional Agenda: Consideration of Nominations to the World Heritage List, World Heritage Committee, 3. Session, 23 – 27 October 1979, UNESCO Archiv, CC-79/ CONF.003/3. 34 World Heritage Convention Correspondences with Yugoslavia Part I up to 30/IX/1987, UNESCO Archiv Paris, CLT/WHC/135.

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nalparks fehlt nicht der Hinweis auf die Gedenkstätte der VI Lika Brigade35 und in der Nominierungsakte des Durmitor Nationalparks wird explizit auf die Erinnerungsstätten des „nationalen Befreiungskampfes“ hingewiesen.36 In der internationalen Inszenierung handelte es sich dabei aber um eine überwundene Vergangenheit, die zwar die Zukunft erst ermöglicht hatte, nun aber zugunsten eines kosmopolitischen, multikulturellen Aufbruchs hinter sich gelassen werden sollte. Die Kategorien kosmopolitisch und multikulturell implizierten in der jugoslawischen Außendarstellung sowohl den Anspruch auf die ungestörte Entfaltung der eigenen kulturellen Identität, als auch die Ablehnung jeder als imperialistisch gebrandmarkten Intervention in innerstaatliche Angelegenheiten. Die politische Integration der multikulturellen Gesellschaften der fortschrittlichen, jungen Staaten, als welche die Blockfreien interpretiert wurden, galt bei allem marxistischen Fortschrittsglauben nicht als unproblematisch und musste – so die Überzeugung der beteiligten Akteure – auch geschichtspolitisch gestaltet werden.

Integration und multikulturelle Gesellschaft Mohammed Heikal, ein bekannter ägyptischer Journalist und Vertrauter Gamal Abdel Nassers, kolportierte in seinem „Kairo-Dossier“ ein 1961 zwischen Nasser, Josip Broz Tito und Pandit Nehru geführtes Gespräch, in dem sich die drei über die Schwierigkeiten, ihre als extrem heterogen empfundenen Gesellschaften zu integrieren, ausgetauscht haben sollen. Heikal sah in diesen von allen „Drei Musketiere[n] auf der Weltbühne“37 geteilten Problemen ein wichtiges Fundament ihrer wechselseitigen Solidarität im Rahmen der blockfreien Bewegung. So soll Tito bei dieser Gelegenheit gesagt haben: Ich habe sieben komplizierte Probleme. Ich regiere einen Staat mit zwei Alphabeten – dem lateinischen und dem kyrillischen – wir haben drei Sprachen – Serbokroatisch, Slowenisch und Mazedonisch – und vier Religionen – Islam, Orthodoxie, Katholizismus und mosaische Religion ––, wir haben fünf Nationalitäten – Slowenen, Kroaten, Serben, Montenegriner und Mazedonier –, sechs Republiken und sieben Nachbarländer.38

35 Movcˇan, Josip: Plitvice. Zagreb 1985. 36 World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. The Durmitor National Park. Date received: 3.4.79. Identification:100, UNESCO Archiv, CLT/ WHC/NOM 100, verfügbar unter : UNESDOC, [Zugriff: 29. 07. 2013]. 37 Heikal 1972, S. 295. 38 Zitiert nach Heikal 1972, S. 295 f.

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Die heterogene Gesellschaftsstruktur wurde zunächst als massive Schwierigkeit auf dem Weg zu einem stabilen, am Modell des Nationalstaates orientierten Staatswesen gesehen. Was hier 1961 noch als Problem definiert wurde, erfuhr im Laufe der 1960er Jahre im jugoslawischen Rahmen eine fundamentale Umdeutung und wurde zu einem Potential der nach 1945 neu entstandenen Staaten erklärt. Vielfalt galt nun nicht mehr als Problem, sondern als Motor kreativer Entwicklung. Die Diagnose, die eigene Kultur sei „rückständig“, weil Jugoslawien kein Nationalstaat mit homogener Kultur sei, wurde zunehmend zurückgewiesen. Stattdessen insistierte die jugoslawische Regierung darauf, dass der jugoslawische Staat als „Vielvölkerstaat“, welcher den einzelnen Bevölkerungsgruppen Raum zur Entfaltung ihrer jeweiligen kulturellen Identität gebe, einen Reichtum kultureller Errungenschaften für sich verbuchen könne, der ihn zum progressiven Vorbild Europas und der Welt mache.39 Ein so offensiv vertretener, positiv besetzter Multikulturalismus empfahl sich aus Sicht Jugoslawiens insbesondere auch den blockfreien Staaten und sogenannten Entwicklungsländern, auf deren Situation zunehmend der Begriff „Balkanisierung“ angewendet wurde.40 Dieser Begriff war ein im europäischen Raum seit langem etabliertes Sprachbild, das so gleichzeitig abgewehrt und umgedeutet werden sollte.41 In dem bereits angesprochenen Text von Milan Prelog Yugoslavia: A kaleidoscope of cultures42 wird diese Neubewertung kultureller Heterogenität und das Bemühen, diese Sicht mit Hilfe der UNESCO weiter zu etablieren, bereits im Titel augenfällig. Eine Zielrichtung, die noch deutlicher wird, wenn er im weiteren Verlauf den Wert sich treffender und vermischender Kulturen für hochstehende zivilisatorische Errungenschaften betont. Auch die Auswahl der Welterbestätten reflektiert diese Aufwertung des „Multikulturalismus“ seit den 1970er Jahren. Die Rolle der Altstadt von Dubrovnik wurde in dieser Hinsicht bereits angesprochen. Der Diokletianpalast und Split hatten mit ihrem Bezug auf den römischen Kaiser schon im Habsburgerreich als übernationales Denkmal gedient.43 An diese Tradition wurde insofern angeschlossen, als der universale Wert der Antike zunächst unumstritten blieb. Seine Einbettung in die Stadt Split sowie seine Erhaltungsgeschichte wurden nun aber auch als maßgebliche Einflussgeber für den europäischen Städtebau interpretiert. Es wurde betont, dass sich das mittelalterliche Split in und aus den Mauern des Diokletianpalastes entwickelt habe und dadurch einerseits ein Beispiel mittelalterlicher Stadtbau39 Prelog 1980, S. 4 – 18; vgl. auch: Zimmermann 2012; Sundhaussen 2012, S. 129 – 195. 40 Exemplarisch für die Anwendung des Begriffes „Balkanisierung“ auf Afrika, vgl. Francis, David J.: Uniting Africa. Building Regional Peace and Security Systems. Aldershot 2006. 41 Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York 1997. 42 Prelog 1980. ´ oric´ 2013, S. 208 – 209. 43 C

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kunst und andererseits Träger verschiedener kultureller Einflüsse sei. Der Bezug auf Diokletian und mit ihm auf das Regierungssystem der Tetrarchie konnte als historischer Beleg für den Erfolg von Regierungsformen, welche den unterschiedlichen kulturellen Identitäten in gewissem Maße Rechnung trugen, gelesen werden.44 Expliziter sind diese Bezüge in der Bewerbung Kotors. Sein Wert als Welterbe wurde vor allem damit begründet, dass sich von dort die mediterrane Kultur über den Balkan verbreitet habe. Eine wechselvolle Geschichte aufeinanderfolgender Zivilisationen und Herrscher habe diese Gegend ebenso geprägt wie die Seefahrt. Beides habe zu zahlreichen, unterschiedlichen Einflüssen geführt, die eine Region hervorgebracht hätten, die erfüllt gewesen sei vom kreativen Geist des „Ostens“ und des „Westens“. Diese von Kotor ausgehende Verschmelzung östlicher und westlicher Kulturen habe sich von dort verbreitet und auch Kosovo, Serbien und Makedonien mitgeprägt.45 Auch hier findet sich die Vorstellung, dass dieser Kontakt, Assimilationen und Verschmelzungen etwas „Drittes“ hervorgebracht habe, das den Weg zu einer Synthese, eben einer eigenen multikulturellen Identität Jugoslawiens geebnet habe. In dieser Diagnose, eine multinationale und multikulturelle Staatsbevölkerung nicht als Nachteil oder Integrationsgefahr, sondern als Bereicherung und Gewinn zu betrachten, die durch verschiedene fremde Herrscher geprägte Vergangenheit in einen Gewinn umzumünzen und in dieser Vergangenheit sowie einem zusammen geführten Befreiungskampf die Wurzeln einer gemeinsamen multikulturellen Identität zu entdecken, beinhaltete auch einen Appell an die ehemaligen Kolonien. Sie sollten dem Beispiel Jugoslawiens folgen und die eigene Zukunft selbstbewusst gestalten, sich nicht in neue Abhängigkeiten begeben und stattdessen den Anschluss an die Bewegung der Blockfreien suchen. Ihr „dritter Weg“ – so die propagandistische Zusage – mache erst eine eigenständige, den jeweiligen kulturellen Werten und Identitäten entsprechende Entwicklung und Entfaltung möglich.46 Für Jugoslawien selbst entwickelte sich diese Aufwertung einer gruppenspezifischen, „kulturellen Identität“ bzw. eines „kulturellen Erbes“47 und das politische Ziel, ihre Entfaltung zu fördern, lang44 World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. Historical complex of Split with the Palace of Diocletian. Date received: 3.4.79. Identification: 97, UNESCO Archiv, CLT/WHC/NOM 97, verfügbar unter UNESDOC, [Zugriff: 29. 07. 2013]; Marasovic´, Tomislav : Der Diokletianpalast. Ein Weltkulturerbe Split-Kroatien. Zagreb/Split 1995. 45 World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. The Kotor natural, cultural and historical region. Date received: 15.6.79. Identification: 125, UNESCO Archiv, CLT/WHC/NOM 125, verfügbar unter : UNESDOC, [Zugriff: 29. 07. 2013]. 46 Rubinstein 1970. 47 Zu verschiedenen Implikationen eines „kulturellen Erbes“ als Kern einer „kulturellen Identität“ insbesondere seit den 1960er Jahren vgl. Willer, Stefan: ,Nachhaltige Zukunft:

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fristig zu einem innenpolitischen Problem. Denn das in den 1960er Jahren vor allem aus den „cultural studies“ belebte Konzept der „kulturellen Identität“, das in diesem Kontext vor allem der Abwehr von Diskriminierung von Minderheiten und dem Schutz ihrer Ausdrucksformen als individuelles Menschenrecht dienen sollte,48 ließ sich, essentialistisch gewendet, ohne weiteres auch von Nationalisten für ihre Zwecke instrumentalisieren.49 Der Schutz von Sprache, Tradition und kultureller Praxis als Erbe wurde so zunehmend auch zum Vorwand, vermeintlich bedrohte oder unterdrückte „nationale Identitäten“ zu verteidigen oder wiederzubeleben.50 Die damit einhergehende nationalistische Zuspitzung der Differenzierung in kollektive „Identitäten“ und „Alteritäten“51 zog den Staat Jugoslawien in einen Strudel der Desintegration, der durch den Wegfall von „Integrationsfiguren“ wie Tito nicht ausgelöst, sondern bestenfalls verstärkt wurde. Auch in dieser Hinsicht wurde der jugoslawische Staat – in diesem Fall unfreiwillig – zum Vorbild für die Erkenntnis dessen, was die Aufwertung „kultureller Identität“ als politisches Ziel eben auch bedeuten konnte.

„Entwicklung“ anstoßen und unterstützen: Welterbetourismus und Weltsolidarität Bevor diese nichtintendierten Handlungsfolgen eines multikulturellen politischen Programms aber zum Tragen kamen,52 konnte die Regierung Jugoslawien weiter als vorbildliches „Entwicklungsland“ und Protagonist einer blockfreien

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Bewegung begreifen und inszenieren.53 Zu dieser Inszenierung gehörte im Rahmen des UNESCO Welterbeprogramms auch deutlich zu machen, dass die Umsetzung der Konvention erfolgreich war, das Management der Welterbestätten als vorbildlich zu betrachten sei und es dadurch gelinge, das Entwicklungspotential, das zeitgenössisch im Welterbetourismus vermutet wurde, „nachhaltig“ zu aktivieren. Letzterer sollte so der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung in einer Art nutzbar gemacht werden, die anderen „Entwicklungsländern“ als Folie dienen können sollte.54 Mit Blick auf den Welterbetourismus und ein „nachhaltiges“ Management einer Naturerbestätte wurde insbesondere der Nationalpark Plitvice stark gemacht. Er wurde als vergleichsweise unberührte Natur und Wildnis aufgebaut, dessen Erforschungs- und Erhaltungsgeschichte auch als Beleg des Weltrangs jugoslawischer Wissenschaft zitiert wurde.55 Dieser Selbstwahrnehmung entsprechend stellte Josip Movcˇan, der Verantwortliche für den Plitvice Nationalpark, beim Weltnationalparkkongress der Weltnaturschutzunion (IUCN) 1982 seinen Park quasi als Best-PracticeBeispiel für Nationalparkmanagement in „Entwicklungsländern“ vor. Ausgehend von der Feststellung, dass sich die meisten Nationalparks in den unterentwickelten Regionen der Welt befänden, empfahl er die jugoslawische Erfah53 Zu Jugoslawiens wirtschaftlicher Rolle als „Entwicklungsland“ in den 1970er und 1980er Jahren vgl.: Woodward, Susan L.: ,Orthodoxy and Solidarity : Competing Claims and International Adjustment in Yugoslavia‘, in: INTERNATIONAL ORGANIZATION 1986/40 – 2, S. 505 – 545. 54 World Heritage Commitee. Ninth Ordinary Session, Unesco Headquarters, 2 – 6 December 1985. Report on the Implementation of the Convention on the Protection of the World Cultural and Natural Heritage Zagreb, 6 June 1985, UNESCO Archiv Paris SC.85/CONF.008/ INF.2; Rapport entre les benefices et les co˜ts des ressources touristiques. Rapports pr¦sent¦s au 32e CongrÀs de l’AIEST du 12 au 19 septembre 1982 — Zagreb, Plitvice et Zadar (Yougoslavie). St-Gall (Suisse) 1982; Zur Problematik der „Nachhaltigkeit“, „Entwicklungsökonomie“ und „-politik“, vgl.: Radkau, Joachim: ,„Nachhaltigkeit“ als Wort der Macht Reflexionen zum methodischen Wert eines umweltpolitischen Schlüsselbegriffs‘, in: Duceppe-Lamarre, Francois / Engels, Jens I. (Hg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. Environnement et pouvoir: une approche historique. München 2008, S. 131 – 136; Shepherd, Robert: ,Commodification, Culture and Tourism‘, in: TOURIST STUDIES 2002/2 – 2, S. 183 – 201; Speich, Daniel: ,Der Entwicklungsautomatismus. Ökonomisches Wissen als Heilsversprechen in der ostafrikanischen Dekolonisation‘, in: Kruke, Anja (Hg.): Dekolonisation. Prozesse und Verflechtungen 1945 – 1990. Bonn 2009, S. 183 – 212. 55 World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. Plitvice Lakes National Park. Date received: 3.4.79. Identification: 98, UNESCO Archiv Paris, CLT/WHC/NOM 98, verfügbar unter : UNESDOC, [Zugriff: 29. 07. 2013]; zu Teilaspekten des jugoslawischen Natur- und Umweltschutzes sowie den Einflussnahmen Internationaler Organisationen, vgl.: Firouzeh Roeder, Carolin: ,Slovenia’s Triglav National Park. From Imperial Borderland to National Ethnoscape‘, in: Gißibl, Bernhard / Höhler, Sabine / Kupper, Patrick (Hg.): Civilizing Nature. National Parks in Global Historical Perspective. New York/Oxford 2012, S. 240 – 255.

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rung mit Plitvice den „Entwicklungsländern“ zur Nachahmung. Denn in Plitvice sei es gelungen, die Einnahmen des Parks mit Hilfe eines effektiven Parkmanagements, verbesserter Organisation, einer systematischen Besucherkontrolle und -lenkung sowie gezielten Investitionen in touristische Infrastrukturen zu verbessern, was nicht nur dem Park, sondern der Entwicklung und dem Wohlstand einer ganzen Region genutzt habe. Heute finanziere sich der Park selbst. Durch das Besucher- und Tourismusmanagement, welches die Besucherströme der Touristenattraktion steuerte und ansprach, sei es gelungen, dass im Ergebnis nicht nur die Finanzierung des Parks, sondern auch das Einkommen der lokalen Bevölkerung des Umlandes sichergestellt wurde. Grundsätzlich sei es so möglich, Umweltschutz in den Nationalparks als Quelle für ökonomisches Wachstum nutzbar zu machen.56 Das erschien nicht nur in Josip Movcˇans Augen für andere „Entwicklungsländer“ Modellcharakter zu haben, war doch die Meinung weit verbreitet, dass es möglich sei, mit Hilfe der „weißen Industrie ohne Schornsteine“57 die Kultur- und Naturschätze der sogenannten „Entwicklungsländer“ in Wert zu setzen, also für Entwicklung nutzbar zu machen. So sollte ihre Gefährdung durch technische Großprojekte und expansive Land- und Landschaftsnutzung, die durch ein als exponentiell wahrgenommenes Bevölkerungswachstum in den sogenannten Entwicklungsländern notwendig zu sein schienen, abgewendet werden. Das vermeintliche Entwicklungspotential der „Tourismusbranche“ war zu diesem Zeitpunkt schon lange keine neue Idee mehr, sondern eine seit Beginn der 1950er Jahre auch im Kontext des Marshallplanes gebräuchliche Form der Entwicklungspolitik.58 Die damit einhergehende Kommodifizierung der Stätten, wurde zunächst nicht als Problem erlebt. Das änderte sich ebenfalls Ende der 1960er Jahre, als eine wachsende Tourismuskritik den Tourismus als „Landschaftsfresser“59 und Bedrohung für die Diversität der Weltkulturen identifizierte und den kommerziellen Seiten des Reisens zunehmend ablehnend begegnete.60 Die „Entwicklungsländer“ betonten dagegen, dass die wirtschaftliche und finanzielle Nutzbarmachung ihrer Kulturund Naturschätze durch den Tourismus, die einzige Möglichkeit sei, die Er56 Josip Movcˇan: National Park Development and its Economics. Experience from Yugoslavia, IUCN World National Parks Congress, 16 October 1982, World Heritage Convention Correspondences with Yugoslavia Part I up to 30/IX/1987, UNESCO Archiv Paris, CLT/WHC/ 135. 57 Backes, Martina / Goethe, Tina: ,Meilensteine und Fallstricke der Tourismuskritik‘, in: PERIPHERIE. ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND ÖKONOMIE IN DER DRITTEN WELT 2003/23 – 89, S. 7 – 30, hier S. 7 58 Geoffrey, Christine / Sibley, Richard (Hg.): Going Abroad. Travel, Tourism, and Migration. Cross-Cultural Perspectives on Mobility. Cambridge 2007. 59 Krippendorf, Jost: Die Landschaftsfresser. Tourismus und Erholungslandschaft – Verderben oder Segen? Bern 1975. 60 Shepherd 2002, S. 183 – 201.

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haltung der Stätten langfristig sicherzustellen. Das Konzept eines „nachhaltigen Tourismus“ versprach hier eine gangbare Lösung, Schutzmaßnahmen und Entwicklung zu verbinden. Für beides empfahl Jugoslawien den Nationalpark Plitvice als Modell. Ähnlich modellhaft für ein erfolgreiches Management von Welterbestätten präsentierte der jugoslawische Staat auch seinen Umgang mit dem Erdbeben von 1979, das vor allem Montenegro getroffen hatte. Es machte Restaurierungsarbeiten sowie dringende Erhaltungsmaßnahmen insbesondere in Kotor, aber auch in Dubrovnik notwendig.61 In der UNESCO und in Jugoslawien verstärkte es die Bemühungen um ein seismisches Frühwarnsystem auf dem Balkan62 und regte eine Debatte über Vorkehrungen für den Umgang mit Naturkatastrophen im Welterbeprogramm an, von denen einmal mehr vor allem die „Entwicklungsländer“ betroffen zu sein schienen. Der jugoslawische Fall empfahl sich wieder als Beispiel. Auch in diesem Kontext wurde auf die Geschichte und die daraus gewonnen Erfahrungen eines Umgangs mit solchen Ereignissen in Jugoslawien verwiesen, aber auch die Notwendigkeit und Tradition internationaler Solidarität apostrophiert. Im Hintergrund stand hier die internationale Rettungs- und Wiederaufbauaktion nach dem Erdbeben in Skopje von 1963, die Tito als Ausdruck von „Weltsolidarität“ gelesen wissen wollte63 und die ihre Legitimation abgesehen von allgemein internationalistischen oder kosmopolitischen Ideologemen auch aus dem Engagement Jugoslawiens für die UNESCO Kampagne zur Rettung der nubischen Altertümer in Ägypten und Sudan beziehen konnte.64 Auch 1979 rief Amadou-Mahtar M’Bow, der Generaldirektor der UNESCO eine Rettungsaktion – diesmal für Montenegro – ins Leben.65 Gleichzeitig wurde Kotor wegen der Erdbebenschäden in die Liste „Welterbe in Gefahr“ 61 World Heritage Commitee. Ninth Ordinary Session, Unesco Headquarters, 2 – 6 December 1985. Report on the Implementation of the Convention on the Protection of the World Cultural and Natural Heritage Zagreb, 6 June 1985, UNESCO Archiv Paris SC.85/CONF.008/ INF.2. 62 International Symposium Earthquake Prediction, Paris 1979, UNESCO Archiv Paris SC 79/ CONF.801/COL.2; Unesco Executive Board 110th session 1980. Study on the possibility of creating a network of seismic observation stations for the Balkans and the Mediterranean region, UNESCO Archiv Paris, 110EX/10. 63 Herold, Stephanie: ,Denkmalpflege und Denkmalkonstruktion in Skopje‘, in: Paradigmenwechsel. Ost- und Mitteleuropa im 20. Jahrhundert. Kunstgeschichte im Wandel der politischen Verhältnisse. 15. Tagung des Verbands österreichischer Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker. Wien 2009, S. 35 – 42. 64 Säve-Söderbergh, Torgny : Temples and Tombs of Ancient Nubia. The International Rescue Campaign at Abu Simbel, Philae and Other Sites. Paris 1987. 65 ,For safeguarding the cultural heritage of Montenegro devastated by an earthquake‘, appeal by Amadou-Mahtar M’Bow, Director-General of Unesco, 28 May 1979, UNESCO Archiv Paris, verfügbar unter : UNESDOC,: [Zugriff: 29. 07. 2013].

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eingetragen und wurde damit zu einer der ersten Stätten, die überhaupt in diese Liste aufgenommen wurde und damit die entsprechenden Hilfsgelder für die Erhaltung und Wiederherstellung seiner Monumente in Anspruch nehmen konnte.66 Das Management Kotors sah vor, die Region am Entwicklungsplan des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen für die südliche Adria zu beteiligen, um die Entwicklung der kulturellen und touristischen Ressourcen „nachhaltig“ voranzutreiben und so langfristig die Schäden des Erdbebens aus eigener Kraft zu beseitigen.67 Unterschwellig klang dabei immer wieder an, dass das wissenschaftliche Know-how im Grunde verfügbar sei, es sogar international als Muster zur Verfügung gestellt werden könne. Es fehle vor allem an wirtschaftlicher Potenz sowie finanziellen Mitteln, um die notwendigen Maßnahmen in die Wege zu leiten. In diesem Punkt wurde die Unterstützung der UNESCO und der internationalen Gemeinschaft nachgefragt.68 Sie in Anspruch zu nehmen, schien umso legitimer, als in den Debatten in der UN über wirtschaftliche und soziale Menschenrechte, im Programm der UNCTAD und durch die Erkenntnisse der Dependenztheorie international quasi ein Rechtsanspruch der „Dritten Welt“ auf die Kompensation ihrer ökonomischen Nachteile formuliert worden war.69

66 World Heritage Commitee. Ninth Ordinary Session, Unesco Headquarters, 2 – 6 December 1985. Report on the Implementation of the Convention on the Protection of the World Cultural and Natural Heritage Zagreb, 6 June 1985, UNESCO Archiv Paris SC.85/CONF.008/ INF.2. 67 World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. The Kotor natural, cultural and historical region. Date received: 15.06.79. Identification:125, UNESCO Archiv, CLT/WHC/NOM 125, UNESDOC, verfügbar unter : [Zugriff: 29. 07. 2013]. ˇ anak-Medic´, Milka: ,Yougoslavia/Yougoslavie‘, in: ICOMOS. A quarter of a 68 Exemplarisch: C century, achievements and future prospects. 9th ICOMOS General Assembly and International Symposium. Bern 1990, S, S. 449 – 452; Kurtovic´ Folic´, Nadja: ,Interaction between urban planning and traditionally vernacular architecture (some examples from Yugoslavia)‘, in: Old cultures in new worlds. 8th ICOMOS General Assembly and International Symposium. Programme report. Washington 1987, S. 590 – 597. 69 Rubinstein 1970; Weiß, Norman: ,Blockfreienbewegung – Einsatz für die Menschenrechte?‘, in: MRM – MenschenRechtsMagazin 2003/1, S. 17 – 25.

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Zu den für ein erfolgreiches Welterbemanagement notwendigen Maßnahmen gehörte auch, technische und ökonomische Großprojekte bzw. Infrastrukturen, welche die Erhaltung der Stätten und damit ihre touristische Nutzung in Frage stellen konnten, so zu planen, dass nach Möglichkeit keine Konflikte zwischen den Wirtschaftszweigen Industrie und Tourismus entstanden. So wurde bei der nach dem Erdbeben notwendig gewordenen erneuernden Stadtplanung überlegt, Industrieanlagen beispielsweise der chemischen Industrie aus Kotor zu verlagern und in einem Umfeld von 10 Kilometern eine geeignetere Stelle zu finden.70 Graduell wurde dabei der Tourismus mit seiner engen Verbindung zum Kultur- und Naturschutz privilegiert, galten letztere doch international auch als Ausweis eines progressiven, „reflexiven Bewusstseins“71, das der jugoslawische Staat auch in dieser Hinsicht gern für sich beanspruchen wollte. Das blieb nicht ohne Folgen, wenn die beiden Ziele jugoslawisch industriell und touristisch zu entwickeln durch die hohen Schutzanforderungen des Welterbestatus miteinander in Konflikt gerieten wie im Fall des Nationalparks Durmitor.72 Das Wasser des Flusses Tara, dessen Schlucht als europäischer Grand Canyon beworben wurde, drohte durch den geplanten Bau des „Bijeli Breg“-Wasserkraftwerkes massiv abzusinken und dadurch die „Integrität“ des Weltnaturerbes zu gefährden. Auf diese Pläne aufmerksam gemacht wurde die UNESCO und die für die Naturerbestätten verantwortliche Weltnaturschutzunion (IUCN) nicht durch die jugoslawische Regierung. Letztere war nämlich – wie viele Staaten in der Geschichte des Welterbeprogramms – zunächst nicht bereit, einen Konflikt zwischen dem Welterbestatus und den Plänen für das Kraftwerk anzuerkennen. Stattdessen wandte sich ein jugoslawischer Biologe an einem Belgrader Forschungsinstitut an die UNESCO.73 Das Schreiben wurde an die Ständige Vertretung Jugoslawiens bei der UNESCO zur Stellungnahme und an IUCN zur Überprüfung weitergeleitet.74 Letztere war aber bereits durch ein Schreiben aus dem Boris Kidricˇ Institut an ihren Vizepräsidenten Prinz Philip

70 World Heritage Commitee. Ninth Ordinary Session, Unesco Headquarters, 2 – 6 December 1985. Report on the Implementation of the Convention on the Protection of the World Cultural and Natural Heritage Zagreb, 6 June 1985, UNESCO Archiv Paris SC.85/CONF.008/ INF.2. 71 Langenohl, Andreas: ,Zweimal Reflexivität in der gegenwärtigen Sozialwissenschaft: Anmerkungen zu einer nicht geführten Debatte‘, in: FORUM QUALITATIVE SOZIALFORSCHUNG / FORUM: QUALITATIVE SOCIAL RESEARCH 2009/10 – 2, verfügbar unter : [Zugriff: 21. 07. 2013]. 72 World Heritage List. Nomination submitted by the Socialist Federal Republic of Yugoslavia. The Durmitor National Park. Date received: 03.04.79. Identification:100, UNESCO Archiv, CLT/WHC/NOM 100, verfügbar unter : UNESDOC, [Zugriff: 29. 07. 2013]. 73 Letter 18. Mai 1984, UNESCO Archiv Paris CLT/WHC/135. 74 Letter by Jane Robertson 14 June 1984, UNESCO Archiv Paris CLT/WHC/135.

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alarmiert.75 Nur wenig später meldete auch das UN Informationszentrum in Belgrad die Pläne an die UNESCO mit dem Hinweis, dass verschiedene Wissenschaftler, insbesondere Geografen und Biologen, vor der Umsetzung des Projektes warnen würden, dass die natürliche Schönheit und damit den Naturerbestatus Durmitors gefährden werde. Die Wissenschaftler würden deshalb versuchen, mit Hilfe lokaler und internationaler Medien eine internationale Öffentlichkeit gegen den Staudammbau zu mobilisieren,76 was ihnen in der Folge offensichtlich gelang – wobei ihr zivilgesellschaftliches Engagement in manchen Kontexten auch als Dissidenz und Regimekritik gelesen und unter diesen Vorzeichen begrüßt wurde.77 Die jugoslawische Regierung reagierte zunächst gar nicht, wurde dann aber aufgefordert, über den Sachverhalt bei der nächsten Sitzung des Büros des Welterbekomitees zu berichten.78 Im daraufhin zusammengestellten Report über die Implementierung des Welterbeprogramms in Jugoslawien wurde dann darauf hingewiesen, dass die Interessengemeinschaft des Nationalparks zusammen mit der jugoslawischen Öffentlichkeit eine weit beachtete Kampagne initiiert habe, um die Auswirkungen des Baus der Wasserkraftwerke von der Schlucht des Flusses Tara abzuwenden. Zu diesem Zeitpunkt sei es fast sicher, dass die Kampagne erfolgreich gewesen sei und der Nationalpark vollständig erhalten werden könne,79 womit die Sache aus Sicht der UNESCO aus der Welt geschafft war. Gleichzeitig verstanden es die jugoslawischen Vertreter, die zivilgesellschaftlichen Elemente des Protestes als Ausdruck der hohen Identifikation des jugoslawischen Volkes mit der Welterbekonvention und damit als eigenen Erfolg und „progressives Bewusstsein“ zu inszenieren.80 Dass es sich hierbei auch um einen Konflikt zwischen Konservatoren und Wirtschaftsplanern und damit zwischen verschiedenen Staatsvertretern mit verschiedenen Rationalitäten für eine erfolgreiche Entwicklungspolitik gehandelt hatte, klang nur noch zart an und wurde zugunsten des international einmal mehr vorbildlichen jugoslawischen Volkes ausgeblendet. 75 Letter by James Thorsell 20 June 1984, UNESCO Archiv Paris CLT/WHC/135. 76 Letter UN Information Centre Belgrad to UNESCO Cultural Division, Yugoslav Natural Heritage Endangered, 27 June 1984, UNESCO Archiv Paris CLT/WHC/135. 77 Diverse newspaper cuttings and declarations of support or sympathy, UNESCO Archiv Paris CLT/WHC/135. 78 UNESCO Convention Concerning the Protection of the World Cultural and Natural Heritage. World Heritage Committee Eighth Ordinary Session, Buenos Aires, Argentina, 29 October-2 November 1984, UNESCO Archiv Paris SC/84/CONF.004/9. 79 World Heritage Commitee. Ninth Ordinary Session, Unesco Headquarters, 2 – 6 December 1985. Report on the Implementation of the Convention on the Protection of the World Cultural and Natural Heritage Zagreb, 6 June 1985, UNESCO Archiv Paris SC.85/CONF.008/ INF.2. 80 UNESCO. Convention Concerning the Protection of the World Cultural and Natural Heritage. World Heritage Committee. Ninth Ordinary Session, UNESCO Headquarters, Paris 2 – 6 December 1985, UNESCO Archiv Paris SC-85/CONF.008/9.

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Resümee Abschließend lässt sich festhalten, dass die jugoslawische Regierung das Welterbeprogramm nutzte, um die eigene Position auf der internationalen Bühne weiter zu stärken und sich selbst als Führungsmacht der blockfreien Bewegung zu inszenieren. Mit Hilfe des Umweges über historische Vorläufer und aus ihnen abgeleiteter Traditionen wurde versucht, ein kollektives Gedächtnis der blockfreien Bewegung zu erfinden, so ihre Integration zu erhöhen und gleichzeitig Jugoslawien als Zukunftsgaranten und historisch legitimiertes Vorbild in diese Tradition einzuschreiben.81 Diese Zielsetzung konvergierte ohne weiteres mit der Selbstinszenierung und innenpolitischen Performanz des jugoslawischen Staates, der sich auch hier als kosmopolitischer Führer einer multikulturellen „Dritten Welt“ zwischen „Ost“ und „West“ inszenierte. Die historischen Vorbilder, deren Repräsentationen in Gestalt der Welterbestätten als globale Erinnerungsorte universalisiert wurden, schienen den dauerhaften Erfolg einer Position zwischen „Ost“ und „West“ oder zwischen den jeweiligen historischen Großmächten zu belegen. Die Position des Dazwischen garantiere die Freiheit, die eigene kulturelle Identität zu entfalten, Einflüsse aus den verschiedenen Lagern als Gewinn aufzugreifen und so für sich beanspruchen zu können, ein „Dritter Raum“ avant la lettre zu sein, dessen Syntheseleistung den eigentlichen kulturellen Fortschritt verkörpere.82 Der jugoslawische Staat inszenierte sich deshalb im Welterbeprogramm als Vorreiter einer kosmopolitischen Position zwischen „Ost“ und „West“. Außerdem apostrophierte er sich und seine eigene Geschichte als gelungenes Beispiel für die Integration eines multikulturellen Staates, dessen Grenzen und Geschichte durch wechselnde Fremdherrscher bestimmt worden war. Nationale Erinnerungsstränge mussten diesem Narrativ gegenüber noch deutlich zurücktreten. Im Vordergrund stand die Erfolgsgeschichte des jugoslawischen Staates und der historischen Zivilisationen, die er sich als seine multikulturellen, kosmopolitischen Vorläufer erkoren hatte. Gemeinsam war ihnen allen, dass sie sich in einem Befreiungskampf gegen übermächtige, fremde Herrscher hatten durchsetzen müssen. Ihre daraus gewonnene Unabhängigkeit hatte es ihnen – so 81 Zu diesem Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im „kulturellen Erbe“, vgl. Willer 2010; zum „kollektiven Gedächtnis“, vgl. Assmann, Jan: ,Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität‘, in: Assmann, Jan / Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/M. 1988, S. 9 – 19; Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999; Assmann, Aleida: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer. Köln/Weimar/Wien 1999. 82 Vorstellungen und Interpretationen, die später theoretisch weiter ausgearbeitet wurden; vgl. u. a. Bhabha, Homi K.: Nation and Narration. London 1990; Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London 1994.

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die Geschichte – jeweils ermöglicht, sich nutzbringenden Einflüssen der verschiedenen Großmächte zu öffnen, sich anzuverwandeln und zu neuer, noch größerer Blüte zu treiben. Nationalismus und Abschottung gegen andere Kulturen wurde in diesem Kontext als provinziell und fortschrittsfeindlich gebrandmarkt. Aus den Erfolgen der anderen zu lernen und sie auf die eigenen Bedürfnisse angepasst neu zu kombinieren, wurde in der Vergangenheit als Garant für „Entwicklung“ und „Fortschritt“ identifiziert. An diese vermeintlichen „Lehren aus der Vergangenheit“ sollte und wollte nicht nur Jugoslawien anknüpfen. Seine historischen Erfahrungen sollten vielmehr als Modell für die blockfreien Bewegung und die „Dritte Welt“ insgesamt herhalten. Entsprechend wurde immer wieder der Modellcharakter der jugoslawischen Erfahrung, der Nutzen sowie Mehrwert einer unabhängigen Position zwischen den Machtblöcken und seine Vorbildlichkeit betont. So sollte langfristig über die Schaffung eines transnationalen, kollektiven Gedächtnisses die Repräsentation der Blockfreien auf der internationalen Bühne verstärkt, ihre Integration als Gruppe verbessert und ihre gemeinsame Position in den internationalen Verhandlungen auch historisch legitimiert werden. Dazu war es auch notwendig, die negative Konnotation der „Balkanisierung“ in der internationalen Politik und den in der Politikwissenschaft verbreiteten Verdacht, multinationale und multikulturelle Staaten hätten grundsätzlich mit einem Integrationsproblem zu kämpfen, zu entkräften. Deshalb wurde versucht, das vermeintliche Defizit in ein Potential und einen Gewinn für die Integration und die „Entwicklung“ moderner Staaten umzudeuten. Auch diesem Ziel sollten die Welterbestätten als Repräsentationen historischer Erfahrung dienen. Indem in der Vergangenheit nicht mehr nur nach nationalen Vorläufern, sondern auch nach multinationalen bzw. multikulturellen „Vorfahren“ gefahndet wurde, deren Geschichte sich als Erfolg lesen ließ, sollte ein transnationales, kollektives Gedächtnis und damit gleichzeitig die Legitimation für multinationale, kulturell heterogene Staaten geschaffen werden. Die Geschichtsschreibung sollte so diesmal nicht in erster Linie eine nationale Aufstiegsgeschichte belegen, sondern aufzeigen, dass die Integration multikultureller Gesellschaften möglich und ein Gewinn für alle Beteiligten sein konnte. Gerade das kreative Potential, das durch die Reibung in multikulturellen Gesellschaften vermeintlich erzeugt wurde, definierten die Vertreter Jugoslawiens so zu einem Motor und dem Hauptkapital „unterentwickelter“, sehr heterogener Gesellschaften. Indem dieses Kapital in finanzschwachen, „wenig entwickelten“ Staaten nutzbar gemacht wurde, sollte „Entwicklung“ angestoßen werden. Besonders dafür geeignet schien der Welterbetourismus zu sein, der es zu erlauben schien, kulturellen und natürlichen Reichtum unmittelbar in Geld umzumünzen. Auch das schien nicht nur der optimale Weg für Jugoslawien, sondern für viele Staaten der blockfreien Bewegung zu sein. Jugoslawien in-

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szenierte sich als ihr Vorreiter auf einem an einem marxistischen Geschichtsbild orientierten, ungebrochen in eine fortschrittliche Zukunft weisenden Entwicklungspfad. Die in den 1970er Jahren international immer lauter werdende Forderung nach „Nachhaltigkeit“ wurde in das Bild einer wünschenswerten Zukunft einfach integriert und zum konstitutiven Teil einer fortschrittlichen Haltung gemacht. Im Konfliktfall, der eigentlich nicht vorgesehen war, weil per definitionem und qua Ideologie alle Interessen adäquat repräsentiert sein sollten, hatte diese internationale Selbstinszenierung immer wieder das Potential, sich gegen den jugoslawischen Staat zu wenden: So schürte die Förderung der verschiedenen „kulturellen Identitäten“ gleichzeitig nationale Ressentiments und führte zur „Wiederentdeckung“ verloren geglaubter „nationaler Identitäten“. Außerdem war es durch das uneingeschränkte Bekenntnis der jugoslawischen Regierung zum UNESCO Welterbeprogramm zivilgesellschaftlichen Akteuren möglich, gegen die Pläne der eigenen Regierung eine internationale Weltöffentlichkeit zu mobilisieren, um lokale Infrastrukturmaßnahmen oder technische Großprojekte, welche die Integrität einer Welterbestätte zu bedrohen schienen, zu verhindern. In dem explizit kosmopolitischen Programm Jugoslawiens, das zu keinem Zeitpunkt den Titoismus oder die Herrschaft der kommunistischen Partei in Frage stellte, auf der einen Seite und dem nichtintendierten Erstarken nationalistischer Tendenzen und zivilgesellschaftlicher Akteure auf der anderen Seite scheinen die Ambivalenzen des jugoslawischen Engagements für ein transnationales, kollektives Gedächtnis der blockfreien Bewegung im UNESCO Welterbeprogramm auf. Sie machen deutlich, wo die Grenzen und Potentiale für den jugoslawischen Staat lagen und zeigen gleichzeitig, dass der Blick auf ein „nationales, kulturelles Erbe“, eine „nationale Erinnerung“ und ihre enge, manchmal fast schon essentialistische Verknüpfung mit dem „nation-building“ nicht nur im jugoslawischen Fall an manchen Punkten zu kurz greifen.

Literatur Anderson, Benedict: Imagined Communities. London/New York 1983. Appadurai, Arjun: Die Geographie des Zorns. Frankfurt/M. 2009. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. Assmann, Aleida: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer. Köln/Weimar/Wien 1999. Assmann, Jan: ,Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität‘, in: Assmann, Jan / Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/M. 1988, S. 9 – 19. Backes, Martina / Goethe, Tina: ,Meilensteine und Fallstricke der Tourismuskritik‘, in:

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Dmitri Zakharine (Konstanz)

Vom christlichen osculum pacis zum sozialistischen Bruderkuss. Kollektive Identitätsbildung in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg

Politische Verbrüderungsrituale in Osteuropa Anhand der Auszüge aus sowjetischen Wochenschau- und Tagesschauchroniken verfolgten verwunderte und ratlose Fernsehzuschauer im Westen in den 1950er bis 1990er Jahren, wie russische, ostdeutsche, polnische, tschechische, rumänische, jugoslawische und bulgarische Staatsführer einander mit einem Bruderkuss begrüßten. Über die Großaufnahmen mit atemberaubenden Umarmungen und Lippenberührungen hinaus füllten umständliche Titulaturen wie „Führer des verbrüderten Volkes“, bunte Epitheta und floskelhafte Versatzstücke des sozialistischen Parteijargons wie zum Beispiel „in der Atmosphäre der unzerstörbaren brüderlichen Freundschaft“ die damaligen Fernsehberichte. Nikita ChrusˇcˇÚvs Treffen mit dem chinesischen Führer Mao Tse-tung in Peking (1959), Leonid Brezˇnevs Empfang beim polnischen Parteichef Gierek in Warschau (1973), die Verhandlungen zwischen Jurij Andropov und dem Generalsekretär der SED Erich Honecker in Moskau (1982), der Besuch des bulgarischen ˇ ernenko in Moskau (1984) (Abb. 1), Staatschefs Todor Zˇivkov bei Konstantin C Michail Gorbacˇovs letzte Visite beim rumänischen Staatsleiter Nicolae Ceaus¸escu in Bukarest (1990) und dutzende ähnliche Treffen wurden in den offiziellen Protokollauszügen konsequent als Zusammenkünfte der Brüder dargestellt.1 1 Vgl. die Voice-Over-Stimme des Kommentators im Fernsehbericht (1973): „Iz Varsˇavy vysokij sovetskij gost’ pribyl v Berlin. Na aerodrome Sˇenefel’d Leonida Il’icˇa Brezˇneva serdecˇno, pobratski privetstvovali Pervyj sekretar ZK Sozialisticˇeskoj Edinoj Partii Germanii Predsedatel’ Soveta Ministrov GDR Willi Schtof […] V atmosfere bratskoj druzˇby i polnogo edinodusˇija prochodili vstrecˇi i besedy General’nogo sekretarja ZK KPSS tovarisˇcˇa Brezˇneva s Pervym sekretarem ZK sozialisticˇeskoj edinoj partii Germanii tovarisˇcˇem Chonekkerom. Obe storony podcˇerknuli nepreklonnuju resˇimost’ krepit’ i uglubljat’ nerusˇimoe bratstvo mezˇdu SSSR i GDR“ (Setkina, I.: Novosti dnja, 1973/18, ZSDF. Archiv RGAKFD, Chiffre 26547, 47). Vgl. die Voice-Over-Stimme des Kommentators im Fernsehbericht (1984): „V Moskve v obstanovke serdecˇnosti i bratskoj druzˇby sostojalas’ vstrecˇa General’nogo sekretarja ZK KPSS Preˇ ernenko s Genedsedatelja presidiuma Verchovnogo Soveta SSSR Konstantina Ustinovicˇa C ral’nym sekretarem ZK Bolgarskoj Kommunisticˇeskoj Partii Predsedatelem Gossoveta Nar-

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ˇ ernenko und Todor Zˇivkov in Moskau, 1984 Abb. 1: Das Treffen zwischen Konstantin C

Bis heute sind die Semantik, die sozial-historischen Wurzeln und die medialen Formate des politischen Verbrüderungsrituals kaum erschlossen. Die überlieferten Deutungsversuche lassen zwei komplementäre Herangehensweisen an das Problem der Verbrüderung erkennen. Die erste Herangehensweise impliziert eine medienwissenschaftliche Reflexion darüber, dass Massenmedien eine Überlappung der öffentlichen und der privaten Sphäre nicht nur symbolisch anzeigen, sondern auch praktisch bewirken. Am Beispiel der mittelalterlichen Narrenzüge zeigte schon Michail Bachtin, wie die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Unter- und Oberschicht über das Medium der Maskierung vorübergehend unsichtbar gemacht werden können. Hierarchien und Abstände werden in der Wahrnehmung der Beteiligten getilgt, sobald das Massenmedium Karneval den Eindruck einer quasi-familiären Gleichheit erzeugt.2 Die Deutung der Verbrüderung in den Termini einer medial übermittelten Inszenierung gewinnt ihre Aktualität im Hinblick auf das Integrationspotential von Mediendemokratien, in denen politische Akteure fast täglich mit der Aufgabe um die ungewisse Zustimmung des Publikums ringen. Mit dem Fernsehen stand im Westen wie im Osten seit den 1950er Jahren erstmals in der Geschichte ein Massenmedium zur Verfügung, das durch seine Allgegenwart in den häus-

odnoj Respubliki Bolgarii Todorom Zˇivkovym, nachodjacˇsˇimsja v sovetskoj stolice s kratkim druzˇestvennym visitom“ (Andreewa, A.: ,Chronika nasˇich dnej‘, 1984/23. Archive RGAKFD, Chiffre 29747). 2 Vgl. Bachtin, Michail: Rabelais and His World. Indiana 2009, S. 147.

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lichen Lebenswelten fortwährend dichteste Realitätsillusionen erzeugte.3 Dem Begriff „Verbrüderung“ in der Bedeutung einer Form konventioneller politischer Selbstpräsentation ist zugutezuhalten, dass er fernsehgesteuerte Mediendemokratien im Osten wie im Westen Europas als Phänomene gleichen massenmedialen Ursprungs nebeneinander stehen lässt. Denn egal, „ob Adenauers Boccia-Spiel, Kohls Saumagen oder Schröders Cousinen, die Suggestion, Politiker seien Menschen, […] trübt den Blick für die realen Einfluss- und Gestaltungschancen, indem sie bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Hierarchien und Privilegien für den Moment außer Kraft zu setzen und egalitäre Beziehungen herzustellen scheint“.4 Sieht man jedoch von medienwissenschaftlichen Argumenten ab, so sinkt die Deutung der Verbrüderung als Medienstrategie (im engeren Sinn: als Fernsehinszenierung) ins Beliebige, sofern sie die sozialen und religiösen Aspekte der Brüderlichkeitssymbolik im osteuropäischen Kulturkontext außer Acht lässt. Die zweite Herangehensweise, die im Folgenden zum Tragen kommt, ist die der Sozialstrukturanalyse. Für soziale Strukturen, die fortdauernd eine Tendenz zur Umwandlung in Sippen, Familienverbände, Brüdergemeinden aufweisen, sind unscharfe und unstetige Institutionalisierungsprozesse kennzeichnend. Ganz allgemein handelt es sich bei der Verbrüderung im sozialstrukturellen Sinn um eine fehlende Verfestigung sozialer Verhaltensmuster zu Normen-, Rollenund Statusbeziehungen. Dementsprechend sollte nach den Bedingungen gefragt werden, unter denen inszenierte Brüdergemeinden in den gesamtgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang der ehemaligen Sowjetunion integriert wurden.5 Im vorliegenden Beitrag soll sowohl der medienwissenschaftlichen Perspektive auf die Gesellschaft als auch der soziologischen Perspektive auf die Massenmedien Rechnung getragen werden. Dementsprechend wird hier die Verbrüderung erstens in der Funktion einer medialen Inszenierung und zweitens in der Bedeutung einer sozialen Kommunikationsstruktur gedeutet. Der Aufsatz leistet einen Beitrag zur Erschließung und Einbeziehung medialer Quellen in das Verstehen kollektiver Identitätsbildung im Osten Europas.6 3 Vgl. Meyer, Thomas: Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch das Mediensystem. Frankfurt/M. 2001. 4 Vgl. Hoinle, Marcus: ,Ernst ist das Leben, heiter die Politik. Lachen und Karneval als Wesensmerkmale des Politischen, Politik und Zeitgeschichte‘, verfügbar unter : [Zugriff: 17. 07. 2013]. 5 Vgl. Mangott, Gerhard: Bürden auferlegter Unabhängigkeit. Neue Staaten im post-sowjetischen Zentralasien. Wien 1996; Gebauer, Niko: Osteuropaforschung – 15 Jahre „danach“. Beiträge für die 14. Tagung Junger Osteuropa-Experten. Bremen 2006. 6 Videodokumente werden im Folgenden anhand der Chiffren des Russischen Archivs für Kino-und Fotodokumente (RGAKFD) zitiert. Die Szenen der politischen Begrüßungen sind

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Die Struktur des politischen Verbrüderungsrituals Anhand einer Analyse der Wochenschau- und Tagesschauchroniken kann man feststellen, wie die Machtvertreter der sozialistischen Staatengemeinschaft seit den 1950er Jahren des 20. Jahrhunderts mehr und mehr dem Initiationsritus der Verbrüderung unterlagen. Das beiderseitig erwartete kommunikative Handlungsschema lag beim Bruderkuss in den 1950er Jahren anscheinend noch nicht ausgearbeitet vor.7 Die spontane Offenherzigkeit, die von sowjetischen Parteifunktionären vor der Kamera demonstriert wurde, kam in nicht geübten, geradezu bäuerlich wirkenden Gesten zum Ausdruck. Auf den Bruderkuss reagierten die osteuropäischen und asiatischen Kommunikationspartner anfänglich zögernd. Für Politiker war es nicht immer klar, ob sich die Sowjetunion für die kommunistischen Regierungen Asiens oder vielmehr gegenüber den USA öffnen wird. Die Kameras waren unfähig, die große Verhaltensunsicherheit, die auf beiden Seiten an den Tag gelegt wurde, zu verschleiern. Eine solche Unsicherheit ließ sich zum Beispiel während ChrusˇcˇÚvs Besuchs in China (1959) spüren: Beim Abschied kam es nicht zur gewohnten Umarmung zwischen den Leitern der zwei größten kommunistischen Parteien der Welt: ChrusˇcˇÚv und Mao Tse-tung drückten sich vor der Kamera die Hände.8 Der wahre Grund der Abkühlung blieb über viele Jahre hinweg unklar. Laut den vor kurzem veröffentlichten Berichten, erlaubte sich damals ChrusˇcˇÚv, der sich durch den warmen Empfang in den USA gehoben fühlte, einige kritische Äußerungen bezüglich des indischchinesischen Konflikts und der Verhaftung amerikanischer Bürger in China. Mao Tse-tung erwiderte, dass ChrusˇcˇÚvs Kritik an ein „unerlaubtes Benehmen des Vaters gegenüber dem Sohn“ erinnere.9 von mir anhand der sowjetischen Wochen- und Tagesschauberichte wie Novosti dnja, Chronika nasˇich dnej usw. analysiert worden. Die Analyse bezieht sich im Wesentlichen auf die Filmchroniken aus dem Archiv für Kino- und Fotodokumente, mit den folgenden Signaturen: 15520; 15611 – 5; 15679 – 1; 15679 – 2; 18304; 18529; 21257 – 1; 24135 – 1; 24204 – 1; 24204 – 2; 25667; 25887; 26250 – 6; 26547; 26759 – 6; 27182; 27184; 27197; 27560; 27607; 27759; 27809 – 2; 27926; 28659 – 2; 29203 – 2; 29362; 29649 – 1; 29649 – 2; 29671 – 1; 29671 – 2; 29747 30257; 30259; 30586. 7 Darauf verweisen sämtliche Begrüßungsszenen aus der Regierungszeit von ChrusˇcˇÚv, so z. B. die Szene, als dieser den chinesischen Führer Mao Tse Tung (1959) umarmt. Vgl. Novosti dnja, 1959/40, Chiffre 18304. Vgl. die Zusammenfassung der Szene: „Kitaj. Chronika. Gorod Pekin. Narod na plosˇcˇadi. Na tribune Mao Zse-dun. (1949 g.) Stroitel’stvo plotiny. Promysˇlennye predprijatija Kitaja. Zˇensˇcˇiny s det’mi prochodjat po ulizam goroda. Deti sagorajut. N. S. ChrusˇcˇÚv obnimaet Mao-Zse-Duna.“ 8 Vgl. den Dokumentarfilm: Ovanesova, A.: ,Na prazdnike nasˇich druzej‘, 1959. Chiffre 15480. Vgl. die Zusammenfassung: „Mao Zse-Dun i N.S. ChrusˇcˇÚv zˇmut drug drugu ruki“. 9 Vgl. John Gittings: „Elated by his warm reception in the US, Khrushchev failed to grasp Beijing’s fear that China would be isolated by a detente between the two superpowers. Mao

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Während die nonverbalen Mechanismen der Kommunikationsabsicherung in den 1950er und 1960er Jahren noch nicht ausgearbeitet vorlagen, so wurde in den 1970er Jahren auf verschiedenen Regierungsebenen ein sichtbarer Fortschritt in der Bewältigung der doppelten Kontingenz der interpersönlichen Kommunikation erreicht. Das kommunikative Schema des Bruderkusses scheint sich im Laufe der 1970er Jahre während der Besuche Leonid Brezˇnevs in der DDR, der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn, vor dem Hintergrund der Etablierung von festen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, endgültig stabilisiert zu haben. Das Ritual der Verbrüderung reflektierte die Entstehung des Blocks der osteuropäischen Staaten (i. e. des Ostblocks), der sich gegenüber dem Westen abgrenzte. Anhand der Wochen- und Tagesschauen kann man die typische Struktur des eingeführten Verbrüderungsrituals wie folgt rekonstruieren. Beim Aussteigen aus dem Flugzeug hat der sowjetische Parteileiter die Umarmung durch gespreizte Hände angedeutet. Verfolgt man die Kameraführung ganz genau, so kann man erkennen, dass die darauf folgenden Küsse von osteuropäischen Kommunikationspartnern erwartet und gestisch vorweggenommen werden. Dementsprechend spreizt z. B. auch Erich Honecker leicht die Arme, sobald er Leonid Brezˇnev (1973) die Flugzeugtreppe heruntersteigen sieht. Gleich nach dem Verlassen des Flugzeugs kommt es zu einer symmetrischen Annäherung und zum Händeschütteln, wobei bei der Begrüßung im Durchschnitt mehr als fünfzehn Schüttelbewegungen in einer Sequenz oder zwei Sequenzen fixiert werden können. Nach dem einführenden Händeschütteln kommt es zur Umarmung, die meist mit einem dreimaligen Wangenkuss gekrönt wird.10 Die Begrüßungen der ostdeutschen Parteileiter weisen in den Chroniken ein bezeichnendes Ausmaß an proxemischer Annäherung auf, wobei hier nicht nur der Wangen-, sondern auch der enge Lippenkontakt zum Tragen kommt. Während eines Empfangsgesprächs legte Walter Ulbricht seine Hand auf Brezˇnevs Schulterblatt und streichelte ihn zärtlich am Rücken.11 deeply resented the Soviet assumption of superiority towards China, which he described as the unacceptable behaviour of ,a father towards his son‘“ (Gittings, John: ,The day Khrushchev and Chairman Mao saw red. Spitting images mark the end of the Sino-Soviet alliance‘, in: THE GUARDIAN 27. 11. 2001, verfügbar unter : , [Zugriff: 10. 10. 2013]. 10 Vgl. die Treffen Brezˇnevs mit dem polnischen Parteichef Gierek in Warschau 1973 (Novosti dnja, 1973/8, Chiffre 26547), mit dem Generalsekretär der SED Erich Honecker in Berlin 1973 (Druzˇeskij visit L. I. Brezˇneva v GDR, Chiffre 24204) und in Moskau 1974 (Novosti dnja, 1974/ 23), seine Treffen mit dem jugoslawischen Staatsleiter Josif Tito 1976 (Druzˇestvennyj visit L. I. Brezˇneva v Jugoslaviju, Chiffre 25554), mit dem rumänischen Staatsleiter Nikolau Ceaus¸escu 1976 (Novosti dnja, 1976/45, Chiffre 27607) und mit dem tschechischen Parteichef Gustav Gusak 1982 (Novosti dnja, 1982/22, Chiffre 29362). 11 Vgl. Druzˇeskij visit L. I. Brezˇneva v GDR (1973), Chiffre: 24204.

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In den politischen Wochenschauberichten wiederholte sich als Kommentar zu Szenen mit dem Bruderkuss am häufigsten der Satz: Genosse X habe den Genossen Y „warm und brüderlich“ bzw. „herzlich und brüderlich“ begrüßt. Kennzeichnend dafür sind auch weitere feste Formeln aus dem sowjetischen Empfangszeremoniell, die eine Aufnahme in die Familie der sozialistischen Staaten symbolisierten, beispielsweise Wendungen wie „unerschütterliche Brüderlichkeit“, „vollständige Einmütigkeit“, „brüderliche Freundschaft“ usw. Die Verwandlung eines spontanen Brauchs in ein Zeremoniell mit festgelegtem Ablauf lässt sich an der Kodifizierung und wiederholten Reproduktion von diversen Begrüßungshandlungen beobachten. Das kollektive Urteil der Gemeinschaft über technisch gelungene wie technisch misslungene Begrüßungsrituale wurde zunehmend an quantitativen Kriterien ausgerichtet. Die Anzahl von gezeigten Umarmungen, die Anzahl der vom Fernsehsprecher ausgesprochenen Titulierungen stieg rasant um die Mitte der 1970er Jahre, wobei die Struktur des Voice-Over-Kommentars immer weniger Abweichungen von den oben genannten Standardformeln zuließ. So wurde bei einer Vorstellung sowjetischer Staatsleiter eine statusneutrale Anrede „Genosse“ (russ. tovarisˇcˇ), dann der Vorname (Konstantin), der Vatersname (Ustinovicˇ), der Familienname ˇ ernenko), der Titel bzw. der Platz in der Parteihierarchie (General’nyj se(C kretar’ CK KPSS – Generalsekretär des Zentralen Komitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion) und schließlich die Amtsposition (Predsedatel’ Prezidiuma Verchovnogo Soveta SSSR / Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion) immer vollständig ausgesprochen.

Das Format des politischen Verbrüderungsrituals Die Analyse der sowjetischen Tagesschauen lässt schlussfolgern, dass das Verbrüderungsritual erst dank des Tonbilds Eingang in die Öffentlichkeit fand. Das Fernsehen schuf die Illusion einer Distanzverkürzung zwischen den Machtinhabern und den entmündigten sowjetischen Bürgern. Mit Kaviar und Vodka feierte die elektronisch vernetzte Gemeinschaft die Gleichheit im Konsum, die von nun an auch osteuropäische Nachbarn der Sowjetunion zu teilen schienen. Kennzeichnenderweise wurden Szenen mit Bruderkuss in den 1970er Jahren weder in Bronze gesetzt noch in Stein gemeißelt. Sie waren auf das familiarisierende elektronische Medium fokussiert. Wie keine anderen reflektieren die Titel der sowjetischen Tages- und Wochenschauen die Idee der Brüderlichkeit, die über bewegliche Tonbilder in die Öffentlichkeit kolportiert wurde.12 Das 12 S. Gurov, Zur Ehre der brüderlichen Freundschaft (V cˇest’ bratskoj druzˇby, 1952, Chiffre 14818); K. Piskarev, Danke für die brüderliche Hilfe (Spasibo sa bratskuju pomosˇcˇ‘, 1952,

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Adjektiv „brüderlich“, appliziert auf die kollektivsowjetische Wahrnehmung von politischen Verbündeten, legt den Fokus auf die Überbringung einer Friedensbotschaft. Dieses Motiv wird durch die Bilder der Grenzüberschreitung geprägt. Die Handlung spielt in der Regel am Flughafen, sprich dort, wo sich der gewohnte und der ungewohnte Alltag, das Eigene und das Fremde kreuzen. Die Kamera verfolgt die Bewegungsrichtung des Mediums, mit dem der Überbringer der Friedensbotschaft transportiert wird: die des Flugzeugs. Assoziiert sich der Überbringer der Friedensbotschaft in der christlichen Ikonografie mit dem Engel, so liegt es auf der Hand, dass das Flugzeug mit der Taube assoziiert werden soll. Die weiße Taube aus Metall wird dabei öfters schon im Himmel während der Landung gezeigt, was einen bestimmten Aufnahmewinkel der Kamera voraussetzt. Fast in allen genannten Filmen wurde der Kontakt mit dem Überbringer der Friedensbotschaft als körperlicher Kontakt inszeniert. In der Regel wurde der Akzent auf die Darstellung der Begrüßungssituation oder die Situation des Abschiedsnehmens gesetzt. In den beiden Arten von Szenen kommen Gesten zum Tragen, welche die Situation der Fremdwahrnehmung transzendieren. Der Bote aus der fremden Welt wird in den Bildern nicht auf Distanz gesetzt, sondern sofort ans Herz gedrückt. Nicht nur die Begrüßungszeremonie, sondern auch die Zeremonie der Ordensauszeichnung, bei der das Herz des Gegenübers ins Bild rückt, wurde in den analysierten Tagesschauen seriell reproduziert. Chiffre 17899); I. Venzˇer / D. Kaspij, Die brüderliche Freundschaft (Bratskaja druzˇba, 1958, Chiffre 10922); V. Esˇurin, Die Boten des brüderlichen Korea (Poslancy bratskoj Korei, 1961, Chiffre 17008); V. Bojkov, Unzerstörbare brüderliche Freundschaft (Nerusˇimaja bratskaja druzˇba, 1961, Chiffre 19813); V. Kiselev / S. Kiselev, Auf dem Boden des brüderlichen Bulgariens (Na zemle bratskoj Bolgarii, 1962, Chiffre 18150); L. Varlamov, Die Boten des brüderlichen Ungarns (Poslancy bratskoj Vengrii, 1962, Chiffre 19914); E. Salkind / B. Nebylickij, Die große Stärke der Freundschaft und Brüderlichkeit (Velikaja sila druzˇby i bratstva, 1963, Chiffre 19073); S. Tulub’eva, Wir sind mit Euch, Brüder Kubaner (My s vami, brat’ja kubincy, 1963, Chiffre 18417); V. Bojkov, Die Brüderlichkeit für ewig (Bratstvo na veka, 1965, Chiffre 19695); I. Venzˇer, Auf dem Boden der brüderlichen Mongolei (Na zemle bratskoj Mongolii, 1966, Chiffre 20190); M. Gavrilova, Die Freundschaft der Brudervölker (Druzˇba bratskich narodov, 1970, Chiffre 25381); A. Voroncov, Gäste aus der brüderlichen Mongolei (Gosti iz bratskoj Mongolii, 1970, Chiffre 25478); I. Setkina, Gutherzigkeit und Gastfreundschaft des brüderlichen Ungarns (Serdecˇnost’ i radusˇcˇie bratskoj Vengrii, 1973, Chiffre 24200); E. Vermisˇeva, Auf dem Fest [in] der brüderlichen Tschechoslowakei (Na prazdnike bratskoj Cˇechoslovakii, 1973, Chiffre 26629); E. Vermisˇeva, Auf dem Fest im brüderlichen Bulgarien (Na prazdnike v bratskoj Bolgarii, 1974, Chiffre 24678); V. Katanjan, Budapest. Das brüderliche Treffen (Budapesˇt: bratskaja vstrecˇa, 1979, Chiffre 26211); G. Burasˇeva, Im Namen der brüderlichen Freundschaft (Vo imja bratskoj druzˇby, 1982, Chiffre 29429); J. Gresin, Die Leiter der brüderlichen Parteien werden mit Orden ausgezeichnet (Vrucˇenie nagrad rukovoditeljam bratskich partij, 1986, Chiffre 236451986); G. Burasˇeva, UdSSR-Polen: die brüderliche Freundschaft verfestigt sich (SSSR-Pol’sˇa: krepnet bratskaja druzˇba, 1986, Chiffre 31238); O. Arceulov, Der Weg der brüderlichen Freundschaft und Kooperation (Dorogoj bratskoj druzˇby i sotrudnicˇestva, 1987, Chiffre 23456).

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Fragt man nach der Gruppengemeinsamkeit, die im Zusammenhang der seriellen Reproduktion der Brüderlichkeitssymbolik relevant erscheint, so lässt sich feststellen, dass die größte Gebrüder-Gruppe von Leitern der kommunistischen Parteien Osteuropas (der DDR, der Tschechoslowakei, Bulgariens, Ungarns, Polens, Tschechiens, sporadisch Jugoslawiens), Lateinamerikas (Brasiliens, Argentiniens) und Asiens (Chinas, Vietnams, Nordkoreas, der Mongolei, dem Irak, und sporadisch auch Indiens und der Republik Bangladesch, etc.) gebildet wurde. Insbesondere in den späten 1980er Jahren, als die Krise des Warschauer Blocks offensichtlich wurde, hat man versucht, die „kommunistischen“ Parteien der sogenannten Drittweltländer ins politische Verbrüderungsritual zu integrieren. Über die Charakterisierung der brüderlichen kommunistischen Parteien hinaus, konnte das Adjektiv „brüderlich“ auf die ,verbrüderten‘ slawischen Völker hindeuten. Eine solche Vorstellung hatte eine gewisse Tradition. Sie ließ sich sowohl von Juraj Krizˇanic´s Konzept des Panslawischen im 17. Jahrhundert als auch vom Konzept der russisch-südslawischen Brüderlichkeit (Russen und Serben bzw. Bulgaren) – Brüder „für ewig“ (russ. brat’ja navek) der Zeit der Balkankriege Ende des 19. Jahrhunderts ableiten. Die Beteiligung der jugoslawischen und polnischen Partisanen an der Widerstandsbewegung gegen die deutsche Wehrmacht 1939 – 1945 hat darüber hinaus ganz wesentlich zur Festigung der politischen Bindungen zwischen der UdSSR und den benachbarten slawischen Staaten in der Nachkriegszeit beigetragen. Letztendlich spielte die antifaschistische Legitimation der DDR-Eliten eine wichtige Rolle bei der Zuweisung von Brüderlichkeitsattributen. Walter Ulbricht, der Leonid Brezˇnev im vorhin zitierten Filmfragment am Rücken streichelt, kehrte erst 1945 aus dem sowjetischen Exil nach Berlin zurück. Über das Medium der Filmchroniken wurde die sowjetische offizielle Haltung gegenüber den deutschen Antifaschisten auf der Personenebene aufrechterhalten, worauf die brüderlichen Küsse zwischen Ulbricht bzw. Honecker und Brezˇnev hindeuten. Allerdings ist die Erwähnung eines „brüderlichen deutschen Volkes“ in den Chroniken kaum belegt. In Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkriegs war die Zuweisung des Attributs „brüderlich“ an den DDR-Staat (brüderliche DDR) über offizielle Kanäle nur teilweise erlaubt. Anders als die westlichen Staatsoberhäupter (z. B. Willy Brandt 1970 in Moskau), die während der Begrüßungsszenen aus der Ferne in ihrer Gesamtgröße (,medium long shot‘) dargestellt werden, werden die Repräsentanten des Warschauer Pakts, wie Leonid Brezˇnev, Erich Honecker, Gustav Hus‚k, Edward Gierek, J‚nos K‚d‚r, Josip Broz Tito und Todor Zˇivkov in den sowjetischen Filmchroniken bevorzugt mit halbnahen (close shot) und großen (close up) Kameraeinstellungen gefilmt. Solche Nahaufnahmen, auf denen nur Kopf und Brust zu sehen sind und die Gefühlsregungen aus nächster Nähe präsentiert

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werden, wirken emotionaler als totale Bildausschnitte. Der Effekt der Konfrontation – nach der Beobachtung von Bela Bal‚zs, ist es bekanntlich schwerer „ins Angesicht zu lügen“ – kam im Medium der Dokumentarchronik die Gegenüberstellung des ,fernen‘ Westens und des ideologisch ,nahen‘ Osteuropas zum Tragen. In einer mehr als dreißig Sekunden dauernden Szene, in der Brezˇnev einen Kuss-Abschied von der Parteiführung der DDR am Flughafen Schönefeld nimmt (Der freundschaftliche Besuch Brezˇnevs in der DDR, 1973)13 wechselt die Kamera von der halbtotalen zur halbnahen Einstellung, sobald die Paare Willy Stoph und Leonid Brezˇnev bzw. Erich Honecker und Leonid Brezˇnev ins Visier rücken, danach wieder von der halbnahen Einstellung zur Großaufnahme, sobald Brezˇnev allein die Flugzeugtreppe emporsteigt. Der leidenschaftliche Gesichtsausdruck des sowjetischen Führers, der von der Kamera bildfüllend von unten (mit dem blauen Himmel im Hintergrund) verfolgt wird, wirkt demaskierend und höchst emotional, was eine christologische Deutung der Figur als „heiliger Geist“ oder „auferstandener Jesus“ ikonografisch nahelegen soll.

Das Verbrüderungsritual und die Gemeinschaftsgrenzen Durch Rituale des Händeschüttelns und des Bruderkusses wurden die Grenzen zwischen sozialistischen und kapitalistischen Wertegemeinschaften symbolisch angezeigt. Wurden ostdeutsche, polnische, tschechische, ungarische und bulgarische Staatsführer mit einem langen Händeschütteln in Kombination mit einer Umarmung und einem Bruderkuss begrüßt, so war die Anwendung sparsamer, symmetrisch angelegter und partnerschaftlich anmutender Begrüßungstechniken, wie der kurze sachliche Händedruck (hand-shake), für die Kommunikation mit den westlichen Kommunikationspartnern typisch. Vertreter der Entwicklungsländer (z. B. des Iraks) und die Vertreter der am Kalten Krieg nicht beteiligten westlichen Regierungen (z. B. der finnischen) wurden im sowjetischen Fernsehen zumeist mit einem Händedruck in Verbindung mit einem Schulterklopfen oder einer leichten Berührung des Oberkörpers empfangen. Der Händedruck als Form der gegenseitigen Begrüßung mit westlichen Machtrepräsentanten vollzog sich zumeist bei ausgestreckten Armen, die auf Distanzen ideologischer Art hindeuteten. Drei bis sechs Schüttelbewegungen in einer Sequenz oder zwei Sequenzen galten als Norm und gehörten zum Protokoll. Im Hinblick auf diese kurze Begrüßungsform seien Vertreter der deutschen 13 Vgl. Druzˇeskij visit L. I. Brezˇneva v GDR (1973), Regie: J. Monglovskij, Kamera: I. Filatov, A. Istomin, Chiffre 24204.

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Linke als Ausnahme erwähnt, wobei der Händedruck zwischen Willy Brandt und dem sowjetischen Staatsleiter Gorbacˇov bei dessen Besuch in Bonn (1989) etwa sechzehn Schüttelbewegungen aufweist. In den folgenden unten aufgelisteten Fernsehberichten kommt der respektvolle, nicht familiär, sondern partnerschaftlich anmutende Händedruck zum Tragen.14 Die durch die sowjetischen Nachkriegsmedien verbreitete Vorstellung von der Familie sozialistischer Bruderstaaten zielte ganz offensichtlich darauf ab, zur Bildung einer kollektiven Identität auf den von der Sowjetunion besetzten Territorien Osteuropas beizutragen. Die Neuziehung von Gemeinschaftsgrenzen implizierte die Ausgrenzung ideologischer Gegner und die Kanonisierung integrationsstiftender Rituale. Beim Bruderkuss handelte es sich um einen Versuch, den Militärverbund des Warschauer Paktes zu einer familienähnlichen Brüdergemeinde zu stilisieren. Bekanntlich grenzt sich jede Familie vom Rest der Welt dadurch ab, dass sie den kommerziellen Tausch ablehnt bzw. mit den transzendentalen Normen der Liebe und der Moral schmückt. Als eine nichtkalkulierbare Wertrelation trat der Bruderkuss dementsprechend als ein symbolisches Analogon zur Beförderung im Sinne einer Lohnerhöhung auf. Durchaus symptomatisch erscheint mir in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass der Bruderkuss nicht nur im Ausland, sondern auch im sowjetischen Russland selbst als Zeichen der Herrscherloyalität im Gebrauch war. Es sind meist „Helden der Arbeit“, „Helden des Krieges“ oder „Helden des Kosmos“ gewesen, die vom Herrscher in der Öffentlichkeit umarmt und geküsst wurden. So wurden die erfolgreichen Kolchosdirektoren Mogil’cˇenko (1961)15 und Dovzˇik16 vom Staatsleiter ChrusˇcˇÚv vor der Kamera mit einem Bruderkuss ausgezeichnet. In einer weiteren Szene (1976) küsst Brezˇnev den ersten Kosmonauten Gagarin.17 Um die identitätsstiftende Rolle des Bruderkusses noch näher dokumentieren zu können, muss auf die semantischen Konnotationen verwiesen werden, die 14 Das Treffen zwischen ChrusˇcˇÚv und Konrad Adenauer in Moskau 1955; das Treffen zwischen Brezˇnev und General De Gaulle in Moskau 1966; das Treffen zwischen Brezˇnev und dem Bundeskanzler Willy Brandt in Moskau 1970; das Treffen zwischen Brezˇnev und Brandt in Bonn 1973; das Treffen zwischen Brezˇnev und dem Bundeskanzler Helmut Schmidt in Bonn 1973; das Treffen zwischen Brezˇnev und dem Präsidenten der USA Nixon in Moskau 1972; das Treffen zwischen Brezˇnev und dem kanadischen Premierminister Trudeau in Moskau 1971; das Treffen zwischen dem sowjetischen Staatschef Gorbacˇov und dem Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn 1989 usw. 15 Vgl. N. S. ChrusˇcˇÚv na poljach Kubani, Dona i Ukrainy (1961), Chiffre 17011. Vgl. die Zusammenfassung der Filmszene: „ChrusˇcˇÚv celuet predsedatelja arteli Mogil’cˇenko, znakomitsja s kompleksom zernouborocˇnych masˇin.“ 16 Vgl. Michail Dovzˇik (1961), Chiffre 19710. Vgl. die Zusammenfassung der Filmszene: „Gorod Moskva. 1961 god. 22 s”ezdKPSS. M. Dovzˇik v cˇisle drugich delegatov, vrucˇaet N. S. ChrusˇcˇÚvu chleb-sol’. N. S. ChrusˇcˇÚv obnimaet i celuet M. Dovzˇika.“ 17 Vgl. ,Povest’ o kommuniste‘, Drehbuch von Zamjatin, 1976, Chiffre 25560 – 5.

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dieser Geste aus der westlichen, systemexternen Blickperspektive zukamen. Da im Westen ein anderer Höflichkeitsstandard und andere Vorstellungen von der körperlichen Integrität einer Person galten, wurde der Kuss bei politischen Begrüßungen zumeist als eine aufdringliche Machtgeste abgelehnt und als bedrohlich empfunden. So ist es kennzeichnend, dass das Bild, auf dem der amerikanische Präsident Carter von Brezˇnev nach der Unterzeichnung des Abrüstungsabkommens geküsst wird, in den USA und zum Teil auch in Deutschland eine Welle von ironischen Kommentaren und Protesten ausgelöst hat (Abb. 2).18

Abb. 2: Das Treffen zwischen Leonid Brezˇnev und Jimmy Carter, in: DER SPIEGEL 34, 14. Januar 1980.

Eine quasi religiöse Semantik der Verbrüderung als einer transzendental gesetzten Friedensgeste kommt in dem von Brezˇnev leise geflüsterten Spruch „Gott wird es uns nicht verzeihen, wenn wir scheitern“ zum Ausdruck. Der Außenminister Gromyko mischte sich daraufhin sofort ein, um den Verstoß gegen die atheistische Weltvorstellung spielerisch zu vertuschen. „Ja, Gott, dieser Bursche da oben“, kommentierte er mit lauter Stimme. Es darf nicht wundern, dass der amerikanische Präsident Carter die transzendentale Versöhnungssemantik des Abrüstungsabkommens aufgegriffen hat: Brezˇnevs Satz 18 Vgl. einen Kommentar zur Kussszene in der Time vom 25. Juni 1979, S. 9: „After signing, Carter and Brezhnev impulsively embrace and kiss each other on the cheek. After the climatic moment, the Senate’s hawks were organized and ready to fight“.

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ist von ihm aufgeschrieben und wiederholt worden. Im Nachhinein betrachtet, könnte der ominöse Bruderkuss von Brezˇnev bei den Amerikanern Assoziationen mit dem Judas-Kuss hervorgerufen haben.19 Nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan galt die Geste sodann als Symbol für den Anfang des Kalten Krieges.20 Obwohl Machtvertreter der sozialistischen Staatengemeinschaft seit den 1950er Jahren des 20. Jahrhunderts mehr und mehr dem Initiationsritus der Verbrüderung unterlagen, ist der genuin russische Ursprung der Brüderlichkeitsrhetorik der osteuropäischen Öffentlichkeit anscheinend immer bewusst gewesen. Obwohl die russische Wortwurzel „brat“ zum indogermanischen Basiswortschatz gehört und in vielen slawischen Sprachen in der Bedeutung eines bestimmten Verwandtschaftsgrades (dt. Bruder) vorkommt, wurden das russische Substantiv „bratstvo“ (dt. Brüderlichkeit) und das Adjektiv „bratskij“ (dt. brüderlich) de facto sehr unterschiedlich in die anderen slawischen Sprachen übersetzt. In den offiziellen tschechoslowakischen Medien der Nachkriegszeit kommt ˇ eskoslovenskoder Ausdruck „tschechoslowakisch-sowjetische Freundschaft“ (C ˇ ˇ sovetsk¦ pr‚telstv†) anstatt der Redewendung „tschechoslowakisch-sowjetische ˇ eskoslovensko-soveˇtsk¦ bratrstv†) vor, wobei das tschechische Brüderlichkeit“ (C Lexem „bratrstvo“ fast ausschließlich im Kontext der religiösen Brüdergemeinde auftaucht. Anders, als das Russische, sperrte sich generell das Tschechische, so der Eindruck, gegen die Übertragung des transzendentalen Konzepts einer Völkerbruderschaft auf die gesellschaftliche Kommunikation. Solche Ausdrücke, wie „Liebe zum brüderlichen Sowjetvolk“ tauchten zwar in der kommunistischen Tageszeitung Rud¦ pr‚vo (dt. Rotes Recht) ebenfalls auf, jedoch assoziierten sie sich in der ganzen sozialistischen Periode weniger mit sprachlichen Eigenbildungen als vielmehr mit Lehnübersetzungen aus dem Russischen.21 Ähnlich tauchten die Redewendungen „brüderliche Freundschaft“ und „Brüderlichkeit“ im offiziellen Polnischen fast ausschließlich in solchen Kontexten, in denen die Beziehung zur Sowjetunion angesprochen wurde, auf. So haben sich im Rahmen des polnischen Parteijargons die Worthülsen wie „die Bruderschaft der Völker unter der Führung der UdSSR“ (poln. Braterstwo ludûw pod przewodem ZSRR) oder „Solidarität und brüderliche Freundschaft mit der 19 Vgl. „He [Brezˇnev] was followed by Carter, who talked from several pages of notes handwritten on yellow legal paper. Among them was a sentence he had noted on hearing Brezhnev utter it the day before: „God will not forgive us if we fail“ (TIME 1979, S. 9). 20 Vgl. das Titelblatt des Spiegels, auf dem die Kussepisode zwischen Carter und Brezˇnev abgebildet ist, zusammen mit der Unterschrift: „Afghanistan: Ende einer Illusion. Stoppt Carter die Russen?“ (DER SPIEGEL 1980/34, S. 9). 21 Vgl. Rudé právo, 07. 11. 1951: „Mohutn‚ manifestace veˇrnosti a l‚sky cˇeskoslovensk¦ho lidu k bratrsk¦mu Soveˇtsk¦mu svazu.“

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UdSSR und anderen sozialistischen Staaten“ (poln. solidarnos´c´ i braterska przyjaz´n´ z ZSRR i innymi pan´stwami socjalistycznymi) etabliert. Viel weniger als die westslawischen Sprachen verweigerte sich das Serbokroatische dem breiteren Gebrauch des Ausdrucks „brüderliche Freundschaft“. Die Redewendung, die sich in vielen Kontexten als eine wörtliche Übersetzung von lat. amicitia fraterna verstehen lässt, spielte, ähnlich wie im Fall des Russischen, auf die Neutralisierung von Differenzen ethnischer, sozialer und religiöser Art an (serb.-kroat. bratsko prijateljstvo srba i rusa). Eine solche Neutralisierung implizierte die Familiarisierung von Gemeinschaftsgrenzen als Leistung des Politisch-Imaginären.

Die Dynamik des politischen Verbrüderungsrituals Die Art der Darstellung von Brüderküssen in sowjetischen Tagesschauen der 1980er Jahre erweckt den Eindruck, dass die Symbolik der Brüderlichkeit zu dieser Zeit nicht mehr ausreichte, um die Familie sozialistischer Staaten zusammenzuhalten. Allerdings bleibt es nicht zu bestreiten, dass es den Symbolen inhärent ist, die flüchtige Gegenwart zu überdauern und demnach dokumentieren zu können. Nur einen Monat vor seiner Erschießung – so Bednarz – sei der kurz davor im Stich gelassene rumänische Parteichef Nicolae Ceaus¸escu von Michail Gorbacˇov mit einem Bruderkuss begrüßt worden.22 Das oftmalige Vorzeigen der Distanzordnung in den Fernsehberichten der 1980er Jahre mag implizit auf die Ablösung des ritualisierten Brauchs durch ein formales Zeremoniell verweisen. Im Zusammenhang mit der Normierung könnte es auch zu einer fortschreitenden Bagatellisierung des Bruderkusses gekommen sein, die sich vermutlich hinter den Kulissen auch für die unmittelbaren Teilnehmer am Ritual vollzog. Wie viele Aufnahmen aus den 1980er Jahren zeigen, wurde der Akzent bei Inszenierungen der persönlichen Kommunikation zwischen Oberhäuptern des Ostblocks nicht mehr in erster Linie auf die gegenseitige Annäherung und Ausstrahlung der Warmherzigkeit, sondern auf den genauen Ablauf des zeremoniellen Protokolls gelegt. Es wird beispielsweise beim Treffen zwischen Erich Honecker und Jurij Andropov (1983) gezeigt, wie ersterer nach dem Aussteigen aus dem Flugzeug mehr als fünfzehn Schritte in Richtung des neuen Moskauer Regierungschefs Andropov macht, um diesem einen Bruderkuss auf die Wange setzen zu dürfen (Abb. 3).23 22 Vgl. Bednarz, Klaus: Michael Gorbatschow, sein Leben, seine Ideen, seine Visionen. Hamburg 1990, S. 1 – 80. 23 Vgl. Kocˇetkov, A.: SSSR – GDR – edinstvu krepnut’, 1983, Chiffre 29649.

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Abb. 3: Das Treffen zwischen Erich Honecker und Jurij Andropov in Moskau, 1983.

ˇ ernenko (13. 02. 1984 – 10. 03. In der kurzen Regierungszeit von Konstantin C 1985) wurde das Aufzeigen von großen menschenleeren Bodenflächen, die auf Distanz zwischen Kommunikationspartnern anspielen, in den Medien noch beliebter. Bei den staatlichen Empfängen, so beispielsweise des bulgarischen Staatschefs Zˇivkov, verfolgte die Kamera mit langatmiger Gründlichkeit, wie die Beteiligten langsam durch den Raum wandern, bevor sie das zu umarmende Gegenüber erreichen.24 Die Entleerung des Verbrüderungsrituals darf nicht allein auf den gescheiterten Wettbewerb mit den westlichen Demokratien zurückgeführt werden. Vielmehr könnte ein solcher Niedergang in den Termini der hegelschen Dialektik als „spiralartige Transformation“ und in der Terminologie der Chicagoer Schule als „ökologische Sukzession“ definiert werden. Problemgenerierende Strukturen initiieren diesem Gesetz zufolge einen Prozess, der in mehrere parallele Richtungen verläuft. Dabei entwickeln sich neben den Prozessstrukturen, welche die Problemlösung ermöglichen, auch andere, die die ursprünglichen Prozessstrukturen unterminieren und zum Ausfall des ursprünglichen Inputsystems führen. Das am besten bekannte soziologische Beispiel, welches dieses Gesetz illustriert, entstammt dem historischen Materialismus von Marx. Soziale Klassen schaffen sukzessive Bedingungen, die neue Klassen bevorteilen und damit, auf lange Sicht gesehen, das eigene Überleben verhindern. ˇ ernenko, der 24 Vgl. Chronika nasˇich dnej, 1984/23, Chiffre 29747. Die Behinderung von C schlecht laufen konnte, verstärkt noch den Eindruck einer körperlichen Distanzierung zwischen den unterschiedlichen Staatsoberhäuptern Osteuropas. Sogar die politisch engagierten Kamerateams konnten bzw. wollten die Distanz nicht mehr vertuschen.

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Um die Mitte der 1980er Jahre wurde der Personenverband der alten Kommunisten und Kriegsveteranen, die sich den Bruderkuss als Integrationsritual angeeignet hatten, zunehmend konturlos. Die Struktur des Warschauer Pakts geriet in Unordnung, die Beziehungen zwischen alten regimetreuen Verbündeten, dem sowjetischen Zentrum und den jungen politischen Eliten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas wurden immer brüchiger. Schon infolge des Preisverfalls für sowjetisches Erdöl und aufgrund einer drohenden Ressourcenknappheit stießen sowohl sozialistische Integrationsbemühungen als auch die Konfrontation mit dem Westen an harte Grenzen.

Historische Wurzeln des politischen Verbrüderungsrituals Die Umarmungen und Bruderküsse, die in den 1950er bis 1990er Jahren für die Schaffung symbolischer Grenzen zwischen den sogenannten sozialistischen und kapitalistischen Weltgemeinschaften instrumentalisiert wurden, entstanden nicht ad hoc. Vielmehr bezogen sie sich auf eine lange Tradition von diplomatischen Begegnungen, bei denen verschiedene Formen des Umgangs mit dem Fremden über Jahrhunderte hinweg erprobt wurden. Trotz der atheistischen Schulung in der Sowjetunion wurden in den Handlungen der kommunistischen Parteileiter Vorstellungen manifest, die offensichtlich tief in den traditionellen Bauernkulturen der Ukraine und Russlands verwurzelt waren. Das sowjetische Verbrüderungsritual enthielt die Semantik des Einschlusses, die in vielen traditionellen Kulturen mit einer symbolischen Wiederherstellung primordialer Verwandtschaftsbeziehungen korreliert ist. ,Gleichheit‘ wird dabei kraft der ,gleichen‘ Zugehörigkeit zur Großfamilie bzw. zur christlichen Gemeinde hergestellt. Als Beispiel dafür konnte der brüderliche Friedenskuss dienen, das osculum fidei et pacis, das für die mittelalterlichen Praktiken des Friedensschlusses kennzeichnend war. In Gesellschaften, in denen die kommunikative Erreichbarkeit wenigen miteinander versippten Geschlechtern vorbehalten blieb, wurden die Symbole ,primordialer‘ Verwandtschaft in der Regel auch verrechtlicht.25 Dass mit dem Bruderkuss im Mittelalter das Recht auf Zugehörigkeit erteilt wurde, beweist die Behandlung von Exkommunizierten: 25 Vgl.: „Wenn die Chronisten des 9. Jahrhunderts über Zusammenkünfte von Königen und Fürsten berichten, wird mit solchen Begriffen wie fraterne, ,brüderlich‘ und amicabiliter, ,freundschaftlich‘ ein beidseitiger Anspruch auf eine konfliktlose, gleichheitsbetonte Kommunikation artikuliert. Von den Treffen der Söhne Ludwigs des Frommen wird in diesem Sinn berichtet, dass sie sich brüderlich aufnahmen […]. Zu der ersten Begegnung Ottos des Großen mit Ludwig IV. 942 heißt es, dass sie sich amicabiliter empfingen“ (Voss, Ingrid: Herrschertreffen im frühen und hohen Mittelalter. Köln 1987, S. 134 – 136).

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Diesen sollten neben dem Friedenskuss auch die Tischgesellschaft, die Anrede, die Begrüßungsworte und das Umgangsgespräch verweigert werden.26 Die Semantik der Gleichstellung durch rituelle Aufnahme wurde schon in der Antike durch den Friedenskuss und durch eine Umarmung übermittelt: So fraternisieren laut Tacitus römische Soldaten, unbehindert durch ihre Waffen.27 Offensichtlich bestand die symbolische Funktion der öffentlichen Umarmung vorwiegend in der medialen Repräsentation männlicher Gemeinschaftsformen. Zu solchen zählten europaweit insbesondere die Militär-, Bildungs- und Klostergemeinschaften. Im rechtlichen Zusammenhang des frühen Mittelalters tauchte die Umarmung meist als Begleitgeste zu einem Friedenskuss auf, worin sich ein Friedensschluss oder die Versöhnungsabsicht zweier Herrscher manifestierte.28 Der rechtliche Akt des Friedensschlusses wurde in den diplomatischen Protokollen des Mittleralters vorwiegend mit dem Verb „küssen“ (osculare) und vermutlich auch mit der entsprechenden Körperhandlung identifiziert.29 In der Neuzeit wurde die Umarmung im Westen durch eher distanzbetonte Gesten, wie Verbeugung und Hutabnahme ersetzt. Im Unterschied zu Westeuropa ist die Umarmung als Geste der männlichen Fraternisierung im Zusammenhang des Moskauer Hofzeremoniells des 15. bis 17. Jahrhundert relativ häufig belegt. Darauf verweisen insbesondere die Berichte derjenigen Ausländer, denen durch den russischen Zaren bzw. durch die Bojaren eine willkommene bzw. unwillkommene Umarmung entgegengebracht worden ist: So berichtet Contarini 1476, er sei von den Bojaren nach der Audienz beim Moskauer Großfürsten Ivan III. während des Abschiednehmens „umarmt worden“ (fui abbracciato). Da diese Geste für das westliche diplomatische Zeremoniell offensichtlich nicht üblich war, hatte sie den Jesuiten Antonio Possevino 1587 stutzig gemacht. Als der päpstliche Legat am Ende seiner Audienz den Zaren Ivan IV. um einen Handkuss bat, habe der Zar auf diese Bitte wie folgt geantwortet: „Nicht nur gebe ich Dir meine Hand, sondern ich will dich auch umarmen (te amplectar)“. Ivan IV. sei dabei „zur großen

26 Vgl.: „In quinque maxime vitandi sunt excommunicati, videlicet in mensa, oratione, salutatione osculo pacis et in colloquio“ (Summa de confessione des Petrus von Poitiers (um 1200), zit. nach Fuhrmann, Horst: ,„Willkommen und Abschied“. Über die Begrüßungs- und Abschiedsrituale im Mittelalter‘, in: Hartmann, Wilfried: Mittelalter. Annäherungen an eine fremde Zeit. Regensburg 1993, S. 111 – 139, hier S. 118. 27 Vgl. Sittl, Karl: Die Gebärden der Griechen und Römer. 1890 Leipzig, S. 32. 28 So umarmen und küssen Kaiser Heinrich II. und der französische König Robert II. sich gegenseitig (nimioque amplexu semet deosculantes) (vgl. Voss 1987, S. 140). 29 Vgl. Kolb: „Die Begrüßung besteht bereits in frühmittelalterlicher Zeit aus einem Kuss […], später auch aus Umarmung, Heben der Kopfbedeckung, einem Knicks, beziehungsweise Verbeugung […]“ (Kolb, Werner : Herrscherbegegnungen im Mittelalter. Bern/Frankfurt/M. u. a. 1988, S. 26).

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Verwunderung der Anwesenden“ aufgestanden und habe Antonio zweimal ganz in seine Arme geschlossen (bis totis ulnis amplexus).30 Auf die Verschärfung der Einstellungen zur öffentlichen Umarmung an den westlichen Höfen der Frühen Neuzeit weisen insbesondere die überlieferten Russlandbeschreibungen aus dem 17. Jahrhundert hin. So unterstellt Reutenfels (1680) den Russen mangelnde Zivilisation aufgrund des Umarmungsrituals. „Wenn Russen eine freundschaftliche Liebe bezeugen wollen,“ schreibt er, „so küssen sie sich gegenseitig am Kopf oder sie drücken sich bei der Umarmung fest an die Brust (reciproco brachiorum amplexu pectora coniungunt)“.31 Offensichtlich handelte es sich auch bei diesem Bericht um eine Begrüßung unter Männern, die aus Sicht des außenstehenden Berichterstatters auf unfeine Art in der Öffentlichkeit zu fraternisieren pflegten. Nach den Reformen Peters I. Anfang des 18. Jahrhunderts fand eine neue, bürokratisch organisierte Distanzordnung ihren Eingang ins Zeremoniell des russischen Hofes. Fast in allen überlieferten Ausländerberichten dieser Zeit werden distanzbetonte höfische Reverenzen im Sinne einer Erneuerung des moskowitischen Hofzeremoniells thematisiert. Trotz der beschriebenen Formalisierungstendenz, die ein Element der Körperdistanzierung mit sich führte, hat die Umarmung ihre Beziehung zu den vormodernen, familiengebundenen sozialen Organisationsformen allem Anschein nach auf Dauer aufrechterhalten können. Dementsprechend wurde die Vermittlung einer Stelle im Staatsapparat von den Beteiligten als Akt einer persönlichen Begünstigung wahrgenommen. Dabei umarmte der Gönner seinen Proteg¦ und beglückwünschte ihn nicht etwa mit einem Händedruck, wie es bei einem formalen Rechtsverfahren der Fall gewesen wäre. So berichtet ein Zeitgenosse 1721, er sei nach seiner Ernennung zum Militärattach¦ (wofür er sich beim Zaren „weinend“ und „kniend“ bedankt gehabt habe) von seinem Gönner und Berater umarmt worden.32 Ausgehend von diesem und ähnlichen Berichten muss man annehmen, dass die Rechtskommunikation trotz einer von oben initiierten Bürokratisierung der russischen 30 Vgl.: „Non solum, inquit, manum tibi tradam, verum etiam te amplectar Itaque assurgens, bis totis ulnis, magna cum astantium admiratione, amplexus Antonium“ (Possevino, Antonio: Antoni Possevini societatis Iesu, Moscovia, Et, Alia Opera […] In officina Birckmanica. Westmead 1970, S. 35). 31 Vgl.: „Sin amici amorem significare mutuum velint, capitibus invicem oscula insignunt, aut reciproco brachiorum amplexu pectora coniungunt“ (Reutenfels, Jakob: De rebus moschoviticis. Padua 1680, S. 189; vgl. auch in der russ. Übersetzung: Rejtenfel’s, Jakov : ,Skazanija o Moskovii‘, in: Rode, Andrej / Mejerberg, Avgustin / Kollins, Samujel / Rejtenfel’s, Jakov : Utverzˇdenie dinastii. Moskva 1997, S. 231 – 407, hier 351). 32 Vgl.: „Blagotvoritel’ moj Grigorij Petrovicˇ menja obnjal i celoval ot radosti; a ja ne mogu emu promolvit’ ni slova“ (Nepljuev, Ivan: ,1725 – 1765. Zapiski‘, in: Sˇachovskoj, Jakov P. / Nasˇcˇokin, Vasilij A. / Nepljuev, Ivan I.: Imperija posle Petra (1725 – 1765). Moskva 1998, S. 385 – 449, hier S. 420).

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Verwaltung auch nach den Petrinischen Reformen stark an den familiären Beziehungen innerhalb des herrschaftlichen Personenverbandes orientiert blieb. Im späten 18. Jahrhundert wurde die vormoderne Verbrüderungsgeste durch das importierte bildungsbürgerliche Konzept der fraternit¦ überdeckt. Diese Kontamination der altrussischen und französischen Etikette ist in Romanen des 19. Jahrhunderts, deren Thema die nationale Identitätsstiftung ist, reichlich belegt. In Tolstojs Krieg und Frieden begrüßen sich kultivierte russische Offiziere immer wieder durch eine Umarmung, häufig in Verbindung mit einem Kuss. Man umarmt sich lachend, oft mit einem dreimaligen Kuss. Wird man von Militärfreunden umarmt, so hat man das Gefühl, man sei von den Familienmitgliedern, von der Mutter, vom Vater oder von der Schwester umarmt worden. Der Heerleiter umarmt einen Offizier wie seinen eigenen Sohn. Desgleichen fraternisieren russische Gefangene mit den Kosaken nach ihrer Befreiung; schließlich umarmt auch der Zar Alexander I. den Heeresleiter Kutuzov, wobei dieser aufschluchzt. Die Begrüßungsrituale in Krieg und Frieden legen die Vermutung nahe, dass familiäre Hierarchien im Russland des 19. Jahrhunderts auf die sozialen Gemeinschaftsformen noch weitgehend projiziert wurden. Dabei stand der Zar als Familienältester ganz oben, der Heeresleiter befand sich (als Sohn) unter ihm. Dementsprechend nahmen Offiziere und Soldaten einander als Brüder wahr, was durch fraternisierende Gesten nach außen vermittelt wurde. Ähnlich wie die Umarmung und anders als beispielsweise der hand-shake symbolisiert der Wangenkuss außerhalb des privaten Familienbereichs eine Art soziale Gleichstellung, die sich über die Symbole einer Familiengemeinschaft konstituiert. Über die Begrüßungssemantik hinaus trug der Wangenkuss vorwiegend die Bedeutung des Friedensschlusses oder der Friedensbestätigung (osculum pacis). Die gleiche ritualisierte Semantik kam auch dem Mundkuss zu. Da eine Politisierung der Blutsverwandtschaft innerhalb der Familie im Mittelalter meist mit einer Familiarisierung der Politik einherging, kann man einen zwischen Familienmitgliedern üblichen Begrüßungskuss nicht immer scharf von einem Begrüßungskuss im zeremoniellen Kontext der Fürstentreffen unterscheiden.33 Desgleichen ist im Hinblick auf den Kuss festzustellen, dass seine Funktionen der Begrüßung, des Vertragsabschlusses, der Übertragung von Rechten und der Geschenkübergabe sich in den mittelalterlichen Quellen ständig überlappen.34 33 Nachdem beispielsweise Karl VI. und Richard II. (1366) sich mit einer Umarmung und einem Friedenskuss (seseque amplexando cum pacis osculo) begrüßt hatten, begrüßte Richard II. die siebenjährige Tochter Karls VI. ebenfalls mit einem Friedenskuss und einer zärtlichen Umarmung in der Anwesenheit des Vaters (eam cum pacis osculo dulciter amplexatus est in patris presencia) (zit. nach Kolb 1988, S. 23). 34 Auf die beschriebenen Funktionen des Kusses macht Ch¦non, Emile: ,Le rúle juridique de

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Eine zunehmende Reglementierung und Ritualisierung des Kusses in der Funktion des Grußes hat sich vermutlich vorwiegend in der frühchristlichen Periode vollzogen. Für diese Zeit sind Praktiken des Friedens- und Bruderkusses (osculum pacis) zwischen Unbekannten35 in den kirchlichen Räumen,36 aber auch außerhalb der Kirche belegt. Das Ritual des Bruderkusses bezieht sich nach einer weitverbreiteten Meinung auf eine Regel, die der Apostel Paulus den Gläubigen ans Herz gelegt hat: „Begrüßet einander mit dem heiligen Kuss (Salutate invicem in osculo sancto)“.37 Man kann jedoch ebenso behaupten, dass sich die rechtlich-protokollarische Symbolkraft, die dem Kuss nicht nur im normierten kirchlichen, sondern auch im weltlichen Kommunikationsraum des Mittelalters zukam, aus der Struktur der vormodernen Personenverbände ergab. Darin waren Sinngrenzen vorwiegend von der sensorisch wahrnehmbaren Interaktion bestimmt.38

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l’osculum dans l’ancien droit franÅais‘, in: M¦moires de la Soci¦t¦ des Antiquitaires de France, Serie 8, Bd. 6. 1924, S. 124 – 155, hier S. 125 ff., aufmerksam. Vgl. Strätz, Hans-Wolfgang: ,Kuss‘, in: LEXIKON DES MITTELALTERS. Bd. 5. München/ Zürich 1999, S. 1590 – 1592, hier S. 1590 ff. Vgl.: „Justinianus (gest. 165) bezeugt, dass Gemeindemitglieder nach der Beendigung des Gemeindegebets und vor Beginn des eucharistischen Teils des Gottesdienstes einander den Bruderkuss gaben“ (Schreiner, Klaus: ,„Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes“ (Osculetur me osculo oris sui, Cant.1, 2). Metaphorik, kommunikative und herrschaftliche Funktion einer symbolischen Handlung‘, in: Ragotzky, Hedda / Wenzel, Horst: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Tübingen 1990, S. 89 – 132, hier S. 101 ff.). Salutate invicem in osculo sancto ist eine nahezu stehende Formel in den Briefen des Paulus. S. Paulus, Rom. 16, 16; I. Cor, 16, 20, II. Cor. 13, 12; I. Thess 5, 26 (hier : invicem fratres omnes). Vgl. dazu Voss 1987, S. 139). Man könnte auch annehmen, dass das mittelalterliche Fürstenrecht als eine wesentliche Voraussetzung für die Verbreitung des kirchlichen Brauchs gedient hatte. Gedacht sei im Zusammenhang des brüderlichen Wangenkusses z. B. an das Gesetz der „Familie der Könige“. Dementsprechend mussten die Angehörigen der Herrscherfamilie einander mit dem brüderlichen ,Du‘ ansprechen und sich dann küssen. Vgl. den Hinweis von Dölger darauf, „dass der Kuss der Könige eine im Mittelalter wohlbekannte Einrichtung ist“ (Dölger, Franz: ,Die „Familie der Könige“ im Mittelalter‘, in: Dölger, Franz (Hg.): Byzanz und die europäische Staatenwelt. Darmstadt 1976, S. 34 – 69). Vgl. auch den Bericht des Saxo Grammaticus über die Begegnung Friedrichs I. mit dem Dänenkönig Waldemar 1181 in Lübeck. Die Umarmung und der Kuss werden vom Berichterstatter als Form der Ehrerbietung präsentiert: „siquidem imprimis eum amplexu atque osculo decentissime veneratus“ (Saxo Grammaticus: Saxonis Gesta Danorum. Primum a C. Knabe & P. Herrmann recensita. Bd. 1. Hg. J. Orlik / H. Raeder. Hauniae 1931 – 57, S. 532). Vgl. auch den Kommentar von Voss: „Auch in Ruodliebs Begegnung der Könige, die ja weitgehend das Zeremoniell des 11. Jahrhunderts widerspiegelt, ist die Begrüßung mit Kuss zwischen Herrschern selbstverständlich“ (Voss 1987, S. 142). Symptomatisch für die späteren Treffen ist die Zusammenkunft zwischen Heinrich VI. und Philipp II. in Mailand (1191), wo der deutsche Kaiser den französischen Herrscher in osculo pacis aufnahm (ibd., S. 139). Eine solche Art der Begrüßung mit Kuss ist z. B. im Kontext der ostfränkisch-westfränkischen Treffen überliefert, so beispielsweise bei den Begegnungen Ottos II. mit Lothar (im Jahr 980), die sich als Verwandte und gleichzeitig als Herrscher geküsst haben (osculum sibi dederunt).

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Parallel zur Reglementierung von Eigentums- und Statusbeziehungen innerhalb der europäischen Familienverbände kann für das ausgehende Mittelalter eine Tendenz zur Routinierung des Wangenkusses bei den diplomatischen Herrscherzusammenkünften belegt werden. Die zahlreichen ritterlichen Begrüßungsszenen mit einem Kuss, die in der mittelalterlichen Dichtung belegt sind, spiegeln die Instrumentalisierung der Symbolik der Aufnahme in die Familie im rechtlichen und zeremoniellen Zusammenhang des Mittelalters wider. Nachdem beispielsweise bei Hartmann von Aue Gawein und Iwein einander erkannt haben, küssen sie sich viele Stunden lang einander auf die Augen, Wangen und auf den Mund.39 Die Integration der feudalen Wirtschaftseinheiten in den Zusammenhang der absolutistischen Höfe und die Auflösung der ritterlichen Familienverbände haben zur Umwertung der brüderlichen Begrüßungsriten im westlichen Herrscherzeremoniell der Frühen Neuzeit geführt. Parallel zur Verdrängung des Bruderkusses von der weltlichen Bühne kann eine Tendenz zur semantischen Relativierung dieser Geste im kirchlichen Bereich festgestellt werden. Der eigentlich als nicht zu hinterfragend geltende Sinn des Kussrituals ist dabei immer häufiger durch Sinnfragen unterminiert worden, z. B. durch Fragen danach, inwiefern ein heiliger Kuss (osculum sanctum) von einem sündhaften Liebeskuss zu unterscheiden sei oder ob der heilige Kuss ein Lippenkuss sein dürfe.40 Im Interesse der Wahrung des eigenen ,Images‘ ist der Friedenskuss schrittweise aufgegeben worden. Ab dem 12. Jahrhundert wurde beispielsweise eine Regel propagiert, wonach der Friedenskuss nur innerhalb eines Geschlechts ausgetauscht werden durfte. Auf die Einschränkung der öffentlichen Mundkusspraktiken mag indirekt das Vorkommen der „Kusstafel“ (osculatorium oder instrumentum pacis) verweisen.41 Es handelt sich dabei um eine Tafel aus Metall 39 Vgl.: „Si underkusten tausentstunt / Ougen wangen unde munt“ (Hartmann von Aue: Iwein. Hg. G. Benecke / K. Lachmann. Berlin 1877, S. 7503 f.). Siehe dazu auch H. Heckendorn (Wandel des Anstandes im französischen und deutschen Sprachgebiet. Basel/Bern 1970, S. 3 ff.). Vgl. auch einen Kommentar von Schreiner : „Die Verfasser mittelhochdeutscher Lyrik und Epik profitierten davon, dass sich munt und stunt aufeinander reimten. an Liebhabern, die tusent-stunt, dusent stund oder tausend stunt, Þtlicher stunt, an der stunt, b„ der stunt und zú der stunt Auge, Wangen und Mund ihrer Geliebten zu küssen pflegten, bestand offenkundig kein Mangel“ (Schreiner 1990, S. 104); vgl. auch Jones, George: ,The Kiss in Middle High German Literature‘, in: STUDIA NEOPHILOLOGICA 1966/38, S. 195 – 210. 40 Zum Tragen kam dabei eine Reihe von korrektiven Regeln, deren Befolgung die Unterstellung einer sexuellen Annäherung zwischen Geistlichen ausschließen sollte. Manche von diesen Regeln wurden aus der frühchristlichen Normierungsliteratur übernommen. So wetterte Hieronimus gegen Kleriker, die sich an der salutatio jüngerer Witwen als Küssende beteiligten. Vgl. Sittl 1890, S. 79; Fuhrmann 1993, S. 117 ff. 41 Vgl.: „Ein Vorrücken der Schamschwelle gibt das im 13. Jahrhundert zum ersten Mal auftauchende instrumentum pacis, das sog. osculatorium, die Kuss- oder Paxtafel zu erkennen.

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oder Marmor mit dem Bildnis Christi, auf die der Kuss gegeben wurde. Das osculatorium trug im Kirchenritual mithin eine symbolische Funktion, indem es die zu küssenden Lippen der Gemeindemitglieder repräsentierte.42 Vor dem Hintergrund der westeuropäischen Entwicklung lässt sich am Beispiel der in westlichen Reiseberichten dargestellten russischen Kussrituale die Konstruktion einer unzivilisierten Peripherie am Rande der westeuropäischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit feststellen. Nicht nur aufgrund des DomostrojTexts, sondern auch aufgrund zahlreicher späterer Memoirenbelege kann man darauf schließen, dass der Friedenskuss – den Anweisungen der russisch-orthodoxen Kirche entsprechend – als Lippenkuss im Gebrauch war.43 In den ausländischen Reiseberichten des 18. Jahrhunderts wird der russische Kuss vorwiegend im Kontext der Osterbegrüßung erwähnt, wobei anzumerken ist, dass die Außenstehenden diese Geste nach wie vor als merkwürdig empfanden.44 Der dreifache Kuss symbolisierte die Einigkeit des Gottes, Sohnes und Heiligen Geistes. In der Beschreibung seiner Reiseerlebnisse bezieht sich Berch (1735) auf eine für ihn überraschende Beobachtung, wonach sich alle Russen in der Man küsst sich nicht mehr gegenseitig; symbolische Unmittelbarkeit wird ersetzt durch ein geweihtes Gerät“ (Schreiner 1990, S. 101). 42 Über die symbolische Verdrängung hinaus lässt sich eine zunehmende Ausdifferenzierung der Bedeutung des Kusses in der Erbauungsliteratur der Frühen Neuzeit feststellen. Johannes von Paltz (gest. 1511) unterscheidet beispielsweise drei Formen des osculum corporale: einen Kuss, den man empfehlen kann (osculum commendabile), einen Kuss, den man entschuldigen kann (osculum excusabile), und einen Kuss, den man verachten soll (osculum detestabile). Der Begrüßungskuss (osculum receptionis) gehört zu den empfehlenswerten Gesten, sofern er durch alttestamentliche Beispiele gerechtfertigt erscheint. Einen entschuldbaren Kuss stellt das osculum cognationis dar, wenn sich Mutter und Sohn küssen. Zu verachten war ein Kuss, wenn er Verstellung (simulatio), Verrat (dolositas) und sinnliche Begierde (libido) zum Ausdruck brachte. Vgl. Johannes von Paltz (um 1500, 155 – 157). Zit. bei Schreiner 1990, S. 110. 43 Bei einem solchen Lippenkuss musste eine Reihe von korrektiven Regeln befolgt werden: „Wenn man mit jemandem in Christo [im Namen Christi] einen Kuss tauscht, so soll man sich, ebenfalls seinen Atem anhaltend, küssen und dabei die Lippen nicht plattdrücken. […] Wie widerlich empfinden [selbst] wir den unerträglichen Geruch nach Knoblauch, den besoffenen, krankhaften und anderen Gestank. Wie abscheulich muss [erst] dem Herrn unser Gestank und Geruch sein! Deshalb soll all dies mit Bedacht geschehen.“ Vgl. russ.: „[…] Asˇcˇe s kem o Christe celovanie sotvoriti […] takozˇe duch v sebe uderzˇav pozelovatisja a gubami ne pljuskati porassudi cˇelovecˇeskija nemosˇcˇi necˇjuvstvenago ducha gnusˇaemsja cˇesnocˇnogo chmelinogo volnogo i vsjakogo smrada“ (Birkfellner, Gerhard (Hg.): Domostroj. Christliche Lebensformen, Haushaltung und Ökonomie im alten Russland. Bd. 1, Osnabrück 1998, Kapitel 3, S. 34 – 40; Anmerkung S. 16 ff.). 44 Vgl. „[…] ce n’est pas en cette saison seule qu’ils s’entre – baisent, ains en tout temps, car c’est une espece de salutation que ils ont entre-eux de s’entre-baiser, tant les hommes que les femmes, en prenant cong¦ les uns des autres, ou se rencontrant, ne s’ayant veu de longtemps“ (Margeret, J.: Estat de l’empire de Russie et grande Duch¦ de Moscouie… par le Capitaine Margeret, Paris 1606 (= The Russian Empire and Grand Duchy of Moscovy, Translated and Edited by S. L. Dunning, Pittsburg, 1983), S. 67).

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Osterwoche küssten.45 Auch Havens (1743) ist aufgefallen, dass alle Russen sich in der Osterwoche küssten; diesem Ritual könne – so Havens – auch der Vornehmste nicht entgehen. Die Russen vollzögen den Osterkuss jedoch mit Respekt und ganz ohne leichtsinnige Gedanken.46 Auch Cook (1770) ist eine seltsame Sitte begegnet, der entsprechend sich die Russen zu Ostern mit einem Ei und einem Kuss beschenkten: „Mir ist gesagt worden, dass solche Sitten als so wichtig gelten und so sorgfältig befolgt werden, dass wenn ein einfacher Soldat der Zarin begegnet wäre und Ihr ein Ei vorgeschlagen hätte, so wäre er sicher mit einem kaiserlichen Kuss gewürdigt worden.“47 Es gibt weitere Gründe für die Annahme, dass das vormoderne Verbrüderungsritual mit Bruderkuss auch nach der Verwestlichung der russischen Gesellschaft im Rahmen der Reformen Peters I. fortgesetzt wurde, auch wenn es so scheint, als sei es von der westeuropäischen konversationszentrierten Etikette überdeckt worden.48 Als Merkmal der Sakralisierung des Zaren kann der Bruderkuss interpretiert werden, mit dem Peter I. nicht nur russische Hofbeamte, sondern auch ausländische Offiziere und sogar fremde Herrscher zu begrüßen pflegte. Das Bild des Grobians konturiert sich in den Memoiren von Wilhelmine von Bayreuth, bei der die Vertraulichkeitsgesten des Zaren sogar als „Entraubung der Ehre“ abqualifiziert werden: „Sobald dieser [der Zar Peter I.] mich sah, erkannte er mich wieder, da er mich fünf Jahre zuvor gesehen hatte. Er nahm mich in seine Arme und kratzte mich mit seinen Küssen im ganzen Gesicht. Ich schlug auf ihn los und wehrte mich mit allen Kräften, indem ich sagte, dass ich solche Vertraulichkeiten nicht duldete und er mir meine Ehre raube. Er lachte hellauf über diese Idee und unterhielt sich lange mit mir.“49 Später berichtet der deutsche 45 Vgl. Berch, C.: ,Rese-Anteckningar om Russland af C.R. Berch‘, in: BESPJATYCH 1997, S. 11 – 302, hier S. 122. 46 Vgl. Von Havens, Peder : ,Reise udi Rusland. Kjobenhavn‘, in: BESPJATYCH 1997, S. 303 – 384, hier S. 365 – 366. 47 Vgl. Cook, John: ,Voyages and Travels through the Russian Empire, Tartary, and Part of the Kingdom of Persia, Edinburgh‘, in: BESPJATYCH 1997, S. 385 – 454, hier S. 410. 48 Vgl. die Bemerkung von Zelenin zum Verschwinden des russischen Kussbrauchs: „Uzˇe k nacˇalu XVIII. v. Iscˇes drevnij pocelujnyj obrjad, opisannyj Korbom v 1698 g. V Moskve. On zakljucˇaetsja v tom, cˇto zˇena ili docˇ’ chosjaina doma, podnesja kubok s vinom pocˇetnomu gostju, zˇdala, cˇtoby on ee poceloval, i zatem molcˇa udaljalas‘“ (Zelenin, Dmitri: Vostocˇnoslavjanskaja etnografija. Moskva 1991, S. 158). 49 Vgl. Wilhelmine von Bayreuth 1981, S. 61; Vgl. auch den frz. Originaltext: „DÀs que le Czar fut d¦barqu¦, il tendit la main au roi et lui dit: je suis bien aise de vous voir, mon frÀre Fr¦deric. Il s’approcha ensuite de la reine, qu’il voulut embrasser, mais elle le repoussa. La Czarine d¦buta par baiser la main — la reine, ce qu’ elle fit — plusieurs reprises […] La reine donna la main — la Czarine, lui laissant la droite et la conduisit dans la chambre d’audience. Le roi et le Czar les suivirent. DÀs que ce prince me vit, il me reconnut, m’ayant vue cinq ans auparavant. Il me prit entre ses bras et m’¦corcha tout le visage — la force de me baiser. Je lui donnois des soufflets et me d¦battois tant que je pouvois, lui disant que je ne voulois point de

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Adelige Bergholz, wie der Herzog von Holstein zusammen mit fremden Ministern den Zaren empfing, „welcher Ihro Hoheit, seiner Gewohnheit nach, gleich tendrement embrassirte.“50 Der politische Sinn der beschriebenen Gesten ergab sich aus dem Anspruch des sakralen Herrschers, das höfische Reglement eigenwillig auflösen zu dürfen. Mithilfe der Gesten der Vertraulichkeit, die an Einzelne adressiert, aber dennoch von einem breiten Publikum beobachtet und sorgfältig analysiert wurden, wurden darüber hinaus neue Gemeinschaftsgrenzen gezogen. Die Beobachtung des Verhaltens des Zaren durch westliche Höflinge basierte auf Unterscheidungen, die für russische Ritualteilnehmer ganz offensichtlich keine Relevanz besaßen. Der Vereinheitlichung des Herrscherzeremoniells war sowohl in Russland als auch im Westen dadurch wesentlich erschwert, dass nach den Botschaften Peters I. bis ins ausgehende 18. Jahrhundert keine persönlichen Treffen russischer und westeuropäischer Herrscher mehr stattfanden. Weder haben die russischen Zarinnen im 18. Jahrhundert die Grenzen ihres Reichs verlassen, noch sind westliche Machthaber nach Russland eingereist. Dies legt die Vermutung nahe, dass bestimmte Kommunikationstechniken, die beispielsweise für das Verhalten Peters I. kennzeichnend waren, auch im 19. Jahrhundert, im Zeitalter nationaler Identitätsbildung, ihr latentes Kontinuitätspotential aufrecht erhalten konnten. Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Verhaltensstereotypen des russischen Adels, dessen männliche Repräsentanten bis ins 20. Jahrhundert in Familien- bzw. Militärverbänden organisiert waren, wesentlich zur Bildung des nationalen Verbrüderungsrituals beigetragen haben. Bis heute wird mit der Umarmung eine nationale russische Begrüßungsform assoziiert, was u. a. in sprachlichen Klischees wie „sich auf russische Art umarmen“ (obnjat’sja po-russki) manifest wird.51

Soziostrukturelle Zusammenhänge und Perspektiven Auf den vorrevolutionären, den sowjetischen und den postsowjetischen Etappen ihrer Geschichte entwickelte die russische Gesellschaft unterschiedliche Modelle politischer Reflexion und politischer Identität. Im 19. Jahrhundert definierte sie ces familiarit¦s et qu’il me d¦shonorait. Il rit beaucoup de cette id¦e et s’entretint long temps avec moi […].“ 50 Vgl. Bergholz, Friedrich W.: ,Tagebuch, welches er in Russland von 1721 bis 1725 als holsteinischer Kammerjunker gefuehret hat‘, in: Buesching, Anton F.: Magazin für die neue Historie und Geographie. Bd. 1, S. 57. 51 Eine Gleichstellung von ,brüderlich‘ (po-bratski) und ,auf russische Art’ (po-russki) kommt auch in der Sprache der Helden von Dostoevskij vor, wie z. B. im Roman Die Dämonen (Besy).

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sich als orthodoxe (pravoslavnoe) und autokratisch regierte (samoderzˇavnoe), zwischen 1917 und 1990 als atheistische und sozialistische, danach als marktwirtschaftliche und demokratische Gesellschaft. Der Staat und die Kirche, die weltliche und die religiöse Macht, konnten auf diversen Etappen der Gesellschaftsgeschichte institutionell entweder getrennt oder verbunden auftreten. Überraschenderweise hat jedoch die Vorstellung vom Staat als familienähnlichem Personenverband alle überlieferten Modelle politischer Selbstpräsentation infiltriert. Vor 1917 bestimmte die Familie der Zaren, die sich als „herrschende Familie“ definiert hatte,52 durch Absprachen mit hochrangigen Verwandten an deutschen und englischen Höfen, die Richtung der russischen Außenpolitik.53 Zwanzig Jahre nach dem Sturz der Romanov-Dynastie kam es zur Etablierung eines Netzwerks regionaler politischer Eliten georgischer, armenischer, lettischer, russischer und jüdischer Provenienz, die sich als Repräsentanten der „Familie von sowjetischen Brudervölkern“54 positionierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses familienzentrierte Integrationskonzept durch eine modernisierte Doktrin „Familie sozialistischer Bruderstaaten“ erweitert.55 Eine solche politische Verkrustung stützte sich von nun an auf die Netzwerke ostdeutscher, bulgarischer, ungarischer und tschechischer Personenverbände. Nach dem Zerfall der Sowjetunion kam das Wort Familie (sem‘ja) als Bezeichnung der neuen politischen Elite, die sich um den ersten gewählten Präsidenten Boris El’cin gruppierte, erneut zum Tragen.56 Zahlreiche neuere Forschungen haben gezeigt, dass der Mechanismus der Vetternwirtschaft im postähnlich wie im vorsowjetischen Russland bei der Bildung dieser neuen Staatselite am Werke war und ist.57 Die Stabilität der politischen Macht im zeitge52 Vgl. auch alternative Selbstbezeichnungen: „vysocˇajsˇaja sem’ja“, „dom Romanovych“, etc. 53 Vgl. Tschernous, W.: Pravjasˇcˇie elity tradizionnogo obsˇcˇestva Rossii. Rostov-na-Donu 1999, S. 147. 54 Vgl. „bratskaja sem’ja sovetskich narodov“ oder „druzˇnaja sem’ja bratskich narodov“, etc. Vgl. „Sem’ja sovetskich narodov stala esˇcˇe splocˇennee, zˇivet esˇcˇe druzˇnee“ (doklad L. Brezˇneva na XXVI s”esde KPSS, 23 Februar 1981, S. 1). Vgl. „Armjanskij narod uverenno stroit svoju scˇastlivuju zˇizn’ v bratskoj sem’e sovetskich narodov. E˙tu uverennost’ vseljaet v nego nasˇa slavnaja Kommunisticˇeskaja partija Sovetskogo Sojuza“ (recˇ’ Tovmasjana na XX s’esde KPSS, 14 Februar 1956, S. 1). Vgl. „Naselenie nasˇej strany, po rascˇetam Zentral’nogo statisticˇeskogo upravlenija, na 1 janvarja 1964 goda sostavit vysˇe 226 millionov cˇelovek, k koncu 1970 goda – okolo 250 millionov, a k koncu 1980 goda sem’ja sovetskich narodov sostavit primerno 280 millionov cˇelovek.“ (N. S. ChrusˇcˇÚv, Stroitel’stvo kommunisma v SSSR i razvitie sel’skogo chozjaistva. 1964, Bd. 8, S. 275). 55 Vgl. „Sem’ja bratskich sozialisticˇeskich stran.“ Vgl. „Sovetskij Sojuz resˇaet zadacˇi kommunisticˇeskogo stroitel’stva ne v odinocˇestve, a v bratskoj sem’e sozialisticˇeskich stran“ (Programma KPSS, XXII s’esd, 1961, S. 1). 56 Vgl. ,Sem’ja El’zina‘ (KOMMERSANT, 20. 12. 1997, S. 4). 57 Vgl. Zakharine, Dmitri: ,Deutsch-russische Saunafreundschaften‘, in: MERKUR. DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR EUROPÄISCHES DENKEN 2007/698, S. 498 – 507, hier S. 498 ff.

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nössischen Russland ergibt sich dementsprechend aus der Kräfteverteilung (balance of power) zwischen den zwei wichtigsten Elitegruppen – den Nachfolgern des Machtklans von Boris El’cin (den sogenannten Semejnye) und den Vertretern der Petersburger Gewaltministerien (Piterskie), die sich anfänglich um El’cins Nachfolger Vladimir Putin gruppierten. Analog zum traditionellen Selbstherrscher erfüllt der russische Präsident eine Art Scharnierfunktion zwischen den mächtigen Machtgruppen, deren Vergleich mit Bojaren aus der Perspektive der Strukturanalyse durchaus berechtigt ist.58 Es ist brisant, dass der Trend zur Verbrüderung und Verschwägerung mittels der dynastischen Ehebündnisse für beide Elitegruppen typisch bleibt. Daher kann man nicht sagen, dass Machteliten unter Putin anders organisiert sind als die Machteliten vor Putin.59 Der Ursprung der Moskauer Gruppierung von Semejnye rührt vom Ehebündnis zwischen El’cins federgewandtem speech-writer Valentin Jumasˇev und El’cins Tochter Tatjana Djacˇenko (2001) her. Seine eigene Tochter aus einer früheren Ehe ließ Jumasˇev im gleichen Jahr zur Frau des Aluminiumkönigs Oleg Deripaska werden. Der zukünftige Ölmagnat Roman Abramovicˇ begann im Haus von Jumasˇev (zuerst als Grillmeister am Tisch von El’cin) seinen Aufstieg in die Machtelite. Später vermittelte er die Ehe zwischen seinem Geschäftskollegen Oleg Deripaska und Polina Jumasˇeva. Ähnlich organisiert sich die Gruppierung von Piterskie: Miteinander verwandt sind z. B. der stellvertretende Vorsitzende der Administration des Präsidenten Igor Secˇin und der Ex-Generalstaatsanwalt Vladimir Ustinov ; Secˇins Tochter Inga ist mit Ustinovs Sohn Dmitri verheiratet. Der russische Verteidigungsminister Anatolij Serdjukov machte seine Karriere als Schwiegersohn des Ex-Premiers Viktor Zubkov. Die angeführten Beispiele müssten deutlich machen, dass der Inhalt des Begriffs „Verbrüderung“ nicht auf die Art der Selbstinszenierung von russischen Machteliten reduziert werden darf. Denn nicht nur politische Bilder, sondern auch politische Institutionen scheinen in Russland fortdauernd eine Tendenz zur Umwandlung in Sippen und Familienverbände aufzuweisen.60 Soziale Wurzeln und historische Hintergründe dieses Phänomens sind bisher nicht gebührend untersucht worden. Es ist anzunehmen, dass der Mechanismus der Verbrüderung in der Soziogenese der altrussischen Familie begründet liegt. Bisher wurde diese altrussische Familienstruktur falsch als biologische Verwandtschaftskette in Betracht gezogen. Erst die in den letzten Jahren intensiv betriebene historische Familienfor58 Vgl. Diese Analogie bei Afanas’ev, M.: ,Bojarskie kondizii‘, in: EKSPERT 2000/17, 08. 05. 2000, S. 56 – 59, hier S. 57.). 59 Vgl. Krysˇtanovskaja, Olga: Anatomija rossijskoj elity. Moskva 2005, S. 135 ff. 60 Vgl. Afanas’ev 2000, S. 317.

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schung hat die Vorstellung von biologischen Grundlagen der altrussischen Großfamilie, die angeblich viel mehr Kinder als westliche Familien hatte, ins Reich der Legende verwiesen.61 Ähnlich wie in Mittel- und Westeuropa war eine russische Familie im 16. Jahrhundert höchstens imstande, ein bis vier Kinder großzuziehen. Ähnlich wie in Deutschland ist heute ein Trend zur Verwandlung der russischen Zwei-Kinder-Familie in eine Ein-Kind-Familie für den russischen Gesellschaftskontext kennzeichnend. Was den Unterschied gegenüber dem Westen ausmacht, ist nicht die Anzahl der Kinder in der Familie, sondern eine andere Aufteilung des Wohnraums. Denn die traditionelle Familie in Russland wurde vorrangig nach räumlichen Kriterien definiert.62 Seit eh und je funktionierte eine solche Familie als eine erweiterte Wohn- und Produktionsgemeinschaft, welche die Großeltern, sowie Vetter dritten und vierten Grades umfasste. Verheiratete Geschwister lebten dabei meist zusammen als „Gebrüder“ im Haus der Eltern. Auch entfernte Verwandte, Hausgesinde, religiöse Pilger, Knechte und Mägde zählten zur Familie, wenn sie über eine lange Zeit hinweg in einem Haus mit den Familienältesten lebten. Die einschlägige Forschung von Krysˇtanovskaja zur Genese sowjetischer und postsowjetischer Machteliten lässt darauf schlussfolgern, dass das Prinzip des Familienerbes für die Reproduktion von sowjetischen Machteliten63 eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte und spielt. Beim biologischen Generationenwechsel halten Söhne (Gebrüder) am Beruf ihrer Väter fest. Heute noch teilen die Großeltern zumeist den gemeinsamen Wohnraum mit ihren Kindern und Enkelkindern. Nach Ergebnissen statistischer Recherchen, hat die Wende der 1990er Jahre nicht zur Zunahme von Kernfamilien, sondern umgekehrt zur Vergrößerung des Anteils von erweiterten familiären Wohngemeinschaften geführt. Beim Versuch, das Phänomen der Verbrüderung im Sinne der erweiterten familiären Wohngemeinschaft zu deuten, bringt die neuere Forschung nicht politische, sondern in erster Linie geoökonomische Argumente ins Spiel. Aufgrund des harten Klimas, der langen Transportwege und der hohen Wohnkosten bei russischen Arbeitern sind die allgemeinen Produktionskosten in Russland mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland und fast dreimal so hoch wie in den

61 Vgl. Goody, Jack: The European Family. Making of Europe. New York 1999, S. 209. 62 Vgl. Die neusten Forschungen in: Anisimov, A.: Vlastnye elity i nomenklatura. Annotirovannaja bibliografija. Sankt-Peterburg 2000; vgl. auch: Daloz, Jean-Pascal: The Sociology of Elite distinction. Palgrave Macmillan 2010; Steen, Anton: Political Elites and the New Russia. The power basis of Yeltsin’s and Putin’s regimes. London 2003. 63 Krysˇtanovskaja, Olga: Anatomija rossijskoj elity. Moskva 2005.

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USA.64 Dies sei unter anderem der wichtigste Grund dafür, dass direkte Investitionen in den russischen Produktionssektor vor wie nach der Wende sehr gering waren und sind. Vor dem Hintergrund der weltweit höchsten Produktions- und Lebenskosten fungieren die Erweiterung der Familiengrenzen einerseits und die Familiarisierung von Institutionsgrenzen andererseits als Strategien der Effizienzsteigerung: Zumindest zeitweise stabile Personenverbände, in denen Menschen als Gebrüder zusammenleben, ermöglichen es, die hohen Wohn- und Verwaltungskosten einzusparen.65 Die öffentliche Inszenierung des Machtwechsels als Vater-Sohn-Wechsel ist für die Wähler bis in die heutige Zeit relevant geblieben. Der erste staatliche Erlass des gewählten Präsidenten Putin zielte dementsprechend auf den Schutz „der Person und der Familie“ des ehemaligen Präsidenten Boris Jelzin ab. Im Hinblick auf die Wählerentscheidungen während der Kampagne (2007/2008) sei es weiterhin entscheidend gewesen, dass der amtierende Präsident Vladimir Putin die Auswahl seines jüngeren Nachfolgers (Dmitrij Medvedev) mit einer nicht hinterfragbaren „Chemie des Vertrauens“ begründet und dadurch quasi familiarisiert hat. Fasst man die Ergebnisse der neusten Forschungen, die sich mit räumlichen Aspekten der Verbrüderung beschäftigen, zusammen, so kann man feststellen, dass Grenzen der körperlichen Nähe und Ferne bei direkten Kontakten im Osten Europas deutlicher als im Westen entlang der Grenzen der Familienverbände bzw. der Hausgemeinschaften im Sinne der antiken oikos-Gemeinschaft verlaufen.66 Die beiden Elternteile werden in der Ukraine während der Begrüßung dementsprechend häufiger als in Deutschland, Tschechien und Russland geküsst. Was die Häufigkeit des Essens aus dem gleichen Teller mit den Familienmitgliedern anbelangt, so kennen die Ukrainer im mitteleuropäischen Kontext diesbezüglich keine Konkurrenten. Das Begrüßungsverhalten der deutschen Jugendlichen gegenüber ihren Eltern ist im Vergleich zu osteuropäischen Kulturen kontaktarm. Hier gilt die Umarmung ohne Kuss als allgemeiner Ausdruck der Wärme, und zwar unabhängig davon, ob es sich um die Begrüßung des Mitschülers, des Kollegen, des Vaters oder der Mutter handelt. Im Fall der Benutzung des gemeinsamen Geschirrs hat der Bekanntenkreis bei den Deutschen sogar Priorität vor der Familie.

64 Bericht vom Zustand des Immobilienmarktes. Rostov-am-Don, September 2012, Teil 3. Verfügbar unter : [Zugriff: 02. 10. 2013]. 65 Vgl. Gel’man, Vladimir / Tarusina, Inessa: ,Studies of political elites in Russia‘, in: Steen, Anton / Gel’man, Vladimir : Elites and Democratic Development in Russia. London 2003, S. 187 – 206, hier S. 187 ff. 66 Zakharine, Dmitri: ,Der homo clausus in Mitteleuropa. Schmutz und Berührungstabus bei den Deutschen und ihren Nachbarn‘, in: FIGURATIONEN 2008/2, S. 35 – 55, hier S. 35.

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Abbildungen ˇ ernenko und Todor Zˇivkov in Moskau, 1984. In: Abb. 1: Das Treffen zwischen Konstantin C Archiv Kino i foto dokumentov. Moskau. Chiffre des Videodokuments 23539. Abb. 2: Das Treffen zwischen Erich Honecker und Jurij Andropov in Moskau, 1983. In: Archiv Kino i foto dokumentov. Moskau. Chiffre des Videodokuments 23219. Abb. 3: Das Treffen zwischen Leonid Brezˇnev und Jimmy Carter, in: DER SPIEGEL 34, 14. Januar 1980, Titelseite.

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Jan Rand‚k (Prag)

Geschichtsbilder im Dienste der sozialistischen Freundschaft. Die Hussiten in den Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und der DDR1

Deutscher Frühling Man sollte damit rechnen, dass es mitten in Europa ein großes und hochentwickeltes Volk gibt, dessen geistiges Gleichgewicht erheblich gestört ist und das sich auch durch sein zweimaliges Scheitern im Krieg leider keineswegs zu einer Kehrtwende gezwungen sieht, sondern sich immer tiefer und tiefer in die moralische Isolation vergräbt, sich schämt und hasst, das Schicksal verflucht und sich von innerlicher Gemeinschaft mit den anderen entfernt. […] Zu zahlenmäßiger Größe gesellt sich hitzige Triebhaftigkeit sowie leidenschaftliche Heftigkeit krankhafter Natur, mangelhafte innere Erneuerung und Regenerationsfähigkeit gehen mit Nihilismus als weitere Umstände einher, die den Nachbarländern Deutschlands und ganz Europa und aller Welt deutlich machen, welche Gefahr vom deutschen Gebiet herrührt. Der Pangermanismus ist eine schreckliche Seelenkrankheit, deren Existenz an sich dazu ausreicht, das Leben auf der Erde unsicherer und den Krieg weiterhin wahrscheinlich zu machen.2

Diese 1946 von Karel Hoch formulierte These über das Bestehen einer kollektiven Seelenkrankheit der deutschen Nation spiegelt die Meinungsverhältnisse in der tschechischen Nachkriegsgesellschaft im Hinblick auf den geschlagenen deutschen Staat wider. Die Beziehung zu den Deutschen und zu Deutschland war zwischen 1945 und 1948 durch häufige Pauschalisierungen und starke Emotionen belastet. So hat es einige Aussagekraft, dass laut im März 1947 veröffentlichten Meinungsumfragen immer noch 81 % der befragten Tschechen Angst vor einer Erneuerung der deutschen Angriffslust hatten und nur 2 % der Befragten ein demokratisches und friedvolles Deutschland für möglich hielten.3

1 Diese Studie entstand im Rahmen des Programms zur Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplinen an der Karls-Universität Prag Nr. P12 Geschichte in interdisziplinärer Perspektive, Unterprogramm Formierung und Entwicklung der nationalen Identitäten im Raum Mitteleuropas während des 19. und 20. Jahrhunderts. 2 Hoch, Karel: Pangermanismus. Prag 1946, S. 273. 3 Zimmermann, Volker: Eine sozialistische Freundschaft im Wandel. Die Beziehungen zwischen der SBZ/DDR und der Tschechoslowakei (1945 – 1969). Essen 2010, S. 79.

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Die vorliegende Studie befasst sich mit dem Zeitraum vom Machtantritt der tschechoslowakischen kommunistischen Diktatur im Februar 1948 bis zur zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Der Verweis auf den Text von Hoch soll allerdings deutlich machen, wie die in der damaligen tschechischen Gesellschaft überwiegende Stimmung gegenüber Deutschland und den Deutschen aussah. Dadurch sollen auch die Hindernisse aufgezeigt werden, die von der kommunistischen Propaganda bei der Herausbildung eines positiven Bildes der Einwohner der Sowjetischen Besatzungszone und nachfolgend der DDR überwunden werden mussten. Innerhalb sehr kurzer Zeit und vor dem Hintergrund einer im Prinzip noch unweit zurückliegenden Kriegserfahrung sollte die tschechische Gesellschaft ein positives Verhältnis zu der Bevölkerung der DDR einschließlich seiner politischen Verfassung aufbauen. Hierbei muss man sich zugleich vor Augen halten, dass die Deutschen im tschechischen Nationalmythos insgesamt die Rolle des Erzfeindes und traditionellen Übeltäters spielten.4 Diese Änderung der Beziehung sollte jedoch nicht nur auf die Gegenwart der DDR begrenzt werden, sondern auch das deutsche Volk der Vergangenheit mit einschließen. Aus tschechischer Perspektive ließe sich das vereinfacht auch so formulieren: Nach der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 war es erforderlich, aus dem Deutschen, der leicht als historischer Gegner der tschechischen Nation identifiziert werden konnte, einen volkstümlichen, dem Tschechen durch klassenbedingte Unterdrückung und fortschrittliche Tradition nahestehenden Deutschen zu machen. Dieses Bild musste nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Vergangenheit konstruiert werden. Im Rahmen des proklamierten proletarischen Internationalismus und der grenzüberschreitenden Freundschaft durfte nun nicht mehr jeder Deutsche als Feind angesehen werden. Letzten Endes war bei manchen tschechoslowakischen offiziellen politischen Stellen die Rede von einem bewahrten Funken des Besseren, dem Funken des neuen Geistes und Lebens bestimmter Deutscher. Zdeneˇk Nejedly´, der damalige Bildungsminister und Propagator der angeblichen fortschrittlichen Traditionen in der tschechischen Geschichte gab zu erkennen, dass die Deutschen nicht immer das waren, wozu sie unter dem Einfluss des Kapitalismus und preußischen Militarismus geworden sind. Es genügt schon, Weimar zu besuchen und sich in die 4 Zur Rolle der Deutschen im tschechischen Nationalmythos u. a. Krˇen, Jan: Die Konfliktgemeinschaft. Deutsche und Tschechen 1780 – 1918. München 1996; Lemberg, Hans / Seibt, Ferdinand: Deutsch-tschechische Beziehungen in der Schulliteratur und im populären Geschichtsbild. Braunschweig 1980; Seibt, Ferdinand: Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas. München 1974. Am Beispiel der konkreten Problematik Jaworski, Rudolf: Deutsche und tschechische Ansichten. Kollektive Identifikationsangebote auf Bildpostkarten in der späten Habsburgermonarchie. Innsbruck/Wien/ Bozen 2006.

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schönen Zeiten zu versetzen, als Goethe, Schiller, Herder, und nach ihnen Franz Lizst, bei dem unser Bedrˇich Smetana in seiner Jugend verweilte, – als diese Lichtbringer ihrer Zeit die deutsche Nation darstellten und nicht Bismarck oder sogar Hitler.5

Gerade Goethe und Schiller wurden im tschechischen Milieu relativ oft als positive Belege der deutschen Fortschrittlichkeit und Humanität in der Vergangenheit angeführt und somit in einen scharfen Kontrast zum Nationalsozialismus gesetzt. Beispielsweise bot das Weimarer Tagebuch (Vy´marsky´ den†cˇek) der Schriftstellerin Jarmila Glazarov‚ aus dem Jahr 1950 dem tschechischen Leser ihre Tagebuchaufzeichnungen vom Besuch des Goethefestes, das anlässlich des zweihundertjährigen Geburtstags des Dichters in Weimar abgehalten wurde. Dabei verbarg Glazarov‚ in ihren Reportagen keinesfalls die politische Bedeutung und die politische Zielsetzung der ostdeutschen Jubiläumsfeierlichkeiten. Ihrer Auffassung entsprechend veränderte sich Goethe in einen Autor mit einer dauerhaft gültigen Botschaft, die „belebt und auf die Gegenwart bezogen eine Umerziehung des neuen deutschen Menschen mit bewirken kann“. Dies ist im Sinne der a priori angenommenen „eigenständigen, deutschen, Goetheschen humanistischen Traditionen“, die die Schriftstellerin als Gegenpol „aller rassistischen und militaristischen nationalsozialistischen Ideologie“ ansah, zu verstehen.6 Die Verehrung des deutschen Dichters präsentierte sie dem tschechischen Leser also als eine Aufforderung, den Kampf für die deutsche Einheit und den Fortschritt zu unterstützten. Das Goethefest im Sommer 1949 sollte in diesem Sinne auch für die tschechische Gesellschaft zum symbolischen Akt des neuen demokratischen Deutschlands werden. Die Besinnung auf Goethe sollte auf ewig jegliche deutsche Aggressionen sowie die Wiederbelebung von Gewalttheorien verhindern.7 In einer anderen berichterstattend konzipierten Publikation mit dem vielsagenden Titel Deutscher Frühling (Neˇmeck¦ jaro) schreckte der später in der BRD angesiedelte Ludv†k Asˇkenazy nicht einmal davor zurück, den Moskauer Gießer ZˇuravlÚv, der zu jener Zeit zusammen mit Asˇkenazy an einer Reise durch die DDR teilnahm, mit dem Klassiker Goethe zu konfrontieren. In einer der Reportagen schildert Asˇkenazy, wie seine Gruppe Weimar besuchte: Heute stehen sich hier der Dichter Goethe und der Gießer ZˇuravlÚv ein bisschen misstrauisch gegenüber – der Besucher aus der kommunistischen Zukunft inmitten kalter klassischer Torsi. Als ihm jedoch ein Vers aus Faust übersetzt wurde, den ein Mädchen in blauer Bluse rezitiert hatte, lächelte dieser Mann und dieses Lächeln wirkte ein bisschen befreiend. Unser Poet – sagte der Gießer ZˇuravlÚv – unser Poet.8 5 6 7 8

Nejedly´, Zdeneˇk: Nedeˇln† episˇtoly VI (Rok 1951 – 1952). Praha 1956, S. 178. Glazarov‚, Jarmila: Vy´marsky´ den†cˇek. Praha 1950, S. 33 – 34. Glazarov‚ 1950, S. 40. Asˇkenazy, Ludv†k: Neˇmeck¦ jaro. Praha 1951, S. 128.

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Die tschechische Gesellschaft wurde nach Februar 1948 wiederholt an eine These Stalins erinnert, nach der Hitlermenschen kämen und gingen, das deutsche Volk jedoch bleibe bzw. fortbestehe. Es gab also nicht nur die Deutschen als durch das gröbste Preußen- und Junkertum charakterisierte Nation, sondern zugleich auch die Deutschen als Nation mit großer Kultur, die durch das Vermächtnis der deutschen Klassik symbolisiert wurde, eine Nation von großen Kämpfern für die Freiheit aller Menschen.9 Die Niederlage des Nationalsozialismus wurde im tschechischen Umfeld in Hinblick auf die sowjetische Besatzungszone und danach die DDR als die Befreiung langfristig bestehender demokratischer Kräfte des von der fortschrittlichen Arbeiterklasse angeführten deutschen Volkes präsentiert, deren Ausrottung Hitler trotz aller Bemühungen nicht gelungen war.10 Gerade auf diesen „neuen Menschen“ sollte die Ausrichtung der sowjetischen Besatzungszone und nachfolgend der DDR aufgebaut werden. Die Überzeugung, der Nationalsozialismus sei eigentlich kein Werk der deutschen Nation gewesen, sondern ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaftsordnung11 – die freilich nach dem Krieg in einem Teil des deutschen Raumes immer noch nicht überwunden war – bildete somit die Grundlage für die seitens der tschechoslowakischen kommunistischen Diktatur angesprochenen Versöhnungstendenzen. Ziel der Tschechoslowakei nach dem Februarumsturz war also die Überwindung der anti-deutschen Einstellung, die nicht nur die unmittelbare Nachkriegszeit prägte, was eine Behauptung des schon erwähnten Ministers Nejedly´ aus jener Zeit auf den Punkt bringt: Wir und die Deutschen. Das ist die tausendjährige Geschichte eines Kampfes, manchmal sogar auf Leben und Tod; jedoch war es auch in den sogenannten Friedenszeiten ein ständiger Kampf mit unserem nächsten sowie mächtigsten und wegen seiner gegen uns gerichteten Expansionstendenz auch gefährlichsten Nachbarn.12

Im Kontext solcher Rhetorik ist es mithin nicht verwunderlich, dass die offizielle Kontaktaufnahme und die ersten gegenseitigen Staatsbesuche Anfang der 1950er Jahre in der Zeit nach Februar 1948 von den führenden politischen 9 Nejedly´, Zdeneˇk: ,Ke konferenci z‚padn†ch imperialistu˚‘, in: Nejedly´, Zdeneˇk: Nedeˇln† epiˇstoly V (Rok 1950). Praha 1955, S. 153. 10 „Wie brutal Hitler die kommunistische Partei auch verfolgte, er konnte trotzdem nicht alle Kommunisten vernichten. Zehntausenden von tapferen Fortschrittskämpfern gelang es, sich zu retten, Tausende kehrten aus der Emigration zurück. Zehntausende von Menschen organisierten sich in einer Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus bei illegaler Arbeit und in den Konzentrationslagern.“ Pavlenko, Petr A.: Mlad¦ Neˇmecko. Praha 1952, S. 27. 11 Utitz, Bedrˇich: Neˇmecky´ lid v boji za m†r, jednotu a demokracii. Praha 1950, S. 4. 12 Nejedly´, Zdeneˇk: ,N‚vsˇteˇva presidenta Klementa Gottwalda v Neˇmeck¦ demokratick¦ republice‘, in: Zdeneˇk Nejedly´ : Nedeˇln† episˇtoly VI (Rok 1951 – 1952). Praha 1956, S. 176.

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Posten aus als Wendepunkte in der Geschichte beider Völker, Tschechen und Deutschen, präsentiert wurden.13 Selbst Wilhelm Pieck stellte in der Rede anlässlich seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 1949 unter anderem fest, dass die Entstehung der eigenständigen ostdeutschen Republik für ihr Volk eine Wende in der deutschen Geschichte bedeutete. Er vergaß nicht zu betonen, dass ehrliche Freundschaft mit den slawischen Staaten, angeführt von der Sowjetunion, vor allem jedoch mit Polen und der Tschechoslowakei, ein charakteristisches Merkmal des politischen Kurses des Staates sein sollte.14 Eine Art Antwort erhielt Pieck im Juli 1950 von dem tschechoslowakischen Präsidenten Gottwald, als dieser in Reaktion auf einen Besuch, welchen der Tschechoslowakei die Regierungsdelegation der DDR abgestattet hatte, dem DDR-Vertreter versicherte, dass sich das tschechoslowakische Volk tatsächlich der Kehrtwende in den wechselseitigen Beziehungen zwischen „den Völkern unserer Länder“ die durch die Entstehung der DDR eingetreten sei, bewusst sei.15 Somit sollte der damalige Herbstbesuch des Präsidenten Pieck in Prag in den Worten des Vorsitzenden der tschechoslowakischen Regierung Anton†n Z‚potocky´ vom Oktober 1951 klar zeigen, dass „hinter dem Erzgebirge die alten germanischen gewalttätigen und eroberungslüstigen Pläne liquidiert worden waren und dass unserer Eigenständigkeit und Ruhe von dieser Seite her keine Gefahr mehr droht.“16 Der tschechoslowakische Bauindustrieminister Emanuel Sˇlechta proklamierte die Freundschaft zum friedliebenden Volk Deutschlands und erinnerte dabei an eine historische Erfahrung: Zum ersten Mal in einer jahrhundertelangen Geschichte der Kämpfe und Streitigkeiten zwischen unseren beiden Völkern haben das unsere und das deutsche Volk einen Weg zueinander gefunden, zur nachbarlichen Freundschaft, indem sie nach dem Sieg der Sowjetunion über den Faschismus die Herrschaft der Großgrundbesitzer, Industriellen und Kapitalisten abgeschafft haben, die für ihre Interessen und Gewinne das Volk missbrauchten und unter sich in den Kampf trieben.17

13 In seiner Rede anlässlich des Besuches der tschechoslowakischen Regierungsdelegation in der DDR im März 1952 sagte Klement Gottwald unter anderem Folgendes: „Es war wirklich ein großes und völlig neues Ereignis in der Geschichte unserer Völker. Der Besuch der Delegation der Deutschen Demokratischen Republik, angeführt von ihrem Präsidenten, in der Tschechoslowakei [im Oktober 1951] war ein fröhliches Zeugnis dessen, dass die Streitigkeiten und das Misstrauen, die zwischen unseren Nationen jahrhundertelang angedauert hatten, ein für alle Mal verschwunden waren.“ in: ,Dokumenty cˇeskoslovensk¦ zahranicˇn† politiky 1945 – 1960‘. Praha 1960, S. 501. 14 Pieck, Wilhelm: Projevy a stati. Vy´bor z let 1935 – 1950. Praha 1951, S. 220. 15 Pieck 1951, S. 496 – 497. ˇ esk¦ republiky‘, verfügbar unter : [Zugriff: 23. 02. 2012]. ˇ esk¦ republiky‘, verfügbar unter : [Zugriff: 23. 02. 2012].

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Somit wollte Sˇlechta an der nordwestlichen Grenze des tschechoslowakischen Staates ein friedvolles Volk leben sehen, das an dem gemeinsamen Projekt arbeitete, „ein besseres Leben für alle Arbeitenden zu gestalten und Frieden für die Menschheit zu sichern. […] Wir bleiben dieser Freundschaft zwischen dem tschechischen und dem deutschen Volke treu.“18 Die Entstehung der DDR wurde in den zeitgenössischen tschechischen Broschüren, Zeitungsartikeln und Reden mit einer gewissen, auf den ersten Blick nicht immer offensichtlichen Tendenz verfolgt, in deren Vorgeschichte der Brief Stalins an die Vertreter der proklamierten Deutschen Demokratischen Republik vom Oktober 1949 mit einbezogen werden kann. Der sowjetische Herrscher hatte in seinem offenen Brief genau darüber geschrieben, dass die Gründung des neuen Staates, einer friedvollen Republik, einen Meilenstein in der europäischen Geschichte darstelle, durch den letztlich die Möglichkeit neuer Kriege und neuen Blutvergießens in Europa ausgeschlossen werde.19 Dieses Schreiben Stalins, das offiziell an den neu gewählten Präsidenten Wilhelm Pieck und den Regierungsvorsitzenden Otto Grotewohl geschickt worden war, ist auch aufgrund seines Potenzials für die Gestaltung des Bildes eines progressiven und befreundeten Staates im tschechischen Kontext bemerkenswert. Die Entstehung der neuen Republik trennte als Meilenstein bis zu einem gewissen Grad die jüngste deutsche nationalsozialistische Vergangenheit von der Gegenwart und von der zu erwartetenden Zukunft ab. Sie konnte dementsprechend einen Ausgangspunkt für die Erneuerung Deutschlands und das Heranwachsen neuer Menschen darstellen20 als ein von der Vergangenheit abgeschottetes, von den Schatten längst verstrichenes sowie in der jüngsten Zeit unbelastetes und nach vorne blickendes zukunftsorientiertes Moment. In diesem Geiste wurde auch ein Teil der verständlichen Argumente konzipiert, die den traditionellen anti-deutschen Stereotypen in der tschechischen Gesellschaft entgegen wirken sollten. In Betracht gezogen wurden allerdings nicht nur die Belege, die an die friedliche Gegenwart der DDR erinnerten. In diesem Zusammenhang wurden oft Motive des Deutschen Frühlings oder des Jungen Deutschlands als Land der Gegenwart und der Zukunft wiederholt, die allem voran durch lachende Jugendliche in den Blauhemden der Freien Deutschen Jugend verkörpert und durch Friedenstauben der gesamtdeutschen Jugendtagung im Frühjahr 1950 oder den III. Weltfestspielen der Jugend und 18 Ebd. 19 Im Schreiben vom Oktober 1949 an die Vertreter der Deutschen Demokratischen Republik schrieb Stalin ferner darüber, dass im Zweiten Weltkrieg das deutsche und das sowjetische Volk die größten Opfer gebracht hätten und „dass das Volk der beiden Länder in Europa über das größte Potenzial verfügt, die größten Aktionen von weltweiter Bedeutung in die Tat umsetzen.“ Pieck 1951, S. 219. 20 Pavlenko 1952, S. 38.

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Studenten im August 1951 symbolisiert wurden. Mit den Worten Asˇkenazys: „Eine reine Taube steigt aus der Asche von Hitlers Nest hervor – das war die Verkündung des deutschen Frühlings und wir glauben an ihn.“21 Sicherlich war es auch kein Zufall, dass der erwähnte Rundfunkjournalist und Schriftsteller Asˇkenazy seine Reportagensammlung aus dem Jahr 1951 über seine Reise durch die DDR mit der Schilderung der Überquerung der tschechisch-ostdeutschen Grenze irgendwo hinter Deˇcˇ†n (Tetschen) eröffnet: Auf der anderen Seite der Schranke standen Deutsche. Sie waren jung, sie riefen „Freundschaft!“ und erwarteten eine Antwort. Diese Antwort war ihnen wichtig wie das Leben selbst. Sie verlangten nach einer Antwort. Vielleicht war dein Hals wie zugeschnürt, Genosse, sicherlich war dein Hals wie zugeschnürt. […] Du bist mutig und weise. Du hast kurz über Gestern nachgedacht und hast dann gleich dem Morgen zugewinkt.22

Der Tscheche sollte also, wie es hier beispielhaft dargestellt wurde, neuen Menschen und einem anderen Land zuwinken, nämlich dem neuen Deutschland, das sich so stark von dem vorherigen aggressiven Staat unterschied. Einer Republik, welche die Generäle, Junker, Monopolisten und alten Lehrer verlassen hätten und wo hingegen die Jugend – und ihre Kraft und Hoffnung – geblieben seien (Abb. 1).23 Das Konzept der eigenständigen Geschichtslosigkeit der DDR bzw. die Tendenz, vor allem über die Zukunft zu sprechen und zu schreiben, kann auch dahingehend weitergedacht werden, dass wir es faktisch auch bei dieser Vorstellung mit einer Rolle der Geschichte in der Herausbildung eines positiven tschechischen DDR-Bildes zu tun haben. Dabei geht es nicht um die Geschichte im Sinne eines Narrativs der Vergangenheit, sondern um die Geschichte als eigenständigen Imperativ der historischen Notwendigkeit.24 Es wurden schon die Aussagen von Stalin bzw. Pieck über die Gründung des ostdeutschen Staates als bahnbrechender Augenblick, historischer Moment und Meilenstein der deutschen Geschichte erwähnt. Ähnliche Stimmen wurden ebenfalls im tschechischen Umfeld laut. Eine konkrete Stimme aus der DDR, die des ins Tschechische übersetzten Journalisten und Politikers Albert Norden, war sehr deutlich: „Oder wir ziehen einen endgültigen Schlussstrich unter der bisherigen deutschen Entwicklung und richten unser deutsches Zuhause neu ein, und zwar wirklich demokratisch, so dass alle, die darin wohnen, genügend Raum, Luft und 21 22 23 24

Asˇkenazy 1951, S. 14. Ebd., S. 10 – 11. Ebd., S. 218. Über die deutschen Nachkriegsnarrative mehr: Jarausch, Konrad / Sabrow, Martin: Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002.

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Abb. 1: „Sie waren jung, sie riefen ,Freundschaft‘!“, aus: Ludv†k Asˇkenazy, Neˇmeck¦ jaro (Deutscher Frühling), Praha 1951.

Lebensunterhalt haben. Die Geschichte lässt uns keinen Umweg, keine Seitengasse, keinen mittleren Weg einschlagen.“25 Tatsächlich mochte die Rolle der Geschichte auch so aussehen wie der oben erwähnte Imperativ, also wie eine Geschichte, die den progressiven und gesunden Teil der deutschen Gesellschaft zu einer konkreten politischen Orientierung und auf einen konkreten geopolitischen Pfad zwingt. Diesen Weg zu verlassen, hätte nämlich im Kontext der marxistisch-leninistischen Auffassung der geschichtlichen Notwendigkeit bedeutet, dem mutmaßlichen Verlauf der Geschichte zu trotzen. Vor allem unter den Umständen, in denen die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands in einem Teil Europas vehement nicht nur als eine militärische Niederlage, sondern auch als Zeichen der Niederlage des westlichen Imperialismus und kapitalistischen Systems gedeutet wurde. „Es ist eine geschichtliche Notwendigkeit, dass die DDR einmal die Lenkung des Schicksals ganz Deutschlands in die Hand nehme. Es gibt kein Zurück. Und vorwärts zu gehen bedeutet, den Weg der Demokratie und des Friedens einzuschlagen, den Weg der Deutschen Demokratischen Republik.“26 Allerdings wird die Überlegung über die spezifische Geschichtslosigkeit der 25 Norden, Albert: Z‚kulis† neˇmecky´ch deˇjin [Aus der Hinterbühne der deutschen Geschichte; das deutsche Original erschien unter dem Titel „Lehren deutscher Geschichte”; das Zitat ist eine Rückübersetzung aus dem Tschechischen]. Brünn 1949, S. 256. 26 Utitz 1950, S. 4.

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DDR durch die Bemühungen bei der Suche von progressiven historischen Traditionen des neuen Staates seitens der tschechoslowakischen Ideologen relativiert. Vielleicht kann deswegen von einer Art pluralistischer Interpretation der Entstehung der DDR ausgegangen werden: Auf der einen Seite stand die eigenständige Abschottung von der negativen Vergangenheit und den Schattenseiten der deutschen Geschichte im Geiste der Bejahung der geschichtlichen Notwendigkeit und dem nach vorn gerichteten Blick, auf der anderen Seite jedoch die Berufung auf die fortschrittlichen Traditionen des deutschen Volkes und deren Erfüllung in einem Teil Deutschlands in der Nachkriegszeit: Nach dem Zusammenbruch des Faschismus im Jahr 1945 war es notwendig, ein neues Kapitel in der Geschichte Deutschlands aufzuschlagen. Es war aber genauso notwendig, an die geschichtliche Entwicklung anzuknüpfen, die so oft durch kapitalistische Machinationen und faschistische Gewalt unterbrochen und verdreht worden war.27

Möglich ist auch die Sichtweise, bei der der Konflikt zwischen den progressiven und den regressiven, negativen deutschen Traditionen das ursprünglich einheitliche Land, zumindest aus der tschechischen Perspektive gesehen, geteilt hatte. Die Tradition des Verrates materialisierte sich im westdeutschen Staat, sie sollte innerhalb seiner Grenzen fortwährend präsent sein und diesen Staat zu einem Land der Vergangenheit machen. Die Tradition des Fortschrittes hatte dagegen in der neuen progressiven DDR die Weichen für einen Weg in die Zukunft und in die Glückseligkeit gestellt.

Im Licht des roten Kelches Eine wichtige Rolle bei der Überwindung des Misstrauens der Tschechen gegenüber allem Deutschen spielten, vielleicht auch infolge der Logik des tschechisch-deutschen Widerstreits der Vergangenheit, Belege historischer Provenienz.28 Aus tschechischer Sicht war dies eigentlich einleuchtend. Das geschichtliche Erbe, also auch adäquate Geschichtsbilder, hatte eine nicht unbedeutende Funktion bei der Legitimierung der Machtansprüche der kommunistischen Diktatur, wobei sich die Kommunisten für die Erben der nationalen fortschrittlichen Tradition hielten und sich selbst als die logische Konsequenz der bisherigen nationalen Entwicklung bzw. als die Krönung der geschichtlichen 27 Ebd., S. 38. 28 „Ist es widersinnig, die Grundlage des zukünftigen Verhältnisses zwischen Deutschen und Tschechen bei den Historikern zu suchen? Womöglich scheint es dem deutschen Betrachter so. Im Leben des tschechischen Volkes, auch noch in der jüngsten Gegenwart, spielt die Geschichte als Wissenschaft und als Literatur eine ungleich größere Rolle als bei uns.“ Seibt 1974, S. 287.

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progressiven Anstrengungen des tschechischen Volkes präsentierten.29 Ausgewählte geschichtliche Prozesse sollten gleichzeitig zu einem Instrument für die Formierung von freundschaftlichen Beziehungen der Tschechoslowakei zu den übrigen Ländern des Sowjetblocks werden. Bei diesen Anstrengungen fiel dem mittelalterlichen Hussitentum eine wichtige Stellung zu. Der Hussitismus wurde von den tschechischen regimetreuen Historikern als patriotische Bewegung verstanden und folglich auch so präsentiert.30 Das politisierte Bild der Hussiten stellte diese als eifrige Patrioten und Verteidiger des tschechischen Volkes, der kulturellen Werte der Nation und der tschechischen Sprache dar. Der Auffassung der kommunistischen Machthaber zufolge wurden also die Hussiten des 15. Jahrhunderts zu eigenständigen sozialistischen Patrioten. Wie bei dem Historiker und Popularisator der Tradition der hussitischen Revolution Josef Macek in seinem Buch Husitsk¦ revolucˇn† hnut† (Die hussitische Revolutionsbewegung, 1952) anklingt, käme es der hussitischen Bewegung in ihrem Kampf nicht nur auf eine sozial gerechte Ordnung an, sondern sie hätte auch die glückliche Entwicklung der tschechischen Heimat ins Visier genommen. Deshalb hätten die Hussiten ihr Land unermüdlich verteidigt und sich den fremden Kreuzfahrerhorden, die ihre tschechische Heimat zu unterwerfen suchten, mit entschlossener Einheit gestellt. Gerade die Liebe zur traditionell idealisierten Heimat soll in Maceks Auffassung die Hussiten zum Wiederstand angespornt haben: „Die revolutionären Volksheere der Hussiten konnten ihre Heimat erfolgreich gegen beliebig starke Feinde verteidigen, weil sie all das Schöne verteidigten, das ihre Vorfahren geschaffen hatten, weil sie begeistert einen vaterländischen Krieg führten.“31 Freilich durften die Hussiten in der Tschechoslowakei nach Februar 1948 im Einklang mit dem Geist des sozialistischen Patriotismus und des proletarischen Kommunismus nicht mit dem Feind en bloc kämpfen. Die bozˇ† bojovn†ci (Gotteskrieger) sollen jedoch leidenschaftlich die Rechte und Freiheiten des tschechischen Landes verteidigt haben, gleichzeitig aber auch immer dazu fähig gewesen sein, sich einen Weg zu den Nachbarnationen zu bahnen und mit diesen Völkern vereint gegen den gemeinsamen Feind – die ausbeuterische Gesellschaftsordnung – zu ziehen.32 Auf dieser Grundlage entwickelten sich dann die 29 Gûrny, Maciej: „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“. Nation, Marxismus und Geschichte im Ostblock. Köln 2011. 30 Rand‚k, Jan: ,Geschichte als Argument. Die Bilder des Hussitentums in der modernen tschechischen Gesellschaft‘, in: STIFTER JAHRBUCH NEUE FOLGE 2012/26, S. 113 – 124. 31 Macek, Josef: Husitsk¦ revolucˇn† hnut†. Praha 1952, S. 13. 32 Ebd. „Unser eifriger Patriotismus ist untrennbar mit proletarischem Internationalismus verbunden. Allerdings gewannen die Hussiten in den umliegenden Ländern nur einen Teil der Kämpfer für die Ideale der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit. Die Wachhunde des Feudalismus, die Inquisitoren und Büttel, verhinderten die Formation einer einheitlichen revolutionären Hussitenfront.“

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Voraussetzungen für die Herausbildung eines revolutionären Bündnisses und Solidarität mit ähnlich leidenden Menschen aus den Nachbarländern.33 In verschiedenen Foren wurde auch wiederholt bekräftigt, dass der hussitische Patriotismus keinen Ausdruck des blinden tschechischen Chauvinismus darstelle. Ganz im Gegenteil: Sein sozialer Kerngedanke und seine klassenbezogene Ausrichtung seien die Voraussetzung für seine Vermittlerrolle bei der Verständigung der internationalen Volksschichten gewesen: „In der hussitischen Revolutionsbewegung sehen wir eine seltene und enge Verbindung des volkstümlichen Patriotismus und der brüderlichen internationalen Solidarität zwischen verschiedensprachigen Völkern.“34 Den roten hussitischen Kelch ließen die engagierten tschechischen Historiker und Ideologen als Aufforderung zum internationalen Kampf nicht nur für die ausgebeuteten mittelalterlichen Tschechen, sondern auch für das Gebiet außerhalb Böhmens aufleuchten. In dieser Hinsicht waren für die Geschichtspolitik der tschechischen Kommunisten entsprechend ähnlich interpretierte mittelalterliche Kämpfe in den Nachbarländern von Interesse. Dieser Auffassung zufolge sollen unter anderem die deutsche Reformation und der in der Klassenoptik betrachtete Deutsche Bauernkrieg an das hussitische Erbe angeschlossen haben. Der Historiker Macek legte in einem seiner Texte dar, dass die Tradition der hussitischen Revolution auch in Großpolen und Kujawien präsent gewesen sei, wobei er keinerlei Zweifel über ihre aktuelle politische und proletarisch-internationale Bedeutung hatte: Wie viele Helden und tapfere Krieger gab es unter diesen polnischen Hussiten! Welch schöne Beispiele entschlossenen Kampfes um ein besseres und fröhlicheres Leben gibt es im Kampf der großpolnischen und kujawischen Hussiten! […] Der Widerhall des Hussitismus in Großpolen und Kujawien gehört mitunter zu den großartigsten Passagen in der Geschichte der tschechisch-polnischen Beziehungen, und wir können auch heute zu Recht stolz auf ihn sein.35

In der populären Auffassung setzte sich auch Minister Nejedly´ für die tschechoslowakisch-polnische Freundschaft und Zusammenarbeit ein. In der Zeitschrift Var (Der Siedepunkt) sowie in seinen regelmäßigen Rundfunkreden erinnerte er daran, dass Erfolg und Unglück beider Nationen immer voneinander abhängig waren – wenn die Tschechen im Einklang mit den Polen agierten, war diese Zusammenarbeit für beide Nationen von Vorteil. Umgekehrt ebneten die Bemühungen, auf Kosten der jeweils anderen Nation Gewinn zu erzielen, nur den Weg zu Rückschlägen. Es überrascht (deshalb) nicht, dass Nejedly´ im Jahr 1949 Argumente für die gegenseitige Zugehörigkeit beim hussitischen Feldherrn 33 Macek 1952, S. 19. 34 Macek 1952, S. 5. 35 Macek, Josef: Husit¦ na Baltu a ve Velkopolsku. Praha 1952, S. 162.

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Jan Zˇizˇka suchte: „Er erscheint mir diese Woche im Geiste besonders lebendig wie auch die Vorstellung, was er gesagt hätte, hätte er unsere Freundschaft mit den Polen erlebt.“36 Nejedly´ war überzeugt, dieser Krieger sei „im Laufe unserer Geschichte […] der überhaupt größte Polonophile, Freund der Polen“ gewesen. Dazu sei er damals geworden, als er den Polen im Krieg gegen den Deutschen Ritterorden diente: „Und er ist da mit den Polen derart eins geworden, dass dies bis an sein Lebensende einer seiner politischen Hauptgedanken war, diese tiefe Freundschaft zu den Polen.“37 Seine Leser überzeugte Nejedly´ auch mit Hilfe der Vision eines angeblich strahlenden Zˇizˇka: „Ich sehe geradezu, wie sein Gesicht strahlt, sähe er die enge Verbrüderung zwischen uns und den Polen. Er gäbe uns bestimmt seinen Segen mit auf den Weg, genauso wie Hus selbst, als er seine Treuen für die Polen in den Kampf gegen die Deutschen nach Grundwald schickte.“38 Nach dem Februarumsturz von 1948 hatte das tschechoslowakische Volk also seine Bereitschaft zur Versöhnung und Zusammenarbeit auch mit ursprünglich feindlichen Nationen zu zeigen. In den Worten von Nejedly´ : Wir hatten einst Streitigkeiten mit unseren polnischen Brüdern, heute ist davon keine Spur. […] Aber da war Ungarn, mit dem unsere Slowaken jahrhundertelang grausam um ihre nackte Existenz rangen. Trotzdem ist unser jetziges Verhältnis zur Ungarischen Demokratischen Volksrepublik mehr als freundlich und von der einstigen Feindschaft ist keine Spur.39

Ähnlich wie in dem angeführten Fall Polens Zˇizˇka zur Schließung der traditionellen Freundschaft verhalf, waren im Fall Ungarns unter anderem die slowakischen „Kleinbrüder“ (Bratrˇ†ci), also die slowakische Entsprechung der tschechischen Hussiten, Mittelsmänner. Auch tschechisch-ostdeutsche Freundschaft sollte auf einer festen Grundlage von historischen Argumenten fußen. Eine sich der Geschichte zuwendende Tendenz klang in der Debatte an der Fakultät für internationale Beziehungen der Prager Karlsuniversität bzw. in der dazu im Jahr 1954 erschienen Broschüre, des Politikers und späteren Ministers Jirˇ† H‚jek, an. Dieser behauptete, dass nur eine richtige Bewertung der historischen Tatsachen das wahre Wesen der deutschen Frage und der Beziehung der tschechischen Nation zu ihr aufzeigen könne. Für ihn beruhte dieses wahre Wesen im Widerstreit zwischen fortschrittlichen und reaktionären Kräften um die Führung der Nation und die Herrschaft über den deutschen Staat.40 36 37 38 39 40

ˇ eskoslovensko-polsk¦ prˇ‚telstv†,‘, in: VAR 1949/6 – 7, S. 162. Nejedly´, Zdeneˇk: ,C Ebd.. Ebd. Nejedly´ 1956, S. 176. H‚jek 1954, S. 9.

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Eine Bestätigung der Absicht, die tschechisch-ostdeutschen Beziehungen auch durch historische Belege zu stützen, stellt auch die Gründung einer gemeinsamen Historikerkommission der Tschechoslowakei und der Deutschen Demokratischen Republik im Anschluss an das Kulturabkommen zwischen den beiden Staaten dar.41 In der Tschechoslowakischen Zeitschrift für Geschichte (Cˇeskoslovensky´ cˇasopis historicky´) wurde diese internationale Zusammenarbeit anlässlich der ersten Sitzung der Kommission im Frühjahr 1955 als Beispiel der neuen, sich seit dem Jahr 1945 entfaltenden brüderlichen Beziehungen zwischen beiden Nationen präsentiert.42 Es sei daran erinnert, dass diese internationale Kommission die erste einer Reihe ähnlicher Institutionen war, die unter den Staaten des Sowjetblocks entstanden. Konkret sollte das tschechisch-ostdeutsche Komitee eine fachliche Basis für gemeinsame Forschungsaufgaben zur Unterstützung der Herausbildung eines positiven Geschichtsbildes des jeweils anderen werden. Erst unter veränderten politischen Umständen könnten die angeblich tiefen historischen Wurzeln der Zusammenarbeit der fortschrittlichen Kräfte des tschechoslowakischen und deutschen Volkes erforscht werden.43 Die geschichtliche Argumentation fand neben der akademischen Sphäre und dem Bereich der Aufklärungsarbeit auch auf der politischen Bühne Widerhall. Stellvertretend für alle Stimmen sei hier der schon zitierte H‚jek, nun in seiner Rolle als Abgeordneter angeführt, der im Oktober 1951 in der Nationalversammlung über den nationalen Charakter der tschechoslowakischen Auslandspolitik sprach. In seiner Rede erinnerte er an den unweit zurückliegenden Besuch des ostdeutschen Präsidenten Pieck in Prag, wobei gerade Piecks Reise in die Hauptstadt der Tschechoslowakei H‚jeks Auffassung zufolge jene historischen Kräfte symbolisiere, die es angeblich schon jahrhundertelang angestrebt hätten, dass „über die ernsthaften Lebensfragen Deutschlands das deutsche Volk entscheidet, so dass Deutschland nicht zum Schrecken und zur Gefahr, sondern zum Freund und Kollegen für seine Nachbarländer und -völker wird.“ Aus H‚jeks Sicht handelte sich dabei um Kräfte, die den Tschechen und Slowaken immer freundlich gewogen gewesen waren: In ihrem Namen hat schon im 16. Jahrhundert der große plebejische Revolutionär Thomas Münzer gesprochen, als er sich Prag als einer Quelle der hussitischen revolutionären Tradition zuwandte, an die er sich in seinem Kampf gegen die deutschen Herren und Kirche anlehnen wollte. In ihrem Namen haben im Jahr 1848 Marx und ˇ S(S)R 1955 – 41 Korˇalka, Jirˇ†: ,Die Tätigkeit der Kommission der Historiker der DDR und der C ˇ S(S)R 1949 – 1989. Eine Bezieˇ ezn†k, Milosˇ / Rosenbaum, Katja.: DDR und C 1967‘, in: R hungsgeschichte am Anfang. München 2012, S. 137 – 145; Zimmermann 2010, S. 475 – 495. ˇ SR a NDR‘, in: C ˇ eskoslovensky´ cˇasopis 42 Sˇolle, Zdeneˇk: ,Prvn† zased‚n† komise historiku˚ C historicky´ 1955/4, S. 728. 43 Ebd.

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Engels die Prager Revolution begrüßt, den gegen schwächere Nationen gerichteten Chauvinismus des deutschen Bürgertums scharf angreifend. In ihrem Namen haben Bebel und Wilhelm Liebknecht gegen Bismarck und den Wilhelm‘schen Militarismus angekämpft, in ihrem Namen traten im Ersten Weltkrieg mutig Karl Liebknecht und Luxemburg auf. An ihrer Spitze hat Ernst Thälmann gegen den Verrat der Reformisten und gegen die Barbarei Hitlers gekämpft. An ihrer Spitze hat mit der Unterstützung der Sowjetunion die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, geführt von Wilhem Pieck, gesiegt.44

Um ein möglichst breites Publikum anzusprechen leitete die kommunistische Propaganda verschieden Schritte ein. Darunter auch die Zusammenstellung einer Wanderausstellung mit dem aufschlussreichen Gottwald‘schen Titel „Nicht alle Deutschen sind gleich“ („Nen† Neˇmec jako Neˇmec“), die während des Jahres 1954 im südböhmischen Kreis zu sehen war. Aus heutiger Sicht handelt es sich nur um einen weiteren Beleg für die Bemühungen der kommunistischen Machthaber, die Wahrnehmung der tschechischen Öffentlichkeit im Hinblick auf den ostdeutschen Nachbarn umzugestalten, in diesem Fall in einem Gebiet, das durch den zeitlich immer noch relativ unweit zurück liegenden Austausch der Bevölkerung im Rahmen der Abschiebung der Sudetendeutschen betroffen war. Nun sollten mit Hilfe der Ausstellung auch die Einwohner Südböhmens begreifen, dass die Kamarilla Hitlers nicht mit der ganzen deutschen Nation gleichzusetzen sei: „Die Ausstellung sollte jeder besuchen, der das Volk liebt, den Frieden und Fortschritt will und ein dauerhaftes Zusammenleben zweier demokratischer Nationen wünscht […].45 Das Blatt Jihocˇesk‚ pravda (Südböhmische Wahrheit) informierte seine Leser darüber, dass die Ausstellung während ˇ esk¦ Budeˇjovice (Budweis) ganze 2.000 Besucher willihrer Verweilzeit in C kommen heißen konnte. Die Ausstellung brachte diesen, gerade auch anhand von Beispielen aus der älteren Geschichte, die Kontakte zwischen dem tschechischen und deutschen Volk nahe. Mit Hilfe von konkreten Beispielen zeigte sie, „wie stark der Einfluss des hussitischen Gedankenguts auf das deutsche Volk war, worin wir uns dem deutschen Volk im Kampf um den sozialen Fortschritt annäherten.“46 Ähnlich zeigte die Ausstellung für die spätere Periode der Arbeiterbewegung, dass es gerade die Arbeiterklasse gewesen sei, die auf nationalbedingte Fehden und Konflikte verzichtete und stattdessen einen gemeinsamen tschechisch-deutschen Kampf gegen die Ausbeuter führe. Der Appell der südböhmischen Kreiszeitung an die Leser war dabei eindeutig: „Es ist erforderlich, diese Ausstellung zu besuchen und auch über weitere Bilder und Fotografien aus der Deutschen Demokratischen Republik sowie aus Westˇ esk¦ republiky‘, [Zugriff: 23. 2. 2012]. 45 Pokorny´, Rudolf: ,Vy´stava „Nen† Neˇmec jako Neˇmec“‘, in: Jihocˇesk‚ pravda 1954/53, S. 5. 46 Ebd.

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deutschland nachzudenken.“47 Es sei noch ergänzt, dass gerade der südböhmische Kreis, zusammen mit dem westböhmischen, das Grenzgebiet zur damaligen Bundesrepublik Deutschland darstellte. Es handelte sich dementsprechend um ein Gebiet, dem die kommunistische Propaganda naturgemäß größere Aufmerksamkeit schenkte. Ähnlich wie im Falle Polens und Ungarns sollte hier die wichtige Brücke zum historischen tschechisch-deutschen Widerstreit abermals über den Hussitismus geschlagen werden, in den Worten des Historikers Macek ging es bezeichnenderweise um einen kompromisslosen Kampf gegen die deutschen Kreuzfahrer und um die Liebe zu den treuen deutschen Hussiten.48 Wer sollte also im Kontext der Geschichte klar und eindeutig als deutscher Feind angesehen werden? Vor allem die deutschen Kreuzfahrer und die in Raubzügen in Böhmen eingefallenen Lehnherren, des Weiteren das deutsche Patriziat sowie die deutschen Prälaten. Nur gegen sie „führten die Hussiten einen entschlossenen und leidenschaftlichen Kampf, gegen diese erhoben sie im Namen der ganzen tschechischen Nation ihre Stimme.“49 Letzten Endes solle für die Qualität eines Menschen seine Liebe zur Gerechtigkeit, genauer gesagt zur gerechten Gesellschaftsordnung, maßgeblich sein und nicht seine Sprache.50 Deshalb sei es laut Macek ein Irrtum und eine grobe Fälschung der historischen Realität, den Hussiten einen national bedingten Hass unterzuschieben; der „Völkerbund“ der tschechischen und der deutschen Hussiten sollte in der Zeit nach Februar 1948 von niemandem und nichts angezweifelt werden.51 Auch wenn man sich jetzt auf Josef Macek als Historiker bezieht, handelte es sich trotzdem nicht um Thesen, die nur Teil des Fachdiskurses gewesen wären. Sie fanden bei verschiedenen Anlässen auch in der populären Form Widerhall, zum Beispiel in der zeitgenössischen landesweiten Presse. Anlässlich des Gedenkens der Verbrennung von Jan Hus im Juli 1955 bemerkte der Szenarist und Dramatiker Milosˇ V‚clav Kratochv†l in Rud¦ pr‚vo (Rotes Recht), der zentralen Zeitung der kommunistischen Partei, unter anderem, dass zur Zeit der Hussi47 48 49 50 51

Ebd. Macek, Josef: Husit¦ na Baltu a ve Velkopolsku. Praha 1952, S. 24. Ebd. Macek, Josef: Husitsk¦ revolucˇn† hnut†. Praha 1952, S. 166. Macek 1952 ,Husitsk¦ revolucˇn† hnut†‘, S. 24. Obwohl zum Beispiel in der Arbeit von Rajmund Habrˇina noch zur Zeit ihrer zweiten Auflage im Herbst 1948 eine andere Tendenz auszumachen ist. Habrˇina präsentiert den Hussitismus als den zweitwichtigsten (nach der Mission von Kyrill und Method) geschichtlichen Konflikt zwischen dem Tschechentum und dem sozial nicht differenzierten Germanentum: „Und daher rührt die Tiefe des blinden deutschen Hasses gegenüber der tschechischen Nation. Denn mit dem Anbruch unserer ersten und klassischen nationalen tschechischen Revolution, der hussitischen Revolution, beginnt unsere erste Weltepoche, welche die Deutschen nie zu vergessen vermochten. Tausendmal und tausendmal wurde unsere Nation von den Deutschen als hussitisch und ketzerisch verflucht […].“ Habrˇina, Rajmund: Nadcˇloveˇk a nadn‚rod. Praha 1948, S. 78.

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tenkriege die feudale Welt von großer Angst befallen wurde und das nicht nur vor den hussitischen Waffen, sondern „noch mehr vor den revolutionären Gedanken, die aus dem Land des Kelches weit über seine Grenzen hinaus einschlugen.“52 Im deutschen Umfeld kam es laut Kratochv†l dazu, dass „der ländliche Raum und die Städte sich gegen die Obrigkeit erhoben, sie trieben ihre Bischöfe aus und die deutschen Bauern schlossen sich den Hussiten an.“ Das revolutionäre Gedankengut der Hussiten habe schließlich die Jahrhunderte überdauert, wobei es „immer wieder da und dann lebendig wurde, wo ein Kampf um eine gerechtere Gesellschaftsordnung entflammte“, so dass es im Deutschen Bauernkrieg wieder anklang, „in dem großen Bauernkrieg des deutschen Volkes, [und] die Luthersche Reformbewegung sich auf sie berief […].“53 Auch den proletarischen Internationalismus und die internationale Klassensolidarität haben die kommunistischen Machthaber nach dem Februarumsturz 1948 von der hussitischen Bewegung hergeleitet. Die Spuren der hussitischen Ideen entdeckte man auch im deutschen Bauernkrieg, insbesondere in den Aktivitäten von Thomas Müntzer. Auf der Konferenz über den internationalen Widerhall des Hussitismus, die im Jahr 1954 in Liblice abgehalten wurde, äußerte sich hierzu Horst Köpstein, ein junger Leipziger Historiker. Ihm zufolge wirkte der Hussitismus als deutliche historische Tradition und bewusste Kenntnisquelle auf die Anführer der Unzufriedenheit des Volkes in der zweiten Hälfte des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts. Einzelpersonen und verschiedene oppositionelle Zentren wurden verfolgt und teilweise vernichtet. Die revolutionäre Bewegung der Volksmassen wurde jedoch nicht vernichtet und konnte auch nicht vernichtet werden. Mutig und entschlossen griffen die deutsche Landbevölkerung, die Armen und die Bürger getreu auf ihre hussitische Vorbilder zurück und stellten sich an ihre Seite. Damit haben sie selbst, wie einst die revolutionären Hussiten, zur Beilegung der feudalen Gesellschaftsordnung beigetragen, und die frühbürgerliche Revolution in Deutschland in den Jahren 1517 – 1525 vorbereitet.54

Die aktuell-politische Dimension der Thesen Köpsteins war eindeutig – er sprach automatisch auch das Thema des unzerreißbaren Bundes zwischen den tschechischen und den deutschen Hussiten55 oder das Thema der wahren deutsch-tschechischen Klassensolidarität, auf die das ostdeutsche sowie das tschechische Volk zu Recht stolz sein sollte, an. Mit einem unausgesprochenen Verweis auf den unweit zurückliegenden Kriegskonflikt erinnert er gleichzeitig 52 Kratochv†l, Milosˇ V‚clav : ,Neuhas†naj†c† plamen. 540 let od up‚len† Mistra Jana Husa‘, in: Rud¦ pr‚vo 1955/185, S. 3. 53 Ebd. 54 Köpstein. Horst: ,Ohlasy husitsk¦ho revolucˇn†ho hnut† v Neˇmecku‘, in: Mezin‚rodn† ohlas husitstv†. Praha 1958, S. 223 – 283, hier S. 277. 55 Köpstein 1958, S. 270.

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daran, dass die beschriebenen „historischen Tatsachen insbesondere heute als historische Wahrheit und als Beweis für die freundschaftliche Zusammenarbeit, die das tschechoslowakische Volk und das deutsche Volk in der Gegenwart und für die Zukunft verpflichtet, hervorgehoben werden müssen.“56 Eine Art Antwort auf Köpsteins Thesen von der tschechischen Seite kam unter anderem in Form einer Popularisierungsbroschüre des tatkräftigen Macek mit dem Titel Z revolucˇn† minulosti neˇmeck¦ho lidu (Aus der revolutionären Geschichte des deutschen Volkes). In ihr belegt der Autor nicht nur die Inspiration des Deutschen Bauernkrieges an den Hussiten, sondern führt dem tschechischen Leser die Parallelen zwischen den deutschen und tschechischen revolutionären fortschrittlichen Traditionen vor Augen, die ihre Erfüllung allerdings erst im demokratischen Ostdeutschland des arbeitenden Volkes fanden. Durch Maceks Vermittlung sollte der tschechische Leser freilich begreifen, dass sein ostdeutscher Nachbar, was die Geschichte anbelangt, auch mit etwas „prahlen“ könne: Das volksdemokratische Deutschland nimmt im Kampf um den Sieg des arbeitenden Volkes die glorreiche revolutionäre und fortschrittliche Tradition der deutschen Geschichte zu Hilfe, die von den Kämpfen der Kommunistischen Partei Deutschlands zu Karl Marx und Friedrich Engels und von diesen bis tief ins 16. Jahrhundert zum Deutschen Bauernkrieg und Thomas Müntzer zurückreicht.57

Ergänzend sei hier noch die Anmerkung Maceks erwähnt, dass dem Deutschen Bauernkrieg und Thomas Müntzer in der Geschichte des deutschen Volkes eine ähnliche Bedeutung wie der revolutionären Hussitenbewegung in der tschechischen Nationalgeschichte zukomme. Im Hinblick auf die bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass die kommunistische Tschechoslowakei mit dem ostdeutschen Staat in der Idealvorstellung der Führung der tschechischen kommunistischen Partei nicht nur durch das Schicksal nach dem Krieg bzw. durch die Zugehörigkeit zum sowjetischen Lager verbunden sein sollte. Die gegenseitige Freundschaft sollte sich auch auf das Prinzip der angeblich objektiv existierenden fortschrittlichen geschichtlichen Entwicklung beider Staaten stützen, unter anderem auch auf Ereignisse und Vorgänge, die in ihrer historischen Bedeutung auch etwa einige hundert Jahre auseinanderlagen. Begrüßt bzw. hervorgehoben wurden dementsprechend nicht nur die angeblichen Gemeinsamkeiten zwischen dem Deutschen Bauernkrieg und dem Hussitismus, wobei beide geschichtlichen Entwicklungen die gleiche Bedeutung für die jeweilige nationale revolutionäre Tradition haben und einen Beweis dafür darstellen sollten, dass beide Nationen gegen ihre jeweiligen 56 Köpstein 1958, S. 277. 57 Macek, Josef: Z revolucˇn† minulosti neˇmeck¦ho lidu. Tom‚sˇ Müntzer a neˇmeck‚ selsk‚ v‚lka. Praha 1955, S. 3 – 4.

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Ausbeuter für die gleichen Ziele gekämpft hätten.58 Aus Sicht der tschechischen Autoren war ferner die de facto direkte Verbindung beider Ereignisse auf der Ebene der Ideen wesentlich. Nach Macek sollte sich die „Kontinuität der revolutionären Hussitenbewegung und des Deutschen Bauernkrieges“ in vollem Glanz und aus der Sicht der damaligen Gegenwart nach dem Februarumsturz von 1948 heraus ebenso zeigen, dass das Bewusstsein dieser Kontinuität „zur Verfestigung der richtigen Auffassung über die brüderliche Zusammenarbeit mit dem deutschen Volke und über die ganze deutsche Frage beiträgt, die eine buchstäblich existenzielle Frage für unsere Heimat und für den Weltfrieden darstellt.“59 Die spezifische Bedeutung des Deutschen Bauernkrieges und der Tätigkeit von Thomas Müntzer für die tschechische Geschichte und aus heutiger Sicht heraus natürlich auch für das tschechische Publikum nach dem Februarumsturz sollte auch darin bestehen, dass „sich hier die enge Zusammenarbeit und brüderliche Verbindung der Völker beider Länder zeigt.“ Im Deutschen Bauernkrieg zeichneten sich auch die Einflüsse der hussitischen Revolutionsbewegung ab und die „führenden Vertreter der kämpfenden deutschen Armen strebten ganz gezielt eine direkte revolutionäre Verbindung des deutschen und tschechischen Volkes an.“60 Kurz und bündig und in Anlehnung an Klement Gottwald (geäußert): Nicht alle Deutschen waren und sind gleich…

Abbildungen Abb. 1: „Sie waren jung, sie riefen ,Freundschaft!‘“, aus: Ludv†k Asˇkenazy, Neˇmeck¦ jaro, Praha 1951, S. 193.

Literatur Asˇkenazy, Ludv†k: Neˇmeck¦ jaro. Praha 1951. Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M. 1994. Bouvier, Beatrix / Schneider, Michael (Hg.): Geschichtspolitik und demokratische Kultur. Bilanz und Perspektive. Bonn 2008.

58 Macek, Josef: ,Ke korˇenu˚m revolucˇn†ch tradic neˇmeck¦ho lidu‘, in: Soveˇtsk‚ veˇda – Historie 1951/6, S. 117. 59 Macek, Josef: Mezin‚rodn† vy´znam husitsk¦ho revolucˇn†ho hnut†. Neˇmeck‚ selsk‚ v‚lka. Praha 1953, S. 78. 60 Macek 1955, S. 4 – 5.

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Geschichtsbilder im Dienste der sozialistischen Freundschaft

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Manuela Schwärzler (Konstanz)

Zu Besuch bei Brüdern. Tschechische Reiseberichte über Jugoslawien

Reisen im Namen der Brüderlichkeit Mit der Entstehung der Idee, dass alle slawischen Völker Teil einer Familie sind, wuchs im 19. Jahrhundert das Interesse an den „Brüdern“ jenseits der Landesgrenzen. Um im Sinne Koll‚rs die „Wechselseitigkeit“1 zu fördern, wurden zahlreiche Forschungsreisen durchgeführt, deren anschließend veröffentlichte Reiseberichte die Verwandtschaft dokumentierten. Obwohl die Slawische Idee2 bald auch auf die offizielle Politik übertragen wurde und erste panslawistische bzw. austroslawistische Entwürfe für die politische Zukunft der Tschechen, Slowaken und der Slawen allgemein entstanden,3 betraf die Überzeugung der einen slawischen Familie zunächst vor allem den kulturellen Bereich, wie die Schriften der führenden Denker (Sˇafarˇ†k, Koll‚r)4 zeigen. Auf den Reisen konnten so nicht nur Erkenntnisse, Brauchtümer oder Eindrücke gesammelt, sondern gleichzeitig die räumlichen Grenzen ausgelotet werden. Dies entsprach einer umgekehrten Raumerfahrung wie sie in der Vergangenheit durch Pilger

1 Koll‚r definierte die Wechselseitigkeit folgendermaßen: „Wechselseitigkeit oder Gegenseitigkeit, slawisch wz‚jemnost, ist […] also gemeinschaftliches Annehmen, gegenseitiger Austausch und vereinigter Genuss. Die literarische Gegenseitigkeit aber ist die gemeinschaftliche Theilnahme aller Volkszweige an den geistigen Erzeugnissen ihrer Nation […]“. Koll‚r, Jan: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation. Pesth 1837, S. 5. Während Koll‚r überzeugt war, dass eine politische Vereinigung nicht erstrebenswert wäre, da diese Verwirrung und Unglück bringen könnte (ebd. S. 6), wurde der Begriff „Wechselseitigkeit“ (gegenseitiger Austausch) schnell auch im politischen Diskurs verwendet. 2 Hier in Anlehnung an den Historiker Hans Lemberg, der den tschechischen Begriff „slovanstv†“ für die Vorstellung der Verwandtschaft aller Slawen mit „Slawischer Idee“ übersetzt und ausführliche Erklärungen zur Terminologie liefert (Lemberg, Hans: ,Hej Slovan¦! Die Slawische Idee bei Tschechen und Slowaken‘, in: OSTEUROPA 2009/59 – 12, S. 21 – 40, hier S. 24 – 25). 3 Vgl. Moritsch, Andreas (Hg.): Der Prager Slavenkongress 1848. Köln/Weimar/Wien 2000. 4 Sˇafarˇ†k, Pavel: Slovansk¦ starozˇitnosti. Praha 1837; Koll‚r 1844 [1837].

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und Staatsmänner stattgefunden hatte.5 Diese bestimmten durch die Reisen zu ihrem jeweiligen „Zentrum“ (Pilgerstädte, Hauptstadt) die äußeren Grenzen des gemeinschaftlichen Territoriums. Die Reisen im Sinne der Slawischen Idee hingegen erkundeten den Raum in umgekehrter Richtung: Auf der Suche nach slawischen Elementen erfuhren sie die slawische Welt von innen nach außen, um mit eigenen Augen zu sehen, bis wohin der slawische Raum reichte.6 Tom‚sˇ Glanc weist in seinem Aufsatz „Die Erfindung der Slawia“ auf die enge Verflechtung von Reiseberichten und der Slawischen Idee bereits im 19. Jahrhundert hin. Am Beispiel von Koll‚rs Bericht über die Reise nach Ober-Italien im Jahre 1841 (erschienen 1843) zeigt er, wie sehr die Slawische Idee von Herders Konzept der Wechselwirkung von Sprache und Volk geprägt war, vor allem aber auch, dass sich das Motiv des Reisens „[a]ls eine der zentralen Strategien beim ,Bau‘ einer slawischen Welt erweist“.7 Diese Konstruktion, so hebt Glanc hervor, fand insbesondere in der Literatur statt. Doch nicht nur im bereits gut erforschten 19. Jahrhundert wurde der slawische Raum „erschrieben“, auch im 20. Jahrhundert erfüllte die Reiseliteratur ideologische Zwecke. Dieser Spur soll gefolgt werden, um zu untersuchen, welche einheitsstiftenden und integrativen Strategien in den tschechischen Reiseberichten nach dem Zweiten Weltkrieg zur Verfügung standen. Dabei sollen in diesem spezifischen Fall tschechische Reiseberichte8 über Jugoslawien untersucht werden, um zu zeigen, in wie weit sich der politische Diskurs der Nachkriegszeit9 auf den literarischen Diskurs auswirkte. Drei Werke aus den 5 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/M. 1996, S. 60 f. und 116 f. 6 Wendy Bracewell versammelt Texte über solche Reisen im Kapitel „Slav travels“ und hebt deren genannte Bedeutung hervor: „Travellers carried out and disseminated some of the initial research into Slavic philology and ancient history, but they also did much more. Travel accounts of Slavdom consecrated an alternative to the pilgrimage through western Europe […]“. (Bracewell, Wendy (Hg.): Orientations. An Anthology of East European Travel Writing. Budapest, New York 2009 (East Looks West Vol. 1), S. 145. Vgl. dazu auch Bracewell, Wendy : ,Travels Through the Slav World‘, in: Bracewell, Wendy / Drace-Francis, Alex (Hg.): Under Eastern Eyes. A Comparative Introduction to East European Travel Writing on Europe. Budapest/New York 2008 (East Looks West Vol. 2), S. 147 – 194). 7 Glanc, Tom‚sˇ : ,Die Erfindung der Slawia. Zur Rolle des Reisens in der Formierung der „slawischen Idee“‘, in: KAKANIEN REVISITED, 24. 04. 2008, verfügbar unter : [Zugriff: 22. 01. 2012], hier S. 3. 8 Hier soll Borms Definition von Reiseberichten gefolgt werden: „any narrative characterized by a non-fiction dominant that relates (almost always) in the first person a journey or journeys that the reader supposes to have taken place in reality while assuming or presupposing that author, narrator and principal character are but one or identical.” (Borm, Jan: ,Defining Travel: On the Travel Book, Travel Writing and Terminology‘, in: Hooper, Glenn / Youngs, Tim (Hg.): Perspectives on Travel Writing. Aldershot 2004, S. 13 – 26, hier S. 17). 9 Die tschechoslowakische Politik versuchte nach Kriegsende an die intensiven Beziehungen zu Jugoslawien während der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen, siehe weiter unten.

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1950er und 1960er Jahren sind zentral für diesen Diskurs. Sie standen nicht mehr in der Tradition der wissenschaftlichen Forschungsreisen,10 d. h. sie erfüllten keinen reinen Erkenntnisbedarf mehr, sondern dienten der „Reizbefriedigung“:11 Jugosl‚vsk¦ kolo (Ein jugoslawischer Reigen) von Karel Konr‚d erschien 1956 und wurde vier Jahre später mit anderen Reiseberichten in dem Band Okouzlen† lidem i zem† (Bezauberung durch Volk und Land) noch einmal aufgelegt. Mit Setk‚n† v Jugosl‚vii (Treffen in Jugoslawien) veröffentlichte Alena Bern‚sˇkov‚ 1966 interessanterweise einen Reisebericht aus der Sicht eines Mannes. Und schließlich erschien Na obzoru Dubrovn†k (Am Horizont Dubrovnik) von Bohum†r Fiala im Jahr 1967 im Deˇtsk¦ nakladatelstv† (Kinderverlag). Da bei Kindern und Jugendlichen Ideologien auf besonders fruchtbaren Boden fallen, wurde als vorrangiges Zielpublikum eine jugendliche Leserschaft gewählt.12 Dies wird an den Stellen deutlich, in denen die Leser direkt angesprochen werden: „Das wisst ihr sicher schon aus der Schule.“13 Die Reiseberichte erschienen in den Jahren, als die Erwähnung irgendeiner Verbindung zwischen den Völkern der zwei Staaten nicht erwünscht und möglich war. Vom Bruch zwischen den Ländern des Sowjetblocks mit Jugoslawien (1948) bis zum Tod Stalins (1953) erschien kein tschechischer Reisebericht über Jugoslawien, der die „Brüderlichkeit“ zwischen den zwei Staaten bzw. deren Bewohnern hätte hervorheben können.14 Zu groß war der Einfluss der sowjetischen Regierung auf die Tschechoslowakei. Daher erschien Konr‚ds Reisebericht zehn Jahre nach seiner Reise durch Jugoslawien in einer stark zensierten Form. Die erste literarische Verarbeitung dieser Reise mit dem Titel Sˇestin‚sobn‚ ozveˇna (Sechsfacher Widerhall) konnte 1948 zwar noch erscheinen, enthielt jedoch zu brüderliche Töne und verschwand nach dem Bruch mit Tito vom Buchmarkt. Der Reisebericht von Jan Sveˇtly´ aus dem Jahr 1950 bestätigt den politischen Einfluss ebenfalls. N‚rod nepokorˇ†sˇ. Rok sveˇdkem Titovy zrady (Eine Nation demütigst du nicht. Ein Jahr als Zeuge von Titos Verrat) kann als Propaganda-Schrift gegen Titos Jugoslawien bezeichnet werden.

10 Wie etwa die Werke von Ludv†k Kuba, die auch noch in den fünfziger Jahren publiziert wurden (Kuba 1955 und Kuba 1956). Seine wichtigsten Werke erschienen jedoch bereits Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Vgl. die Einträge in der Bibliografie von Bracewell, Wendy / Drace-Francis, Alex (Hg.): A Bibliography of East European Travel Writing on Europe. Budapest/New York 2008 (East Looks West Vol. 3). 11 Vgl. Brenner, Peter : ,Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts‘, in: Ders. (Hg.): Der Reisebericht. Frankfurt/M. 1989, S. 14 – 49, bes. S. 39. 12 Auf der Impressumsseite am Ende des Buches befindet sich die Altersangabe: „Für Leser ab 9 Jahren“. 13 Fiala, Bohum†r: Na obzoru Dubrovn†k. Praha 1967, S. 9. 14 Vgl. Bracewell / Drace-Francis 2008.

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Tschechoslowakisch-jugoslawische Beziehungen im 20. Jahrhundert Die besonders enge „Verwandtschaftsbeziehung“ zu den Südslawen ergab sich für die Tschechen und Slowaken im 19. und 20. Jahrhundert vor allem durch die übergeordnete politische Gesamtsituation: Während anfänglich die Herrschaft der Habsburger die Empfindung einer besonderen „Verwandtschaft“ zwischen den Bewohnern der Tschechoslowakei und Jugoslawiens innerhalb der Slawenfamilie unterstützte, waren es später die ähnlichen Voraussetzungen und Entwicklungen im jeweils eigenen Staat. Die Tschechoslowakei und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Königreich Jugoslawien) waren die zwei einzigen Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie ÖsterreichUngarn, die aus der panslawistischen Bewegung hervorgingen und eine Gleichberechtigung, aber auch Einheit mehrerer Nationen durch die Benennung des Staates zumindest nach außen hin vorgaben. Parallelen gab es demnach durch die Ausgangssituation der beiden Staaten, wo im Gegensatz zu anderen Nationalstaaten in Ostmitteleuropa (z. B. Rumänien) noch keine staatstragende Nation existierte, sondern erst eine solche „gebaut“15 werden musste, aber auch in der (anfänglichen) Struktur des Tschechoslowakismus und Jugoslawismus, der die Völker des jeweiligen Staates zu einer einheitlichen Nation verschmelzen sollte.16 Schon während des Ersten Weltkriegs gingen die jeweiligen Regierungsvertreter im Londoner Exil von einer engen Zusammenarbeit der zukünftigen Staaten aus und manifestierten die Überzeugung der Brüderlichkeit im Frühjahr 1918 mit der Parole „veˇrnost za veˇrnost“ (Treue für Treue) als Ausdruck der gegenseitigen Unterstützung von Tschechen und Südslawen.17 In der Zwischenkriegszeit wurden die Kontakte in sämtlichen Bereichen intensiviert: auf der einen Seite gab es die Idee eines Korridors, der Jugoslawien mit der Tschechoslowakei über einen kleinen Landstreifen auf österreichischem Gebiet verbinden sollte. Zudem wurden zwischenstaatliche Verträge abgeschlossen und 1921 entstand hieraus die Kleine Entente. Doch besonders der Tourismus wurde zu einem der bedeutendsten Bereiche der tschechoslowakisch-jugoslawischen Kontakte und an den tschechoslowakischen Hochschulen studierten (vor allem in den ersten Jahren nach dem Krieg) bis zu 2500 jugoslawische Studenten jährlich. Um die Kontakte im Bereich der Kultur, aber auch der Wirtschaft und 15 In Anlehnung an den englischen Begriff „nation-building“ (Lemberg 1994, S. 582). 16 Lemberg 1994, S. 595 – 600. ˇ eskoslovensko-jugosl‚vsk¦ 17 Chrob‚k, Tom‚sˇ / Tejchman, Miroslav / Hrabcov‚, Jana: ,C ˇ echu˚ s n‚rody a zemeˇmi jihovy´chodn† Evropy. vztahy‘, in: Hladky´, Ladislav (Hg.): Vztahy C Praha 2010, S. 167 – 188, S. 167 f.

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ˇ eskoslovensko-jihoslovansk‚ liga (TschePolitik machte sich vor allem die C choslowakisch-südslawische Liga) verdient, die von 1921 bis 1940 existierte und von führenden Politikern wie Edvard Benesˇ (tschechoslowakischer Außenminister und ab 1935 Staatspräsident), Milan Hodzˇa (tschechoslowakischer Ministerpräsident), Ljuba Davidovic´ (jugoslawischer Premierminister) u. a. unterstützt wurde.18 Die gleichnamige Zeitschrift (1921 – 1929) informierte über ˇ eskoslovenskotschechoslowakisch-jugoslawische Themen und wurde 1930 in C jihoslovansk‚ revue (bis 1940) umbenannt. Je größer die Bedeutung einer Beziehung, desto größer auch die Neigung, diese mit der Blutsverwandtschaft zu vergleichen, so Francesca Rigotti über die Rolle und Funktion der Brüderlichkeitsmetapher in der Politik: „Und von allen Verwandtschaftsverhältnissen hat keines eine so dauerhafte und starke Faszination ausgeübt und einen so festen Platz im politischen Imaginären erhalten wie das der Brüderlichkeit.“19 In den politischen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Titos Jugoslawien wurde schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf beiden Seiten die slawische „Brüderlichkeit“ und „Wechselseitigkeit“ hervorgehoben. Das zeigte sich vor allem bei dem Besuch Titos in Prag 1946. Sowohl in der Presse als auch in den Reden der Politiker wurden die Slawische Idee und das Konzept der Brüderlichkeit verwendet, um die Beziehungen zwischen den zwei Staaten zu charakterisieren. In der tschechischen Tageszeitung Rud¦ pr‚vo (Rotes Recht) wurde Tito während seines Besuchs in Prag als „Nationalheld des brüderlichen Jugoslawien“20 bezeichnet, Tito wiederum soll sich laut Rud¦ pr‚vo in einem Telegramm für „den brüderlichen Empfang“ in dem „Land des Bruderstaates“ bedankt und mit dem Gruß „es lebe die brüderliche Einheit der slawischen Nationen“21 unterschrieben haben. Dies zeigt, dass die beiden Staatsoberhäupter Tito und Benesˇ der wechselseitigen Unterstützung zwischen Jugoslawien und der Tschechoslowakei große Wichtigkeit beigemessen haben.22 Die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Jugoslawien nach dem langen Schweigen von 1948 bis 18 Chrob‚k 2010, S. 167 f. 19 Rigotti, Francesca: Die Macht und ihre Metaphern. Über die sprachlichen Bilder der Politik. Frankfurt/M./New York 1994, S. 97. ˇ eskoslovensku a 20 Zit. nach Kalous, Jan: ,Nerozlucˇn¦ prˇ‚telstv†. N‚vsˇteˇva marsˇ‚la Tita v C spolupr‚ce bezpecˇnostn†ch apar‚tu˚‘, in: Pameˇt a deˇjiny 2011/1, S. 3 – 14, verfügbar unter : [Zugriff: 18. 10. 2012], hier S. 6. Hier und im Folgenden sind sämtliche Zitate aus dem Tschechischen von der Verfasserin übersetzt. 21 Zit. nach Kalous 2011, S. 10. 22 Benesˇ berief sich in seiner Politik während und nach dem Zweiten Weltkrieg sehr stark auf die Slawische Idee (vgl. Haubner, Milan: ,Von der Verteidigung der „kleinen Völker“ zum neuen Slawismus. Edvard Benesˇ und der Slawenmythos‘, in: Behring, Eva / Richter, Ludwig / Schwarz, Wolfgang, F. (Hg.): Geschichtliche Mythen in den Literaturen und Kulturen Ostmittel- und Südosteuropas. Stuttgart 1999, S. 293 – 309).

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1953 erfolgte nur langsam. Nach ersten Impulsen in den 1950er Jahren wurden die Beziehungen erst in den 1960er durch verschiedene zwischenstaatliche Abkommen intensiviert.23 Vergleicht man die Anzahl der Reiseberichte, so fällt allerdings auf, dass nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 kein Reisebericht mehr über Jugoslawien allein erschien, sondern – im Hinblick auf die slawischen Brudervölker – vor allem Reiseberichte über die Sowjetunion veröffentlicht wurden.24 Dieser Umstand erklärt sich aus der Politik der Tschechoslowakei, die sich in den siebziger Jahren wieder stark an der Sowjetunion orientierte. Im Tourismus verlief die Entwicklung ähnlich wie in der Politik: Zur Zeit der Habsburger entsprach der Touristenaustausch zwischen den slawischen Nationen der Idee der kulturellen Einheit der Slawen, hatte darüber hinaus jedoch auch eine wirtschaftliche Dimension. Bei der Entscheidung, welchem ausländischen Investor der Ort Basˇka auf der Insel Krk zugesprochen werden sollte, wurde z. B. den „ethnisch näherstehenden Tschechen“25 gegenüber den Österreichern den Vorzug gegeben. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Reise-Tradition nach Jugoslawien zwar fortgesetzt, doch es traten vermehrt touristische Motivationen in den Vordergrund. Das Meer – zu dem die Tschechoslowakei keinen eigenen Zugang besaß – war natürlich das verlockendste Urlaubsziel. Das spiegelte sich auch in den Reiseberichten wider. In den meisten Werken gibt es ganze Kapitel oder zumindest längere Passagen über die Schönheit und Bezauberung des Meeres. In der Zeitschrift Kulturn† tvorba erklärt die Autorin im Vorwort zu ihrem Reisebericht, dass für die tschechoslowakische Bevölkerung seit jeher „das kämpfende Slawentum und das Meer“26 die zwei Anziehungspole in Jugoslawien waren. Dass auch ein dritter Faktor nicht unbedeutend war, findet in den literarischen Reiseberichten selten Erwähnung: Im Vergleich mit der französischen Riviera war Urlaub in Dalmatien oder Italien billiger und deswegen beim tschechoslowakischen Mittelstand beliebt. Aber auch in Jugoslawien freute man sich über Touristen aus der Tschechoslowakei, vor allem wegen der beliebten tschechoslowakischen Krone.27 Verträge und Abkommen regelten den Touristen-Austausch zwischen den beiden Staaten und die Reisebüros Cˇedok (Tschechoslowakei) und Putnik (Jugoslawien) arbeiteten in der Organisation von 23 Chrob‚k 2010, S. 185 f. 24 Z. B. Kol‚rov‚, Jarom†ra / Kol‚r, Frantisˇek J.: Zemeˇ budoucnosti. Praha 1973; Adlovi, Veˇra a Zdeneˇk: Vypr‚veˇn† o velik¦ zemi. Praha 1974; Janousˇek, Jirˇ† (Hg.): Dobrodruzˇstv† nasˇeho veˇku. Praha 1980 u. a. 25 Sˇtemberk, Jan: Fenom¦n cestovn†ho ruchu. Mozˇnosti a limity cestovn†ho ruchu v meˇ eskoslovensku. Pelhrˇimov 2009, S. 252. ziv‚lecˇn¦m C 26 Tucˇkov‚, Anna: ,Jugosl‚vsk‚ cesta (1)‘, in: KULTURNš TVORBA 1967/29, 27. 07. 1967, S. 16. 27 Sˇtemberk 2009, S. 251 f.

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Aufenthalten in den Bruderländern eng zusammen. In den 1930er Jahren wurden Fluglinien auf den Strecken Prag-Split, Prag-Dubrovnik und Prag-Zagreb eingeführt um die Reisen zu erleichtern. Auch die Presse lieferte ihren Beitrag zum Aufstieg Jugoslawiens als beliebtestes Urlaubsziel der Tschechen und Slowaken: Sie versorgte ihre Leser mit Ratschlägen, wie man am bequemsten dorthin reiste und welche Garderobe passend war.28 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Reise-Tradition wiedererweckt, vor allem durch die Initiative der zuständigen Ministerien und Reisebüros. Allerdings wurden diese Bemühungen bald wieder durch die politischen Ereignisse gestoppt. Nach dem Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kominform 1948 blockierte die Tschechoslowakei den Touristenfluss nach Jugoslawien bis nach Stalins Tod.29 Einen ähnlichen Höhepunkt der Beziehungen im Tourismus wie in den dreißiger Jahren gab es – auf Grund von Misstrauen seitens der Tschechoslowakei und erneuten Streitigkeiten zwischen der Moskauer und Belgrader Führung30 – erst wieder Mitte der 1960er Jahre. Auch da wurden praktische Tipps und Informationen zur Reise nach und zum Aufenthalt in Jugoslawien in der Presse abgedruckt. Genau zu dem Zeitpunkt, als die touristischen Beziehungen wieder aufgenommen wurden, nämlich 1956, erschien auch der Reisebericht Jugosl‚vsk¦ kolo von Karel Konr‚d. In diesem Buch wird die Reiseblockade in der jüngsten Vergangenheit in keiner Weise erwähnt.

Erinnerung an die Geschichte Bei der Formulierung der Brüderlichkeit in den Reiseberichten wird die tragende Rolle der Geschichte immer wieder deutlich: Stets sind es die gemeinsamen Erfahrungen in der Vergangenheit, aus denen die „Brüderlichkeit“ abgeleitet wird. Das Besondere ist, dass in den hier untersuchten Reiseberichten hauptsächlich diejenigen Perioden der Geschichte erinnert werden, in der die Bevölkerung unter einer Fremdherrschaft gelitten hat. Vor allem die Unterdrückung durch die Türken und der Kampf gegen sie werden immer wieder erwähnt – jedoch stets mit einer Verknüpfung zum tschechischen Volk, um die Verbundenheit zwischen dem jugoslawischen und dem tschechoslowakischen Volk zu stärken. Bereits im Jahre 1882 erklärte Ernest Renan in seinem Vortrag „Was ist eine Nation?“ die Erinnerung an das gemeinsame Leiden als besonders wirksam für das Zusammengehörigkeitsgefühl: „Das gemeinsame Leiden ver28 Chrob‚k 2010, S. 177. 29 Vgl. Tchoukarine, Igor: ,Z‚kaz ze srpna 1948: prˇelomov‚ ud‚lost cˇeskoslovensk¦ho turismu ´ PR ˇ EHLED 2007/93 – 4, S. 449 – 462. v Jugosl‚vii‘, in: SLOVANSKY 30 Ebd., S. 122 – 124.

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bindet mehr als die Freude. In den gemeinsamen Erinnerungen wiegt die Trauer mehr als die Triumpfe, denn sie erlegt Pflichten auf, sie gebietet gemeinschaftliche Anstrengungen.“31 Oft sind es nur kurze Analogiebildungen, wie z. B. „Unser und das jugoslawische Volk war gezwungen ganze Jahrhunderte lang unter Knechtschaft zu leben, […]“,32 die an die geteilte Erfahrung erinnern und so ein Gefühl der Verbundenheit erzeugen. In Na obzoru Dubrovn†k nimmt die Beschreibung der grausamen „türkischen Knechtschaft“33 im Kapitel über die Herzegowina die Hälfte des Textes ein. Doch obwohl der Text an die Empathie des Lesers appelliert, können sich die tschechoslowakischen Leser nur schwerlich mit den Leiden unter der türkischen Fremdherrschaft identifizieren, denn in der Geschichtsschreibung der Tschechoslowakei waren es die Habsburger oder die Deutschen, unter denen die Tschechen und Slowaken leiden mussten. In dem genannten Beispiel wird zunächst durch die Schilderung der Grausamkeiten Pathos erzeugt,34 um trotz unterschiedlicher Unterdrücker ein Wir-Gefühl zu stiften. So werden die Dörfer als „slawisch“ bezeichnet und an die Beteiligung der Tschechen am „Befreiungskampf“ gegen die Türken erinnert. Die Schilderung einer analogen Leiderfahrung verdichtet sich also langsam zu einer gemeinsamen Kriegserfahrung, die wie jedes öffentliche Erinnern an Krieg „jenes im Krieg entstandene Gemeinschaftsgefühl gewissermaßen für die Nachkriegsgesellschaft konservieren und ihr so eine kollektive Identität verleihen“,35 und in unserem Fall – in der Literatur – ein Identifikationsangebot schaffen will. Die Türken herrschten auf dem Balkan fünfhundert Jahre lang. Sie fielen hier in der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts ein und eroberten ein Land nach dem anderen. Auf die verbündeten Armeen der serbischen, mazedonischen und bosnischen Fürsten trafen sie auf dem Kosovo-Feld im Jahr 1389, am 15. Juli, dem Tag des Heiligen Veit. „Vidov dan“ bedeutete für die südlichen Slawen eine Katastrophe. Die Türken siegten, eroberten Serbien und die südlichen Teile des heutigen Jugoslawien. Es folgten Jahre der Knechtschaft. Die Eroberer waren grausam und blutrünstig. Sie mordeten, versklavten, spießten ihre Gefangenen zur Mahnung lebendig auf einen Pfahl, entführten die Frauen in ihre Harems, peinigten die Untertanen mit schrecklichen Gesetzen. Sie versuchten selbstverständlich die unterworfenen Nationen zu turkisieren und zum Islam zu bekehren. Jedes fünfte Jahr besuchten „Spezialkommissare des Sultans“ die 31 Zit. nach Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 42. 32 Konr‚d 1960, S. 131. 33 Ein Unterkapitel trägt diese Überschrift: Tureck‚ poroba (Fiala 1967, S. 100 f.). 34 Man bedenke an dieser Stelle auch, dass das Buch im Kinderverlag erschien. 35 Höpken, Wolfgang: ,Kriegserinnerung und Kriegsverarbeitung auf dem Balkan. Zum kulturellen Umgang mit Kriegserfahrung‘, in: SÜDOSTEUROPA-MITTEILUNGEN 2001/41 – 4, S. 371 – 389, S. 373.

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slawischen Dörfer und erstellten eine Liste der 10 – 12 jährigen serbischen Jungen, die sie in die Türkei brachten, um sie zu turkisieren […]. Am Kampf gegen die Türken nahmen auch tschechische Menschen teil. Hier kämpfte das 8. Fußregiment aus Brünn, das hier mehr als dreihundert Tote verlor. Verwundete gab es doppelt so viele.36

Als genuin gemeinsamer Feind erscheinen in den Texten jedoch die Deutschen. Dabei wird der Fokus auf die (jugoslawischen) Partisanen und ihren erfolgreichen Widerstand gerichtet. Die Partisanenbewegung wird von den Erzählern verherrlicht,37 der Partisanenmythos mit der propagierten Brüderlichkeit und Einheit durch die tschechischen Reiseberichte wiederbelebt. Im Reisebericht Setk‚n† v Jugosl‚vii beispielsweise macht sich der Ich-Erzähler zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf die Suche nach seinen damaligen „Brüdern“ und Freunden aus dem Gefängnis in Maribor.38 Obwohl er selbst nicht an den „ruhmreichen Partisanenkämpfen“39 teilnahm, bestimmen diese die Erzählung durch Rückblenden. Als Verdienst der Partisanenbewegung wird dabei nicht nur der Sieg über den deutschen Feind dargestellt, sondern auch an die Stiftung eines Gemeinschaftsgefühls über religiöse Differenzen und unterschiedliche politische Zugehörigkeit (Habsburer oder Osmanisches Reich) hinweg erinnert: „In den Partisanentruppen, in den Schlachten auf Leben und Tod standen der Serbe, der Kroate und der Muslime nebeneinander und alle rückten gemeinsam vor.“40 Die Verbindung der Völker über die Staatsgrenzen hinweg erfolgt durch die Erinnerung an die aktive Beteiligung der Tschechen und Slowaken am Kampf sowie an die Ernennung des tschechischen Bataillonskommandeurs Ru˚zˇicˇka zum jugoslawischen Nationalhelden.41 Im Frühjahr 1943 kamen in dem kleinen serbischen Gebirgsdorf Psunj an die hundert tschechische und slowakische Partisanen zusammen, um eine Kampfeinheit zu gründen, das erste tschechoslowakische Bataillon Jan Zˇizˇka von Trocnov, als Teil der nationalen Befreiungstruppe des Landes. Das Bataillon formierte Vater Taras, Kommandeur war Josef Ru˚zˇicˇka, der später ein Nationalheld Jugoslawiens wurde.42

36 Fiala 1967, S. 100 f. 37 Wiederum entspricht die Darstellung des Partisanenkampfes in den tschechischen Texten der Erinnerungspolitik in Jugoslawien. Vgl. Höpken 2001, S. 383. 38 Er wurde damals aus dem überfüllten Gefängnis in Stein nach Maribor überstellt (Bern‚sˇkov‚, Alena: Setk‚n† v Jugosl‚vii. Praha 1966, S. 7). Den Grund seiner Gefangennahme erfährt der Leser nicht. 39 Bern‚sˇkov‚ 1966, S. 6. 40 Bern‚sˇkov‚ 1966, S. 27 f. 41 Über Josef Ru˚zˇicˇka ist wenig bekannt, er fiel im Partisanenkampf. Das tschechische Fernsehen widmete ihm 2008 eine Sendung in der Reihe Nezn‚m† hrdinov¦ [Unbekannte Helden]: Jurisˇ znamen‚ ztecˇ, gesendet am 21. 04. 2008, verfügbar unter : [Zugriff: 25. 07. 2013]). 42 Bern‚sˇkov‚ 1966, S. 95.

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Nicht nur mit dem Einsatz der Einheit „Jan Zˇizˇka von Trocnov“ wurde in jener Zeit die „Brüderlichkeit“ zwischen den Bewohnern Jugoslawiens und der Tschechoslowakei konstruiert; darüber hinaus wurde in der Ausstellung Boj jugosl‚vsk¦ho lidu za svobodu (Kampf des jugoslawischen Volkes für Freiheit) die 1946 in Prag stattfand, der Kampf der Partisanen als Beweis für die Brüderlichkeit innerhalb Jugoslawiens sowie als Garantie für das „brüderliche Band“ zwischen den Staaten interpretiert. Die Ausstellung über die Partisanen sollte deren Verdienst und Ruhm sowie die Brüderlichkeit im kollektiven Gedächtnis verankern. Ausgestellt wurden Fotografien, Grafiken, Landkarten, Dokumente, Zeitschriften und Literatur, die z. T. heimlich gedruckt worden waren.43 In der Broschüre zur Ausstellung44 sind die Worte V‚clav Kopecky´s, des damaligen Informationsministers der Tschechoslowakei, abgedruckt: Im nationalen Befreiungskampf wurde die Brüderlichkeit und Einheit der jugoslawischen Nationen geschmiedet. Es wurde aber auch das brüderliche Band der Nationen Jugoslawiens und der Tschechoslowakei gefestigt. Die tschechoslowakische Brigade Jan Zˇizˇka von Trocnov kämpfte tapfer in den Reihen des Nationalbefreiungsheeres. […] Die Beteiligung der tschechoslowakischen Brigade im Nationalbefreiungskampf Jugoslawiens wird für immer Garantie für die Brüderlichkeit des tschechischen und slowakischen Volkes und des jugoslawischen Volkes sein.45

Sowohl die Ausstellung (1946) als auch der Reisebericht von Bern‚sˇkov‚ 1966 stellten die Partisanenbewegung in die kämpferische Tradition des jugoslawischen Volkes und trugen durch die Reaktivierung des Mythos zu dessen Tradierung bei.46 Als Sinnbild des Widerstandes dienten Fotografien von Stjepan Filipovic´s Hinrichtung und deren Denkmal. In der Broschüre zur Ausstellung ist die Fotografie mit der Bildunterschrift „Metallarbeiter Sˇtevan Filipovicˇ [sic!], vor der Hinrichtung am 21.V.1942 in Valjevo“ (Abb. 1) gegenüber des Titelblattes platziert. Dieselbe Fotografie befindet sich im letzten Bildteil des Reiseberichts von Bern‚sˇkov‚ mit der Unterschrift „Tod dem Faschismus – Freiheit dem Volk. Steva Filipovicˇ [sic!], Partisanenführer, vor der Hinrichtung“. Auffallender jedoch, und mit der Platzierung in der Ausstellungsbroschüre verˇ ernej, Darko: ,K vy´staveˇ „Boj jugosl‚vsk¦ho lidu za svobodu“‘, in: Vy´stava Boj jugo43 C sl‚vsk¦ho lidu za svobodu, Praha: Atelier Orbis ohne Jahresangabe [Broschüre zur Ausstellung im Valdsˇty´nsky´ pal‚c, April 1946], o. S. ˇ ernej, Bot44 Die schmale Broschüre enthält lediglich zwei Beiträge von Politikern (Darko C schafter von Jugoslawien und V‚clav Kopecky´, tschechoslowakischer Informationsminister), Zitate von Tito (aus Ansprachen und der Presse) und wenige Fotografien von Partisanen. 45 Kopecky´, V‚clav : ,Boj jugosl‚vsk¦ho lidu za svobodu‘, in: Vy´stava Boj jugosl‚vsk¦ho lidu za svobodu, Praha: Atelier Orbis ohne Jahresangabe [Broschüre zur Ausstellung im Valdsˇty´nsky´ pal‚c, April 1946], ohne Seitenangabe. 46 Der Mythos des „kämpfenden jugoslawischen Volkes“ und die Bewunderung dafür war bereits in der Zwischenkriegszeit in der Tschechoslowakei verbreitet (Chrob‚k 2010, S. 181).

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gleichbar, ist in diesem Reisebericht die rot hinterlegte Fotografie des Denkmals seiner Hinrichtung (von Vojin Bakic´, 1960) auf dem vorderen Vorsatzblatt.

Abb. 1: Stjepan Filipovic´ vor seiner Hinrichtung am 21. 5. 1942 in Valjevo.

In dem Reisebericht von Konr‚d, der zehn Jahre zuvor erschien (1956), wird der Ruhm der Partisanen noch mit distanzierter Bewunderung geschildert. Der Autor hebt lediglich die geistige Verbindung47 zur tschechoslowakischen Bevölkerung hevor, wobei wiederum der gemeinsame grausame Feind als verbindendes Element dient: Durch diese Stadt [Belgrad], in die wir während Hitlers Herrschaft so oft mit unseren Gedanken geflogen sind, ahnend, wie hier wohl die Deutschen ihre Grausamkeiten verbreiteten; wie sie hier wahrhaftig erfinderisch waren in ihrer tierischen Ähnlichkeit.“48

Die Verherrlichung der Partisanen wird hier erst sichtbar, wenn das Verlangen nach einem Souvenir vom Schauplatz der Partisanenkämpfe angesprochen wird, das als Reliquie verehrt werden kann. Die Erde von den Kampfplätzen wird zur Berührungsreliquie und der Vergleich „wie frisch herausspritzendes Blut“ er47 Das erinnert an Koll‚r, der von einem „gemeinschaftlichen Band […] [der Slawen], das Länder und Meere nicht trennen können“ schreibt (Koll‚r 1844, S. 4). 48 Konr‚d 1960, S. 87.

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innert nicht nur an Verwundungen im Kampf, sondern auch an die Kreuzigung Christi. Gleichzeitig leitet der Autor von dem geteilten Leid unter der NSHerrschaft zu einem weiteren, häufig auftretenden Topos über : dem gemeinsamen slawischen Boden. Wenn ihr vielleicht ein kleines Souvenir von den Kampfplätzen der südslawischen Partisanen haben wollt, einen kleinen Stein oder eine Handvoll Erde, bückt euch zur Erde, wo es euch auch überkommt. Wo auch immer, in ganz Jugoslawien. Jeden Splitter des Karstes, ob aus Slowenien, Kroatien, Dalmatien, Serbien, aus der Sˇumadija, Herzegowina, aus Bosnien, Montenegro, Makedonien oder Istrien könnt ihr fürwahr als eine Art wertvoller Reliquie verehren. Denn es gibt keine Straße, keinen Pfad oder Felsen, ja nicht einmal ein Gewässer, fließend oder stehend, das ihre Füße nicht berührt hätten, leider auch im Winter oft unbekleidet; […] Unsichtbar wie die Spur eines Vogelfluges und sichtbar wie frisch herausspritzendes Blut –49

In den Abschnitten zur Geschichte Jugoslawiens wird stets auch die Besiedelung des Gebietes durch die Slawen geschildert, wodurch der gemeinsame Ursprung deutlich gemacht wird. Sogar in Na obzoru Dubrovn†k, wo konsequent zwischen Kroaten, Serben, Bosniern etc. unterschieden wird und die vereinheitlichende Bezeichnungen „südslawisch“ oder „Jugoslawien“ nur sehr selten vorkommen, wird die Idee der Verwandtschaft aller Slawen deutlich sichtbar, wenn von den „slawischen Stämmen“ und dem typischen „slawischen Charakter“, den die Kroaten dem besiedelten Land gaben, die Rede ist. Die Byzantiner beherrschten Dalmatien, mussten jedoch bald gegen die einfallenden Avaren kämpfen, Steppenreiter aus der Donauebene, mit denen auch slawische Stämme auf den Balkan drängten. Das kroatische, also slawische Element begann sich hier hauptsächlich zu der Zeit durchzusetzen, als die kroatischen Fürsten Herrscher über das mittlere und nördliche Küstengebiet wurden. Die Kroaten begannen sich in den dalmatinischen Städten niederzulassen und gaben ihnen im Laufe der Jahrhunderte einen slawischen Charakter.50

Nicht nur an die Abstammung von gemeinsamen Vorfahren, sondern auch an den gemeinsamen Ursprung der Kultur wird erinnert. Dabei stellt der Verfasser jedoch nicht die religöse Funktion der sogenannten ,Slawenapostel‘ Kyrill und Method in den Vordergrund, sondern die Verbreitung der slawischen Schrift und Sprache:

49 Konr‚d 1960, S. 178. 50 Fiala 1967, S. 35 f.

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Makedonien! […] Ich bin nur ein staunender Wanderer auf den Fußstapfen deiner altslawischen Kultur, Wiege auch unserer nachfolgenden Kultur, dank den Glaubensboten Kyrill und Method, die von deinem Heiligen Kliment lernten.51

Auch dies entspricht der slawischen Ideologie und widerspricht sich darüber hinaus nicht mit der kommunistischen Politik während der Entstehungszeit des Reiseberichtes. Durch die Metapher der Wiege wird das Bild der „Geburt“ eingeführt, die ja Grundlage für ein brüderliches Verwandtschaftsverhältnis ist. Wenn zwei Stämme (Völker, Nationen, Kulturen…) in einem brüderlichen Verhältnis zueinander stehen, so trifft dies auch auf die einzelnen Mitglieder der zwei Gemeinschaften zu – aber auch umgekehrt: Das tschechische und das slowenische Volk sind Geschwister, genauso wie der Tscheche dem Slowenen ein Bruder ist. In den Reiseberichten ist es entweder der gemeinsame deutsche Feind oder der Kampf gegen die Fremdherrschaft in der Geschichte der Nation, der sie als Nachkommen der Kämpfer zu Brüdern macht. Interessant ist dabei, dass stets die Blutsverwandschaft betont wird – sei es wie im folgenden Beispiel durch das Adjektiv „leiblich“ oder den expliziten Verweis auf das gleiche Blut: Ich hab dich zum leiblichen Bruder,“ sagte Mirko immer zu mir. „Du Tscheche und ich Slowene, wir haben Jahrhunderte lang gegen die Schwaben wie die Serben und Montenegriner gegen die Türken und die Kroaten gegen die Magyaren gekämpft.52

An einem anderen Ort werden ähnlich traumatische Erfahrungen in der Geschichte der Nationen verglichen und als Grundlage für das brüderliche Verhältnis dargestellt, obwohl sie in verschiedenen Jahrhunderten stattfanden. Bei ´ ele Kula vergleicht der Reiseführer – der der Besichtigung des Schädelturms C sich übrigens selbst anbot, als er hörte, dass die Touristen Tschechen sind – die ˇ egar (1809) in der Nähe der serbischen Stadt Nisˇ mit der Schlacht Schlacht von C am Weißen Berg (1620) bei Prag. Solche Schlachten mit tragischem Ende haben wir im Laufe unserer Geschichte einige erlebt, ihr wiederum hattet euren Weißen Berg… Ich muss euch also nicht erklären, was unsere Nation erlebt hat. Ihr seid ja unsere Brüder, wir sind ein Blut…53

Hier werden sowohl Hrochs ,erster Typus‘ des nationalen Mythos (bedeutende Schlachten und Kampfhandlungen54) aktiv als auch Kosellecks Feststellung, dass die Erinnerung an Erfahrungen nicht deren chronologische Abfolge berück51 52 53 54

Konr‚d 1960, S. 107. Bern‚sˇkov‚ 1966, S. 65. Fiala 1967, S. 149. Hroch, Miroslav : Das Europa der Nationen. Göttingen 2005, S. 165.

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sichtigt, sondern „Sprünge über die Zeiten hinweg“55 macht: Obwohl die zwei erfolglosen Schlachten beinahe 200 Jahre auseinander liegen, ist der Vergleich für die Personen im Reisebericht produktiv, schließlich spielte die Erinnerung an diese Aufstände gegen die Fremdherrschaft (Osmanen, Habsburger) in der Herausbildung der jeweiligen nationalen Identität eine wichtige Rolle.

Rückschlüsse auf die Situation in der Tschechoslowakei Reiseberichte sind ein Medium, dessen transportierte Bilder und Informationen immer von „Vorstellungen, welche die eigene Kultur hervorgebracht hat“,56 beeinflusst werden. Somit geben die untersuchten Passagen immer auch Aufschluss über das Selbstbild des Ich-Erzählers im Heimatland. Im Vergleich der Texte fällt sofort ein großer Unterschied in der Bezeichnung der Menschen oder Nationen auf. In Jugosl‚vsk¦ kolo (1956, gereist 1946) häufen sich die Begriffe „Südslawen“ und „südslawisch“, ebenso „slawisch“. Die Slawische Idee ist sehr präsent, die „Brüderlichkeit“ zwischen den Bewohnern der Tschechoslowakei und Jugoslawiens wird daraus abgeleitet. Die Einheit der Nationen im Staat Jugoslawien wird oft bewundernd geschildert, sei es im Partisanenkampf wie oben gezeigt oder in der Beschreibung der Atmosphäre während einer Veranstaltung, bei der Gruppen aus der ganzen Republik auftraten und der jeweilige Applaus „immer ein neues und wiederholtes Bekenntnis dessen war, wie das südslawische Volk aneinander hängt, wie sehr es von dem Gefühl der Wahlbruderschaft erfüllt ist“.57 Die Reiseberichte aus den sechziger Jahren58 hingegen unterscheiden konsequent zwischen Slowenen, Kroaten, Serben, Bosniern und Herzegowinern, Montenegrinern und Mazedoniern. Die Bezeichnung „südslawisch“ kommt nur selten vor. Dies entspricht dem Bewusstsein und der politischen Diskussion im eigenen Land. Während die zentralistische Führungsweise in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre versuchte die Einheit des tschechoslowakischen Staates zu wahren, wurde Mitte der sechziger Jahre der Weg zur Föderalisierung 1968 geebnet.59 Dementsprechend unterschied die Öffentlichkeit (in den Medien, Ansprachen, Schulbüchern etc.) auch stets zwischen

55 Koselleck, Reinhart: ,,Erfahrungsraum‘ und ,Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien‘, in: Ders.: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1979, S. 349 – 375, S. 356. 56 Brenner 1989, S. 15. 57 Konr‚d 1960, S. 137. 58 Bern‚sˇkov‚ 1966; Fiala 1967. ˇ esˇi a Slov‚ci ve 20. stolet†. Spolupr‚ce a konflikty 1914 – 1992. Praha 2012, 59 Vgl. Rychl†k, Jan: C S. 417 – 530.

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Tschechen und Slowaken und vermied die Bezeichnung „tschechoslowakisch“ nach Möglichkeit.60 Die Umschlaggestaltung der Reiseberichte verweist ebenfalls auf die Präsenz der Slawischen Idee in der Tschechoslowakei. Während die Erstausgabe von Jugosl‚vsk¦ kolo im Jahr 1956 noch mit bunten Streifen auf dem Schutzumschlag herausgegeben wurde, sind die Reiseberichte aus den sechziger Jahren in den slawischen Farben gehalten (Abb. 2 und 3). Die Farbe Blau füllt dabei jeweils die Fläche eines Dreiecks aus, wodurch eine Assoziation zur tschechoslowakischen Flagge entsteht. Zwar entsprechen Form und Farbton nicht exakt dem blauen (gleichschenkligen) Dreieck auf der Flagge, die Ausrichtung des Dreiecks stimmt jedoch überein.

Abb. 2: Umschlagseite, Alena Bern‚sˇkov‚: Setk‚n† v Jugosl‚vii, Prag 1966.

Mit der zunehmenden Liberalisierung gewann in den sechziger Jahren auch die Frage der Identität vermehrt an Bedeutung. In der Föderalisierungsdebatte wurde sowohl von den Tschechen als auch von den Slowaken die slawische Identität betont. Ihre Präsenz in der tschechoslowakischen Öffentlichkeit ab Mitte der sechziger Jahre erklärt die Verwendung der slawischen Farben für die Reiseberichte über den slawischen Bruder Jugoslawien. Doch auch im Inneren der Bücher kommen keine anderen Farben vor. Während die Aufnahmen in den 60 Lemberg 1977, S. 390 f.

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Abb. 3: Umschlagseite, Bohum†r Fiala: Na obzoru Dubrovn†k. Prag 1967.

Fotografieteilen schwarz-weiß sind, wurden die Fotografien auf den Vorsatzblättern rot61 oder blau62 hinterlegt. Auf dem hinteren Vorsatzblatt von Setk‚n† v Jugosl‚vii befindet sich eine gezeichnete Karte, die ebenfalls in den slawischen Farben gehalten ist (Abb. 4).63 Innerhalb der jahrhundertelangen Tradition der Vorstellung eines Bandes, einer Verbindung, einer Gemeinschaft, einer Brüderlichkeit zwischen den Völkern der Tschechoslowakei und Jugoslawien können die vorgestellten Reiseberichte als „Performativ“ betrachtet werden. Die Darstellung gemeinsamer Leidoder Kampferfahrung, die Artikulation der Brüderlichkeit und der Rückgriff auf die Slawische Idee stellen eine Art „Versprechen, Schwur, Treue den toten Vorfahren gegenüber“64 dar, eine erneute Bestätigung und Manifestierung dieser (mit Unterbrechungen tradierten) Brüderlichkeit. Die Motivation Konr‚ds „Skizzen“ erneut (und zensiert) zu veröffentlichen, obwohl sie auf einer Reise entstanden, die bereits zehn Jahre zurück lag, drückt genau dies aus:

61 62 63 64

Bern‚sˇkov‚ 1966, vorderes Vorsatzblatt. Fiala 1967, beide Vorsatzblätter. Bern‚sˇkov‚ 1966, hinteres Vorsatzblatt. Derrida 2002, S. 147.

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Abb. 4: Karte Jugoslawiens, gezeichnet von Nina Papousˇkov‚, aus: Alena Bern‚sˇkov‚: Setk‚n† v Jugosl‚vii, Prag 1966, hinteres Vorsatzblatt.

[…] obwohl sie [die Skizzen] nicht heutigen Datums sind – können sie wenigstens der Anknüpfung an die alten, ja althergebrachten innigen Beziehungen unseres Volkes zum Volk der südslawischen Nationen dienen.65

Abbildungen Abb. 1: Stjepan Filipovic´ vor seiner Hinrichtung am 21. 5. 1942 in Valjevo, aus: Alena Bern‚sˇkov‚: Setk‚n† v Jugosl‚vii, Prag 1966, letzter Bildteil; Vy´stava Boj jugosl‚vsk¦ho lidu za svobodu 1946. Abb. 2: Umschlagseite, Alena Bern‚sˇkov‚: Setk‚n† v Jugosl‚vii, Prag 1966. Abb. 3: Umschlagseite, Bohum†r Fiala: Na obzoru Dubrovn†k. Prag 1967. Abb. 4: Karte Jugoslawiens, gezeichnet von Nina Papousˇkov‚, aus: Alena Bern‚sˇkov‚: Setk‚n† v Jugosl‚vii, Prag 1966, hinteres Vorsatzblatt.

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65 Konr‚d 1960, S. 69 f.

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Tatjana Petzer (Berlin/Zürich)

Vestimentäre Brüderlichkeit. Moden der Einheit in Jugoslawien und der Tschechoslowakei

Kleider ordnen die Gesellschaft. Die sozialistische Kleiderordnung sollte nicht nur die Funktionen der Mode nivellieren, die Klassen- und Geschlechterrollen ideologisch und ökonomisch bekräftigten, sondern insbesondere jene „Mode nach der Mode“ (Barbara Vinken), die in Kunst, Dandyismus und Modeschöpfungen weibliche Differenz sowie Individualität verkörperte und damit die bürgerliche Kleiderordnung subversiv untergrub.1 Die Demokratisierung der Kleidermode, die, folgt man Gilles Lipovetsky, im Übergang von Haute Couture zu PrÞt-—-Porter zur postmodernen Signatur wurde, eine durch Bedarf und Gebrauch der Käuferinnen und Käufer bestimmte Mode als fortwährender und sich beschleunigender Entwertungs- und Wandlungsprozess der Formen,2 stand im Gegensatz zur sozialistischen Kleiderpolitik, die auf Überindividualität, Funktionalität, Beständigkeit und Zeitlosigkeit setzte. Die Ideologie des Kommunismus forderte klare Linien und Schnittmuster, ein Gewand, das die Einheit des Kollektivs sichtbar machte. Ein Blick auf die Bekleidungspraxis im Ostblock zeigt jedoch Unterschiede im Design für Alltag und Repräsentationszwecke.3 Praktiken der Uniformierung und die Durchkreuzung von Kleiderreglements enthüllen,4 dass Mode für die Gesellschaft immer Spiegel und Maske ist.5 Das trifft für Kleiderpraktiken im Sozialismus umso mehr zu, wo die Mode selbst, 1 Vgl. Vinken, Barbara: Mode nach der Mode. Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1993. 2 Lipovetsky, Gilles: L’empire de l’¦ph¦mÀre. La mode et son destin dans les soci¦t¦s modernes. Paris 1987; Ders.: Narziss oder Die Leere. Sechs Kapitel über die unaufhörliche Gegenwart. Hamburg 1995, S. 220 f. 3 Vgl. Bartlett, Djurdja: FashionEast. The Spectre that Haunted Socialism. Cambridge/ Mass. 2010. 4 Vgl. Mentges, Gaby : ,Uniform – Kostüm – Maskarade. Einführende Überlegungen‘, in: Dies. / Neuland-Kitzerow, Dagmar / Richard, Birgit (Hg.): Uniformierungen in Bewegung: Vestimentäre Praktiken zwischen Vereinheitlichung, Kostümierung und Maskerade. Münster u. a. 2007, S. 13 – 27. 5 Zu dieser Ambivalenz der Mode vgl. Simmel, Georg: ,Philosophie der Mode‘, in: Landsberg, Hans (Hg.): Moderne Zeitfragen 11. Berlin o. J. [1905], S. 5 – 41, hier S. 26.

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aus ideologischer Perspektive betrachtet, eine ambivalente Erscheinung ist. Der Versuch, eine eigenständige sozialistische Mode zu begründen, brachte an sich keine revolutionären Modekonzepte hervor. Allein die fraternistische Rhetorik sollte auch in vestimentären Codes zum Ausdruck kommen. Wie letztere zur Neuerfindung sozialistischer Bruderidentitäten genutzt wurden, soll im Folgenden an ausgewählten Beispielen aus der Kleidergeschichte der jungen Einheitsstaaten Jugoslawien und Tschechoslowakei untersucht werden.

Kleidercodes und Konsum Das (Haut-)Kleid spricht über die Identität, die Selbst-Identifikation. Wie der Mensch durch seine Kleidung erschaffen wird, behandelte Boris M. E˙jchenbaums Essay „Wie Gogol’s ,Mantel‘ gemacht ist“ („Kak sdelana ,Sˇinel’ Gogolja“) von 1919.6 Darin geht es natürlich nicht um die Garderobe des Schriftstellers Nikolaj Gogol’, sondern um das ,Gemachtsein‘ des Textes „Der Mantel“ (1842, „Sˇinel’“) im Sinne des russischen Formalismus. Doch durch die Zweideutigkeit des Titels, der sich auch auf die Fertigung und Beschaffenheit des Kleidungsstücks beziehen kann, wird jener Zwischenraum offengelegt, in dem vestimentäre Codierungen stattfinden. Nicht die primäre Bekleidungsfunktion ist maßgeblich, sondern vielmehr, wie deren Bedeutungen konstruiert werden und wie deren Bedeutungen selbst neue Räume, Machtbeziehungen und Identitäten erschaffen. Bei Gogol’ steigt und fällt die Existenz eines Beamten niedrigsten Ranges mit einem neuen Kleidungsstück: ˇsinel’, russ. ,Mantel‘, der hier besser als ,Pelerine‘ zu denken ist.7 Denn in ihm sind alle Attribute des Begehrens eingetragen, die allein einer Frau gelten können. Über den weitgeschnittenen und wattierten, bis zum Boden fallenden Stoff fällt der Überwurf – soweit gemäß der Kleidermode für den Staatsdienst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – mit einem abknöpfbaren Kragen iz kosˇki (aus Katzenfell). Die neue Kleidung verändert das graue, uniformierte Kanzleileben des Beamten. Es täuscht aber auch über dessen sozialen Status hinweg und öffnet ihm für kurze Zeit Zugang zur Geselligkeit in höheren Kreisen. Der baldige Verlust des Mantels durch Raub stürzt den armen Beamten in einen nur noch bedauerlicheren Zustand als zuvor und schließlich in den Tod. In der Novelle unterwandert die (Ver-)Kleidung die 6 E˙jchenbaum, Boris M.: ,Kak sdelana ,Sˇinel’ Gogolja‘, Russ./dt. in: Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1994, S. 122 – 159. 7 Zur semantischen Konnotationen des russischen Lexems als Femininum vgl. Burkhart, Dagmar : ,Das Phantasma des Mantels. Gogol’, Timm, Makanin‘, in: OSTEUROPA 2005/11, S. 95 – 106.

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russische Ständeordnung, die mit den Petrinischen Reformen eingeführt wurde, um das Land zu europäisieren. Als E˙jchenbaum seinen Essay schrieb, zeichnete sich bereits ein neues Kleiderreglement ab, dessen Einheitsdesign, ideologisch untermauert und durch das staatseigene Industrieangebot begrenzt, den neubegründeten stände- und klassenlosen Arbeiter- und Bauern-Staat repräsentieren und sich dem modernen (westlichen) Diktat der Etikette sowie des Konsums widersetzten sollte. Ungeachtet dessen blieben gute Kleider und Schuhe der kindliche Traum des neuen sozialistischen Menschen und insbesondere auch der Vorzeigearbeiter (während die Nomenklatura in der Öffentlichkeit mit ihrem Outfit oft das Ideal der bescheidenen Einfachheit zum Ausdruck brachte). Die Stachanov-Arbeiter erhielten für ihre Leistung einen besonderen Kleiderbonus, das Privileg, in exquisiten Läden einzukaufen, und Einladungen zu Dinnerpartys, Besuche im Bolsˇoj-Theater oder Tanzclubs, die entsprechende Kleider erforderten, und Urlaubsmöglichkeiten auf der Krim. Darüber berichtete das populäre Tagesblatt Vecˇernaja Moskva (Abendliches Moskau). In der stalinistischen Massenkultur der 1930er Jahre erschien somit Gogol’s pelzbesetzte Robe, sprich: Luxus und feminine Eleganz, als erstrebenswertes und erreichbares Ziel der sozialistischen Arbeit und wurde zum Ausdruck des sozialen Aufstiegs, der freilich für alle erreichbar sein sollte.8 Dennoch: Diese grundlegende Widersprüchlichkeit zwischen Ideologie der sozialistischen Einheitsbekleidung und Utopie des Überflusses, zwischen Produktion und dem Begehren nach individueller Mode sowie Luxusgütern konnte auch in den neubegründeten sozialistischen Ländern der Nachkriegszeit beobachtet werden.9 In allen sozialistischen Staaten entwickelten die privilegierten Schichten das Bedürfnis nach gehobener Mode. Während dieser Bedarf im Ostblock lediglich zu einem pseudo-klassizistischen Design führte, das sich etwas unbeholfen von westlichen Modetrends abzusetzen versuchte und dessen Modelle nicht über das Entwurfsstadium oder die Einzelanfertigung für Messen hinausgingen, da sie für die Massenproduktion zu teuer und bestenfalls auf den Laufstegs repräsentativer Warenhäuser zu sehen waren,10 kreierten Jugoslawiens Modeschöpfer auch für den Alltag. Mode (als flexibles Zeichensystem und Ausdruck von Individualität, wandelbaren Identitäten usw.) im Sozialismus war

8 Vgl. Bartlett 2010, S. 68 – 70. 9 Vgl. die komparatistische Studie von Bartlett 2010. 10 Vgl. dazu, am Bsp. der DDR, Stitziel, Judd: Fashioning Socialism. Clothing, Politics and Consumer Culture in East Germany. Oxford 2005. Nirgends war die Differenz zwischen extravaganter Laufstegmode und Warenangebot so groß, wie in der Sowjetunion. Vgl. Zˇuravlev, Sergej / Gronov, Jukka: ,Soviet Investment in Flamboyance: Fashion Design at GUM, the State Department Store in Moscow‘, in: BALTIC WORLDS 2010/3 – 2, S. 26 – 33.

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an sich ambivalent, hinzu kamen die Paradoxien der sozialistischen Planwirtschaft. Verkündete das erste Heft der Belgrader Modezeitschrift Ukus (Geschmack) noch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und in Übereinstimmung mit der Bekleidungspolitik im Ostblock, das neue Jugoslawien bedürfe einer sozialistischen Kleidung, die praktisch und solide, bescheiden und bequem sein solle,11 verfolgte Jugoslawien bald nach seinem Ausschluss aus dem Kominform auch in der Mode einen eigenen Weg. In den 1950er Jahren kam die im jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus zugelassene Privatwirtschaft individuellen Wünschen von Konsumenten entgegen.12 Der Kultfilm Liebe und Mode (Ljubav i moda, 1960), eine Musikkomödie des Regisseurs Ljubomir Radicˇevic´, führt die aufkommende Konsumkultur vor Augen. Die Kleider und Accessoires, die hier auf einer von Studenten, also der neuen jugoslawischen Generation, für den Betrieb „Jugosˇik“ organisierten Modenschau vorgeführt werden, als auch die Vespa, auf der die junge Hauptdarstellerin gleich zu Beginn des Films selbstbewusst die Stadt zur Universität durchquert, sind Ausdruck des neuen urbanen Jugo-Schicks.13 Mit der 1968er-Bewegung wurde die Jugend von der Hippiemanier erfasst. Jenseits der repräsentativen Mode trug man Schlaghosen und ungekämmt-fettige Haare – das in Belgrad aufgeführte Musical Kosa (Hair) war Vorbild. Auch in Jugoslawien war die vestimentäre Gegenbewegung politisches Statement, das sich gegen das (rote) Establishment – Jugoslawiens prominentester Dissident Milovan Öilas nannte es die „Neue Klasse“ – wandte. In der Tschechoslowakei sollte sozialistische Kleidung einfach und funktionell sein und – wie das Modell auf dem Coverblatt des führenden Modejournals Zˇena a mûda (Frau und Mode) von 1949, entstanden im Umfeld des 9. Kongress ˇ , nahelegt – im Einklang mit der Partei stehen. der KSC

11 Vgl. Velimirovic´, Danijela: ,Region, Identity and Cultural Production. Yugoslav Fashion in the ‘National Style’‘, in: ETHNOLOGIA BALKANICA 2008/12, S. 59 – 77, hier S. 73 f. Im Belgrader „Museum für jugoslawische Geschichte (Museum 25. Mai)“ war vom 15.05.–01. 08. 2010 die Ausstellung „Zˇenska strana / Woman’s Corner“ zur Lage und Rolle der „neuen Frau“ im sozialistischen Jugoslawien der 1940er bis 1960er Jahre zu sehen. 12 Tito, den das Wirtschaftsembargo der Ostblockstaaten nach dem Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kominform zur Annahme von Hilfslieferungen und Krediten seitens der USA im Rahmen des Marshallplans zwang, führte die Arbeiterselbstverwaltung als neues wirtschaftspolitisches Modell ein, eine Form „sozialistischer Marktwirtschaft“ in Abgrenzung zum zentralisierten Plansozialismus und in Annährung an die Marktwirtschaft, wodurch die einheimische Produktion an Flexibilität gewann. 13 Vgl. auch Dimitrijevic´, Branislav : ,Sozialistischer Konsumismus, Verwestlichung und kulturelle Reproduktion. Der ,postkommunistische‘ Übergang im Jugoslawien Titos‘, in: Groys, Boris / von der Heiden, Anne / Weibel, Peter (Hg.): Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus. Frankfurt/M. 2006, S. 195 – 277, hier S. 213.

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Abb. 1: Frauenbekleidung, Zˇena a mûda 6, Coverbild, 1949.

In Unterstützung dieser ideologisch-korrekten Mode kommentierte Jirˇina Spalov‚, eine vehemente Kritikerin ständig wechselnder bourgeoiser Moden, in der Zeitschrift die Vorzüge des sozialistischen Designs, das unter Verzicht auf überflüssige Accessoires Material, Farben und Form betonte.14 Stalins Tod brachte die Liberalisierung der Kleiderpolitik und die Rückkehr zur ,Weltmode‘. Damit endete die Diskussion über die neue sozialistische Bekleidung und eine schrittweise Öffnung für den internationalen Markt setzte ein: Mode aus der ˇ SSR war nun auch auf Vorführungen in kapitalistischen Ländern vertreten, C deren Kollektionen dann ebenfalls in Prag gezeigt werden durften – 1966 gab es sogar eine Dior-Modenschau in Prag.15 In Folge wurden westliche Modeprodukte, die kaum im Angebot waren, zum Fetisch,16 auch wenn sich Ende der 1960er Jahre tschechoslowakisches Design vielfältig und fortschrittlich präsentierte. So durchbrach das Prager Institut für Wohnungs- und Bekleidungskultur (¢stav bytov¦ a odeˇvn† kultury) mit seinen Kreationen klassizistische und bürgerliche Formen. Die einheimische Industrie sollte angeregt werden, vor 14 Spalov‚, Jirˇina: ,Uniformita – a je vu˚bec mozˇn‚?‘, in: ZˇENA A M­DA 1950/2, S. 22. Vgl. ˇ esk‚ mod‚. 1940 – Hlav‚cˇkov‚, Konstantina: ,1948 – 1970. Mod‚ a ideologie‘, in: Dies.: C 1970. Zrcalo doby. Praha 2000, S. 33 – 45; Bartlett 2010, S. 100 – 109. 15 Hlav‚cˇkov‚ 2000, S. 42 – 44. 16 Vgl. die entsprechende Obsession der Protagonistin in Josef Sˇkvorecky´s Erzählung ,Little Mata Hari of Prague‘, in: Ders.: Headed for the Blues: A Memoir with Ten Stories, London 1998, S. 195 – 211; darauf verweist auch Bartlett 2010, S. 265 f.

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allem auf die Bedürfnisse einer jungen Mode zu antworten. Für die neue Ästhetik standen beispielweise der formschöne Regenmantel-Entwurf, der 1969 auf das Cover des Aprilhefts von Zˇena a mûda kam (Abb. 2), oder das Design von „Astromoda“ (Abb. 3), das zum einen westliche raumfahrtinspirierte Modetrends aufgriff, zum anderen an die Avantgarde-Rolle der sowjetischen Kosmonautin Valentina Teresˇkova anknüpfte, die 1963 als erste Frau im Weltall war.

Abb. 2: Sommerlicher Regenmantel, Zˇena a mûda 4, 1969, Coverrückseite.

Dieses moderne urbane Design für die Dame, das technischen Fortschritt und die Gleichberechtigung der Frau zum Ausdruck brachte, war in Zˇena a mûda neben einer Kollektion romantischer Männermode abgedruckt (Abb. 4), die den Herrn durch ein verspieltes weißes Rüschenhemd (wie im Märchenfilm) dem eintönig uniformierten Alltag des Sozialismus entriss. Um sich inmitten der Uniformität Individualität zu verschaffen, folgten Jugendliche des sozialistischen Ostblocks den subkulturellen Trends der westlichen Industriestaaten. Bereits Ende der 1940er entwickelte sich in der Sowjetunion eine vestimentäre Gegenkultur mit wenig Sinn für Politik und Vorlieben für schrille Farben und amerikanischen Lifestyle: die stiljagi. Diese bestanden bis Anfang der 1960er Jahre. In der Tschechoslowakei waren es in den 1950er Jahren die p‚skov¦, die sich zu Rock ’n’ Roll und amerikanischem Lifestyle bekannten. Sie befestigten Labels von amerikanischen Zigarettenpackungen, von Touristen aus dem Westen weggeworfen, an den eintönigen Krawatten, die

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Abb. 3: Design „Astromoda“, Zˇena a mûda 7, 1970.

man in den Warenhäusern zu kaufen bekam, und imitierten Gewohnheiten amerikanischer Filmstars; als Ersatz für Kaugummi kauten sie Paraffin.17 Veˇra Chytilov‚s (1928 – 2014) experimenteller Spielfilm Tausendschönchen (Sedmikr‚sky) von 1966 dokumentiert ein Stück Alternativkultur samt Dessous und Bademode junger sexuell emanzipierter Mädchen. Ebenso wie der Film nach der Zerschlagung des Prager Frühlings verboten wurde, waren die 1970er und 80er Jahre, die Zeit der Politik der „Normalisierung“, geprägt vom systematischen Kampf gegen Abweichungen von der normativen Kleiderordnung. Besonders hart traf es die langhaarigen Männer, die sogenannten m‚nicˇky oder auch vlasatci, denen der Zutritt zu Caf¦s und kulturellen Einrichtungen und in einigen Städten sogar zum öffentlichen Transport untersagt wurde: „M‚sˇ-li dlouhy´ vlas, nechodˇ mezi n‚s!“ („Hast Du lange Haare, dann sei nicht unter uns!“) lautete die entsprechende Losung in den Medien. In einer Sommeraktion 17 Vgl. Reid, Susan E. / Crowley, David: ,Style and Socialism. Modernity and Material Culture in Post-War Eastern Europe‘, in: Dies. (Hg.): Style and Socialism. Modernity and Material Culture in Post-War Eastern Europe. Oxford u. a. 2000, S. 1 – 24, hier S. 15; Jaboud: Trafousˇ, p‚skov¦, Vy´sˇehradsˇt† jezdci a jin¦ vzpom†nky. Deˇtstv† a ml‚d† v Praze pades‚ty´ch let. Praha 2011.

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Abb. 4: Romantische Herrenhemden für den Abend, Zˇena a mûda 10, 1969.

im Jahre 1966 wurden über hundert Personen mit langen Haaren inhaftiert, den Protesten Gleichgesinnter entgegnete die Staatsgewalt mit weiteren Festnahmen und Gefängnisstrafen. Man traf die m‚nicˇky auf den Konzerten der tschechischen Untergrundbands DG 307 und Plastic People of the Universe. 1974, als das ˇ esk¦ Budeˇjovice durch die Polizei gestoppt wurde, verhörte Konzert der PPU in C man die m‚nicˇky und schnitt ihnen gewaltsam die Haare ab. Ihre Einstellung ließen sie sich dadurch nicht nehmen. Als zwei Jahre später ein politischer Prozess gegen die PPU geführt wurde, unterstützten sie die Band öffentlich. In den 1970er Jahren blühte die Punk-Kultur auf, deren provokanter Kleidungsstil mit lokalen Möglichkeiten das westliche Vorbild nachgestaltete: weiße Mediziˇ SSR-Militärs besprüht.18 nerhosen wurden eingefärbt, Stiefel des C Do-it-yourself-Kleider waren nicht immer gleich eine subversive Geste.19 Die Lücke zu überbrücken, die zwischen dem recht großen Angebot einheimischer Modezeitschriften und dem Konsumangebot der Warenhäuser klaffte, bedeutete in den 1970er Jahren, selbst zu schneidern und kreativ zu sein. Die staatliche Bekleidungsindustrie konnte an die traditionellen tschechischen Kleiderwerkstätten der Vorkriegszeit nicht anknüpfen, die zentrale Planung erwies sich als ˇ SSR-Mode der 1970er Jahre vgl. Hlav‚cˇkov‚, Konstantina: 70 „Kytky v popelnici“. 18 Zur C ˇ eskoslovensku / „Flowers in the dustbin“ Spolecˇnost a mûda v sedmdes‚ty´ch letech v C Society and Fashion in Czechoslovakia in the Seventies. Ausstellungskatalog Umeˇleckopru˚myslov¦ Museum v Praze, 07. 12. 2007 – 17. 02. 2008. Praha 2007. 19 Vgl. den Dokumentarfilm Ein Traum in Erdbeerfolie des ehemaligen DDR-Models Marco Wilms, Trailer verfügbar unter : [Zugriff: 23. 08. 2013], der Einblicke in die offizielle, vor allem aber subversive Mode sowie Modefotografie der 1980er gibt und diese durch das DDR-DIY-Revival „Comrade Couture“ wiederbelebt.

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zu unflexibel und sperrig für die Alltagsbedürfnisse. Selbst Schnittmuster wurden, sofern sie nicht aus einheimischen Zeitschriften stammten, laienhaft nach dem Vorbild von Modeabbildungen westlicher Zeitschriften hergestellt. In Jugoslawien dagegen wurden westliche Moden nicht nur unbeschwerter kopiert, grundlegende Veränderungen von Produktion und Konsumverhalten gingen einher mit der zunehmenden Dezentralisierung des Marktes und den Reise- und Einkaufsmöglichkeiten in den angrenzenden westlichen Staaten.

Sozialistische Haute Couture Der Kalte Krieg erfasste auch die Kleidermode. Im Ostblock wurde Politikergattinnen nicht nur keine sonderliche repräsentative Funktion zuteil, der kulturelle Unterschied zwischen den Weltmächten konnte anhand ihrer Kleider vor Augen geführt werden. Als Richard Nixon gemeinsam mit seiner Frau 1959 zur Nationalausstellung der USA in Moskau fuhr, die im Rahmen eines Kulturaustauschprogramms stattfand, wurde der Kleiderclash in einem einzigen Coverbild zugespitzt. Die Zeitschrift Life vom 10. August 1959 zeigte vier Ehefrauen der beiden politischen Eliten, die sich zu einem Dinner auf Chrusˇcˇevs Datscha trafen: Pat Nixon, im dekorativen Outfit, neben ihr Nina Chrusˇcˇeva im sogenannten Chalat, einem einfachen Hauskleid, sowie den Ministergattinnen Mikojan, im schlichten Kostüm und Hut, und Kozlova, die als einzige durch dezente Accessoires ein gewisses Bewusstsein für Abendmode zum Ausdruck brachte – von dieser russischen mütterlichen Troika hob sich die Frau des damaligen USVizepräsidenten mit ihrer Upperclass-Garderobe klar ab. Die Ehefrauen der Präsidenten der Tschechoslowakei standen kaum im Rampenlicht der Mode. Die Frau des Stalinisten Klement Gottwald, Marta Gottwaldov‚ – in dieser Funktion stets bemüht, ihre einfache Herkunft zu überspielen und edler in Erscheinung zu treten –, ließ ihren ursprünglichen Namen Marie ändern und trug auch bei Hitze Pelzkragen. Die einzige First Lady, die es verstand, an der Seite ihres Mannes repräsentative Aufgaben zu erfüllen, und sich auch wohltätig engagierte, war Irena Svobodov‚, die Frau von Ludv†k Svoboda, der Staatspräsident in den Jahren 1968 bis 1975 war. Die populärste First Lady war die vom Volk verehrte Bürgerrechtlerin Olga Havlov‚, die erste Frau des letzten tschechoslowakischen Präsidenten vor der Auflösung des Staates, V‚clav Havel. Der neue Status änderte an ihrer existentialistischen Kleidung jedoch wenig.20

20 Schneibergov‚, Martina: ,Verehrt, verspottet, vergessen. Ausstellung über First Ladies in Roztoky bei Prag‘, 25. 11. 2011, verfügbar unter : [Zugriff: 01. 08. 2013]. 21 Vgl. dazu die historische Dokumentation und die daraus abgeleitete Retro-Kollektion im

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Das Präsidentenpaar, dessen Auftreten die Boulevardpresse füllte und dessen Lebensart das Konsumverhalten im eigenen Land beeinflusste,22 unterstrich mit seiner Kleidung, die den vestimentären Codes der Etikette, aber auch dem Stil der herrschaftlichen Eliten im Westen folgte, Jugoslawiens Andersheit und ästhetische Abgrenzung vom Ostblock. Tito trug Uniformen mit Epauletten und Orden zu innen- und außenpolitischen Staatsakten, trat aber auch gern im Dandy-Look auf oder zeigte sich bei privaten Anlässen in elegant-legerer Kleidung. Das von ihm bevorzugte Weiß entsprach seiner Symbolisierung als Friedenstaube, die er, Integrationsfigur der jugoslawischen Völker und Repräsentant des „dritten Wegs“, verkörperte. Seit 1952 erschien an Titos Seite mit der 32 Jahre jüngeren Jovanka Budisavljevic´ Broz (1924 – 2013) eine First Lady, die stets stilvoll gekleidet war und im Ausland mit der natürlichen Ausstrahlung einer exotischen Schönheit glänzte. Während die Ehefrauen der anderen kommunistischen Führer im Schatten der Macht standen, bezauberte Frau Broz Staatsmänner und konnte die Aufmerksamkeit der Journalisten auf sich lenken.

Abb. 6: Marschall Tito und Jovanka Broz empfangen das griechische Königspaar, Belgrad, September 1955.

Zeichen von Tito und Jovanka im siebten Heft des Modemagazins FAAR (Juli-Dezember 2010), verfügbar unter : [Zugriff: 01. 08. 2013]. Die Modelle der renommierten Designerin Dragana Ognjenovic´ spielen mit zahlreichen Wiedererkennungseffekten, die von den Frisuren der First Lady bis hin zu Uniform und Sonnenbrille des Marschalls reichen; sie werden in futuristischen, provokant-sexualisierten und Jugo-nostalgischen Settings präsentiert. 22 Für Branislav Dimitrijevic´ verkörperten Tito und Jovanka Broz jugoslawische Musterkonsumenten, vgl. Dimitrijevic´ 2006, S. 206.

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Jovanka Broz, die ihre Kleidung auch in renommierten internationalen Modehäusern wie Dior bestellte, sich aber vornehmlich von jugoslawischen Designern einkleiden ließ, avancierte in Jugoslawien zur Mode-Ikone. Ihre Garderobe sollte eine wichtige Brückenfunktion zwischen der elitären Upper-ClassMode und einer kommunistischen Bekleidungspolitik einnehmen, die klassenlose Konsumgüter propagierte.23 Für namhafte jugoslawische Konfektionshäuser und Designer, die für die First Lady maßschneiderten und einige Modelle auch für den allgemeinen Markt produzierten, war sie die beste Reklame. Als Schirmherrin der jungen Mode- und Bekleidungsindustrie besuchte sie regelmäßig die Ateliers und Modemessen, brachte zu derartigen Events auch Ehefrauen gastierender Staatsgäste aus dem Ausland mit oder ließ für diese in den Räumlichkeiten des Unternehmens „Jugoexport“ mit dem federführenden Design von Mirjana Maric´ (geb. 1938) entsprechende Vorführungen organisieren. Seit Ende der 1960er Jahre investierte man in die gehobene Mode, insbesondere auch in die exklusiven Kollektionen von Aleksandar Joksimovic´ (geb. 1933), der Mode im „nationalen Stil“ zu Repräsentationszwecken kreierte.24 Obwohl es sich dabei in erster Linie um ein Spezifikum der serbischen Bekleidungsindustrie handelte, wurde dieser Stil mit dem Vorzeichen ,jugoslawisch‘ versehen und im Ausland zum Inbegriff des „Yugo-Looks“. Joksimovic´s Kreationen, die durch Mode- und Boulevardblätter verbreitet und von Vertretern der politischen und kulturellen Eliten – bei außenpolitischen Anlässen ebenso wie bei internationalen Miss-Wahlen – getragen wurde, bedeuteten seinen Durchbruch zum offiziellen Star-Designer Jugoslawiens und die Geburtsstunde einer sozialistischen Haute Couture. Einkleiden ließ sich von ihm auch die First Lady, die sich seine Kreationen persönlich vorführen ließ. Mit der Dezentralisierung des Marktes und dem zunehmenden ShoppingTourismus im benachbarten Modeland Italien in den 1970er und 80er Jahren versiegten allerdings die Investitionen in eine eigene ,jugoslawische‘ Haute Couture und die Pioniere der zeitgenössischen Jugo-Mode gerieten zunehmend ins Abseits.

Fraternistische Sprache der Mode Die Demarkationslinie, die Stalin zwischen Jugoslawien und den KominformLändern zog, brachte divergierende Entwicklungstendenzen hervor. Als Chrusˇcˇevs Annäherungskurs zu Jugoslawien auch Austauschprozesse mit an23 Vgl. Velimirovic´, Danijela: ,Moda, ideologija i politika. Odevanje Jovanke Broz‘, in: ANTROPOLOGIJA 2006/1, S. 50 – 60. 24 Vgl. Velimirovic´, Danijela: Aleksandar Joksimovic´. Moda i identitet. Beograd 2008.

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Abb. 7: Aleksandar Joksimovic´ präsentiert Jovanka Broz seine Kollektion „Vitrazˇ“, Belgrad, 1968.

deren Ostblockstaaten anstieß und 1956 tschechoslowakische Mode in Belgrad und Zagreb präsentiert werden konnte,25 kamen auf dem Laufsteg wieder die gemeinsamen Wurzeln aus der k.-und-k.-Vergangenheit zu Tage, als die Kleidermanufakturen in Prag und Zagreb nach Wiener Mode fabrizierten. Seit Mitte der 1950er Jahre orientierten sich die Ostblockstaaten an den jährlichen Wettbewerben sozialistischer Delegationen, seit 1957 hießen sie „Internationale Modekongresse“, die dem gegenseitigen Austausch und der Annäherung dienten. Die präsentierten Kollektionen wurden von 1959 bis 1990 im Jahresmagazin Moda stran socializma (Die Mode der sozialistischen Länder) dokumentiert, das unter den Teilnahmestaaten zu propagandistischen Zwecken frei distribuiert wurde.26 Auch wenn Jugoslawien daran nicht teilhatte, können dennoch anderweitig Brücken zur sozialistischen Bekleidungspolitik und -kultur geschlagen werden. Das betrifft vor allem die Gestaltung von Uniformen (z. B. von Armee, Kinder- und Jugendorganisationen, geschlechtsunspezifische Arbeitskleidung, Kostümierungen der Partei-Eliten) und den Einsatz ethnischer Motive; diese beiden Trends führten im Ostblock zuweilen zum Konflikt zwischen Anhängern der funktionalen (übernationalen) Ästhetik und der national verankerten Ornamentik.27 Die traditionellen Muster betonten Slawentum sowie Volksnähe und ließen sich für die neue Ordnung oder auch neue nationale Einheit instrumentalisieren. So wurden in der Tschechoslowakei offiziell nur die Ornamente aus Regionen 25 Vom 08.–23. 09. 1956 wurden Modelle der Exportfirma Centrotex gezeigt, vgl. Ing. J. Poisl: ˇ eskoslovensk‚ mûda v Z‚hrˇebu‘, in: ZˇENA A M­DA 1956/12, S. 2 – 5. ,C 26 Vgl. Bartlett 2010, S. 156 – 164. 27 Ebd., S. 122 – 126.

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der Slowakei und Mähren protegiert, die böhmische Folklore dagegen aufgrund des zugeschriebenen deutschen Einflusses verworfen.28 Während hier wie in der Sowjetunion Anleihen bei volkstümlichen Trachten vornehmlich zur Gestaltung sozialistischer Arbeits- und Alltagskleidung dienten, wurden folkloristische und national konnotierte Elemente vergangener Epochen in Jugoslawien in die gehobene Mode (bspw. die als ,jugoslawisch‘ gelabelte Mode Joksimovic´s) integriert. Unabhängig von der den Modellen zugrundeliegenden Ausrichtung auf Funktionalität oder Slawizität erinnern diese auch an Entwürfe der künstlerischen Avantgarde, die den neuen Menschen der zukünftigen Gesellschaft vor Augen hatte.29 Jugoslawien entwickelte in den 1960er Jahren, analog zu postkolonialen Staaten, die nun als Blockfreie mit Kleidung Politik machten, einen eigenen ,nationalen‘ Stil,30 der von Jugoslawiens First Lady öffentlich befürwortet wurde.31 Zu den Produktions- und Verkaufsstrategien zählte die Ablehnung westlicher Kleidung oder zumindest eine abgrenzende Modifizierung davon, während im Gegenzug national-folkloristische Elemente aufgewertet wurden. Diese Fokussierung entsprach wiederum einem zeitgenössischen Trend in den kapitalistischen Kulturen, in denen mit steigendem Interesse sowohl für alternativ-ländliche Lebensweisen als auch für Befreiungsbewegungen und Naturvölker traditionelle Fertigungen, Farben und Muster von Kleidung ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt waren und Norweger-Pullover sowie NehruHemden zu den Verkaufsschlagern zählten. Den Beginn dieser Mode markierte 1961, als im Belgrader „Zentrum für moderne Kleidung“ die serbische Designerin und Textilgestalterin And¯ela Slijepsˇevic´ (1931 – 2010)32 ihre Kollektion 28 In Böhmen erlebte, anknüpfend an englisches Kunsthandwerk und Ideen der Wiener Werkstätte, ethnische Kleidung in Kombination mit modernistischen Modetrends bereits 1915 einen Höhepunkt. Unter der Bezeichnung sv¦r‚z gewann dieser Kleiderstil, der unverwechselbar die tschechische Identität kennzeichnen sollte, während des Ersten Weltkriegs und bei den Bemühungen, einen unabhängigen tschechischen Staat zu errichten, politische Bedeutung, erntete aber seitens der tschechischen Intelligenz auch Kritik. Vgl. Williams, Patricia: ,Czech Ethnic Dress‘, in: Bartlett, Djurdja (Hg.): Berg Encyclopedia of World Dress and Fashion. Bd. 9. East Europe, Russia, and the Caucasus. Oxford 2010, S. 123 – 132, hier S. 132. 29 Ethnische Motive dominierten bereits die experimentelle Kleiderwerkstatt der 1920er Jahre, etwa die Kreationen Nadezˇda Lamanovas; die Synthese mit modernistischem Design sollte sie ideologisch neutralisieren und utopistisch konnotieren, vgl. Bartlett 2010, S. 42 – 56. In der Nachkriegszeit bildete die „Russische Kollektion“ von Slava Zaitsev, (ebd., S. 229) mit der sich die Sowjetunion und das für gehobene Mode bekannte „Allunionshaus für Bekleidungsdesign“ (Obsˇˇcesojuznyj Dom Modelej Odezˇdy) von 1965 – 1976 in Kanada, Japan, Frankreich, Italien und Jugoslawien präsentierte, eher eine Ausnahme. 30 Velimirovic´ 2008, S. 59. 31 Vgl. ebd., S. 64. 32 Slijepsˇevic´, eine der Pionierinnen auf dem Gebiet des zeitgenössischen jugoslawischen Modedesigns, trat auch als Kostümbildnerin am Theater und beim jugoslawischen Film der

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unter dem Motto „Folklore und Mode“ (Folklor i moda) präsentierte. Ein Jahr später wurden dort Wollsachen aus Sirogojno gezeigt, einem Ethnodorf an den Abhängen des Gebirges Zlatibor in Westserbien, das zum Label für handgestrickte Pullover wurde, die von den Bäuerinnen aus der Gegend nach Entwürfen der Textilgestalterin Dobrila Vasiljevic´ Smiljanic´ (geb. 1935) gefertigt wurden. Sie standen für zeitlose Mode und waren gleichzeitig in der vorindustriellen Vergangenheit verwurzelt. 1963 wurde im „Institut zur Förderung der Hauswirtschaft“ (Zavod za unapred¯enje domac´instva) der „Nationale Salon“ (Nacionalni Salon) eröffnet, in dem Trachtenkleider aus verschiedenen Regionen Jugoslawiens gefertigt wurden. Zielgruppen waren insbesondere ausländische Touristen und Delegationen von Politikern samt Ehefrauen. Die Bewahrung traditioneller Trachten und Ornamente sowie die Revitalisierung alter Kleidercodes wurde von Ethnologen und Fachleuten aus der Bekleidungsindustrie befürwortet33 und als Ausdruck der ethnisch-kulturellen Vielfalt in der jugoslawischen Einheit zunehmend ideologisiert. Diese Politik des Yugo-Looks spiegelte sich in der Alltagsbekleidung wider, allen voran in der Strickmode mit folkloristischen Mustern aus Sirogojno oder den Kreationen der slowenischen Designerin Natasˇa Mandeljc, die mit handgemalten Motiven arbeitete, die aus der Bela Krajina im äußersten Südosten Sloweniens stammten. Aus Folklore und Geschichte der südslawischen Völker samt repräsentativen Figuren und Stilelementen gewann schließlich auch StarDesigner Joksimovic´ seine dekorativen Elemente. Die Erinnerung und Wiederbelebung traditioneller Volkstrachten und nationaler vestimentärer Codes der Vergangenheit, wozu das serbische Stadtkleid34 zählte, wurde bereits in der Zwischenkriegszeit zu einer wichtigen Strategie, um das nationale Bewusstsein zu wecken – so unterlagen etwa Frauen, wenn sie an den „Allslawischen Bällen“ teilhaben wollten, gewissermaßen einer Kostümpflicht.35 Im Tito-Jugoslawien verlieh das Design im „nationalen Stil“ – wofür die spezifische Überlagerung aus 1960er Jahre hervor, war Professorin an der Fakultät für angewandte Kunst und Direktorin des Belgrader Zentrums für zeitgenössische Bekleidung. 33 Vgl. Gajic´, Branislav / Vujic´, Radovan / Ilic´, Branko (Hg.): Strucˇ no savetovanje. Estetika u proizvodnji tekstila i u odevanju. Beograd 1966. 34 In den 1830er bis 1890er Jahren wurde in Serbien die orientalische Kleidung an die zeitgenössische europäische Mode angepasst, ohne westliche Kleidungscodes zu übernehmen. Bekleidung wurde zum wichtigen Aspekt des nation building. Darüber hinaus kamen Modernisierung und Urbanität sowie soziale Statusunterschiede zum Ausdruck. Um die Jahrhundertwende setzten sich zunehmend die Kleidung aus Pariser und Wiener Modehäusern durch. Zur Geschichte der serbischen Mode im 19. Jahrhundert vgl. Prosˇic´-Dvornic´, Mirjana: Odevanje u Beogradu u XIX u pocˇetkom XX veka. Belgrad 2006; Velimirovic´ 2008, S. 67 – 71. 35 Auf diesen von der humanitären Frauenorganisation Kolo srpskih sestara (Reigen serbischer Schwestern) organisierten Bällen trugen die Frauen originäre bzw. rekonstruierte ländliche oder städtische Trachten.

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Folklore- und historischer Kleidung sowie Zeitgeist und damit die Vision des Miteinanders verschiedener Kulturen mit ihren spezifischen Traditionen und einer eigenen Geschichte stand – der Idee von „Brüderlichkeit und Einheit“ ihren visuellen-vestimentären Ausdruck.36 Darauf abgestimmt waren nicht zuletzt die Choreografien der Modevorführungen, zumindest präsentierten sich Joksimovic´s Modelle im Koloschritt37 zu Blasmusik. Auch wenn der zur offiziellen Mode erhobene Trend auf breite Zustimmung stieß, löste er auch Kontroversen aus, als beispielsweise der prominente serbische Popsänger Öord¯e Marjanovic´ 1969 auf dem Zagreber Musikfestival in einer Kreation Joksimovic´s im Stil traditioneller albanischer Männerkleidung aus Metochien auftrat. Joksimovic´s Kollektion „Simonida“ von 1967 wurde von Simonida Palaiologina inspiriert, der Tochter des byzantinischen Kaisers Andronikos II. und vierten Ehefrau des serbischen Königs Stefan Urosˇ II. Milutin, der von 1282 – 1321 in Raszien regierte. Die Entwürfe wurden vom „Nationalen Salon“ umgesetzt und bestachen durch ihr geometrisch-futuristisches Grunddesign, das mit modischen Details in Anlehnung an mittelalterliche Bekleidung und Ornamentik ergänzt wurde: Glockenärmel erinnerten an die byzantinische Kleidung, die Verzierungen an die Steinfriese der serbisch-orthodoxen Klöster in Decˇani und Gracˇanica. Auf dem Cover der Frauenzeitschrift Politika Bazar vom 9. Dezember wurde ein Simonida-Modell abgedruckt. Einige Werbeaufnahmen präsentierten die Kombination aus zeitgenössischen Formen und mittelalterlichen Stilelementen als visionäre Mode, die sich in das moderne Stadtbild Belgrads einfügte. Joksimovic´s Modeschöpfungen, wie die Kollektion „Vitrage“ (Vitrazˇ) aus dem Jahre 1968, die Glasornamente katholischer Kathedralen und orthodoxer Klöster als Gestaltungselement in moderne Mini-Designs oder in lange Abendkleider integrierte,38 waren wegweisend für experimentelle Gestaltung und den Durchbruch von zunächst als Provokation empfundener Kleidungsstücke. Wurden mögliche gesellschaftliche Auswirkungen der Minimode, die seit 1967 in Jugoslawien aufkam, noch in der Presse diskutiert, waren dem offiziellen Modeschöpfer scheinbar keine Grenzen gesetzt: Joksimovic´s extravagante Minikleider aus weißem Fell wurden schnell salonfähig. Einzelne Modelle aus der Serie wurden für PrÞt-—-Porter-Kollektionen und die Produktion preisgünstiger Konfektionsware genutzt.39 Die Umsetzung der Entwürfe durch 36 Vgl. auch das Fazit der Ethnologin Velimirovic´ 2008, S. 66 und S. 75. 37 Der Kolo, ein traditioneller Rundreigentanz, nahm eine besondere Stellung in der jugoslawischen Affektordnung ein. 38 Velimirovic´, Danijela: ,Kulturna biografika grandiozne mode. Pricˇa o kolekciji Vitrazˇ Aleksandra Joksimovic´a‘, in: ETNOANTROPOLOSˇKI PROBLEM. NOVA SERIJA 2006/1 – 2, S. 91 – 104. 39 Vgl. ebd., S. 98.

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Abb. 8: Aleksandar Joksimovic´, Kollektion „Simonida“, Belgrad, 1967.

staatliche Betriebe, wie etwa der Kollektion „Paysage“ (Pejzazˇ), eine Kombination aus Leder und mit Landschaftsmotiven gestaltetem Gewebe,40 durch die Leder- und Textilfabrik im bosnischen Visoko, zeugt vom Know-how der verarbeitenden Industrie Jugoslawiens. Mit seinen Kollektionen hatte Joksimovic´ auch im Ausland Erfolg, und zwar gleichermaßen in Ost und West. So wurde „Simonida“ auf der Internationalen Modemesse in Moskau von 1968, die im Rahmen der Festivitäten anlässlich des 50. Jahrestags der Oktoberrevolution stattfand, prämiert. Seine Kollektion „Die verfluchte Jerina“ („Prokleta Jerina“),41 die im Rahmen der ersten jugoslawischen Industrieausstellung in Paris im Herbst 1969 zu sehen war, vereinnahmte, wie die Oktoberausgabe des französischen Modemagazins Elle anerkennend berichtete, durch ihre mystisch-exotische und märchenhafte Extravaganz das Publikum. Auf dem Modemarkt wurde diese als eigenständige Sprache präsentiert. Der Wert dieser Modeschöpfungen blieb in der kommunistischen Produktionsgesellschaft allerdings ungeklärt. Als sich Läden von „Bosna-Folklora“ in Sarajevo des Simonida-Labels von Joksimovic´ bedienten, um eigens produzierte Kleidungsstücke zu verkaufen, kamen in Jugoslawien erstmals Debatten zum Urheberrecht und zum Status von Designern auf.42 Unter den sozialistischen 40 Vgl. Abb. 3 – ,Modeli iz kolekcije Pejzazˇ Aleksandra Joksimovic´‘, in: ebd., S. 102. 41 Jerina, eine Griechin, war die zweite Ehefrau des Despoten Öurd¯e Brankovic´, der zu Beginn seiner Regierungszeit (1427 – 56), da Belgrad zu diesem Zeitpunkt an Ungarn zurückfiel, in Smederevo die neue serbische Hauptstadt errichtete. Ihren Beinamen erhielt Jerina in der Volksdichtung, wo ihr u. a. Verschwendungssucht und die hohen Abgaben während des Festungs- und Städtebaus zugeschrieben wurden. 42 Vgl. Velimirovic´ 2008, S. 66.

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Brudervölkern spielte das Copyright keine Rolle, im Gegenteil: Während im Kapitalismus Anleihen bei anderen Designlinien als Industriespionage galten, schienen die bereits erwähnten „Internationale Modekongresse“ der Ostblockstaaten als Kopierangebot zu dienen. Oft wurde – wie für den 11. Kongress in Bukarest dokumentiert ist – in brüderlicher Geste nicht nur das Gefallen an den anderen Kreationen geäußert, sondern das Versprechen, diese in die eigenen Kollektion aufzunehmen.43 Kleiderordnungen werden durch die Materialität, Ikonizität und eine spezifische Formsprache determiniert. Roland Barthes, der die Sprache der Mode anhand von Modezeitschriften einer strukturalistischen Analyse unterzogen hat, siedelte das Sich-Kleiden auf der Ebene der Sprachverwendung, der parole, an.44 Status und Design offiziell befürworteter Bekleidung, deren gemeinschaftliche Bedeutung durch subversive Kleiderpraktiken nur noch mehr zum Vorschein kam, belegen die performative Kraft vestimentärer Codes, durch die in Jugoslawien und der Tschechoslowakei auf verschiedene Weise und doch vergleichbar Kleider als Ausdruck der kollektiven Identität galten, sprich: die propagierte Brüderlichkeit und Einheit zur „zweiten Haut“45 wurde.

Abbildungen ˇ , Entwurf OP Posteˇjov, Zˇena a mûda 6, 1949, Coverbild, Abb. 1: Frauenbekleidung, KSC ˇ esk‚ mod‚. 1940 – 1970. Zrcalo doby. Praha 2000, S. 35. aus: Konstantina Hlav‚cˇkov‚: C Abb. 2: Sommerlicher Regenmantel, ¢BOK-Entwurf, Zˇena a mûda 4, 1969, Coverrückseite. Abb. 3 Design „Astromoda“, Zˇena a mûda 7, 1970, aus: Djurdja Bartlett: FashionEast: the Spectre that Haunted Socialism. Cambridge, Mass. 2010, S. 217. Abb. 4: Romantische Herrenhemden für den Abend, ZˇENA A M­DA 1969/10, S. 16. Abb. 5: Marshall Tito, LIFE 13. September 1948, Coverbild. Abb. 6: Marschall Tito und Jovanka Broz empfangen das griechische Königspaar, Belgrad, September 1955, aus: Radonja Leposavic´ (Hg.), vlasTito iskustvo past present (Macht/ Tito/Eigene Erfahrung past present). Ausstellungskatalog. Beograd 2004, S. 195. Abb. 7: Aleksandar Joksimovic´ präsentiert Jovanka Broz seine Kollektion „Vitrazˇ“, Belgrad, 1968, aus: Danijela Velimirovic´ : Moda, ideologija i politika: Odevanje Jovanke Broz, in: ANTROPOLOGIJA 2006/1, S. 50 – 60, hier : S. 53. Abb. 8: Aleksandar Joksimovic´ : Kollektion „Simonida“, Belgrad, 1967, aus: Danijela 43 Pfannstiel, Margot: ,Rendevous der Mode‘, in: SIBYLLE 1958/4, S. 31; zit. nach Bartlett 2010, S. 160. 44 Barthes, Roland: SystÀme de la mode. Paris 1967. 45 Diese Metaphorik ist auch für Kleidergeschichten titelgebend, vgl. Holenstein, Andr¦ / Meyer Schweizer, Ruth / Zwahlen, Sara M. (Hg.): Zweite Haut. Zur Kulturgeschichte der Kleidung. Bern 2009.

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Ljiljana Reinkowski (Basel)

Die letzte Welle der Brüderlichkeit? Die Neue Welle als kulturelle Bewegung in Jugoslawien

In seinem kürzlich erschienenen Buch betont Simon Raynolds, wie attraktiv für uns die Popkultur von vor einigen Jahrzehnten ist. Unter dem bezeichnenden Titel Retromania. Pop Culture’s Addiction to its own Past analysiert er die obsessive Beschäftigung mit einer gestrigen Populärkultur, die das Fehlen neuer starker Akteure sichtbar macht und scheinbar beheben kann. Beweise dafür findet man tagtäglich in einem immensen Revival von altem Musikmaterial, das in verschiedenen Neuinterpretationen auf uns einströmt. Raynolds sieht es sogar als „dominant force in our culture, to the point where it feels like we’ve reached some kind of tipping point.“1 Er wagt sogar die Frage: „Is nostalgia stopping our culture’s ability to surge forward, or are we nostalgic precisely because our culture has stopped moving forward and so we inevitably look back to more momentous and dynamic times?“2 Die Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens sind darin keine Ausnahme. Hier hat man es allerdings mit einer komplexen kultur- und soziopolitischen Konstellation zu tun: Die jugoslawische Popkultur Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre existierte in einem Land, das nicht mehr besteht und heute aus der Perspektive mehrerer neu entstandener Länder mehr oder weniger – oder auch gar nicht – nostalgisch erinnert wird.3 Diese Nostalgie steht im Kontrast (oder wird dadurch erst hervorgerufen) zu den schmerzhaften sozialen und politi1 Raynolds, Simon: Retromania. Pop Culture’s Addiction to its own Past. London 2012, S. xiv. 2 Ebd. 3 Bakovic´, Ivica: ,(Jugo)nostalgija kroz naocˇale popularne kulture‘, in: PHILOLOGICAL STUDIES / FILOLOSˇKE STUDIJE 2008/6 – 2, S. 89 – 99, weist mit Recht daraufhin, dass die in allen postkommunistischen Ländern verbreiteten Nostalgie-Wellen, die sich zudem alle untereinander ähnlich sind, wenig mit dem damaligen politischen System selber zu tun haben und sich vorwiegend auf andere Segmente des früheren Lebens beziehen. Predrag Markovic´ zählt in seinem ,eleganten Modell‘ sieben nostalgische Werte des Sozialismus auf: 1. Solidarität, 2. Sicherheit, 3. Stabilität, 4. soziale Inklusion, 5. Soziabilität, 6. Solidität/Seriosität und 7. Selbstachtung, vgl. Markovic´, Predrag J.: ,Der Sozialismus und seine sieben „S-Werte“ der Nostalgie‘, in: Brunnbauer, Ulf / Troebst, Stefan (Hg.): Zwischen Amnesie und Nostalgie, Köln/ Weimar/Wien 2009, S. 153 – 164, hier S. 154.

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schen Veränderungen der 1990er Jahre und den schwierigen Anpassungsprozessen an die neuen politischen und wirtschaftlichen Umstände. Raynolds beobachtet ferner, dass man sich heute zunehmend mit der unmittelbar vergangenen Geschichte beschäftigt. Dies trifft auch für die Region des ehemaligen Jugoslawien zu, wo das Interesse an der Alltagskultur Jugoslawiens in ihren verschiedenen Aspekten, darunter auch an der Ideologie der „Brüderlichkeit“ als einer der wichtigsten ideologischen Säulen der jugoslawischen Gesellschaft, zunimmt.4 Die jeweils ,eigene‘ nationale Historiografie und Publizistik bemühen sich zwar um die Begründung und Rechtfertigung der Trennung und versuchen gleichzeitig, neue gesellschaftliche und politische Werte zu etablieren. Folge dieses Anliegens ist die gezielte Desavouierung des alten Systems und seiner Werte. Ein betont negatives Bild des vorherigen Staates ist damit zugleich Agenda und Inhalt. Doch seitdem die Konflikte zwischen den Nachfolgestaaten nicht mehr im Vordergrund stehen, sind auch Blicke auf die gemeinsame jugoslawische Vergangenheit wieder möglich – vor allem auf ideologisch wenig belastete Phänomene der gemeinsamen Unterhaltungskultur. Die Popkultur der 1970er und 1980er Jahre, die sogenannte Neue Welle (kroatisch: Novi val, serbisch: Novi talas),5 war nicht nur ein Musikphänomen, sondern umfasste auch andere Künste wie Cartoonkunst, Grafikdesign, Fotografie und Theater. Zudem spiegeln sie auch die komplexen sozio-politischen und kulturellen Hintergründe der späten jugoslawischen Gesellschaft wider.6 Dieser Beitrag versucht zu zeigen, dass die Neue Welle als kulturelle Bewegung 4 Einen wichtigen Beitrag leisten hier kürzlich erschienene Arbeiten, wie z. B. von Duda, Igor : Pronad¯eno blagostanje [Erreichter Wohlstand], Zagreb 2010; Janjetovic´, Zoran: Od internationale do komerciale [Vom Internationalismus zum Kommerzialismus], Beograd, 2011; Radina Vucˇetic´ : Coca-cola socijalizam [Coca Cola-Sozialismus], Beograd, 2012. 5 Der Begriff Neue Welle ist nicht ,autochthon‘; er stammt aus Großbritannien und den USA, den großen Ländern der Popmusik und wird im engeren Sinne zuerst auf die Musik des Punk und später auf andere Musikrichtungen, die unter dem Einfluss des Punk entstanden sind, sowie auf die gesamte zugehörige Jugendkultur angewandt. Die Charakteristika des New Wave fasst Friederike Herbst folgendermaßen zusammen: „Punk und Jugendkultur gerierten sich in den westlichen Konsumgesellschaften als gesellschafts- bis staatskritisch. Dies war teilweise reine Bürgerschreck-Attitüde, teilweise Ausdruck eines (noch) ambivalenten Individual-Anarchismus, teilweise auch Ausdruck einer zugleich antikapitalistischen, antisowjetischen und antimilitaristischen Überzeugung.“ Vgl. Herbst, Friederike: ,Rechnet mit uns. Punk und Neue Welle im sozialistischen Jugoslawien‘, in: SÜDOST-FORSCHUNGEN 2009/68, S. 418 – 438, hier S. 419. Im Fall Jugoslawiens hat aber diese neue Musikbewegung eigene Themen entwickelt und in gesellschaftspolitischer Hinsicht eine andere Rolle als in Großbritannien und den USA gespielt. Der kroatische Rockkritiker Darko Glavan sieht den Hauptunterschied in der Tatsache, dass die jugoslawischen Neue-Welle-Künstler nicht, wie ihre Gleichgesinnten im Westen, über Klassenkonflikte schrieben bzw. sangen, sondern mehr über die Generationsproblematik und über die Diskrepanz zwischen proklamierten Gesellschaftsnormen und politischer Realität (vgl. Albahari, David (Hg.): Drugom stranom – Almanah novog talasa u SFRJ. Beograd 1983, S. 20). 6 Herbst 2009, S. 419.

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die „Brüderlichkeit“ zwar nicht proklamiert, dafür aber gewissermaßen ,praktisch gelebt‘ hat. Im Unterschied zu anderen Strömungen in der jugoslawischen Popkultur wurde zum ersten Mal kritisch über die eigene Gesellschaft und ihre Probleme offen geredet (bzw. gesungen), was zur Enttabuisierung vieler Themen beitrug. Dadurch erreichte die Neue Welle eine Generation, die mit der Ideologie und den Parolen der „Brüderlichkeit“ aufgewachsen, gleichzeitig aber den Einflüssen aus dem Westen ausgesetzt war. Die Bewegung verbreitete sich in fast allen jugoslawischen Städten. Durch den regen Austausch entstand unter den urbanen Jugendlichen eine Art einheitliche Kultur im gesamten Jugoslawien. Die ansonsten nur proklamierte Losung „Brüderlichkeit und Einheit“ wurde hier in die Tat umgesetzt. Sie beachtete kaum die Republik- und Nationsgrenzen und kann in ihrem Kern als ,jugoslawisch‘ bezeichnet werden. Obwohl die sozialistische Losung für die Charakterisierung der Neuen Welle kaum angewendet werden kann, trifft sie aber recht gut die Stimmung dieser Bewegung, ihre soziale und kulturelle Mobilisierungswirkung.

Warum die Neue Welle? Die jugoslawische Populärkultur war Resultat und Begleiterscheinung von Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung,7 die ihre spezifischen Formen auch aus der Erfahrung des Bruches mit der Sowjetunion entwickelte. Die Belgrader Historikerin Radina Vucˇetic´ sieht in der Öffnung der jugoslawischen Kultur seit den 1950er Jahren zwei Prozesse am Werk: den Prozess ,von innen‘, also die Bereitschaft eines sozialistischen Landes sich nach außen zu öffnen; und einen Prozess ,von außen‘, also den weltweiten Einfluss der USamerikanischen Popkultur.8 Neben anderen Kulturwissenschaftlern stellt Vucˇetic´ die These auf, dass die USA in der Zeit des Kalten Kriegs ihre Popkultur gezielt mit dem Ziel exportierten, sich auch in den sozialistischen Ländern ihre kulturelle Dominanz zu sichern. Im Prozess der ,Westernisierung‘ der jugoslawischen Gesellschaft mittels der Popkultur waren die amerikanischen und britischen Einflüsse in der Musik, vor allem in den Genres Jazz und Rock ‘n’ Roll, besonders stark. Der Kommunistischen Partei Jugoslawiens waren diese Einflüsse von außen durchaus bewusst. Jedoch anstatt sich dagegen zu wehren, wie das die meisten anderen sozialistischen Staaten versuchten, nutzte sie die westliche Popkultur für die Zwecke ihres eigenen Systems. Hinzu kam, dass die politische Führung des Landes Angst vor einem Putsch ,aus dem Osten‘ hatte 7 Sundhaussen, Holm: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Wien/Köln/Weimar 2012, S. 131. 8 Vucˇetic´ 2012, S. 187 – 190.

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und sich durch die Anbindung an den Westen und die gleichzeitige Kooptation der einheimischen Massen, vor allem der jungen Generationen, davor schützen wollte. Dank dieser, so Vucˇetic´, utilitaristisch begründeten ,liberalen‘ Einstellung der politischen Elite und der Akzeptanz westlicher Einflüsse, etablierte sich in den 1960er Jahren die jugoslawische Popmusik. Nach seinem weltweiten Durchbruch in den 1950er Jahren startete der Rock ‘n’ Roll seit den frühen 1960er Jahren einen regelrechten Eroberungszug durch den jugoslawischen Kulturraum. Bald gab es die ersten einheimischen Rock-Gruppen, große Konzerte, Clubs und bekannte Treffpunkte, ja sogar eine eigene Schallplattenproduktion und Fachzeitschriften über Rockmusik.9 Das begeisterte neue Publikum war die Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren worden wurde und alle Hits aus den Sendern Radio Luxemburg, Radio Free Europe und Voice of America bereits kannte. Vucˇetic´ argumentiert aber nicht nur, dass der Staat den Rock ‘n’ Roll akzeptierte, um ihn so besser kontrollieren zu können. Sie stellt sogar die weitergehende These auf, dass die neue Musikströmung im Kampf gegen den wachsenden Nationalismus der 1960er Jahre benutzt wurde, indem man auf diese Weise die rebellische und kritische Jugend an sich binden und ihre Unzufriedenheit nicht dem Einfluss der wachsenden nationalistischen Strömungen überlassen wollte.10 Auch wenn sich das schwer nachweisen lässt, unbestritten ist es jedenfalls, dass man dem Rock Tür und Tor im einheimischen Rundfunk und Fernsehen öffnete,11 ein entscheidender Schritt in der massenhaften Verbreitung und Etablierung dieser Musik.

Die Entstehung und Entwicklung der Neuen Welle (1977 – 1983) Die beschriebene Entwicklung des Rocks kulminierte in der populärsten und stärksten Band in der Region – Bijelo dugme (Weißer Knopf). Die aus Sarajevo, 9 Ramet, Sabrina (1994): ,Shake, Rattle and Self-Management. Making the Scene in Yugoslavia from the Death of Tito to the War for Kosovo‘, in: Ramet Sabrina (Hg.): Rocking the State. Rock Music and Politics in Eastern Europe and Russia, Boulder/Oxford/San Francisco 1994, S. 103 – 139, hier S. 108. „Generally rock took hold in Yugoslavia and gained access to the media. A string of specialty magazines started to cater to the new taste – first Ritam in Novi Sad, then Dzˇuboks and Pop ekspres in Zagreb, ITD in Belgrade, and in 1982 Belgrade’s Rock magazine.“ 10 Vucˇetic´ 2012, S. 214, 216. 11 Ebd., S. 203: „Rock ‘n’ Roll eroberte in diesem Jahrzehnt auch das mächtigste Medium – das Fernsehen, und zwar durch die Kult-Sendung von Jovan Ristic´ über den jugoslawischen Rock ‘n’ Roll unter dem Titel ,Ein Konzert für die verrückte junge Welt‘, die ab Januar 1967 ausgestrahlt wurde. Diese Sendung wurde von etwa 10 Millionen Zuschauern verfolgt.“

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der „Wiege des Yugo-Rocks“,12 stammende Gruppe wurde 1974 gegründet und spielte in ihrer Synthese von Folk und Rock eine entscheidende Rolle in der Formierung der jugoslawischen Pop-Rock-Szene. Die Blicke des einheimischen Publikums, das sich vorher eher nach Westen orientiert hatte,13 zog sie auf sich und die eigene Kultur.14 Kombiniert mit einem neuen ,rockigen‘ Auftreten und glamourösen Image trafen sie den Geschmack der meisten Jugoslawen, ungeachtet ihrer Nationalität. Dieser kulturelle Habitus wurde dem sozialen Hintergrund eines großen Teils der Fans gerecht, die ihre Wurzeln noch oft auf dem Dorf hatten und daher eher halburbanisiert waren. Ante Perkovic´ beschreibt das Modell von Bijelo dugme als „Yugoslav cultural code“15 und vergleicht in dieser Hinsicht die Hauptfigur der Band, Goran Bregovic´, mit dem bekannten Bildhauer Ivan Mesˇtrovic´ und seinen Bemühungen nach dem Ersten Weltkrieg, eine jugoslawische Kultur zu kreieren.16 Der Erfolg der Gruppe schien lange Zeit alle anderen Ausprägungen der Rockkultur im Lande zu überstrahlen, ja geradezu zu ersticken. Aber nach der ersten Phase des überwältigenden Erfolgs von Bijelo dugme fühlten sich Bands in anderen Städten herausgefordert: Die Reaktionen kamen aus Ljubljana, Zagreb, Novi Sad und schließlich aus Belgrad – als eine Art Antwort einer anderen, jüngeren und vor allem städtischen Generation. So entstand langsam etwas, das der Rockmusik-Kritiker Darko Glavan als „die dritte Generation des einheimischen Rocks“ definiert hat.17 Auch in sozialer Hinsicht sind hier Unterschiede zur älteren Generation festzustellen: Jasenko Houra, der Kopf der Zagreber Band Prljavo kazalisˇte (Schmutziges Theater), beschreibt im Dokumentarfilm Sretno dijete (Glückliches Kind) die Mitglieder von Bijelo dugme als „Jungs in Tierfellen, die zu viel 12 Barber-Kersovan, Alenka: ,Rock den Balkan! Die musikalische Rekonstruktion des Balkans als emotionales Territorium‘, in: Helms, Dietrich (Hg.): Cut and paste. Schnittmuster der populären Musik der Gegenwart. Bielefeld 2006, S. 75 – 96, hier S. 76. 13 In ihrer Anfangsphase der 1960er Jahre war die jugoslawische Pop-Rockmusik hauptsächlich reproduktiv. Die Bands ließen sich von der Rockmusik aus dem Westen inspirieren (und konnten dies im Unterschied zu Musikgruppen in den Ostblockländern auch tun) und entwickelten mit der Zeit eine eigene, gut etablierte Szene. Ab 1968 entdeckten die jugoslawischen Rocker die einheimische Folk-Musik und bedienten sich in ihren Liedern dieses ,kulturellen Reservoirs‘. Dieses Modell wird Bijelo dugme weiter ausarbeiten und bekannt machen – und damit jenes Subgenre miterschaffen, das heute, wie schon erwähnt, als ,YugoRock‘ bekannt ist (Herbst 2009, S. 425). 14 Als ein Zeichen der Popularität von Bijelo dugme kann das Konzert in Belgrad im Jahr 1977 (das sogenannte Koncert kod Hajducˇke ˇcesme) erwähnt werden: Etwa 100.000 Menschen (manche Angaben sprechen lediglich von 70.000) versammelten sich bei diesem RockKonzert, das sicherlich ein wichtiger Meilenstein in der Legendenbildung zur jugoslawischen Popkultur ist. 15 Perkovic´, Ante: Sedma republika. Pop kultura u Yu raspadu. Zagreb/Beograd 2011, S. 37. 16 Ebd, S. 36. 17 Albahari 1983, S. 16. Den Anfang, also die erste Phase jugoslawischen Rocks, sieht man in den frühen 1960er Jahren, die zweite Phase in der Gründung von Bijelo dugme 1974.

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mit Schafen zu tun haben“18 – eine recht pointierte Aussage zu den Spannungen zwischen urbanen und nicht-urbanen kulturellen Kreisen.19 Houra bringt hier zum Ausdruck, dass sich seine Generation bzw. seine soziale Schicht nicht mit der Musik, den Themen und Motiven der Band aus Sarajevo zu identifizieren vermochte, sich zumindest aber deutlich von ihnen abzugrenzen versuchte. Die Jugendlichen in den jugoslawischen Großstädten waren zwar mit der Musik von Bijelo dugme aufgewachsen; sie hatten aber einen anderen, rein urbanen Hintergrund. Sie suchten nach einem neuen Image, vor allem aber nach neuen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten, Themen und Motiven. Diese neue Generation der Musiker war etwa zehn Jahre jünger und hatte eine andere Ausbildung genossen; sie war mit anderen politischen, kulturellen und sozialen Einflüssen (aus dem Westen) aufgewachsen und war mit anderen Zukunftsperspektiven konfrontiert als die älteren Vertreter der Rockszene. Sie wuchsen, wie es in einem bekannten Song heißt, „mit Kriegsfilmen in Farbe, mit den Schlägereien in der Schule und Volksliedern voller Trauer“ auf.20 Sie war viel kritischer gegenüber der Gesellschaft und Politik eingestellt und dem Punk galt ihr ursprüngliches musikalisches Interesse. Dem Punk blieben aber schließlich nur die slowenischen Bands treu, währenddessen die meisten anderen eine mildere Variante wählen sollten – die Neue Welle.21 Das Wort „Welle“ gibt die Entstehung und Ausbreitung dieser Musikausrichtung im jugoslawischen Kulturraum treffend wieder : Die neue Popkultur nahm im Nordwesten des Landes ihren Anfang und rollte dann als große und mächtige Welle in Richtung Südosten. Die ersten Gruppen entstanden in Slowenien, bald darauf gab es schon die ersten Bands der Neuen Welle in Zagreb. 18 Das angeführte Zitat bezieht sich auf ein bekanntes Foto von Bijelo dugme, auf dem die Mitglieder der Band nach der damaligen Mode Mäntel aus Schafspelz trugen, aber auch auf die Folkelemente, die sie in ihrer Musik extensiv nutzten; Mirkovic´, Igor : Sretno dijete, 2003, verfügbar unter : [Zugriff: 22. 02. 2013]. 19 Sundhaussen 2012, S. 136. „Die Kluft zwischen Stadt und Land war in Jugoslawien sehr viel größer als in voll entfalteten Industriegesellschaften, und dementsprechend lange dauerte es, bis der Sprung vom Dorf in die Stadt oder aus der ländlichen Familienwirtschaft in den Industriebetrieb mental verarbeitet werden konnte.“ 20 Song Sretno dijete [Glückliches Kind], Album Prljavo kazalisˇte, 1979: „Ja sam odrastao uz ratne filmove u boji, uz cˇeste tucˇnjave u ˇskoli, uz narodne pjesme pune boli / [Refrain:] Ja sam stvarno sretno dijete / Ja sam odrastao uz predivne vojne parade, uz studentske demonstracije, izgubio sam sliku iz legitimacije.“ [Ich bin mit den Kriegsfilmen in Farbe aufgewachsen, mit häufigen Schlägereien in der Schule, mit Volksliedern voller Schmerz / [Refrain:] Ich bin wirklich ein glückliches Kind / Ich bin mit den wunderbaren Militärparaden aufgewachsen, mit Studentendemonstrationen, ich habe mein Ausweisbild verloren.] 21 Vucˇetic´ ist der Meinung, dass der jugoslawische Rock insgesamt bis zum Auftreten der Neuen Welle eigentlich ein „streng kontrollierter Rock“ war und, anders als im Westen, nie Kritik am System oder an gesellschaftlichen Erscheinungen übte. Erst mit den neuen Bands, die durch den europäischen Punk inspiriert waren, sei eine spannende und herausfordernde Rockszene entstanden (vgl. Vucˇetic´ 2012 S. 217).

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Von dort verbreitete sich der neue Musikstil auf andere kroatische Städte, unter welchen Rijeka bald eine eigene starke Szene aufwies. Es folgten Novi Sad und schließlich Belgrad, in dem die Neue Welle die längste und insgesamt stärkste Wirkung haben sollte. Sarajevo bringt einige Jahre später (um 1983) eine eigene Musikrichtung wie auch eine spezifische Szene unter der Bezeichnung „Neuer Primitivismus“ hervor, zu verstehen als bosnischer Punk ohne Punk-Ikonografie.22 Den Startpunkt für die Ausbildung der Zagreber Neuen Welle und damit der gesamten jugoslawischen Neuen Welle sieht man heute gerne im Konzert der aus Ljubljana kommenden Punk-Gruppe Pankrti (Bastards). Sie spielten 1977 in Zagreb bei der Eröffnung einer Ausstellung von Mirko Ilic´, dem Cartoonzeichner. Im selben Jahr begann sich in Zagreb die legendäre Band Prljavo kazalisˇte (Schmutziges Theater) zu etablieren. Kurz darauf folgten weitere Gruppen: Im selben Jahr Parafi (Paraphe) in Rijeka; in Zagreb Haustor, Film und die sehr bedeutende Band Azra (Eigenname bzw. Jungfrau) 1981. Nach diesen Entwicklungen in Zagreb wurde ein Jahr später, 1978, in Novi Sad die Band Pekinsˇka patka (Pekingente) gegründet. 1979 entstehen in Belgrad die drei Bands Sˇarlo akrobata (Akrobat Charlie), Elektricˇni orgazam (Elektro-Orgasmus) und – als wichtigste unter diesen – Idoli. In Sarajevo werden einige Jahre später die Bands Zabranjeno pusˇenje (Rauchen verboten), Elvis J. Kurtovich & His Meteors und Crvena jabuka (Roter Apfel) gegründet, begleitet von der legendären satirischen Sendung Top lista nadrealista (Surrealisten-Chart).23 Die Neue Welle hat nicht nur einen neuen Stil und eine neue Ästhetik, sondern auch neue urbane Themen hervorgebracht. Zum ersten Mal sang man über Sex, Drogen und Homosexualität (so z. B. Jasenko Houra, „Ich bin für freie Männerliebe“ /„Ja sam za slobodnu musˇku ljubav“, 1979) und die Themen, die direkt die Staatsgewalt betrafen („Nicht auf den Kopf, Genosse Polizei“ / „Nemoj po glavi druzˇe plavi“, Azra). Hinzu traten die offiziellen Themen der „Brüderlichkeit“ wie die Partisanen und der Nachkriegsaufbau („Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies“ / „Radnicˇka klasa odlazi u raj“, Haustor 1981), die jedoch ironisch thematisiert wurden. Material für sozial aufgeladene Themen gab es ohnehin reichlich: Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre häuften sich die Probleme: Wirtschaftskrise und sehr hohe Inlands- und Auslandsverschuldung,24 22 Die meisten Beobachter zählen den Neuen Primitivismus zur Bewegung der Neuen Welle, allerdings zu ihrer späteren Phase. 23 Vgl. ,Top lista nadrealista‘, verfügbar unter : [Zugriff: 14. 04. 2013]. 24 1977 belief sich die gesamte Auslandsverschuldung Jugoslawiens (des Bundes, der Länder, der Kommunen, der Banken und Einzelunternehmen) auf 9,5 Milliarden Dollar, 1980 waren es nahezu 19 Milliarden und 1981 21 Milliarden. Das heißt, innerhalb von vier Jahren (1977 –

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Stagnation in der Industrie und hohe Arbeitslosigkeit. In dieser für die Jugend „desolaten Situation“ blühte nach Sundhaussens Beobachtung nur noch die jugendliche Subkultur.25 Allerdings war die sich anbahnende Krise für den durchschnittlichen jugoslawischen Bürger nicht so deutlich zu spüren, weil die Einkommen weiter wuchsen und Ende der 1970er Jahre sogar ihren höchsten Stand in der gesamten jugoslawischen Ära erreichten. Laut Igor Duda waren die späten 1970er die Zeit der höchsten Konsumausgaben und trotz gravierender wirtschaftlicher Probleme (wie etwa der Inflation) erhöhte sich der Lebensstandard weiter.26 Hinsichtlich politischer Freiheiten der jugoslawischen Bürger sind die 1970er Jahre jedoch keineswegs positiv zu werten.27 Die Musik der Neuen Welle war das Resultat einer umfassenden kulturellen Bewegung und gleichzeitig in sie eingebettet. Die zahlreichen Clubs, in denen die Konzerte stattfanden, erreichten mit der Zeit einen Kult-Status. Vor allem Zagreb entwickelte mit Lokalitäten wie Studentski centar (Studentenzentrum), Kulusˇic´, Lapidarij (Lapidarium) und Jabuka (Äpfel) eine starke Club-Szene. Belgrad wiederum bot mehr Möglichkeiten für größere Konzerte.28 Der schon erwähnte rege Austausch und die Kontakte untereinander, die eben Grundzüge einer ansonsten nur deklarierten Brüderlichkeit trugen, fanden hier statt – in Klubs, die nicht privat, sondern staatlich waren. Hinzu kommen einige Zeitschriften, die wie die Jugend-Zeitschrift Polet (Aufschwung), die von der Sozialistischen Jugend Kroatiens herausgegeben wurden. Aufgrund eines unkonventionellen Layouts, der kritischen Hinwendung zu aktuellen Themen sowie eines jugendnahen Sprachstils, aber vor allem dank der Behandlung der aktuellen Popkultur,29 wurde Polet zu einem der

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81) hatte sich die Auslandschuld (Finanz- und Warenkredite) verdoppelt. Zu den Auslandsschulden kamen gigantische Inlandsschulden von Unternehmen, Banken und Privatpersonen (vgl. Sundhaussen 2012, S. 206). Sundhaussen 2012, S. 208. Duda, Igor: Pronad¯eno blagostanje. Svakodnevni zˇivot i potrosˇacˇka kultura u Hrvatskoj 1970ih i 1980ih. Zagreb 2010, S. 389 f. Mitte der 1970er Jahre saßen in jugoslawischen Gefängnissen rund 4000 politische Häftlinge ein. Nur in Albanien und der Sowjetunion gab es gemessen an der Bevölkerungszahl mehr. Das System bediente sich politischer Einschüchterung, zehntausende Verdächtige wurden überwacht und eingesperrt, jedoch betonte Marschall Tito immer wieder, dass ,unsere Revolution ihre Kinder nicht frisst‘ (vgl. Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 257 f.). Janjetovic´, Zoran: Od »Internacionale« do komercijale. Popularna kultura u Jugoslaviji 1945 – 1991. Beograd 2011, S. 166. In seinem Sammelband Almanah novog talasa (Almanch der Neuen Welle) schreibt Albahari über die Bedeutung von Polet: „Polet aus Zagreb hat eine sehr wichtige Rolle gespielt, indem sie Rock- und Literaturkritik als gleichwertig behandelte und damit den Raum öffnete für Geschichten, die in der Sprache der Teilnehmenden und nicht der Beobachter die Welt des Rocks untersuchten.“ (Vgl. Albahari 1983, S. 107).

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meistgelesenen Magazine.30 Obwohl es sich um eine sozialistische Zeitschrift handelte, waren die Texte nicht im alten emphatischen Duktus der kommunistischen „Brüderlichkeit“ verfasst und behandelten Themen, die auch außerhalb der Teilrepublik Kroatien aktuell waren. Igor Stoimenov kommt auf der Grundlage unzähliger Interviews und der Bearbeitung des Archivmaterials für seine Doku-Serie Robna kuc´a (Warenhaus) (in 29 Episoden), zum Schluss, dass „in der ganzen Genese der jugoslawischen Popkultur drei Sachen am wichtigsten waren: der Partisanenfilm, Bijelo dugme – und als dritte Erscheinung, die die Kultur in diesem Raum änderte, die Neue Welle.“31

Die Neue Welle als jugoslawische Bewegung? Im erwähnten serbischen Dokumentarfilm Robna kuc´a (2010) des Regisseurs Stoimenov, der von der Popkultur in Jugoslawien handelt, spricht der kroatische Musiker und Produzent Ivan Piko Stancˇic´, einer der wichtigsten Namen dieser Zeit, über die Aktivitäten der Pop-Szene Ende der 1970er Jahre. Voller Enthusiasmus, aber auch gemischt mit Nostalgie, führt er aus, wie rege der Austausch zwischen den Städten und Künstlern war : „Wir reisten im Zug ständig hin und her. Auch mit dem Flugzeug. Jeder wohnte bei jedem. Wir beeinflussten uns gegenseitig auf natürliche Art und Weise.“ Stancˇic´ ist mit seinen Eindrücken nicht allein: Auch der Belgrader Musikkritiker Moma Rajin fasst die damals entstandene Atmosphäre mit den Worten „Belgrad, Ljubljana und Zagreb waren einander nie näher als Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre“32 zusammen. Petar Janjatovic´, Belgrader Musikkritiker und Autor mehrerer Bücher über die Neue Welle, erklärt den gemeinsamen kulturellen Hintergrund der Bewegung wie folgt: „Das war die gleiche Art von Leuten, die dieselben Bücher gelesen, dieselben Filme gesehen und sich dieselben Platten angehört haben. Sie wurden in unterschiedlichen Städten geboren und wuchsen in unterschiedlichen Städten auf, aber die Sensibilität war die gleiche.“33 Während das Ideal der Brüderlichkeit, das sich im anationalen, freund30 Polet wurde in den 1960er Jahren gegründet, aber erst 1978 erlebte die Zeitschrift ihre Blüte, nachdem sie von Ninoslav Pavic´, Zoran Franicˇevic´ und Denis Kuljisˇ übernommen wurde. Der neuen Redaktion unter der Leitung von Pero Kvesic´ gelang es, die Auflage auf 150.000 Exemplare zu steigern. Eine ganze Reihe von Journalisten und Fotografen schufen durch die Mitarbeit in dieser Zeitschrift die Grundlagen für ihre späteren Karrieren. 31 Interview mit Igor Stoimenov, GLOBUS, 25. Mai 2013. 32 Stoimenov, Igor : Robna kuc´a – Za nekoga sve, za svakog ponesˇto, 2009, Dokumentarserie über Popkultur in Jugoslawien , 9. Episode, verfügbar unter : [Zugriff: 20. 05. 2013]. 33 Stoimenov 2009, Robna kuc´a, 9. Episode; siehe auch Janjetovic´ 2011, S. 167.

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schaftlichen und gegenseitigen Interesse und Zusammensein äußerte, unter den jungen, urbanen Leuten gelebt wurde, zeichnete sich schon im Hintergrund die grundlegende Krise des ,Projekts Jugoslawien‘ ab. Wie im Titel der Belgrader Ausstellung Poslednja pobuna. 30 godina nju vejva i panka u Beogradu. Vizualne uspomene 1979 – 1982 (Die letzte Rebellion – 30 Jahre New Wave und Punk in Belgrad. Visuelle Erinnerungen 1979 – 1982) 2008 im „Dom omladine“ („Haus der Jugend“) in Belgrad zum Phänomen der Neuen Welle zu lesen ist, handelte es sich hier um das letzte ,gemeinsame‘ Kulturprojekt der Generation, die im (Jugo-)Sozialismus aufwuchs – mit spezifischen Vorstellungen über die eigenen Besonderheiten, aber auch mit der Fähigkeit, die kulturellen Differenzen im Lande zu überwinden und Anstöße aus dem Ausland aufzunehmen.

Die Neue Welle und die Medien Keine der wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit der Neuen Welle beschäftigen, lässt die Frage des Verhältnisses zwischen der Bewegung und den Machtstrukturen aus. Ausführlich werden die Fragen behandelt, wie die NeueWelle-Musik bzw. deren Texte von Seiten staatlicher Kommissionen eingestuft und wie die Texte neu produzierter Platten vor ihrer Veröffentlichung auf ihre ideologische ,Korrektheit‘ hin kontrolliert wurden. Texte, die allzu deutlich das System angriffen, wurden nicht zugelassen.34 Der angesehene Musikkritiker Darko Glavan, ehemals selbst Mitglied einer solchen Kommission in Kroatien, weist auf die unmittelbare Bedeutung dieser Einstufungen durch die Kommissionen hin. Platten konnten, wenn sie als künstlerisch wertvoll eingeschätzt wurden, von der Steuer befreit werden.35 Gleichzeitig zeigte sich hier auch der repressive Charakter der staatlichen Kulturpolitik: Wenn neue Platten als ˇsundo kategorisiert wurden, konnten sie ,zur Strafe‘ mit höheren Steuersätzen belegt werden. Tatsache aber ist: Gruppen der Neuen Welle wurden Preise verliehen.36 Sie erhielten zudem die volle Unterstützung der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei und deren Zeitschrift Polet. Polet schrieb nicht nur über neue Bands, sondern organisierte und finanzierte einzelne und gemeinsame Auftritte. Gruppen, die ursprünglich isoliert arbeiteten, fanden so zusammen und inspirierten sich gegenseitig. Die ge34 Ramet 1994, S. 111 f; Herbst 2009, S. 422 f.; Janjetovic´ 2010, S. 158 ff. 35 Morosˇcˇicˇenko, Silvio: Druga strana Rock’n’rolla, 2010, Dokumentarserie, Hrvatska Televizija, verfügbar unter : [Zugriff: 18. 05. 2013]. 36 Die Sozialistische Jugendorganisation Kroatiens (SSOH) verlieh 1980 den angesehenen Preis Sedam sekretara SKOJ-a (Sieben KP-Sekretäre) der aus Ljubljana kommenden Punk-Band Pankrti für das Album Dolgcajt (Langweile), das vorher als Schund abgetan worden war.

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meinsamen Konzerte waren ein wichtiger Anstoß für ihre weitere Arbeit. Bedeutend in dieser Hinsicht war das „Festival der Jugend“ im serbischen Subotica (Festival Omladina Subotica), das alle jugoslawischen Bands regelmäßig zusammenbrachte und wiederum von der Jugendorganisation der Kommunisten geleitet und finanziert wurde.37 So versuchte die Partei, nicht durch Parolen und die üblichen langweiligen Veranstaltungen, sondern über Polet und mittels Konzerten und verschiedenen Kulturveranstaltungen die „Brüderlichkeit“ der jungen Menschen zu fördern. Igor Mirkovic´ schreibt daher mit Recht in seinem Buch Sretno dijete, dass die Neue Welle ohne die Infrastruktur und Unterstützung der Kommunistischen Jugendorganisation wohl nicht hätte entstehen können: So wie der Staat Film, Theater und Symphonieorchester finanziere, so förderte er auch junge Rock-Bands. Die erwähnten Klubs mussten sich nicht an Profitvorgaben orientieren, allerdings mussten sie, um ihre staatliche Finanzierung zu sichern, ein volles Programm vorweisen. Auf diese Weise entstand ein stabiles Netz von Klubs mit Auftrittsmöglichkeiten für viele junge Künstler, die in einem rein marktorientierten Umfeld keine Chancen gehabt hätten.38 Zur Popularität der Bewegung und der medialen Präsenz des Konzeptes der Brüderlichkeit unter der jugoslawischen Jugend hat weiter das Fernsehen entscheidend beigetragen. Anfang der 1980er Jahre startete in Belgrad ein Programm unter dem Titel Hit meseca (Hit des Monats). Die Sendung war nach dem Vorbild der britischen Sendung Top of the Pops konzipiert und wurde einmal im Monat in ganz Jugoslawien ausgestrahlt. Obwohl eine Frequenz von einmal im Monat heute als gering erscheint, war die Sendung extrem populär und von großem Einfluss. Die Zuschauer durften zwischen verschiedenen Gruppen wählen. Jede Band, die es schaffte, in dieser Sendung live aufzutreten, machte Karriere. JRT (Jugoslavenska Radio Televizija) drehte wöchentlich drei bis vier Spots der verschiedenen jugoslawischen Bands, die dann in der Sendung ausgestrahlt wurden. Damalige Akteure äußern immer wieder, dass es sich beim Medium Fernsehen ebenfalls um ,eine Bewegung‘ gehandelt hätte – vor allem in Belgrad. Die jungen Studierenden und Dozierenden an der Fakultät für Theaterwissenschaften in Belgrad hätten gespürt, dass es hier um etwas Neues ginge und

37 Das Festival Omladina Subotica wurde 1961 gegründet und stellte 1991 seine Arbeit ein. In den drei Jahrzehnten seiner Existenz brachte es als eines der populärsten Jugendfestivals einige der wichtigsten Akteure der jugoslawischen Popszene hervor. Im Herbst 2012 wurde es neu belebt und versammelte junge Künstler aus der ganzen Region unter dem bezeichnenden Titel ,Unterschiede, die verbinden‘. Vgl. Festival Omladina Subotica – ,Unterschiede, die verbinden‘, verfügbar unter : [Zugriff: 20. 05. 2013]. 38 Mirkovic´, Igor : Sretno dijete. Zagreb 2004, S. 134 f.

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durften in den Sendungen ihre eigenen Ideen und Konzepte präsentieren.39 Die neue Fernsehästhetik ging Hand in Hand mit der Arbeit der Designer, die die Schallplatten-Cover oder die Layouts von Zeitschriften gestalteten.

Die heutige Rezeption und das Revival der Neuen Welle Wann genau das Ende der jugoslawischen Neuen Welle einsetzte, ist umstritten. Die meisten Autoren geben das Jahr 1983 an – ein Datum, an dem sich auch diese Arbeit orientiert. Ante Perkovic´ hält dem entgegen, dass sich dieses Datum einem ,Medien-Dogma‘ verdanke und dass viele Bands erst ab 1981 richtig Fahrt aufgenommen hätten. Nur diejenigen, die einfach dem Trend gefolgt seien, hätten aufgehört; die anderen aber hätten ihre besten Werke erst in den folgenden Jahren herausgebracht.40 So hat die Band Bijelo dugme erst ab 1984 das Thema des ,Jugoslawentums‘ bzw. der ,Brüderlichkeit und Einheit der jugoslawischen Völker‘ entdeckt und es in ihren Liedern hervorgehoben. Etwa zwanzig Jahre später, im postjugoslawischen Kontext, setzt das Revival der jugoslawischen Popmusik der 1970er und 1980er Jahre ein, was mit der von Raynolds aufgestellten „Twenty-Year Rule of Revivalism“ und dem vom ihm konstatierten Bedürfnis übereinstimmt, sich mit seiner „own immediate past“ zu beschäftigen.41 Ein klarer Meilenstein in dieser Revival-Bewegung ist der Dokumentarfilm Sretno dijete des Zagreber Journalisten Igor Mirkovic´ aus dem Jahr 2003 (gefolgt von einem Buch unter demselben Titel ein Jahr später). Der Titel bezieht sich auf den schon zitierten Song von Prljavo kazalisˇte und trägt – wie damals – einen metaphorisch-ironischen Beigeschmack. Bemerkenswert ist, dass dieser Film nicht nur die Erinnerungen der mit der Neuen Welle aufgewachsenen Generation wachrief, sondern auch beim jüngeren, zu großen Teilen nach dem Zerfall Jugoslawiens aufgewachsenen Publikum auf großes Interesse stieß. Dies verwundert umso mehr, als dass das heutige junge Publikum kaum direkte Berührungspunkte mit dieser Zeit gehabt hat. 2005 folgte ein Sammel39 „Die Video-Clips machten erfahrene Regisseure wie Misˇo Vukobratovic´ oder Stanko Crnobrnja, aber auch der junge Zoran Pezo, Vladimir Slavica, Goran Gajic´, Mihajlo Stanic´“, verfügbar unter : [Zugriff: 01. 05. 2013]. 40 Perkovic´ 2011, S. 42. Ganz wenige, wie z. B. Prljavo kazalisˇte aus Zagreb, sind bis heute aktiv. Sie haben aber in den 1990er Jahren komplett ihren Stil bzw. ihr politisches Engagement geändert. 41 Raynolds 2011, S. xii f. „Earlier eras had their own obsessions with antiquity, of course, from the Renaissance’s veneration of Roman and Greek classicism to the Gothic movement’s invocations of the medieval. But there has never been a society in human history so obsessed with the cultural artefacts of its own immediate past.“

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album mit der Musik der Novi val (unter demselben Titel). Beide Werke, der Dokumentarfilm Sretno dijete und der Sampler Novi val, erhielten viele Preise. Wie damals in den 1980er Jahren folgte auf diese Ereignisse in der kroatischen Kulturlandschaft eine Reaktion in Belgrad: 2008 startete das Belgrader „Haus der Jugend“ die vorher erwähnte Ausstellung „Die letzte Rebellion“.42 Drei Jahre später, im Winter 2011 – 12 organisierte das Museum der Geschichte Jugoslawiens einen Überblick über die Belgrader Neue Welle und seine Akteure unter dem bezeichnenden Titel „Die letzte Jugend in Jugoslawien“ (Poslednja mladost u Jugoslaviji). Beide Ausstellungen mit ihren dramatisch-nostalgischen Titeln spiegeln die Erinnerung an die jugoslawische Zeit wider. Im Ausstellungstext schreiben die Autoren, die Neue-Welle-Bewegung sei komplex und umfangreich, so dass sich diese Ausstellung nur auf die Belgrader Szene konzentrieren könne. Sie würden sich aber in der Zukunft eine Zusammenarbeit mit anderen exjugoslawischen Städten wünschen und verstünden ihre Ausstellung nur als einen Anfang in der Aufarbeitung einer wichtigen Phase des Kulturlebens des späten Jugoslawiens.43 Das publikumswirksamste Medium, das Fernsehen, sprang auf diesen Nostalgie-Zug auf und beschäftigte sich zunehmend mit der jugoslawischen Zeit. Es folgten Serien über das Alltagsleben und die Popkultur im jugoslawischen Sozialismus. Die schon zitierte umfangreiche, 18teilige Serie Robna kuc´a (Warenhaus) über die Popkultur in Jugoslawien entstand 2009 in Belgrad und widmete zwei ganze Episoden der Neuen Welle. Trotz des großen Interesses in Kroatien wurde diese Serie bisher noch nicht vom kroatischen Fernsehen gekauft und ausgestrahlt. Laut der kroatischen Zeitung Jutarnji list (Morgenblatt) sei sie für die Chefs des kroatischen Fernsehens zu „jugo-nostalgisch“.44 2011 entstand in Belgrad eine Serie über Rockmusik unter dem Titel Rockovnik (Terminkalender)45, 2009 in Sarajevo der Film Sarajevska poprok scena (Poprock-Szene von Sarajevo, Regisseurin: Esma Velagic´).46 Während sich diese 42 Poslednja pobuna‘ 30 godina nju vejva i panka u Beogradu. Vizualne uspomene 1979 – 1982, Dom omladine, Beograd 2008. 43 „Poslednja mladost u Jugoslaviji ist der Titel für die letzte Welle der Innovationen im integralen jugoslawischen Kulturraum, die die Elite- und Populärkultur vereinigte und die Generation, die in den letzten Jahren des Sozialismus aufwuchs, beeinflusste.“ Vgl.: [Zugriff: 20. 05. 2013]. 44 Text von Nenad Polimac: ,Napokon c´emo i mi vidjeti dio serije o kulturi bivsˇe drzˇave‘ (Endlich werden auch wir einen Teil der Serie über die Kultur des ehemaligen Staates sehen), in: JUTARNJI LIST, 31. 08. 2011. 45 Vesic´, Dusˇan: Rockovnik, 2011, Dokumentarserie über Rock and Roll in Jugoslawien: „Ruzˇan, pametan i mlad“ Rock scena 1979 – 80, Radio-televizija Srbije, verfügbar unter : [Zugriff: 20. 05. 2013]. 46 Velagic´, Esma: Sarajevska poprok scena, 2009, Dokumentarfilm, Televizija Sarajevo, verfügbar unter : [Zugriff: 26. 05. 2013].

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beiden Filme mit der Chronologie und den Protagonisten der damaligen Zeit beschäftigen, konzentriert sich der Dokumentarfilm Druga strana rock‘n’rolla (Die andere Seite des Rock’n’roll, Zagreb 2010)47 auf die Zensur und Behandlung der ,unerwünschten‘ (nepoc´udni) Musiker und hebt noch einmal den bereits erwähnten restriktiven Charakter der jugoslawischen Kulturpolitik hervor. Eine besondere Rolle spielen die eigenen Erinnerungen der damaligen Akteure, die inzwischen in Form von Interviews im Buch Moj zˇivot je novi val (Mein Leben ist die Neue Welle, 2004) von Branko Kostelnik nachzulesen sind. Auch Erinnerungsmaterialien, die sich nicht direkt mit der Neuen Welle beschäftigen, aber den damaligen gesellschaftlichen Kontext zu erklären versuchen, sind von Belang, so der Film Pricˇa o Zvecˇki (Die Geschichte über Zvecˇka)48, einem der damals bekanntesten ,Netzwerkknoten‘ in Zagreb, wo sich Musiker, Cartoon-Zeichner, Maler, Designer, Schauspieler, Schriftsteller und Journalisten trafen, um sich über neue Ideen und Trends auszutauschen. Um das Ausmaß des mittlerweile entstandenen Interesses für den jugoslawischen Alltag zu veranschaulichen, seien hier noch kurz zwei weitere Ausstellungen erwähnt: Im Frühjahr 2013 organisierten zwei große Museen in Zagreb und Belgrad Ausstellungen, die sich mit dem Alltagsleben der 1950er bzw. der 1960er Jahre in Jugoslawien beschäftigen. Im Zagreber Museum Klovic´evi dvori (Klovic´-Hof) wurde die Ausstellung Reflexionen der Zeit 1945 – 1955 gezeigt.49 Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem Museum der Geschichte Jugoslawiens in Belgrad, in dem dieselbe Ausstellung unter dem Titel Jugoslawien von Anfang bis zum Ende präsentiert wurde.50 Die Ausstellung diente zugleich als Plattform für unterschiedliche Podiumsdiskussionen, Vorträge und andere Veranstaltungen und war ausdrücklich so konzipiert, Kritik, Anmerkungen und Vorschläge aufzunehmen, um diese in für die Zukunft vorgesehene Dauerausstellung umzusetzen. Auf Grundlage der beschriebenen Aktivitäten erlebte die Neue Welle ein Revival, das sich am deutlichsten an der Präsenz der Musik selber ablesen lässt: Die Gruppen, die bis heute überlebt haben, profitieren von dieser neu gewonnenen Popularität. Die Konzerte dieser ,Musik-Dinosaurier‘ sind gefragt, obwohl – oder doch wohl richtiger : gerade weil – sie sich mit ihren bekannten, aber alten

47 Morosˇcˇicˇenko, Silvio: Druga strana Rock’n’rolla, 2010, Hrvatska Televizija, verfügbar unter : [Zugriff: 18. 05. 2013]. 48 Jovic´, Tonko: Pricˇa o Zvecˇki, 2009, Hrvatska Televizija, verfügbar unter : [Zugriff: 18. 01. 2013]. 49 Refleksije vremena: 1945 – 1955, Zagreb: 12. Dezember 2012 – 10. März 2013, Kustos: Jasmina Bavoljak. 50 Jugoslavija od pocˇetka do kraja, Belgrad, 1. Dezember 2012 – 7. März 2013, Kustos: Ana Panic´.

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Songs begnügen.51 Abgesehen von den offensichtlichen kommerziellen Interessen tritt zu den augenfälligen Phänomenen der Musealisierung und Mythologisierung nach Ante Perkovic´ noch eine andere Dimension hinzu: „So wie die Entwicklung läuft, sowohl politisch als auch generationenmäßig, könnte sich die Neue Welle-Nostalgie allmählich als Bindemittel für die Jugo-Sphäre, für die gesamte Region, den Westbalkan erweisen, egal wie man unser Verhältnis untereinander zu etikettieren beschließt.“52

Die Neue Welle als Teil der Erinnerungskultur Ulf Brunnbauer hat gezeigt, wie komplex im heutigen Südosteuropa das Verhältnis zur kommunistischen Zeit ist und welche Schwierigkeiten die postkommunistischen Länder mit ihrer eigenen unmittelbaren Vergangenheit haben. Dabei spielen die Delegitimierung der kommunistischen Herrschaft53 wie auch die Schaffung neuer Ursprungsmythen eine zentrale Rolle.54 Wie bereits angesprochen, zeigt die Südosteuropa-Historiografie im Bereich der Gesellschaftsgeschichte besondere Defizite. Arbeiten zur Alltagsgeschichte sind nach wie vor Mangelware.55 Hinzu kommt, dass die beiden letzten Jahrzehnte Jugoslawiens, die 1970er und 1980er Jahre, besonders wenig bearbeitet worden sind.56 Ein weiteres Charakteristikum der heutigen historischen Forschung über die sogenannte realsozialistische Periode ist die Konzentration auf 51 Selbst die Gruppen, die während des Jugoslawien-Krieges national orientiert waren, spielen wieder auf dem Territorium des ,Feindes‘: So hat Prljavo Kazalisˇte, deren Song Pjesma majci (Lied an die Mutter), bekannter als Ruzˇa hrvatska (Kroatische Rose), in Kriegszeiten zur inoffiziellen kroatischen Hymne aufstieg, im Dezember 2012, nach 26 Jahren Pause, wieder ein Konzert in Belgrad und im März 2013 ein weiteres in Novi Sad gegeben. 52 Perkovic´ 2011, S. 41. 53 Brunnbauer, Ulf: ,Ein neuer weißer Fleck? Der Realsozialismus in der aktuellen Geschichtsschreibung in Südosteuropa‘, in: Brunnbauer, Ulf / Troebst, Stefan (Hg.): Zwischen Amnesie und Nostalgie, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 87 – 111, hier S. 98. „Explizit oder implizit zielen diese Arbeiten auf die Delegitimierung des jugoslawischen Systems, indem sie zu zeigen versuchen, dass die Kommunisten nur aufgrund ihrer Bereitschaft, Gewalt und Repression ohne moralische Bedenken zur Ausschaltung der politischen Gegner und Erreichung ihrer Ziele einzusetzen, an die Macht gekommen sind.“ 54 Ebd., S. 90. 55 Ebd., S. 106. „Nur am Rande vertreten sind Arbeiten zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie zum Alltagsleben, was die generell marginale Position dieser Fragestellungen in den südosteuropäischen Geschichtswissenschaften reflektiert.“ 56 Ebd., S. 106. Die Gründe dafür liegen nach Brunnbauer in der Unzugänglichkeit der Archive, die größtenteils gesperrt sind. Ein weiterer Grund sei, dass diese Jahre eine komplexe Forschung- und Interpretationsarbeit verlangten und sich nicht als „eine Geschichte der Repression und des Zwangs einschreiben lassen“ könnten. Zudem seien viele Wissenschaftler selbst in dieser Zeit beruflich sozialisiert worden und müssten sich daher einer „Selbstreflexion“ unterziehen.

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„Fragen der kommunistischen Machtergreifung [und] die Durchsetzung des kommunistischen Führungsanspruchs in allen gesellschaftlichen Sphären.“57 Dabei fehlt es, wie Kuljic´ anmerkt, an einem „differenzierten Blick auf den Sozialismus“, mit der Folge, dass „die pauschale Verurteilung des Sozialismus als totalitäres nationalfeindliches System viele supranationale Kompromissmöglichkeiten“ zerstöre.58 Die Motivation für diese verkürzende Sicht sieht Kuljic´ darin begründet, dass die „Totalitarismustheorie […] eine verspätete Hintergrundideologie und eine bequeme Wissenschaftskultur der jugoslawischen Intellektuellen in der Transformationsperiode“ bildet.59 Barber-Kersovan zeigt am Beispiel Sloweniens und der dort untersuchten öffentlichen Meinung, wie es generell, jenseits der so politisierten Geschichtsschreibung, mit der Erinnerung an Ex-Jugoslawien steht: „1996 hatten laut der Untersuchung Slovensko javno mnenje 1990 – 1998 (Slowenische öffentliche Meinung, 1990 – 1998) 34,1 % der Befragten vorwiegend gute Erinnerungen an das ehemalige Jugoslawien. 1998 waren es bereits 36,9 % und 88,2 % der Befragten bezeichneten ihr Leben in Ex-Jugoslawien als gut oder sogar sehr gut.“60 Diese Ergebnisse kann man nicht ohne Weiteres auf die anderen Gebiete ExJugoslawiens übertragen, da dort die Sezessionsprozesse sehr viel konfliktreicher abliefen, aber die Tendenz ist sicherlich ähnlich. Zugleich sieht man in diesen Umfragen deutlich die Auswirkungen der Faktoren ,Zeit‘ und ,positives Erinnern‘, die sicherlich durch erst kürzlich erlebte Enttäuschungen mit beeinflusst sind.

Schlussgedanken Die Neue Welle entsteht und erfährt ihre Ausformung parallel zum Niedergang Jugoslawiens. Auf ihrem Höhepunkt stirbt Tito, der wichtigste Träger und Garant des Systems, der eigentliche ,Megastar‘ der jugoslawischen Öffentlichkeit. Die sich vorher schon abzeichnende Erosion des jugoslawischen sozialistischen Systems wird durch Titos Tod beschleunigt. Zur Zeit der Neuen Welle existierte in der jugoslawischen Popkultur eine Parallelwelt der Folkmusik, oder genauer der Pop-Folkmusik, die man auch als ,neukomponierte Folkmusik‘ (novokomponirana) bezeichnet. Diese Pop-Folkmusik wandte sich an ein heterogenes Publikum, das nicht unbedingt auf dem Lande lebte, aber meistens einen ruralen Hintergrund hatte. Während die Neue 57 Ebd., S. 97. 58 Kuljic´, Todor : ,Zum Stand der historischen Aufarbeitung des jugoslawischen Sozialismus‘, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung. Berlin 2002, S. 299 – 318, hier S. 306. 59 Ebd., S. 316. 60 Barber-Kersovan 2006, S. 80.

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Welle die Welt um sich herum kritisch betrachtete, pflegte der Folk einen kitschigen und zunehmend nationalistischen Stil, der deutlich profitabler und erfolgreicher war und im öffentlichen Raum weitaus mehr Aufmerksamkeit erhielt. Dies bestätigt nur zu gut die These von Ulf Brunnbauer, dass „Personen an ein und demselben Ort in komplexen Gesellschaften in sehr unterschiedliche Interaktions- und Kommunikationsräume eingebunden sind“ und letztendlich in Parallelwelten leben (können).61 Umso bemerkenswerter ist, dass sich die Neue Welle gegenüber der Konkurrenz der ausländischen Musik und des einheimischen Folk ihren Platz auf dem Markt erkämpfen konnte. Entstanden in den größten jugoslawischen Städten mobilisierte sie ein spezifisches, intellektuelles, urbanes und junges Publikum, das sich als ,elitär‘ verstand. Selbst Bijelo dugme versuchte, sich diesem neuen Stil anzuschließen, sowohl vom Outfit her als auch musikalisch, aber in erster Linie thematisch62 – was deutlich für die Stärke der Neuen Welle spricht. Dennoch darf die Neue Welle nicht als Alternative, zumindest nicht als eine politische Alternative verstanden werden. Die Bewegung wurde vom staatlichen System unterstützt, finanziert und von den Medien positiv aufgenommen: Die Zagreber Jugendzeitung Polet wie auch das staatliche Fernsehen mit seinen sehr populären Pop-Sendungen waren hier entscheidend. Die durch die Neue Welle ausgelöste Welle der ,Brüderlichkeit‘ unter der jungen Generation war also gewollt und gefördert. Dadurch entwickelte sich eine Art jugoslawischer Kosmopolitismus, der die in der jugoslawischen Staatsideologie immer so herausgehobene ,Brüderlichkeit‘ nicht explizit thematisierte (was manche andere Künstler allerdings durchaus taten), sondern sie gewissermaßen ,praktisch‘ in Konzerten, Clubs und Festivals auslebte. Oder wie es Friederike Herbst zutreffend formuliert: „Was die Parteifunktionäre mit mäßigem Erfolg gepredigt hatten, entwickelte sich aus einer Eigendynamik heraus: Brüderlichkeit und Einigkeit wurden gelebt, indem sich Musiker und Fans miteinander anfreundeten, von Konzert zu Konzert reisten und die Grenzen der Republiken in jeder Hinsicht überwanden.“63 In der heutigen Rezeption der Neuen Welle tritt dieser Aspekt eher in den Hintergrund. Regional unterschiedliche Interpretationen überwiegen, die primär heutigen Bedürfnissen und Positionen folgen.64 Sicher ist aber : Die Neue 61 Brunnbauer, Ulf: ,Der Balkan als transnationaler Raum‘, in: SÜDOSTEUROPA MITTEILUNGEN 2011/3, S. 78 – 94, hier S. 83. 62 Die ersten drei Alben von Bijelo dugme widmen sich ausschließlich Liebesthemen; erst ab dem vierten Album Dozˇivjeti stotu (1980) werden soziale und politische Themen entdeckt und treten dann in den folgenden Alben in den Vordergrund. 63 Herbst 2009, S. 428. 64 Alenka Barber-Kersovan fasst die Entwicklung der Rockszene in den Kriegsjahren folgen-

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Welle konnte sich zu einer Zeit entwickeln, in der es eine kritische Masse eines ,sozialistischen Bürgertums‘ gab, das als Publikum offen für Einflüsse aus dem Westen war, diese aber gleichzeitig transformieren und dem eigenen, durchaus kritischen Bewusstsein sowie den eigenen gesellschaftlichen Bedürfnissen anverwandeln konnte. Das kommunistische System hatte sich inzwischen selbst schon so gewandelt, dass es die Bewegung der Neuen Welle als ,progressiv‘ anerkannte und unterstützte, obwohl die Interpreten dieses System in vielen ihrer Texte scharf kritisierten. Die Neue Welle trug daher zu ihrer Zeit auf verschiedenen Ebenen zu einer in der Gegenwart verankerten und positiv gestimmten jugoslawischen Identität bei. Im post-jugoslawischen Raum gilt die Neue Welle noch immer als eine der produktivsten und qualitativ höchsten angesiedelten (Pop-) Kulturbewegungen des Zweiten Jugoslawiens. Sie wird nicht nur von denjenigen hochgeschätzt und geliebt, die mit der Neuen Welle aufwuchsen, sondern auch von den nachfolgenden Generationen. Gleichzeitig befinden sich aber diese post-jugoslawischen Gesellschaften seit zwanzig Jahren in einem Prozess der Entjugoslawisierung, der sich regional sehr unterschiedlich vollzieht. Generell aber herrscht ein eher negatives Bild vom Staat Jugoslawien und seinen politischen, sozialen und kulturellen Merkmalen vor. Diese Ambivalenz steht immer noch spürbar im Raum; es gibt kaum positiv verbindende Aspekte zwischen der jugoslawischen Kulturvergangenheit und den modernen Entwicklungen – zumindest nicht offiziell. Dass es aber ein reges Interesse des breiten Publikums gibt, zeigen die zahlreichen Zagreber und Belgrader Dokumentarfilme, Ausstellungen, Podiumsdiskussionen und Bücher zu diesem Thema. In den letzten Jahren schufen diese Produktionen einen Erinnerungsraum, der zwanzig Jahre nach dem Zerfall des Landes der Neuen Welle wieder das ,Recht auf Existenz‘ zugesteht. dermaßen zusammen: „Mit aufkommenden nationalen Spannungen begann sich – ähnlich allen anderen Lebensbereichen – ab Mitte der 1980er Jahre auch die populäre Musik in den jeweiligen republikanischen bzw. ethnischen Grenzen abzukapseln. […] Musiker, die einst im ganzen Land präsent waren, mussten ihre Tätigkeit auf das eigene kulturelle Umfeld beschränken. […] Musiker reagierten auf diese Situation durchaus unterschiedlich. Viele gingen, angewidert von den politischen Ereignissen, ins Ausland, vor allem nach London, Amsterdam und Berlin, wo es starke Communities musikalischer Emigranten aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien gibt. Andere blieben und ließen sich – insbesondere in Serbien und Kroatien – für politische Zwecke instrumentalisieren. Es gab aber auch einige, die aus Protest ihren Beruf änderten oder sich an Anti-Kriegs-Demonstrationen beteiligten.“ (Barber-Kersovan 2006, S. 77 f.). Wie der Konflikt in den 1990er Jahren auch in der Rockmusik seinen Ausdruck fand und „der nationalistisch grundierten Sezession eine zusätzliche Dynamik“ verlieh, zeigen Dutoit und Previsˇic´ am Beispiel der Texte von Jura Stublic´ (Zagreb) und Bora Öord¯evic´, vgl. Dutoit, Jan / Previsˇic´, Boris: ,Jenseits des Universellen. Politische Subcodes des Populärmusik in und nach dem jugoslawischen Zerfall‘, in: Jakisˇa, Miranda / Pflitsch, Andreas (Hg.): Jugoslawien – Libanon. Verhandlungen von Zugehörigkeit in fragmentierten Gesellschaften. Berlin 2012, S. 220 – 246.

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Die Neue Welle kann heute als Teil einer transnationalen Erinnerungskultur im ex-jugoslawischen Raum betrachtet werden. Auch wenn diese Bewegung mit ihrem a-nationalen, grenzübergreifenden, urbanen und alternativen Charakter, die in einem regen Austausch und einer dynamischen Synergie der jugoslawischen Städte entstanden ist, zu großen Teilen quer zur heutigen offiziellen Geschichtsschreibung der jugoslawischen Nachfolgestaaten steht, sind wissenschaftliche Untersuchungen, die die Komplexität dieses Phänomens herausarbeiten, höchst angebracht und werden auch nicht ausbleiben.

Literatur Albahari, David (Hg.): Drugom stranom – Almanah novog talasa u SFRJ. Beograd 1983. Bakovic´, Ivica: ,(Jugo)nostalgija kroz naocˇale popularne kulture‘, in: PHILOLOGICAL STUDIES / FILOLOSˇKE STUDIJE 2008/6 – 2, S. 89 – 99. Barber-Kersovan, Alenka: ,Rock den Balkan! Die musikalische Rekonstruktion des Balkans als emotionales Territorium‘, in: Helms, Dietrich (Hg.): Cut and paste. Schnittmuster der populären Musik der Gegenwart. Bielefeld 2006, S. 75 – 96. Brunnbauer, Ulf: ,Ein neuer weißer Fleck? Der Realsozialismus in der aktuellen Geschichtsschreibung in Südosteuropa‘, in: Brunnbauer, Ulf / Troebst, Stefan (Hg.): Zwischen Amnesie und Nostalgie, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 87 – 111. Brunnbauer, Ulf: ,Der Balkan als transnationaler Raum‘, in: SÜDOSTEUROPA MITTEILUNGEN 2011/3, S. 78 – 94. Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München, 2010. Duda, Igor: Pronad¯eno blagostanje. Svakodnevni zˇivot i potrosˇacˇka kultura u Hrvatskoj 1970ih i 1980ih. Zagreb 2010. Dutoit, Jan / Previsˇic´, Boris: ,Jenseits des Universellen. Politische Subcodes des Populärmusik in und nach dem jugoslawischen Zerfall‘, in: Jakisˇa, Miranda / Pflitsch, Andreas (Hg.): Jugoslawien – Libanon. Verhandlungen von Zugehörigkeit in fragmentierten Gesellschaften. Berlin 2012, S. 220 – 246. Festival Omladina Subotica – ,Unterschiede, die verbinden‘, 2012, verfügbar unter : [Zugriff: 20. 05. 2013]. Herbst, Friederike: ,Rechnet mit uns. Punk und Neue Welle im sozialistischen Jugoslawien‘, in: SÜDOST-FORSCHUNGEN 2009/68, S. 418 – 438. Janjatovic´, Petar : Ilustrovana Ex-Ju Rock Enciklopedija 1960 – 2000. Beograd 1998. Janjetovic´, Zoran: Od »Internacionale« do komercijale. Popularna kultura u Jugoslaviji 1945 – 1991. Beograd 2011. Kostelnik, Branko: Moj zˇivot je novi val. Zapresˇic´ 2004. Kuljic´, Todor : ,Zum Stand der historischen Aufarbeitung des jugoslawischen Sozialismus‘, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung. Berlin 2002, S. 299 – 318. Markovic´, Predrag J.: ,Der Sozialismus und seine sieben „S-Werte“ der Nostalgie‘, in: Brunnbauer, Ulf / Troebst, Stefan (Hg.): Zwischen Amnesie und Nostalgie, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 153 – 164. Mirkovic´, Igor: Sretno dijete. Zagreb 2004.

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Perkovic´, Ante: Sedma republika. Pop kultura u Yu raspadu. Zagreb/Beograd 2011. Polimac, Nenad: ,Napokon c´emo i mi vidjeti dio serije o kulturi bivsˇe drzˇave‘, in: JUTARNJI LIST, 31. 08. 2011. Ramet, Sabrina (1994): ,Shake, Rattle and Self-Management. Making the Scene in Yugoslavia from the Death of Tito to the War for Kosovo‘, in: Ramet Sabrina (Hg.): Rocking the State. Rock Music and Politics in Eastern Europe and Russia, Boulder/Oxford/San Francisco (Westview), S. 103 – 139. Raynolds, Simon: Retromania. Pop Culture’s Addiction to its own Past. London 2012. Sundhaussen, Holm: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Wien/Köln/Weimar 2012. ,Top lista nadrealista‘, verfügbar unter : [Zugriff: 14. 04. 2013]. Vucˇetic´, Radina: Coca-cola socijalizam. Beograd 2012.

Dokumentarfilme Jovic´, Tonko: Pricˇa o Zvecˇki, 2009, Hrvatska Televizija, verfügbar unter : [Zugriff: 18. 01. 2013] Mirkovic´, Igor: Sretno dijete, 2003, verfügbar unter : [Zugriff: 22. 02. 2013]. Morosˇcˇicˇenko, Silvio: Druga strana Rock’n’rolla, 2010, 30 min., Hrvatska Televizija, verfügbar unter : [Zugriff: 18. 05. 2013]. Stoimenov, Igor: Robna kuc´a – Za nekoga sve, za svakog ponesˇto, 2009, 26 min., Dokumentarserie über Popkultur in Jugoslawien, Staffel 2, Folge 10 und 11 über die Neue Welle, verfügbar unter : [Zugriff: 20. 05. 2013]. Velagic´, Esma: Sarajevska poprok scena, 2009, 33 min., Televizija Sarajevo, verfügbar unter : [Zugriff: 26. 05. 2013]. Vesic´, Dusˇan: Rockovnik, 2011, Dokumentarserie über Rock and Roll in Jugoslawien: „Ruzˇan, pametan i mlad“ Rock scena 1979 – 80, Radio-televizija Srbije, verfügbar unter : [Zugriff: 20. 05. 2013].

III. Mediale Dekonstruktionen traditioneller „Brüderlichkeit“

Bohunka Koklesov‚ (Bratislava)

Tschechen und Slowaken vor dem Zweiten Weltkrieg – ihre Auseinandersetzungen und Konflikte im Spiegel der Presse und der Fotografie

Die Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit In der Zwischenkriegszeit war die Tschechoslowakische Republik eines der wenigen Länder Europas mit einer vollständig entwickelten Demokratie, einer strukturierten Bürgergesellschaft, einer relativ stabilen Wirtschaft sowie einer respektierten Außenpolitik. Kaum jemand hätte damals vermutet, dass sie nach nicht einmal zwanzigjähriger Existenz ihr Ende finden würde. Dem allmählichen Zerfall unterlag das Land nicht nur wegen des äußeren politischen Drucks, sondern auch wegen des andauernden inneren Konflikts zwischen den beiden Volksgruppen. Obwohl man angesichts der Bedrohung von außen einen engeren Zusammenhalt der Gesellschaft erwartet hätte, trat das genaue Gegenteil in Gestalt des totalen Zerfalls ein. Viele ungelöste bzw. lange Zeit ignorierte Probleme zwischen Tschechen und Slowaken nahmen allmählich an Intensität zu und erreichten ihren Gipfel gerade im Moment der internationalen Schwächung der Tschechoslowakei. Radikaler Nationalismus, Terror und Gewalt breiteten sich auf beiden Seiten des Flusses Morava aus – der territorialen und symbolischen Grenze der beiden Völker. Durch den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie im Jahre 1918, dem sogenannten „Kerker der Nationen“1, kam es in Europa schrittweise zur Umsetzung der neuen staatsrechtlichen Konzepte, die von den Politikern schon während des Ersten Weltkriegs diskutiert worden waren. Mit der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik wurde für die Tschechen der Prozess der staatlichen Selbstständigkeit vollendet, der für beinahe dreihundert Jahre unterbrochen gewesen war. Die Slowakei dagegen verfügte nicht über eine vergleichbare historische Erfahrung, da sie über tausend Jahre unter der unmittelbaren Vorherrschaft Ungarns existiert und der gewaltsamen Magyarisierung getrotzt hatte. Weil die Ausgangssituationen der böhmischen Länder und der 1 Lipt‚k, Lˇubom†r: ,Tffltorstvo alebo rovnopr‚vnostˇ ?‘, in: Ders.: Slovensko v 20. storocˇ†. Bratislava 2011, S. 113.

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Slowakei unterschiedlich waren, zielte die Vorstellung von der Nachkriegsverfassung zuerst auf den Verbleib unter Österreich und Ungarn ab, jedoch in einem unabhängigeren autonomen System. Man diskutierte verschiedene Möglichkeiten, aber die Idee von einem gemeinsamen Staat der Tschechen und Slowaken kam für viele überraschend. Obgleich die beiden Nationen eine ähnliche Sprache, eine verwandte Kultur und gemeinsame wirtschaftliche Interessen verbanden, war dennoch bereits die Idee einer gemeinsamen staatsrechtlichen Verfassung in ihren Augen eine unerreichbare Größe. Der slowakische Unternehmer und frühere Politiker Kornel Stodola notierte sich noch im Februar 1918 in sein Tagebuch: „Gott, wenn ich über den tschechoslowakischen Staat schreibe, kommt mir das immer wie eine Halluzination vor.“2 Die Vision löste sich jedoch schnell auf. Paradoxerweise war dies dem Krieg zu verdanken, der Raum schuf für die Erkenntnis, dass in einer Vielvölkermonarchie verschiedene Arten von Unterdrückung existierten, sowie für die Einsicht, dass auch andere Ethnien mit ähnlichen Problemen kämpften. Den Zerfall Österreich-Ungarns konnte nichts mehr verhindern, weshalb viele bis kurz zuvor utopische Visionen allmählich realere Konturen annahmen. Auf die anfängliche Faszination über diese Vorstellung, die sicherlich auch durch die Euphorie der Menschen am Ende des Kriegs unterstützt wurde, erfolgte eine allmähliche Ernüchterung, die konkrete, praktische Fragen bezüglich der staatsrechtlichen Verfassung hervorrief. Die Tschechoslowakei sollte „auf der Basis des nationalen Prinzips“ organisiert werden, doch keiner der Nachfolgestaaten, weder die Tschechoslowakei noch Jugoslawien, war tatsächlich ein ethnisch homogener Nationalstaat. Sie erbten alle nationalen Probleme der niedergegangenen Monarchie.3 So war es auch im Falle der ersten Tschechoslowakischen Republik (1918 – 1938). Der gegenseitige Einigungsprozess wurde propagandistisch als „Verbrüderung“ zweier Nationen, als tutorenähnliche Verbindung eines „älteren“, reiferen Bruders mit dem „jüngeren“, weniger entwickelten gepriesen. Die Vorstellung von einem einheitlichen tschechoslowakischen Volk und seiner möglichen Verzweigung war für die Tschechen eine weitere Evolutionsstufe in der Entwicklung des Volkes, für die Slowaken galt das weniger. Das größte Hindernis war die ,Anonymisierung‘ der Slowaken im tschechoslowakischen Bund nach Außen hin. Unter einem „großtschechischen Konzept“ verstanden die Historiker eine Politik und Ideologie der Erneuerung des tschechischen Staates, der um die slowakischen Gebiete bereichert wurde.4 ˇ eskoslovenska‘, in: Ders.: Slovensko v 20.storocˇ†. Bratislava 2011, 2 Lipt‚k, Lˇubom†r : ,Idea C S. 54; ,Kornel Stodola, Denn†k‘, in: Milan Hodzˇa: Publicista, politik, vedecky´ pracovn†k. Praha 1930, S. 171. „Bozˇe, kedˇ p†sˇem o tom cˇeskoslovenskom sˇt‚te, tak mi to vzˇdy prich‚dza ako nejak‚ halucin‚cia.“ ˇ esˇi a Slov‚ci ve 20.stolet†. Spolupr‚ce a konflikty 1914 – 1992. Praha 2012, S. 66. 3 Rychl†k, Jan: C 4 Lipt‚k 2011 ,Tffltorstvo alebo rovnopr‚vnostˇ ?‘, S. 113.

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Diese waren so schwach und vernachlässigt, dass man sie nicht als selbstständige Einheit wahrnahm. Die Slowaken waren im Spiegel dieser Auffassung keine Nation, sondern lediglich ein unentwickelter Stamm, der sich allmählich in Richtung einer Verschmelzung mit den Tschechen entwickeln sollte. Als Argument wurden häufig Beispiele aus zeitgenössischen akademischen Schriften von tschechischen Sprachwissenschaftlern oder Literaturhistorikern angeführt. Keiner von ihnen widmete seine Forschung Zielen, durch die der Ursprung der slowakischen Sprache und Kultur auf tschechischem Gebiet begründet wäre und die den politischen Einigungsprozess beider Völker unterstützt hätten. Ein bedeutender tschechischer Sprachwissenschaftler, der Bohemist Frantisˇek Tr‚vnicˇek, stellt dies folgendermaßen dar : Welch kulturelle Kraft wäre uns daraus erwachsen, wenn es keine kulturellen Grenzen zwischen Mähren und der Slowakei gegeben hätte und wenn die Ausstrahlungen einer einzigen Schriftsprache nicht nur Böhmen, Mähren und Schlesien, sondern auch die Slowakei beleuchtet hätten! Ich spreche jetzt von einer einzigen Schriftsprache und sicher fragen Sie sich, welche ich meine. Ich denke, es ist offensichtlich, dass ich die tschechische Schriftsprache meine. […] Ich verstehe voll und ganz, dass es für viele Slowaken ein sehr bitterer Gedanke ist, ihr Slowakisch aufgeben zu müssen, aber nur deshalb, weil sie die Frage der Schriftsprache als eine emotionale Angelegenheit betrachten.5

Jegliches spätere Infragestellen der Vision über das tschechoslowakische Volk mit einer tschechoslowakischen Sprache wurde als Bedrohung der staatlichen Einheit angesehen, deshalb wurden die Diskussionen über eine Veränderung nicht willkommen geheißen. Die Problematik der sogenannten „slowakischen Frage“ wurde für lange Zeit ein ,gordischer Knoten‘6, dessen Lösung erst mit der Radikalisierung der politischen Verhältnisse vor dem Zweiten Weltkrieg in beiden Ländern kam und schließlich in der Ausrufung eines selbstständigen slowakischen Staates im Jahre 1939 gipfelte. Durch die Vereinigung der böhmischen Länder mit der Slowakei kam es zur Verbindung zweier wirtschaftlich ungleicher Gebiete, was zu einem gewissen Maße auch mit der unebenen wirtschaftlichen Entwicklung in Österreich-Ungarn zusammenhing. Das fortgeschrittenere politische und nationale Leben im tschechischen Landesteil bestimmte die Slowakei zu einer Existenz in demoˇ esko-slovensky´ pomeˇr po str‚nce jazykov¦‘, in: 5 Ebd., S. 114. Vgl. Tr‚vnicˇek, Frantisˇek: ,C BRATISLAVA, 1933/7 – 3, S. 231. „Ak‚ sila kultfflrna by n‚m vzisˇla z toho, keby nebolo kultfflrnych hran†c medzi Moravou a Slovenskom a keby lfflcˇe jednej spisovnej recˇi osvecovali ˇ echy, Moravu a Sliezsko, ale aj Slovensko! Hovor†m o jednej spisovnej recˇi a iste sa nielen C py´tate, ktorffl mysl†m. Je tusˇ†m zrejm¦, zˇe m‚m na mysli spisovnffl cˇesˇtinu… Ch‚pem fflplne, zˇe je to pre mnohy´ch Slov‚kov velˇmi trpk¦ pomyslenie, zˇe by sa mali vzdatˇ svojej slovencˇiny, ale len preto, zˇe na ot‚zku spisovn¦ho jazyka sa pozerajffl ako na vec citovffl.“ 6 Lipt‚k 2011, S. 113 – 114.

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kratischer Gestalt, jedoch unter dem politischen Zentralismus Prags. Die Slowakei wurde nicht als eine selbstständige Einheit wahrgenommen, einer eigenen staatlichen Verwaltung wurde widersprochen. Auch viele private Unternehmen fanden sich in tschechischer Hand wieder. Andererseits muss man daran erinnern, dass der Zuzug der tschechischen Intelligenz nach dem Jahr 1918 den akuten Mangel einer fähigen slowakischen Intelligenz ausglich. Viele tschechische Angestellte waren im Schul-, Gesundheits- und Rechtswesen, in den Einheiten der Polizei und der Armee, aber auch bei der Eisenbahn oder Post tätig. Alle staatlichen Schlüsselpositionen befanden sich in tschechischen Händen. Dank ihrer Fachkompetenz kam es nicht nur zur Restrukturierung einzelner Institutionen, die bis dahin nur über eine ungarisch geführte Agenda verfügten, sondern die tschechischen Facharbeiter trugen auch wesentlich zur Entmagyarisierung der slowakischen Gesellschaft bei. Dank ihrer Hilfe erfolgte eine allgemeine Erneuerung des nationalen, kulturellen, aber auch intellektuellen Lebens der Slowaken. Es wurden neue Schulen gegründet, die gute Bedingungen für die Weiterentwicklung der slowakischen Intelligenz schufen. Die Konfrontation mit der relativ stark säkularisierten tschechischen Gesellschaft stellte für die größtenteils gläubig lebenden Slowaken die Chance dar, eine nach anderen Parametern organisierte Gesellschaft kennenzulernen. In der slowakischen Bevölkerung bildete sich ein bürgerliches Selbstbewusstsein aus. Während im Jahr 1918 die Slowaken noch Untergebene waren, waren sie im Jahr 1938 zu selbstbewussten Bürgern geworden.7 Die tschechoslowakische Republik wies nach außen hin alle Zeichen eines demokratischen Systems auf, einschließlich des Wahlrechts, religiöser und nationaler Gleichberechtigung und eines Minderheitenschutzes. Gleichzeitig formierten sich hier aber auch die Keime eines allmählich stärker werdenden slowakischen Nationalismus, der seinen Ursprung in einem „politischen Tschechoslowakismus“ und einem unverhältnismäßigen Anteil der Tschechen an der Verwaltungsmacht des Staates hatte. Von tschechischer Seite hingegen ertönten Stimmen bezüglich der slowakischen Undankbarkeit gegenüber den tschechischen Angestellten, die häufig und dauerhaft in die Slowakei gezogen waren, um zu deren Entwicklung beizutragen. Während die Konflikte in der Vorkriegszeit noch bewältigt werden konnten, brachen sie im Jahre 1938, nach dem Münchener Abkommen, in radikalisierter Form aus.

7 Rychl†k 2012, S. 67. „Nesporny´m pokrokom tiezˇ bolo, zˇe obyvatelia Slovenska z†skali obcˇianske sebavedomie. Mozˇno povedatˇ, zˇe zatialˇ cˇo v roku 1918 bol obyvatelˇ Slovenska poddany´m, roku 1938 tu uzˇ stoj† sebavedomy´ obcˇan.“

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Das Jahr 1938 Die Schlinge um die Tschechoslowakei begann sich im September 1938 zuzuziehen, als es zum Abschluss des sogenannten Münchner Abkommens kam, im Rahmen dessen Großbritannien, Frankreich und Italien den Forderungen Hitlers nach Abtretung eines Teils des tschechischen Gebiets nachkamen, das überwiegend von der deutschen Minderheit (Sudetendeutsche) bewohnt war. Viele Medienaufrufe zielten auf die Unterstützung des Zusammenhalts des tschechischen Volks ab. Häufig erinnerte man an die „gegenseitige Liebe und den Glauben an die Gerechtigkeit“8, aber auch an die Überzeugung, dass auch weiterhin „ein Volk zurückbleibt, wo die Landkarte sich ändert“.9 Bedeutende tschechische Tageszeitungen (Lidov¦ noviny, Rud¦ pr‚vo, Lidov¦ listy) widmeten ihre Titelseiten diesem Thema. Die slowakischen Zeitungen dagegen nahmen diese Entwicklung jedoch nicht als ein wesentliches, sie betreffendes Problem wahr. Unmittelbar nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens forderte man in der Tageszeitung Slov‚k die Autonomie für die Slowakei und verlangte von Prag, dass innerhalb von 24 Stunden die gesamte Exekutive in der Slowakei den Slowaken ausgehändigt werden solle.10 Beeinflusst durch das Abkommen äußerten sich die politischen Vertreter der mächtigsten Partei, der Slowakischen Volkspartei Hlinkas (HSLˇS), folgendermaßen: Das Münchner Abkommen der vier Großmächte hat die staatlichen und politischen Verhältnisse in Mitteleuropa grundlegend verändert. Wir Slowaken, als unabhängiges slowakisches Volk, das seit jeher auf dem Gebiet der Slowakei lebt, machen unser Selbstbestimmungsrecht geltend und berufen uns daher auf die internationale Garantie der Unteilbarkeit unserer slowakischen nationalen Einheit und des von uns besiedelten Landes.11

Die slowakischen Politiker verwendeten die Besetzung der Sudeten als Argument dafür, dass die Exekutive in der Slowakei ausschließlich in slowakische 8 Hora, Jozef: ,Veˇrˇme sobeˇ‘, in: LIDOVÊ NOVINY 46, 01. 10. 1938, S. 1. 9 ,Zu˚st‚v‚ n‚rod, kde se meˇn† mapa‘, in: LIDOVÊ NOVINY 46, 01. 10. 1938, S. 2. ˇ ern‚k u prezidenta republiky zˇiadal za 24 hod†n vydatˇ celffl vy´konnffl moc na 10 ,Minister C ˇ ern‚k gehörte dem raSlovensku Slov‚kom‘, in: SLOVÝK XX, 04. 10. 1938, S. 1. Minister C dikalen Flügel der HSL’S an. 11 ,Manifest slovensk¦ho n‚roda‘, in: SLOVÝK XX, 06. 10. 1938: „Mn†chovsk‚ dohoda sˇtyroch velˇmoc† podstatne zmenila sˇt‚tne a politick¦ pomery v strednej Eurûpe. My Slov‚ci, ako samobytny´ slovensky´ n‚rod, zˇijfflci od vekov na fflzem† Slovenska, uplatnˇujeme si svoje samourcˇovacie pr‚vo a preto dovol‚vame sa medzin‚rodn¦ho zagarantovania nedelitelˇnosti svojej slovenskej n‚rodnej jednoty a nami obydlenej zeme.“ Das erste Manifest des slowakischen Volks wurde in Zˇilina bei der Versammlung der slowakischen politischen Parteien formuliert und schon damals radikalisierte sich die Rhetorik der HSL’S in Richtung eines Kampfes gegen die „marxistisch-jüdische Ideologie“. Später wurde die HSL’S die einzige offizielle Partei, die in der Slowakei das sog. autoritäre Volksregime einführte.

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Hände übergehen sollte. Die Prager Regierung ignorierte lange Zeit die Ansprüche der Slowaken auf eine selbstständige Führung ihres Gebiets, welche die Slowaken im Moment ihrer Schwächung durch Erpressung erlangen wollten. „Die slowakische Frage“ wurde nach dem Anschluss des Sudetenlandes zur zentralen innenpolitischen Angelegenheit der Tschechoslowakei. Präsident Edvard Benesˇ betonte bei seiner Amtsniederlegung am 5. Oktober 1938 seine Überzeugung, dass es vor allem nötig sei, sich mit den Slowaken zu einigen.12 Auch erkannten die Slowaken ähnlich wie die Tschechen, dass eine der ersten und offensichtlichsten Folgen, die einem auf der Karte der neuen Tschechoslowakei auffiel, der ungewöhnliche Bedeutungszuwachs des slowakischen Landes war. Sein Gewicht stieg automatisch und sofort schon durch die bloße Tatsache, dass die westlichen Gebiete des Staates kleiner wurden.13 Die Größe des Territoriums schuf, ebenso wie die Bevölkerungszahl, die Voraussetzungen für die neue Machtverteilung. Die tschechischen Länder verloren nicht nur einen bedeutenden Teil ihres Gebiets auf dem sich bedeutende Industriezentren befanden, sondern auch drei Millionen Einwohner. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich nun auf das Gebiet der Slowakei, wo mit dem Bau von Industriegebieten als Ersatz für die tschechischen Verluste begonnen werden sollte. Die Tschechen sahen darin eine Chance für die Industrialisierung der wirtschaftlich immer noch rückständigen Slowakei. Die Slowaken hingegen erkannten darin die Gelegenheit, die Macht der Prager Regierung zu schwächen und die Autonomie zu erringen. Nach der Verkündung der slowakischen Autonomie am 6. Oktober 1938, beschlossen die Vertreter der politischen Parteien eine Erklärung zu verfassen, im Rahmen derer sie äußerten, dass „die slowakische Partei in Autonomie das tschechoslowakische Verhältnis als gelöst betrachtet“.14 Obgleich dieser Standpunkt eindeutig ausgesprochen wurde, verkündete dennoch nur der radikale Flügel der HSLˇS offen seine Haltung zur Ausrufung eines selbstständigen Staates. Nach der Besetzung der tschechischen Grenzgebiete durch Hitler wurde die unsichere Situation in der Slowakei seitens der Tschechen als Fortsetzung der inneren Destabilisierung des Staates verstanden. Diese vertiefte sich noch nach dem sogenannten Wiener Schiedsspruch Anfang November 1938, als umgekehrt die Slowakei einen Teil der südlichen, außerordentlich fruchtbaren Gebiete an Ungarn abtreten musste. Ähnlich wie in Böhmen kann man auch in der Slowakei von neu entstandenen ethnischen Grenzen sprechen, die die Propaganda in der 12 Rychl†k 2012, S. 155; Benesˇ, Edvard: Pameˇti. Od Mnichova k nov¦ v‚lce a nov¦mu v†teˇzstv†. Praha 1947, S. 436. 13 ,O veˇcech slovensky´ch‘, in: LIDOVÊ NOVINY 46, 06. 10. 1938, S. 3; vgl. auch: Harley, John B.: ,Mapy, veˇdeˇn† a moc‘, in: Filipov‚, Marta / Rampley, Matthew (Hg.): Mozˇnosti vizu‚ln†ch studi†. Obrazy – texty – interpretace. Brno 2007, S. 188. 14 Rychl†k 2012, S. 155.

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Slowakei schon als „blutig“ charakterisierte. Die Grenzen griffen tief in das tschechoslowakische Gebiet ein, was eine große Flüchtlingswelle auslöste, die ins Landesinnere strömte.15 Unter dem Druck der außenpolitischen Umstände stieg die Nervosität in der Republik und die autoritären Praktiken, typisch für die umliegenden Länder, wurden auch in der tschechischen und slowakischen Politik heimisch. In beiden Teilen des immer noch gemeinsamen Landes beobachtete man eine allmähliche Liquidierung der politischen Parteien, zensorische Eingriffe, aber auch eine immer servilere Haltung beider Regierungen gegenüber Deutschland. Nach der Erringung der slowakischen Autonomie verlief die Geschichte Tschechiens und der Slowakei in unterschiedliche Richtungen.16 Die unterschiedlichen Haltungen wurden in der Presse wie auch in den offiziellen Fotografien beider Nationen sichtbar. Einer der ersten Schritte der autonomen Slowakei war die Absonderung vom gemeinsamen Tschechoslowakischen Presseˇ TK) und die Schaffung eines eigenständigen Slowakischen Pressebüros büro (C (STK). Hier hatte die Slowakische Volkspartei Hlinkas das Sagen und unter deren Diktat sollten sich die Nachrichtendienste auch um Propagandadienste erweitern.17 Die tschechischen Medien verfolgten die Situation aufmerksam und wiesen darauf hin, dass die führenden Leute der Partei Hlinkas in Wirklichkeit ein Presse-, Propaganda- und Organisationsmonopol hatten.18 Einige Zeitschriften waren schon untergegangen, andere bereiteten sich auf ihren Untergang vor. Der Volkspartei unterlagen die Radiopropaganda sowie das gesprochene Wort bei öffentlichen Auftritten. Obgleich hier kritische Stimmen ertönten, ergriff allmählich auch die tschechische Partei eine Reihe von Maßnahmen, durch die sie die Verhältnisse so anpassten, dass sie für Deutschland annehmbar wurden. Die Volksautonomie in der Slowakei wurde so neben dem Druck Deutschlands einer der Faktoren, die allmählich auch in den tschechischen Parteien die Überreste der Demokratie vernichteten.19 Die entstehende radikale tschechische Rechte verfolgte zwar sehr aufmerksam das Geschehen in 15 Nach der Ausrufung der slowakischen Autonomie wurde in der offiziellen Bezeichnung des ˇ esko-Slovensk‚ repuStaates ein Bindestrich eingefügt: Tschecho-Slowakische Republik (C ˇ esko-Slovensko) fand Verblika). Auch der weniger offizielle Name Tschecho-Slowakei (C wendung. 16 Lipt‚k, Lˇubom†r: ,Dramatick‚ medzihra. Od Mn†chova po 14.marec‘, in: Ders.: Slovensko v 20. storocˇ†. Bratislava 2011, S. 157. 17 ,Slovensk‚ tlacˇov‚ kancel‚ria‘, in: SLOVÝK XX, 11. 10. 1938, S. 1. ˇ šTOMNOST 16. 11. 1938, S. 729. Die Zeitschrift 18 ,Politick‚ prˇestavba Slovenska‘, in: PR Prˇ†tomnost gehörte zu den meinungsbildenden Zeitschriften ihrer Zeit, deren Chefredakteur Ferdinand Peroutka war. Es handelt sich um eine der wenigen tschechischen Zeitschriften, die im Stande war, mit kritischen Augen auf die politische Situation der Slowakei zu blicken. Die Mehrheit der übrigen Tageszeitungen und Magazine schlug gegenüber der Slowakei einen sehr versöhnlichen – oft schmeichlerischen – Ton an. 19 Rychl†k 2012, S. 159.

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der Slowakei und wies darauf hin, dass ihnen die Slowaken in vielerlei Hinsicht voraus seien, ordnete sich aber gleichzeitig der Politik Deutschlands unter. Das war einer der tragenden Impulse für die nationalistischen Kräfte in der Slowakei: Durch ihre ,Kriecherei‘ vor der fremden Großmacht verlor die Prager Regierung ihr ,Gesicht‘ und den ,Glorienschein‘ allseitiger Überlegenheit. Diese hatten zuvor das politische Denken der Slowaken fast automatisch in die Grenzen der Überlegungen verwiesen, wie man die slowakische Selbstverwaltung in einem Staat sichern könne, der von Tschechen geführt und ,gesichert‘ werde.20 Die tschechische Seite erklärte schon im Voraus in der Presse, dass „sobald der Autonomievorschlag, der von der Volkspartei ausgearbeitete wurde, in die Tat umgesetzt wird, bei allen ihren Anhängern die Bruderliebe zu den Tschechen ausbrechen wird.“21 Und gleich darauf fügte sie hinzu, dass „es schwierig ist, an eine Liebe zu glauben, die auch heute so fest schläft, dass sie nicht einmal den guten Willen anerkennt, auch nicht durch Taten und die sich darüberhinaus bislang nur als Unliebe äußert.“22 Die „Bruderliebe“ wurde weder zum Leben erweckt noch erfüllt, eher das Gegenteil: Die Kluft zwischen beiden Nationen wurde nach dem Münchner Abkommen und der Autonomieerklärung der Slowakei noch tiefer. Die offiziellen Standpunkte der beiden Pressebüros gingen auseinander, weil sie unterschiedliche politische Interessen der Regierung widerspiegelten. Während sich die tschechische Regierung darum bemühte, um jeden Preis den gemeinsamen Staat der Tschechen und Slowaken zu erhalten, herrschte auf Seiten der Slowakei eine eher separatistische Haltung in den Medien vor, die mit einer agressiven Rhetorik aufgeladen war, welche nicht nur gegen die Tschechen, sondern allmählich auch gegen die Juden und die Bolschewiken gerichtet war.23 In der Zeit zwischen Oktober 1938 und März 1939 können in den offiziellen ˇ TK und STK unterschiedliche Themen Dokumenten der Presseagenturen C verfolgt werden. Der Umfang der einzelnen Reportagen zeigt das Interesse der jeweiligen Regierungen an der Bilddokumentation des einen oder anderen Ereignisses. Das, was die tschechische Agentur wahrnahm, interessierte die slowakische nicht und umgekehrt. Jeder verfolgte in den offiziellen Stellungnahmen, sei es in verbalen oder visuellen, seine eigenen Interessen, die durch die Presse vermittelt wurden. Das zeigt sich auch auf den repräsentativen Gruppenporträts der einzelnen Regierungen (Abb. 1, 2). Während die tschechische Seite den Akzent auf das gemeinsame Fotografieren beider Regierungsvertretungen legt, grenzt sich die Slowakei gegenüber 20 21 22 23

Lipt‚k 2011 ,Tatry v slovenskom povedom†‘, S. 154. ˇ šTOMNOST XV, 17. 08. 1938, S. 515. Janek, Dalibor : ,Slovensko po Hletkoveˇ odjezdu‘, in: PR Ebd. Zu den aggressivsten Tageszeitungen gehörten Slov‚k und Gardista.

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Abb. 1: Im Vordergrund der Präsident der Tschecho-Slowakischen Republik Emil H‚cha und zu ˇ TK), 1938. seiner Linken der Vorsitzende der slowakischen Regierung Dr. Jozef Tiso, Foto (C

Abb. 2: Die slowakische autonome Regierung mit dem Regierungsvorsitzenden Dr. Jozef Tiso in der Mitte, Foto (STK), 1938.

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jeglichen Andeutungen tschechoslowakischer politischer Verbindungen ab. Im Archiv der STK finden sich keine offiziellen Fotografien, die diese Verbindungen zeigen würden. Obgleich die Slowakei ein Bestandteil der Tschechoslowakei bleibt, verfolgt ihre Propaganda sehr konsequent und ausschließlich slowakische Interessen. Daher beobachtet man in ihrer Bilddokumentation eine Art systematischer Ausklammerung jeglicher tschechoslowakischer Themen. Diese Einstellung war in der slowakischen Gesellschaft allgemein verbreitet. Zum Beispiel wurden an den Hochschulen schrittweise die Fächer zur tschechoslowakischen Geschichte, Philologie, Literatur usw. abgeschafft.24 Viele tschechische Professoren mussten gezwungenermaßen die Slowakei verlassen, obgleich sie wegen des Mangels an slowakischen Lehrern nur sehr schwer zu ersetzen waren. Dies betraf auch Bereiche der slowakischen Wirtschaft. Anfangs einigten sich beide Regierungen auf die Abschiebung eines Teils der tschechischen staatlichen Angestellten aus dem Gebiet der Slowakei. Diese Abschiebungen gingen jedoch noch weiter und wurden oft von einer agressiven und entehrenden Rhetorik der Nationalisten begleitet. Die Historiker betrachten die Vertreibung tschechischer Angestellter vom Gebiet der Slowakei als ,das schwärzeste Kapitel‘ in den gegenseitigen Beziehungen.25 Der Gewaltakt hatte einen um so bittereren Beigeschmack, als es sich um Menschen handelte, die beim Aufbau der Slowakei in den Jahren 1918 – 19 geholfen hatten. Einerseits besetzte die Prager Zentralregierung die frei gewordenen staatlichen Stellen in der Slowakei langfristig mit Tschechen, was bei den Slowaken Unzufriedenheit hervorrief. Andererseits half die Fachkompetenz vieler tschechischer Angestellter die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Slowakei zu konsolidieren; viele gründeten in der Slowakei Familien und kauften Eigentum. Die Ausdrücke der Bitterkeit, mit der sie die Entscheidungen über ihren Wegzug aufnahmen, veröffentlichten primär tschechische Zeitschriften und Tageszeitungen.26 Ungeachtet dessen, dass die Abschiebung tschechischer Angestellter eine ˇ TK schwerwiegende Regierungsentscheidung war, befinden sich im Archiv der C oder der STK keine Fotografien über die Vertreibungen der Tschechen aus der Slowakei. Die Bilddokumente über die Flüchtlinge aus Ungarn und den Sudeten sind allgemein bekannt und wurden zahlreich in den Medien publiziert, aber die Vertreibung der Tschechen und die Ablichtung der sogenannenten kleinen Geschichten einzelner Familien fand archivarisch nicht statt. Ein Grund war ˇ esi. Bratislava 1997. 24 Kov‚cˇ, Dusˇan: Slov‚ci a C 25 Ebd., S. 75. 26 Vor allem die tschechische Zeitschrift Prˇ†tomnost veröffentlicht in der Rubrik öffentliche „Briefe“ tschechischer und slowakischer Bürger, die auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen das Geschehen in der Slowakei kommentieren. Raum wird auch den Gegenargumenten von Seiten der Slowaken gewährt. Briefe zu diesem Thema werden unregelmäßig ab Juli 1938 veröffentlicht.

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höchstwahrscheinlich das Interesse der zentralen Prager Regierung, die Spannung zwischen den Ländern im Namen der Erhaltung eines gemeinsamen Staates nicht unnötig zu erhöhen. Die slowakische Regierung wiederum hatte nicht das Bedürfnis, Zeugnisse ihrer Vertreibungspolitik zu hinterlassen.27 Aufnahmen wurden einfach ausgeklammert, auch deshalb, weil die Macht des Bildes in den autoritären Systemen ungeheuer stark war. Bekannterweise gaben die Führer solcher Länder in der Propaganda der Visualisierung den Vorzug vor der Verbalisierung,28 weil Bilder verständlicher und wirkungsvoller bei der Beeinflussung der öffentlichen Meinung waren. Fotografien, die in der Presse publiziert wurden, wurden als authentischer Blick auf die Situation wahrgenommen, als Evidenz, auch ungeachtet dessen, dass die Regime die Rolle der Transformation der Ideologie und Fiktion in eine vermeintliche Realität betrieben.29 Dies geschah durch die Inszenierung von Veranstaltungen und Manifestationen, die auf den Bildern oft fälschlicherweise die Unterstützung des Anführers durch die Massen zeigten. Als Beispiel einer solchen Transformation wird in Deutschland oft der Film Triumph des Willens (1935) Leni Riefenstahls angeführt. Einige Monate vor dem Zerfall der Tschechoslowakei kann man den Charakter der Beziehungen zwischen Tschechen und Slowaken an drei zentralen Veranstaltungen verfolgen, die entweder durch die tschechische oder slowakische Presseagentur dokumentiert wurden. Sie sind in den Fotoarchiven beider Agenturen nicht in gleichem Maße vertreten. Obgleich die einzelnen Reportagen beide Länder betreffen, ist ihre Archivierung und auch Medialisierung immer an den Teil des Landes gebunden, dessen Interessen sie vertreten. Damit wird klar demonstriert, dass in der Zeit der zweiten Republik zwei parallele Geschichtsstränge existieren, zwei Welten, die sich unablässig voneinander entfernten. Ende des Jahres 1938 reiste der Präsident der Tschechoslowakischen Republik Emil H‚cha zu Besuch in die Slowakei. Die tschechischen Medien nahmen diese Reise als Ausdruck eines Einlenkens der Prager Zentralregierung gegenüber den Slowaken auf, als Bemühung die gegenseitigen Beziehungen zu festigen, verbunden mit der Vorstellung „sich näher kennenzulernen und gegenseitig besser zu verstehen.“30 Es ging vor allem um die Konsolidierung der Verhältnisse, weil 27 Die Abschiebungspolitik wurde auch im Fall der Deportationen der jüdischen Bevölkerung im Jahre 1942 und 1944 nicht dokumentiert. Im Archiv der STK befinden sich aus der Gesamtmenge von ca. 25 000 Fotografien nur zwei, die die zum Transport bereitstehenden Juden zeigen. 28 Weibel, Peter / Steinle, Christine: Identität: Difference, Trigon 1940 – 1990. Eine Topographie der Moderne. Wien/Köln/Weimar 1992, S. 11. 29 Ebd. 30 Anonym: ,Pan president Slov‚ku˚m. Bl†zˇe se pozn‚vat a navz‚jem se l¦pe ch‚pat‘, in: LIDOVÊ LISTY V, 30. 12. 1938, S. 1.

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die Spannung in beiden Völkern stieg und die Trennung der Slowakei von der Tschechoslowakei drohte. Die slowakischen Medien setzten sich eher für sachliche und informative Darstellung ein. Im Archiv der STK befindet sich nicht eine einzige Fotografie dieser Reise und das ungeachtet dessen, dass die Organisation und auch das Programm der ganzen Veranstaltung vollständig in der ˇ TK verfügt Hand der Slowakischen Volkspartei Hlinkas lag. Das Archiv der C dagegen über eine ausführliche Bildberichterstattung. Die Reise des Präsidenten führte nicht in die slowakische Metropole Bratislava, wie man vermuten könnte, sondern war für die Hohe Tatra geplant, wo er sich auch an der frischen Bergluft aufhalten sollte. Durch das Bildmaterial und die Quellen aus dieser Zeit kann erschlossen werden, dass die einzelnen Reisestationen an die Symbole der Slowakei gebunden waren, was man als gefällige Geste des Präsidenten gegenüber der Slowakei auffassen konnte, aber auch als Demonstration der Überlegenheit der slowakischen Anhänger der Volkspartei gegenüber Prag. Der zentralen Prager Regierung ging es um die Erhaltung eines gemeinsamen Staates unter allen Umständen. Der Präsident Emil H‚cha blieb beim Grab von Andrej Hlinka in Ruzˇomberk stehen, um dort einen Kranz abzulegen und in Stille zu beten. Hlinka war ein katholischer Priester und Politiker, der seine politische Regierung der slowakischen Nationalbewegung widmete. In der allgemeinen Wahrnehmung der Slowaken repräsentiert er symbolisch den ,Vater der Nation‘, was man angesichts seiner antidemokratischen und außerordentlich autoritären Haltung als Mythos begreifen muss. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als die Slowakei sich auf die Seite Deutschlands schlug, wurde nach ihm die HlinkaGarde und die Hlinka-Jugend benannt.31 Reiseziel des Präsidenten Emil H‚cha war die Hohe Tatra, die gegenüber dem multikulturellen Bratislava – in dem man drei Sprachen, slowakisch, deutsch und ungarisch, sprach – die territoriale Abgrenzung der Slowakei (von der Tatra bis zur Donau) repräsentierte. Einer der beliebtesten Märsche der Hlinka-Garde, einer halbmilitärischen Organisation der herrschenden Partei, hat den Titel „Hej Jungs am Fuße der Tatra, ihr habt harte Fäuste“.32 Die Hohe Tatra avancierte zum Symbol der Slowaken. Schließlich beginnt auch die slowakische Staatshymne mit den Worten „Über der Tatra blitzt es, die Donner schlagen wild“. Über eine 31 Die Hlinka-Garde war eine paramilitärische Organisation, die oft auf aggressive Art die Ideologie des Nationalsozialismus durchsetzte. Sie war als Exekutivmacht nicht nur gegen die Tschechen gerichtet, sondern beteiligte sich intensiv an der Liquidierung der jüdischen Bevölkerung und führte gleichzeitig eine antibolschewistische Kampagne. Die Hlinka-Jugend war die einzige erlaubte Jugendorganisation der Slowakei nach dem Vorbild der Hitlerjugend. Vgl. Hoensch, Jörg K. / Ames, Gerhard: Dokumente zur Autonomiepolitik der Slowakischen Volkspartei Hlinkas. Oldenbourg/München 1984. ´ C ˇ ASOPIS 2001/49 – 2, 32 Lipt‚k, Lˇubom†r: ,Tatry v slovenskom povedom†‘, in: HISTORICKY S. 154.

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Verbindung des Gebirges mit dem Charakter der Slowaken äußerte sich der Vorsitzende der slowakischen Regierung, Dr. Jozef Tiso auch bei der Begrüßungszeremonie in Lomnice in der Tatra: Das slowakische Volk hat, obwohl es einer unserer Dichter als friedliebend bezeichnete, viel mit seiner Tatra gemeinsam. Es ist fähig hart zu sein. Das hat es immer wieder auch in neueren Zeiten bewiesen. Es ist unzugänglich und unnachgiebig in seinen Hoheitsrechten, auch wenn es als kleines Volk danach strebt, mit allen sein Zusammenleben freundschaftlich zu gestalten.33

Die Ansprache des Präsidenten selbst hatte einen eher versöhnlichen Charakter. Er erklärte, er wünsche sich, „dass jeder Tscheche von ,unserer Tatra‘ sprechen kann […] und dass Prag auch euer Prag ist [das der Slowaken] und es euch gefühlsmäßig nahe steht“.34 Die in den Medien bekannten Fotografien von diesem Besuch waren vornehmlich Gruppenporträts der tschechischen Delegation, die in Gegenwart der slowakischen Politiker unter den monumentalen Gipfeln der Tatra aufgenommen worden waren (Abb. 3). Im autoritären slowakischen System wurde das politische Leben eng mit der Religion verbunden. Viele Priester engagierten sich politisch in der Bewegung gegen die gewaltsame Magyarisierung und in der nationalen Wiedergeburt der Slowaken im 19. Jahrhundert. Auch Dr. Jozef Tiso, Regierungsvorsitzender der autonomen Slowakei, war zugleich katholischer Priester. Während des Krieges ging die Ideologie des Nationalsozialismus in der Slowakei eine Verbindung mit dem Christentum ein, deren Paradox sich im Widerspruch zwischen Nächstenliebe und dem Holocaust äußerte. Die katholische Kirche schritt weder gegen den Abtransport der jüdischen Bevölkerung noch gegen die Abschiebung der Tschechen aus dem Gebiet der Slowakei ein. Im Gegenteil, die hohen kirchlichen Würdenträger legitimierten durch ihre Teilnahme an den staatlich organisierten Veranstaltungen die neue Ordnung im Land. Die Anfänge dieser ,pastoralen Macht‘ kann man in der Slowakei schon in der Zeit der Autonomie verfolgen. Später wird die Slowakei als ,klerofaschistischer‘ Staat charakterisiert. Auf zahlreichen offiziellen Fotografien wird die Nähe der kirchlichen Hierarchie zu den Interessen der politischen Repräsentation deklariert (Abb. 4). Der Präsident der Republik Emil H‚cha drückte nach seinem Besuch die Zufriedenheit über den Stand der Dinge aus, da ihm Dr. Tiso versprochen hatte, dass er „in seiner Partei keine Intrigen gegen die Tschechoslowakische Republik

ˇ esko-Slovenska 33 ,1938, december 29. Tatransk‚ Lomnica. – Pr†hovor J. Tisu k prezidentovi C E. H‚chovi pri pr†lezˇitosti jeho n‚vsˇtevy vo Vysoky´ch Tatr‚ch‘, in: Fabricius, Miroslav / Hradsk‚, Katar†na: Jozef Tiso. Prejavy a cˇl‚nky (1938 – 1944). Bratislava 2007, S. 49. 34 ,Pan president Slov‚ku˚m. Bl†zˇe se pozn‚vat a navz‚jem se l¦pe ch‚pat‘, in: LIDOVÊ LISTY V, 30. 12. 1938, S. 1.

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Abb. 3: Der Präsident der Tschecho-Slowakischen Republik beim Besuch der slowakischen ˇ TK), 1938. Hohen Tatra, Foto (C

Abb. 4: Feierliches Mittagessen anlässlich des Besuchs des Präsidenten der Tschecho-Slowakiˇ TK), 1938. schen Republik, Emil H‚cha, Foto (C

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dulden und dass er radikale Elemente aus der Regierung beseitigen wird.“35 Keine zwei Wochen nach dem Besuch des Präsidenten der Republik in der Slowakei wurden die Beziehungen zwischen den beiden Völkern wieder problematisch und instabil. Die erste feierliche Versammlung des slowakischen Parlaments (Snem), die am 18. Januar 1939 organisiert wurde, wurde schon in der vollen Kompetenz des Slowakischen Pressebüros dokumentiert. Im Rahmen der Bildberichterstattung wurde offen die Orientierung der Slowakei nach Deutschland hin deklariert, schon allein aus dem einfachen Grund, dass Politiker wie auch Anhänger der Hlinka-Garde als Gruß „Heil Hitler“ benutzten. Die Fotografien der Veranstaltung, die in der slowakischen Presse zahlreich veröffentlicht wurden, repräsentierten die allmähliche Verselbstständigung der Slowakei aus der „Abhängigkeit“ der gemeinsamen Republik. Zur Teilnahme an der Veranstaltung wurden der Vorsitzende der Regierung der Tschechoslowakischen Republik Rudolf Beran und der Verteidigungsminister Jan Syrovy´ eingeladen. Beide wurden jedoch zur Staffage der gesamten Zeremonie, die die steigende Spannung im Land und die zentrifugalen Kräfte der Slowakei der gemeinsamen Republik repräsentierte. Die Veranstaltung bestand aus mehreren Teilen: der Versammlung des gewählten slowakischen Parlaments in der Aula der Komensky´-Universität in Bratislava, den Vereidigungen der Hlinka-Garden und aus Gottesdiensten. Einige Fotografien zeigen den tschechischen Politiker Rudolf Beran im Kreis der mit „Heil Hitler“ grüßenden Gardisten (Abb. 5, 6, 7). Die Hlinka-Garden entstanden nach deutschem Vorbild der Eliteabteilungen der SS und SA, um zum Instrument des ideologischen Kampfes der Nazi-Bewegung zu werden. Auf den Fotografien können wir den psychologischen Kampf zwischen den Vertretern einer noch teilweise demokratischen Ordnung und dem aufsteigenden autoritären Volksregime verfolgen, das auf eine vollständige Verselbstständigung abzielte. Später unterstützten auch die Äußerungen manch eines slowakischen Politikers diese visuellen Zeugnisse. Zum Beispiel erklärte Alexander Mach am 5. Februar 1939: „Seinen eigenen Staat zu haben bedeutet Leben, Freiheit, ewiges Leben. Keinen eigenen Staat zu haben bedeutet Tod, den ewigen Tod des slowakischen Volkes.“36 Das letzte historische Ereignis und Gipfelpunkt der Beziehungen der Tschechen und Slowaken war der sogenannte Homola-Putsch und das daraus resultierende gemeinsame Bild in den Medien. Die Prager Regierung wurde sich immer mehr der Unhaltbarkeit des Zustands des gegenseitigen Verhältnisses zwischen beiden Ländern bewusst und in diese angespannte Situation trat 35 Gebhart, Jan / Kukl†k, Jan: Druh‚ republika 1938 – 1939. Sv‚r demokracie a totality v politick¦m, spolecˇensk¦m a kulturn†m zˇivoteˇ. Praha/Litomysˇl 2004, S. 228. 36 Kamenec, Ivan: Slovensky´ sˇt‚t v obrazoch (1939 – 1945). Bratislava 2008, S. 26.

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Abb. 5: Der Vorsitzende der tschecho-slowakischen Regierung Rudolf Beran, umgeben von der Hlinka-Garde, vor der Versammlung des slowakischen Parlaments am 18. 1. 1939, Foto (STK).

Deutschland ein und übte auf beide Seiten Druck aus. Die Zentralregierung bemühte sich die wachsenden separatistischen Einstellungen der slowakischen Politiker zu entschärfen, indem sie eine öffentliche Demonstration der Loyalität von seiten der slowakischen Politiker gegenüber der tschechoslowakischen Staatsidee forderte. Doch dazu kam es nicht. Die Regierung Berans interpretierte diese Forderung so, dass die Deutschen die Anhänger der Volkspartei nicht unterstützten und beschloss zu handeln.37 Sie schickte Sicherheitskräfte in die Slowakei, die in der Nacht vom 9. auf den 10. März 1939 die radikale Regierung Tisos absetzten. Schließlich zeigte sich jedoch, dass das nationalsozialistische Deutschland und die Deutsche Partei, Partei der deutschen Minderheit in der Slowakei, die separatistische Entwicklung unterstützten.38 Die tschechoslowakische Armee wurde in der Kaserne zusammengezogen, während die Straßen von der Hlinka-Garde und den Einheiten der Freiwilligen Schutzwaffe, das bewaffnete Korps der Deutschen Partei, kontrolliert wurden.39

37 Lipt‚k 2011 ,Dramatick‚ medzihra‘, S. 157. 38 Ebd. 39 Ebd.

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Abb. 6: Erste feierliche Versammlung des slowakischen autonomen Parlaments in der Aula der Komensky´-Universität in Bratislava, Foto (STK), 1939.

Die Proklamation der Slowakischen Republik 1939 Am 14. März 1939 wurde unter der Kuratel des Deutschen Reichs die selbstständige Slowakische Republik ausgerufen. Die spätere Propaganda des slowakischen Staates nahm diese Tage als ,historische Tage‘ oder ,Tage der Wende‘ wahr und schätzte die fotografische Dokumentation, die das Slowakische Pressebüro besaß, außerordentlich (Abb. 8, 9). Das Bilddokument sollte auf unanzweifelbare Weise die Vollendung des „tausendjährigen Bemühens der Slowaken um ihre Selbstständigkeit“ belegen. Aus den Tagen der Wende wurde ein Mythos, der in der Propaganda geschickt ausgenutzt wurde, der aber gleichzeitig dieses Bemühen fälschlich demonstrierte, da der slowakische Staat vor allem aus dem Willen Hitlers entstand und sein Satellitenverbündeter wurde. Die damalige tschechische Presse drückte nach der Erklärung der Selbstständigkeit der Slowakei im Grunde ihr Verständnis für diesen Zustand aus. Der tschechische Schriftsteller, Dramatiker und Publizist Ferdinand Peroutka reagierte folgendermaßen: Es ist schwer die Slowaken plötzlich nicht mehr als einen Teil seiner selbst zu begreifen, es ist schwer dem kleinen Bruder Unglück zu wünschen, der gegen unseren Willen in die Welt aufgebrochen ist, auch wenn es wahr ist, dass wir in letzter Zeit häufiger seine

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Abb. 7: Teilnahme des Vorsitzenden der Zentralregierung der Tschecho-Slowakischen Republik Rudolf Beran und des Verteidigungsministers Jan Syrovy´ auf der 1. Feierlichen Versammlung des slowakischen Parlaments, Foto (STK), 1939.

geballte Faust gesehen haben als sein Lächeln. Vielleicht werden die Tendenzen der tschecho-slowakischen wechselseitigen Beziehung – bereinigt durch die Erfahrung – einmal wieder lebendig.40

Der milde Ton in den tschechischen Medien wurde jedoch bald durch den Ausdruck anderer Emotionen abgelöst, die mit dem Beginn der Okkupation der tschechischen Länder und dem Terror zusammenhingen. Der tschechische Blick auf die STK änderte sich radikal. Die Emigrantenkreise um Edvard Benesˇ begannen die Theorie „des in den Rücken gestoßenen Dolchs“ zu verbreiten und allmählich wurde diese Theorie auch durch die tschechische Öffentlichkeit anerkannt.41 Dies geschah erst, als die tschechische Öffentlichkeit die nazistische Gewalt und Grausamkeit am eigenen Leib erfuhr. Im Protektorat Böhmen und Mähren lebten die Bürger in permanenter Angst um ihr Leben und ihre Lebensbedingungen verschlechterten sich unablässig. In der Slowakei war es in vielerlei Hinsicht einfacher. Die slowakische Bevölkerung, ausgenommen die Juden, verspürte relativ lange keine Kriegsnot. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trennten sich die beiden Völker. Während für die Tschechen gewisse Kapitel in der Geschichte des Protektorats ˇ šTOMNOST XVI, 15. 03. 1939, S. 202. 40 Peroutka, Ferdinad: ,Rozloucˇen† se Slovenskem‘, in: PR 41 Kov‚cˇ 1997, 74.

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Abb. 8: Militärischer Eingriff der tschecho-slowakischen bewaffneten Kräfte auf dem Gebiet der Slowakei, Foto (STK), 1939.

als eine Art Kitt dienen, der die gegenseitigen Beziehungen stärkt, aber auch den Respekt gegenüber dem zeigen, was die vorherigen Generationen alles durchmachen mussten, ist die slowakische Gesellschaft im Gegensatz dazu stark polarisiert. Die Slowakische Republik – der erste Staat der Slowaken – ging aus dem Willen Hitlers hervor. Einerseits wird hier fälschlich die Vollendung der Sehnsucht nach einer eigenständigen und unabhängigen staatlichen Existenz gefeiert, andererseits hat sich der Staat an das Dritte Reich verkauft. Der slowakische Staat wird diesbezüglich bis in die heutigen Tage polarisiert. Es gibt viele radikale und nationale Vertreter, aber auch viele Gegner. Zu dieser Spaltung tragen manchmal auch die Politiker bei, die darin einen günstigen Weg zu ihrem Wahlerfolg sehen.

Übersetzt von Patricia Schönborn

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Bohunka Koklesová

Abb. 9: Abzug der tschechischen Sicherheitskräfte aus Bratislava nach der Verkündung des selbstständigen slowakischen Staates, Foto (STK), 1939.

Abbildungen Abb. 1: Im Vordergrund der Präsident der Tschecho-Slowakischen Republik Emil H‚cha, zu seiner Linken der Vorsitzende der slowakischen Regierung Dr. Jozef Tiso, Foto, 1938 ˇ TK. ÓC Abb. 2: Die slowakische autonome Regierung mit dem Regierungsvorsitzenden Dr. Jozef Tiso in der Mitte, 1938 Ó STK. Abb. 3: Der Präsident der Tschecho-Slowakischen Republik Emil H‚cha mit dem Wanderstock beim Besuch der slowakischen Hohen Tatra; zu seiner Rechten der Vorsitzende ˇ TK. der slowakischen autonomen Regierung Dr. Jozef Tiso Foto, 1938 Ó C Abb. 4: Feierliches Mittagessen anlässlich des Besuchs des Präsidenten der TschechoSlowakischen Republik Emil H‚cha; zu seiner Rechten Dr. Jozef Tiso, zu seiner Linken ˇ TK. der Bischof der römisch-katholischen Diözese Spisˇ, J‚n Vojtasˇsˇ‚k Foto, 1938 Ó C Abb. 5: Der Vorsitzende der tschecho-slowakischen Regierung Rudolf Beran, umgeben von der Hlinka-Garde, vor der Versammlung des slowakischen Parlaments am 18. 1. 1939, Foto Ó STK. Abb. 6: Erste feierliche Versammlung des slowakischen autonomen Parlaments in der Aula der Komensky´-Universität in Bratislava, Foto, 1939 Ó STK.

Tschechen und Slowaken vor dem Zweiten Weltkrieg

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Abb. 7: Teilnahme des Vorsitzenden der Zentralregierung der Tschecho-Slowakischen Republik Rudolf Beran und des Verteidigungsministers Jan Syrovy´ auf der 1. Feierlichen Versammlung des slowakischen Parlaments, Foto, 1939 Ó STK. Abb. 8: Militärischer Eingriff der tschecho-slowakischen bewaffneten Kräfte auf dem Gebiet der Slowakei; ein Gardist spricht aus einem Fenster zu den Massen, 9.–10. 03. 1939. Foto Ó STK. Abb. 9: Abzug der tschechischen Sicherheitskräfte aus Bratislava nach der Verkündung des selbstständigen slowakischen Staates. 1939 Ó STK.

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Bohunka Koklesová

Tiso, Jozef: ,1938, december 29. Tatransk‚ Lomnica. – Pr†hovor J. Tisu k prezidentovi ˇ esko-Slovenska E. H‚chovi pri pr†lezˇitosti jeho n‚vsˇtevy vo Vysoky´ch Tatr‚ch‘, in: C Fabricius, Miroslav / Hradsk‚, Katar†na: Jozef Tiso. Prejavy a cˇl‚nky (1938 – 1944). Bratislava 2007, S. 49. ˇ esko-slovensky´ pomeˇr po str‚nce jazykov¦‘, in: BRATISLAVA Tr‚vnicˇek, Frantisˇek: ,C 1933/7 – 3, S. 231 Weibel, Peter / Steinle, Christine: Identität: Difference, Trigon 1940 – 1990. Eine Topographie der Moderne. Wien/Köln/Weimar 1992. ,Zu˚st‚v‚ n‚rod, kde se meˇn† mapa‘, in: LIDOVÊ NOVINY 46, 01. 10. 1938, S. 2.

Katrin Winkler (Konstanz)

Medien und Regionalismus in Jugoslawien. TV und regionale Konzepte in der Fernsehzeitschrift Studio

Im Vielvölkerstaat Jugoslawien zeichneten sich bereits in den 1960er und 1970er Jahren Regionalisierungstendenzen ab, die im Nachhinein als Ankündigung des Zerfalls des Landes in den 1990er Jahren interpretiert werden können.1 Tito versuchte diese Regionalisierungsbestrebungen kulturpolitisch zu regulieren, indem er den einzelnen Regionen durch verschiedene Verfassungsänderungen mehr Macht und Eigenständigkeit verlieh. Er konnte damit jedoch den Regionalisierungstrend nicht aufhalten, sondern förderte ihn im Gegenteil noch. Durch die Gesetzesänderungen seit 1971, die 1974 in der Verfassungsänderung mündeten, geriet die Mediengesetzgebung dabei das erste Mal in die Hände der Republiken und autonomen Provinzen, was für die Massenmedien eine Stärkung der lokalen und regionalen Organisation von Presse und Rundfunk zur Folge hatte.2 Zeitgleich fand ein Wechsel der Mediensituation statt: Der Eintritt des Fernsehens Ende der 1950er Jahre als ein sich schnell verbreitendes und populäres neues Medium führte zu einem Wandel in der Medienlandschaft. Diese Medienumstrukturierung blieb im Zusammenhang mit den Regionalisierungsbestrebungen in Jugoslawien in der Forschungsliteratur bisher weitgehend unberücksichtigt – vor allem die Folgen für die kulturellen Prozesse und Konstruktion einer regionalen Vergemeinschaftung im Kontext des Vielvölkerstaates wurden nicht beachtet. Vor diesem Hintergrund möchte dieser Beitrag einen Zusammenhang zwischen der Verbreitung des Fernsehens und dem Regionalismus im ehemaligen Jugoslawien anhand von Beispielen der Medienzeitschrift Studio: Televizija,

1 Jovic´, Dejan: ,Yugoslavism and Yugoslav Communism. From Tito to Kardelj‘, in: Djokic´, Dejan (Hg.): Yugoslavism. Histories of a Failed Idea 1918 – 1992. London 2003, S. 157 – 181, hier S. 176 f.; Malcolm, Noel: Geschichte Bosniens. Frankfurt/M. 1996, S. 235. 2 Hendrichs, Irena: ,Presse, Rundfunk, Film (Massenmedien)‘, in: Grothusen, Klaus-Detlef (Hg.): Südosteuropa-Handbuch. Band 1: Jugoslawien. Göttingen 1975, S. 439 – 457, hier S. 439; Robinson, Gertrude: Tito’s Maverick Media. The Politics of Mass Communications in Yugoslavia. Urbana/Chicago/London 1977, S. 39.

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estrada, sport, film (dt. Studio: Fernsehen, Estrade, Sport, Film, Zagreb 1964 – 1998) aufzeigen.

Jugoslawien in den 1960er und 1970er Jahren Die 1960er Jahre in Jugoslawien waren geprägt von einem Wandel, der sich in erster Linie auf politisch-ideologischer Ebene vollzog: Im Allgemeinen wurde Titos Jugoslawien von den meisten Regionen des Landes unterstützt und von vielen sogar als ihr ,Goldenes Zeitalter‘ bezeichnet.3 Vor allem für die kleineren Nationen bedeutete die Verbundenheit zum sozialistischen Profil des Staates eine Antwort auf die nationale Frage.4 Dennoch gab es auch Unzufriedenheit mit Titos Politik. Dieser Missmut wurde besonders am Beispiel des Kroatischen Frühlings deutlich – auch Maspok (dt. Massenbewegung) genannt. Die kroatische Krise war die Folge einer Reihe von Entwicklungen und begann 1966 mit der Absetzung Aleksandar Rankovic´s, dem Vizepräsidenten Jugoslawiens und Chef des Geheim- sowie Staatssicherheitsdienstes. Der Serbe Rankovic´ verfolgte eine staatszentrierte Politik und hielt demnach nicht viel von der Dezentralisierung des Staates. Der föderale Kurs des Landes war einer von mehreren Faktoren, die im Kroatischen Frühling ihren Ausdruck fanden.5 Nach dem Sturz Rankovic´s wurde der politische Fokus des Landes durch den Chefideologen Titos, Edvard Kardelj, neu ausgerichtet.6 Der Slowene Kardelj unterstützte die Idee eines föderalen Staates. Unter dem von ihm verfassten Konzept wurden die Nationen zu voll-konstitutionellen Nationen.7 Ende der 1960er bis Anfang der 1970er Jahre fanden in Jugoslawien Prozesse statt, die den staatszentrierten Kurs des Landes beendeten, die Dezentralisierung des Staates begünstigten und schließlich konstitutionell bestätigten. Es bleibt festzuhalten, dass die Republiken und autonomen Provinzen in den 1970ern vom Zentrum unabhängiger und insgesamt mächtiger waren, als dies jemals zuvor der Fall war. Der Dezentralisierungsprozess hatte Auswirkungen auf die kulturelle Weiterentwicklung und Selbstwahrnehmung der Regionen. Auch auf medialer Ebene wurden diese Prozesse reflektiert und sogar voran3 Jovic´, Dejan: ,Reassessing Socialist Yugoslavia, 1945 – 90. The Case of Croatia‘, in: Djokic´, Dejan / Ker-Lindsay, James (Hg.): New Perspectives on Yugoslavia. Key Issues and Controversies. London/New York 2011, S. 117 – 142, hier S. 129. 4 Jovic´ 2003, S. 160 f. 5 Jovic´ 2003, S. 161; Jovic´ 2011, S. 129; Dzˇaja, Srec´ko M.: Die politische Realität des Jugoslawismus (1918 – 1991). Mit besonderer Berücksichtigung Bosnien-Herzegowinas. München 2002, S. 133 f. 6 Jovic´ 2011, S. 129. 7 Jovic´ 2003, S. 169 ff.

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getrieben, wie im Weiteren an der Entwicklung des Fernsehens in Jugoslawien gezeigt werden soll.

Mediensituation und Sprachproblematik Die Entwicklung des Fernsehens begann in Jugoslawien ähnlich wie in den meisten Staaten Ende der 1950er Jahre. Die Ausbreitung des Fernsehens lässt sich hierbei in drei Etappen einteilen: Zunächst begann 1957 die Netzausweitung auf die Zentren Zagreb, Ljubljana und Belgrad, die zweite Etappe erfolgte 1958 durch den Ausbau auf weitere Zentren in den übrigen Regionen, bevor in der dritten Etappe eine flächendeckende Ausweitung auf den gesamten Staat als Ziel galt, was jedoch nur unzureichend gelang und auf die mangelnde Finanzierung zurückzuführen war.8 Die erste Programmausstrahlung von ausländischen Produktionen erfolgte 1956 in Zagreb. Es wurden jedoch im selben Jahr bereits erste Unternehmungen für ein eigenes Programm gestartet. Dabei drückte sich das föderale System des Staates auch im Aufbau des Rundfunks und Fernsehen aus. Die Rundfunkzentren waren in die acht autonomen Republiken und Provinzen Belgrad, Zagreb, Ljubljana, Sarajevo, Skopje, Titograd, Novi Sad und Prisˇtina unterteilt und sendeten u. a. auch in unterschiedlichen Sprachen. Sie waren somit zwar in die einzelnen Zentren unterteilt, gehörten aber dem überregionalen Verband des Jugoslovenska Radiotelevizija (JRT) (dt. Jugoslawischer Rundfunk- und Fernsehverband) an.9 Grundsätzlich fand das Fernsehen seinen Nutzen als Massenkommunikationsmittel, im Unterschied zu den anderen sozialistischen Staaten wurde es jedoch nicht zum zentralen Medium für Propagandazwecke.10 Obwohl die Kontrollfunktion der Partei nie gänzlich verschwand, verhalfen die Verfassungsänderungen Mitte der 1960er Jahre den regionalen Radio- und TV-Stationen zu mehr Macht.11 Dies bedeutete, dass die einzelnen Stationen selbstständig und unabhängig voneinander die Inhalte ihres Programms gestalten konnten. Sie wählten ihre eigene Führung, hatten die Möglichkeit der Planung und Finanzierung eigener Produktionen und unterlagen vor allen Dingen nicht einem zentral geführten Netzwerk. Diese Möglichkeit der eigenverantwortlichen Gestaltung des Programms führte dazu, dass vermehrt regionale Sendungen ausgestrahlt und neue lokale Programme aufgenommen wurden. Dieser Trend wurde von den Medien aktiv diskutiert und führte zu Debatten um die regionale 8 9 10 11

Zlobicki, Branko: Radio televizija Sarajevo 1945 – 1975. Sarajevo 1976, S. 137 ff. Hendrichs 1975, S. 447 f. Hendrichs 1975, S. 452. Robinson 1977, S. 44.

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Autonomie und nationale Identität12 und hatte folglich auch weitgehende Auswirkungen auf die Regionalisierungsbestrebungen, da das Bewusstsein um die eigene Region (wieder-) erwachte. In diesem Zusammenhang erhielt auch die Debatte um die Sprachproblematik im Vielvölkerstaat erneut enormen Anschub. Die Sprachproblematik war in Jugoslawien schon immer gegenwärtig und äußerst komplex. Der Großteil der Bevölkerung sprach Serbokroatisch als Muttersprache. Eine einheitliche Normierung der Sprache sowie die Diskussion dieser Thematik wurden lange ignoriert, da es im sozialistischen Staat Jugoslawien offiziell keine nationalen Probleme mehr gab, womit der Zusammenhang von Sprache und Nation bereits angedeutet wird.13 Somit war die Phase nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt von dem Bemühen eine einheitliche Sprachnorm zu schaffen. Diese Diskussion wurde schließlich von serbischen Philologen angeheizt und kulminierte im Vertrag von Novi Sad 1954. Darin wurde eine einheitliche Schriftsprache vereinbart, die sich in Anlehnung an das Kroatische und Serbische entwickelte und über zwei Sprechweisen – ijekavisch und ekavisch – verfügte.14 Das Bemerkenswerte am Ende der Sprachnormentwicklung im ehemaligen Jugoslawien ist, dass es mit der Entwicklung des Fernsehens als Massenmedium ab Ende der 1950er Jahre bis Anfang der 1970er zeitlich zusammenfällt.15 In den 1960ern entwickelte sich das Fernsehen zu einem Massenmedium, welches von 90 Prozent der Bevölkerung gesehen wurde. Die Fixierung der Normsprache konnte das Sprachenproblem jedoch nur peripher für den Gesamtstaat lösen: Das Fernsehen als neues Massenmedium brachte eine Konjunktur des regionalen mündlichen Idioms mit sich und schuf dadurch ein Spannungsverhältnis zwischen Hoch- und Regionalsprache. Das mündliche Idiom hat im gesamten Balkanraum eine lange Tradition.16 Diese Tradition geht zurück auf das Volkssängertum, welches seit Beginn des 19. Jahrhunderts im jugoslawischen Raum an Popularität gewann.17 Die sogenannten Guslars erzählten zum Rhythmus des gusle-Instruments epische Lieder, 12 Robinson 1977, S. 37, 44. 13 Cvetkovic´-Sander, Ksenija: ,Sprachpolitik im sozialistischen Jugoslawien. Der Fall Bosnien und Herzegowina‘, in: Neusius, Boris (Hg.): Sprache und Kultur in Südosteuropa. München 2005, S. 29 – 46, hier S. 33 f. 14 Ebd. 15 Murasˇov, Jurij: ,TV and the End of Grammar-based Politics. Tud¯man and Izetbegovic´‘, in: Zimmermann, Tanja (Hg.): Balkan Memories. Media Constructions of National and Transnational History. Bielefeld 2012, S. 227 – 231, hier S. 228. 16 Zˇanic´, Ivo: Flag on the Mountain. A Political Anthropology of the War in Croatia and BosniaHerzegowina 1990 – 1995. London 2007, S. 17 ff.; Jakisˇa, Miranda: Bosnientexte. Ivo Andric´, Mesˇa Selimovic´ und Dzˇevad Karahasan. Frankfurt/M. 2009, S. 315 f. 17 Slapsˇak, Svetlana: ,What are Women Made of ?‘, in: Brinker-Gabler, Gisela / Smith, Sidonie (Hg.): Writing New Identities. Gender, Nation, and Immigration in Contemporary Europe. Minneapolis et al. 1997, S. 358 – 373, hier S. 359 f.

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bestehend aus verschiedenen Geschichts-Versatzstücken, die ein Sänger über Jahre durch Wiederholung in sein Repertoire aufnahm und bis zu 10.000 Zeilen beinhalten konnten.18 Sie wurden somit nur mündlich weitergegeben. Diese orale Tradition wird in der Fachliteratur sogar als die „Basis aller nationalen Konstrukte im jugoslawischen Raum“ bezeichnet.19 Durch ihren regionalen Bezug wurden die spezifische Kultur und Sprache betont. Ivo Zˇanic´ schreibt der Guslar-Szene – als ein öffentliches Kommunikationsmedium – eine Bedeutung zu, die nicht minder der des Fernsehens, des Radios und der Presse ist.20 Durch die starke Popularität der Mündlichkeit im Balkanraum lässt sich jedoch nicht nur ihre gleichwertige Stellung zum Fernsehen feststellen, sondern sie erfährt durch das Fernsehen eine weitere Popularisierung, da das Fernsehen durch seine Beschaffenheit Mündlichkeit inszeniert. Dies soll im Folgenden ausführlich dargestellt werden.

Die inszenierte Mündlichkeit des Fernsehens Die Förderung von Mündlichkeit durch das Fernsehen ist vorwiegend in der Eigenheit der TV-Kommunikation begründet, welche die Sensibilität und Attraktivität von mündlichen Idiomen und regionalen Dialekten steigert. Walter Ong führt in seinem Werk Die Technologisierung des Wortes aus, dass die modernen elektronischen Medien eine neue Ära der Mündlichkeit entstehen lassen. Diese Oralität sei sekundär, da sie auf Schriftlichkeit basiere.21 Werner Holly greift in seinem Artikel über „Die Mündlichkeit im Fernsehen“ Ongs Konzept auf und untersucht dessen Beschaffenheit. Darin stellt er fest, dass sich das Fernsehen Aufgaben und Struktur von Folklore und „popular culture“ zu Eigen macht. Es wird Teil der Alltagskultur und realisiert Zeichen von Mündlichkeit ins Mediale. Durch seine direkte Kommunikation ist es wie ein Gespräch „mehrkanalig“ und „aktuell“ und kann auf diese Weise Wirklichkeit suggerieren und inszenieren.22

18 Illich, Ivan: Schule ins Museum. Phaidros und die Folgen. Bad Heilbrunn 1984, S. 36 ff.; Lord, Albert Bates: Epic Singers and Oral Tradition. Ithaca et al. 1991, S. 104. 19 Z. B. Slapsˇak 1997, S. 359. 20 Zˇanic´ 2007, S. 45. 21 Ong, Walter : Oralität und Literarität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987, S. 135 ff. 22 Holly, Werner : ,Mündlichkeit im Fernsehen‘, in: Biere, Bernd Ulrich / Hoberg, Rudolf (Hg.): Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen. Tübingen 1996, S. 29 – 40, hier S. 31 ff.

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Dieser Zusammenhang von Mündlichkeit und Regionalisierung konnte für verschiedene Regionen bereits dokumentiert werden. Marshall McLuhan führt in seinem Werk Understanding Media23 dazu Folgendes aus: Eine sehr auffallende Tendenz, seit das Fernsehen in England existiert, ist das Wiederaufleben der landschaftlich verschiedenen Dialekte. […] Solche Dialektformen werden vom Alphabetentum dauernd abgeschliffen. Ihr plötzliches Hervortreten in Gebieten Englands, in welchen man vorher nur Standard-Englisch hören konnte, ist eines der bedeutsamsten kulturellen Ereignisse unserer Zeit. Sogar in den Hörsälen von Oxford und Cambridge hört man wieder landschaftsgebundene Dialekte. Die jungen Studenten dieser Universitäten sind nicht mehr bemüht, eine einheitliche Sprechweise zu erreichen. Im Dialekt zu sprechen hat sich, seit das Fernsehen existiert, als eine Möglichkeit erwiesen, eine tiefgehende gemeinschaftliche Bindung herzustellen, die mit dem ,Standart-Englisch‘, das es erst seit etwa hundert Jahren gibt, nicht erreicht werden konnte.24

Eine ähnliche Verbindung stellt Judith Ricker-Abderhalden für die Schweiz her, indem sie einen Trend zur Vermündlichung der Schweizer Sprachkultur ausführt und die Rolle der Medien in der öffentlichen Debatte thematisiert. Sie bemerkt, dass sich seit den 1960er Jahren der Anteil der Mundart in den Medien dupliziert hat und weiter zuzunehmen scheint. Durch den erhöhten Einsatz der regionalen Idiome wurde auch in der Schweiz eine landesweite öffentliche Sprachdebatte ausgelöst.25 Vor dem Hintergrund dieser These des sprachlichen Regionalismus durch die Verbreitung des Fernsehens möchte dieser Beitrag aufzeigen, wie föderale und regionale Konzepte, die im Zusammenhang mit Jugoslawien stehen, in der Zeitschrift Studio präsentiert werden.

Die Zeitschrift Studio Studio wurde erstmals in Zagreb, im April 1964, durch das Verlagshaus Vjesnik veröffentlicht. Der Hauptherausgeber war Öord¯e Zelmanovic´. Das Ziel der Zeitschrift war es, ihren Lesern ein Verständnis für Fernsehen, Radio, Theater und Musik zu vermitteln. Gleich zu Beginn in ihrer ersten Kolumne präsentierte sich die Zeitschrift als sehr interaktiv und kommunikativ, indem sie die Mei-

23 McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. New York et al. 1964; McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Düsseldorf/Wien 1968. 24 McLuhan 1968, S. 338. 25 Ricker-Abderhalden, Judith: ,Mundart oder Schriftsprache? Von den Sprachschwierigkeiten in der deutschen Schweiz‘, in: DIE UNTERRICHTSPRAXIS 1986/2, S. 162 – 177, hier S. 166 ff.

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nungen und Ideen ihrer Leserschaft in die Gestaltung des Magazins und die Auswahl der Artikel miteinbeziehen wollte.26 Die Zeitschrift interessierte sich in hohem Maße für die Entwicklung des Fernsehens. In mehreren Artikeln thematisierte sie nicht nur die schnelle technische Entwicklung des TVs (wie neue TV-Zentren und schnelle Ausbreitung), sondern auch die politische und kulturelle Bedeutung des neuen Mediums Fernsehen. Vor allem in den 1960ern beschäftigte sich eine hohe Anzahl von Artikeln mit der Information und Aufklärung über das TV. Viele Kolumnen und zu Beginn noch oft wechselnde Rubriken brachten den Lesern technische Funktionsweisen, kulturelle Bedeutung und Folgen sowie medientheoretische Ansätze der damaligen Zeit näher. So schreibt Stanko Majnarnic´ in seinem Artikel zur kulturellen Mission des Fernsehens in Studio: „Die Kommunikativität und Attraktivität des Fernsehens sind unbestreitbar. Die Bandbreite der Fernsehzuschauer kennt keine Grenzen und besitzt alle Merkmale der ,breiten Masse‘“.27 Der Autor führt dazu weiter aus, dass das Fernsehen im heutigen Bestreben die Kultur für jeden abrufbar zu machen, eine wesentliche Rolle spiele. In diesem Zusammenhang diskutiert er auch den Begriff des „kulturellen Niveaus“, welches der Zuschauer durch das Aufkommen des Fernsehens beträchtlich gesteigert habe. Diese Verbindung von Kultur und Bildung wird dadurch erklärt, dass das Fernsehen einer breiten Öffentlichkeit kulturelle Errungenschaften näher bringe, welche für die Mehrheit vorher physisch unerreichbar waren. Neben den positiven Bildungsaspekten des Fernsehens werden in diesem Zusammenhang jedoch auch negative Faktoren wie die „permanente Verfügbarkeit der Kultur für die Zuschauer“ und die Masse diskutiert. Daher empfiehlt der Autor mehr Sendungen zu wagen, die auf einem „exklusiven ästhetischen Grund“ gebaut sind und somit ein höheres Niveau aufweisen. Majnaric´s Sätze zur kulturellen Bedeutung des Fernsehens werden von Ivan Dukic´ als „Widerspiegelung der Denkweise der damaligen Zeit“ zusammengefasst, welche die „Wichtigkeit des Fernsehens als mächtigstes Medium“ aufzeigen.28 Das Fernsehen breitet sich zu Beginn der 1960er rasant aus und gewinnt schnell an Popularität. Zeitgleich zu dieser Entwicklung wird das mediale Novum, welches das Fernsehen in dieser Zeit darstellt, in Studio erörtert. Es werden in den ersten Jahren hauptsächlich Fragen in Bezug auf dieses neue

26 Anonym: ,prvi stupac‘, in: STUDIO 1964/1, S. 2. 27 Majnaric´, Stanko: ,Kulturna misija televizije‘, in: STUDIO 1965/47, S. 26. Alle Zitate aus der Zeitschrift Studio sind Übersetzungen des Autors. 28 Dukic´, Ivan: ,Studio i Plavi vjesnik – pogled na istrazˇivanja prodora i utjecaja zapadne popularne kulture u Hrvatsku (1963.–1965.)‘, in: RADOVI – Zavod za hrvatsku povijest 1996/ 29, S. 331 – 348, hier S. 346.

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Medium gestellt und teilweise auch Erklärungsversuche gestartet, wie das folgende Zitat aus der Kolumne der Zeitschrift verdeutlicht: Niemand ist dazu berufen von der komplexen Materie des Wesens des Fernsehens zu sprechen. Indessen hat sich das Fernsehen weder offiziell noch inoffiziell erklärt. Dies wäre jedoch zur Information der allgemeinen Öffentlichkeit sowie zur Vermeidung von Missverständnissen nötig und nützlich.29

Das Fernsehen wird als ein „spectaculum mundi“ bezeichnet und das „Phänomen der Zeitgleichheit“ als die „Magie des Fernsehens“ beschrieben.30 Auch die Veränderungen und Folgen, die sich durch das Fernsehen für die Gesellschaft ergeben, werden erläutert: Galt es vor einigen Jahren noch als etwas „Besonderes, Gegenstandsloses, eine nichtreale Erwartung“, die „bezeichnend für Stadien ist, in denen ein Medium noch ein Novum ist und […] noch nicht ausreichend verbreitet ist“, so wird 1968 betont, dass es „kaum technische Errungenschaften gäbe, die das gesellschaftliche Leben so beeinflusst haben könnten, wie es das Fernsehen getan hat.“31 Die Veränderungen, die es mit sich brachte, beträfen die Nutzung anderer Medien, die Veränderungen der sozialen Kontakte, den Besuch kultureller Veranstaltungen und wirkten sich auch auf familiäre und andere Bereiche aus: Das Fernsehen hat hauptsächlich die Zeit verringert, die dem Lesen von Zeitungen und dem Hören des Radios gewidmet war. Diese Medien werden nur noch dazu verwendet die Informationen zu finden, die ihnen das Fernsehen nicht liefert. Zudem hat das Fernsehen die Leute an das Haus gebunden, sogar die Hausordnung verändert und auch die Gesprächsthemen erweitert.32

Es zeigt sich, dass das Fernsehen Teil der Alltagskultur wird und diese verändert. Gemäß Werner Hollys Überlegungen zur veränderten Sprachkultur durch das neue Medium erweitert es Gesprächsthemen und wirkt dadurch zeitgleich direkt in seiner Kommunikation. Es wird also nicht nur Einfluss auf die Sprache, sondern auch auf deren Inhalte (z. B. regionale Sendungen und Themen) genommen, wodurch die Wichtigkeit der kulturellen Bedeutung des Fernsehens für die Region aufgezeigt wird.

29 30 31 32

Anonym: ,prvi stupac‘, in: STUDIO 1964/12, S. 2. Vucˇetic´, Veljko: ,Sˇto je autenticˇna TV?‘, in: STUDIO 1965/79, S. 10. Pirc, Bosˇtjan: ,Televizija i drusˇtvo‘, in: STUDIO 1968/245, S. 23. Ebd.

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Regionalisierung in Studio Wie zu Beginn erläutert, möchte dieser Beitrag anhand der Zeitschrift Studio in den 1960ern und 1970er Jahren den Zusammenhang von der Verbreitung des Fernsehens und dem Regionalismus in Jugoslawien aufzeigen. 1964 verweist die Zeitschrift noch auf die als negativ empfundene Tendenz eines Anstiegs an Regionalprogrammen: Während unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung mehr und mehr zu einer Verstärkung der Integration tendiert, […] scheint es so, als würde das TV in eine entgegengesetzte Richtung gehen. Was das Paradoxon noch verstärkt, ist die Tatsache, dass es sich um ein Medium handelt, das durch sein Wesen prädestiniert ist und technisch die Möglichkeit besitzt, die Weite zu überbrücken und näher zu holen.33

Dieses Zitat zeigt deutlich die Kluft zwischen einer theoretischen föderalen Erwartungshaltung an das Fernsehen und ihrem Scheitern an der Realität. Diese Diskrepanz lässt sich an verschiedenen Stellen beobachten. Die Zeitschrift übernimmt in diesem Zusammenhang sogar medientheoretische Ansätze, wie Marshall McLuhans These vom „globalen Dorf“: Dieser kanadische Professor behauptet nämlich, dass die Welt unter dem Einfluss des Fernsehens zu einem einzigen großen Dorf geworden ist und dass es normal sein wird, dass die Leute wieder zur Stammeskultur zurückkehren werden. Nur dieses Mal wird der Stamm die ganze Welt repräsentieren.34

McLuhans Theorie wird dabei, im Sinne des föderativen Jugoslawiens und der „Verminderung des Unterschieds zwischen Stadt und Land“35, positiv auf Integration ausgelegt. Geht man von der bereits beschriebenen medientheoretischen Forschung zum TV aus,36 dann liegt hier eine eigentümliche Auslegung vor. McLuhan attestiert allen Medien eine dezentralistische Kraft – beim Fernsehen allerdings geschieht dies über die Sprache, dem regionalen Dialekt, durch welchen die Möglichkeit geschaffen wird eine „tiefgehende und gemeinschaftliche Bindung“ herzustellen.37 Die neue Medienentwicklung wird als Chance der Stärkung des föderalen Staats begriffen, wohingegen das Fernsehen aber das Gegenteil bewirkt. Tatsächlich wird die Regionalisierung zum einen durch Verfassungsänderungen institutionell befördert, zum anderen zeigt sich eine Hinwendung zum regionalen mündlichen Idiom. Gegenläufig zu den Integrationsvorstellungen der Zeitschrift wird dieser Trend in unterschiedlichen Kontexten thematisiert, 33 34 35 36 37

Anonym 1964/12 ,prvi stupac‘, S. 2. D., V.: ,S televizijom u – kameno doba?‘, in: STUDIO 1968/242, S. 23. Pirc 1968, S. 23. Insbesondere Ong 1987; McLuhan 1964. McLuhan 1968, S. 338.

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indem beispielsweise auf die Wendung „Govorisˇ kao spiker“ (dt. „Du sprichst wie ein Sprecher“) eingegangen wird.38 Bei dieser negativen Reaktion werden der Dialekt auf- und die Hochsprache abgewertet. Andere Stimmen klagen an, dass „man den Kampf zur Eliminierung aller dialektalischen und lokal sprachlichen Ausdrücke in den letzten Jahren mehr hätte anspitzen müssen […]“.39 Es werden zudem Artikel und Kommentare publiziert, die sich allgemein mit der Sprache im TV beschäftigen: Stanko Majnaric´ widmet sich diesem Thema in seinem Artikel über die Sprache im Fernsehen: Sprache ist, trotz unterschiedlicher Sichten auf diese Thematik, ein eindrucksvolles Mittel und so wie das Fernsehen nicht irgendein Medium ist, so sind die Fragen nach seiner sprachlichen Herausbildung nicht auf einen Nenner zu bringen […]. Dieses Problem ist noch nicht einmal im Film geklärt. Das Fernsehen hingegen ist dem embryonalen Stadium noch viel näher […].40

Er macht zudem einen Unterschied zwischen der „lebendigen“ Sprache, die in Reportagen verwendet wird, und der Sprache, die im Fernsehstudio von einem Sprecher gesprochen wird, wobei letztere eine sprachliche Leitbild-Funktion besäße und oft steif wirke. Ähnlich verhält es sich mit einem anderen Artikel, der auf die Sprachproblematik in Jugoslawien verweist: Die Programme in mazedonischer und slowenischer Sprache können von einer Mehrheit der Bevölkerung nicht verstanden werden. Diese Regionen strahlen jedoch Sendungen aus, die viele Zuschauer gerne schauen würden. Obwohl dieses Problem nicht neu ist, wurde nichts dafür getan, um dem entgegenzuwirken. Das Fernsehen ist das ideale Medium um dieses Problem zu lösen.41

Die Kluft zwischen Fiktion und Realität wird an diesem Zitat sehr deutlich. Die Idee einer sprachlichen Integration ist demnach einfach nicht praktikabel. Die Regionalität wird von der Zeitschrift jedoch nicht nur in ihren Artikeln thematisiert, vielmehr gibt sie selbst bei ihrer Programmbeschreibung zu Beginn an, welche regionale Fernsehstation welche Beiträge produziert hat, bis schließlich durch Hinzukommen weiterer Stationen und regionaler Programme sogar eine Übersicht nach den einzelnen Regionen erstellt wird.

38 39 40 41

Majnaric´, Stanko: ,Spikeri i knjizevni jezik‘, in: STUDIO 1965/45, S. 27. Surutka, Branislav : ,Govor spikera‘, in: STUDIO 1965/44, S. 27. Majnaric´ 1965/42, S. 26. Goluzˇa, M: ,Jezik i TV‘, in: STUDIO 1966/104, S. 3.

Medien und Regionalismus in Jugoslawien

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Schlussfolgerung Der Einzug des Fernsehens als neues und populäres Massenmedium in den 1960er Jahren brachte in Jugoslawien nicht nur einen Wandel der Medienlandschaft mit sich, sondern veränderte die Alltagskultur und beförderte ein Erstarken der regionalen Dialekte. In dieser Phase befand sich das Land in einer Kippsituation: Der Staat förderte durch verschiedene Maßnahmen eine politische Dezentralisierung in der Hoffnung auf Föderalismus. Dies bereitete jedoch den Boden für eine Verschärfung der Wahrnehmung der regionalen Differenzen und dadurch auch für den Selbstmechanismus der Trennung. Das Fernsehen wird vom jugoslawischen Zentrum als Instrument für die Einbindung des Regionalen ins Ganze in Anspruch genommen. Dies steht im Gegensatz zum Mechanismus, also der grundlegenden Beschaffenheit des Mediums selbst, wodurch das Gegenteil des Angestrebten bewirkt wird. Wie am Beispiel von Studio deutlich wird, können sowohl föderale als auch regionale Konzepte, die durch die Verbreitung des Fernsehens hervorgerufen wurden, in der Zeitschrift beobachtet werden. Die Vorstellung einer Stärkung des föderalen Staates durch den neuen technischen Fortschritt, wie das Fernsehen ihn darstellt, scheitert dabei jedoch an der Realität. Es ist ganz im Gegenteil das Medium selbst, welches den Dezentralisierungsprozess durch eine Verstärkung der regionalen Dialekte fördert, was anhand der Beispiele aus Studio deutlich wird.

Literatur Anonym: ,prvi stupac‘, in: STUDIO 1964/1, S. 2. Anonym: ,prvi stupac‘, in: STUDIO 1964/12, S. 2. Cvetkovic´-Sander, Ksenija: ,Sprachpolitik im sozialistischen Jugoslawien. Der Fall Bosnien und Herzegowina‘, in: Neusius, Boris (Hg.): Sprache und Kultur in Südosteuropa. München 2005, S. 29 – 46. D., V.: ,S televizijom u – kameno doba?‘, in: STUDIO 1968/242, S. 23. Dukic´, Ivan: ,Studio i Plavi vjesnik – pogled na istrazˇivanja prodora i utjecaja zapadne popularne kulture u Hrvatsku (1963.–1965.)‘, in: RADOVI – Zavod za hrvatsku povijest 1996/29, S. 331 – 348. Dzˇaja, Srec´ko M.: Die politische Realität des Jugoslawismus (1918 – 1991). Mit besonderer Berücksichtigung Bosnien-Herzegowinas. München 2002. Goluzˇa, M: ,Jezik i TV‘, in: STUDIO 1966/104, S. 3. Hendrichs, Irena: ,Presse, Rundfunk, Film (Massenmedien)‘, in: Grothusen, Klaus-Detlef (Hg.): Südosteuropa-Handbuch. Band 1: Jugoslawien. Göttingen 1975, S. 439 – 457. Holly, Werner : ,Mündlichkeit im Fernsehen‘, in: Biere, Bernd Ulrich / Hoberg, Rudolf (Hg.): Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen. Tübingen 1996, S. 29 – 40. Illich, Ivan: Schule ins Museum. Phaidros und die Folgen. Bad Heilbrunn 1984.

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Jakisˇa, Miranda: Bosnientexte. Ivo Andric´, Mesˇa Selimovic´ und Dzˇevad Karahasan. Frankfurt/M. 2009. Jovic´, Dejan: ,Reassessing Socialist Yugoslavia, 1945 – 90. The Case of Croatia‘, in: Djokic´, Dejan / Ker-Lindsay, James (Hg.): New Perspectives on Yugoslavia. Key Issues and Controversies. London/New York 2011, S. 117 – 142. Jovic´, Dejan: ,Yugoslavism and Yugoslav Communism. From Tito to Kardelj‘, in: Djokic´, Dejan (Hg.): Yugoslavism. Histories of a Failed Idea. 1918 – 1992. London 2003, S. 157 – 181. Lord, Albert Bates: Epic Singers and Oral Tradition. Ithaca et al. 1991. Majnaric´, Stanko: ,Kulturna misija televizije‘, in: STUDIO 1965/47, S. 26. Majnaric´, Stanko: ,O jeziku na televiziji‘, in: STUDIO 1965/42, S. 26. Majnaric´, Stanko: ,Spikeri i knjizevni jezik‘, in: STUDIO 1965/45, S. 27. Malcolm, Noel: Geschichte Bosniens. Frankfurt/M. 1996. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Düsseldorf/Wien 1968. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. New York et al. 1964. Murasˇov, Jurij: ,TV and the End of Grammar-based Politics. Tud¯man and Izetbegovic´‘, in: Zimmermann, Tanja (Hg.): Balkan Memories. Media Constructions of National and Transnational History. Bielefeld 2012, S. 227 – 231. Ong, Walter: Oralität und Literarität. Die Technolisierung des Wortes. Opladen 1987. Pirc, Bosˇtjan: ,Televizija i drusˇtvo‘, in: STUDIO 1968/245, S. 23. Ricker-Abderhalden, Judith: ,Mundart oder Schriftsprache? Von den Sprachschwierigkeiten in der deutschen Schweiz‘, in: DIE UNTERRICHTSPRAXIS 1986/2, S. 162 – 177. Robinson, Gertrude: Tito’s Maverick Media. The Politics of Mass Communications in Yugoslavia. Urbana/Chicago/London 1977. Slapsˇak, Svetlana: ,What are Women Made of ?‘, in: Brinker-Gabler, Gisela / Smith, Sidonie (Hg.): Writing New Identities. Gender, Nation, and Immigration in Contemporary Europe. Minneapolis et al. 1997, S. 358 – 373. Surutka, Branislav : ,Govor spikera‘, in: STUDIO 1965/44, S. 27. Studio: televizija, estrada, sport, film. Zagreb 1964 – 1998. Vucˇetic´, Veljko: ,Sˇto je autenticˇna TV?‘, in: STUDIO 1965/79, S. 10. Zlobicki, Branko: Radio televizija Sarajevo 1945 – 1975. Sarajevo 1976. Zˇanic´, Ivo: Flag on the Mountain. A Political Anthropology of the War in Croatia and Bosnia-Herzegowina 1990 – 1995. London 2007.

Davor Beganovic´ (Konstanz/Tübingen)

Bedrückende Brüderlichkeit. Drastische Körperbilder in Mirko Kovacˇs Gubilisˇte

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich in der jugoslawischen Gesellschaft die Ideologie der „Brüderlichkeit und Einheit“ als maßgebende beziehungsweise maßgebliche Ideologie etabliert, mit der man versuchte, die katastrophalen Folgen des Bürgerkrieges zu beseitigen. Diese revolutionäre Ideologie, die bereits in der Zeit der Französischen Revolution angesetzt hatte und in zahlreichen späteren Bewegungen fortgesetzt worden war, fand in ihr eine Weiterführung. In diesem Sinne wurde die Brüderlichkeit zu einem politischen Modell, mithilfe dessen – unter dem Deckmantel der allgemeinen Inklusion – immer ausgeklügeltere Strategien der Exklusion entwickelt wurden. Als regulative Idee des Politischen vermittelte sie zwischen den Polen der universalen Inklusion auf der einen und dem Partikularismus einer Abstammungs- oder Gesinnungsgemeinschaft auf der anderen Seite. Die Polarität zwischen universaler Brüderlichkeit und lokaler, abgeschlossener Bruderschaft kennzeichnete schon den christlichen Begriff der Brüderlichkeit. Beide Extreme manifestierten sich auch während der Französischen Revolution, als gerade der Anspruch auf Universalisierung schließlich zum Ausschluss immer größerer Gruppen der Bevölkerung aus der allgemeiner Verbrüderung führte: Während man von der ,grenzenlosen Stadt Philadelphia‘ träumte, in der alle Menschen eine einzige Familie bilden sollten, begann man mit der sukzessiven Ausmerzung derer, die sich dieser universalen Eintracht nicht fügen wollten oder konnten – zuerst des Königs, dann der Aristokratie und schließlich einer bunten Reihe von Menschen, die die Ideale der Revolution nicht teilten.1 Im Folgenden wird versucht, diese doppelte Einschließungs- und Ausschließungsstrategie der Brüderlichkeit am Beispiel des Romans Gubilisˇte (Schafott, 1962) von Mirko Kovacˇ zu verfolgen und ihn in den Kontext der jugoslawischen sozialistischen Revolution zu stellen.

1 Koschorke, Albrecht et al.: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/M. 2007, S. 282 f.

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Gubilisˇte war der erste Roman des jugoslawischen Autors. Unmittelbar nach der Veröffentlichung wurde er Gegenstand starker Kritik seitens dogmatischer Literaturkritiker und lokaler Behörden, die das düstere Bild, in welchem ihre Gegend dargestellt wurde, beklagten und den Roman sogar verbieten wollten.2 Vom grundsätzlich wohlgesinnten Publikum wurde Gubilisˇte zwar positiv, wenn auch nicht mit überbordender Begeisterung aufgenommen.3 Der Tenor der kritischen Stimmen bezog sich meistens auf das Talent des jungen Autors, der noch vor seiner vollen Entwicklung stehe. Wenn man den Autor heute in einen breiteren Kontext der jugoslawischen Literatur und Kultur der 1960er Jahre stellt, kann man in ihm den Wegbereiter eines neuen Stils sehen. In seinem Roman antizipiert Kovacˇ zugleich einen existentialistischen und einen karnevalesken Stil, die zur Dominante der jugoslawischen Literatur avancieren werden. Gerade diese beiden Modi, so die These, spielen in Hinsicht auf die Problematik der „Brüderlichkeit und Einheit“ eine zentrale Rolle. Mit Kovacˇs Erstlingsroman wurden grundlegende Elemente der spezifischjugoslawischen Variante des Existenzialismus geprägt, in der sich eine starke Rezeption von Sartres fiktionalen Werken bemerkbar machte.4 Vor allem Der Ekel war ein zentraler Text für die jugoslawischen literarischen Existentialisten, wobei Gubilisˇte einen entscheidenden Schritt in Richtung Emanzipation vom 2 In einer für die Kulturpolitik des sozialistischen Jugoslawien typischen Aktion wurde das Buch zuerst von der Jugendorganisation aus Mostar, dem regionalen Zentrum Herzegowinas, als feindlich angegriffen: Das Buch verbreite Unwahrheiten über das Land, in ihm könne man reale Personen, vor allem politische Würdenträger, erkennen. Es sei feindlich gegenüber den Errungenschaften des antifaschistischen Kampfes und der sozialistischen Revolution usw. gesinnt. Dieser übliche Tenor der Angriffe wurde von der Hauptstadtpresse (Svet, Komunist) aufgegriffen. Besonders radikal waren die Artikel, die im Komunist (geschrieben von Dusˇan Bogavac) erschienen, im Svet hingegen kam es zu einer Diskussion, in der auch die Unterstützer Kovacˇs durch Leserbriefe zu Wort kommen durften. Kovacˇ selber hat über 40 Jahre später darüber in seinem Text (Ne)prilagod¯en ((Un-)angepasst) geschrieben, der zuerst 2004 in Sarajevske sveske und später in dem Buch Pisanje i nostalgija (2008) veröffentlicht wurde. Ausführlicher zur ganzen Affäre vgl. Ilic´, Sasˇa: ,Mirko Kovacˇs Gubilisˇte. Literarische Subversion und die politische Antwort‘, in: Richter, Angela / Barbara Beyer (Hg.): Geschichte (ge-) brauchen. Literatur und Geschichtskultur im Staatssozialismus. Jugoslawien und Bulgarien. Berlin 2006, S. 361 – 372. 3 Positiv haben über das Buch unter anderen Muharem Pervic´ (Politika), Milan Vlajcˇic´ (Delo), Pavle Zoric´ (Svet) und Dusˇan Puvacˇic´ (Knjizˇevne novine) geschrieben. 4 Der einflussreichste Text Sartres in diesem Kontext ist der Roman La naus¦e der 1952 von Tin Ujevic´ ins Kroatische übersetzt wurde. Les Chemins de la libert¦ ist 1958 in Belgrad in der Übersetzung von Bozˇidar Markovic´ erschienen. Le Mur wurde im selben Jahr in Zagreb (Übersetzung Jerka Belan und Iva Adum) veröffentlicht. Das Opus magnum von Sartres existentialistischer Philosophie, L’Þtre et le n¦ant, erschien erst 1983 in Belgrad, in der Übersetzung von Milorad Zurovac. Am Rande sei bemerkt, dass auch Camus in der unmittelbaren Nachkriegszeit sehr stark rezipiert wurde. L’¦tranger (1951), La peste (1951) und La chute (1958) wurden zeitnah zum Erscheinen des Originals ins Serbische bzw. Kroatische übersetzt.

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französischen Vorbild beschritten hat. Er vermittelt den Eindruck der Authentizität und eine kritische Position gegenüber den Machtstrukturen. Daher verwundert es wenig, dass die Ideologen in Gubilisˇte sofort einen ,feindlichen‘ Roman erkannt haben. Die Hauptfiguren – Vater und Sohn, der erste ein heiliger Narr (russ. jurodivyj), der zweite ein Krimineller – werden aus der Gemeinschaft der Gleichgesinnten ausgestoßenen. Sie befinden sich auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt, doch diese erweist sich als erfolglos. Auch unterschiedliche Brüderschaften, durch ihre Religionszugehörigkeit gekennzeichnet, schmieden untereinander nur solange Allianzen, wie ein gemeinsamer Feind vorhanden ist. Sobald dieser neutralisiert wird, werden auch sie abgelöst. In diesem Sinne ist Gubilisˇte ein Erzähltext, der von der Affinität seines Autors zu brisanten politischen Themen zeugt. Seine Poetik positioniert sich ,ketzerisch‘ gegenüber den ,hagiografischen‘ Inhalten des jugoslawischen Sozialismus. Auch in den späteren Romanen, wie Meine Schwester Elida (Moja sestra Elida, 1965), Die Biografie von Malvina Trifkovic´ (Zˇivotopis Malvine Trifkovic´, 1971) und Die Tür der Eingeweide (Vrata od utrobe, 1978), steht der Mythos der serbokroatischen Brüderlichkeit bzw. seine Destruktion im Vordergrund. Der Autor befasst sich mit dem polarisierenden Thema auch unabhängig vom konkreten historischen Kontext, indem er die reale Welt des Zweiten Weltkriegs in die kaum erkennbare, dystopisch veränderte Landschaft Herzegowinas transformiert. Das Mythologische der „Brüderlichkeit und Einheit“ artikuliert sich im Roman auf zweifache Weise. Einerseits ist es als Zeichen einer multikulturellen Vermischung von traditionellen bzw. traditionsgeprägten Elementen des archaischen Zusammenlebens auf dem Territorium Herzegowinas zu lesen. Andererseits werden die Momente des Multikulturalismus in einen neuen, sozialistischen Kontext gestellt, in dem das Autochthone wiederum getilgt und in die jugoslawische Mythologie der „Brüderlichkeit und Einheit“ übersetzt wird. Als ein Versuch, die Folgen des Bürgerkriegs zu überschreiben, ist „Brüderlichkeit und Einheit“ ein Erzeugnis der kommunistischen Ideologie. Diese zielt auf eine Aufhebung von Differenzen einerseits und auf die Produktion von Gemeinsamkeiten andererseits ab – besonders dort, wo diese nicht vorhanden sind. Kovacˇ erkennt die Künstlichkeit und Schwachstellen dieser Ideologie und parodiert sie, indem er ihnen die Kraft anderer, vor allem christlicher und magischer Mythologeme entgegensetzt. Vor allem die religiösen Symbole und die Schlange als ambivalente Gestalt der Vernichtung und der Heilung, der Verführung und der Weisheit,5 unterlaufen die offiziell zugelassenen sozialistischen 5 Zum doppelsinnigen Symbol der Schlange vgl.: Warburg, Aby : Das Schlangenritual. Ein Reisebericht. Berlin 1988; Chevalier, Jean / Gheerbrant, Alain (Hg.): Rjecˇnik simbola. Zagreb 1983, S. 503 f.

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Embleme. Das im Roman beschriebene Ritual der Brüderlichkeit rückt dadurch in die Nähe der politischen Theologie. Der autodiegetische Erzähler des Romans, der Sohn, ist ein Gefangener. Man erfährt nicht, was der Grund für seine Gefangenschaft ist. Er soll für kurze Zeit entlassen werden, um an der Beerdigung seines Vaters teilzunehmen. Der Roman, der kaum ein Sujet vorzuweisen hat, berichtet von dieser Reise, rekonstruiert aber gleichzeitig in vielen Analepsen die Familiengeschichte des Erzählers. Die Blicke in die Vergangenheit bleiben weitgehend fragmentarisch. Es wird nicht versucht, sie in eine kausale Erzählstruktur einzubinden. Neben diesem gebrochenen Erzählstrang fügt Kovacˇ noch zahlreiche andere Verzweigungen ein, die den Charakter des Phantastischen aufweisen. Im Roman wird nicht psychologisiert, man erkennt keinen Versuch der Darstellung des inneren Lebens der Figuren. Innere Monologe fehlen genauso wie ein „stream of consciousness“, auch die erlebte Rede wird nicht verwendet. Es gibt keine Kausalität und auch die Beziehungen zwischen den Figuren werden im Unklaren gehalten. Die radikale Ablehnung des kohärenten Erzählens knüpft an die existentialistische Poetik an, wobei Kovacˇ zusätzlich die politische Botschaft in den Vordergrund rückt. Während der Erzähler im Zug sitzend zur Beerdigung seines Vaters fährt, trifft er auf eine bunte Gesellschaft, die als Zeichen der Multikulturalität Herzegowinas gelesen werden kann. Der Meinungsaustausch zwischen den Reisenden verläuft allerdings nicht besonders freundlich. Wieder sind die alten Animositäten im Spiel, die durch die offizielle Rhetorik der „Brüderlichkeit und Einheit“ nur verdeckt wurden. Der Roman ist in fünf Kapitel aufgeteilt. Jedes Kapitel hat als Motto ein Zitat aus der Bibel.6 Drei kommen aus der Apokalypse, jeweils eines aus dem Buch Joshua und dem Lukas-Evangelium. Auch diese intertextuellen Verweise zeugen 6 Jasmina Ahmetagic´ hat sich ausführlich mit dem biblischen Hintergrund von Gubilisˇte beschäftigt. Sie hat die Parallelen anhand unterschiedlicher biblischer Prophetenbücher beleuchtet und darauf hingewiesen, dass der Vater die Züge von vielen Propheten trägt, aber zugleich intertextuell mit ihnen korreliert. Ihre Interpretation hat sich allerdings auf gewisse Momente von Kovacˇs Roman konzentriert, die sie als anthropologisch bezeichnet. Darunter versteht sie eher ein metaphysisches Weltbild, das vor allem das Böse im Menschen darstellen will. In dieser Hinsicht greift Jasmina Ahmetagic´ meines Erachtens zu kurz. „So sind die biblischen Allusionen gleichzeitig Hilfsmittel der Charakterisierung, weil sie auch in der Art ihrer Anrufung, Benutzung und des Verstehens, die Mentalität der herzegowinischen Bevölkerung zeigen. Nur derjenige, der von Boshaftigkeit und Hass erfüllt ist, kann glauben, dass auch Gott alles hasst, was irdisch ist und solche Aussagen über Gott sind nur ein zusätzliches Mittel zur Charakterisierung der Helden.“ (Ahmetagic´, Jasmina: Dazˇd od zˇivoga ˇ itanje s biblijom u ruci. Proza Danila Kisˇa i Mirka Kovacˇa. Beograd 2007, S. 100 f.) ugljevlja. C Diese Interpretation schränkt die breite Perspektive des Romans auf nur eine seiner Komponenten – das Herzegowinische – ein. Gerade die existentialistische Perspektive hilft, ihn aus dieser Verengung herauszuführen und ihm eine globalisierende und universelle Komponente beizumessen.

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von einer Affiliation der Prosa Kovacˇs an das Biblisch-Mythologische. Allerdings sind diese mythischen Strukturen im Roman ungleichmäßig verteilt. Sie konzentrieren sich vor allem in jenen Kapiteln, in welchen der Vater, ein heiliger Narr, eine zentrale Rolle spielt. Des Weiteren sind sie in den letzten Kapiteln des Romans zu finden, in denen der Sohn als Rückkehrer aus dem Gefängnis zusammen mit der Schlange in den Mittelpunkt rückt. Während in den existentialistischen Teilen des Romans das Biblisch-Mythologische kaum oder nur latent vorkommt, tritt es in den phantastisch-karnevalesken Teilen stark in den Vordergrund. Das letzte Kapitel des Romans zeigt eine Synthese der im Roman vorherrschenden Erzählstruktur, in welcher sich der Existentialismus und der Karneval im Dialog miteinander vermischen. Die prophetische und zugleich narrenhafte Aktivität des Vaters hat den Grund in seiner Ablehnung der alltäglichen Existenz: „Er wurde nicht von Oben inspiriert, sondern nur angeekelt vom Diesseitigen. Alles quoll daraus hervor!“7 Obwohl ein ,Oben‘ als Inspirationsquelle für seine Prophezeiungen besteht, werden seine Kräfte vor allem durch ein ,Unten‘ angetrieben, durch den Ekel gegenüber der existierenden Welt, die er verändern will. Doch seine Versuche werden entweder abgelehnt oder als Zeichen der Verrücktheit gedeutet. Das Jenseits gestaltet sich als eine Welt der echten Verbrüderung, wo sich ideale Beziehungen zwischen ,verbrüderten Seelen‘ herstellen lassen. Dort wird auch eine Verbindung zwischen Vater und Sohn geknüpft. Der Moment, in dem sich die Frage nach dem Sinn der weltlichen Existenz stellt, bildet den Initialpunkt, an dem sich die beiden Figuren einander zuerst nähern, um dann nur umso gewaltiger durch den Tod voneinander getrennt zu werden. Während der Vater eines ungeklärten Todes stirbt, wird der Sohn wie Laokoon von der Schlange gebissen und erwürgt. Schneller als kurz zuvor näherte sich die Schlange in einem umherirrenden Gang und erhob sich, als ob ihr in den Schwanz gestochen worden wäre. Hinter ihr blieb im Staub eine schlangenartige Bahn sichtbar. Elastisch warf sie sich von der Erde hoch und nach dem ersten Biss wand sie sich um meinen Hals. Ich fing an zu kotzen und dann merkte ich, wie meine Hände anschwollen; im Nu waren sie in verformte, blaue und unnatürliche Glieder aufgedunsen. Die Schlange zog sich um mich zusammen und ließ dann nach; diese Lust wiederholte sich mehrmals. Aus allen meinen Öffnungen quoll Flüssigkeit. Alles kehrt auf die Platte für Antidoros zurück; Weizen, Brot, Wein, Öl, alles.8 7 Kovacˇ, Mirko: Gubilisˇte. Preured¯eno izdanje. Zagreb 2003, S. 17. „On nije bio nadahnut ozgo, vec´ samo zgad¯en ovim ovdje. Iz toga je sve izviralo!“ 8 Ebd., S. 160. „Zmija, hitrije no malocˇas, vrludavim hodom, prid¯e i odizˇe se gotovo pobodena na rep. Iza nje je u prasˇini ostala zmijolika putanja. Gipko se odbaci od zemlje i nakon prvog ugriza omota se oko mog vrata. Pocˇeh bljuvati, a onda spazih i kako mi otjecˇu ruke; zacˇas su nabrekle u izoblicˇene, modre i neprirodne udove. Zmija me stegne, pa popusti; ta se naslada

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Als wäre er durch eine mystische Mühle gegangen, erlebt der Erzähler unterschiedliche Empfindungen: Nach dem Schlangenbiss überwältigt ihn zuerst der Schmerz, der sich dann in ein erotisches Erlebnis, eine „naslada“ (Lust), und schließlich in eine religiöse Erfahrung verwandelt. Während die Religiosität bis dahin nur in Verbindung mit dem Vater vorkam, gerät nun auch der existenzialistische, der Religion gegenüber indifferente Sohn in eine dreifache Konstellation von Eros, Tod und Gott, die sich zu einer merkwürdigen Mischung aus Liebe, Schmerz und Glaube entfaltet. Alle Substanzen, die aus dem Sohn herausfließen, kehren auf einem Servierteller zurück, der im orthodoxen Ritual zum Anreichen der Kommunion9 dient. Die Erfahrung des Todes gleicht somit der orthodoxen Eucharistie. Durch die liturgische Metaphorik des Todes wird der Sohn in die Nähe des Vaters gerückt. Dem Vater sind vier Kapitel gewidmet. Alle tragen Titel, die durch ihre biblische Konnotationen auf eine religiöse Sphäre hinweisen: „Erniedrigung des Propheten“ (Ponizˇavanje proroka), „Prozession“ (Procesija), „Predigt“ (Propovijed) und „Vermächtnis“ (Oporuka). Das erste der vier genannten Kapitel wird durch ein gleichnamiges Bild eingeführt, das der Erzähler in der Gastwirtschaft „Galerija“ betrachtet. Ich stieß auf das Bild Die Erniedrigung des Propheten, ein sehr beschwerliches Bild, das mich traurig machte. Dieser Prophet in der Kleidung eines armen Mannes, mit einsiedlerischem Aussehen und langem Gesicht, das ist mein Vater. Da ist seine Gestalt, das sind seine Gesichtszüge. Die Ruhe wurde ihm von der geschickten Hand des Malers gegeben, und zwar in dem Moment, in welchem er aus der Kirche vertrieben wurde. Der Amtsdiener nahm das mit sechs Figuren am Fuß beschlagene Kreuz und nahm den Weg um die Prophezeiungen zu machen. Er lief an Dorfwegen, von der Obrigkeit verfolgt, aber seinem Handwerk gewidmet.10

Der abgebildete Prophet verschmilzt mit dem Vater. Die Darstellung der Erniedrigung regt den Sohn zu Gedanken über die Wege an, die dieser nach dem Austreten aus der Kirche beschritten hat. Seine Position als „podvornik“ (Amtsdiener) innerhalb der kirchlichen Hierarchie war sehr niedrig, so dass ponavlja u visˇe mahova. Kroz sve moje otvore probija tekuc´ina. Sve se vrac´a na pladanj za antidor : psˇenica, kruh, vino, ulje, sve.“ 9 „Antidor“, gr. Antidoron mit der Bedeutung „Anstelle der Belohnung“, bezeichnet die gesegneten, aber nicht geweihten Stückchen des Brotes (das geweihte Brot heißt „Prosphora“), das am Ende der heiligen Messe an die Gläubigen verteilt wird. Da das „Antidoron“ nicht geweiht ist, werden die bei der Messe anwesende Nichtorthodoxe explizit aufgefordert, es zu sich zu nehmen. 10 Kovacˇ 2003, S. 28 ff. „Naid¯oh na sliku Ponizˇavanje proroka, basˇ tegobnu sliku koja me je ozˇalostila. Taj prorok u odjec´i siromaha, isposnicˇkog izgleda i protegljastog lica, to je moj otac. To je njegov lik, to su njegove crte. Mir mu je podarila vjesˇta ruka slikara, i to u cˇasu kad je otjeran iz crkve. Podvornik je uzeo krizˇ okovan sa sˇest figura na stopi i uputio se da proricˇe. Hodio je seoskim putevima, proganjan od vlasti, ali posvec´en svom zanatu.“

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seine Exkommunikation den Machtstrukturen kein großes Problem bereitete. Nicht nur die kirchliche Gewalt ist hinter ihm her, auch die weltlichen Ordnungshüter sind mit seinem „Handwerk“, den Weissagungen, nicht zufrieden.11 Die Beschreibung, die im letzten Moment von der Ekphrasis abrückt, wird in den folgenden vier Kapiteln durch den Bericht ersetzt. Diese Strategie ermöglicht dem Erzähler, die Figur des Vaters emotional neutral zu gestalten. Der Sohn dient dem Vater als eine Art Helfer in seinen Unternehmungen, die immer bestrebt sind, die Autorität der orthodoxen Kirche in Frage zu stellen. Die subversive Aktion, die Störung des Gottesdienstes, wird im Beisein des Sohnes ausgeführt. Dieser ist dabei eher Betrachter oder Zeuge als aktiver Teilnehmer des Geschehens: Während des Taufgangs rund um den Tempel wurden die Diakone durch Choristen ersetzt. Der Vater war unter ihnen, er hielt das Buch für den Erzpriester. Nach dem Einzug in den Tempel und dem Gesang von Tropar, küssten die Gläubigen das Kreuz in der Hand des Erzpriesters und in der neugeweihten Kirche erhob sich der Vater, schritt nach vorne und sagte: „Anstatt des Duftes wird Gestank sein, anstatt der Zügel Ungezügeltheit, anstatt des Zopfes die Glatze, anstatt breiter Säume der umgürtete Sack, anstatt der Schönheit Verbranntes, anstatt Gottes der Teufel!“ Sie griffen ihn an und der Erzpriester schlug ihn mit dem Kreuz auf den Mund. Der Vater fiel, blutüberströmt, aber ohne Last und beruhigt. Er hatte das ausgesprochen, was ihn bedrückte. Manche spuckten auf ihn, schauten ihn mürrisch an, als ob er Satan wäre. Sie besprengten ihn mit Weihwasser, um die Unreinheit von ihm zu waschen.12

Es handelt sich um den Augenblick der Offenbarung des Vaters, worauf auch das Motto hinweist: „und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle“.13 Seine Vision ist binär aufgebaut: Sie entwirft ein Weltbild, das auf extremen Gegensätzen beruht. Sein gnostisches Weltbild ist nicht von Gott, sondern vom Teufel bestimmt.14 Alles Wertvolle wird in seinen Gegensatz verkehrt: Anstelle von Schönheit tritt Hässlichkeit, Kleidung wird durch Säcke ersetzt. Der neue Prophet15 treibt die Ästhetik des Hässlichen mit seinem eigenen Beispiel voran – er 11 Weissagen wird vom Erzähler als „zanat“, d. h. als Handwerk bezeichnet. 12 „Pri krsnom hodu oko hrama d¯akone su zamjenjivali pojci. Otac je bio med¯u njima, drzˇao je knjigu nacˇalstvujuc´em. Poslije ulaska u hram i pojanja tropara, vjernici su cjelivali krizˇ u nacˇalnikovoj ruci, a u novoposvec´enom hramu otac je krocˇio ispred svih, uzdigao se i rekao: „Mjesto mirisa bic´e smrad, mjesto pojasa raspojasina, mjesto pletenice c´ela, mjesto sˇirokih skuta pripasana vrec´a, mjesto ljepote ogorjelina, mjesto Boga d¯avo! Nasrnusˇe na nj, a nacˇalstvujuc´i ga mlatnu krizˇem preko zuba. Otac je pao, okrvavljen, ali rasterec´en i smiren. Izustio je to sˇto ga je tisˇtalo. Neki su pljuvali na nj, gledali ga namrgod¯eno kao sotonu. Sˇkropili su ga svetom vodom da speru necˇistoc´u s njega.“ (S. 34 ff.) 13 Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Offenbarung 1, 18. Stuttgart 1985. 14 Zur gnostischen Weltanschauung vgl.: Stoyanov, Juri: The Other God: Dualist Religions from Antiquity to the Cathar Heresy. Yale 2000. 15 Eine Konzentration auf das Prophetische verhindert, dass Ahmetagic´ die Rolle des Apokalyptischen in Gubilisˇte erkennt. Auch deshalb ist die Dichotomie zwischen Gut und Böse für

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ist derjenige, der die verkehrte Welt als karnevalesker Narr in Christo repräsentiert.16 Am Beispiel des russischen Altgläubigen Avvakum analysiert Renate Lachmann das Entstehen einer karnevalesken Gegenkultur als Opposition zur kanonischen Regelkultur, die vom heiligen Narren (jurodivyj) herausgefordert wird: „Texte, die gegen die Legitimität beanspruchende Regelinventare, gegen das geltende Sprachverständnis gerichtet sind, bedienen sich der dialogischen Potenz der Sprache, um ambivalente Bedeutungsstrukturen aufzubauen.“17 Der Vater, der rechtgläubige Rituale stört, repräsentiert eine solche Gegenkultur. Obwohl sich seine Lage als Ausgestoßener zunehmend zuspitzt, bekommt er dennoch auch Wegbegleiter bzw. Menschen, die seinen Prophezeiungen zumindest Aufmerksamkeit widmen. Damit stellt Kovacˇs Herzegowina als ein multikulturelles Land, in dem trotz „Brüderlichkeit und Einheit“ unterschiedliche Zugehörigkeiten erhalten geblieben sind, dar. Die Prozession wurde von einem orthodoxen Priester angeführt, aber in ihr befanden sich auch Menschen anderer Religionen, unter ihnen vor allem Muslime. Vater kannte viele von ihren Bräuchen und gelegentlich trug er islamische Amulette, die ihn vor Feuer schützen sollten, weil er als Kind schmerzhafte Sonnenverbrennungen erlitt. Das Buch, das er in der Tasche trug, nannte er kitab. In seiner Kindheit hatte er zusammen mit dem Hodzˇa kleine Amulette aus Hagedornholz in Form eines Kreuzes hergestellt, auf welchen sich die Inschrift masˇallah befand.18

Der Prophet akzeptiert und toleriert nicht nur die fremde Religion, sondern macht sie sogar zur Maxime seines Handelns. Die muslimischen „zapisi“ (Schriftstücke, die Teile des Volksglaubens in allen drei bosnisch-herzegowinischen Religionsgruppen geworden sind) erhalten durch eine Vorgeschichte aus der Kindheit eine symbolische, zukunftsweisende Dimension: Als Kind hat der Vater zusammen mit dem „hodzˇa“ Kreuze aus Hagedornholz geschnitzt, die als bekanntes Mittel gegen Vampire eingesetzt werden.

sie nicht sichtbar. Sie bleibt ausschließlich der Ebene des anthropologisch determinierten Bösen, das sich in den prophetisch klingenden Worten der Figuren ausmachen lässt, verpflichtet und ignoriert die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit, des Neuanfangs, die in der Apokalypse unmöglich zu übersehen ist. Vgl. Ahmetagic´ a.a.O., S. 105 f. 16 Lachmann, Renate: ,Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis‘, in: Von Moos, Peter (Hg.): Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 379 – 410. 17 Lachmann 1994, S. 49. 18 Kovacˇ 2003, S. 38. „Povorku su predvodili pravoslavni popovi, ali u njoj bijahu i ljudi drugih vjera, med¯u njima ponajvisˇe muslimana. Otac je poznavao mnoge njihove obicˇaje, a pokatkad je nosio islamske hamajlije da ga sˇtite od vatre, jer je kao dijete zadobio bolne opekline od sunca. Knjigu koju je nosio u torbi zvao je c´itap. U djetinjstvu je s hodzˇom izrad¯ivao male krizˇeve-hamajlije od glogova drva s napisom: masˇallah.“

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Die Komplexität dieser interreligiösen Beziehung steigert sich zu einem späteren Zeitpunkt, als der Prophet zum Abtrünnigen erklärt wird. Hilfe kommt von einer auf den ersten Blick unerwarteten Seite: Der Vater wurde von einem Hafiz gerettet, einem entschlossenen jungen Mann mit einsiedlerischem Gesicht. Er verhinderte, dass der Mob meinen Vater lynchte. Mild und vernünftig sprach er viele gelehrte Worte, er beruhigte die Leidenschaften und zwang sie, ihn zu hören. Und der Hafiz sagte: ,Falls ihr denkt, dass dieser Mann der Teufel oder ˇsejtan wäre, dann werde ich euch sagen: Von uns allen hängt es ab, ob er ein Teufel ist oder nicht. Weil ˇsejtan über keine Macht denen gegenüber verfügt, die glauben, die sich auf ihren Herrgott stützen. Sˇejtan hat nur Macht über diejenigen, die mit ihm befreundet sind. Und mit diesem Menschen ist niemand befreundet. Habt Angst vor euch und nicht vor ihm!‘19 (Hervorhebung i. O.)

Die Rettung durch einen muslimischen Geistlichen weist auf die Porosität der Grenzen zwischen den Religionsgemeinschaften hin. Es kommt zu einer Mischung, die sowohl auf der offiziellen als auch auf der inoffiziellen, „schwarzen“ Seite des Glaubens, entsteht. In seiner gnomischen Rede verschiebt der „hafiz“ die Verantwortung für das Böse auf die Gemeinde der Verfolger. Die Gefahr sieht er nicht im ausgestoßenen Individuum, sondern vielmehr in der Gleichschaltung des Kollektivs. Auch diejenigen, die den Vater schlagen bzw. sogar töten wollen, gehören nicht nur der orthodoxen Religionsgruppe an, sondern auch der islamischen. Ihre Gemeinschaft entsteht im Hass gegen den Ausgeschlossenen, den Sündenbock. Die Spaltung erfolgt nicht entlang der wahren bzw. der falschen Religion. Vielmehr ist sie an der Trennlinie zwischen den häretischen, rebellierenden Ansichten des Propheten und den zähmenden, der Liturgie treuen Riten der Vertreter der offiziellen Macht angesiedelt. Der „hafiz“ fungiert in dieser Konstellation als ohnmächtiger Beschützer des Propheten und als zum Scheitern verurteilter Mittler zwischen zwei Welten, die sich einander nicht annähern können. Trotzdem kann man im Verhältnis des „hafiz“ zum Vater eine multikulturelle Symbiose entdecken, die aus tiefen Schichten der Gemeinschaft schöpft. Diese Geste der Brüderlichkeit, die auf gemeinsamen Werten beruht, greift tiefer als die der Ideologie, die sich auf oberflächliche Ähnlichkeiten stützt. Die Prozession, welcher auch der Vater letztendlich (durch die Hilfe von „hafiz“) als geduldeter Teilnehmer folgt, zieht weiter. Anwesend sind Vertreter aller Religionsgemeinschaften: 19 Kovacˇ 2003, S. 40. „Oca je spasio jedan hafiz, odrjesˇit i mlad cˇovjek isposnicˇkog lika. On je sprijecˇio svjetinu da lincˇuje moga oca. Blago i razumno izustio je mnogo ucˇenih rijecˇi, smirio je strasti i primorao ih da ga saslusˇaju. A hafiz je rekao: „Ako mislite da je ovaj cˇovjek d¯avo ili sˇejtan, onda c´u vam rec´i: od svih nas zavisi je li d¯avo ili nije. Jer ˇsejtan nema nikakve vlasti nad onima koji vjeruju, koji se na Gospoda svoga oslanjaju. Sˇejtan ima vlasti samo nad onima koji s njim prijateljuju. A s ovim cˇovjekom niko nije prijatelj. Bojte se sebe, a ne njega.“

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Die Prozession hielt an, darauf wartend dass die religiösen Menschen eine Entscheidung treffen werden, wo sie hingehen und welchen Weg sie nehmen sollten. Hafiz war überzeugt, dass der Weg sich zeigen wird und dass das vor Urzeiten schon passiert ist. Der Diakon schwieg und hielt drei Finger über die Stirn. Der Pfarrer zählte die Perlen des Rosenkranzes ab und bewegte die Lippen. Als einziger hatte er Angst, dass auch der Weg, den sie einschlugen, verschwinden könnte. Er sprach die Worte des Herren: Meine Wege sind nicht Eure Wege. (Hervorhebung i. O.)20

Das offensichtliche Ziel der Prozession ist die Rettung vor dem drohenden Kataklysmus. Die Sonne steht in der Mitte des Himmels, will sich nicht bewegen und bringt nur entsetzliche Hitze mit sich und das damit verbundene Leiden.21 Die vorläufig hergestellte Balance zwischen den entgegengesetzten Kräften ist von kurzer Dauer. Der Diakon hetzt die Menge auf den Propheten, der dann zusammengeschlagen am Rande der Straße alleine zurück bleibt. Auch seine letzten Worte deuten auf die Gewissheit hin, dass er sich für den Rest der Menschheit geopfert hat: „Ich opfere mich und leide für Sie!“22 Die Niederlage des Vaters im ungleichen Kampf war vorgeschrieben. Als karnevaleske Figur ist er von jeher unbeständig. Doch sein ernsthaftes Opfer wirft die Frage auf, inwieweit er noch dem Karneval zuzuordnen ist. Renate Lachmann beschreibt die Transformation des heiligen Narren in einen Heiligen, die in Gubilisˇte auch für den Vater zutrifft. Wenn die Menge (städtisches Publikum) einen Jurodivyj mit seinem paradoxen Gebären akzeptiert, mit seinem Wirken unerklärliche Geschehnisse in Verbindung bringt und diese zu Wundern erklärt, wird seine Selbstverleugnung durch die Zuweisung der Identität ,Wundertäter‘ (cˇudotvorec) und ,Heiliger‘ (svjatoj) quasi zurückgewiesen. Um dem entgegenzuwirken, betreibt er eine zweite Verstellung: Die gewählte neue ,Identität‘ ist demnach gespalten in die simulierte närrische, provokative ,sündhafte‘ (zuweilen gefräßig, unkeusch, böse) und die echte, ,fromme‘.23

20 Ebd., S. 41. „Povorka je zastala dok vjerski ljudi ne odlucˇe kamo i kojim putom. Hafiz je bio uvjeren da c´e se put ukazati i da se to u davnim zemanima dogad¯alo. Öakon je sˇutio i drzˇao tri prsta na cˇelu. Zˇupnik je prebirao zrna krunice i micao usnama. On se jedini pribojavao da c´e nestati i put kojim su dosˇli. Izustio je Gospodinove rijecˇi: puti moji nisu vasˇi puti!“ 21 Diese Stelle des Erzähltextes ist auf zwei Ebenen genauer zu betrachten: 1. als symbolische Darstellung der aktuellen Handlung, wobei in der verkehrten Welt die Sonne nicht für die Fruchtbarkeit, sondern für die Zerstörung steht; 2. als realitätsnahe Darstellung der klimatologischen Eigenschaften von Ost-Herzegowina, das als Land des ewigen Sonnenscheins im kulturellen Gedächtnis eingeschrieben ist. Auch Zˇarko Paic´ weist auf diese Gespaltenheit Herzegowinas als ein ständiges Thema in Kovacˇs Werken hin. Er nennt die beiden Varianten des Landes „mythisch und wirklich“. Paic´, Zˇarko: ,Palimpsest prve ruke‘, in: KNJIZˇEVNA REPUBLIKA 2009/7 – 9, S. 62 – 66, hier S. 63. Die zerstörerische Kraft der Sonne, die einem Mord vorausgeht, könnte auch ein Verweis auf Camus’ Der Fremde sein. 22 Kovacˇ 2003, S. 42. „Zˇrtvujem se i trpim za sve vas!“ 23 Lachmann 2004, S. 402 f.

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Auf diese Art erhält der Leidende eine Dimension der Ernsthaftigkeit, die er nur durch seine permanente Wanderschaft zwischen verschiedenen Welten und Religionen wieder verstellen kann, um sich von keiner Ideologie vereinnahmen zu lassen. Das einzige, woran er glaubt (und was ihn von den offiziellen Religionen und Ideologien trennt), ist der Glaube an die ewige Wiederkehr. Deshalb schreibt der Prophet, der nun von dem Medium der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit wechselt, sein Vermächtnis. Dieses richtet sich sowohl an den Sohn als auch an die Gemeinschaft. Nach seinem Tod geöffnet, gibt das Dokument Einblicke in die Gedanken des Verstorbenen, aber auch in seine Zukunftsvisionen, deren Bestandteil der Sohn als sein Nachfolger und Erlöser ist: „Und mein Sohn, der Verbrecher, soll kommen und meinen Weg aus dem dunklen irdischen Leben in ein ewiges und besseres erleuchten.“24 Zwischen Vater und Sohn steht die Figur von Mojsije (Moses), der, wie sein alttestamentarischer Name sagt, Vertreter des Gesetzes ist. Er ist Träger einer höheren Ordnung, derjenigen des Patriarchats. Gleichzeitig ist er, als Onkel des Erzählers, mit diesem durch einen familiären Bund verknüpft. Durch die (geistige) Abwesenheit des Vaters erhält er eine wichtige Rolle im Rahmen der Familie. Die Dreiecksbeziehung zwischen Vater, Sohn und Onkel wird im Kapitel unter dem Titel „Erlöser“ (Izbavitelj) thematisiert. Der Onkel ist gegenüber dem Vater durch feste binäre Kategorien gekennzeichnet. Er figuriert als sein Gegensatz in allen lebensweltlichen Bereichen. Ihre Opposition entspricht der zwischen Orthodoxie und Heterodoxie. Mojsije ist derjenige, der den richtigen Glauben vertritt, und die Autorität des Vaters als falschen Sternendeuter und Bader herabsetzt. [M]ein Wohltäter Mojsije sprach spöttisch über ihn, nannte ihn einen Vagabunden und Wahrsager, der die Menschen betrügt… Mojsije war der erste, der meinen Vater einen Narr Gottes (jurodivi) und Flattergeist (vjedogonja) nannte: Das sind schwere Wörter. Jurodiv ist ein Abtrünniger und eine Person, die geisteskrank und rasend ist, in ihrer mystischen und religiösen Begeisterung und Verrücktheit. Und vjedogonja ist ein böses Biest, ein Dämon und Vampir, mit welchem man nicht reden durfte. Das war mein Vater keineswegs […] Falls mein Vater irgendwelche Makel hatte, waren sie tatsächlich bescheiden, sogar in Angelegenheiten, in welchen er sich flatterhaft benommen und als Vampir verkleidet hat, auf dem Dorffriedhof hüpfend. Das waren etliche seiner Schelmereien. (Hervorhebung i. O.)25 24 Kovacˇ 2003, S. 44. „A moj sin, prijestupnik, neka dod¯e i obasja mi svijec´om put iz mracˇnog zemaljskog zˇivota u vjecˇni i bolji.“ 25 Ebd., S. 19. „[M]oj dobrotvor Mojsije posprdno je o njemu govorio nazivajuc´i ga skitnicom i gataocem koji vara ljude… Mojsije je bio prvi koji ga je nazvao jurodivom i vjedogonjom: to su tesˇke rijecˇi. Jurodiv je otpadnik i osoba dusˇevno bolesna i mahnita u svojemu misticˇnom i vjerskom zanosu i ludilu. I vjedogonja je opaka zvijer, demon i vampir s kojim se ne bi smjelo razgovarati. To moj otac niposˇto nije bio […] Ako je moj otac imao kakve mane, onda su

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Der Kampf zwischen Orthodoxie und Heterodoxie wird auch um den Sohn geführt und der Vater scheint ihn zu gewinnen. Die Emotionslosigkeit und existentialistische Züge des Sohnes schlagen nach der Auseinandersetzung mit dem Vermächtnis des Vaters in Religiosität um. In dieser Konstellation ist die Rolle der Schlange, wie bereits erläutert wurde, von zentraler Bedeutung. Die Schlange erscheint schon am Anfang des Romans, wo sich ihre Symbolik in den Bildern des Malers Benjamin erst andeutet. Beschrieben wird das Motiv Die Schlangen hüten Georgius, das auf einer alten Legende über den Soldaten Georgius beruht. Dieser wurde auf die Schlangen geworfen, die ihn aber, statt zu beißen, sogar vor dem Henker beschützten. Man sagt, dass die berühmten Erzähler und Maler aus Gegenden kommen, die reich an Schlangen sind und das heißt, dass sie aus den Tiefen schöpfen, aus Spalten des Bewusstseins. Solche Künstler schöpfen aus der Finsternis, und alles, was von dort herausquillt, hat den Charakter und die Form der Schlange, und die muss man zähmen.26

Der Maler und der Erzähler werden in dieselbe Tradition des tellurischen Schreibens und Malens aus den Tiefen der Schlangenwelt gestellt. Der Erzähler verschmilzt die antike mythologische Geschichte mit der Region seiner Heimat, Bosnien und der Herzegowina, die dadurch zu einer mythischen Landschaft erhoben wird. Wann immer sich in mir im Wachzustand (oder im Traum oder in der Erinnerung) die Heimat meldet, immer denke ich an den Boden meines Geburtslands, das für schlangenartiges Kriechen bestimmt ist. Dazu noch ein Überfluss an Steinen, Ruinen, trockenem Gras und sengender Sonne; ein Überfluss an Steinen, gefüllt mit abgestandenem Wasser, Grundwasserquellen, Spalten und Schorf, und hohler Eichen. All das passt den Schlangen. Dagegen gibt es nur Eschen und Knoblauch und das ist nicht ausreichend. Dort kann man nicht ruhig im Gras liegen, wir scheuen uns, wenn der Wind bläst und durch diese Trockenheit flutet, wir springen eiligst auf, mit nur einem Gedanken: die Schlange.27

Die besondere Beziehung zwischen dem Sohn und der Schlange offenbart sich im Kapitel mit dem Titel „Schlange“ (Zmija). Im Roman, der sonst auf Illusdoista bile cˇedne, pa cˇak i u zgodama kad se vjetropirasto ponio i prerusˇio u vampira skakutajuc´i po seoskom groblju. To su neke njegove vragolije.“ 26 Ebd., S. 27. „Kazˇu da slavni pripovjedacˇi i slikari potjecˇu iz krajeva bogatim zmijama, a to znacˇi da crpe iz dubina, iz pukotina svijesti. Takvi umjetnici cˇupaju iz tmine, a sve ˇsto otuda izvire ima zmijski karakter i oblik, a to mora da se ukroti.“ 27 Ebd., S. 28. „Kad god mi se javi (u snu ili sjec´anju) zavicˇajni predio, uvijek pomislim kako je moje rodno tlo predodred¯eno za zmijoliko gmizanje. Otuda i obilje kamenja, rusˇevina, suhe trave i jarkog sunca; obilje kamenica s ustajalom vodom, ublova, sˇkripova, rapa i sˇuga, sˇupljih hrastovih stabala. Sve to zmijama pogoduje. Protiv njih su samo jasen i saransak (cˇesˇnjak), a to nije dovoljno. Tamo se ne mozˇe mirno lezˇati u travi, sˇtrecamo kad vjetar pirne i prostruji kroz tu suhoc´u, skacˇemo brzˇe-bolje s jednom jedinom misˇlju: zmija!“

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trationen verzichtet, ist an dieser Stelle eine Schlange in voller Pracht abgebildet, verschlungen, mit hochgehobenem Kopf, als ob sie zum Angriff bereit wäre. Der Erzähler trifft sie auf dem Feld, gleich nachdem er sich nach der Beerdigung des Vaters von Mojsije getrennt hat.28 Obwohl er von ihr verfolgt wird, wird immer deutlicher, dass sie ihn gar nicht einholen will. Die Verfolgung artet in eine Reise in die Unterwelt aus. Doch der Erzähler sieht hier von einer Reise in die Tiefe ab und entscheidet sich, sie nicht zu erforschen, da sich die Geheimnisse der Tiefe auch an der Oberfläche offenbaren. Die Reise in die Tiefe, die symbolisch auch für die Zeit steht, wird durch die Bewegung im Raum ersetzt. Kann es passieren, dass der Mensch während der Flucht vor Schlangen, wie ein Getriebener ganz Herzegowina und seine Geschichte durchquert? Das ist der einzige Weg, wie wir unsere Vergangenheit überblicken. Alle unsere Erkenntnisse sind auf der Flucht und in Panik entstanden. Und unsere Ruhe, falls wir sie haben, bei der Verfolgung. Unsere Krankheiten und alles andere in den unausgesprochenen und unmitteilbaren Kerkern dieser Welt. (Hervorhebung i. O.)29

Auch die Beziehung des Erzählers zur Schlange ändert sich nun. Aus dem mythologischen Kontext in den lokalen Kontext verpflanzt, erscheint diese nicht mehr als Feind: „In Herzegowina ist die Schlange das seligste und vornehmste Wesen.“30 Bald empfindet der Erzähler sogar Mitleid mit ihr : „Ich war mir sicher, dass sie sie in Bilec´a, falls ich dort ankäme, mit Stöcken und Steinen zusammenschlagen werden, dass sie ihr den Kopf mit einem Pfahl zerquetschen, den Pfahl in die Erde stecken und mit Platten stützen werden.“31 Doch im Moment, wenn die beiden die Stadt Bilec´a erreichen, schlüpft die Schlange noch mal in ihre alte mythologische Rolle als verhängnisvolle Figur. Im komplexen Spiel der rotierenden Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit offenbart sie sich wieder als eine ambivalente, doppeldeutige Figur – diesmal erneut als Verführerin und Verräterin. Um selber verschont zu bleiben, tötet das Wesen den Erzähler. Die offizielle Macht, die sich auch der Schlange bemächtigt, gewinnt sowohl gegen den Vater als auch gegen den Sohn: „Die Kirche stellt sich 28 Wohl bemerkt: Er trifft die Entscheidung, nicht ins Gefängnis zurückzukehren. Damit wird er zum Flüchtling und solche „jedino ovdje, u Hercegovini,… gone zmijama i vrac´aju u aps. A one su u sluzˇbi demona oduvijek. I one su izum donjeg svijeta.“ (Kovacˇ 2003, S. 150) („werden nur hier, in Herzegowina… mit Schlangen verfolgt und ins Gefängnis zurückgebracht. Und sie sind seit Ewigkeiten im Dienste von Dämonen. Und sie sind die Erfindung der Unterwelt“). 29 Kovacˇ 2003, S. 151. „Mozˇe li se dogoditi da cˇovjek u bijegu od zmije prod¯e kao progonjeni cijelu Herecegovinu i njezinu povijest? To je jedini nacˇin kako mi sagledavamo prosˇlost. Svako je nasˇe saznanje nastalo u bijegu i panici. A nasˇa mirnoc´a, ako je imamo, u proganjanju. Nasˇe bolesti i sve drugo u neiskazanoj i nesaopc´ivoj tamnici ovoga svijeta.“ 30 Ebd., S. 152. „U Hercegovini je zmija najdusˇevniji i najblagorodniji stvor“. 31 Ebd., S. 153. „Bio [sam] siguran da c´e je u Bilec´i, ako stignem do tamo, utuc´i ˇstapovima i kamenjem, prignjecˇiti joj glavu kolcem, pobosti ga u zemlju i poduprijeti plocˇama“.

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auf die Seite der Schlange und mir bietet man als Trost die Vergebung der Sünden.“32 Der Schlangenkreis wird hiermit geschlossen und der Erzähler in ihn eingeschlossen. Im Sterben löst er sich allmählich von seiner Umgebung und wird auch zunehmend unsichtbar. Auch die Schlange nimmt die Gestalt in einer chimärenartigen Vision an. Wissen sie, dass ich sterbe? Ich konnte noch sehen, wie der Platz sich leerte. Alle Gespräche entfernen sich von mir. Ich weiß: Dies alles wird auf unterschiedlichste Weisen erzählt. Jeder wird das Ereignis anders übertragen. So ist es seit Menschengedenken.33

Der Tod des Erzählers wird auf eine metatextuelle Ebene verschoben. Die Art und Weise, wie über ihn in der Zukunft berichtet wird, ist Thema seiner letzten Worte. Nach seinem Tod erhebt sich eine weitere Stimme im Roman, die nicht mit der des Ich-Erzählers gleichzusetzen ist. Sie spricht dafür, dass sich die Macht nicht nur der Schlange, sondern sogar der Stimme des Erzählers bemächtigt hat und seine Kritik nun in die Selbstrechtfertigung umsetzt. Obwohl sie ihr Land als ein stinkendes Schafott bezeichnet, schöpft sie ihr Recht auf Rechtsprechung aus der Ordnung, die sie selbst herstellt. Das Städtchen stank, als ob in der mahala ein Kadaver verwesen würde. Es gab Aas, das von Schmeißfliegen angegriffen war. Es gab zusätzlich abgenutzte und zum Zerfall neigende Sachen, aber das ist kein Grund, den Staat dafür verantwortlich zu machen, oder die Ordnung deshalb zu vernichten; Abgenutztes und Zerfallenes gibt es überall, sogar dort, wo es besser als hier ist, wo es heiterer und leichter ist. Wo die Sorgen auf das kleinste Maß zurückgeführt sind, weil es überall Verwesung gibt, auch dort, wo man sagen würde, dass alles wächst und gedeiht. Überall und in jeder Zeit zerfällt etwas. Und immer drückt jemand seine Nase zu, bis der Gestank verschwunden ist. (Hervorhebung des Verf.)34

Alles ist dem Diktat einer verordneten Gemeinschaftlichkeit untergeordnet, in dem keine Polyphonie, sondern nur ein gleichstimmiger Chor geduldet wird, durch den die Stimme der totalitären Macht spricht. Die Ideologie der „Brüderlichkeit und Einheit“ wird im Schafott als eine gewalttätige Bruderschaft entlarvt, welche eine oberflächliche Einheit um den Preis der echten Brüder32 Ebd., S. 156. „Crkva se stavlja na stranu zmije, a meni se za utjehu sprema oprost grijeha“. 33 Ebd., S. 161. „Znaju li da umirem? Josˇ sam mogao vidjeti kako se trg prazni. Svi razgovori udaljuju se od mene. Znam: sve ovo pripovijedat c´e se na razne nacˇine. Svatko c´e dogad¯aj iznijeti drukcˇije. Tako je to od pamtivijeka.“ 34 Kovacˇ 2003, S. 142 f. „Varosˇ je zaudarala kao da se u mahali raspadala kakva strvina. Bilo je crkotina napadnutih muhama zlaticama. Bilo je josˇ trosˇnih i raspadanju sklonih stvari, ali to nije razlog da se drzˇava okrivljuje, ni da se poredak zbog toga rusˇi; trosˇnog i raspadljivog ima posvuda, cˇak i tamo gdje je bolje nego ovdje, gdje je vedrije i laksˇe. Gdje su brige svedene na najmanju mjeru, jer trune se posvuda, pa i tamo gdje bi cˇovjek rekao da je sve u usponu i rastu. Svuda i u svako doba nesˇto se raspada. I uvijek netko zacˇepi nos dok ne mine smrad.“

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lichkeit herstellt. Selbst die mythologische Schlange wird zu ihrem Instrument – zur Schlinge.

Literatur ˇ itanje s biblijom u ruci. Proza Danila Kisˇa Ahmetagic´, Jasmina: Dazˇd od zˇivoga ugljevlja. C i Mirka Kovacˇa. Beograd 2007. Chevalier, Jean / Gheerbrant, Alain (Hg.): Rjecˇnik simbola. Zagreb 1983. Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Offenbarung 1, 18. Stuttgart 1985. Ilic´, Sasˇa: ,Mirko Kovacˇs Gubilisˇte. Literarische Subversion und die politische Antwort‘, in: Richter, Angela / Barbara Beyer (Hg.): Geschichte (ge-)brauchen. Literatur und Geschichtskultur im Staatssozialismus. Jugoslawien und Bulgarien. Berlin 2006. S. 361 – 372. Koschorke, Albrecht et al.: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/M. 2007. Kovacˇ, Mirko: Gubilisˇte. Preured¯eno izdanje. Zagreb 2003. Lachmann, Renate: Die Zerstörung der schönen Rede. München 1994. Lachmann, Renate: ,Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis‘, in: Von Moos, Peter (Hg.): Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 379 – 410. Paic´, Zˇarko: ,Palimpsest prve ruke‘, in: KNJIZˇEVNA REPUBLIKA 2009/7 – 9, S. 62 – 66. Stoyanov, Juri: The Other God: Dualist Religions from Antiquity to the Cathar Heresy. Yale 2000. Warburg, Aby : Das Schlangenritual. Ein Reisebericht. Berlin 1988.

Ruzˇa Fotiadis (Berlin)

Von orthodoxen Brüdern und traditionellen Freunden – die Idee der griechisch-serbischen Freundschaft

„The Serbs are just like us, they are tough, they fight with knives and don’t forget what you have done to them […].“1 „We, the Serbs, are blessed to have God in heaven and the Hellenes on earth. You the Hellenes have us Serbs as your friends. We will continue the struggle you undertook in 1974 against the Muslims until Constantinople becomes a center of Orthodoxy.“2

Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien während der 1990er Jahre führten nicht nur in Jugoslawien selbst, sondern auch im weiteren Südosteuropa zu vielfältigen Neuorientierungen und Umdeutungen als Reaktion auf die kriegerischen Auseinandersetzungen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Insbesondere in Griechenland, dem bis dahin einzigen westlich-demokratischen Staat der Region, stellten das Ende des Kalten Krieges und der Ausbruch des Jugoslawienkrieges eine Phase grundlegenden Umbruchs dar : Entlang der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stabilen Nordgrenze kollabierte der Staatssozialismus, brach ein Nachbarland blutig auseinander, während sich ein neues unter den Namen Makedonien formierte und damit griechisch-nationale Ansprüche herausforderte. Der Zusammenbruch der alten Ordnung spiegelte sich in einem Wandel von Wahrnehmungen, einer Reinterpretation von Deutungsmustern und Radikalisierung von Vorstellungen wider. Fragen nach der Positionierung des Eigenen und der Verortung des Anderen in einer krisenhaften Zeit politischer Veränderungen setzten Verhandlungsprozesse in Gang, die neue Ordnungskonzepte und Wertordnungen hervorbrachten. Als ein solches Weltordnungs- und Orientierungssystem lässt sich die sogenannte griechisch-serbische Freundschaft (i ellinoserviki filia bzw. grcˇko-srpsko prijateljstvo) bezeichnen, die 1 Zitat eines über siebzigjährigen griechischen Schäfers auf Kalymnos Anfang der 1990er Jahre, siehe Sutton, David E.: Memories Cast in Stone. The Relevance of the Past in Everyday Life. Oxford 1998, S. 62. 2 Zitat des Metropoliten Nikolaj von Dabar-Bosnien auf Zypern im Juli 1994 anlässlich des 20. Jahrestages der türkischen Invasion, siehe Serbian-Hellenic Brotherhood: Quotes, 2009, verfügbar unter : [Zugriff: 26. 03. 2013].

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Vorstellung einer besonderen historischen Verbundenheit beider Völker, die in den 1990er Jahren im öffentlichen Diskurs in Griechenland und Serbien Verbreitung fand. Die Berufung auf die ,traditionell guten Beziehungen‘ wurde dabei mit bestimmten ,historisch-kulturell gewachsenen‘ Faktoren begründet, wie dem gemeinsamen orthodoxen Glauben und dem byzantinischen Erbe, der Vorreiterrolle in den nationalen Befreiungskämpfen gegen die Osmanen, den Waffenbrüderschaften und Allianzen, insbesondere in den Balkankriegen und im Ersten Weltkrieg sowie dem antifaschistischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg und dynastischen Verbindungen. Auf dieser Grundlage wurde zuweilen eine ,Schicksalsgemeinschaft‘ von Griechen und Serben abgeleitet und damit eine besondere emotional-mentale Nähe und Verbundenheit beider postuliert. Die griechische Unterstützung der serbischen Seite während der Jugoslawienkriege wurde vor diesem Hintergrund als ,historisch bedingt‘ und damit gewissermaßen als ,natürlich‘ interpretiert. Dass es sich hierbei nicht um ein peripheres Phänomen handelt, belegen nicht nur der Umfang humanitärer Hilfe und anderer Solidaritätsaktionen, wie Demonstrationen und Konzerte zugunsten der serbischen Seite, sondern auch Aussagen wie die eingangs zitierte des über siebzigjährigen griechischen Schäfers. Nicht nur in den Zentren Griechenlands bzw. in den vom Zusammenbruch Jugoslawiens am unmittelbarsten betroffenen Grenzregionen im Norden des Landes wurden vor dem Hintergrund des Krieges Eigen- und Fremdbilder diskutiert und Parallelen gezogen, die eine griechisch-serbische Verbundenheit konstatierten, sondern auch in entlegenen Regionen wie der Insel Kalymnos vor der kleinasiatischen Küste. Ebenso könnte man mutmaßen, dass es sich um eine Ansicht handle, die lediglich innerhalb bestimmter kirchlich-konservativer Kreise zirkulierte, zu deren Mitgliedern der ebenfalls eingangs zitierte oberste serbisch-orthodoxe Kirchenvertreter in Bosnien-Herzegowina zählte. Vielmehr handelt es sich jedoch um ein Phänomen, das eine gesellschaftliche Breitenwirksamkeit über soziale, politische, religiöse und räumliche Grenzen hinweg entfaltete. Dies spiegelte sich in besonderer Weise in der griechischen Berichterstattung zu den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien wider, die von westlichen Medien aufgrund der überwiegend proserbischen Haltung als voreingenommen, von orthodoxen Allianzvorstellungen und historischen Mythen als verblendet bezeichnet wurde. Unter Hinzurechnung des außenpolitischen Kurses, der mehr oder weniger erfolgreich zwischen den Bündnisverpflichtungen gegenüber den westlichen Alliierten und der selbst zugedachten Rolle als „Balkanexperte“ und Vermittler zwischen dem Milosˇevic´Regime und dem Westen lavierte, wurde Griechenland regelrecht als ,schwarzes Schaf‘ innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft charakterisiert.3 3 Siehe u. a. Kelpanides, Michael: ,Die Griechen halten gerne zur falschen Seite‘, in: FAZ 2010/

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Everybody’s Darling: Karadzˇic´ in Athen Ein eindrückliches Beispiel für die mediale Inszenierung der griechisch-serbischen Freundschaft jener Jahre stellt der Griechenlandbesuch von Radovan Karadzˇic´ im Juni 1993 dar. Während der Bosnienkrieg in vollem Gange war und der Anführer der bosnischen Serben in Westeuropa als persona non grata galt, reiste Karadzˇic´ auf Einladung der Griechisch-Orthodoxen Kirche nach Athen, wo er im Piräus-Stadion von einer jubelnden Menge, darunter führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, mit offenen Armen begrüßt wurde. Die Medien berichteten ausführlich über Karadzˇic´s Aufenthalt, seine Spaziergänge im Hafen von Piräus und griechische Bürger, die herbeieilten, um ihm dankend die Hand zu schütteln. Bekräftigt von dieser Welle der Unterstützung ließ er verlauten: „Everybody is telling us to lay down our arms because we are alone. We say no, we are not alone. We have with us God and the Greeks!“4 Wie die niederländische Filmemacherin und ehemalige Griechenlandkorrespondentin Ingeborg Beugel in ihrem Dokumentarfilm The Greek Way5 zeigte, konnte er sich auch fast zehn Jahre nach seinem Besuch vieler Sympathien in Athen sicher sein: „Als ich den Film 2002 machte, ließ ein Kandidat der sozialistischen PASOK-Partei, der Bürgermeister eines Vorortbezirks von Athen werden wollte, ein Bild von sich mit Karadzˇic´ auf seine Wahlkampfbroschüre drucken. […] Wie kann sich ein moderner griechischer Politiker neben einem Kriegsverbrecher zeigen, nur um mehr Stimmen zu bekommen?“6 Auf die Frage nach der Rolle der griechischen Medien während des Jugoslawienkrieges ant288, S. 37; Keridis, Dimitris: The Foreign Policy of Nationalism. The Case of Serbia (1986 – 1995) and Greece (1991 – 1995), 1998, verfügbar unter : [Zugriff: 26. 03. 2013]; Reuter, Jürgen: ,Außenpolitik und außenpolitische Strategien in den neunziger Jahren. Athens Balkan- und Europapolitik nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme‘, in: SÜDOSTEUROPA 1996/45,9 – 10, S. 651 – 668; Rozakis, Hristos: ,I krisi sti Giougkoslavia. Enas apokaliptikos dialogos anamesa stin elliniki eksoteriki politiki kai stin politiki tis evropaikis koinotitas‘, in: Veremis, Thanos (Hg.): Valkania. Apo ton dipolismo sti nea epohi. Athen 1994, S. 27 – 71; Valden, Sotiris: ,I Valkaniki Politiki tis Elladas. Kritikos Apologismos tis Metapolemikis Periodou kai Prooptikes‘, in: Tsakonas, Panagiotis (Hg.): Sygchroni Elliniki Eksoteriki Politiki. Mia synoliki proseggisi. Tomos B’. Athen 2003, S. 391 – 464. 4 Michas, Takis: Unholy Alliance. Greece and Milosˇevic´‘s Serbia. Texas 2002, S. 22 ff.; Karcˇic´, Hikmet: ,„Fear Not, For You Have Brothers in Greece“. A Research Note‘, in: GENOCIDE STUDIES AND PREVENTION 2008/3 – 1, S. 147 – 152, hier S. 148 f.; als Beispiel aus den griechischen Medien siehe Ethnos 1995: ,Radovan Karatzits. Mazi mas o theos kai i Ellines‘, in: ETHNOS 16. 06. 1993. 5 Beugel, Ingeborg: The Greek Way, 2002, verfügbar unter : [Zugriff: 26. 03. 2013]. 6 Besˇlija, Asim: Ingeborg Beugel: Zbog Srebrenice sam napustila Grcˇku!, 2008, [Zugriff: 26. 03. 2013] [Übersetzung der Autorin].

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wortete sie mit Entrüstung: „Die griechische Presse hat, mit nur wenigen sehr mutigen Ausnahmen, blind Milosˇevic´s Kriegspropaganda kopiert. Die Griechen hatten keinen Korrespondenten in den nichtserbischen Gebieten, KEINEN EINZIGEN, sondern nur in Pale und Belgrad.“7 Zu demselben Schluss kam auch der griechische Journalist Takis Michas in seiner Monografie Unholy Alliance. Greece and Milosˇevic´‘s Serbia, in der er auf der Grundlage einer ausführlichen Materialsammlung die griechische Berichterstattung jener Jahre analysierte. Ebenso äußerte sich Zoran Mutic´, einer der verdientesten Übersetzer aus dem Griechischen im serbokroatischen Sprachraum, auf die griechisch-serbische Freundschaft angesprochen, wie folgt: Ich habe mich in den griechischen Medien für die bosnische Sache eingesetzt, d. h. dass ich diesen falschen Mythos zerstört habe, der vor allem tagespolitische Bedeutung hat. Als erstes ist Freundschaft für mich immer ausschließlich eine individuelle Kategorie, ebenso wie die Liebe. In Griechenland hat die Rechte Milosˇevic´ wegen der Sache mit der Orthodoxie unterstützt und die Linke deshalb, weil sie stalinistisch ist und in ihm einen Kämpfer gegen den globalen Imperialismus gesehen hat. Überdies kennt der Durchschnittsgrieche, wenn es um Serbien geht, nur einen oder zwei Fußballer, wenn überhaupt. Und dieser aus dem Nichts geschaffene Mythos der nationalen Freundschaft hatte seine politische Konjunktur, deren Mindesthaltbarkeitsdatum mittlerweile, so scheint es, abgelaufen ist.8

Während Mutic´ in weiten Teilen seiner Analyse zuzustimmen ist, bleibt doch fraglich, ob dieser ,falsche Mythos‘ tatsächlich aus dem Nichts geschaffen worden ist und sein Haltbarkeitsdatum bereits überschritten hat. Mit Blick auf den Erfolg dieses Konzepts, der sich in der massenhaften gesellschaftlichen Mobilisierung niederschlug, ist es zu kurzsichtig, die griechisch-serbische Freundschaft lediglich als irrationale, nationalistisch unterfütterte Rhetorik abzutun. Es kann vielmehr als ein Sinngebungsverfahren von Geschichte und Gegenwart analysiert werden, das seinen Ausdruck in der Reklamation einer traditionellen Freundschaft und orthodoxen Bruderschaft fand.

Geschichts- und Gegenwartsdeutungen der griechisch-serbischen Freundschaft In ihrem Artikel „Whiter ,Nation‘ and ,Nationalism‘?“ stellt Katherine Verdery die Frage, wie Menschen ein nationales Bewusstsein entwickeln. Sie ist der Annahme, dass „a notion of inside“, „a feeling of belonging“ wissenschaftlich 7 Ebd. [Übersetzung der Autorin]. 8 Stojic´, Mile: Roman jednog prijevoda, 2002, verfügbar unter : [Zugriff: 26. 03. 2013] [Übersetzung der Autorin].

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verfügbar sei, wobei: „To research it would direct attention away from the noisy and visible rhetorics of nationalists and toward the techniques through which receptive dispositions have been quietly laid down in those to whom they appeal.“9 Anhand der griechisch-serbischen Freundschaft lässt sich in spannender Weise die Anlegung und Ausgestaltung „rezeptiver Dispositionen“ für gruppenkonstituierende und wirklichkeitsstiftende Prozesse untersuchen. Die Vorstellung einer besonderen griechisch-serbischen Verbundenheit wird hierbei nicht als Ausdruck „lautstarker nationalistischer Rhetorik“, sondern als Repräsentationsform einer bestimmten sozialen Ordnung betrachtet. Repräsentationen stellen in diesem Zusammenhang Verfahren dar, die die Umwelt strukturieren, Wissenszusammenhänge konstruieren und damit Interpretationsangebote für historische Umstände und gegenwärtige Zustände offerieren. Es handelt sich um symbolische Formen, die anhand von Stereotypisierungen Lebensverhältnisse und Erfahrungen ordnen, die Welt erschließen und eine Orientierung in dieser ermöglichen. Sie werden dabei nicht nur durch die bestehenden Zustände geformt, sondern formen gleichzeitig selbst Vorstellungen und Denkweisen. In der Auseinandersetzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden und vor allem in Krisenzeiten werden gewohnte Repräsentationen herausgefordert, umgedeutet und radikalisiert, so dass sich die Wandlungsprozesse in besonderer Weise untersuchen lassen.10 Das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart stellt dabei den interpretativen Rahmen dar, innerhalb dessen die griechisch-serbische Freundschaft als Repräsentation einer sozialen Ordnung, als Sinngebungsverfahren innerhalb eines bestimmten kulturellen Kontextes und als Reaktion auf eine Zeit und einen Raum im Umbruch zu untersuchen ist. Ausgehend von der Annahme, dass gegenwärtige Ereignisse nicht isoliert betrachtet, sondern im Spiegel von Vergangenheitskonzeptionen gedeutet werden, fungiert ,Geschichte‘ als Gegenwartsmatrix: „History represents a storehouse of themes and patterns, revealing motivations that constitute important ingredients of the present.“11 Historische Ereignisse, Erfahrungen, Daten und Personen bilden folglich einen Fundus von Referenzen für die Gegenwart, wobei Vergangenheit als Schablone an die Gegenwart angesetzt wird, innerhalb derer anhand rhetorischer Strategien, Me9 Verdery, Katherine: ,Whither „Nation“ and „Nationalism“?‘, in: Balakrishnan, Gopal (Hg.): Mapping the Nation. London/New York 1996, S. 226 – 234, hier S. 229. 10 Baberowski, Jörg: ,Was sind Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel? Anmerkungen zu einer Geschichte interkultureller Begegnungen‘, in: Baberowski, Jörg (Hg.): Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft? Frankfurt/New York 2009, S. 7 – 18; Jones, Priska: ,Europa hat Angst. Deutsche Karikaturen als virtueller Begegnungsraum in den 1920er Jahren‘, in: Baberowski, Jörg / Feest, David / Lehmann, Maike (Hg.): Dem Anderen begegnen. Eigene und fremde Repräsentationen in sozialen Gemeinschaften. Frankfurt/New York 2008, S. 251 – 268, hier S. 253 f. 11 Sutton 1998, S. 204.

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taphern, Analogien, Vernetzungen und Gleichsetzungen Narrative mit Geltungsund Erklärungsanspruch gebildet werden. Im Falle der griechisch-serbischen Freundschaft speisen sich diese aus den nationalen Meistererzählungen, die sie durch die Verbindung alter und neuer Erfahrungsräume und Beziehungsbilder weiterspinnen. Diese Idee zwischennationaler Solidarität erfüllt dabei zum einen eine sinnstiftende Funktion als Antwort auf die Herausforderungen der 1990er Jahre in Südosteuropa sowie eine identitätsstiftende, indem durch die Anlegung eines Freund-Feind-Schemas Plausibilität nach innen und außen geschaffen wird – nach innen, indem sie die konstitutiven Bestandteile des serbischen und griechischen Nationsverständnisses durch das Bewusstsein über „traditionelle Freunde“ verfestigt, nach außen, indem die Gruppengrenzen über die Benennung „gemeinsamer Feinde“ stärker konturiert werden. Auffassungen von Identität und Nation, Wertvorstellungen, die sich in der politischen Kultur beider Gesellschaften niederschlagen, bilden folglich den Verständnishintergrund und Analysekontext für die griechisch-serbische Freundschaft. Als Repräsentation macht diese jedoch nur in einem bestimmten kulturellen Kontext und Zeitraum, in dem ein beide Gesellschaften einschließender Verstehenszusammenhang über die Beschaffenheit der Welt existiert, Sinn. Ein ebensolcher gemeinsamer serbisch-griechischer Deutungsrahmen und symbolischer Interpretationsraum für die politischen Ereignisse in Südosteuropa war während der 1990er Jahre gegeben: Dieser Konsens ermöglichte ein Konvergieren und eine von beiden Öffentlichkeiten mehrheitlich geteilte Weltsicht. Die Grundlage für diese gemeinsame Geschichts- und Gegenwartsdeutung liegt in ähnlichen bzw. kongruenten ethno-nationalen Konzepten und Wahrnehmungsmustern. Herzfeld nach folgen politisch-historische Diskussionen in Griechenland bestimmten Motiven und Themen: Geschichte werde als Erzählung von Opfer, Kampf und Verrat gelesen, anhand derer sich dann das ,wahre Wesen‘ eines Volkes erkennen ließe.12 Dasselbe gilt für den serbischen Fall. Vergangenheit vollzieht sich als Kampf der unterdrückten Nation gegen ihre Unterdrücker, wobei Sprache, Kultur und Religion als Bewahrer der nationalen Identität fungieren. Im Bewusstsein alter Größe und im Willen nach neuer werden Kontinuitäten ungebrochener Nationalität und Staatlichkeit postuliert sowie ,historische‘ Rechte geltend gemacht – seitens der Serben auf das Kosovo, seitens der Griechen auf Makedonien. Sowohl in der serbischen als auch in der griechischen nationalen Meistererzählung wird dabei das ,christlich-zivilisierte‘ Eigene vom ,muslimisch-barbarischen‘ Anderen abgegrenzt. Alles MuslimischOsmanisch-Türkische wird dadurch zum Fremden, zum Symbol des Unterdrückers und Feindes schlechthin stilisiert. Ebenso erfolgt eine Abgrenzung 12 Herzfeld, Michael: Ours Once More. Folklore, Ideology and the Making of Modern Greece. Austin 1982; Sutton 1998, S. 119 ff.

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gegenüber dem Westen – die antiwestlichen Reflexe, die Distanzierung von der westkirchlichen ,modernen‘ Welt, liegen zum einen in einem theologisch-orthodoxen Antiwestlertum begründet,13 zum anderen in der Vorstellung, ,Spielball fremder Mächte‘, d. h. westlicher Großmachtinteressen zu sein. Vor dieser Folie wird die Welt in Freunde und Feinde eingeteilt und politische Ereignisse durch die Linse möglicher Verschwörungen ,der Mächtigen‘ gegen die eigene benachteiligte Nation betrachtet.14

Brüder im Glauben und an den Waffen: Griechische Freiwillige im Bosnienkrieg Die wohl radikalste Manifestation solch einer antimuslimisch, antiwestlich und orthodox-fundamentalistisch ausgerichteten griechisch-serbischen Freundschaft stellen die ca. 100 griechischen Freiwilligen dar, die in den Reihen der bosnisch-serbischen Armee als „Griechische Freiwilligen-Garde“ an den bewaffneten Kämpfen teilgenommen haben.15 Symptomatisch für die Berichterstattung über die Kriege im ehemaligen Jugoslawien ist in diesem Rahmen der Fall Srebrenicas im Juli 1995 (Abb. 1). In derselben Nacht, in der die Stadt erobert wurde, führte der griechische Fernsehsender MEGA ein Live-TelefonInterview mit einem der griechischen Freiwilligen durch, der mit vor Aufregung zitternder Stimme darüber berichtete, wie er mit seinen Mitkämpfern nach dem Ende des Artilleriebeschusses einmarschierte und „den Ort säuberte“.16 Wie aus Selbstzeugnissen zu schließen ist, rekrutierten sich die Freiwilligen größtenteils aus den Reihen der rechtsnationalen Partei „Goldene Morgenröte“ (Chrysi Avgi). Als Beweggründe wurden der gemeinsame Kampf der orthodoxen Glaubensbrüder gegen die „muslimische Achse“ auf dem Balkan und „die Verschwörung von Vatikan, Zionisten, Deutschen und Amerikanern gegen die orthodoxen Nationen“ genannt, der Griechenland als nächstes zum Opfer fallen 13 Vgl. dazu u. a. Buchenau, Klaus: Auf russischen Spuren. Orthodoxe Antiwestler in Serbien, 1850 – 1945. Wiesbaden 2011. 14 Vgl. Stefanidis, Ioannis D.: Stirring the Greek Nation. Political Culture, Irredentism and Anti-Americanism in Post-War Greece, 1945 – 1967. Aldershot 2007, S. 6 ff. 15 Michas 2002, S. 17; Karcˇic´ 2008, S. 147 f.; zu russischen Freiwilligen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo siehe Buchenau, Klaus: ,Russische Kämpfer in Bosnien-Herzegowina (1992 – 1995) und Kosovo (1999) – Motivationen, Ideologien, Folgen‘, in: Malik, Jamal / Manemann, Jürgen (Hg.): Religionsproduktivität in Europa. Markierungen im religiösen Feld. Münster 2009, S. 189 – 212; zum Phänomen des politisch-orthodoxen Fundamentalismus in Russland siehe Mitrofanova, Anastasia V.: The Politicization of Russian Orthodoxy. Actors and Ideas. With a Foreword by Willian C. Gay. Stuttgart 2005. 16 Michas 2002, S. 17 [Übersetzung der Autorin].

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werde.17 In den darauf folgenden Tagen sickerten nur spärlich Informationen über das Massaker an den muslimischen Männern und Jungen in die griechische Presse, während die Flucht und Vertreibung der serbischen Bevölkerung aus Kroatien im Rahmen der Militäraktionen „Blijesak“ und „Oluja“ kurz darauf intensiv medial begleitet wurde. Erst nach der Veröffentlichung der Videos über die Erschießungen in Srebrenica folgte 2005 auf Druck der Opposition eine offizielle Entschuldigung der griechischen Regierung an Bosnien-Herzegowina. Juristische Verfahren gegen griechische Freiwillige verliefen hingegen im Sande.18

Abb. 1: „Sie haben die griechische Flagge in Srebrenica gehisst“, Ethnos, 13. 07. 1995.

Als Manifest und eindrücklichste Beschreibung der kruden Gedankenwelt dieses Zirkels kann die literarische Verarbeitung des Themas von Petros Markaris gelesen werden, die umso mehr die Aktualität des Falles in der griechischen Öffentlichkeit betont. In seinem 2006 erschienenen Roman Der Großaktionär lässt Markaris eine Fähre, auf der sich die Tochter seines Kommissars Kostas Charitos befindet, auf dem Weg nach Kreta von „Phönix“, der Organisation 17 Michas 2002, S. 17 ff. [Übersetzung der Autorin]; Ethnos 1995: ,Ipsosan tin elliniki simaia stin Srebrenitsa‘, in: ETHNOS 13. 07. 1995; Katharios, Kiriakos: To taksidi tou ethelonti. Mithistorima. Athen 2007. 18 Karcˇic´ 2008, S. 149 f.

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griechischer Freiwilliger für das serbische Bosnien, entführen. In der Proklamation heißt es: Hört gut zu, was wir euch zu sagen haben, ihr publicitygeilen Politiker, ihr Kaffee trinkenden Sofapupser, ihr Geldsäcke, die ihr nur eure Euroscheine zählen könnt. Wir griechischen Freiwilligen haben an der Seite der serbischen Bosnier, unserer christlichen Brüder, gegen die islamische Barbarei und für die Freiheit und den orthodoxen Glauben gekämpft, als unsere von der Nato gekauften Politiker dem Bombardement Serbiens tatenlos zugesehen bzw. die griechischen Grenzen denjenigen geöffnet haben, welche die serbische Zivilbevölkerung, unsere christlichen Brüder, getötet haben. Und nun wollt ihr uns an das von den Amerikanern und der Nato kontrollierte Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausliefern. Das werden wir nicht zulassen!19

Christenbrüder und Türkenfreunde: Griechisch-serbische Beziehungsbilder Die Wirkmächtigkeit dieses auf Vergangenheitsdeutungen gestützten Narrativs beruht auf seiner Adaptionsfähigkeit: Durch die Parallelisierung und Bildung von Analogien über eine Zeitspanne von Jahrhunderten hinweg erfahren gegenwärtige Ereignisse eine dementsprechende Deutung und Sinngebung. Die griechisch-serbische Freundschaft beruht gerade auf solchen historischen Parallelen und Analogien: Vor dem Hintergrund der Jugoslawien-Kriege wurden die Serben im griechischen Diskurs als orthodoxe Opfer westlicher Großmachtpolitik und innerjugoslawischen Verrates durch die katholischen Kroaten und bosnischen Muslime sowie in der Rückschau als Kämpfer gegen die osmanischen und deutschen Besatzer wahrgenommen. Dadurch wurden sie in das griechische Geschichtsverständnis eingebunden, in die Werteordnung aufgenommen und gleichsam als Eigenes konzipiert, woraus ein gemeinsames historisches Schicksal von Serben und Griechen abgeleitet wurde: Demnach sei die westliche Großmachtpolitik ebenso wie in Zypern, so auch in Jugoslawien für das staatliche Auseinanderfallen und den blutigen Konflikt zuständig gewesen, weshalb jegliche weitere Intervention abgelehnt werden müsse. Sowohl im Falle des Griechischen Bürgerkrieges als auch in Jugoslawien habe es sich um „Bruderkriege“ gehandelt, so dass alle Seiten Schuld trügen und es nicht einen einzigen Verantwortlichen und Missetäter geben könne. Die bosnischen Muslime und katholischen Kroaten repräsentierten gemeinsame historische Gegner, die Türken und Lateiner, von deren Seite Serben und Griechen Unrecht widerfahren 19 Markaris, Petros: Der Großaktionär. Ein Fall für Kostas Charitos. Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger. Zürich 2007, S. 161. Ich danke Herrn Dr. Wolf-Heinrich Schmidt (Berlin) herzlich für diesen Literaturhinweis.

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sei, so dass es sich bei den Kriegen der 1990er Jahre um eine gerechtfertigte Begleichung alter Schulden gehandelt hab.20 Durch eben diese Parallelisierung, Spiegelung und Identifizierung des griechischen Eigenen im vormals serbischen Fremden wird die Idee einer besonderen Verbundenheit beider verständlich. Gerade in einer Krisenzeit wie den 1990er Jahren in Südosteuropa scheint der Suche und dem Auffinden eines „traditionellen Freundes und orthodoxen Bruders“ eine besondere Bedeutung zugekommen zu sein. Umso deutlicher tritt dies zutage, rechnet man die in der griechischen historischen Imagination zirkulierenden Bedrohungsvorstellungen hinzu, die Auffassung, als „bruderloses Volk“ der slawischen ,Gefahr aus dem Norden‘ und der türkischen aus dem Osten ausgesetzt zu sein.21 Vor diesem Hintergrund stellt sich jedoch die Frage nach der Bedeutung von Traditionalität, Historizität und Kontinuität im Verhältnis von Serben und Griechen. Worauf beruht diese Vorstellung einer griechisch-serbischen Freundschaft, welche Referenzpunkte und Manifestationen werden ausgemacht und wie lässt sich dies in der historischen Rückschau bewerten? Während Serbien und Griechenland auf den ersten Blick eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen, sei es die geografische Nähe in Südosteuropa, die Zugehörigkeit zum byzantinisch-orthodoxen Kulturkreis, die Vorreiterrolle in den balkanchristlichen Nationalbewegungen oder die gemeinsame Teilnahme griechischer und serbischer Freiwilliger in den Aufständen gegen die Osmanen, so entwickelten sich beide Staaten in den ersten Jahrzehnten ihrer Nationalstaatlichkeit getrennt voneinander, wovon die unsteten und unterentwickelten diplomatischen sowie die spärlichen Kultur- und Wirtschaftsbeziehungen zeugen: Erst 1868 wurde ein griechischer Konsul nach Belgrad entsandt, seit 1882 befand sich ein serbischer Gesandter in Athen, und das im weiteren Verlauf auch nur mit Unterbrechungen.22 Das Verhältnis pendelte zwischen der Idee einer balkanchristlichen Allianz gegen das Osmanische Reich und nationalen Eigeninteressen, denen in der Regel der Vorzug gegeben wurde. Die Aufteilung der Einflusssphären, insbesondere in Bezug auf die Region Makedonien sollte im weiteren Verlauf eine Annäherung immer wieder erschweren. So blieb das 1867 20 Sutton, S. 149 ff.; zum Bild des Anderen in den Medien der Balkanstaaten vgl. die länderspezifische Presseschau im „Balkan Neighbours Newsletter“, Zlatanova, Elina (Hg.): Balkan Neighbours Newsletter 1994 – 2001/1 – 11. ACCESS Association Sofia. 21 Heraklides, Alexis: I Ellada kai o „Ex anatolon Kindinos“. Adiexoda kai Diexoda. Athen 2001; Zelepos, Ioannis: Die Ethnisierung griechischer Identität 1870 – 1912. Staat und private Akteure vor dem Hintergrund der „Megali idea“. München 2002, S. 141 ff. 22 Terzic´, Slavenko: Srbija i Grcˇka 1856 – 1903. Borba za Balkan. Belgrad 1992, S. 11 f., 143 f., 231 f. Für eine eingehende Analyse siehe Fotiadis, Ruzˇa: ,Christenbrüder und Türkenfreunde. Griechisch-serbische Beziehungsbilder?‘, in: Ga˛sior, Agnieszka / Karl, Lars / Troebst, Stefan (Hg.): Post-Panslavismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert. Göttingen 2014, S. 363 – 387.

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unterzeichnete Angriffs- und Verteidigungsabkommen von Vöslau Makulatur und erst 1913 nach jahrzehntelangen gescheiterten Initiativen und Absichtsbekundungen schlossen beide Staaten die erste faktische Militärallianz.23 Diese war dann sogleich von Erfolg gekrönt: Der Zweite Balkankrieg resultierte in einer Griechenland und Serbien zufriedenstellenden Lösung der Makedonischen Frage – der Zurückdrängung der osmanischen Herrschaft in Südosteuropa, der Eindämmung bulgarischer Ansprüche und Gebietserweiterungen beider Staaten. Die hier skizzierten politischen Beziehungen zwischen beiden Staaten von den Unabhängigkeits- bis zu den Balkankriegen stehen in einem engen Verhältnis zu griechisch-serbischen Bildern voneinander, die die Annäherungsbemühungen und politischen Konjunkturen begleiteten. Das 19. Jahrhundert ist hierbei von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung und Verfestigung gegenseitiger Stereotypen: Vormoderne Fremdheitserfahrungen und Bilder von Andersartigkeit erfuhren erst in der nationalstaatlichen Periode, in der ein griechischer und serbischer Staat als eigenständige Akteure in Interaktion traten, eine nationale Kodierung, politische Aufladung und mediale Instrumentalisierung.24 Verschiedene Faktoren erschwerten hierbei ein Zusammengehen in politischer Hinsicht und überschatteten insbesondere auf serbischer Seite Bilder und Vorstellungen vom griechischen Nachbarn im Süden. Als orthodoxe Gläubige waren serbische und griechische Untertanen des Sultans zwar im „Rum-Millet“ vereint, innerhalb dessen kam es jedoch aufgrund der Dominanz der griechischen und gräkophonen Kleriker zu Konflikten. Die serbische Emanzipationsbewegung richtete sich deshalb vornehmlich gegen die griechische Dominanz in der eigenen Kirchenstruktur. Insbesondere gegenüber griechischen Kirchenvertretern hatten sich daher noch in osmanischer Zeit innerhalb der serbischen Gesellschaft negative Erfahrungen und Vorurteile verfestigt. Durch Generalisierungen wurden sie zu nationalen Stereotypen aufgeladen, so dass in serbischen Quellen des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Griechen oftmals als gierige, unloyale und chauvinistische „Slawenhasser“ und „Türkenfreunde“ auftreten.25 Es finden sich zwar durchaus positive Charakterisierungen der antiken Griechen als Kultur- und Zivilisationsträger, die negativen Zuschreibungen überwiegen jedoch. So werden Griechen in serbischen Volksliedern zumeist als Denunzianten ohne Heldenmut beschrieben, die stets auf 23 Terzic´ 1992, S. 128 ff.; Fotiadis 2014. 24 Höpken, Wolfgang: ,Ethnische Stereotypen in Südosteuropa. Anmerkungen zu Charakter, Funktion und Entstehungsbedingungen‘, in: Höpken, Wolfgang (Hg.): Öl ins Feuer? Schulbücher, ethnische Stereotypen und Gewalt in Südosteuropa. Hannover 1996, S. 9 – 25, hier S. 16 f. 25 Milosavljevic´, Olivera: U tradiciji nacionalizma ili stereotipi srpskih intelektualaca XX veka o „nama“ i „drugima“. Beograd 2002, S. 280 ff., Terzic´ 1992, S. 19 f., 231 ff.

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den eigenen Vorteil bedacht seien.26 Mit der Ansiedlung griechisch-zinzarischer27 Händler und Kaufleute seit dem 18. Jahrhundert in überwiegend serbisch bewohnten Gebieten, trat zudem das Motiv des gerissenen Kaufmanns, reichen Herren und überheblichen Städters hinzu. Insbesondere in der serbischen realistischen Literatur, und hier am bekanntesten in der Figur des Kir Janja von Sterija Popovic´, manifestierte sich der Typus des verschlagenen Geizkragens, der zu einem prägenden serbischen Griechenbild des 19. Jahrhunderts avancierte.28 Insgesamt kann für die serbischen Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts festgehalten werden, dass sich außerhalb philhellenischer Akademikerzirkel und unter Abzug diplomatischer Lippenbekenntnisse nur vereinzelt historische Manifestationen griechisch-serbischer Freundschaft finden lassen. Mehr noch kommt die serbische Historikerin Olivera Milosavljevic´ in ihrer Analyse nationaler Stereotypen serbischer Intellektueller des 19. Jahrhunderts zu folgendem Schluss: Im Unterschied zu dem Syntagma ,Mutter Russland‘ und ,Brüder Russen‘, das seit einhundert Jahren bekannt ist, sind die ,Brüder Griechen‘ ein vollkommen neues Produkt der zeitgenössischen Propaganda ohne Grundlage in der Vergangenheit, weder in der näheren und erst recht nicht in der ferneren. Ganz im Gegenteil sind die Griechen in der ,Charakterologie‘ der serbischen Intellektuellen sehr schlecht davongekommen, manchmal sogar schlechter als die Bulgaren, und daran konnte noch nicht einmal der orthodoxe Glaube etwas ändern. Vielmehr waren gerade der Glaube und das Streben nach Emanzipation von der griechischen Kirche, Sprache und dem Schulwesen der Ausgangspunkt für die negative ,Charakterologie‘ einer ganzen Nation, der man alle stereotypischen Eigenschaften dessen zuschrieb, was als negativer Einfluss des Ostens gedeutet wurde.29

Wenn sich die Vorstellung einer griechisch-serbischen Freundschaft offenkundig nicht aus serbischen Quellen speiste, was für Bilder über Serben kursierten dann eigentlich in der griechischen historischen Imagination? Lassen sich Be26 Siehe Konjik, Ivana: ,Predstave o Grcima u Vukovom korpusu epskih pesama‘, in: GLASNIK ETNOGRAFSKOG INSTITUTA SANU 2006/54, S. 57 – 67; Ristic´, Stana: ,Stereotipi o Grcima u srpskom jeziku‘, in: GLASNIK ETNOGRAFSKOG INSTITUTA SANU 2006/54, S. 47 – 55; Öord¯evic´-Jovanovic´, Jovanka: ,Grci u Beogradu‘, in: Sikimic´, Biljana (Hg.): Skrivene manjine na Balkanu. Belgrad 2004, S. 157 – 175. 27 Bei den Zinzaren bzw. Aromunen handelte es sich um eine romanischsprachige Bevölkerungsgruppe aus den nordgriechischen Regionen, die sich als Griechen identifizierte. An dieser Stelle sei die Ambivalenz des Begriffs „Grieche“ betont, der im südosteuropäischen Raum nicht nur im nationalen Sinne gebraucht wurde, sondern in konfessioneller Hinsicht für orthodoxe Gläubige bzw. als Berufsbezeichnung für Händler und Kaufleute im Allgemeinen verwendet wurde. 28 Siehe Vukelic´, Miroslav : ,Slika o Grcima u nasˇoj knjizˇevnosti‘, in: ZBORNIK FILOZOFSKOG FAKULTETA UNIVERZITETA U BEOGRADU 1997/19, S. 153 – 163. 29 Milosavljevic´ S. 279 f. [Übersetzung der Autorin].

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lege für eine traditionelle Verbundenheit in der Vergangenheit ausfindig machen oder handelt es sich tatsächlich um ein neues Produkt der 1990er Jahre? Spätestens mit dem Ausbruch und Erfolg des ersten serbischen Aufstandes etablierte sich im griechischen Diskurs das Bild der Serben als „heroische Christen“. Der Widerstand der Serben galt vielen Griechen als Vorbild und Startschuss für eine balkanchristliche Revolution gegen die osmanischen Machthaber. So schlossen sich griechische Freiwillige den serbischen Rebellen an und doch wunderte man sich, dass ausgerechnet diesem „einfachen Volk“ als erstem ein Aufstand gegen die Osmanen geglückt war.30 Innerhalb dieses Rahmens der Anerkennung der serbischen Vorreiterrolle im „Türkenkampf“ einerseits und des Bewusstseins der eigenen kulturellen Überlegenheit andererseits bewegten sich griechische Vorstellungen von Serben im 19. Jahrhundert und darüber hinaus. Die ideologische Grundlage bildete hierbei das traditionelle Verständnis einer besonderen Verbundenheit und eines gemeinsamen Zugehörigkeitsgefühls der orthodoxen Christen des Osmanischen Reiches, vor dessen Hintergrund der griechische Revolutionär Rigas Feraios Ende des 19. Jahrhunderts zum Aufstand gegen die Osmanen und zur Gründung der Hellenischen Republik, einer Föderation aller Balkanchristen unter griechischer Führung, aufrief.31 Auch nach Erlangung der Staatlichkeit prägte diese Idee der balkanchristlichen Solidargemeinschaft maßgeblich griechische Raum- und Gruppenkonzeptionen und reflektierte zugleich innere Verhandlungen des griechischen Nationalverständnisses.32 Serben ebenso wie Bulgaren stellten Mitglieder des griechischen genos dar und sollten den gemeinsamen Kampf gegen die Osmanen bis zur Wiedererrichtung des Byzantinischen Reiches führen, an dessen Spitze die Griechen aufgrund ihrer überlegenen Kultur stehen würden. Spätestens seit den 1870er Jahren jedoch durchlief dieses vornationale, konfessionell begründete griechische Identitätskonzept mit der Gründung des bulgarischen Exarchats als konkurrierender Kirchenorganisation im Osmanischen Reich einen Ethnisierungsprozess, im Zuge dessen sich ein auf nationalstaatlichen und ethnischen Kategorien fußendes griechisches Nationsverständnis als Abstammungsgemeinschaft herausbildete.33 In diesem Abgrenzungsprozess wandelte sich das Bild der Balkanslawen von ungebildeten, aber 30 Terzic´ 1992, S 21 f.; Livanios, Dimitrios: ,Christians, Heroes, Barbarians. Serbs and Bulgarians in the Modern Greek Historical Imagination (1602 – 1950)‘, in: Tziovas, Dimitris (Hg.): Greece and the Balkans. Identities, Perceptions and Cultural Encounters since the Enlightment. Aldershot 2003, S. 68 – 83, S. 74. 31 Vgl. die Beiträge zum „Orthodox Commonwealth“ bei Kitromilides, Paschalis M.: An Orthodox Commonwealth. Symbolic Legacies and Cultural Encounters in Southeastern Europe. Aldershot 2007; zu Rigas Feraios siehe Zelepos 2002, S. 47. 32 Gounaris, Vasilis K.: Ta Valkania ton Ellinon. Apo to Diafotismo eos ton A’ Pagkosmio Polemo. Thessaloniki 2007, S. 342 ff. 33 Zelepos 2002, S. 85 ff.; Gounaris 2007, S. 361 ff.; Livanios 2003, S. 75 f.

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frommen und fleißigen Christenbrüdern zu Handlangern des russischen Panslawismus und Vormachtstrebens in Südosteuropa. Hierbei entzündete sich der griechische Antislawismus in erster Linie an den Bulgaren und ihrer erfolgreichen Expansionspolitik im osmanischen Makedonien, auf das Griechenland ebenfalls Ansprüche erhob. Während die Bulgaren folglich seit den 1890er Jahren zu Erbfeinden des Griechentums stilisiert wurden, entwickelte sich das griechische Serbenbild hingegen als Kontrastfolie zum Bulgarenbild. So hätten die Serben durch ihre heroische Geschichte, die sich in der reichen Volksepik, dem mittelalterlichen Königreich unter Dusˇan und den Aufständen gegen die Osmanen gezeigt habe, sozusagen den „Nationstest“ bestanden, wohingegen die Bulgaren als „asiatische Barbaren“ und Nachfahren Krums weder über eine nationale Geschichte noch Kultur verfügten.34 Diese Ausdifferenzierung der griechischen Slawenimagination vollzog sich nicht losgelöst von politischen Entwicklungen, sondern vielmehr als Reaktion auf die Konjunkturen der Makedonischen Frage und die konkurrierenden Expansionspläne der südosteuropäischen Nationen. Auch wenn sich die serbische Seite hierbei in eigener Sache propagandistisch und militärisch engagierte und die slawischsprachigen Bewohner der Region als „Südserben“ für sich vereinnahmte, gelang doch in der Allianz von 1913 eine Übereinkunft mit Griechenland über die Aufteilung der Einflusssphären in Makedonien. In diesem Kontext der Interessenpolitik gegen den gemeinsamen Konkurrenten Bulgarien in der Region entwickelten sich folglich Allianzvorstellungen wie die griechisch-serbische Freundschaft, die in einem weiteren Schritt medial inszeniert und vermittelt wurden. Was hierbei ins Auge fällt, ist einerseits die Disproportionalität von Theorie und Praxis und dessen ungeachtet die Persistenz, mit der sich die Vorstellung einer besonderen Verbundenheit beider Völker bis in die heutige Zeit hält. Andererseits ist es zweifelsohne die griechische Seite, auf der nicht nur das Übergewicht freundschaftlicher Rhetorik liegt, sondern vielmehr die Urheberschaft jener Vorstellung zu finden ist. So kommt der griechische Historiker Vasilis Gounaris auf der Grundlage einer umfangreichen Analyse der griechischen Presse des 19. Jahrhunderts zu folgendem Ergebnis: It was from the 1860s onwards […] that the ,tradition‘ of the Greek-Serbian friendship was defined, enriched and treasured as a symbolic capital. Everybody knew that there was no much substance in this tradition – from time to time it was admitted openly – nor direct contacts between the two peoples were particularly brisk […] But unlike other Balkan peoples Serbs retained if not the love at least the sympathy of the Greeks beyond the point when other nations in the region started to loose it irrevocably.35

34 Zelepos 2002, S. 128 ff.; Gounaris 2007, S. 375 ff.; Livanios 2003, S. 77 ff. 35 Gounaris, Basil C.: ,„A Mysterious Bond Forged by History“. The Making of the Greek-

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Auch wenn es zuweilen enge Kontakte zwischen serbischen und griechischen Privatpersonen und -organisationen gab, so gestalteten sich doch die offiziellen Kontakte beider Staaten aufgrund widerstreitender außenpolitischer Konzepte sowie einer Misstrauenshaltung insbesondere auf serbischer Seite als schwierig. Die erste faktische Allianz gelang erst 1913 und dennoch überwog bis dahin im Auf und Ab der politischen Entwicklungen in Südosteuropa der freundschaftliche Ton in der griechischen Berichterstattung über Serbien und die Serben. Trotz fehlender historischer Belege wurde und wird die Traditionalität der griechisch-serbischen Freundschaft im öffentlichen Diskurs Griechenlands nur selten in Zweifel gezogen.36

Fazit Wie in den vorangegangenen Ausführungen dargelegt, stellt die Einbettung der griechisch-serbischen Freundschaft in die balkanpolitischen Orientierungen Griechenlands des 19. Jahrhunderts den Verständnishintergrund dar. Als Erklärungsansatz für die Popularität während der Jugoslawien-Kriege wiederum wird diese Vorstellung als Ergebnis von Eigen- und Fremdpositionierungen innerhalb eines lokalen, nationalen und internationalen Rahmens interpretiert. Sie bildet eine Repräsentation von Gegenwarts- und Geschichtsdeutungen, ein Produkt von transnationaler Koordinierung politischer Interessen sowie ein Identifikationsangebot, aus dem eine entsprechende traditionelle Verbundenheit abgeleitet wird. Was das Beispiel der griechisch-serbischen Freundschaft zu Tage bringt, ist nicht vornehmlich der Konstruktionscharakter von Gruppen, Identitäten und Traditionen sowie die Manipulierbarkeit von Vergangenheit, Meinung und Öffentlichkeit. Dies sind lediglich Allgemeinplätze in einer theoretisch reflektierten und anthropologisch inspirierten Geschichtswissenschaft. Es ist vielmehr das Gefühl von Marginalisierung und Ausgeschlossensein, worauf Bedrohungsvorstellungen und Schutzallianzen, Logiken von Freundschaft und Feindschaft, der Rückzug in eine scheinbar glorreiche Vergangenheit, aus der Szenarien für eine vermeintlich blühende Zukunft entworfen werden, gründen. Ihre Deutungsgewalt erfährt die griechisch-serbische Freundschaft durch die emotionale Aufladung.37 Im Aufeinandertreffen zwischen postulierter VerbunSerbian Traditional Friendship in 19th Century Greece‘, in: BALKAN STUDIES 2004/45 – 1, S. 5 – 22, hier S. 21. 36 Gounaris 2007, S. 320 ff.; Terzic´ 1992, S. 382 f. 37 Zum emotionswissenschaftlichen Ansatz siehe Frevert, Ute: ,Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?‘, in: GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT 2009/35 – 2, S. 183 – 208;

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denheit und tatsächlicher Alltagspraxis entlädt sich diese in spannender Weise und offenbart Reibungen und Frakturen, die die Vorstellung einer transnationalen Solidargemeinschaft von Serben und Griechen herausfordern. Wohl am eindrücklichsten lässt sich das Zusammenspiel von Emotion, Nation und Konfrontation in Sportarenen beobachten: Vom 21. Juni bis zum 2. Juli 1995 fand die Basketballeuropameisterschaft in Athen statt. Aufgrund der Beliebtheit dieser Sportart und den Aussichten der griechischen Mannschaft im Wettkampf wurde das Ereignis intensiv von den griechischen Medien begleitet. Die Organisatoren und die sportbegeisterte Öffentlichkeit hatten sich dabei im Vorfeld für die Teilnahme des jugoslawischen Teams trotz der UN-Sanktionen stark gemacht. Tatsächlich wurden die Jugoslawen zugelassen und im Eröffnungsspiel standen sie als Favoriten den griechischen Gastgebern gegenüber. Diese verloren – aufgrund zweifelhafter Schiedsrichterentscheidungen, wie sich die griechischen Sportkommentatoren einig waren – und im weiteren Verlauf des Wettkampfs häuften sich negative Berichte über die jugoslawische Mannschaft. Die Situation kulminierte im Finale zwischen Jugoslawien und Litauen, als das griechische Publikum die Litauer anfeuerte und die Jugoslawen nach ihrem Sieg und während der Medaillenverleihung ausbuhte. Der Vorfall führte zu wütenden Reaktionen serbischer Fans auf den Straßen Belgrads: Vor der griechischen Botschaft kam es zu Ausschreitungen, das Gebäude wurde mit Gegenständen beworfen und Demonstranten hielten Poster mir der Aufschrift „Zypern ist türkisch!” hoch. Andernorts wurden griechische Studenten zusammengeschlagen. Während in den darauf folgenden Tagen auf den Titelseiten griechischer Zeitungen in serbischer Sprache um Entschuldigung gebeten wurde,38 blieb die serbische Seite verhalten. Vielmehr veranlasste der Vorfall serbische Journalisten, darüber nachzudenken, „ob wir noch Brüder sind“, wobei sie zu folgendem Ergebnis kamen: Tatsächlich ist es schwierig, Beziehungen zwischen zwei Staaten auszumachen, die eher an Familienbeziehungen erinnern, insbesondere an balkanische Familienbeziehungen. Die Treueschwüre bis ins Grab werden von Gebrüll, Streit und Randale überlagert, um dann wieder von Entschuldigungen und Bitten um Vergebung abgelöst zu werden, während die ganze Episode zum Vorschein bringt, dass doch nicht alles so idyllisch war in den Beziehungen der beiden […].39

Letztendlich jedoch

Lutz, Catherine A. / Abu-Lughod, Lila (Hg.): Language and the Politics of Emotion. Cambridge 1990. 38 Eleftherotypia 1995: „IZVINITE“ episimos zitei i Ellada‘, in: ELEFTHEROTYPIA 05. 07. 1995. ˇ icˇic´, Dragan: ,Srbi i Grci. Bratstvo u kosˇu‘, in: NIN 14. 07. 1995, S. 10 – 12, hier S. 10 39 C [Übersetzung der Autorin].

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sind Serben und Griechen nichtsdestotrotz Brüder. Sowohl die einen als auch die anderen suchen krampfhaft nach Freunden, wo diese schwer zu finden sind, sowohl die einen als auch die anderen genießen es, sich in Begleitung von schnulziger Musik zu besaufen und nicht wenige lieben es, über ewige brüderliche Beziehungen zu schwafeln unter der Voraussetzung, so wenig Kontakt wie möglich mit dem Bruder zu haben. Und natürlich versuchen sie im Basketball eine Befriedigung für zahlreiche politische Frustrationen zu finden.40

Abbildung Abb. 1: „Sie haben die griechische Flagge in Srebrenica gehisst“, Ethnos, 13. 07. 1995.

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40 Bacˇevic´, Batic´ : ,Ipak, brac´a‘, in: NIN 14. 07. 1995, S. 12 [Übersetzung der Autorin].

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Der „Mischling“ – die Verkörperung der Brüderlichkeit oder der Uneinigkeit in Bosnien?

Als „Mischling“ (bosn. mjesˇanec) wird in Bosnien und der Herzegowina offiziell ein Kind bezeichnet, das in der Ehe zweier Menschen mit unterschiedlichen ethnisch-religiösen Hintergründen geboren wurde.1 Seine Stellung in der Gesellschaft hat sich seit dem Zerfall Jugoslawiens und dem Krieg in Bosnien 1992 – 95 dramatisch verändert. Aus der Verkörperung der „Brüderlichkeit und Einheit“ in Jugoslawien wurden „Mischlinge“ in der Nachkriegszeit zu Figuren der Entzweiung. Im „Mischen“ steckt das Potenzial für die Schwächung und Erschütterung eines festeren, durch den Prozess der Homogenisierung hervorgegangenen Gegenstandes – der Nationalität (fr. nationalit¦) bzw. der Volkszugehörigkeit und der Volkseigentümlichkeit.2 Die Bezeichnung „Zugehörigkeit zu einem Volke“ steht im Konflikt mit dem, was aus ethnisch gemischten Ehen hervorgeht: Sogenannte „Mischlinge“ lassen sich keinem Volke zuordnen und sind Figuren, die anderen „Marginalisierten“ sehr ähnlich sind. Der französische Schriftsteller libanesischer Herkunft, Amin Maalouf, bezeichnet in seiner Studie Mörderische Identitäten (Les Identit¦s meurtriÀres, 1998) solche hybride Identitäten folgenderweise: Wir haben es nicht mit ein paar Randgruppen zu tun, ihre Zahl geht in die Tausende, in die Millionen, und sie wächst kontinuierlich. Als „Grenzgänger“ – von Geburt, aufgrund der Wechselfälle des Lebens oder aus freien Stücken – vermögen sie auf die Ereignisse Einfluss zu nehmen und die Waage nach der einen oder der anderen Seite ausschlagen zu lassen. Diejenigen von ihnen, die ihre Vielfalt uneingeschränkt zur 1 Der Begriff „Mischling“ wurde im 19. Jahrhundert zunächst auf Kinder aus religiös gemischten Ehen, etwa zwischen einem katholischen und einem protestantischen Partner, angewandt, später auf Personen von gemischter ethnischer oder „rassischer“ Herkunft. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland der rassistisch konnotierte Begriff verboten (vgl. Tent, James F.: Im Schatten des Holocaust. Schicksale deutsch-jüdischer Mischlinge im Dritten Reich. Köln/Weimar/Wien 2007). In den Ländern Ex-Jugoslawiens ist das nicht der Fall. 2 Klaic´, Nikola / Anic´, Sˇime / Domovic´, Zˇelimir: Rjecˇnik stranih rijecˇi. Beograd 2001, S. 933.

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Geltung bringen können, werden als „Schaltstellen“ zwischen den verschiedenen Gemeinschaften und Kulturen dienen; sie werden in den Gesellschaften, in denen sie leben, gewissermaßen die Rolle eines sozialen „Bindemittels“ spielen.3

Genau diese Rolle wurde den „Mischlingen“ in der jugoslawischen Politik der „Brüderlichkeit und Einigkeit“ zugesprochen; in der post-jugoslawischen Zeit wurde aus dem Garant des transnationalen Jugoslawiens eine Gefährdung der bosnischen nationalen Identität. Die ehemals hybride jugoslawische Gemeinschaft, insbesondere im heutigen Bosnien und Herzegowina, betrachtet den „Mischling“ als Gefahr für die kulturelle Authentizität. Der Unterschied zwischen der jugoslawischen und der post-jugoslawischen Zeit liegt vor allem in der unterschiedlichen Auffassung von Heterogenität. Während in Jugoslawien hybride Identitäten affirmativ behandelt wurden, wird im Nachkriegsbosnien, das wegen seiner Multiethnizität Jugoslawien strukturell am ähnlichsten blieb, die Toleranz nur vorgetäuscht. Die Transformation der Figur des „Mischlings“ verdient aus diesem Grund ein besonderes Augenmerk.

Der „Mischling“ im Nachkriegsbosnien: Eine bosniakische Position aus dem Jahre 1996 Mit dem Ziel, ein besseres Verständnis der bosnisch-herzegowinischen Nachkriegszeit und der aktuellen „Mischling“-Debatte zu schaffen, soll an dieser Stelle eine 1996 in Sarajevo erschienene implizit rassistische Publikation vorgestellt werden: Dzˇemaludin Latic´, ein bosnisch-herzegowinischer Schriftsteller, der zum intellektuellen „Club 99“, einer Assoziation unabhängiger Intellektueller gehört, bezeichnet im Essay „Die Farblosen“ („Bezbojni“) die Bosnier paradoxerweise als eine neue, „vierte“ Nation der Zukunft – zusätzlich zu den drei vorhandenen, den Bosniaken, Kroaten und Serben.4 Diese ,neue‘ bosnische Nationalidentität, die Menschen verschiedener religiöser und ethnischer Zugehörigkeiten teilen, welche auf demselben Territorium geboren sind und dort auch leben, ähnelt der ehemaligen, inzwischen verpönten jugoslawischen Identität. Die Tatsache, dass im Jahr 2012 15 % gemischte Ehen in Bosnien geschlossen wurden, bezeichnet der Autor als Fakt, von dem ihm „übel“ wird: Es kann passieren, dass wir durch die Universalisierung der Werte, das Hervorheben des Allgemeinen und das Vernachlässigen des Besonderen, wieder in eine Art „Brü3 Maalouf, Amin: Mörderische Identitäten. Aus dem Französischen von Christian Hansen. Frankfurt/M. 2000, S. 36 f. 4 Latic´, Dzˇemaludin: ,Bezbojni‘, in: Latic´, Dzˇemaludin / Karic´, Enes / Spahic´, Mustafa / Durakovic´, Esad (Hg.): Mjesˇoviti brakovi. Rijaset islamske zajednice. Sarajevo 1996, S. 111 – 116.

Der „Mischling“

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derlichkeit und Mord“ hineingeraten, in der an den bosnischen Moslems die kulturelle und zivilisatorische Ausrottung fortgesetzt wird.“5

Der „Mischling“ avanciert zum spiegelverkehrten Prototyp der „Brüderlichkeit und Einigkeit“, der eine Zuordnung nach dem Kriterium des „reinen Blutes“ nicht zulässt und daher das „Besondere“, also das Nationale, gefährdet. Die „kulturelle und zivilisatorische Ausrottung“, von der der Autor spricht, sei das Ergebnis solcher Individuen, die das national und religiös Besondere verworfen hätten. Des Weiteren führt er an: Mischehen, eine Art Flagge einer falsch verstandenen Koexistenz, sind meistens gescheiterte Ehen, in welchen es zu schweren Konflikten kommt; Kinder aus solchen Ehen sind wegen ihrer Herkunft frustriert und man sollte endlich mit solchen widerlichen Handreichungen aufhören. Die Unterschiede zwischen Muslimen und Nichtmuslimen sind so groß, dass wir, wenn wir unseren jungen Menschen einen anderen Weg suggerieren, wie z. B. eine eheliche Gemeinschaft nur mit Gleichgesinnten einzugehen, leichter eine Gesellschaft ohne Traumata erschaffen. Würden hier in der Republik Bosnien-Herzegowina Gesetze erlassen, durch welche jemand bestraft werden könnte wegen einer Entscheidung, die letztendlich privat ist und die nicht für politischen Aufruhr genutzt werden könnte, würde ich mich widersetzen, dennoch müsste die islamische Gemeinschaft und nicht nur sie, endlich mit dem offiziellen Standpunkt an die Öffentlichkeit treten, dass der Islam unter Bedingungen wie sie in Bosnien–Herzegowina herrschen, keine Eheschließung zulässt zwischen Muslimen und Nichtmuslimen […] Fast jede Mischehe ist für Bosniaken eine verlorene „Feuerstelle“.6

ˇ etnik Der gleiche Autor entfaltet im Essay „Ein Tschetnik in unserer Mitte“ („C 7 med¯u nama“) die Gedanken über die „Farblosen“ weiter. Die Mischehen seien die schlimmsten Folgen für das bosniakisch-muslimische Volk und zwar, weil man Kindern christliche Namen gibt, sie nicht beschneidet, das Trinken von Alkohol und das Essen von Schweinefleisch zulässt. Latic´ spricht davon, dass 5 Ebd., S.113. 6 Latic´ ,Bezbojni‘ 1996, S.114: „Mjesˇoviti brakovi, neka vrsta zastave pogresˇno shvac´enog zajednicˇkog zˇivota, vec´inom su propali brakovi, u njima nastaju tesˇki sukobi; djeca iz takvih brakova su frustrirana porijeklom, i sa takvim degutantnim preporukama valjalo bi jednom prestati. Razlike izmed¯u Muslimana i nemuslimana su tolike da c´emo, ako nasˇim mladim ljudima sugerisˇemo drukcˇiji put, naime, da u bracˇnu zajednicu idu samo sa istomisˇljenicima, laksˇe doc´i do drusˇtva bez trauma. Protivio bi se tome da ovdje, u RBiH donosimo zakone kojima bi se neko kazˇnjavao zbog, na koncu, privatne odluke, koja se ne mozˇe koristiti na politicˇkim tambalasima, ali bi, recimo, islamska zajednica, i ne samo ona, konacˇno morala izac´i sa javnim stavom da islam u okolnostima kakve su u BiH, ne dopusˇta ni zˇenidbu ni udaju izmed¯u Muslimana i nemuslimana […] Skoro svaki mijesˇani brak za Bosˇnjake je jedno izgubljeno ognjisˇte.“ ˇ etnik med¯u nama‘, in: Latic´, Dzˇemaludin / Karic´, Enes / Spahic´, Mustafa 7 Latic´, Dzˇemaludin: ,C / Durakovic´, Esad (Hg.): Mjesˇoviti brakovi. Rijaset islamske zajednice. Sarajevo 1996, S. 131 – 135, hier S. 131.

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man im ehemaligen Jugoslawien „einen anderen Glauben heiraten“ musste, um beruflichen Erfolg zu haben. „Kinder aus Mischehen waren und bleiben ein schwer lösbares Problem“, resümiert Latic´.8 Prof. Dr. Enes Karic´, ordentlicher Professor an der Fakultät für islamische Wissenschaften in Sarajevo, bezeichnet im Essay „Die Gutherzigen“ („Dobroc´udnici“) in demselben Sammelband unter anderem die bekannteste Tageszeitung in Bosnien-Herzegowina, Oslobod¯enje (Befreiung), als eine perfide Zeitung, die die Bosniaken glauben machen will, dass „kommunistisch diktierte Mischehen etwas Gutes sind“.9 Die Franzosen hätten der Oslobod¯enje Druckpapier gegeben, damit diese zur „Eigentümerin der Geschichte“ würde, während die Kinder in Sarajevo nicht einmal Milchpulver zu essen hatten, schreibt der Autor. Karic´ nennt die Mischehen eine Form des aktiven Widerstandes gegen die Reifung des bosniakischen Bewusstseins und dessen langfristigen Überlebens. In einem weitere Essay „Das Aussäen von Samen für einen neuen Genozid an den Bosniaken“ („Sijanje sjemena za novi genocid nad Bosˇnjacima“), weist Dr. Esad Durakovic´ darauf hin, dass eine „bosnische Nation nicht existiert: Das ist eine besonders gefährliche Falle und eine Bezeichnung für Antinationalität, in dem Maße wie es bis gestern das Jugoslawentum war.“10 Er bezeichnet außerdem die Verfechter der „vierten Nation“, der sogenannten Mischehen also, als eine „hermaphroditische Nation“. Mustafa Spahic´, Mittelschullehrer an der islamischen Schule Gazi Husrev-Beg Madrasa, schreibt im Essay „Mischehen – Mahnung einer Zeit“ („Mjesˇoviti brakovi – opomena jednog vremena“)11 den Mischehen die Funktion einer Entfremdung zu: „Viele der unglücklichen Männer und Frauen, die eine Mischehe eingegangen sind, haben sich von ihren

8 Die negative Einstellung gegenüber den Kindern aus Mischehen wurde während des Krieges in den Medien, wie etwa der Zeitschrift Ljiljan (Lilie), propagiert. Die erste Ausgabe der Zeitschrift Ljiljan erschien am 31. August 1992 nach der Einstellung der Zeitschrift Muslimanski glas (Muslimische Stimme). Die Zeitschrift erschien in Zagreb, nach dem Kriegsende in Sarajevo. Der Untertitel lautete zuerst „Blatt für ein freies Bosnien-Herzegowina“, später wurde er in „bh.politisches Magazin“ geändert. Die bosniakisch nationale Zeitschrift widmete sich vor allem den politischen Fragen in Bosnien-Herzegowina, hatte aber auch Rubriken wie Kultur, Wirtschaft und Internationales. Der erste Chefredakteur war Dzˇemaludin Latic´. Das Magazin wurde im März 2005 eingestellt (vgl. [Zugriff: 30. 07. 2012]). 9 Karic´, Enes: ,Dobroc´udnici‘, in: Latic´, Dzˇemaludin / Karic´, Enes / Spahic´, Mustafa / Durakovic´, Esad (Hg.): Mjesˇoviti brakovi. Rijaset islamske zajednice. Sarajevo 1996, S. 117 – 124. 10 Durakovic´, Esad: ,Sijanje sjemena za novi genocide nad Bosˇnjacima‘, in: Latic´, Dzˇemaludin / Karic´, Enes / Spahic´, Mustafa / Durakovic´, Esad (Hg.): Mjesˇoviti brakovi. Rijaset islamske zajednice. Sarajevo 1996, S. 125 – 130. 11 Spahic´, Mustafa: ,Mjesˇoviti brakovi – opomena jednog vremena‘,in: Latic´, Dzˇemaludin / Karic´, Enes / Spahic´, Mustafa / Durakovic´, Esad (Hg.): Mjesˇoviti brakovi. Rijaset islamske zajednice. Sarajevo 1996, S. 181 – 189.

Der „Mischling“

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Eltern, Geschwistern, Verwandten und Freunden entfremdet.“12 Der Autor vergleicht die Sünde der Vergewaltigung von muslimischen Frauen mit der vermeintlichen „Sünde“ des freiwilligen Eingehens einer Mischehe: Obwohl diese Vergewaltigungen für uns alle sehr schlimm, unerträglich und unverzeihbar sind, sind diese vom Standpunkt des Islams nicht so schlimm und schmerzvoll wie Mischehen und die daraus entstammenden Kinder. Am schlimmsten ist die Sünde, dass wir diese Mischehen als etwas Normales, Natürliches und Sündenfreies angenommen haben.13

Es ist ein Paradoxon, dass der Urheber dieser Worte, der mit seiner Rede Frieden im Sinn hatte, selbst die Entstehung einer transreligiösen Freundschaft verhindert, indem er Mischehen ausschließt. Eine weitere zusammenhangslose Vermutung von Mustafa Spahic´ im gleichen Essay lautet folgendermaßen: „Mit mathematischer Genauigkeit kann festgestellt werden, dass die Verbrecherhand der Tschetniks am meisten die Städte und Orte zerstört hat[,] in denen es die meisten Mischehen und außerehelichen Kinder gab.“14 Hierzu kann eine neuere Aussage des Professors Vedad Spahic´ an der Universität in Tuzla, hinzugefügt werden: Das letzte System hat die Mischlinge verwöhnt, gab ihnen die Chance zum Durchbruch eo ipso, da Fakt ist, dass die Kinder aus einer Mischehe kommen. Denn, um Gottes willen, ihre Eltern können nicht verdächtig sein, sie sind Brüderlichkeit und Einigkeit, den Liebling der kommunistischen Diktatur festigen sie in ihrem Bett. […] Der Status prädestinierter Favoriten, der ihnen im ehemaligen Regime von Triglav bis Öevd¯elije gewährleistet wurde, führte dazu, dass die Mischlinge aus intellektueller Sicht auch für typische Mediokritäten gehalten wurden. Woher diese Meinung? Sie stammt aus der frühen Erkenntnis, dass ihnen ohne viel Mühe alles im Leben wie geschmiert läuft; so werden Mischlinge in der Bildung, intellektuell, oft auch moralisch vernachlässigt und bleiben deshalb Idioten und Dummköpfe.15 12 Ebd., S. 183. „Mnogi od nesretnika i nesretnica, koji su stupali u mjesˇovite brakove, odrodili su se od svojih roditelja, brac´e i sestara, rodbine i prijatelja.“ 13 Ebd., S. 187. „Mada su nam svima ova silovanja tesˇka, nepodnosˇljiva i neoprostiva, ona su sa stajalisˇta islama laksˇa i bezbolnija od mjesˇovitih brakova, djece i prijateljstva iz njih. Najtezˇi je grijeh sˇto smo mi te mjesˇovite brakove prihvatili kao nesˇto normalno, prirodno i bezgrijesˇno.“ 14 Ebd., S. 183. „Mozˇe se sa matematicˇkom preciznosˇc´u utvrditi da su od cˇetnicˇke zlikovacˇke ruke najvisˇe nastradali gradovi i mjesta u kojima je najvisˇe bilo mjesˇovitih brakova i vanbracˇne djece.“ 15 Vehad Spahic´ ,Wie leben die Kinder in Mischehen im heutigen BuH. Krebsgeschwür am „reinen“ und „gesunden“ Gewebe der kroatischen, serbischen und bosniakischen Ethnie‘ / ,Istrazˇivanje/Kako zˇive djeca iz mjesˇovitih brakova u danasˇnjoj: Kancer na ’cˇistom i zdravom’ tkivu hrvatske, srpske i bosˇnjacˇke etnije‘, verfügbar unter : [Zugriff: 06. 08. 2013]: „Prosˇli sistem mjesˇance je tetosˇio, ukazivao im ˇsansu za probitak eo ipso, samim faktorom da su cˇeljad iz mjesˇovitog braka. Jer, zaboga, njihovi roditelji ne mogu biti sumnjivi, oni su

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Es fällt schwer, die Ähnlichkeiten zwischen den Schriften der angeführten bosniakischen Intellektuellen und der Rede Adolf Hitlers aus dem Jahr 1923 „Die Natur mag keine Bastarde“ zu übersehen.16 Obwohl diese Behauptungen nicht argumentativ untermauert sind und aus eigenen subjektiven Meinungen heraus ausgesprochen wurden, können sie die Widersprüchlichkeit der Lage in den neu entstandenen Staaten nach dem Zerfall Jugoslawiens vermitteln, wo die „Mischlinge“, wenn sie sich nicht dazu entschließen, auf einen Elternteil zu verzichten und sich damit für eine ethnische Zugehörigkeit entscheiden, als „Andere“ kategorisiert werden, wodurch ihnen die meisten Bürgerrechte vorenthalten bleiben. Bei der Bewerbung um eine Arbeitsstelle müssen sich die Kinder aus Mischehen zu einer Nationalität bekennen, denn die Arbeitsvergabe verläuft außer nach den persönlichen Bekanntschaften auch nach dem nationalen Schlüssel, welcher sich auf die drei dominanten Ethnien bezieht. Ein ähnliches Problem gibt es auch im Fall „zwei Schulen unter einem Dach“, wo sich das Kind aus einer Mischehe für die Seite des Vaters oder der Mutter entscheiden muss; das Kind muss entscheiden, welche Feiertage es feiern wird, welche Religion und Geschichte es lernen wird etc. Dies ist noch immer, 16 Jahre nach dem Krieg, in Bosnien-Herzegowina der Fall. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass die Mischehen, obwohl sie auch in der Zeit des ehemaligen Jugoslawiens begrüßt wurden, prozentual trotzdem wenig vertreten waren. Gemäß der Studie von Neda Perisˇic´ „Mischehen in Bosnien und Herzegowina“, die von der Friedrich Ebert Stiftung unterstützt wurde, gab es im ehemaligen Jugoslawien nur 13 % Mischehen, also nur 8 % mehr als heute. Sehr interessant sind auch die Informationen, die im Rahmen einer mit 995 Prüflingen durchgeführten Umfrage ermittelt wurden.17 Die Frage lautete: „Unterstützen Sie die Eheschließung zwischen Angehörigen unterschiedlicher konstitutiver Völker in Bosnien und Herzegowina?“ Mit „JA“ antworteten 41.4 % aller Prüflinge, während 48.8 % sich gegen eine solche Ehe aussprachen und 10.2 % der Prüflinge mit „Ich weiß nicht“ antworteten.18 Wie ehrlich die Antworten auf diese Umfrage sind, kann man einschätzen, wenn man sie mit der Prozentzahl der geschlossenen Ehen vergleicht, die im Föderalen Amt bratstvo-jedinstvo, tu zjenicu oka komunisticˇke diktature ucˇvrsˇc´uju u svojoj postelji.[…] Status predestiniranih favorita jamcˇen im u bivsˇem rezˇimu od Triglava do Öevd¯elije ucˇinio je i to da su mjesˇanci u intelektualnom pogledu bivali poglavito tipicˇni mediokriteti. Zasˇto? Pa ranom spoznajom da im bez plaho zahmeta u zˇivotu ide uglavnom ko po loju, mjesˇanci se obrazovno, intelektualno, pocˇesto i moralno zapusˇtaju i ostaju duduci i tokmaci cijelog zˇivota.“ 16 Zu Hitlers Rede vgl. Tent 2007, S. 2. 17 Neda Perisˇic´ : ,Mejsˇoviti brakovi u Bosni i Hercegovini, Sarajevo 2012‘, verfügbar unter : [Zugriff: 30. 07. 2012]. 18 Ebd.

Der „Mischling“

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für Statistik verfügbar sind. Vor dem Hintergrund dieser Studie macht sich ein weiteres Problem bemerkbar : Im Unterschied zum deutschen Umfeld, wo der Gebrauch dieses Wortes außer unter Anführungszeichen verboten ist, wird hierzulande das Wort „Mischling“, welches mit rassistischen, faschistischen und nationalistischen Konnotationen geprägt ist, ohne Anführungszeichen und jegliche Zurückhaltung verwendet. Vor allem Web-Portale – Nachrichtenportale, Radio-Portale, bis zu jenen der religiösen Gemeinschaften – bieten ein breites Meinungsspektrum zu diesem Thema. Obwohl Mischehen und die Kinder aus Mischehen jahrelang nicht thematisiert wurden, erscheinen im Jahr 2012 immer mehr Texte und Reaktionen zu diesem Thema. Ein Text, vom Schauspieler und Regisseur Nikola Pejakovic´ verfasst, erregte die größte Aufmerksamkeit und löste besonders stürmische Reaktionen aus: Unter dem Titel „Mischehen sind Nazi-Programme der Kommunisten“ („Mijesˇani brakovi su naciu-program komunista“) wurde er im November 2012 auf dem Portal radiosarajevo.ba veröffentlicht. Dieses Thema muss man bearbeiten, denn es repräsentiert ein wichtiges Fundament des Überlebens eines Volkes, des Überlebens seiner kulturellen Werte, seiner Sitten, Tradition. Das sind – Mischehen. Ich meine damit Ehen zwischen Menschen verschiedener Religionen, die Angehörige verschiedener Völker sind. Und ich meine auch die Idee der jugoslawischen Kommunisten, dass man durch das Propagieren und Glorifizieren der Mischehen, im Sinne eines Yugo melting pots, alle Nationen und Völker schmilzt und eine jugoslawische Nation bildet, eine atheistische, die auf den Lehren Marxs, Engels, Stalins beruhen, sowie auf den Lehren der Hochstapler hierzulande. Dieses Nazi-Programm, dieses Spiel mit dem Leben der Nationen, ist auch durch das Einführen der Familien in den gegenseitigen Krieg blutig unterbrochen und die Menschen, Individuen wurden in ein persönliches Chaos, in eine kleine, private Hölle geworfen.19

Der Autor spricht von den „Mischlingen“ wie vom „genetisch-idealistischen Schwachsinn der Yugo-Kommunisten“ und einem „Grillteller für zwei Personen“. Die Frauen und Männer des ehemalige Jugoslawiens hätten „wie kopflose Mücken geheiratet, ohne Rücksicht auf alles“. Wegen der Liebe hätten sie über 19 Pejakovic´, Nikola: ,Mischehen sind Nazi-Programme der Komunisten‘, verfügbar unter : [Zugriff: 06. 08. 2013] „Med¯utim, ova tema se mora obraditi, jer ona predstavlja kljucˇni temelj opstanka jednog naroda, opstanka njegovih kulturnih vrijednosti, njegovih obicˇaja, tradicije. To su – mijesˇani brakovi. Mislim na brakove izmed¯u osoba koje su razlicˇitih vjera, koje su pripadnici razlicˇitih naroda. I mislim na onu ideju jugoslovenskih komunista da se propagiranjem i glorifikovanjem mijesˇanih brakova, u nekoj vrsti jugo melting pota, istope sve nacije i narodi i napravi jedna – jugoslovenska nacija, ateisticˇka, bazirana na ucˇenjima Marksa, Engelsa, Staljina i domac´ih sˇalabajzera. Taj naci-program, ta igra sa zˇivotima generacija, krvavo je prekinuta i uvodec´i porodice u med¯usobni rat, a ljude, pojedince, bacajuc´i u licˇni haos, u mali, privatni pakao.“

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Nacht auf ihre Heimat verzichtet und als neue Religion die kommunistische Partei Jugoslawiens gewählt. Die Mischehen bezeichnet Pejakovic´ als „ein Syndrom der armen, ungebildeten Menschen und Völker“. Kinder aus solchen Ehen wüssten nicht, wer sie sind, sie hätten keine Identität. Symptomatisch für alle rassistischen Texte in Bosnien-Herzegowina ist es, dass die Autoren die Liebe in der Eheschließung zweier Menschen als Nebensache ansehen. In den Vordergrund tritt der gesellschaftliche Status, der erst durch die klare Einordnung zu einer religösen und ethnischen Gemeinschaft ermöglicht wird. Auf dem Portal der islamischen Gemeinschaft www.rijaset.ba wurde ein Gespräch mit dem Professor für Islamische Wissenschaften an der Universität Sarajevo, Mustafa Hasani, unter dem Titel „Zur Zeit Yugoslawies war das Thema der Mischehen bei uns verdrängt“ („U vrijeme Jugoslavije tema mjesˇovitih brakova kod nas je bila prognana“) veröffentlicht.20 Auf die tendenzösen Fragen, wie „Welche Gründe sind die häufigsten für das Schließen der Mischehen in dieser Zeit?“, gibt Hasani radikale Antworten: Der häufigste Grund, warum sich zwei Menschen verschiedener Religionen dazu entschließen würden, eine Mischehe einzugehen, ist, dass sie in diesem Akt die Möglichkeit für die Lösung ihres Status oder des Status der Kinder aus außereherlichem Geschlechtsleben sehen. Es wurden zahlreiche außereheliche, eheliche und familiäre Situationen verzeichnet, welche angegeben haben, dass sich die Beteiligten als Lösung für das Problem, in dem sie sich befinden, für Mischehen entscheiden.21

Ein Beispiel einer solchen Eheschließung aus Liebe aus dem Jahre 2012 ist in manchen Teilen Bosniens und Herzegowinas als Nachricht mit Ausrufezeichen verbreitet worden. Auf dem Internet-Portal „IN VIJESTI“ wurde sie unter dem Titel „Srebrenica – die erste ,Mischehe‘!“ („Srebrenica – prvi ,mijesˇani‘ brak“) veröffentlicht (Abb. 1).22 Im Begleittext zu der Illustration ist explizit von „der ersten zwischenreligiösen Ehe“ die Rede, d. h. das Religiöse, nicht etwas Rassisches wird in den Vordergrund gerückt.

20 Selhanovic´, Selman: ,U vrijeme Jugoslavije tema mjesˇovitih brakova kod nas je bila prognana‘, verfügbar unter : [Zugriff: 29. 07. 2013]. 21 Ebd. „Kao najcˇesˇc´i razlog zbog kojeg bi se dvoje ljudi razlicˇite religijske pripadnosti odlucˇili da sklope mjesˇoviti brak jeste to da su u ovom cˇinu vidjeli moguc´nost razrjesˇenja njihova statusa ili statusa djece proistekle iz vanbracˇnog seksualnog zˇivota. Zabiljezˇene su brojne vanbracˇne, bracˇne i porodicˇne situacije koje su navodile da se ukljucˇeni opredijele za sklapanje mjesˇovitog braka kao lijeka za problem u kojem su se nasˇli.“ 22 Anonym: ,Srebrenica – prvi mijesˇani brak‘, in: IN VIJESTI 09. 03. 2012, verfügbar unter : [Zugriff: 30. 07. 2013].

Der „Mischling“

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Abb. 1: ,Srebrenica – die erste „Mischehe“‘!, 2012.

Sie berichtet von der Ehe zwischen dem Bosniaken Almir Salihovic´ und der Serbin Dusˇica Rendulic´, der ersten interreligösen Ehe, die in Srebrenica nach dem Krieg geschlossen wurde. Dies bestätigt auch der Imam Alen Hasanovic´, der sagt, dass es seit 1995 in Srebrenica keine Mischehen gegeben hatte, obwohl die Anzahl solcher Ehen vor dem Krieg in Srebrenica sogar bei 33 % lag, was im Gegensatz zu den Mischehen sowohl in Bosnien und Herzegowina als auch im ehemaligen Jugoslawien ein hoher Prozentsatz war. Die deutsche Hilfsorganisation „Habitat for Humanity“ habe den Eheleuten ein Haus auf dem Grundstück von Salihovic´s Mutter erbaut und vor sieben Monaten seien die beiden stolze Eltern des kleinen Jusufs geworden, so besagt es der Artikel. Eine sehr typische serbophobe Reaktion auf die Meldung, die mit in die Nachricht aufgenommen wurde, ist die von Sˇefika Halilovic´ (47) aus Srebrenica: „Wenn mein Sohn eine Serbin nach Hause bringen würde, würde ich sagen: ,In Ordnung, lebe mit ihr, aber nicht unter meinem Dach‘“.23 Die Meldung löste eine Lawine negativer Reaktionen im Internet aus.24 „Mischlinge“ werden also in Bosnien ständig aufgefordert, ein Lager zu wählen und wenn sie dies nicht tun, werden sie als „nicht-dazugehörig“ ausgeschlossen. Im „Mischling“, dem ehemaligen Garant des multinationalen Jugoslawiens und der Prävention eines „Bruderkriegs“, manifestiert sich heute die Verkörperung der „Uneinigkeit“, ja des Rassismus im gegenwärtigen Bosnien 23 Ebd. 24 Anonym: ,Srebrenica. Mijesˇani brakovi unisˇtavaju BIH, Almir Salihovic´ ozˇenio Srpkinju Dusˇicu‘, verfügbar unter : [Zugriff: 03. 07. 2012].

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und der Herzegowina, aber auch anderenorts auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Aus einer positiven, vereinigenden Figur mutierte er in eine Figur der Bedrohung und Ausgeschlossenheit.

Abbildung Abb. 1: ,Srebrenica – die erste „Mischehe“!‘, in: ,Srebrenica – prvi mijesˇani brak‘, in: IN VIJESTI 09. 03. 2012, verfügbar unter : [Zugriff: 30. 07. 2013].

Literatur Anonym: ,Srebrenica. Mijesˇani brakovi unisˇtavaju BIH, Almir Salihovic´ ozˇenio Srpkinju Dusˇicu‘, verfügbar unter : [Zugriff: 03. 07. 2012]. Anonym: ,Srebrenica – prvi mijesˇani brak‘, in: IN VIJESTI 09. 03. 2012, verfügbar unter : [Zugriff: 30. 07. 2013]. Durakovic´, Esad: ,Sijanje sjemena za novi genocide nad Bosˇnjacima‘, in: Latic´, Dzˇemaludin / Karic´, Enes / Spahic´, Mustafa / Durakovic´, Esad (Hg.): Mjesˇoviti brakovi. Rijaset islamske zajednice. Sarajevo 1996, S. 25 – 130. Karic´, Enes: ,Dobroc´udnici‘, in: Latic´, Dzˇemaludin / Karic´, Enes / Spahic´, Mustafa / Durakovic´, Esad (Hg.): Mjesˇoviti brakovi. Rijaset islamske zajednice. Sarajevo 1996, S. 117 – 124. Klaic´, Nikola / Anic´, Sˇime / Domovic´, Zˇelimir : Rjecˇnik stranih rijecˇi. Beograd 2001. Latic´, Dzˇemaludin: ,Bezbojni‘, in: Latic´, Dzˇemaludin / Karic´, Enes / Spahic´, Mustafa / Durakovic´, Esad (Hg.): Mjesˇoviti brakovi. Rijaset islamske zajednice. Sarajevo 1996, S. 111 – 116. ˇ etnik med¯u nama‘, in: Latic´, Dzˇemaludin / Karic´, Enes / Spahic´, Latic´, Dzˇemaludin: ,C Mustafa / Durakovic´, Esad (Hg.): Mjesˇoviti brakovi. Rijaset islamske zajednice. Sarajevo 1996, S. 131 – 135. Latic´, Dzˇemaludin / Karic´, Enes / Spahic´, Mustafa / Durakovic´, Esad (Hg.): Mjesˇoviti brakovi. Rijaset islamske zajednice. Sarajevo 1996, verfügbar unter : [Zugriff: 30. 07. 2013]. Maalouf, Amin: Mörderische Identitäten. Aus dem Französischen von Christian Hansen. Frankfurt/M. 2000. Hasani, Mustafa: ,Vjerske slobode i bracˇne obaveze‘, in: SLOBODNA BOSNA 10. 02. 2011, verfügbar unter : [Zugriff: 30. 07. 2012]. Neda Perisˇic´, Mejsˇoviti brakovi u Bosni i Hercegovini [Mischehen in Bosnien und der

Der „Mischling“

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Herzegowina], Sarajevo 2012, in: (Zugriff: 30. 07. 2012). Nikola Pejakovic´ : ,Mjesˇani barkovi su naci-program komunista‘, verfügbar unter : , 12. 11. 2012 (Zugriff: 30. 03. 2013). Paic´, Zˇarko: ,Zemljovidi za lutalice. ,Nomadizam i kaos kraja povijesti‘, in: SARAJEVSKE SVESKE 2009/23 – 24, S. 107 – 127. Spahic´, Mustafa: ,Mjesˇoviti brakovi – opomena jednog vremena‘, in: Mjesˇoviti brakovi. Rijaset islamske zajednice. Sarajevo 1996, S. 181 – 189. Tent, James F.: Im Schatten des Holocaust. Schicksale deutsch-jüdischer Mischlinge im Dritten Reich. Köln/Weimar/Wien 2007. Selhanovic´, Selman: ,U vrijeme Jugoslavije tema mjesˇovitih brakova kod nas je bila prognana‘, in: [Zugriff: 31. 03. 2013].

Renata Makarska (Mainz / Germersheim)

Neue Polykulturalität in Zentraleuropa. Tschecho-Vietnamesen zwischen Inklusion und Exklusion

„Neue tschechische Minderheit“. Einführung Männer und Frauen sitzen bei Tisch, mit Bier in der Hand, sie singen die slowakische Nationalhymne „Nad Tatrou sa bly´ska“ („Ob der Tatra blitzt es“) und erinnern sich ihrer Jugendjahre. An sich könnte es ein gewöhnliches Bild sein, aber die Beteiligten sind Vietnamesen und der Biertisch steht in Ho-Chi-MinhStadt. Die Szene stammt aus Martin Rysˇavy´s Dokumentarfilm Kdo meˇ naucˇ† pu˚l znaku (Wer bringt mir auch einen halben Buchstaben bei) aus dem Jahr 2006, der sich mit dem Schicksal der „Immigranten der ersten Stunde“ befasst, welche in der Tschechoslowakei der 1950er Jahren studiert und/oder ein praktisches Fach gelernt haben.1 Dadurch konnten sie einerseits dem Krieg mit Frankreich entkommen und andererseits nach der Rückkehr beim Aufbau des Landes mithelfen. Diesem ersten Film folgten 2009 noch Zemeˇ snu˚ (Das Land der Träume)2 sowie Ban‚nov¦ deˇti (Bananenkinder)3 ; Rysˇavy´s ,vietnamesische Trilogie‘ dokumentiert somit verschiedene Etappen der „Brüderlichkeit“ beider Gesellschaften – von der vorsichtigen Anbahnung der Zusammenarbeit in den 1950er Jahren, über den fast massenhaften Austausch zwanzig Jahre später und das Desaster der Nachwendezeit, bis hin zu dem neuesten Phänomen der „Bananenkinder“, der zweiten Generation der Immigranten. Die Filme fragen nach den Hintergründen der großen Präsenz der vietnamesischen Community in der tschechischen Gesellschaft der letzten Jahre: Die Vietnamesen werden nämlich immer sichtbarer – nicht nur im Stadtbild, sondern auch im Kulturleben und in 1 Zur Geschichte der vietnamesischen Migration in die Tschechoslowakei und die Tschechische Republik vgl. Broucˇek, Stanislav (Hg.): Imigrace – Adaptace – Majorita. Praha 2003; Icˇo, Jan: ˇ R (C ˇ SR)‘, in: Baresˇov‚, Ivona ,Vy´chodiska, podm†nky a historie prˇichodu Vietnamcu˚ do C ˇ esk¦ republice. Olomouc 2010, (Hg.): Soucˇasn‚ problematika vy´chodoasijsky´ch mensˇin v C S. 8 – 19 sowie Mart†nkova, Sˇ‚rka: Vietnamsk‚ komunita v Praze. Praha 2010. 2 Für Zemeˇ snu˚ hat Martin Rysˇavy´ 2010 den Pavel Koutecky´-Preis bekommen. 3 Alle drei Filme, die zuerst nur über das Portal des Tschechischen Fernsehens und YouTube zugänglich waren, erschienen 2012 als DVDs.

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den Medien – erfolgreiche Modedesigner/innen, Schauspieler/innen oder Sänger/innen mit vietnamesischem Migrationshintergrund sind mittlerweile keine Ausnahme mehr. Den offiziellen Angaben nach leben in der Tschechischen Republik zurzeit ca. 57.000 Vietnamesen (mit einer lang- oder kurzfristigen Aufenthaltserlaubnis),4 inoffiziell sind es aber etwa 90.000. Wenn man von der letzten Zahl ausgehen würde, müsste man feststellen, dass die Vietnamesen die dritte ,Minderheit‘ in der Tschechischen Republik – nach den Slowaken und Ukrainern – bilden. Insbesondere der zweiten Generation der Einwanderer, die häufig zweisprachig und mit zwei Heimaten aufwächst, widmen die Medien seit den Filmen von Martin Rysˇavy´ immer mehr Aufmerksamkeit. Trotz der meist geglückten Integration der Immigrantenkinder (bei den Eltern wird dies häufig bemängelt5) und der fast enthusiastischen Aufnahme der ,neuen Minderheit‘ in der tschechischen Öffentlichkeit der letzten Jahre, kennt diese ,NachwendezeitBrüderlichkeit‘ auch Grenzen und zwar rechtlicher Art: Die erwähnten 57.000 Bürger bilden immer noch eine Community, der offizielle Status einer nationalen Minderheit wurde ihnen nicht einmal nach der letzten Volkszählung im Jahre 2011 gewährt und dies obwohl die tschechische Gesetzgebung eine nationale Minderheit nicht als eine autochthone Bevölkerungsgruppe definiert.6 Die tschechischen Vietnamesen – per analogiam zu Deutschland oft als „tschechische Türken“ bezeichnet7 – werden von der Mehrheit zugleich gefeiert und auf Distanz gehalten. Einerseits wartet Tschechien auf den „ersten interkul-

ˇ T24: ,Chceme by´ t 4 Die Angaben entstammen dem Portal des Tschechischen Fernsehens: C uznanou mensˇinou, volaj† Vietnamci‘, 15. 11. 2012, verfügbar unter : [Zugriff: 24. 01. 2013], vgl. auch das Unterkapitel II: „Zwischen Inklusion und Exklusion“. Der Volkszählung aus dem Jahr 2011 nach sind 29.660 Personen, die sich langfristig in Tschechien ˇ esky´ statisticky´ fflrˇad, verfügbar unter : [Zugriff: 28. 06. 2013]. Berücksichtige man auch Vietnamesen mit einer kurzfristigen Aufenthaltsgenehmigung, wären das insgesamt ca. 57.000, zusammen mit den illegalen Immigranten – ca. 90.000. 5 Der Arbeitsrhythmus der vietnamesischen Immigranten und ihre starke Konzentration auf die Familie lässt in der Regel wenig Zeit und Raum für eine Integration in die tschechischen Gesellschaft, vgl. die Einschätzung von Mart†nkov‚ 2010, S. 20 – 23. 6 Vgl. Unterkapitel II. Als Vergleich möchte ich hier Polen nennen, wo seit 2005 gesetzlich geregelt ist, dass eine Bevölkerungsgruppe den Status der nationalen oder ethnischen Minderheit nur bekommen kann, wenn sie seit mindestens 100 Jahren das Gebiet der heutigen Republik Polen bewohnt, vgl. ,Ustawa o mniejszos´ciach narodowych i etnicznych oraz o je˛zyku regionalnym‘, 05. 03. 2005, verfügbar unter : [Zugriff: 10. 07. 2013]. 7 Vgl. Rysˇavy´s, Martin: Zemeˇ snu˚, DVD, 57 min., 2009, 48:00 – 50:00 min.

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turellen Roman“8 (dieser soll ein Pendant zu der deutsch-türkischen Literatur in Deutschland bilden), andererseits ist die tschechische Öffentlichkeit von der dynamisch wachsenden Community teilweise überfordert, die tschechischen Vietnamesen werden daher anstatt zu „neuen Mietern“9 einfach zu weiteren „eigenen Fremden“.10 In seinem berühmten Essay beschreibt Milan Kundera 1984 Zentraleuropa als „größte Vielfalt auf kleinstem Raum“11, er bezieht sich hierbei auf den alten Topos des multikulturellen Kakaniens. Diese Vielfalt schrumpfte jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich, die damalige Tschechoslowakei verlor außer der jüdischen Bevölkerung auch die deutsche sowie teilweise die ungarische und die ukrainische Minderheit. Nach dem Prozess der ethnischen und kulturellen Entmischung in den Nachkriegsjahren,12 scheint es im 21. Jahrhundert zu einer neuen Vermischung und Vielfalt im Zuge der Arbeitsmigration zu kommen: Zu den alteingesessenen Minderheiten stoßen in den letzten Jahrzehnten neue hinzu, die zahlenmäßig größte und sichtbarste Gruppe bilden hierbei eben die Vietnamesen. Im Folgenden beschäftige ich mich mit verschiedenen Aspekten der Herausbildung und Medialisierung dieser ,neuen tschechischen Minderheit‘, wobei der Schwerpunkt deutlich auf der Nachwendezeit liegt. Ich frage nach den Gründen der großen (medialen) Sympathie der vietnamesischen Minderheit gegenüber und nach dem Status der Emanzipation der Tschecho-Vietnamesen, wie sie sich selber bezeichnen.13 Ist das möglicherweise ein Bedürfnis nach Wiederherstellung der zentraleuropäischen Polykulturalität? Sind sie immer noch die Subalternen oder reden sie bereits mit ihrer eigenen Stimme?

8 Diese Rolle sollte die Buchmystifizierung B†lej ku˚nˇ, zˇlutej drak (Weißes Pferd, gelber Drache) aus dem Jahr 2004 übernehmen, vgl. Unterkapitel III. 9 Diese Bezeichnung verwendet Iwona Mickiewicz in Bezug auf die neuen Immigranten in Deutschland (konkret – Berlin), vgl. Mickiewicz, Iwona (Hg.): Die neuen Mieter. Fremde Blicke auf ein vertrautes Land. Berlin 2004. 10 Neben den alteingesessenen Minderheiten (z. B. Roma). Die Bezeichnung „svoe cˇuzˇoe“ stammt aus der Arbeit Jurij Lotmans und Boris Uspenskijs Tipologija kul’tury. Vzaimnoe vozdejstvie kul’tur. Tartu 1982, S. 110 – 112. 11 Kundera, Milan: ,Die Tragödie Mitteleuropas‘, in: Busek, Eberhard (Hg.): Aufbruch nach Europa. Wien 1986, S. 133 – 143, hier S. 135. 12 Diesen Begriff benutzt der Historiker Gregor Thum zwar in Bezug auf Breslau/Wrocław der Nachkriegsjahre, man kann ihn m. E. aber auch verallgemeinernd auf ganz Polen und – noch breiter – ganz Zentraleuropa verwenden, darunter auch die Tschechoslowakei, vgl. Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau nach 1945. München 2006, S. 107. 13 Laut Sˇ‚rka Mart†nkov‚ ist die Selbstbezeichnung „ViÞt X¾“ weit verbreitet, vgl. Mart†nkov‚ 2010, S. 32.

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Tschechoslowako-Vietnam Der Anbahnung der diplomatischen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und dem Vietnam in den Nachkriegsjahren folgten die Verträge über die wirtschaftlich-technische Hilfe (1955) sowie über den wissenschaftlichen Austausch (1956).14 In dieser Zeit kam eine Großzahl an Studierenden, Praktikanten und unqualifizierten Arbeitern in die Tschechoslowakei, Anfang der 1970er Jahre lernten hier bis zu 12.000 Vietnamesen ihren Beruf, in den Jahren 1980 – 1983 sogar 30.000.15 Diese enge Kooperation war einerseits als Hilfe für die Kriegsgebiete in Vietnam konzipiert, die ausgebildeten Arbeiter sollten bei dem Wiederaufbau ihres Landes helfen. Andererseits suchte die damalige Tschechoslowakei auch nach Absatzmärkten für ihre Produkte. Die Zusammenarbeit ging so weit, dass noch in den 1950er Jahren vietnamesische Waisenkinder ins Kinderheim nach Chrastava kamen16 und in Haiphong mit tschechoslowakischer Hilfe 1960 ein Krankenhaus eröffnet wurde.17 Ein Bild dieser Generation liefert der erwähnte Film Rysˇavy´s, auf dasselbe Thema kommt aber auch der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudisˇ in seinem Essay Das vietnamesische Tschechien18 zu sprechen: Sie sind hier vor allem in technischen Berufen ausgebildet worden oder haben Industriefachschulen besucht. Nachdem sie Ausbildung und Praxis absolviert hatten, sind sie zurück nach Hause gegangen. Zu dieser Zeit haben hier auch viele Vietnamesen an Hochschulen studiert. Gerade diejenigen, die mit dem Leben hierzulande schon Erfahrungen hatten, haben bei uns nach der Wende mit Erfolg ein Gewerbe aufbauen können,19

sagt eine Gesprächspartnerin dem Autor. Martin Rysˇavy´, der in der Tschechischen Republik insbesondere als Autor der Reiseberichte Cesty na Sibirˇ (Reisen nach Sibirien, 2008) sowie des mehrmals ausgezeichneten Romans Vracˇ (Arzt, 2010)20 bekannt ist, dokumentiert in seinen Filmen verschiedene Phasen der vietnameisch-tschechischen (bzw. tschechoslowakischen) „Brüderlichkeit“. Der erste Film porträtiert die ,tschechischen‘ „Dohoda o hospod‚rˇsk¦ a veˇdeckotechnick¦ spolupr‚ci”. Icˇo 2010, S. 14. Icˇo gibt an, dass es 100 Kriegswaisen waren, vgl. Icˇo 2010, S. 11. Das Krankenhaus trägt bis heute den Namen der „Tschechoslowakisch-vietnamesischen Freundschaft“. 18 Vgl. Rudisˇ, Jaroslav : ,Das vietnamesische Tschechien‘, 2009, verfügbar unter : [Zugriff: 26. 01. 2013]. 19 Zitat in der Übersetzung von Mirko Kraetsch. 20 Der Titel kann auch eine zweite Bedeutung haben: Wenn „Vracˇ“ als „vrat’“ (lügen) realisiert wird. Die deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Kristina Kallert ist 2013 als Dimitrij der Heiler im Wieser Verlag erschienen.

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Vietnamesen in ihrer Heimat in einem bedeutungsträchtigen Moment: während der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Beendigung des vietnamesischamerikanischen Krieges und zugleich während der traditionellen Gedenkfeier der Hung-Könige. Der Unterschied zwischen der Lage der vietnamesischen Community in der Tschechoslowakei und in der Tschechischen Republik, den Rysˇavy´s Trilogie (insbesondere Zemeˇ snu˚) aufzeichnet, kann nicht größer sein (Abb. 1, 2). Die politische Wende und die Spaltung der Tschechoslowakei bedeuteten das Ende der alten Freundschaftsverträge, die Migration der Vietnamesen in die Tschechische Republik wurde ab dato von der ,freien‘ Marktwirtschaft reguliert mit dem Ergebnis, dass sehr viele von ihnen durch die neu entstandenen Arbeitsagenturen betrogen worden sind.21 Auch der soziale Status der neuen Migranten hat sich verändert, häufig stammen sie aus ärmeren ländlichen Gebieten im Süden des Landes.22 Die Migranten „wissen […] nicht, was sie erwartet, sie gehen in die Welt, sie spielen Vabanque. […] Sie verkaufen ihr Feld, ihr Eigentum, die Häuser, alles, was sie haben, um die Überfahrt zu zahlen“23, sagen NGO-Mitarbeiter, die vietnamesischen Migranten in Tschechien, dem einstigen „Land der Träume“, nicht nur rechtliche, sondern auch humanitäre Hilfe leisten.

Abb. 1: „Wenn ich mich noch einmal entscheiden könnte, würde ich nicht hierher fliegen“, Filmstill aus Martin Rysˇavy´s Zemeˇ snu˚, 2009.

21 Sowohl die tschechischen als auch die vietnamesischen Agenturen machen mit der ,Vermittlung von Arbeit‘ extrem hohe Umsätze. 22 Icˇo 2010, S. 15. 23 Dialoge in der jeweils 27. und 29. Minute.

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Abb. 2: „Alle unsere Besitztümer hat schon die Bank im Tresor“, Filmstill aus Martin Rysˇavy´s Zemeˇ snu˚, 2009.

Die neuen Migranten stecken daher oft in einer finanziellen Zwickmühle – sie müssen ihre Schulden zahlen, haben jedoch keine Arbeit, zurückfahren können sie auch nicht, denn das einstige Eigentum der Familie gehört nun der Bank (vgl. Abb. 2).24 In Rysˇavy´s Film wird eine Parallele zwischen Westeuropa der 1970er Jahre (vor allem Deutschland) und der Tschechischen Republik heute gezogen25 : Die erste Konjunktur der fremden Arbeit ist vorbei, die Immigranten müssten längst in ihre Heimat zurückkehren, doch sie bleiben und es kommen zusätzlich neue Immigranten hinzu, die das Land nicht mehr aufnehmen kann. Der letzte Film befasst sich mit den Kindern der vietnamesischen Migranten in Tschechien, die „Ban‚nov¦ deˇti“ („draußen gelb, also vietnamesisch, innen – weiß: tschechisch“26) genannt werden. Er spielt zwischen Prag und Hanoi, pendelt zwischen den beiden Heimaten der „Bananenkinder“, ist aber auch oft in Klein-Hanoi zu Gast, wie das vietnamesische Einkaufszentrum Sapa im Prager Stadtteil Libusˇ genannt wird. Die Kinder, die oft auch doppelte (vietnamesische und tschechische) Vornamen tragen, wachsen zweisprachig auf und bewegen sich in beiden Gesellschaften.27 Die Doppelidentitäten, die in dem 24 Rysˇavy´s Film berichtet genau über die Kosten, die die Vietnamesen für ein tschechisches Visum tragen müssen, das Visum und die Überfahrt betragen zusammen auf dem freien Markt 10 bis 15 Tausend Dollar (Rysˇavy´s 2009, 18 min.): Dieses Geld legt die ganze Familie zusammen in der Hoffnung, dass die gute Arbeit in Europa eine schnelle Rückzahlung sichert. Um die Kosten einer solchen „Vermittlung“ zurückzuzahlen, müssen die meisten Migranten in der Regel vier Jahre lang arbeiten. 25 Vgl. Rysˇavy´s 2009, 48 – 50 min. ˇ †kaj† n‚m ban‚nov¦ deˇti. Navrch zˇlut†, tedy vietnamsˇt†, a vespod b†l†, cˇesˇt†“, vgl. auch 26 „R Duong Nguyen Thi Thuy : ,Ban‚nov¦ deˇti v cˇesk¦ dzˇungli‘, in: LIDOVÊ NOVšNY, 28. 03. 2008, verfügbar unter : [Zugriff: 24. 01. 2013]. 27 Es ist zum Teil eine Idealisierung, denn viele vietnamesische Schüler verlernen auch mit der Zeit ihre Muttersprache, vgl. Mart†nkov‚ 2010, S. 35 – 37.

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Farbspiel (weiß-gelb) zum Ausdruck gebracht werden, verdienen mittlerweile auch weitere Vergleiche und Metaphern. Es geht hierbei nicht mehr nur um Schichten, sondern um eine Verflechtung: Im Fall der „Bananenkinder“ sind nämlich ihre Sprachen und Identitäten „wie Reisnudeln miteinander verflochten“.28

Zwischen Inklusion und Exklusion Die nationale Struktur der heutigen Tschechischen Republik unterscheidet sich wesentlich von der aus der Zeit vor 1938. Der Volkszählung aus dem Jahr 1921 nach waren die beiden wichtigsten Nationen auf dem tschechischen Gebiet29 die Tschechen (67,6 %) und die Deutschen (30,6 %), in den 1950er Jahren waren es entsprechend 93,9 % und 1,8 %, bis heute (2011) sank die Zahl der Deutschen auf 0,2 %.30 Die Volkszählung aus dem Jahr 2011 hat ergeben, dass nur ca. 3 % der Bevölkerung einer anderen Nationalität angehört als der tschechischen (damit ist auch die mährische und schlesische gemeint)31, davon sind die slowakische (1,4 %), ukrainische (0,5 %), polnische (0,4 %), vietnamesische (0,3 %) sowie die deutsche (0,2 %) die zahlreichsten; ca. 160.000 der Befragten geben zwei Nationalitäten an. Die Zahl der Vietnamesen steigt seit der Wende konstant, wobei das größte vietnamesische Zentrum Prag bleibt, danach wären die Großstädte Brno, Ostrava, Plzenˇ, ¢st† nad Labem sowie die Region Karlovy Vary (hier insbesondere die Grenzstadt Cheb) zu nennen. Der Prozess der offiziellen Integration der Vietnamesen schreitet aber nur langsam voran: In den Jahren 2001 – 2010 bekamen lediglich 482 Vietnamesen die tschechische Staatsbürgerschaft.32 Seit den 1990er Jahren gibt es in der Tschechischen Republik zahlreiche vietnamesische Organisationen, welche die Minderheit nach außen repräsentieren: seit 1992 – den Verband der vietnamesischen Unternehmer (Svaz vietnamsky´ch podnikatelu˚), seit 1997 – die Tschechisch-Vietnaˇ esko-vietnamsk‚ spolecˇnost33) und seit 1999 – den mesische Gesellschaft (C ˇ R). Die Community hat mittVerband der Vietnamesen (Svaz Vietnamcu˚ v C lerweile ihre eigenen Kindergärten, es erscheinen vietnamesische Zeitschriften, 28 Vgl. in Duong Nguyen Thi Thuy 2008: „jazyky se mi propl¦taj† jako ry´zˇov¦ nudle“. 29 Ohne die Slowakei und die Karpatoukraine dazu zu zählen. 30 Bei der Volkszählung 2001 gab es in der Tschechischen Republik ca. 39.000 Deutsche, im Jahr ˇ esky´ statisticky´ fflrˇad. 2011 etwas weniger als 19.000. Vgl. C 31 In den Volkszählungen seit 1991 unterscheidet man zwischen der tschechischen, mährischen und schlesischen Nationalität. 2011 gaben 4,9 % der Bevölkerung die Zugehörigkeit zur mährischen Nationalität und 0,1 % zur schlesischen an. ˇ T24. 32 Die Infos nach: C 33 Vgl. Webseite der Tschechisch-Vietnamesischen Gesellschaft, verfügbar unter : [Zugriff: 29. 06. 2013].

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es arbeitet ein vietnamesisches Fernsehen und eine vietnamesische Bank hat in Tschechien mittlerweile ihre Filiale eröffnet. Eine „nationale Minderheit“ wird in Tschechien gegenwärtig folgendermaßen definiert: „Eine Gruppe von Bürgern der Tschechischen Republik, […] die sich von anderen vor allem durch die ethnische Herkunft, Sprache, Kultur und Traditionen unterscheidet, entsprechend zahlreich ist und selbst für eine nationale Minderheit gehalten werden möchte zum Zwecke der Erhaltung und Entwicklung der eigenen Identität, Sprache und Kultur […]“.34 Das Kriterium der Aufenthaltsdauer wird hier – im Unterschied zu anderen EU-Ländern – nicht erwähnt. Der seit 2005 tätige Regierungsrat für nationale Minderheiten (Rada vl‚dy pro n‚rodnostn† mensˇiny) versammelt Vertreter von insgesamt zwölf anerkannten Minderheiten,35 die Vietnamesen sind jedoch nicht darunter.36 Ende 2012 wandten sich daher die Vertreter der Community (Svaz Vietnamcu˚ v ˇ R) an den damaligen Premierminister Petr Necˇas mit einem Apell um die C Veränderung ihres Status: Die Anerkennung als „nationale Minderheit“ würde nicht nur die Kontakte mit Behörden vereinfachen, sondern auch die finanzielle Situation verbessern, außerdem gäbe es dann einen vietnamesischen Vertreter im Regierungsrat für nationale Minderheiten. Das Innenministerium reagierte ablehnend: Es wurde argumentiert, dass die Vietnamesen an sich keine nationale Minderheit bilden, denn sie integrieren sich nicht, außerdem sind sie nach Tschechien lediglich aus wirtschaftlichen Interessen gekommen.37 Parallel zu der Migration der Vietnamesen in die Tschechoslowakei und später in die Tschechische Republik wuchs insbesondere in Prag das Interesse an ˇ esk¦ republiky zˇij†c†ch na fflzem† soucˇasn¦ 34 „N‚rodnostn† mensˇina je spolecˇenstv† obcˇanu˚ C ˇ esk¦ republiky, kterˇ† se odlisˇuj† od ostatn†ch obcˇanu˚ zpravidla spolecˇny´m etnicky´m pu˚C vodem, jazykem, kulturou a tradicemi, tvorˇ† pocˇetn† mensˇinu obyvatelstva a z‚rovenˇ projevuj† vu˚li by´ t povazˇov‚ni za n‚rodnostn† mensˇinu za fflcˇelem spolecˇn¦ho fflsil† o zachov‚n† a rozvoj vlastn† sv¦bytnosti, jazyka a kultury a z‚rovenˇ za fflcˇelem vyj‚drˇen† a ochrany z‚jmu˚ ˇ esk¦ Republiky, verfügbar jejich spolecˇenstv†, kter¦ se historicky utvorˇilo.“ Vgl. Vl‚da C unter : [Zugriff: 29. 06. 2013]. ˇ esk¦ Republiky, verfügbar unter : [Zugriff: 29. 06. 2013]. Die Minderheiten haben in der Regel einen Vertreter, die größten – je zwei: die bulgarische (1), kroatische (1), ungarische (1), deutsche (2), polnische (2), Roma (2), ruthenische (1), russische (1), griechische (1), slowakische (2), serbische (1) und ukrainische (1). Die tschechischen Juden gelten nicht als „Minderheit“, sondern als religiöse- und Kulturgemeinschaft (n‚bozˇensk¦ a kulturn† spolecˇenstv†). 36 Seit 2011 ist ein vietnamesischer Vertreter in der Funktion eines Beobachters zugelassen, vgl. Dost‚l, Vratislav: ,Rada pro n‚rodnostn† mensˇiny se rozsˇ†rˇ† o z‚stupce Beˇlorusu˚ a Vietnamcu˚‘, 04. 07.2013, verfügbar unter: [Zugriff: 03.09.2013]. ˇ T24: „Vietnamci n‚rodnostn† mensˇinu netvorˇ† mj. proto, zˇe se nesnazˇ† integrovat a zˇe 37 Vgl. C ˇ eska prˇivedly prim‚rneˇ ekonomick¦ z‚jmy“. je do C

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den „neuen Mietern“. Bereits in den 1960er Jahren wurde an der Prager KarlsUniversität die Vietnamistik gegründet; heute kann man innerhalb des Instituts für Fernoststudien (¢stav D‚ln¦ho vy´chodu) nicht nur die Sprache, sondern auch z. B. Ethnologie mit Vietnam als Schwerpunkt studieren.38 Die Absolventen der Prager Vietnamistik beteiligen sich an vielen NGOs, die insbesondere nach der Wende zur Unterstützung der neuen Migranten gegründet worden sind, an dieser Stelle möchte ich lediglich die wichtigste von ihnen nennen: Klub Hanoi. Die Organisation mit dem Sitz auf dem Einkaufsgelände Sapa in Prag, die offiziell zu Beginn 2004 gegründet worden ist, möchte zwischen den beiden Kulturen vermitteln: „Ursprünglich haben wir uns mit der Bekanntmachung der vietnamesischen Kultur und der vietnamesischen Community hierzulande beschäftigt. Mittlerweile konzentrieren wir uns aber auf Beratung und Integrationskurse, die den Vietnamesen helfen sollen, sich in die tschechische Gesellschaft einzugliedern“, berichten sie über sich selber.39

„Weißes Pferd, gelber Drache“ oder „Der interkulturelle Roman ist da!“ Ein wichtiger Schritt in der Emanzipation der neuen Minderheit schien 2009 der Debütroman B†lej ku˚nˇ, zˇlutej drak (Weißes Pferd, gelber Drache) der in Tschechien geborenen und aufgewachsenen Vietnamesin Lan Pham Thi zu sein. Der Titel lässt sich als eine andere Variante der „Bananenkinder“-Metapher lesen: Weiß (Tschechien) und Gelb (Vietnam) stehen nebeneinander, der Drache bleibt jedoch immer gelb und das Pferd immer weiß, zu einer kulturellen Überlappung oder einer Melange kommt es hier nicht. Trotzdem wurde das Buch in der tschechischen Öffentlichkeit als ein großes Ereignis gefeiert: Die Kritiker waren sich einig, die tschechische Literatur habe lange auf ein solches Buch, geschrieben aus der Perspektive der zweiten Generation der Immigranten, gewartet („soucˇasn‚ cˇesk‚ literatura na podobny´ pocˇin dlouho cˇekala“40). Der Roman wurde einerseits als eine Mitteilung der oft diskriminierten Minderheit und zugleich ein Zeichen der Emanzipation ihrer jüngsten Vertreter/innen gelesen und gefeiert, andererseits – wie im Fall der interkulturellen Literatur in Deutschland – als eine große Bereicherung für die inländische Literatur.41 38 Vgl. Webseite des Instituts für Fernoststudien an der Prager Karls-Universität, verfügbar unter : [Zugriff: 25. 01. 2013]. 39 Vgl. Rudisˇ 2009. 40 Vgl. Sˇotolov‚, Jovanka: ,Lan – anebo Jan?‘, 28. 11. 2009, verfügbar unter : [Zugriff: 21. 05. 2011]. 41 Vgl. ebd.: „Porota se shodla na tom, zˇe literatura autoru˚ druh¦ generace prˇisteˇhovalcu˚ je velky´m obohacen†m pro dom‚c† p†semnictv†…“

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Der Roman bekam den Euromedia-Literaturpreis des Buchclubs für unveröffentlichte Texte in tschechischer Sprache und durfte dank der Auszeichnung publiziert werden, die Veröffentlichung wurde von einer großen Präsenz der Autorin in den Medien begleitet, allerdings nur in den Printmedien;42 bald hat sich herausgestellt, dass alle Interviews per Email entstanden sind, die Autorin studierte zu diesem Zeitpunkt angeblich in Malaysia, sie konnte auch an der Preisverleihung nicht persönlich teilnehmen. Schnell wurde ihre Autorschaft in Frage gestellt. Die Journalisten präsentierten die Ergebnisse ihrer Nachforschung: In den Schulen, die Lan Pham Thi angeblich besucht haben sollte, war sie völlig unbekannt; sie fragten direkt „Lan oder Jan?“ („Lan anebo Jan“43). Das Buch erwies sich als eine Mystifizierung: Hinter der Erzählung stand der aus ˇ esk¦ Budeˇjovice (Budweis) stammende Jan Cemp†rek. Auf Nachfragen, was ihn C zu der Idee angetrieben habe, antwortete er lakonisch, er war sich sicher, solch ein Buch müsste entstehen, also schrieb er es selbst. Der Freund des Autors gab ˇ emp†rek einmal darüber schwärmte, was für einen Riesenerfolg später an, dass C in Tschechien ein Buch haben könnte, das von einer Minderheit ausgehen würde.44 Trotz der Tatsache, dass hinter der Maske einer emanzipierten weiblichen Minderheitsvertreterin45 eine männliche Mehrheitsstimme erklingt, verdient B†lej ku˚nˇ, zˇlutej drak Aufmerksamkeit als ein Selbstbild-Entwurf: Wie fremdenfreundlich bzw. -feindlich sind die Tschechen eigentlich, lautet hier eine der Fragen. Der Roman liefert eine traurige Diagnose: „Tschechen sind schreckliche ˇ esˇi jsou hrozn† rasisti“) und „Tschechen werden immer rassistiRassisten“ („C ˇ scher“ (Cesˇi jsou rasisti porˇ‚d veˇtsˇ† a veˇtsˇ†“).46 Manchmal bemüht sich der Text um Ratschläge, was der/die Betroffene in der Konfrontation mit rassistischen Angriffen machen soll. Es reiche nicht, sich verbal zu verteidigen, manchmal

ˇ echa‘, 27. 09. 42 Vgl. Maresˇov‚, Milena M.: ,No jo, fakt nem‚m v kn†zˇce zˇ‚dn¦ho kladn¦ho C 2009, verfügbar unter : [Zugriff: 21. 05. 2011]. 43 Vgl. Sˇotolov‚ 2009, auch weiter : „Prˇ†beˇh B†lej ku˚nˇ, zˇlutej drak zahrnuje popisy vsˇednodenn†ho zˇivota vietnamsk¦ komunity, hojneˇ uzˇ†v‚ psan¦ vietnamsˇtiny a vyl†cˇen† ru˚zny´ch tradic, proto nikdo z porotcu˚ ani z nakladatelstv† nepochyboval o identiteˇ autorky. Porota se shodla na tom, zˇe literatura autoru˚ druh¦ generace prˇisteˇhovalcu˚ je velky´m obohacen†m pro dom‚c† p†semnictv† a soucˇasn‚ cˇesk‚ literatura na podobny´ pocˇin dlouho cˇekala”. 44 Vgl. Strakov‚, Nadˇa: ,Kdyzˇ vietnamsky´ drak sopt† na cˇesk¦m malomeˇsteˇ‘, 29. 09. 2009, verfügbar unter : [Zugriff: 21. 05. 2011]: „Kdyzˇ se pak objevily prvn† pochybnosti, vzpomneˇl si, jak se s Cemp†rkem prˇed dveˇma lety bavili v hospodeˇ a on pry´ rozv†jel teorii, zˇe velky´ fflspeˇch by slavil rom‚n napsany´ prˇ†slusˇn†kem neˇjak¦ mensˇiny”. 45 Hier meldet sich eine junge selbstbewusste Vietnamesin als eine doppelt Subalterne (als Vietnamesin und als Frau) zu Wort. 46 Beide Zitate: Lan Pham Phi: B†lej ku˚nˇ, zˇlutej drak. Praha 2009, S. 34.

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müsse man als erste/r angreifen („Nedat se zastrasˇit a uderˇit. / Jako prvn†“47), es ist nämlich überall bekannt, dass „jeder Vietnamese Taekwondo kennt“48. B†lej ku˚nˇ, zˇlutej drak hantiert nicht nur mit Versatzstücken vietnamesischer Kultur,49 er bedient sich oft auch des Vietnamesischen, und/oder – selbstironisch – des von Vietnamesen gesprochenen Tschechisch. Beide Elemente – die textuelle Mehrsprachigkeit sowie die Anwesenheit der „ersten Kultur“ – sind generell für die interkulturelle Literatur charakteristisch. Der Roman spielt im vietnamesischen Milieu einer relativ kleinen tschechischen Stadt. Die Narration beginnt mit einem nächtlichen Spaziergang der Erzählerin und ihres gerade frisch nach Europa gekommenen Neffen. Aus einem harmlosen Gang wird eine Konfrontation der Kulturen, den Glatzköpfigen mit den „Schlitzäugigen“, die beiden Vietnamesen werden von Neonazis verfolgt und angegriffen. Die Szene bietet nicht nur Raum für Beschuldigungen, sondern auch für eine Selbstdarstellung der Protagonistin: Ich bin Tschechin, denn hier bin ich geboren. Und werde sicherlich auch hier sterben. In Tschechisch hatte ich immer eine Eins. Auch in der tschechischen Literatur war ich gut. Im weichen und im harten „i“. Und in sieben Fällen. Im männlichen, weiblichen und neutralen Genus. P‚n, hrad, zˇena, kost, meˇsto, morˇe. Ich hatte nie Probleme mit der Sprache gehabt. Kurˇe, staveni. Obwohl man bei uns zu Hause anders spricht. […] Aber ich habe Schlitzaugen und die Nazis, die ein paar Meter vor uns aus der Dunkelheit rauskamen, grinsten provokativ. […] Was nutzt mir eine gute Note im Tschechisch und Sokolov als Geburtsort? Ich bin Vietnamesin. Für alle. Für immer. Prˇedseda, soudce.50

Der Prolog spielt die Ambivalenz der Identität einer Tschecho-Vietnamesin aus und betont gleichzeitig den Model-Charakter der Situation: Ähnliche Begegnungen lassen sich wie Deklinationsparadigmen aufsagen. B†lej ku˚nˇ, zˇlutej drak liefert eine Quasi-Innensicht der Welt der Minderheit. Die Familie der Erzählerin besitzt die tschechische Staatsbürgerschaft nicht, darf daher keine Immobilien besitzen, formell mietet sie also die Wohnung, die sie längst gekauft hat. Das Verhältnis zu der Umgebung wird pars pro toto durch das Verhältnis zum QuasiVermieter charakterisiert. Die Tschechen übernehmen hier die Rolle der pragmatischen Kapitalisten bzw. sie und nicht die Vietnamesen sind „die Händler“: „Geld schafft die zwischenmenschliche Ordnung“ („pen†ze deˇlaj† mezi lidmi 47 Lan Pham Phi 2009, S. 14. 48 Ebd. 49 Die der Jury wohl so überzeugend vorkamen, dass sie nicht an die Authentizität des Buches gezweifelt hat. ˇ esˇka. Narodila jsem se tady. A nejspisˇ tu i umrˇu. Z cˇesˇtiny jsem meˇla vzˇdycky 50 „Jsem C jednicˇku. Sˇla mi. I cˇeska literatura. A meˇkky´ a tvrdy´ i. A sedm p‚du˚. Rod muzˇsky´, zˇensky´ a strˇedn†. P‚n, hrad, zˇena, kost, meˇsto, morˇe. Nikdy jsem s cˇesˇtinou nemeˇla probl¦my. Kurˇe, staveni. I kdyzˇ nasˇi mluv† doma jinak. […] I kdyzˇ mam sˇikmy´ ocˇi a ti n‚ckov¦, co se vynorˇili ze tmy p‚r metru˚ prˇed n‚ma, se tak vy´zy´vaveˇ sˇkleb†. […] K cˇemu mi je dobr‚ zn‚mka z cˇesˇtiny a m†sto narozen† Sokolov? Jsem Vietnamka. Pro vsˇechny. Navzˇdy. Prˇedseda, soudce.“

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porˇ‚dek“51), heißt es an einer Stelle und weiter „Seitdem das Geld erfunden worden ist, muss man sich nicht bedanken“ („Vod-ty´-doby-co-se-vynalezlypen†ze-deˇkovat-nemus†sˇ“52). Der Vater der Erzählerin versucht sich in dieser Welt jedoch mit einem anderen Motto (einem Minimum an Anstand) zu Recht zu finden: „Hauptsache, man bescheißt die Leute nicht“ („Hlavneˇeˇeˇ lid††† nenasr‚‚‚t…“53). Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Buch, geschrieben von einer Vertreterin der „Bananenkinder“, hätte wirklich entstehen können, machte eine andere Publikation plausibel: Die im gleichen Jahr in der Zeitschrift Labyrint revue veröffentlichte zweiseitige Erzählung Jenom n‚zev (Nur der Name) von Hoa Nguyenov‚.54 Nguyenov‚ nimmt das Motiv des ,vietnamesischen Romans‘ und der geheimnisvollen Autorschaft auf und spielt es bis zum absurden Ende durch. Der Protagonist, ein Maler, möchte der Tochter des Nachbarn Tonda (so heißt auch der Vater der Erzählerin in B†lej ku˚nˇ, zˇlutej drak) gratulieren und für das ihm geschenkte Buch danken: „…na eben deine Tochter! […] Ich habe sie lange nicht gesehen und wollte ihr zu dem Buch gratulieren, das sie geschrieben hat“ („…no ta tvoje dcera! […] Dlouho sem ji nevideˇl a chteˇl bych j† poprˇ‚t k ty´ kn†zˇce, co napsala.“).55 Der Maler muss sich jedoch damit abfinden, dass der Nachbar gar keine Tochter hat – und so kommt er zum Schluss: „Vielleicht hat Tonda wirklich keine Tochter… Vielleicht habe ich das Buch selber geschrieben“ („Mozˇn‚ Tonda fakt zˇ‚dnou dceru nem‚… Mozˇn‚ jsem tu kn†zˇku napsal s‚m?”).56 Es wird schließlich auch der Name des Romans verraten: B†lej ku˚nˇ, zˇlutej drak, der Autor bleibt jedoch ein Geheimnis, auf dem Buchcover steht nämlich lediglich der Titel. Auch in der Sprachästhetik ähnelt die kurze Erzählung dem Roman – einzelne vietnamesische Worte oder Sätze finden sich neben den Verweisen auf Elemente der vietnamesischen Kultur : So wird der traditionelle Ahnen-Altar erwähnt, der in jedem Haus zu finden ist. Die Ausgabe von Labyrint revue, wo die erwähnte Erzählung erschienen ist, widmete sich dem „neuen Europa“ (nov‚ Evropa): Das neue Europa ist eben polykulturell und mehrsprachig, die ,neue tschechische Minderheit‘ darf darin nicht fehlen.

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Lan Pham Phi 2009, S. 27.“ Ebd. Ebd., hier wird zusätzlich das von Vietnamesen gesprochene Tschechisch parodiert. Vgl. Nguyenov‚ 2009. Nguyenov‚, Hoa: ,Jenom n‚zev‘, in: LABYRINT REVUE 2009/25 – 26, S. 192 – 193, hier S. 192. 56 Nguyenov‚ 2009, S. 193.

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Die Emanzipation der ,neuen Minderheit‘ Der im Fall von Literatur so stark herbeigewünschte und daher zum Teil auch vorgetäuschte Prozess der Emanzipation der vietnamesischen Community erfolgt jedoch weit problemloser in anderen Bereichen des kulturellen Lebens. Die tschechischen Medien berichten regelmäßig von erfolgreichen Blog-Autorinnen,57 Fotografinnen und Schauspielerinnen, allmählich wird mit dem Stereotyp „Vietnamese gleich Händler“ gebrochen. Ich möchte diesen Prozess anhand einiger Beispiele erläutern. So arbeitet Nguyen Phuong Thao, die noch in Vietnam geboren worden ist und an der Karls-Universität in Prag Journalistik studiert hat, seit 1995 mit der Tageszeitung „Mlad‚ fronta Dnes“ als Fotografin zusammen. Seitdem porträtiert sie tschechische Prominente und ist auch im Bereich der Reportage-Fotografie tätig: Als Stimme einer Minderheit widmet sie sich anderen Minderheiten, so z. B. den tschechischen Roma.58 Eine andere Vertreterin der in der Öffentlichkeit sichtbaren Vietnamesen ist die 23-jährige Schauspielerin Ha Thanh Nguyenov‚, die in der TV-Serie Ordinace v ru˚zˇov¦ zahradeˇ (Chirurgie im Rosengarten) eine Krankenschwester spielt. Ihre Rolle scheint eine neue Zeit in den tschechischen Filmproduktionen zu markieren, denn bisher besetzten die Vietnamesen entweder kleine oder Kinderrollen, die Krankenschwester Tien ist die erste Hauptrolle.59 Mittlerweile bekam die Schauspielerin, die in Hanoi geboren wurde und als Vierjährige mit ihren Eltern nach Tschechien kam, die tschechische Staatsbürgerschaft und heißt nun offiziell nicht wie bisher Nguyen, sondern Nguyenov‚ (mit der für Frauennamen charakteristischen Endung -ov‚) – ein Beispiel für eine vietnamesisch-tschechische Namensmelange. Eine außerordentliche Karriere in Tschechien, aber auch im Ausland macht die Modedesignerin MiMi Nguyen Hoang Lan, die ihre Läden nicht nur in Prag, sondern auch in Hanoi und in Amsterdam führt.60 Laut Christian Rühmkorf (Deutschlandradio Kultur) erobert sie die Modewelt: „2005 bringt Mimi Hoang 57 In der Respekt-Ausgabe vom 18.–24. 02. 2013: Kavanov‚, Lucie: ,Mal† Vietnamci uzˇ jsou jako ˇ esˇi’, in: RESPEKT 18.–24. 02. 2013, S. 43 – 45. C 58 Fotostrecke von Nguyen Phuong Thao, verfügbar unter : [Zugriff: 21. 01. 2013]. 59 Vgl. Sotona, Jirˇi: ,Sestrˇicˇka Tien si ve sv¦ roli nahotu a kontakt s muzˇi zak‚zala‘, 04. 02. 2013, verfügbar unter : [Zugriff: 20. 03. 2013] sowie das Interview mit der Schauspielerin: Kovacˇevicˇ, Vedran: ,Pro cˇesk¦ buchty m‚m slabost‘, 04. 10. 2012, verfügbar unter : [Zugriff: 22. 06. 2013]. 60 Vgl. Webseite der Modedesignerin MiMi Nguyen Hoang Lan, verfügbar unter : [Zugriff: 21. 01. 2013].

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Lan ihre erste Kollektion heraus. La Femme Mimi schlägt ein wie eine Bombe. Namhafte Modezeitschriften in Tschechien, Frankreich und Belgien machen sie über die Prager Grenzen bekannt“.61 Auch MiMi ist in Hanoi geboren, wohnt aber mittlerweile seit 15 Jahren in Prag, wo sie zuvor an der Karls-Universität Internationale Beziehungen studierte; da ihre Eltern Künstler sind, fiel ihr die Entscheidung für einen freien Beruf entsprechend leicht.62 Es sind lediglich Beispiele der fortschreitenden Emanzipation (und zugleich der Integration) der tschechischen Vietnamesen, ihr Bekanntheitsgrad wächst ständig, auch sind sie willkommene Gäste in TV-Shows, so z. B. in der Show Jana Krause.63

Wie Miss Vietnam bei Gott Die Medien versuchen, den Eindruck zu vermitteln, dass Vietnamesen in der Tschechischen Republik wie „Gott in Frankreich leben“. Vor allem die zweisprachigen, in Tschechien geborenen „Bananenkinder“ kommen immer wieder auf die ersten Zeitungsseiten. Es wird über „Bananenkinder im tschechischen Dschungel“ („Ban‚nov¦ deˇti v cˇesk¦ dzˇungli“64) berichtet, die tschechische Filiale des Goethe-Instituts schreibt über „Bananenkinder im postsozialistischen Paradies“ („,Ban‚nov¦ deˇti‘ v postsocialistick¦m r‚ji“65), die sich auf die Suche nach ihrer Identität machen.66 In Bezug auf diese Gruppe wird auch von einer „pubertierenden Nationalität“ („N‚rodnost v puberteˇ“67) gesprochen. Viele Zeitungsartikel beginnen mit der Beschreibung von „Klein-Hanoi“, wie der Prager Vietnamesen-Markt Sapa bezeichnet wird, wo fast keine Tschechen zu 61 Rühmkorf, Christian: ,Das Prager Chamäleon. ,La Femme Mimi‘ erobert die Modewelt‘, 31. 08. 2010, verfügbar unter : [Zugriff: 30. 06. 2013]. 62 Vgl. Jon‚sˇov‚, Iva: ,Nakupuju ve vecˇerk‚ch. Vietnamce zn‚m.‘, 10. 02. 2013, verfügbar unter : [Zugriff: 22. 06. 2013]. 63 Ha Thanh Nguyenov‚ war als Gast im Programm am 19. 04. 2013. 64 Duong Nguyen Thi Thuy 2008. 65 Nejezchleba, Martin: ,Ban‚nov¦ deˇti‘ v postsocialistick¦m r‚ji‘, Dezember 2009, verfügbar unter : [Zugriff: 30. 06. 2013]. 66 In einer Leserzuschrift fragt sich eine junge Studentin, ob sie auch zu den „Bananenkindern“ gehört („Patrˇ†m tak¦ mezi ban‚nov¦ deˇti?“, vgl. Cao Van Anh: ,Patrˇ†m tak¦ mezi ban‚nov¦ deˇti?‘, 13. 11. 2008, verfügbar unter : [Zugriff: 26. 01. 2013]. 67 So heißt eine Serie des Tschechischen Fernsehens über verschiedene Migranten. Der erste von vier Teilen ist zwei vietnamesischen Freundinnen aus Chomoutov gewidmet, Mari und Lili (in der Regie von Erika Hn†kov‚).

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treffen sind, dafür aber Journalisten und Touristen.68 Dass sich die vietnamesischen Immigranten in Tschechien zu Hause fühlen, soll seit einigen Jahren auch die Wahl der tschechischen Miss Vietnam beweisen: Die Kandidatinnen sollen möglichst zweisprachig sein, aber immer noch mit ihrer ersten Kultur vertraut; von der Gewinnerin erwartet man auch ein gesellschaftliches Engagement. So wird z. B. die 2012 gewählte Vu Thi Thuy Linh aus Plzenˇ nicht nur die Tschechisch-Kurse für Prager Vietnamesen (auf dem Sapa-Gelände) fördern, sondern auch die Behandlung der Dioxinkranken in Vietnam unterstützen.69 Die Wahlen der Miss Vietnam werden von den tschechischen Medien mit Interesse begleitetet, 2012 wurde der Verlauf des Wettbewerbs im Film Dcery vietnamsk¦ho draka (Die Töchter des vietnamesischen Drachen) von Petr Kanˇka70 dokumentiert (Abb. 2, 3). Die Vietnamesen haben es in Tschechien wie Gott in Frankreich, deswegen sollen die Frauen, die 2012 ins Finale von Miss Vietnam gekommen sind, im Rahmen ihres ,Integrationsprogramms‘ nicht nur die Prager Burg Hradcˇany besichtigen, sondern auch bei dem legendären Sänger Karel Gott zu Gast sein. Gotts Schlager aus den 1980er Jahren „Je jak‚ je“ (Sie ist, wie sie ist), ein Loblied auf die namenslose und emanzipierte weibliche Schönheit, begleitet die gesamte Dokumentation.

Abb. 3: Finale-Teilnehmerinnen bei Karel Gott, Filmstill aus Petr Kanˇkas Dcery vietnamsk¦ho draka, 2012.

68 Vgl. Ded, Michal / Barbraque, Yvette de: ,Viel Spaß in Klein-Hanoi‘, 2010, verfügbar unter : [Zugriff: 29. 06. 2013]. 69 Dies betrifft ca. drei Millionen Vietnamesen, die infolge des amerikanischen Einsatzes von „Agent Orange“ im Vietnamkrieg genetische Schäden erlitten haben. 70 Kanˇka, Petr : Dcery vietnamsk¦ho draka, 51 min., 2012, verfügbar unter : [Zugriff: 26. 02. 2013].

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Abb. 4: Miss und Vize-Miss Vietnam 2012 bei einem Spaziergang durch das Einkaufsgelände Sapa. Filmstill aus Petr Kanˇkas Dcery vietnamsk¦ho draha, 2012.

Fazit: Von einer Community zur anerkannten Minderheit? Während Gäste in dem unscheinbaren vietnamesischen Bistro im Prager Stadtteil Vinohrady die traditionelle Pho-Bo-Suppe löffeln, blicken ihnen begeisterte Presseartikel von der Wand entgegen: „Lidove Noviny´“71, „Respekt“72 – gut eingesetzte Eigenwerbung. Der Komfort im Bistro gleicht einer alten sozialistischen Milchbar, die Speisen muss man im Stehen verzehren, es ist aber immer voll hier. Der „Respekt“-Artikel erklärt das Erfolgsgeheimnis folgendermaßen: In den meisten vietnamesischen Restaurants seien die Speisen weder vietnamesisch noch chinesisch, sie sind längst angepasst an die tschechischen Geschmäcke, das kleine Bistro in Vinohrady möchte dagegen wie zu Hause kochen, auch das Interieur der Bar könne Assoziationen an Verkaufsstände in Hanoi wecken. „Wer einmal in Vietnam war, vergisst die Pho-Suppe nie. Sie ist so gut, dass man bei ihr den Tod vergisst“ („Kdo navsˇt†vil Vietnam, na pho nezapomene. Je tak dobr‚, zˇe d‚ zapomenout na smrt“73), so die Eigentümerin, Giap Thi Lan, die bereits seit dreizehn Jahren in Tschechien lebt. Die ,authentische vietnamesische Küche‘ wird plötzlich als Schlüssel zum Erfolg dargestellt. In ˇ †na? Ne, tady se j† vietnamsky‘, 06. 07. 2011, verfügbar unter : [Zugriff: 25. 01. 2013]. ˇ apov‚, Hana: ,Jak zapomenout na smrt. Kdo jednou ochutn‚ pol¦vku v bistru Pho Viet72 C nam, prˇijde znovu‘, 05. 02. 2012, verfügbar unter : [Zugriff: 25. 01. 2013]. 73 Ebd.

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Prag, wo die größte Gruppe der Tschecho-Vietnamesen lebt, kann man nicht nur „für sehr wenig Geld ein Stück Vietnam riechen, schmecken und kaufen“74, sondern es auch selber machen. Der tschechischsprachige Blog „Viet Food Friends“75 von Trinh Thuy Duong und Nguyen Mai Huong stellt nicht nur Speisen, sondern auch detaillierte Rezepte vor – zum Nachmachen. Die Autorinnen bieten sogar Kochkurse an. Der Boom der vietnamesischen Kultur und das Interesse an ihr scheinen in den letzten Jahren in Tschechien konstant groß zu sein, die tschechische Öffentlichkeit wird immer wieder mit ,echt vietnamesischen‘ Produkten beworben, die tschechischen Jugendlichen hören mittlerweile Vietnam-Rap.76 Auch die feste Zuschreibung „Vietnamese gleich Händler“ lockert sich allmählich. Trotzdem bleibt die vietnamesische Community in der Tschechischen Republik in einem Zwischenstadium: zwischen einer vollen Anerkennung und einer kritischen Exklusion. Die Argumente gegen ihre Anerkennung als „nationale Minderheit“ – die vietnamesischen Immigranten seien Gäste auf Zeit, die sich nicht integrieren wollen – klingen nicht plausibel, die Community wird nämlich immer zahlreicher, immer besser organisiert und sichtbarer in der Öffentlichkeit. Möglicherweise müssen die Tschecho-Vietnamesen noch bis zu der nächsten Volkszählung (2021) warten, oder bis zu den Parlamentswahlen, in denen die oder der erste von ihnen gewählt wird. Vielleicht reichen auch ein paar interkulturelle Romane, die beweisen, die tschechische Gesellschaft sei bereits wieder polykulturell. ***

Diesen Aufsatz konzipierte ich in den Jahren 2009 – 2013, als ich auf die immer größere Sichtbarkeit der vietnamesischen Community in Zentraleuropa aufmerksam wurde. Beendet wurde er im Juni 2013, noch bevor in Tschechien die Regierungskrise um den Ministerpräsidenten Necˇas tobte. Während ihrer letzten Sitzung am 3. Juli 2013, direkt vor der Auflösung, beschloss die NecˇasRegierung etwas Revolutionäres, was bisher einmalig in der EU ist: Der Vertreter der „vietnamesischen Minderheit“77 wurde als ein reguläres Mitglied in den Regierungsrat für nationale Minderheiten aufgenommen, was die offizielle 74 Ded / Barbraque 2010. 75 Vgl. das Gespräch von Lucie Kavanov‚ in „Respekt“ vom 24. 2. 2013: ,Mali Vietnamci uzˇ jsou ˇ esˇi‘, S. 43 – 45; vgl. auch Webseite Viet Food Friends, verfügbar unter : [Zugriff: 14. 09. 2013]. 76 Raego KsˇandyKid (sein Vater ist Vietnamese, seine Mutter Tschechin) ist nicht nur ein Rapper, sondern auch Schauspieler und Moderator. 77 Dasselbe betrifft auch die weißrussische Community.

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Anerkennung der Vietnamesen als „nationaler Minderheit“ bedeutet. Das Ereignis, auf welches die Tschecho-Vietnamesen seit Jahren gewartet hatten, wurde jedoch in der Öffentlichkeit kaum kommentiert, überschattet von innenpolitischen Krisen im Land.78 Das innenpolitische Desaster im Sommer 2013 wurde zu einer Chance für diesen revolutionären Schritt. Revolutionär, denn in keinem anderen zentraleuropäischen Land wird eine der neuen Communitys, die durch Arbeitsmigration entstanden sind, offiziell als Minderheit anerkannt. Ob und wie sich der Schritt auf das wirkliche Verhältnis zwischen der Mehrheit und der Minderheit in der Tschechischen Republik auswirkt, werden die nächsten Jahre zeigen. Wenigstens nominal ist Tschechien jetzt doch zu einem Land der Träume (Zemeˇ snu˚) geworden.

Abbildungen Abb. 1: „Wenn ich mich noch einmal entscheiden könnte, würde ich hierher nicht fliegen“, Filmstill aus Martin Rysˇavy´s Zemeˇ snu˚, 2009. Abb. 2: „Alle unsere Besitztümer hat schon die Bank im Tresor“, Filmstill aus Martin Rysˇavy´s Zemeˇ snu˚, 2009. Abb. 3: Finale-Teilnehmerinnen bei Karel Gott, Filmstill aus Petr Kanˇkas Dcery vietnamsk¦ho draka, 2012. Abb. 4: Miss und Vize-Miss Vietnam 2012 bei einem Spaziergang durch das Einkaufsgelände Sapa. Filmstill aus Petr Kanˇkas Dcery vietnamsk¦ho draha, 2012.

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Andrea Zink / Tatjana Simeunovic´ (Innsbruck – Basel)

Verlorene Brüder? Miljenko Jergovic´s jugoslawische Spurensuche

„Bewahrt Brüderlichkeit und Einheit wie euren Augapfel!“1 hatte Josip Broz Tito befohlen, und die multinationale Gemeinschaft seines zweiten Jugoslawiens folgte diesem Credo rund fünf Jahrzehnte lang, bis sie vor zwanzig Jahren zerfiel. Entstanden aus dem multiethnischen Volksbefreiungskampf (NOB 1941 – 1945, mit einem großem Anteil an Frauenkämpferinnen), geprägt von Partisanenmythologie und Titoismus, von sozialistischer Revolution und Modernisierung, verband die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (SFRJ) unterschiedliche Ideen und Konzepte, die dem Vielvölkerstaat einen eigenen, „dritten“ Weg zwischen Ost und West ermöglichten. Der gemeinsame Staat samt seiner „großen sozialistischen Revolution“ hat die Weltgeschichte wesentlich mitgeprägt,2 was man von den seit den 1990er Jahren entzweiten „Brüdern“ (zumindest noch) nicht sagen kann. Obwohl die SFRJ als Staat von der Landkarte verschwunden ist, so lebt sie doch in einem „kulturologischen Sinne“ weiter.3 Das „verlorene Land“ existiert in Erinnerungen, (Geschichts-)Büchern, Filmen und in der Belletristik. Miljenko Jergovic´ gehört zu den Schriftstellern, die den „verlorenen Brüdern“ ein besonderes Augenmerk in ihren Texten widmen. Jergovic´ tritt aber mitunter auch in der ungewöhnlichen Rolle des Filmprotagonisten in Erscheinung.

ˇ uvajte bratstvo i jedinstvo kao zjenicu oka svoga!“ schreibt man explizit Tito 1 Die Aussage „C zu (vgl. u. a. Adric´, Iris / Arsenijevic´, Vladimir / Matic´, Öord¯e (Hg.): Leksikon YU mitologije. Beograd 2004, S. 60). Mit dem Slogan „bratsvto i jedinstvo“ (Brüderlichkeit und Einheit) appellierte die KPJ bereits während des Zweiten Weltkrieges bzw. des Volksbefreiungskampfes (NOB = Narodnooslobodilacˇka borba) auf eine übergeordnete Gemeinsamkeit aller jugoslawischen Volksgruppen. Die Übersetzungen stammen, mit Ausnahme der zitierten, ins Deutsche übertragenen literarischen Werke, von TS. 2 Heutzutage kann die SFRJ nicht einmal mehr als Geburts- oder Herkunftsland auf einem Formular angegeben werden. 3 Vgl. Perica, Vjekoslav / Velikonja, Mitja: Nebeska Jugoslavija. Beograd 2012, S. 15 ff.

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Pragmatischer Rückblick auf die „Brüderlichkeit“ Nach der (Be-)Deutung der einst gemeinsamen jugoslawischen (Kultur-)Geschichte fragt der serbische Regisseur Zˇeljko Mirkovic´ in seinem Dokumentarfilm The Long Road Through Balkan History (Dugo putovanje kroz istoriju, historiju i povijest Balkana, 2010).4 Welche mythischen Personen, Ereignisse und Orte haben zu dem Zusammenhalt und zugleich dem Zerfall der SFRJ beigetragen? Sind noch Spuren von „Brüderlichkeit und Einheit“ in den Nachfolgestaaten erkennbar oder sind sie im Zuge einer damnatio memoriae von neuen Nationalismen überdeckt worden? Gibt es ein gemeinsames regionales Bewusstsein über diese Grenzen hinweg? In Dubravka Ugresˇic´s autobiografisch-essayistischem Roman Das Ministerium der Schmerzen (Ministarstvo boli, 2004) verknüpft der Student Mario – eine der Figuren aus dem holländischen Exil – folgende Erinnerungsbilder mit Jugoslawien: Das, was Jugoslawien zusammenhielt, waren weniger „Brüderlichkeit und Einigkeit“ als die k. u. k. Eisenbahnstrecken und Bahnhöfe. Wenn ich so einen gelben Bahnhof mit Blumenkästen voller Geranien sehe, bin ich zu Tränen gerührt, und ich weiß, ich bin wieder zu Hause.5

Bereits zu Beginn des Films begegnet man einem solchen Gebäude, dem größten Bahnhof Kroatiens. Gerade der Zagreber Hauptbahnhof (Glavni kolodvor, erbaut 1892; im Bild zwar ohne Geranien und mit einer, als Folge der Restauration eher rosafarbenen als Schönbrunner-gelben Fassade) ist für den kroatischen Schriftsteller Miljenko Jergovic´ sein „neues Zuhause“: Für den internen YUImmigranten ein „imaginäres Territorium“ der Freiheit, ein Ort, der eher für weitere Fahrten ins Neue und Unbekannte als für eine Rückfahrt „nach Hause“, in seine Heimatstadt Sarajevo steht. In Mirkovic´s Film gibt es ein anderes Verbindungselement, das Heimatgefühle hervorrufen kann. Wie der Titel suggeriert, ist Eine lange Reise (Dugo 4 Zˇeljko Mirkovic´ führte Regie in zwei weiteren Dokumentarfilmen: Ozˇenic´u celo selo (I Will Marry the hole Village, 2010) über das Problem von 300 unverheirateten Männern aus einem Dorf im Süden Serbiens sowie Drugi susret (The Second Meeting, 2012) über das Schicksal zweier Soldaten – des amerikanischen Piloten Dale Zelko und des jugoslawischen Offiziers Zoltan Dani, der das „unsichtbare“ Flugzeug F117-A während der NATO Bombardierung Serbiens 1999 abgeschossen hatte. Der Film (Serbiens Doku-Kandidat für den Oscar 2014) nimmt die Kriegsereignisse als Anlass und schildert die Begegnungen und Freundschaft der ehemaligen Feinde zwölf Jahre nach dem Krieg. 5 Ugresˇic´, Dubravka: Das Ministerium der Schmerzen. Berlin 2005, S. 78. „To sˇto je ujedinjavalo Jugoslaviju nije bilo toliko „bratsvto i jedinstvo“, koliko austrougarske pruge i zˇeljeznicˇke stanice. Svaki put me nesˇto stisne u grlu kad vidim onu austrougarsku zˇutu fasadnu boju i pelargonije koje cvjetaju u sanducˇic´ima za cvijec´e. Kad vidim zˇeljeznicˇku stanicu, znam da sam dosˇao kuc´i.“ Ugresˇic´, Dubravka: Ministarstvo boli. Zagreb 2004, S. 79.

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putovanje) ein Roadmovie, in dem die Reise aber nicht, wie für dieses Genre üblich, zur Metapher für die Suche der Protagonisten nach Identität und Freiheit wird, sondern eine Mischung aus Geografie, Historiografie und Biografie Jugoslawiens bzw. des Balkans6 darstellt. Die Protagonisten sind zwei bekannte Schriftsteller der Gegenwart, Miljenko Jergovic´ aus Kroatien und Marko Vidojkovic´ aus Serbien. Ähnlich einem Duo aus Buddy-Movies fahren sie entlang des berühmten YU-Highway autoput/autocesta „Bratstva i jedinstva“, den es im Unterschied zu Titos Konzept der „Brüderlichkeit und Einheit“ immer noch gibt. Die erste jugoslawische Autobahn erhielt diesen Namen dadurch, dass sie zum ausgezeichneten Produkt der „brüderlich-vereinigenden Doktrin“ proklamiert wurde. Der Bau der „pulsierenden Ader“ des Vielvölkerstaates begann unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der sogenannten „JugendArbeitsaktionen“ (ORA = Omladinska radna akcija), d. h. vor allem dank der freiwilligen Arbeit jugoslawischer Jugendlicher und Angehöriger der Jugoslawischen Volksarmee.7 Entlang des autoput fahren Jergovic´ und Vidojkovic´ im populärsten PKW jugoslawischer Produktion (Abb. 1). Eine Aufnahme des legendären Wagens der Marke Yugo wird zu Beginn des Films zwischen zwei Einstellungen mit den Protagonisten eingeschnitten. Das Auto stellt offensichtlich die Verbindung zwischen ihnen her. Mit derselben Yugo-Aufnahme endet auch der Film.8 Somit ist das legendäre Auto mehr als ein Transportmittel, es wird zum dritten Protagonisten. In einer knappen Stunde wechseln sich im Rückspiegel des bewusst in rot ausgewählten Wagens Land6 Auf den ersten Blick mag die Bezeichnung Balkan im Titel verwirrend sein, da im Film die SFRJ-Geschichte sowohl auf der thematischen als auch auf der Bildebene im Zentrum steht. Korrekterweise müsste hier der politische Sammelbegriff „Westbalkan“ verwendet werden: Slowenien wäre dabei aber aus-, Albanien dagegen eingeschlossen. Im Film wird die Bezeichnung „Westbalkan“ mit Blick auf die Autokarte aufgegriffen und von den Protagonisten schelmisch zu „SRJ Westbalkan“ umbenannt. Interessant ist, dass der englische Journalist und Autor Tim Judah, der die Umbenennung der Region in „Jugosphäre“ aktiv unterstützte, auch an den Drehbucharbeiten für Mirkovic´s Film beteiligt war. 7 Das Konzept von ORA oder SORA (Savezne omladinske radne akcije) basierte auf den Partisanen- bzw. JNA-Traditionen (vgl. Perica / Velikonja 2012, 55 f.). Untergliedert in Arbeiterbrigaden, mit klaren Strukturen und Hierarchien, mit dem Ziel des gemeinsamen (Wieder-)Aufbaus des Landes, trugen diese Aktionen der engagierten Jugend wesentlich zum Gefühl der einheitlichen jugoslawischen Nation bei. 8 Mit dem Auto, das zwischen 1980 und 2008 vom Automobilhersteller Zastava in 800.000 Exemplaren als erste Eigenkonstruktion produziert wurde, verbindet man viele Anekdoten und Witze, die zu einem Yugo-Pannen-Kult führten (vgl. dazu den Yugo-Artikel aus Adric´ / Arsenijevic´ / Matic´ 2004, S. 424 f. bzw. die deutsche Übersetzung in: Bremer, Alida / Famler, Walter (Hg.): Wespennest 159. Jugoslavija revisited. Wien 2010, S. 82). Zugleich wurde dieser Wagen aber auch zu einer der wichtigsten jugoslawischen Export-Marken und spielte in vielen in- und ausländischen Filmen mit (vgl. dazu eine Liste von „Yugo-Filmrollen“ auf der Onlinedatenbank internet-movie-car-database, verfügbar unter : [Zugriff: 30. 6. 2013]).

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Abb. 1: Im Jugo, Zˇeljko Mirkovic´, Dugo putovanje, 2010.

schaftsbilder der Nachkriegsstaaten ab. Die Reise beginnt in Österreich und folgt weiter der autoput-Linie – mit einem kleinen Abstecher nach Bosnien – durch Slowenien, Kroatien, Serbien, Makedonien bis zur griechischen Grenze, wo nach mehreren Pannen der Buddy Yugo unwiderruflich den Geist aufgibt. Mit seinem Film setzt Mirkovic´ einem der wichtigsten Sinnbilder der Tito- und sogar noch der Post-Tito-Ära ein Denkmal.9 Die Buddies Miljenko und Marko10 gehören erkennbar einer Generation an, die Erinnerungen an Jugoslawien besitzt und die Kriege der 90er Jahre bewusst erlebt hat. Die Zuschauer können sie als Vertreter der so genannten „glücklichen Kinder“ erkennen, die gemäß dem gleichnamigen Lied „mit Kriegsfilmen in Farbe, mit häufigen Prügeleien in der Schule und mit Volksliedern voller Schmerzen“11 aufgewachsen sind. Sie sind auch die Vertreter einer Generation, 9 Ähnlich wie der kroatische Professor und Publizist Ivo Zˇanic´, der 1993 einen ganzen Essayband einem anderen kleinem Auto mit großem YU-Symbolstatus widmete, dem roten Fic´o. Der Fic´o mit offiziellem Namen Zastava 750 wurde wie der Yugo vom Automobil- und Waffenhersteller Zastava zwischen 1955 und 1985 gebaut. 10 Jergovic´ und Vidojkovic´ sprechen sich oft mit „moj prijatelju“ („mein Freund“) an. So gleich zum Beginn des Films, als Miljenko Jergovic´ die Intention ihrer Reise erklärt: „Die Geschichte, die mein Freund Marko und ich durchmachen werden, ist eigentlich ein Versuch die Zeit-Membran zu durchbrechen, in die Vergangenheit hineinzutreten und zu erfahren was mit uns, unseren Leben und gemeinsamen Geschichten in der Zwischenzeit geschehen ist.“ / „Pricˇa koju c´emo proc´i, moj prijatelj Marko i ja je zapravo pokusˇaj da se probije vremenska opna, da se ud¯e u prosˇlost, otkrije ˇsto se s nama, nasˇim zˇivotima i zajednicˇkim historijama u med¯uvremenu dogodilo.“) 11 „Das glückliche Kind“ („Sretno dijete“) ist ein knapp zweiminütiges punkrockiges Lied „odrastao“ der Zagreber Band Prljavo kazalisˇte aus dem Jahr 1979, dessen erste Strophe wie folgt lautet: „Ja sam odrastao uz ratne filmove u boji, uz cˇeste tucˇnjave u sˇkoli, uz narodne pjesme pune boli“.

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die Öord¯e Balasˇevic´ in seinem Eid-Lied auf Tito „Zählt auf uns“ („Racˇunajte na nas“, 1978) besingt. Dieses Lied wurde zu einer Art jugoslawischer Hymne: Alle Zweifel an der Aufrichtigkeit der sozialistischen Jugend schienen darin ausgeräumt, die Partisanenvergangenheit wurde mit der Rockkultur aufs freundschaftlichste vereinigt.12 Noch wichtiger ist die Tatsache, dass beide Protagonisten aktive Konsumenten der jugoslawischen Neuen Welle waren, die nicht ausschließlich als musikalische, sondern vielmehr als allgemeine kulturelle Bewegung verstanden wurde. Trotz oder gerade wegen ihrer Kritik, ihrer Provokation und ihrer ironischen Haltung gegenüber den herrschenden Mechanismen übte diese Welle einen enormen Einfluss auf die Jugend aus und verbreitete zugleich sehr effektiv die Idee der „Brüderlichkeit und Einheit“ auf dem ganzen Gebiet der SFRJ.13 In Anbetracht dieser Tatsache fragt sich der Zuschauer, weshalb Zˇeljko Mirkovic´ auf dieses wundervolle musikalische Erbe verzichtet. Seine Entscheidung, ein Roadmovie ohne die (erzählende) Wirkung von Liedern zu gestalten, die die Protagonisten in der Regel unterwegs hören, wirkt zumindest überraschend. Nur begrenzt greift Mirkovic´ auf die musikalische jugoslawische Schatzkammer zurück, in dem er einen der wichtigsten Vertreter der Neuen Welle, Vlada Divljan (aus der Band VIS Idoli), die Musik für den Film komponieren lässt. Spuren der ehemaligen Jugendkultur sind im Film eher in der Kleidung der Protagonisten wiederzuerkennen. Insbesondere die Spitfire-, Vietnam- oder Jeansjacke sowie die ganze Palette an T-Shirts, die Marko Vidojkovic´ trägt, knüpfen an den punkrockigen Kleidungsstil der 1980er Jahre an, der für Freiheit, Individualität und Rebellion stand und dem vorherrschenden sozialistischen Kanon trotzte.14 Jergovic´s T-Shirts sind eher einem „historischen“ Sujet15 verpflichtet oder zeigen Natur-Motive, außerdem bevorzugt er die „klassische Mode“, trägt also Hemden und Jacketts. Zu diesem unverbindlich-neutralen Kleidungsstil passt die Rolle, die Miljenko Jergovic´ in dem Schriftsteller- und 12 „Manche zweifeln, dass uns der falsche Kurs leitet, weil wir Platten hören und Rock spielen. Aber irgendwo in uns ist die Flamme des Kampfes und ich sage euch, was ich gut weiß: Zählt auf uns.“ („Sumnjaju neki da nosi nas pogresˇan tok, jer slusˇamo plocˇe i sviramo rock, ali negde u nama je bitaka plam i kazˇem vam sˇta dobro znam: racˇunajte na nas.“) 13 Ante Perkovic´s Buchtitel Die Siebte Republik. Die Popkultur im YU-Zerfall (Sedma republika. Pop kultura u YU raspadu) deutet darauf hin, dass die echte SFRJ, zu Lebzeiten sowie posthum, in einer siebten Teilrepbulik, im Reich der Musik lebt/e. Vgl. dazu auch Perica / Velikonja 2012. 14 Auf den T-Shirts von Marko Vidojkovic´ sind u. a. Aufschriften wie „REBELS“, „Moderna omladina“, „Revolucija A212“, „DERBI“, „Crvena Zvezda“ zu sehen sowie auf dem Rücken seiner Jeansjacke die geballte Faust als Symbol der serbischen Widerstandsbewegung OTPOR gegen das Milosˇevic´-Regime. 15 In der Szene in Bosnien trägt z. B. Jergovic´ ein T-Shirt mit dem Logo der Olympischen Winterspiele von Sarajevo oder später in Makedonien eines mit dem Bild aus dem Museum der Geschichte Jugoslawiens.

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Reisenden-Duo inne hat: Er ist derjenige, der wichtige Fragen aufwirft, mehr über die historischen Zusammenhänge weiß, ausführlich und pointiert antwortet, passende Passagen vorliest, schließlich spöttisch die Frage nach den einzelnen „nationalist turns“ der ehemaligen „Brüder“16 zusammenfasst. Dafür ist er auch durch sein Alter prädestiniert: Im Vergleich zu Vidojkovic´ kann er auf zehn Jahre zusätzlicher jugoslawischer Erfahrung zurückblicken. Die Schriftsteller besuchen Orte, die die wichtigen Knotenpunkte der neueren Geschichte/n der Völker Jugoslawiens darstellen: Bleiburg, Ljubljana, Zagreb, Kumrovec, Jasenovac, Brcˇko, Vukovar, Belgrad und Skopje. Sie unterhalten sich mit Historikern, Archäologen, Journalisten und bedeutenden Politikern über alte und neue Mythen und insbesondere über Opferzahlen. Immer wieder erleben sie dabei Überraschungen. So wird die einst obligatorische Pilgerstätte – Titos Geburtsort Kumrovec – den heutigen Schülern vor allem als Ethno-Dorf präsentiert (Abb. 2).

Abb. 2: Marko Vidojkovic´ und Miljenko Jergovic´ vor der Tito-Statue in dessen Geburtsort Kumrovec, Zˇeljko Mirkovic´, Dugo putovanje, 2010.

16 Die ehemaligen Jugosla/oveni werden von den beiden reisenden Protagonisten scherzhaftironisch, von manchen ihrer Interviewpartner aber ernsthaft mit einer möglichst lange zurückliegenden und großartigen Herkunft versorgt: Die Slowenen sind uralte Karantanen, die Kroaten „Harahvati“ (altiranischer Herkunft), die Bosnaken uralte „Bosˇnjani“, die das Gebiet lange vor den Serben und Kroaten besiedelt haben, die Serben sind älter als das älteste Volk (älter als die Amöben), die Montenegriner „Dukljani“, die ersten Einwohner im montenegrinischen Gebiet, und die Makedonier unterteilen sich selbst in prävalente „antike“ und „slawische“ Makedonier. Vgl. zu diesem Thema Brunnbauer, Ulf: ,Illyrer, Veneter, Iraner, Urserben, Makedonen, Altbulgaren… Autochthonistische und nicht-slawische Herkunftsmythen unter den Südslawen‘, in: ZEITSCHRIFT FÜR BALKANOLOGIE 2006/42, S. 37 – 62.

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Die ehemaligen Pioniere Miljenko und Marko erinnern sich ihrerseits an die Legenden über den „kleinen Jozˇa“, die im SFRJ-Schulprogramm zum Pflichtlehrstoff gehörten und wagen aus der historischen Distanz die Frage nach der Glaubwürdigkeit der größten jugoslawischen Hagiografie. Die Frage nach Wahrheit und Lüge begleitet sie stets bei der Revision des Volksbefreiungskampfes. Während sich die Nationalisten unermüdlich über die „Fälschung“ der eigenen Opferzahlen beklagen, suchen die Schriftsteller bei jüngeren und älteren Historikern nach objektiven und allgemeingültigen Zahlen.17 Den Reisenden sowie den Zuschauern wird sehr bald klar, dass die Völker des ehemaligen Jugoslawien die gemeinsame Vergangenheit unterschiedlich deuten und somit auch eine je eigene Geschichte der Gegenwart und Zukunft propagieren. Diese Polyphonie wird am besten veranschaulicht, als Jergovic´ und Vidojkovic´ die Autobahn kurz verlassen, um den Brcˇko-Distrikt zu erreichen: Gemeinsam mit Schülern aller drei bosnischen Entitäten nehmen sie im Gymnasium Vaso Pelagic´ am Geschichtsunterricht teil. Der Vergleich zwischen drei Lehrbüchern zeigt, dass die Geschichte (vgl. den Filmtitel: serbisch istorija, bosnisch historija und kroatisch povijest) insbesondere des Ersten und Zweiten Weltkriegs in dreifacher Version neben- und gegeneinander existiert. Es bleibt dem Geschick und Willen der Lehrpersonen überlassen, ein „einheitliches“ Lehrbuch bzw. einen „einheitlichen“ Geschichtsunterricht zu gestalten. In Vukovar machen Jergovic´ und Vidojkovic´ dagegen keinen Schulbesuch. Sie unterhalten sich stattdessen mit einem Journalisten vor den Ruinen eines zerstörten Bahnhofsgebäudes (Abb. 3).

Abb. 3: Der zerstörte Bahnhof in Vukovar, Zˇeljko Mirkovic´, Dugo putovanje, 2010. 17 Zu den Angaben im Film sowie zu der allgemeinen Unzuverlässigkeit der Ermittlungen vgl. die Zusammenfassung der Opferzahlen bei Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 169 f.

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Dieses Gebäude symbolisiert, als Relikt aus der österreichisch-ungarischen Zeit, ganz wie der Zagreber Bahnhof, die gemeinsame jugoslawische Geschichte. In Vukovar, so zeigt das Interview, liegt nicht einmal der bosnische Versuch, den Geschichtsunterricht individuell zu gestalten, im Bereich des Möglichen. Den Schülern werden unter dem gleichen Schuldach zwei unterschiedliche, national(istisch)e Geschichtsstunden angeboten. Der Geschichtsunterricht trägt somit wesentlich zum Scheitern des Zusammenlebens von jungen Kroaten und Serben bei. Die Vermittlung von Geschichte ist auch Thema im Gespräch der Protagonisten mit der Belgrader Historikerin Dubravka Stojanovic´. Schuld an der historiografischen Misere sind nach ihrem Dafürhalten „die Ministerien der jeweiligen Nachfolgestaaten, die seit 1993 auf die Idee kamen die Geschichte zu verändern“. Zusammen mit mehreren KollegInnen aus anderen südosteuropäischen Staaten (inklusive der Türkei und Zyperns) arbeitet sie an einem Projekt über die Komplexität und Multiperspektivität der Geschichte auf dem Balkan. Ziel dieser Gruppe ist die Herstellung kollageartiger Geschichtsbücher, die keine einzige Wahrheit bzw. nationale Mythologie fördern wollen, sondern die kontroversen und mehrdeutigen Geschichtsdeutungen auf dem Balkan nebeneinander existieren lassen und somit vielschichtige Lektüren der (Zeit-) Geschichte anregen wollen.18 Diese Absicht verfolgt auch Zˇeljko Mirkovic´ samt der reisenden Buddies in Dugo putovanje. Entlang der Autobahn, so muss Jergovic´ abschließend zusammenfassen, hat sich – abgesehen vom Bau neuer Gebetshäuser und Tankstellen – nicht viel ereignet. Mit dieser Aussage endet die Reise und die Geschichte über Identität/ en, Freiheit/en und Unabhängigkeit/en der ehemaligen Jugoslawen. Im Niemandsland zwischen Makedonien und Griechenland drehen die beiden Freunde dem Dritten im Bunde, ihrem Fahrzeug, kommentarlos den Rücken zu, sie entfernen sich vom offenbar ,toten‘, roten Yugo sowie dem autoput und schreiten samt Koffern Richtung Süden. Das dokumentarische Roadmovie Dugo putovanje überzeugt durch eine gelungene Kameraarbeit sowie durch eine punktuell gut aufgebaute Spannung, die allerdings häufig ohne Effekt bleibt und in eine eintönige Erzählung überführt wird. In fast gleich langen, meist dreiminütigen Einzelszenen wechseln sich Gebiete und Themen wie abgeschlossene Einheiten aus einem Lehrwerk ab. Die 18 In diesem Kontext seien auch zwei Werke von Nenad Velicˇkovic´ erwähnt, die die prekäre Situation im Literaturunterricht in Bosnien und Herzegowina analysieren (vgl. Velicˇkovic´, Nenad: Dijagnoza – Patriotizam. Beograd 2010; Velicˇkovic´, Nenad: Sˇkolokrecˇina. Nacionalizam u bosˇnjacˇkim, hrvatskim i srpskim cˇitankama. Beograd 2012). Die Auswahl der Texte in den Literaturbüchern sowie die begleitenden Arbeitsblätter machen aus der Literatur „ein mächtiges Instrument der Indoktrinierung“ und führen zur „Diskriminierung von Einzelpersonen“, die sich den drei Nationalismen in Bosnien entziehen wollen.

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„fertigen“ Aussagen werden oft mit zusätzlichem Dokumentarmaterial aus der jugoslawischen Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veranschaulicht und bekräftigt. Die größte Ausnahme stellt die Szene mit dem serbischen Politiker Vuk Drasˇkovic´ dar, die echtes Streitpotenzial in sich birgt. Diskutiert wird „die historische Wahrheit“, so Drasˇkovic´, über die Gleichstellung der Partisanen und Tschetniks im Zweiten Weltkrieg, inklusive der Tschetnik-Greueltaten an der bosnisch-muslimischen Bevölkerung. Aber auch in dieser Szene kommt es schließlich zu einer Einigung: Geschnitten wird unmittelbar nach der Feststellung, dass die „Wahrheit um einiges komplexer“ sei als ihre eintönige Darstellung, die üblicherweise nur von einer Seite, meist derjenigen der Sieger und Helden, wie z. B. der Partisanen, zum Kanon erhoben wurde. Mirkovic´s Film ist kein Aufruf zur Jugo-Nostalgie, sondern vielmehr eine polemische Auseinandersetzung, in der die verschiedenen Generationen ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart analysieren, um sie wieder neu konstruieren zu können. Wenn bei dieser Reise durch ein nicht mehr existierendes Land doch noch von Nostalgie die Rede sein kann, dann im Sinne von „emanzipatorischer Nostalgie“.19 Diese „aktive“ Art von Nostalgie kann verschiedene ehemalige YUGruppen und -Generationen, -Diskurse und -Empfindungsvermögen in ihren gemeinsamen Ansichten verbinden: Ihr kollektives Gedächtnis und Wissen über die gemeinsame Vergangenheit haben emanzipatorisches Potenzial und können dazu dienen, die jetzige/n Gesellschaft/en besser und toleranter zu gestalten. So kann man Mirkovic´s Film – ähnlich wie damals die Partisanenfilme und andere massenmediale Produkte – als ein Lehrwerk betrachten; dieses hätte die Intention, die meist verkürzten oder ausradierten Stellen zur SFRJ-Geschichte in den Lehrbüchern der heutigen Jugend zu ergänzen bzw. umzuschreiben. Wie man sich damals via Partisanenfilm20 an die unmittelbare NOB-Vergangenheit und die Konstituierung des neuen gemeinsamen Staates zurückerinnerte, so mahnt Dugo putovanje an das Land, in welchem „Brüderlichkeit und Einheit“ als Konzept propagiert wurde, das seinen Ausdruck zumindest in vielen Freundschaften fand. Die wesentlichen Beteiligten an Dugo putovanje, der Regisseur Mirkovic´ und die Protagonisten Jergovic´ und Vidojkovic´, verfolgen ein gemeinsames Anliegen: Sie erkennen in der Differenzierung und Multiperspek-

19 Vgl. Velikonja, Mitja: ,Lonely Planet. Ex-Yugoslavia – passive yugonostalgia‘, in: Manojlovic´ Pintar, Olga (Hg.): Tito – Vid¯enja i tumacˇenja. Beograd 2011, S. 569 – 581. 20 Die Partisanenfilme waren nur eines der verschiedenen Mittel jugoslawischer Indoktrinierung, trugen aber wie kein anderes zu dem Gemeinsamkeitsgefühl der jugoslawischen Völker bei. Oft wurde die Vielvölkerschaft dabei durch ein serbisch-kroatisches Helden-Duo hervorgehoben (zu denken wäre an die legendären Partisanen-Genossen, die von Bata Zˇivojinovic´ und Boris Dvornik verkörpert wurden).

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tivierung der Geschichte eine Voraussetzung für eine neue brüderlich-gemeinschaftliche Zukunft. Bemerkenswert ist schließlich der Humor, mit dem die ,Balkanbrüder‘ auch auf tragische Ereignisse blicken. Die Ironie, die Multiperspektivierung der Geschichte, die jugoslawische Spurensuche sind allesamt Themen und Verfahren, die Miljenko Jergovic´ in eigener Regie und etwas weniger didaktisch, dafür mit umso mehr Raffinesse, in seiner Prosa in Szene setzt.

Brüderlichkeit als zufälliges Ereignis In seiner mittlerweile berühmt gewordenen Erzählsammlung Sarajevski Marlboro nutzt Jergovic´ die Form der Novelle, insbesondere ihre dramatische Zuspitzung, um Gewalt, Schock und Tod, aber auch Glück, mit einem Wort: die unvorhersehbare Welt des Krieges literarisch zu gestalten. Mit Karl-Heinz Bohrer gesprochen, der die Pointe von der Stichomythie der griechischen Tragödie bis hin zu Kleist und Kafka verfolgt, verwendet Jergovic´ einen „frappierenden Stil“, einen Stil, der immer überrascht, meistens verletzt und so der Gewalt der Krieges, aber auch allen glücklichen Zufällen Rechnung trägt.21 In der Erzählung Kondor geht die Wende, die dem Helden das Leben rettet, auf die jugoslawische „Brüderlichkeit“ zurück. Das Glück, durch brüderliche Solidarität dem Tod entronnen zu sein, stellt mit Blick auf den Zyklus jedoch eine Ausnahme dar. Eine neue Politik – mit Carl Schmitt wäre es sogar die echte und einzige Politik – bahnt sich in den 1990er Jahren an: Die Gemeinschaft der Brüder wird durch die Differenzierung von Freund und Feind ersetzt.22 Zwar mag letztere aus kontingenten Gründen entstanden sein,23 doch das überraschend häufige Auftreten der Feinde und die seltenen brüderlichen Beziehungen, die in Jergovic´s Erzählband zu entdecken sind, geben Schmitts Diagnose recht: In Sarajevski Marlboro wird der reale Feind, unter die Lupe genommen und in seiner Existenz bestätigt.24 Die Brüder hingegen sind nur zufällig und

21 Vgl. Bohrer, Karl Heinz: ,Stil ist frappierend. Über Gewalt als ästhetisches Verfahren‘, in: Grimminger, Rolf (Hg.): Kunst – Macht – Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggression. München 2000, S. 25 – 42. 22 Vgl. dazu insbesondere das erste Kapitel in Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Hamburg 1933, S. 7 – 9. 23 Siehe hierzu: Jakisˇa, Miranda / Sasse, Sylvia: ,Logiken von Freund- und Feindschaft in der Literatur des ,Balkans‘. Die jugoslawischen Sezessionskriege als Ausbruch kontingenter Hostilität?‘, in: Kempgen, Sebastian / Gutschmidt, Karl / Jekutsch, Ulrike / Udolph, Ludger (Hg.): Deutsche Beiträge zum 14. Internationalen Slavistenkongress in Ohrid 2008. München 2008, S. 449 – 459. 24 Für Schmitt ist die Motivierung des Krieges beliebig, entscheidend dagegen, ob eine Freund-

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marginal anzutreffen. In der Erzählung Kondor gestaltet Jergovic´ diese Ausnahme. Wie schon der erste Satz verrät, ist der Held Izet ein quasi orientalischer Geschichtenerzähler, ein eglen-efendija, dem der Stoff für Erzählungen nie ausgeht. In Folge des Krieges verschlägt es dem Bauern Izet aber die Sprache. Gefangen von seinem serbischen Nachbarn Spasoje, der über Nacht zum Tschetnik mutierte, sitzt er nun in einem Keller, doch auf die beharrlichen, durch Prügel bekräftigten Fragen nach Waffenverstecken will ihm partout nichts mehr einfallen. Nur seinem kroatischen Mitgefangenen kann Izet noch einige schlaue, wie sich später herausstellt, fatale Ratschläge geben.25 Schließlich halten die Peiniger Izets Schweigen für ein Zeichen seines hohen militärischen Rangs, und man beabsichtigt, ihn gegen zehn gefangene Serben auszutauschen. Die muslimische Seite fordert Hinweise auf die Identität dieses so wichtigen Offiziers, und in der Not fällt Izet folgende Lösung ein. Izet […] musste […] die eigene Seite belügen, um nicht von den Tschetniks genüsslich abgeschlachtet zu werden, ob er nun zugab, dass er sie an der Nase herumgeführt hatte, oder auf seinem Offiziersrang herumritt. Hunderte von Geschichten schossen ihm durch den Kopf, eine unglaubwürdiger und wirrer als die andere. „Ihr habt den Kondor von Treskavica in euer Gewalt“, sagte er schließlich. Der Leutnant sah ihn zweifelnd an, holte Kuli und Papier aus der Jackentasche, notierte sich den Namen und ging.26

Der Kondor von Treskavica hat Erfolg. Er wird ausgetauscht, von den Seinen zwar prompt verprügelt, schließlich aber doch freigelassen. Dabei klärt sich auch das Geheimnis um den Kondor. Izets Erfolgsrezept liegt in der jugoslawischen Alltagsgeschichte: „Am Ende ließen sie ihn laufen, verflucht, es war schließlich nicht sein Fehler, dass sie zu viele Filme gesehen hatten und auf das Märchen vom Kondor hereinfielen.“27 Der attackierende frappierende Stil, die Pointe führt zurück nach Jugoslawien, in den sozialistischen Alltag. Sowohl die Feind-Gruppierung vorliegt. (Schmitt 1933, S. 18 f.) Gerade diese beiden Akzente – die Beliebigkeit des Motivs und die reale Gefahr – greift Jergovic´ in seiner Erzählsammlung auf. 25 Diese Passage legt eine intertextuelle Beziehung zu Jean Paul Sartres Le mur nahe, denn in beiden Texten geht es um die Rettung eines Gefährten durch Überlistung der Feinde, wobei die Aktion aus Zufall, Versehen und Pech zum Gegenteil führt. 26 Jergovic´, Miljenko: Sarajevo Marlboro. Frankfurt/M. 2009 (a), S. 103; Jergovic´, Miljenko: Sarajevski Marlboro. Karivani. Druge pricˇe 1992 – 1996. Zagreb 1999 (a), S. 71 f. „Ako [Izet] i svojima sad nesˇto ne slazˇe, cˇetnici c´e ga s takvim merakom klati, svejedno je hoc´e li im priznati da ih je vukao za nos ili c´e ustrajati na svom visokom vojnom zvanju. Kroz glavu mu u trenu proleti stotinu pricˇa, ali je svaka bila neuvjerljiva ili komplicirana. – Recite im da u zarobljenisˇtvu drzˇite Kondora s Treskavice – napokon izleti mu. Porucˇnik ga blijedo pogleda, uze olovku i papir, zapisa i izad¯e.“ 27 Jergovic´ 2009 (a), S. 104; Jergovic´ 1999 (a), S. 72. „Na koncu su ga ipak pustili, jebi ga, tko im je kriv sˇto su gledali previsˇe filmova pa vjeruju u pricˇe o kondorima.“

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Serben als auch die Muslime und Kroaten konsumierten regelmäßig Filme mit Kondoren. Der Deckname Kondor oder auch die bloße Bezeichnung und Anrede als „Kondor“ war unter anderem in den jugoslawischen Partisanenfilmen gängig. Gleichzeitig trug der Partisanenkult in maßgeblicher Hinsicht zur Selbstidentifikation des sozialistischen Jugoslawiens bei. Die Gemeinschaft der Partisanen stellte sogar ein Ideal der Brüderlichkeit dar. Dieses Faktum machen sich Held und Autor zunutze. Und nicht nur das: Durch den Begriff Kondor rufen sie auch die Erinnerung an amerikanische Spionagefilme wie etwa Sidney Pollacks Three Days of a Condor wach. Dieses Genre war im jugoslawischen Alltag ebenfalls ein beliebtes Mittel der Unterhaltung.28 Izets Rettung aus der Not liegt folglich in der spontanen Mobilisierung der brüderlichen Kultur, im Verweis auf ein gemeinsames, jugoslawisches Erbe. Einem Partisanen nicht unähnlich, gelingt es dem Helden noch in den 1990er Jahren, mit einer überraschenden Taktik die Fronten zu durchbrechen. Anzumerken bleibt, dass Jergovic´ in Kondor – wie in den meisten Erzählungen von Sarajevski Marlboro – die unvorhersehbaren Ereignisse des Krieges durch intertextuelle Spuren ergänzt. Nicht alles, so unterstreicht die den Erzählungen eingeschriebene Erinnerung, erweist sich als neu und unerwartet, vielmehr hat sich gerade das Unerwartete – so auch die überraschende Transformation des Nachbarn – schon einmal ereignet und ist darüber hinaus literarisch verankert. In Kondor nimmt Jergovic´ den Dialog mit Ivo Andric´s Bife Titanik auf, mit einer Erzählung also, die den Zweiten Weltkrieg in Sarajevo thematisiert und als erschütternder Protest gegen die nationalistische Politik der 1940er Jahre gelesen werden kann. Genauso wie Izet wird der jüdische Besitzer des Büfetts mit einer ihn befremdenden, überraschenden und vor allem feindlichen Situation konfrontiert. Ein Kroate, zufällig zum Ustascha geworden, sucht ihn am Stadtrand auf und fordert Wertgegenstände heraus. Aber anders als Izet kann sich der Jude weder durch Erzählen noch durch Schweigen und vor allem nicht durch den Rückgriff auf eine gemeinsame jugoslawische Kultur retten.29 Er wird aus Mangel an alternativen Möglichkeiten erschossen, wobei die Schüsse Blitzen gleichen, zwischen denen er verzweifelt hin und her springt.30 Durch die subtile Erinnerung an Andric´s Text scheint Jergovic´ anzudeuten, dass Brüder-

28 Schließlich kommen, wie der Film Dugo putovanje eröffnet, sogar Tschetnik-Kondore, also ebenfalls berühmte Anti-Helden der jugoslawischen Kultur in Betracht. Allerdings zitiert Jergovic´ in diesem Falle ein Gedicht von Ljubomir Simovic´, während er in Sarajevski Marlboro auf eine Vielzahl an Filmen hinweist. 29 Andric´ deutet in seiner Erzählung an, dass auch die bewusste Isolation des Helden von der jüdischen Gemeinde zu seinem Untergang beiträgt. 30 In seiner Verfilmung von Bife Titanik (Büffet Titanic) hat Emir Kusturica diese Aggression durch die taumelnde Bewegung einer Lichtquelle umgesetzt.

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lichkeit ein Ausweg aus Krieg und Gewalt sein könnte und eine – wenn auch zur Seltenheit gewordene – Chance auf Leben beinhaltet. Nach den Kriegen in den späten 1990er Jahren hat sich bereits eine andere Situation ergeben, und so setzt auch Jergovic´ die Brüderlichkeit der Jugoslawen auf neue Weise in Szene.

Brüderlichkeit und Familienbande In Jergovic´s 1999 erschienener Erzählsammlung Mama Leone wird die jugoslawische „Brüderlichkeit“ durch Rückbindung an die Institution der Familie überprüft. Auch wenn hier eine balkanische Tradition ins Spiel gebracht wird, nämlich die ausgeprägte Stellung, die die Familie im Südosten Europas über Jahrhunderte hinweg hatte,31 so stellt der enge Bezug von Staat und Familie doch keine balkanische Besonderheit dar. Keine Dialektik des Staates [bricht] jemals mit dem, was sie aufhebt und worauf sie zurückgeht (das Familienleben und die bürgerliche Gesellschaft), [niemals] löst sich das Politische von seiner internen Bindung an die familiäre Herkunft.32

Jergovic´ spürt dem Verhältnis des Staates zur Familie konsequent nach, und sofern die Großeltern des kindlichen Ich-Erzählers Miljenko betroffen sind, handelt es sich sogar um die Bindung des sozialistischen Staates an die bürgerliche Gesellschaft. Im Rahmen dieser minutiösen und intertextuell verdichteten Untersuchung,33 die darüber hinaus einen juristischen Beigeschmack hat, kommen Wahrheit und Lüge der jugoslawischen Brüderlichkeit zum Vorschein. Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als in der subtilen Verbindung, die zwischen der Eingangserzählung „Du bist dieser Engel“ („Ti si taj and¯eo“) und der vierten Erzählung des Zyklus „Was wird Mama Allende sagen“ („Sˇta c´e rec´i Mama Allende“) gezogen wird. Signifikant ist der Kommentar, den die Großmutter des jungen Ich-Erzählers anlässlich des Sturzes von Salvador Allende, dem sozialistischen chilenischen Staatschef im Jahr 1973, abgibt. Von Allendes Ermordung berichtet das Fernsehen:

31 Vgl. Kaser, Karl: Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur. Wien 1995. 32 Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft. Frankfurt/M. 2000, S. 11. 33 Die Beziehung des ersten Teils von Mama Leone, in dem der Autor eine verfremdende Kinderperspektive wählt, um die Lücken der jugoslawischen Geschichtsschreibung und neu aufkommende Gefahren in den Blick zu rücken, ist Danilo Kisˇs Rani jadi (Frühe Leiden) verpflichtet.

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Sie saß schon vor dem Fernseher, es war gleich acht, sie rauchte nervös und wartete auf den Beginn der Nachrichten. Im Präsidentenpalast Monada wurde Chiles Präsident Salvador Allende getötet, berichtete Mufid Memija, ach, die arme Mutter, sagte Baka, den Palast betrat ein schnauzbärtiger Mann mit einem Helm auf dem Kopf, Augusto Pinochet, sagte Memija, das Faschistenschwein, sagte Baka, wer ist das? fragte ich, er hat Allende umgebracht, sagte Baka. Und warum haben wir ihn nicht verteidigt?… Wie hätten wir ihn wohl von Sarajevo aus verteidigen sollen?… Hat er uns denn nicht gerufen?…34

Obwohl die Großmutter auf das „Faschistenschwein“ Pinochet schimpft – womit sie aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine geläufige, politisch sanktionierte Formel benutzt – gilt ihre erste und eigentliche Sorge der Mutter von Salvador Allende. Die in Floskeln gegossene sozialistische Ideologie, dass brüderliche Staaten um Unterstützung bitten können und dementsprechend zu verteidigen sind, setzt sich in den Repliken des Kindes fort. Miljenko scheint vor allem bei Film und Fernsehen gelernt zu haben, seine Vertrautheit mit Partisanenfilmen wird zumindest in anderen Erzählungen von Mama Leone offensichtlich. Nur die emphatische Mitleidsbekundung der Großmutter für die fremde Mutter macht eine Ausnahme in der Welt der Fernsehbilder und erlernten Parolen. Verglichen mit dem familiären Leid ist die sozialistische Ideologie sogar zum Zitat geschrumpft, sie wirkt unecht. Der Eindruck des Falschen oder doch zumindest Gefälschten,35 verstärkt sich durch den Kontext: Miljenko kommt mit einem Geheimnis nach Hause: „So kehrte ich mit einem Geheimnis aus der Schule zurück.“36 – Dieser Satz bildet den Auftakt zu den Abend-Nachrichten. Miljenko hat schlechte Schulnoten zu verstecken – das wäre nicht allzu schlimm –, doch bei Jergovic´ gibt es nichts Zufälliges, und das Schweigen des Ich-Erzählers enthält einen Hinweis auf die großen jugoslawischen Geheimnisse. Über diese Schattenseiten des Staates sind die Leser bereits durch die Eingangserzählung des Erzählzyklus „Du bist dieser Engel“ („Ti si taj and¯eo“) informiert. Klein-Miljenko stößt beim heimlichen Durchsuchen des großväterlichen Schrankes auf eine Schatulle mit Dokumenten. Es stellt sich dabei heraus, 34 Jergovic´, Miljenko: Mama Leone. Wien/Bozen 2000, S. 34 f.; Jergovic´, Miljenko: Mama Leone. Zagreb 1999 (b), S. 34. „Vec´ je sjela pred televizor, skoro c´e osam, nervozno pusˇi i cˇeka ˇ ilea Salvador pocˇetak dnevnika. U predsjednicˇkoj palacˇi Monada ubijen je predsjednik C Allende, govori Mufid Memija, e jadna mu majka, kazˇe baka, u palacˇu ulazi brkati musˇkarac sa ˇsljemom na glavi, Augusto Pinochet, kazˇe Memija, svinja fasˇisticˇka, kazˇe baka, tko je to, pitam, on je ubio Allendea, kazˇe baka, a zasˇto ga nismo branili?… A kako bi ga mi iz Sarajeva branili?… Tako, pozvao nas je?….“ 35 Jergovic´ könnte auch auf die falsche Darstellung von Allendes Tod angespielt haben, der sich vor Zeugen selbst erschossen hat, um gerade nicht von seinen Gegenspielern ermordet zu werden. 36 Vgl. Jergovic´ 2000, S. 34; Jergovic´ 1999 (b), S. 33: „Iz sˇkole sam se vratio s tajnom“.

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dass Großmutters Sohn, Miljenkos Onkel, im Kampf mit den Partisanen gestorben war, genauer : im Kampf gegen die Partisanen. Er starb also als Feind. Dieses Wort ist im Text eigens hervorgehoben.37 Großmutter selbst hatte ihrem Sohn aus pragmatischen Gründen zum Verbleiben bei den Ustaschas geraten, während der Großvater, aus denselben Motiven, für ein Überlaufen zu den Partisanen plädiert hatte. Auch wenn sich die Großmutter über dieses Ereignis bis zu ihrem Tod ausschweigt, ohne freilich die Dokumente zu vernichten,38 so kommen – für die Leser ersichtlich – die Geheimnisse ihres Lebens, aber auch die Geheimnisse des jugoslawischen Staates in ihrem Kommentar zu Allendes Tod plötzlich zum Vorschein. Großmutters Mitgefühl mit Allendes Mutter beruht auf persönlicher Erfahrung und echtem Gefühl – denn auch die Großmutter hatte ja einen Sohn verloren –, während ihr Ausruf „Faschistenschwein“ als erlernte Floskel, ja sogar als Lüge zu erkennen ist. Wohl kaum würde sie ihren verstorbenen Sohn, der als Faschist gekämpft hatte, mit diesem Schimpfwort bezeichnen. Die sozialistische Brüderlichkeit, das Netzwerk, das sich über den gesamten Globus zu spannen scheint, wird in Mama Leone durch die Familie, mithin durch Verwandtschaften relativiert und durch den Blick des Kindes verfremdet.39 Dieses Verfahren legt vor allem die Lügen und Geheimnisse der sozialistischen Gemeinschaft bloß. Mindestens eine Unstimmigkeit ist im Ursprung des Staates zu suchen, denn das sozialistische Jugoslawien gründet nicht nur auf heldenhaften Partisanen, wie Tito- und Partisanenkult glauben machen möchten, sondern auch auf Sympathisanten der Ustaschas und seien dies auch ganz unpolitische Bürger, zum Beispiel Mütter gewesen, die ihre Söhne schützen wollten. Zu betonen bleibt, dass die jugoslawische Brüderlichkeit mütterliche Liebe nicht ausrotten kann, mütterliche Solidarität aber auch – wie Großmutters Mitgefühl mit Mama Allende zeigt – nicht unbedingt ausschließen muss.

37 Im Original durch die Majuskel, in der deutschen Übersetzung durch Sperrdruck. 38 Das Schweigen lässt zumindest die Möglichkeit zu, dass ein Geheimnis entdeckt und für eine Aufarbeitung der Geschichte fruchtbar gemacht werden kann. Auch Lügen können thematisiert, mit anderen Erzählungen konfrontiert, vielleicht sogar ,aufgedeckt‘ werden. Diese Aufgabe übernimmt der Ich-Erzähler Miljenko und mit ihm der Autor. Anders steht es dagegen um das Vergessen. Wie Andrea Lesˇic´-Thomas am Beispiel von Mama Leone und Historijska ˇcitanka zeigt, schreibt Jergovic´ in beiden Werken vor allem gegen das Vergessen an, von dem sich Erfindungen und Lügen positiv abheben. Vgl.: Lesˇic´-Thomas, Andrea: ,Miljenko Jergovic´s Art of Memory. Lying, Imagining, and Forgetting in „Mama Leone“ and „Historijska cˇitanka“‘, in: THE MODERN LANGUAGE REVIEW 2004/99 – 2, S. 430 – 444. 39 Siehe dazu auch Simmons, Cynthia: ,Miljenko Jergovic´ and (Yugo)nostalgia‘, in: RUSSIAN LITERATURE 2009/66 – 4, S. 457 – 469.

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Der Bruder als Freund Am deutlichsten dürfte Jergovic´s Auseinandersetzung mit der sozialistischen „Brüderlichkeit“ im dritten und letzten Band seiner Auto-Trilogie Volga, Volga zum Ausdruck kommen. Zwar beteiligen sich alle Road-Novels, also auch Buick Rivera40 und Freelander41, an einer Aufarbeitung der jugoslawischen Geschichte, doch spielt der dritte Auto-Roman in seinem Titel nicht von ungefähr auf einen sowjetischen Wagen und ein russisches Lied an.42 Von Beginn an wird der sozialistische Faktor ins Spiel gebracht. Das gesellschaftliche Kollektiv, versinnbildlicht durch das sozialistische Auto, sowie politische Loyalitäten stehen auch thematisch im Zentrum des Romans, zumal ein Großteil der Figuren in einer Institution beschäftigt ist, die wohl am nachdrücklichsten das Prinzip von Brüderlichkeit und Einheit zu vertreten hatte: in der Armee. Der Protagonist Dzˇelal Plevljak nimmt in der Gemeinschaft der Soldaten allerdings eine Randstellung ein. Nur wenige Monate dient Plevljak in der Armee, bis er aus unerfindlichen Gründen wieder austritt und in demselben Verbund als Zivilist, nämlich als Fahrer weiterarbeitet.43 Er hält somit engen Kontakt zur JNA und ihren Angehörigen, insbesondere zu seinen direkten Vorgesetzten, aber er gehört dem Kollektiv im eigentlichen Sinne nicht mehr an. Diese Unentschiedenheit setzt sich auf vielen Ebenen des Textes, nicht zuletzt in seiner Komposition, fort. Jergovic´ legt die Biografie seines Helden, aber auch die Geschichte seines Landes in Form einer Multiperspektive dar. Auf die autobiografischen Aufzeichnungen Plevljaks, die den ersten Teil des Romans umfassen, folgt ein pseudoobjektiver, journalistisch gefärbter Bericht, der Informationen über die Kindheit des Helden, seine Familie und seine Freunde nachträglich ergänzt. 40 Jergovic´, Miljenko: Buick Rivera. Zagreb 2002. 41 Jergovic´, Miljenko: Freelander. Zagreb 2008. 42 Das Volkslied, dessen Text von Dmitrij Sadovnikov 1883 verfasst wurde, besingt die heroischen Taten von Sten’ka Razin und trägt im Russischen den Titel „Iz-za ostrova na strezˇen’“ entsprechend dem ersten Vers und Liedauftakt. Siehe die verschiedenen Textvarianten, verfügbar unter : [Zugriff: 30. 6. 2013]. In anderen slavischen Ländern, so zum Beispiel in Polen und in Jugoslawien, war der erste Vers der Strophe „Volga, Volga, mat’ rodnaja“ vermutlich der Kürze und Prägnanz halber für den Titel ausschlaggebend und wurde weiter zu „Volga, Volga“ verknappt. Obwohl sich der Titel scheinbar auch an Grigorij Aleksandrovs Film Volga, Volga aus dem Jahr 1938 anlehnt, ein Film, der im sozialistischen Jugoslawien bekannt und beliebt war, sehen wir keine Hinweise auf eine intermediale Beziehung zwischen den Werken von Aleksandrov und Jergovic´. 43 Im Februar 1951 wird Plevljak einberufen, im August nach Sˇibenik versetzt, weitere vier Monate später „endete sein Militärdienst auf rätselhafte Weise“. Jergovic´, Miljenko: Wolga, Wolga. Frankfurt/M. 2011, S. 171; Jergovic´, Miljenko: Volga, Volga. Zagreb 2009 (b), S. 184: „njegov se vojni rok na zagonetan nacˇin prekida“.

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Wesentliche Lücken in der Fabel scheinen mit dem zweiten Teil zunächst geschlossen zu werden, bei näherem Hinsehen und mit Fortschreiten des Romans nehmen die Rätsel und Geheimnisse um Plevljak aber zu. Die Leser sehen sich mit vielen Parallelgeschichten und Parallelwelten konfrontiert, so dass eine Orientierung in Raum und Zeit sowie eine Identifizierung von Figuren und Dingen sukzessive erschwert wird. Allein die marginalen Zeugnisse, die Dzˇelals Mutter Devla betreffen, geben ein anschauliches Beispiel multiperspektivischen Erzählens ab. Eine Fotografie aus dem Jahr 1941 zeigt sie mit nur noch einem Zahn,44 während ein Bekannter, der sie 1968 getroffen haben will, von ihrem Gebiss geradezu schwärmt: Sie habe auch als betagte Frau noch immer Reklame für Kalodont machen können.45 Welche Version nun die ,richtige‘, welche die ,falsche‘ sein mag, ob sich Wahrheit überhaupt erkunden und beweisen lässt, bleibt – auch mit Blick auf die zahlreichen, als unzuverlässig ausgewiesenen Erzähler – völlig offen.46 Die Widersprüche zwischen den beiden ersten Teilen, auf die ein wesentlich kürzerer dritter Teil folgt, in dem sich Dzˇelal Plevljak noch einmal zu Wort meldet, sind jedenfalls nicht zu übersehen. Und die Geschichte wird – bestenfalls – vielfältig. Von einer solchen Relativierung sind auch die brüderlichen Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten und den Jugoslawen selbst, insbesondere in ihren zentralen staatlichen Institutionen Armee und Justiz betroffen. Kaum überraschend kommen Bespitzelungen, willkürliche Verhaftungen und andere ,unfreundliche‘ Maßnahmen zur Sprache. Sogar die außenpolitischen Beziehungen des Landes erweisen sich in Volga, Volga als instabil. Auf Wunsch amerikanischer Politiker rät man der jugoslawischen Generalität, keine sowjetischen Autos mehr zu fahren. Die Entfremdung der „Brüder“ und die umgekehrte Annäherung von Kapitalismus und Sozialismus bestimmen das Schicksal des Wolga: Das Auto muss zwangsläufig seinen Besitzer wechseln. Aber der beschädigten Brüderlichkeit kommt ein zweites sozialistisches Bindemittel, der offiziell propagierte Atheismus, zu Hilfe. General Karamujic´ kauft den Wolga, weil er nach eigenen Aussagen „als Moslem tunlichst kein türkisches Auto fahren [sollte], ein russisches in seinem Fall [dagegen] nicht schaden [könne]“.47 So verbleibt der Wagen innerhalb der Armee. Diese Treue, die dem sozialistischen Auto entgegengebracht wird, ist symptomatisch. Jergovic´ stattet nicht nur seine Figuren mit schlagkräftigen Argumenten aus, sondern er hält sich selbst an Karamujic´s Taktik: Die sozialistische „Brüderlichkeit“ wird ebenso wenig wie 44 Jergovic´ 2009 (b), S. 166; Jergovic´ 2011, S. 155. 45 Jergovic´ 2009 (b), S. 182; Jergovic´ 2011, S. 169. 46 Mit einer ausgesprochen widersprüchlichen Biografie wird auch Plevljaks zweiter Freund, der Prediger Haris Masud, ausgestattet. 47 Jergovic´ 2011, S. 14; Jergovic´ 2009 (b), S. 14: „ne bi valjalo da on kao Muzafer vozi turski auto, dok ruski u njegovom slucˇaju ne mozˇe biti problem.“

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das Auto ausrangiert, sie bringt vielmehr auf Umwegen und an den Rändern ihres unmittelbaren Geltungsbereichs andere, wenn auch ebenso ,unechte‘ Brüder hervor – Freunde. Das Schicksal des Wolga lässt diese Möglichkeit augenfällig werden. Anlässlich der Pensionierung von Karamujic´ geht der Wagen in den Besitz von Plevljak über, der sein neu erworbenes Fahrzeug nutzt, um wöchentlich die Moschee in Livno aufzusuchen. Karamujic´ unterstützt dieses Anliegen. Beide Männer sind in enger Freundschaft miteinander verbunden, so eng, dass manch einer denken könnte, „sie seien vom anderen Ufer.“48 Die jugoslawische Armee, Garant der Brüderlichkeit und Einheit, verhält sich ähnlich wie heterotope Orte bei Michel Foucault,49 in denen sich, ungeachtet ihrer eigentlichen Funktion neue Beziehungen, Emotionen und Bedürfnisse entwickeln können. Jergovic´ deutet eine ,Politik der Solidarität‘ an, die in einer unübersehbaren Spannung – wenn auch nicht in einem absoluten Gegensatz – zu „Brüderlichkeit und Einheit“ steht.50 Sie greift vor allem ein Problem auf, mit dem nach Derrida jede Demokratie behaftet ist. Keine Demokratie ohne Achtung vor der irreduziblen Singularität und Alterität. Aber auch keine Demokratie ohne ,Gemeinschaft der Freunde‘ [koina ta philon], ohne Berechnung und Errechnung der Mehrheiten, ohne identifizierbare […] unter einander gleiche Subjekte. […] Diese beiden Gesetze […] sind in tragischer und auf immer verletzender Weise unversöhnbar.51

In Volga, Volga unterstreicht Jergovic´, dass sich diese Diagnose auf Volksdemokratien – trotz ihrer einseitigen Bevorzugung der Mehrheiten – übertragen lässt. Die Freundschaft zwischen Karmamujic´ und Plevljak, aber auch weitere Freundschaften, die sich im Verlauf des Romans ergeben, entstehen zwar unter den Bedingungen von Brüderlichkeit und Einheit, sie weichen in Form und Intensität, als einzelne, seltene und tugendhafte Beziehungen jedoch deutlich von der offiziell vorgesehenen Solidarität ab. Anders als in dem Erzählzyklus Mama Leone, in dem die Familie zum Korrektiv von Brüderlichkeit und Einheit erhoben wird,52 übernimmt in Volga, Volga die Freundschaft, genauer gesagt, die

48 Jergovic´ 2011, S. 41; Jergovic´ 2009 (b), S. 45: „Josˇ c´e rec´i da smo […] nastrani, da smo, ˇsto bi se u Bosni reklo, guzicˇari.“ 49 Siehe den Vortrag von Foucault in: Foucault, Michel: Heterotopien. Der utopische Körper. Frankfurt/M. 2005, S. 7 – 22, und das Gespräch mit Foucault in: Foucault, Michel: ,Von der Freundschaft als Lebensweise. Gespräch mit Ren¦ de Ceccatty, Jean Danet und Jean le Bitoux‘, in: ders.: Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch. Berlin 1982 – 1984, S. 85 – 93. 50 Die Unterstützung, die Karamujic´ seinem Freund gewährt, führt zur konsequenten Überwachung der beiden durch den jugoslawischen Geheimdienst. 51 Derrida 2000, S. 47. 52 Ohne dass hierbei Freund- oder Feindschaftsmodelle belebt würden, die in der traditionellen, balkanischen Sippenstruktur verhaftet sind (zu Letzterem vgl. Kaser, Karl: Freund-

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Männerfreundschaft, diese Funktion. Durch die gezielte Wiederaufnahme von Motiven legt Jergovic´ sogar nahe, dass die Familienbande in eine höhere Form der persönlichen Bindung, in die seltene, unverwechselbare und selbstbestimmte Freundschaft zwischen einzelnen Männern überführt werden kann,53 eine Beziehung, die – wie Derrida nicht ohne kritischen Unterton anmerkt – in allen philosophischen Konzepten unter Ausschluss der Frauen zum Modell von Freundschaft erklärt wird.54 „Der Freund [ist] wie ein Bruder“,55 – und nicht wie die Schwester ; bei näherem Hinsehen steht er gleichzeitig über dem Bruder. Schon Montaigne hebt den kategorialen Unterschied von Verwandtschaft und Freundschaft hervor, der in der freien Entscheidung für den Freund liegt, in der völligen Zweckfreiheit der Freundschaft.56 Allein die Not der Sprache und des Denkens bewirkt, dass wir zur Darstellung der Freundschaft auf Analogien und damit auf die Bilder der Familie zurückgreifen müssen. „Nach langer Zeit habe ich wieder eine Familie.“57 – so kommentiert Plevljak seine Zuneigung zu den Fatumic´s, aber um natürliche Bindungen geht es hier nicht. Vielmehr steht die außergewöhnliche und auserwählte Beziehung zu einem bestimmten Familienmitglied, zu Osman Fatumic´, zur Debatte. Die Aussage bekräftigt sogar eigens die Freundschaft zwischen beiden Männern, denn sie war just zuvor auf eine harte Probe gestellt worden. Osman Fatumic´ konfrontiert Plevljak mit seiner Ustascha-Vergangenheit, und nicht nur das: Er bekennt, dass er seinen Eid auf Pavelic´ nie gebrochen habe. „Einmal Ustascha, immer Ustascha.“58 Nur gemordet will er angeblich nicht haben. Mit dieser Information versorgt fährt Plevljak zurück an die Küste, an seinen Wohn- und Arbeitsort und überlegt sich, Osman anzuzeigen. Selbstverständlich war ich bereit, zur Polizei zu gehen und Osman Fatumic´ anzuzeigen. Selbst wenn es nicht meine staatsbürgerliche Pflicht gewesen wäre, wenn ich mich nicht der jugoslawischen Sicherheitskultur verpflichtet gefühlt hätte, ich hätte ihn aus

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schaft und Feindschaft auf dem Balkan: euro-balkanische Herausforderungen. Klagenfurt 2001). Insbesondere Osman Fatumic´ tritt als echter Freund die Erbfolge der bereits verstorbenen Familienmitglieder des Helden Plevljak an. So befindet sich zum Beispiel in Osmans Haus ein winziges Gästezimmer mit einem ebenso winzigen Kelim (Jergovic´ 2009 (b), S. 145 f.; Jergovic´ 2011, S. 135 f.). Plevljaks Mutter Devla fristete in einem ähnlichen Raum mit einem ebensolchen Kelim ihr Altersdasein. (Jergovic´ 2009 (b), S. 181.; Jergovic´ 2011, S. 168.) Die Schwester ist nach Derrida in dieses Konzept zwar eingeschlossen, aber nur um neutralisiert zu werden. Die Schwester gibt nie ein Beispiel für den Begriff der Brüderlichkeit ab, sie muss vielmehr im Sinne der Brüderlichkeit erst erzogen werden. (vgl. Derrida 2000, S. 11.) Derrida 2000, S. 10. Montaigne, Michel de: Von der Freundschaft. München 2005, S. 10, 16. Jergovic´ 2011, S. 119; Jergovic´ 2009 (b), S. 128. „Nakon dugo vremena imao sam svoju porodicu.“ Jergovic´ 2011, S. 105; Jergovic´ 2009 (b), S. 113. „A ustasˇa sam jer sam prisegnuo.“

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Überzeugung angezeigt. Wie oft hatte er betont, den Eid auf Ante Pavelic´ nie gebrochen zu haben? Und was bedeutete dieser Eid? Wenn er wirklich niemanden auf dem Gewissen hatte, wie er behauptete, war er zumindest bereit, Mörder zu schützen und zu verstecken. […] So dachte ich und wollte Osman Fatumic´ anzeigen. Es hat nicht viel gefehlt und ich hätte es getan.59

Plevljak gerät in einen Konflikt zwischen (sozialistischer) Brüderlichkeit und Freundschaft, zwischen Treue zum Staat und Verantwortung für den Freund. Und in diesem Konflikt kommen auch die unterschiedlichen Merkmale der beiden ,Bruderschaften‘ zum Vorschein. Während die sozialistische Brüderlichkeit ein Urteil verlangt (eine Anzeige mit sämtlichen Konsequenzen), situiert sich die Freundschaft jenseits der Kategorien von wahr und falsch. In diesem Sinne entspricht hier die Freundschaft dem ersten Teil des Aristoteles zugeschriebenen Satzes „Oh, meine Freunde, es gibt keinen Freund“, den Derrida in seinen Reflexionen über die „Politik der Freundschaft“ wiederholt aufgreift. Man könnte sogar davon ausgehen, dass die Apostrophe „Oh, meine Freunde“ Plevljaks Zaudern zum Ausdruck bringt, ihrerseits aber notwendig auf das Urteil – „es gibt keinen Freund“, d. h. es gibt die Möglichkeit der Anzeige – angewiesen ist. Freundschaft nimmt dergestalt auf Brüderlichkeit Bezug und löst sich doch gleichzeitig von eben dieser Brüderlichkeit. Diese Hypothese wird nicht zuletzt durch Plevljaks Handeln bestätigt. Er schafft es nicht, Osman Fatumic´ anzuzeigen und nennt dafür mehrere Gründe: das schöne Wetter, die Samstagsstimmung, ein vorzeitiger Feierabend, vor allem aber scheint folgender Gedanke den Ausschlag gegeben zu haben: „Wenn ich Osman bei Hauptmann Ilija Ilijic´ anzeige, kann ich nie mehr mit ihm Schach spielen.“60 Die Anzeige würde nicht nur Osman, sondern auch den Hauptmann auf eine unzweideutige Rolle in der urteilenden und verurteilenden sozialistischen Gemeinschaft reduzieren. Der Hauptmann würde vor allem der Möglichkeit beraubt, im Zentrum von Brüderlichkeit und Einheit, in der Kaserne, auch ein (gewöhnlicher) Freund sein zu dürfen61 und eine entsprechend zwecklose Handlung ausführen zu können. Das Vertrauen dem (Spiel)-Partner gegenüber 59 Jergovic´ 2011, S. 107 f.; Jergovic´ 2009 (b), S. 115 f. „Naravno da sam bio spreman da odem na miliciju i prijavim Osmana Fatumic´a. Ako mi ga i nisu namjestili, da provjere hoc´u li ispuniti svoju grad¯ansku duzˇnost i pokazati bezbjednosnu kulturu, prijavio bih ga iz uvjerenja. Koliko mi je puta rekao da nije pogazio zakletvu danu Anti Pavelic´u? Ako i nije klao, a kazˇe da nije, onda je spreman zasˇtititi i sakriti one koji su klali. […] Tako sam mislio i htio sam prijaviti Osmana Fatumic´a.“ 60 Jergovic´ 2011, S. 109; Jergovic´ 2009 (b), S. 117. „Ako bih kapetanu Iliji Ilijic´u prijavio Osmana, visˇe nikad ne bih mogao s njime igrati sˇah.“ 61 In diesem Falle geht es nicht um die vollkommene Freundschaft, die nur selten anzutreffen ist und in Volga, Volga Dzˇelal Plevljak mit Osman Fatumic´ verbindet, sondern um eine gewöhnliche Freundschaft, die gleichwohl einige gemeinsame Merkmale mit der vollkommenen aufweist.

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erlitte durch die korrekte brüderliche Tat offensichtlich einen irreparablen Schaden. Dieses Risiko geht Plevljak nicht ein. Er schweigt. Damit verletzt er weder die sozialistische Gemeinschaft noch die gewöhnliche Freundschaft, er achtet stattdessen einen Staatsfeind, ja er bewährt sich sogar durch diese ,Tat‘ selbst als Freund. Das Schweigen hält Brüderlichkeit und Freundschaft auseinander, ein Konflikt wird unterbunden, aber von Harmonie kann nicht die Rede sein. Plevljak handelt tugendhaft. Dieses Gefühl bringt er selbst zum Ausdruck, und die Leser müssen ihm mit fortschreitender Lektüre zustimmen. Wie der zweite Teil des Buches suggeriert, sind die Informationen über Osman Fatumic´s Ustascha-Vergangenheit nämlich alles andere als gesichert, ja er soll sogar umgekehrt von den Ustaschas verfolgt worden sein. Gleichzeitig gilt er als notorischer Lügner.62 Seine blumigen Bekenntnisse lassen schließlich auch die Leser zu Detektiven, Spionen und Untersuchungsrichtern werden. So könnte Osman seinen neu gewonnenen Freund Dzˇelal – und damit die noch junge Freundschaft – mit einer provokativen, jedoch erfundenen Vergangenheit auf die Probe gestellt haben. Im Bereich des Möglichen liegt aber auch eine echte Beichte, womit die Zeugnisse, die Osmans politische Verfolgung untermauern, ihrerseits gefälscht wären.63 Die Ereignisse lassen sich kaum ,wahrhaft‘, ,sicher‘ oder ,rechtmäßig‘ rekonstruieren. Offensichtlich ist aber, dass die außergewöhnliche – mit Kant gesprochen: die vollkommene Freundschaft – mit verschiedenen politischen Bekenntnissen einher gehen kann. Sie steht in einem Spannungsverhältnis zur jugoslawischen „Brüderlichkeit und Einheit“ und zeigt die Spezifika dieser sozialistischen Gemeinschaft zuallererst an, insbesondere die Nähe zu Rechtsprechung, Urteil und Gelübde. Anders als Pavelic´ oder Tito fordert der Freund keinen Eid.64 In der Freundschaft geht es um Achtung und Liebe, – so dürfen die Leser mindestens bis zum letzten Romanteil annehmen. Volga, Volga schließt mit dem Zusammenbruch Jugoslawiens. Vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalismus, den Plevljak im Gefängnis von Focˇa durch die Aggression seines serbischen Zellengenossen Avram Prodanovic´ erfährt, werden mehrere Freundschaftsmodelle gegeneinander gehalten: 62 Jergovic´ 2009 (b), S. 327 f.; Jergovic´ 2011, S. 302. Im Übrigen korrigiert er noch im ersten Teil seine Aussagen und gibt zu, dass er sehr wohl gemordet und vergewaltigt habe. 63 Ein zweiter Osman (Jusufpahic´) beteiligt sich nach dem Zweiten Weltkrieg an der Säuberung Jugoslawiens von seinen rechtsnationalen Elementen, er verhört Fatumic´, aber ob er die kompromittierenden Informationen weitergegeben hat, scheint fraglich. Fatumic´ wurde im sozialistischen Staat nie behelligt. Jusufpahic´ dürfte (aus Zuneigung, Freundschaft, möglicherweise auch aus religiöser Solidarität) falsche Akten verfasst haben. Diese Akten liegen dem zweiten Teil von Volga, Volga u. a. zugrunde. 64 Nicht ganz von ungefähr verschwindet Plevljaks Tochter Maja just am Tag des Pioniergelöbnisses, das den Eid auf Brüderlichkeit und Einheit beinhaltet; dieses Ereignis führt zur Wende in Plevljaks Leben: Er verliert die ,natürliche‘ Familie und gewinnt Freunde.

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(Volks-)Freunde, die sich über (Volks-)Feinde definieren und Carl Schmitts Definition des Politischen untermauern, sowie eine religiös inspirierte Nächstenliebe, die Plevljaks Verhältnis zu seinem Mitgefangenen charakterisiert. Dazu kommt das blinde Vertrauen in Gott (respektive in den Teufel), das sich in der Prüfung Abrahams (und der teuflischen Prüfung des serbischen Avram) kenntlich macht. Die sozialistische „Brüderlichkeit“ ist unter diesen veränderten politischen Bedingungen kein Thema mehr, die Brüder sind verloren, damit aber verschwindet auch die echte Freundschaft aus dem Roman. Beide Loyalitäten sind und waren, um noch einmal auf Derridas Bestimmung der Demokratie und Aristoteles’ Aussage „Oh, meine Freunde, es gibt keinen Freund“ zurückzukommen, „in tragischer Weise unversöhnbar“,65 sie stritten sich jedoch gleichzeitig das Existenzrecht nicht ab. Vorsichtig formuliert könnte es zu Jergovic´s jugoslawischer Nostalgie gehören, dass er sich eines abschließenden Urteils über die Brüderlichkeit – ganz nach den Maximen der Freundschaft – enthält. Ein sehr feines Band hingegen knüpft der Autor, wie in einem Roman über Freundschaft, Solidarität und Brüderlichkeit kaum anders zu erwarten, zu seinen literarischen Verbündeten. Die juristische Fragestellung, die besonders im zweiten Romanteil aufgeworfen wird, die Problematik des staatlichen Ursprungs, die im Handlungsverlauf entwickelte Tugend der Freundschaft erinnern an Mesˇa Selimovic´s Dervisˇ i smrt (Der Derwisch und der Tod), die Multiperspektive ruft zusätzlich Danilo Kisˇs Pesˇcˇanik (Sanduhr) auf, manche Motive – die Metapoetik des Erzählens, das Gefängnis – scheinen auf Ivo Andric´s Prokleta avlija (Der verdammte Hof) anzuspielen. Die Beziehungen, die in Volga, Volga zu den Klassikern der jugoslawischen Literatur aufgenommen werden, sind wie meistens bei Jergovic´ subtil. So wird der Autor auch in seinem vorsichtigen, intertextuellen Dialog den Kriterien der Freundschaft gerecht.

Abbildungen Abb. 1: Im Jugo, Zˇeljko Mirkovic´, Dugo putovanje, 2010. Abb. 2: Marko Vidojkovic´ und Miljenko Jergovic´ vor der Tito-Statue in dessen Geburtsort Kumrovec, Zˇeljko Mirkovic´, Dugo putovanje, 2010. Abb. 3: Der zerstörte Bahnhof in Vukovar, Zˇeljko Mirkovic´, Dugo putovanje, 2010.

65 Derrida 2000, S. 47.

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Kurzbiografien

Davor Beganovic´ studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Belgrad und promovierte 2005 in Konstanz. Nach diversen Lehrtätigkeiten in Konstanz, Zürich, Wien, Berlin und Tübingen ist er derzeit Lektor für Bosnisch/Kroatisch/Serbisch in Tübingen. Veröffentlichungen: Pamc´enje traume. Apokalipticˇka proza Danila Kisˇa [Die Erinnerung an das Trauma. Apokalyptische Prosa von Danilo Kisˇ] (2007); Poetika melankolije. Na tragovima suvremene bosanskohercegovacˇke knjizˇevnosti [Poetik der Melancholie. Auf den Spuren der zeitgenössischen bosnisch-herzegowischen Prosa] (2009); Protiv kanona. Nova crnogorska proza i okamenjeni spavacˇ [Gegen den Kanon. Neue montenegrinische Prosa und der versteinerte Schläfer] (2011); Krieg sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien (Mithg., 2007); Radomir Konstantinovic´. Iskusˇavanje granica [Radomir Konstantinovic´. Überprüfung/Versuchung der Grenzen] (Mithg., 2013). Anna Bohn studierte Slawistik, Polonistik und Hispanistik mit filmwissenschaftlichem Schwerpunkt in München, Madrid und Moskau und promovierte 2003 in München. Nach mehreren Koordinationsstellen für unterschiedliche Kulturstiftungen leitete sie das DFG-Forschungsprojekt „Grundlagen einer Theorie der Filmrestaurierung und kritischen Filmedition aus interdisziplinär vergleichender Perspektive“ an der Universität der Künste in Berlin. Derzeit ist sie Referatsleiterin für Film und Kunst der Artothek in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Publikationen (Auswahl): Denkmal Film. Band I: Der Film als Kulturerbe. Band II: Kulturlexikon Filmerbe (2013); Film und Macht. Zur Kunsttheorie Sergej Eisensteins 1930 – 1948 (2003); Filmeditionen: DVD Studienfassung Metropolis (2006); Bronenosec Potemkin / Panzerkreuzer Potemkin. Rekonstruktion 2005 in Zusammenarbeit mit E. Patalas (2007). Milka Car studierte Komparatistik und Germanistik in Zagreb und promovierte 2008. Nach Tätigkeiten als Assistentin und Dozentin und längeren Studienaufenthalten in Wien und München ist sie seit 2014 außerordentliche Pro-

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fessorin an der Philosophischen Fakultät Zagreb. Ihre Forschungsschwerpunkte sind deutschsprachige Dramatik in Kroatien, rezeptionsästhetische und kulturwissenschaftliche Aspekte sowie der Dokumentarroman in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Publikationen: Odrazi i sjene. Njemacˇki dramski repertoar u Hrvatskom narodnom kazalisˇtu u Zagrebu do 1939 [(Wider)Spiegelungen und Schatten. Das deutsche Dramenrepertoire im Kroatischen Nationaltheater in Zagreb seit 1939] (2011); „Dokument und Roman – Dokumentarroman? Grenzen und Möglichkeiten des Dokumentarischen“, in: Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext (2011); „Zu Gast im eigenen Land. Gstreins Winter im Süden und Sˇtiks’ Archive der Nacht“, in: Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur (2011). ˇ olovic´ ist Ethnologe und politischer Anthropologe. 1971 begründete er Ivan C die Bücherreihe „Bibliothek des XX Jahrhunderts“ (Biblioteka XX veka), die er seit 1981 herausgibt. Er gehörte zu den Mitbegründern der Vereinigung „Belgrader Kreis“ (Beogradski krug), in der sich Intellektuelle gegen Nationalismus und Krieg engagierten. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den Herder-Preis (2000), den französischen Orden des Chevalier de la L¦gion d’Honneur (2001), den Konstantin Obradovic´-Preis (2006), den Ehrendoktor der Warschauer Universität (2010) und die Konstantin Jirecˇek-Medaille (2013). In deutscher Übersetzung sind von ihm erschienen: Bordell der Krieger, Folklore, Politik und Krieg (1994) und Kulturterror auf dem Balkan. Essays zur politischen Anthropologie (2011). Jan Dutoit hat Osteuropäische Geschichte und Slawistik an den Universitäten Basel, Bern und Chabarowsk studiert und ist Mitarbeiter am Editionsprojekt zu Walter Benjamins autobiografischen Schriften an der Universität Basel sowie seit Juni 2014 Fachreferent in der Schweizerischen Osteuropabibliothek in Bern. Seine Interessen gelten insbesondere der Kulturgeschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert sowie der zeitgenössischen Literatur, weshalb er auch seit 2011 regelmäßig Lesungen mit Autoren und Autorinnen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens veranstaltet. Ein Schwerpunkt seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte Jugoslawiens bildet das Verhältnis zwischen Politik und Musik: zusammen mit B. Previsˇic´ : „Jenseits des Universellen – politische Subcodes der Populärmusik im jugoslawischen Zerfall.“ In: Jugoslawien-Libanon. Verhandlungen von Zugehörigkeit in den Künsten fragmentierter Kulturen (2011); „YU-Tube – eine musikalische Reise durch das sozialistische Jugoslawien.“ In: Norient. Network for Local and Global Music and Media Culture (2013).

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Jean-Claude Fombaron ist Historiker und der Präsident der „Soci¦t¦ Philomatique Vosgienne“. Sein Forschungsinteresse richtet sich besonders auf die Kriegsikonografie im Ersten Weltkrieg. Aktuelle Publikationen (Auswahl): A l’Est du nouveau: Arch¦ologie de la Grande Guerre en Alsace et en Lorraine (2013); Menschen im Krieg am Oberrhein 1914 – 1918 (2014). Ruzˇa Fotiadis studierte Ost- und Südosteuropäische Geschichte und Serbistik/ Kroatistik in Berlin, Zagreb und Thessaloniki. Seit 2010 promoviert sie mit einer Arbeit zu serbisch-griechischen Beziehungsdiskursen an der HU Berlin und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am GWZO an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsinteressen richten sich auf kollektive Identitäten in Südosteuropa, griechisch-südslawische Verflechtungsgeschichte, Border Studies und Food Studies. Publikationen: „Christenbrüder und Türkenfreunde. Griechisch-serbische Beziehungsbilder.“ In: Post-Panslavismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert (2014). Aida Gavric´ promoviert in Sarajevo zum Thema „Mischlinge“ in Literatur und Film in der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft Deutschlands und Jugoslawiens. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitet sie auch als Autorin für Radiosendungen. Ihre Forschungsinteressen sind Identitätstheorie Genderforschung, Feminismus, Kanonbildung, Narratologie und politische Philosophie, worüber sie mehrere Aufsätze in der Zeitschrift Novi izrazi und der Tageszeitung Oslobod¯enje veröffentlichte. Aktuelle Publikationen: „Pitanje suvremenog nomadizma i hibridni identitet“ [„Die Frage des modernen Nomadismus und der hybriden Identität“]. In: Journal für Literatur und Theorie POLJA (2012). Bohunka Koklesová studierte in Bratislava Kunstwissenschaften und promovierte dort 2010. Derzeit arbeitet sie als Lektorin an der Universität Bratislava und als Kuratorin sowie als freie Autorin. Ihr Forschungsinteresse gilt insbesondere der Geschichte und Theorie von Fotografie und der Beziehung zwischen Kunst und Politik. Publikationen: In the Shadow of the Third Reich – the Official Photographs of the Slovak State 1939 – 1945 (2009); (zusammen mit A. Hrabuˇsicky´): Captived by Beauty, Slovak Documentary Photography in the 50’years (2013). Aleksandar Jakir promovierte 1997 nach seinem Studium der Slawistik und Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Im Anschluss war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Jena, Marburg und Basel. Seit 2007 ist er Professor für Zeitgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Universität Split. Publikationen (Auswahl): Klerus und Nation in Südosteuropa

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vom 19. bis zum 21. Jahrhundert (Mithg.; 2014); Izabrani spisi Ive Tartaglie [Ausgewählte Schriften von Ivo Tartaglia] (Mithg., 2013); „Nacija i nacionalizam u 19. i 20. stoljec´u kao pojava i historiografski problem na primjeru Dalmacije.“ [Nation und Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert als Phänomen und historiografisches Problem am Beispiel Dalmatiens] In: Agencija za odgoj i ˇ etvrti hrvatski simpozij o nastavi povijesti: Hrvati i manjine u obrazovanje – C Hrvatskoj: moderni identiteti (1868 – 1941) [Agentur für Erziehung und Bildung – Das vierte kroatische Symposium über die Geschichte des Unterrichts: Kroaten und die Minderheiten in Kroatien: Moderne Identität (1868 – 1941)] (2014). Mirt Komel studierte und promovierte in Ljubljana. Derzeit arbeitet er als Lehr- und Forschungsassistent für Philosophie und Kulturwissenschaften an der Universität Ljubljana. Seine Hauptforschungsinteressen sind theoretische Psychoanalyse, Kulturwissenschaft von Videospielen, Orientalismus und Balkanismus. Publikationen: Poskus nekega dotika [An Attempt of a Touch] (2008); Diskurz in nasilje [Discourse and Violence] (2012); Twin Peaks in postmodernizem [Twin Peaks and Postmodernism] (2012); Evroorientalizem. Cˇasopis za ˇ asopis za kritiko znanosti (Mitgr., 2009); Postdaytonska Bosna in Hercegovina. C kritiko znanosti (Hg., 2011). Kristin Lindemann studierte Europa- und Amerikastudien in Halle-Wittenberg und Slawistik in Konstanz, wo sie seit 2009 als Mitarbeiterin im Projekt „Slavia Islamica“ im Exzellenzcluster zum Thema „,Religion ist eine Sache, Nationalität eine andere.‘ Sprache, Religion und Politik in Bosnien-Herzegowina während der Habsburger Zeit“ promoviert. Publikationen: „Laizismus als kulturpolitisches Postulat der bosnisch-muslimischen Intellektuellen Ende des 19. Jahrhunderts“. In: Kulturgrenzen in postimperialen Räumen. Bosnien und Westukraine als transkulturelle Regionen (2013); „Lehrer oder Dichter? Safvet ´ azim C ´ atic´ zwischen den Lehren und der Kunst des beg Basˇagic´ und Musa C Islams.“ In: Slavica Tergestina. European Slavic Studies Journal (2014). Renata Makarska studierte an der Universität Wrocław Polnische Philologie. Nach Abschluss ihres Studiums war sie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zunächst als Tutorin der Robert-Bosch-Stiftung für Polnische Sprache und Landeskunde und ab 1998 als Lektorin für Polnische Sprache tätig. 2007 promovierte sie in Jena, war 2008 – 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Grenzerzählungen in transnationalen Räumen“ am Exzellenzcluster der Universität Konstanz. Seit 2013 ist sie Professorin für Polnisch am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind westslawische Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts, Literatur und Topografie, Migration und Literatur, Regionalismus, Min-

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derheitendiskurse, Mehrsprachigkeit und Übersetzungstheorien. Wichtigste Publikationen: Der Raum und seine Texte Konzeptualisierungen der Hucul’sˇcˇyna in der mitteleuropäischen Literatur des 20. Jahrhunderts (2010), Polnische Literatur in Bewegung. Die Exilwelle der 1980er Jahre (Mithg., 2013). Nenad Makuljevic´ ist Professor am Institut für Kunstgeschichte an der Universität Belgrad. Seine Forschungsinteressen umfassen serbische Kunst des 19. Jahrhunderts, Visuelle Kulturen des Balkans sowie den Zusammenhang von Kunst und Politik. Seine wichtigsten Publikationen und Herausgeberschaften sind: Umetnost i nacionalna ideja u XIX veku [Art and National Idea in the 19th Century : System of the European and Serbian Visual Culture in the Service of the Nation] (2006); Common Culture and Particular Identities: Christians, Jews and Muslim in the Ottoman Balkans (Mithg., 2013). Katarina Mohar ist Forschungsassistentin am France Stele Institut für Kunstgeschichte des Forschungszentrums der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Ljubljana. Ihre Forschungsinteressen sind Kunst des 20. Jahrhundert, Nachkriegskunst in Slowenien, Jugoslawien und der UdSSR, Kunst und Politik, sozialistischer Realismus und Monumentalmalerei. Publikation: „,Freedom is a monument.‘ The Victory Monument in Murska Sobota – its erection, destiny and context”, in ACTA HISTORIAE ARTIS SLOVENICA (2013). Tatjana Petzer studierte Anglistik, Amerikanistik, Russistik und Serbokroatistik an der HU Berlin. Nach mehreren DAAD-Lektoraten und Lehraufträgen promovierte sie 2006 in Belgrad und Halle. Sie war Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung und an der HU Berlin, 2009/10 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg in Konstanz und seit 2010 Dilthey-Fellow am ZfL und Oberassistentin am Slawischen Seminar der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Slawische Literaturen und (Wissens-)Kulturen, Transformationsästhetik der Moderne, Wissensgeschichte der Synergie. Publikationen (Auswahl): Ordnung pluraler Kulturen. Figurationen europäischer Kulturgeschichte, vom Osten her gesehen (Mithg., 2013); „Isochimenen“. Raum und Kultur im Werk von Isidora Sekulic´ (Mithg., 2012); Namen. Benennung – Verehrung – Wirkung. Positionen in der europäischen Moderne (Mithg. 2009); Geschichte als Palimpsest. Erinnerungsstrukturen in der Poetik von Danilo Kisˇ (2008). Milan Popadic´ studierte Kunstgeschichte in Belgrad, wo er 2011 auch promovierte. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Museologie und Kulturerbe an der Universität Belgrad. Seine Forschungsinteressen

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umfassen Theorie und Methodologie der Forschungen zum Kulturerbe. Aktuelle Publikationen: Grad¯enje pamc´enja: Prostorno-memorijski system muzeolosˇke vrednosti. Slucˇaj Muzeja savremene umetnosti u Beogradu [Building Memory : Spatial-Memory System of Museological Value. Case of Museum of Contemporary ˇ iji je Micheland¯elov David? Basˇtina u svakodnevnom Art in Belgrade] (2011), C zˇivotu [Who Owns Michelangelo’s David? Heritage In Everyday Life] (2012), Vreme prosˇlo u vremenu sadasˇnjem: Uvod u studije basˇtine [Time Past in Time Present: Introduction into Heritage Studies] (2014) and two-volume anthology Prostori pamc´enja: Arhitektura – Umetnost – Basˇtina [Spaces of Memory : Architecture-Heritage-Art] (Mithg., 2013). Boris Previsˇic´ ist ausgebildeter Konzertflötist. Er war vor seiner akademischen Karriere als Leiter von Musikprojekten in Südosteuropa im Rahmen der Organisation pre-art tätig. Er hat zu Hölderlins Rhythmus in Zürich promoviert und sich nach mehreren Forschungsaufenthalten in Berlin, Österreich und Südosteuropa zur literarischen Rezeption der jüngsten Jugoslawienkriege habilitiert. Derzeit ist er Privatdozent für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Basel. 2015 wird er eine SNF-Förderprofessur für Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Luzern mit dem Projekt „Stimmung und Polyphonie: Musikalische Paradigmen in Literatur und Kultur“ antreten. Publikationen: Literatur topographiert. Der Balkan und die postjugoslawischen Kriege im Fadenkreuz des Erzählens (2014); Hölderlins Rhythmus. Ein Handbuch (2008); Traumata der Transition – jenseits von Nationalismus und Jugo-Nostalgie (Mithg., 2014); Erzählte Mobilität im östlichen Europa. (Post-) Imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination (Mithg., 2013). Jan Randák promovierte 2006 und ist momentan Assistenzprofessor am Institut für Zeitgeschichte an der Karlsuniversität in Prag. Seine Forschungsinteressen umfassen Geschichtspolitik und Gedächtniskultur, Neuere und Zeitgeschichte, tschechische Nationalbewegung, Historische Mythen der modernen tschechischen Gesellschaft. Publikationen: Kult mrtvy´ch. Smrt a um†r‚n† v revoluci 1848 [Totenkult. Tod und Sterben in der Revolution von 1848] (2007); ˇ eskoslovenska „Tenkr‚t na z‚padeˇ. Husit¦ ve sluzˇb‚ch obrany pofflnorov¦ho C [Es war einmal im Westen. Die Hussiten als Beschützer der Tschechoslowakei nach dem Februarumsturz]“. In: Historie-Ot‚zky-Probl¦my, (2012); „Betl¦msk‚ kaple, revolucˇn† tradice a vstup marx-leninsk¦ historiografie do prostoru [Die Bethlehemskapelle, die revolutionäre Tradition und der Einzug der marxistischleninistischen Geschichtsschreibung in die Raumgestaltung].“ In: Promeˇny diskurzu ˇcesk¦ marxistick¦ historiografie. Kapitoly z historiografie 20. stolet† [Diskurswandlungen in der tschechischen marxistischen Geschichtsschreibung] (2008).

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Andrea Rehling studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur in Bochum und promovierte 2009 in Tübingen. Zur Zeit ist sie Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte im Forschungsprojekt „Wissen der Welt – Erbe der Menschheit: Die Geschichte des UNESCO Weltkultur- und Naturerbes“. Ihre Forschungsinteressen sind: Geschichte Internationaler Organisationen im 20. Jahrhundert, Internationale bzw. Globalgeschichte, Erinnerungs- und Gedächtnisgeschichte, Umweltgeschichte. Publikationen: Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise. Von der Zentralarbeitsgemeinschaft zur Konzertierten Aktion (2011); „Universalismen und Partikularismen im Widerstreit. Zur Genese des UNESCO-Welterbes“, in: Zeithistorische Forschungen (2011); „Kulturen unter Artenschutz? Vom Schutz der Kulturschätze als gemeinsames Erbe der Menschheit zur Erhaltung kultureller Vielfalt“ und (mit Isabella Löhr): „Governing the Commons: Die global commons und das Erbe der Menschheit im 20. Jahrhundert“, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte (2014). Manuela Schwärzler promoviert – nach ihrem Studium der vergleichenden Literaturwissenschaft und Bohemistik in Wien mit zahlreichen Forschungsaufenthalten in Tschechien – in Konstanz zum Thema: „Mediale Konstruktionen von Brüderlichkeit und Einheit in der Tschechoslowakei“ ihr Forschungsinteresse konzentriert sich v. a. auf tschechische Literatur des 20. Jahrhunderts. Publikationen: „Die Slawische Idee als Argument. Tschechische Zeitschriftendiskurse während des Prager Frühlings“. In: Studies on Language and Culture in Central and Eastern Europe (2014). Tatjana Simeunovic´ ist Lektorin für Serbisch/Kroatisch an der Universität Basel und Filmkuratorin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Kroatische und Serbische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, interkulturelle Übersetzung, Mehrsprachigkeit und Fremdsprachendidaktik, Osteuropäische Filmgeschichte und Personenkult. Publikationen (Auswahl): Denn Ironie eröffnet Zauber. Osteuropastudien für Andreas Guski (Mithg., 2007); „Kako iz junakov nastanejo antijunaki: Delije, Mic´e Popovic´a“ [Wie aus Anti-Helden Helden werden: Delije, Mic´e Popovic´a], in: Partizanski Film [Partisanenfilm] (2010). Stefan Troebst studierte Geschichte, Slavistik, Balkanologie und Islamwissenschaften an der Freien Universität Berlin sowie an den Universitäten Tübingen, Sofia, Skopje und an der Indiana University in Bloomington. 1984 promovierte er und 1995 habilitierte er sich. Nach verschiedenen Tätigkeiten als Berater erhielt er 1996 ein Heisenberg-Stipendium der DFG und wurde zum Gründungsdirektor des dänisch-deutschen European Centre for Minority Issues (ECMI) in Flensburg ernannt. Seit 1999 ist er Professor für Kulturstudien Ost-

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mitteleuropas an der Universität Leipzig. Publikationen: Post-Panslavismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert (Mithg., 2014); West-östliche Europastudien. Rechtskultur, Kulturgeschichte, Geschichtspolitik (2014); Gebrochene Kontinuitäten. Transnationalität in den Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert (Mithg., 2014); Remembering Communism: Private and Public Recollections of Lived Experience in Southeast Europe (Mithg., 2014); Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa (2013). Christian Voß studierte Slawistik, Romanistik und Osteuropäische Geschichte in Köln, Sofia und Freiburg, wo er sich auch 1996 promovierte und 2004 dort die venia legendi für Slawische Philologie erhielt. Nach mehreren Mitarbeiterstellen in Erlangen und Professurvertretungen in Freiburg ist er seit 2006 Professor für Südslawische Sprach- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Forschungsinteresse richtet sich auf Soziolinguistik/Varietätenlinguistik, Kontaktlinguistik, Minderheiten in Ost- und Südosteuropa, Altkirchenslawische Philologie. Aktuelle Publikationen (Auswahl): Islam und Muslime in (Südost)Europa. Kontinuität und Wandel im Kontext von Transformation und EU-Erweiterung (Mithg., 2010); Co-Ethnic Migrations Compared. Central and Eastern European Contexts (2010); Doing Gender – Doing the Balkans. Dynamics and Persistence of Gender Relations in Yugoslavia and the Yugoslav Successsor States (2012); Babel Balkan? Politische und soziokulturelle Kontexte von Sprache in Südosteuropa (2014). Katrin Winkler studierte Spanische Studien und Osteuropastudien in Konstanz und Zagreb und promoviert seit 2010 in Konstanz. Ihre Forschungsinteressen richten sich auf Bosnische Literatur, Medien in Jugoslawien, den Islam in Südosteuropa und Sprach- und Religionskulturen. Publikation: „Conversation is a link between people – The Interaction of Language, Religion and Regionalism in Mesˇa Selimovic´’s Dervisˇ i smrt and Tvrd¯ava“. In: Slavia Tergestina. European Slavic Studies Journal (2013). Dmitri Zakharine promovierte 1995 an der Lomonosov-Universität in Moskau und habilitierte 2005 an der Universität Konstanz, wo er als Privatdozent tätig ist. Er besitzt die Lehrberechtigung für Kultursoziologie und Neuere Geschichte. Seine Hauptarbeitsgebiete sind Kultur- und Sozialanthropologie, nonverbale Kommunikation, Geschichte der direkten Kommunikation, Geschichte der Klanglandschaft und der frühe Tonfilm. Seine wichtigsten Buchpublikationen: Ost- und westeuropäische Hörkulturen zu Beginn der elektrischen Lautreproduktion (2014), Wie klaut man eine Milliarde. Wirtschaftsdokumentation (2012); Von Angesicht zu Angesicht. Der Wandel direkter Kom-

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munikation (2005); Evropeiskie naucˇnye metody v tradicii starinnych russkich grammatik [Europäische Wissenschaftsmethoden in der Tradition der frühen russischen Grammatiken] (2012). Tanja Zimmermann studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Ljubljana und Slawistik in München. 1997 promovierte sie in Kunstgeschichte in Ljubljana und 2004 in Slawistik in München. 2011 habilitierte sie sich in Konstanz und erhielt die Lehrbefugnis für Slawistik und Kunstgeschichte. Seit 2009 ist sie Juniorprofessorin für Slawische Literaturen und allgemeine Literaturwissenschaften in Konstanz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Medienpolitik und Erinnerungskulturen, kultureller Ost-West-Transfer, Intermedialität von Bild und Schrift. Publikationen (Auswahl): Abstraktion und Realismus im Literaturund Kunstdiskurs der russischen Avantgarde (2007); Balkan Memories. Media Constructions of National and Transnational History (Hg., 2012); Der Balkan zwischen Ost und West. Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen (2014). Andrea Zink ist Professorin für Slawische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie, Literatur und Philosophie, Literatur und Geschichte, u. a. die „nationale Frage“ in der russischen Literatur, die Kriege der 1990er Jahre in der bosnischkroatisch-serbischen Literatur, Raumkonzeptionen in den slawischen Literaturen und Gender Studies. Publikationen: Wie aus Bauern Russen wurden. Die Konstruktion des Volkes in der Literatur des Russischen Realismus 1860 – 1880 (2009); Culture Crossing Boundaries. Russia in European Context. (Mithg., 2010); Erzählte Mobilität im östlichen Europa. (Post-)Imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination. (Mithg., 2014).