Sicherheits- und Bedrohungsperzeptionen in Ost- und Mitteleuropa


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Sicherheits- und Bedrohungsperzeptionen in Ost- und Mitteleuropa

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Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschafÜiche und internationale Studien Sicherheits- und Bedrohungsperzeptionen in Ost- und Mitteleuropa Gerhard Wettig (Hg.)

43-1993

Die Meinungen, die in den vom BUNDESINSTITUT FÜR OSTWISSENSCHAFTLICHE UND INTERNATIONALE STUDIEN herausgegebenen Veröffentlichungen geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der Autoren wieder. © 1993 by Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln Abdruck und sonstige publizistische Nutzung - auch auszugsweise nur mit vorheriger Zustimmung des Bundesinstituts sowie mit Angabe des Verfassers und der Quelle gestattet. Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Lindenbornstraße 22, D-50823 Köln , Telefon 02 21/5747-0, Telefax 02 21/5747-110

Inhalt

Seite Kurzfassung

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Heinz Timmeimann: Russische Föderation

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Frank Umbach: Belarus (Weißrußland)

12

Olga Alexandrova: Ukraine

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Dieter Bingen: Polen

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Vladimir Kusin: Tschechische Republik

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Vladimir Kusin: Slowakei

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Istvan Szönyi: Ungarn

39

Gerhard Wettig: Gesamtkonstellation

43

Summary

49

August 1993

Gerhard Wettig (Hg.) Sicherheits- und Bedrohungsperzeptionen in Ost- und Mitteleuropa Bericht des BlOst Nr. 43/1993

Kurzfassung Der vorliegende Bericht befaßt sich mit den Perzeptionen - also den Wahrnehmungen und Vorstellungen - über die auswärtige Sicherheit des jeweiligen Landes, welche die an der politischen Meinungsund/oder Entscheidungsbildung beteiligten Gruppen in der Russischen Föderation, in Belarus, in der Ukraine, in Polen, in der Tschechischen Republik, in der Slowakei und in Ungarn hegen. Dabei wird Sicherheit nicht ausschließlich in militärischem Sinne verstanden; auch andere, oft schwer faßbare Momente der Existenzbedrohung werden berücksichtigt, soweit sie in dem Bewußtsein der Beteiligten eine wesentliche Rolle spielen. Die Ergebnisse der im vorliegenden Bericht zusammengefaßten Einzelstudien (die aus Gründen der Umfangbegrenzung nur die allerwichtigsten Gesichtspunkte zur Darstellung bringen können) lauten wie folgt: 1. Ungeachtet des Umstandes, daß nach dem Ende des Kalten Krieges viele bisher vernachlässigte nicht-militärische Probleme zutage getreten sind, haben in Ost- und Mitteleuropa auch gegenwärtig die Sorgen um Wahrung der auswärtigen Sicherheit im traditionellen Sinne einen sehr hohen Stellenwert. Zusammen mit den Sorgen um wirtschaftliche Entwicklung und soziale Stabilisierung bestimmen sie primär das Sicherheitsdenken; andere Gesichtspunkte treten in der Regel dahinter zurück. 2. In der Russischen Föderation wird die Sicht der auswärtigen Beziehungen durch das Bewußtsein bestimmt, daß mit der UdSSR zugleich das Imperium zerbrochen ist. Die Zahl derer, die in dem eingetretenen Wandel vor allem eine Demokratisierungs-, Entwicklungs- und Modernisierungschance sehen, hat sich stark verringert. Unter Altkadern wie Reformern nimmt die Tendenz zu, in der Beschränkung des Staates auf die frühere russische (Teil-)Republik eine unerträgliche Niederlage zu sehen und eine Restitution des früheren Imperiums auf die eine oder andere Weise zu fordern. Von dieser Seite wird Jelzin mit seiner Führungsmannschaft heftiger Kritik und starkem Druck ausgesetzt, was seine Wirkung auf die amtliche Außenpolitik nicht verfehlt. Zugleich hat sich eine imperial-revisionistische Fundamentalopposition herausgebildet, deren Ziel der Sturz der "Verräter" an der Spitze des Landes ist. Alle imperial-revisionistisch gesinnten Personen und Gruppen richten ihre Aufinerksamkeit vornehmlich auf das "nahe Ausland", d.h. auf die auf einst sowjetischem Boden entstandenen Staaten, die sie als Zone exklusiv russischen Interesses betrachten und deren unabhängige Existenz gleichbedeutend mit einer Bedrohung der russischen Seite erscheint. 3. Auch in Belarus stehen sich zwei Richtungen mit gegensätzlichen Orientierungs- und Wahrnehmungsmustem gegenüber. Die demokratisch-nationalen Kräfte und der sich als Zentrist verstehende Präsident Schuschkjewitsch wollen die Unabhängigkeit des Landes gewährleistet sehen und daher einen engen Zusammenschluß mit der Russischen Föderation, vor allem in militärischer Hinsicht, vermeiden. Die Aussicht, daß in Moskau an die Stelle der Jelzin-Führung imperial-revisionistische Machthaber treten könnten, ist bei diesen Gruppen Anlaß zu schwerer Sorge. Demgegenüber erscheint den Wiedererstarkenden Kadern des früheren kommunistischen Regimes eine möglichst enge Verbindung mit Rußland bis hin zur schließlichen Vereinigung als dringend erwünschte Garantie für die innenpolitisch beanspruchte Position im Lande. Das auf dieser Basis hergestellte Einvernehmen

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mit der Fundamentalopposition in Moskau ist sowohl für die innenpolitischen Gegner in Minsk als auch für den russischen Präsidenten Jelzin Grund zur Sorge. 4. Innerhalb der GUS ist die Ukraine als der hauptsächliche Widerpart aller russischen Bestrebungen hervorgetreten, diese Institution zu einer dauerhaften Klammer zu machen, welche die Mitgliedsstaaten aneinander und an Moskau binden würde. Aber nicht allein diese Ambitionen erscheinen aus der Perspektive Kiews als Bedrohung der nationalen Existenz. Auf ukrainischer Seite wird mit noch größerer Sorge notiert, daß die Russische Föderation bisher eine unzweideutige Anerkennung der Grenzen zur Ukraine hat vermissen lassen, daß der (von den Gegnern Jelzins beherrschte) russische Oberste Sowjet sogar offene Ansprüche auf die Krim erhebt, daß die von Moskau erzwungene Übertragung der gesamten Schwarzmeerflotte die ukrainische Unabhängigkeit negativ berührt, daß die amtlicher Kontrolle weithin entglittene 14. russische Armee im Rücken der Ukraine ein russisches Staatswesen auf moldovischem Boden protegiert usw. Die Kiewer Befürchtungen kulminieren darin, daß in Moskau die Anti-Jelzin-Fundamentalopposition die Macht übernehmen könnte und daß man dann von dieser Seite nicht allein mit den derzeit ausgeübten wirtschaftlichen und sonstigen Pressionen, sondern auch mit massivem und direktem Gebrauch bewaffneter Gewalt zu rechnen hätte, so daß die bisher noch grundsätzlich bestehende Basis für die Hoffnung auf ein Einvernehmen endgültig zerstört wäre. Zugleich regen sich in Kiew - vor allem innerhalb des alten Establishments - immer deutlicher Kräfte, die in einer Verbindung mit Rußland die bestmögliche Gewähr für die ukrainische Zukunft sehen. Würde sich ein derartiger Kurs durchsetzen, wären ernst innerukrainische Konflikte, vor allem mit der Westukraine, zu erwarten. 5. Für die Bedrohungswahrnehmungen im Binnenverhältnis zwischen den drei Nachfolgestaaten der früheren UdSSR sind zwei Faktoren von herausragender Bedeutung: die wirtschaftliche Abhängigkeit, vor allem bezüglich der Ölversorgung, der beiden kleineren Länder von der russischen Föderation und das Vorhandensein von ehemals sowjetischen Kernwaffen und deren Trägersystemen auf dem Territorium aller drei ostslawischen Staaten. In Belarus sehen auch die auf Unabhängigkeit bedachten demokratisch-nationalen Kräfte keine Alternative zu einer auf Anpassung gerichteten Politik, die der russischen Vorstellung eines Abzugs der Kernwaffen sowie einer wirtschaftlichen Union Rechnung trägt. In der Ukraine ist eine gegenläufige Tendenzentwicklung zu beobachten: Während sich die Vorbehalte gegenüber der anfänglich proklamierten Politik des nuklearmilitärischen Verzichts verbreiten, weil man in der Verfügung über Kernwaffen zunehmend ein politisches Gegengewicht gegen die befürchteten russischen Wiedereingliederungsversuche zu sehen beginnt, ist man in Kiew angesichts der sich katastrophal auswirkenden Pressionen zunehmend zu wirtschaftlichen Zugeständnissen bereit. Zugleich fragt sich die ukrainische Führung, welche internationalen Möglichkeiten sie besitzt, um die russische Bedrohung abzuwehren. Sie würde gern eine Ostsee-Schwarzmeer-Gruppierung und einen möglichst engen Zusammenschluß mit EG und NATO erreichen und hegt zugleich die Sorge, daß die westlichen Staaten den osteuropäischen Raum Rußland als Ordnungs- bzw. Herrschaftsmacht überlassen könnten. Diese Ängste sind durch das westliche Verhalten angesichts des serbischen Vorgehens im früheren Jugoslawien außerordentlich verstärkt worden. 6. In Polen besteht weiterhin Konsens darüber, daß das Land durch die Auflösung des Warschauer Pakts erstmals die Basis für eine wirkliche Unabhängigkeit und damit auch für eine Sicherheit nach außen gewonnen hat. Die anschließende Auflösung der UdSSR hat Polen zudem aus der einengenden und zudem potentiell bedrohlichen Zwischenlage zwischen den beiden Großmächten Rußland und Deutschland befreit. An der Aufrechterhaltung dieses Status quo hat die polnische Politik ein vitales Interesse. Das hat zur Folge, daß man in Warschau, aller verschiedentlich bestehenden Differenzen und Schwierigkeiten ungeachtet, ein möglichst gutes Verhältnis zu den Staaten auf dem Boden der früheren Sowjetunion herzustellen sucht und in allen Bestrebungen Moskauer Kräfte zur Restitution des einstigen Imperiums eine zumindest indirekte Bedrohung der polnischen Sicherheit sieht. Damit

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verbindet sich die Sorge, daß für die imperial-revisionistischen Kräfte in Rußland auch die Wiederherstellung einer mitteleuropäischen Einflußzone zu den längerfristig verfolgten Zielen gehören könnte. Polen strebt unzweideutig zum Westen und sieht in einer möglichst engen Verbindung zur NATO, die rasch in eine polnische Mitgliedschaft ausmünden sollte, eine unerläßliche Gewähr für ihre Sicherheit. Zugleich wird eine Einbeziehung des Landes in die EG für notwendig gehalten. 7. Auch die Tschechische Republik und - angesichts des bisher noch nicht voll entwickelten außenpolitischen Klärungsprozesse läßt sich das vorerst nur tentativ feststellen - weithin auch die Slowakei sehen sich in einer "Zone verminderter Sicherheit", solange sie weder der NATO angehören dürfen noch von dieser Sicherheitsgarantien erhalten. Deutlich ist auch, daß beide Länder, insbesondere aber die Tschechische Republik, die Mitgliedschaft in der EG als Gewähr für die Partizipation am westeuropäischen Handel und an der westeuropäischen Entwicklung und als Möglichkeit der innen- wie außenpolitischen Konsolidierung anstreben. 8. Auch in Ungarn ist das Gefühl stark, in eine "Zone verminderter Sicherheit" gestoßen worden zu sein, solange die hier - ähnlich wie in Polen - besonders nachdrücklich angestrebte Bindung an die NATO verwehrt wird. In Budapest herrscht darüber hinaus weithin das Bewußtsein, sich innerhalb des mitteleuropäischen Raumes in einer ganz besonders exponierten Lage zu befinden: Die gefährdete Lage der großen ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern, vor allem in der Slowakei und Rumänien, die das ganze Umfeld zumindest indirekt bedrohenden serbischen Aggressionskriege im früheren Jugoslawien, die zunehmend sich andeutende Destabilisierung der Lage auf dem Balkan insgesamt, die Uneinigkeit und Untätigkeit der westlichen Staaten angesichts der Herausforderungen südlich der ungarischen Grenzen und die Gefahren, denen Kroatien, die Ukraine und das Einvernehmen zwischen dem Westen und der Türkei ausgesetzt sind, bereiten der ungarischen Regierung ungewöhnlich große Sorgen. 9. Wenn man den Blick auf Ost- und Mitteleuropa insgesamt richtet dann wird deutlich, daß die zwischenstaatlichen Beziehungen - außer druch zahlreiche Konflikte und damit zugleich Unsicherheiten von lokalen und regionalem Charakter - vor allem durch die Probleme belastet sind, die sich aus dem Zusammenbruch der beiden Vielvölkerreiche Sowjetunion und Jugoslawien ergeben. Die schwersten Bedrohungen, die in den ost- und mitteleuropäischen Hauptstädten gesehen werden, hängen mit den mehr oder weniger stark vorangetriebenen Bestrebungen von Führungsgruppen in den ehemaligen Reichsvölkem zusammen, entweder die verlorengegangene Reichseinheit samt der eigenen Reichsdominanz wiederherzustellen (wie es die Milosevic-Führung zunächst versuchte und wie es sich die Moskauer Fundamentalopposition vorstellt) oder ersatzweise die eigene Ethnie und das eigene Territorium gewaltsam und auf Kosten der ehemaligen Reichsvölker auszudehnen, um auf diese eine reichsähnliche zentrale Machtstellung zu gewinnen (wie es inzwischen Belgrader Politik ist). Vor allem in Kiew, Warschau und Budapest wird befürchtet, daß das serbische Vorgehen nur der Auftakt zu weiteren Aktionen und Entwicklungen dieser Art auf dem Balkan und zu Explosionen von noch weit größerem Ausmaß in der früheren UdSSR ist, welche die Sicherheit in ganz Ost- und Mitteleuropa und vermutlich noch darüber hinaus illusorisch machen würden.

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Russische Föderation Aus einer Vielzahl von Gründen ist es gegenwärtig außerordentlich schwierig, die Perzeptionen der auswärtigen Sicherheit zu umreißen, die sich bei den politischen Eliten Rußlands herausbilden. Auch sind die Träger der jeweiligen Perzeptionen nicht eindeutig zu bestimmen - weder im Hinblick auf ihre konkreten Positionen noch auf ihren Rückhalt in Bevölkerung, Institutionen und Apparaten. Die zentrale Ursache für diese Unübersichtlichkeit liegt in folgendem Umstand: Anders als in den meisten Staaten des Westens, in denen bei allen spezifischen Akzentsetzungen unter den verschiedenen politischen Strömungen weitgehende Übereinstimmung in den Perzeptionen der auswärtigen Sicherheit und über die daraus abzuleitende außen- und sicherheitspolitische Ausrichtung des Landes besteht, gibt es einen solchen Grundkonsens in Rußland heute nicht. Als wichtigste Denkschulen, Akteure und Einflußgruppen sind hier - bei mancherlei inhaltlichen und personellen Überschneidungen - insbesondere drei Richtungen zu nennen: die gegenwärtig dominierende "europäisch-atlantische" Richtung, die "eurasische" Richtung und die "großrussisch-imperiale" Richtung (mit ihren "national-patriotischen" und "national-bolschewistischen" Komponenten). Ihre jeweiligen Sicherheitsperzeptionen ergeben sich aus teilweise radikal unterschiedlichen Vorstellungen zur zukünftigen Rolle Rußlands in der Welt und deren innerer Abstützung. Die dem Konflikt zugrunde liegenden Kernfragen lassen sich auf drei Faktoren zurückführen (wobei die Vertreter der europäisch-atlantischen Richtung der zuerst genannten, die Repräsentanten der großrussisch-imperialen und der harten eurasischen Richtung der zweiten Lösung zuneigen): Soll Rußland seine Energie auf die innere Entwicklung konzentrieren und seine Größe darin suchen, mit Unterstützung des Westens das Land in Ökonomie, Ökologie, Infrastrukturen und sozialen Diensten auf ein höheres Niveau zu heben? Oder soll der Akzent wie zu Zaren- und Sowjetzeiten eher auf äußere Machtentfaltung gelegt werden, wobei der Großmachtstatus gleichsam identitätsstiftend wirkt und die täglichen Sorgen der Menschen in den Hintergrund drängt? Ferner: Soll Rußland die Unabhängigkeit der GUS-Staaten auf Dauer akzeptieren und eine zivilisierte Regelung seines Verhältnisses zu ihnen anstreben? Oder soll es versuchen, diese Länder über die Etappen von Wirtschaftsunion, kollektivem Sicherheitssystem und konföderativen Strukturen schrittweise und mehr oder weniger gewaltsam wieder mit Rußland zu vereinen? Und schließlich: Soll sich Rußland, ähnlich wie die Türkei nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches, mit seiner neuen Rolle zufrieden geben, soll es sich als normale Nation verstehen? Oder hat es eine spezifische "Mission" der Wiederherstellung von Imperium und Supermachtstatus zu erfüllen? Es liegt auf der Hand: Die Divergenzen über die innere Ausgestaltung Rußlands und über seine zukünftige Rolle in der Welt determiniert auch die Perzeption der äußeren Sicherheit der ver-

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schiedenen Denkschulen und Einflußgruppen. Strömungen, die sich Rußland nur als Imperium mit Supermachtstatus vorstellen können, unterscheiden sich in ihren Wahrnehmungen radikal von solchen Gruppierungen, die das Land als normale Großmacht in die "zivilisierte Staatengemeinschaft" einbringen wollen. Im Vergleich zu den Perzeptionen der auswärtigen Sicherheit, wie sie vor Wirksamwerden des "neuen Denkens" in Moskau herrschten, hat die von Jelzin bestimmte Richtung einen einschneidenden Wandel vollzogen. Es sind nicht länger die USA und das von ihnen angeführte westliche Bündnis, die als Bedrohung für die äußere Sicherheit des Landes und für die Aufrechterhaltung seines Großmachtstatus wahrgenommen werden. Im Gegenteil: Bei allen Relativierungen, die seit der Anfang 1992 eingeleiteten Phase enger Anbindung an den Westen vorgenommen wurden, sieht die Jelzin-Führung den Westen als Partner und sogar als strategischen "Verbündeten" bei der inneren Modernisierung sowie bei der Gewährleistung der internationalen Stabilität. Aus dieser Einschätzung heraus hat sie im August 1993 schließlich sogar ihre Bedenken gegen eine von den Ostmitteleuropäern anvisierte Mitgliedschaft in der NATO aufgegeben. Aus der Sicht Jelzins und seiner Anhänger sind es heute völlig neue Quellen, von denen die Bedrohungen für Sicherheit und Stabilität Rußlands ausgehen. Im Vordergrund stehen dabei für sie vier Problemkomplexe: die multidimensionale innere Krise, dramatisch wachsende Instabilitäten im GUS-Bereich, gravierende Mängel in den Außenwirtschaftsbeziehungen sowie Befürchtungen, durch die Bildung eines "Cordon sanitaire" an den Westgrenzen des Landes ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg von Europa abgeschnitten zu werden. Bei dem Herangehen an diese Probleme ist einerseits zwar die Tendenz zu beobachten, daß der weite Sicherheitsbegriff aufgrund aktueller Bedrohungswahrnehmungen von einem engeren, auf das Militärische reduzierten Sicherheitsverständnis in den Hintergrund rückt. Dies geschieht insbesondere unter dem Eindruck der vielfach auf Rußland zurückwirkenden, bis hin zu bewaffneten Konflikten eskalierenden Turbulenzen in einer Reihe von Staaten der GUS. Andererseits jedoch geht die Jelzin-Führung grundsätzlich durchaus von einem erweiterten Sicherheitsverständnis aus, wie die Hinweise auf die als bedrohlich wahrgenommene Krise im Innern und in den Außenwirtschaftsbeziehungen unterstreichen. Dabei finden freilich die gravierenden ökologischen Probleme - rund 18% des früheren sowjetischen Territoriums sind radioaktiv verseucht - wenig Aufmerksamkeit. Das Programm Jelzins zur Überwindung der als Bedrohung für die Sicherheit des Landes wahrgenommenen Gefahren findet seinen prägnantesten Ausdruck in dem Streben nach "samostojatel'nost"' (Unabhängigkeit, Selbständigkeit). Dieses Stichwort findet seit Herbst 1992 immer häufiger Einigung

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in richtungweisende Dokumente der Jelzin-Führung. Das Streben nach "samostojatel'nost"' stellt der Regierung die zentrale Aufgabe, Rußland im Innern über die Bildung einer starken, föderal gegliederten und demokratisch fundierten Staatsmacht zu konsolidieren sowie das Wirtschaftspotential des Landes zu erhalten und zu modernisieren. Denn dies bildet in der Perzeption der gegenwärtigen Führung die wichtigste Voraussetzung dafür, daß Rußland auch in Zukunft als Großmacht mit eigenständigem Profil auftreten kann und in der Lage ist, die genuinen Eigeninteressen des Landes wahrzunehmen. Ihren konzentriertesten Ausdruck findet das Streben nach Selbstbehauptung in dem Dokument "Grundlagen der außenpolitischen Konzeption der Russischen Föderation", das der Sicherheitsrat Rußlands im April 1993 unter Mitwirkung der wichtigsten betroffenen Ministerien, Dienste und Parlamentskommissionen erarbeitete(vgl. die Zusammenfassung in: Nezavisimaja gazeta, 29.4. 1993). In der Perzeption der Jelzin-Führung sind innere und äußere Sicherheit für Rußland eng miteinander verknüpft. Darauf verweist nicht zuletzt der Umstand, daß der inneren Stabilität gerade auch in den Dokumenten zur Außen- und Sicherheitspolitik Rußlands ein hoher Rang beigemessen wird. Nur wenn es gelingt, handlungsfähige staatliche Institutionen aufzubauen, eine funktionierende Machtbalance zwischen der Moskauer Zentrale und den Subjekten der Föderation herzustellen sowie die Wirtschaftsreformen erfolgreich weiterzutreiben, kann Rußland auf gesicherten Grundlagen seinen Einfluß als Großmacht gegenüber dem "nahen" und dem "fernen" Ausland zur Geltung bringen. Andernfalls ist das Land in seiner Einheit und territorialen Integrität bedroht und damit der Gefahr ausgesetzt, zum Objekt destruktiver Einflüsse von außen zu werden. Der Jelzin-Führung ist bewußt: Der internationale Einfluß Rußlands wird gering sein, solange das Land vorrangig mit seinen inneren Problemen beschäftigt ist und seine Wirtschaftsschwäche nicht überwunden hat. In ihrer Perzeption sind es in erster Linie ökonomische - und nicht wie bisher militärische - Faktoren, die über den Platz der Staaten im internationalen Beziehungsfeld entscheiden. Schließlich bildet die wirtschaftliche Stabilisierung des Landes und hier insbesondere die Erhaltung seines wissenschaftlich-technischen Potentials nach Ansicht der Jelzin-Führung eine wichtige Voraussetzung für die anvisierte Umstrukturierung der Streitkräfte, die nach den Prinzipien hoher Mobilität umgebaut und modern ausgerüstet werden sollen, so daß sie sich am Ende gliedern in: Kräfte ständiger Bereitschaft, luftmobile Verstärkungstruppen sowie strategische Reserven. Derlei Umstrukturierungen kosten viel Geld und sind nur dann erfolgreich zu bewältigen, wenn Wirtschaftskraft, Forschungspotential und Kernbereiche des Militär-Industrie-Komplexes erhalten bleiben. Andernfalls ist nach Auffassung der Jelzin-Führung der Anspruch Rußlands auf eine dominierende Rolle im

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GUS-Bereich und sogar sein vorrangiges Ziel gefährdet, die Sicherheit und territoriale Integrität des Landes zu gewährleisten. Nach anfänglichem Zögern erhob die Jelzin-Führung das Verhältnis zu den GUS-Staaten in den Rang einer absoluten Priorität der russischen Außenbeziehungen, nachdem der Schwerpunkt zunächst auf eine Neuregelung der Beziehungen zu den wichtigsten Staaten des Westens gelegen hatte. Der Prioritätenwechsel hatte unter anderem objektive Gründe. Die mit der Auflösung der UdSSR verbundenen Prozesse von Nationsbildung und Unabhängigkeitsstreben in den GUS-Staaten wirkten negativ auf Rußland zurück und wurden dort zunehmend als Bedrohung der inneren und äußeren Sicherheit empfunden. Die erwähnten "Grundlagen" nennen dazu in erster Linie folgende Punkte: "Die ungelösten Fragen bei Verwaltung und Kontrolle über die strategischen Kräfte der früheren UdSSR, die Zerstörung der Einheit des Verteidigungssystems sowie die Tatsache, daß der Status der Anwesenheit russischer Truppen auf dem Territorium von Staaten des nahen Auslands nicht bestimmt wurde." Andere Gefahren bilden insbesondere das Zerreißen der engen Wirtschaftsverflechtungen, wodurch das zentrale Ziel der ökonomischen Stabilisierung zusätzlich erschwert und besonders der Militär-Industrie-Komplex hart getroffen wird; die mehr oder weniger starke Diskriminierung ethnisch russischer Bevölkerungsteile, die Migrationsströme auslöst und damit Rußland im Innern weiter destabilisiert (im Juni 1993 wurde die Zahl von 2 Mio. Flüchtlingen genannt); die nationalen oder tribalen Konflikte ("Libanonisierung") in oder zwischen einzelnen GUS-Staaten, die die südlichen Landesteile Rußlands destabilisieren und die territoriale Integrität Rußlands bedrohen (Wolgaregion, nördlicher Kaukasus, Südsibirien); die Aktivitäten krimineller Organisationen, die bei offenen Grenzen nach Rußland hineinwirken und die Verbrechensbekämpfung zusätzlich erschweren (Waffenschiebereien, Drogenhandel, internationaler Terrorismus usw.). Diese objektiven Gefahren für die Sicherheit Rußlands werden freilich zunehmend von subjektiv geprägten Wahrnehmungen überlagert. Sie drücken sich in der folgenden Ansicht aus: Rußland als der eigentliche Nachfolgestaat der Sowjetunion kann eine natürliche Dominanz in der GUS beanspruchen. Es muß daher jegliche Bestrebungen ihrer Mitgliedsländer, von Moskau tatsächlich unabhängig zu werden und eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben, als Bedrohung für die russische Sicherheit, für die historische Rolle und die Würde Rußlands interpretieren. Das Zögern der Ukraine beispielsweise, das START-I-Abkommen zu unterzeichnen und dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten, ist aus Moskauer Sicht nicht zuletzt deshalb außerordentlich gefahrlich, weil es die herausragende Rolle Rußlands als einziger Nuklearmacht in der Gemeinschaft unterminiert.

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Vor diesem Hintergrund ist in den "Grundlagen" die Rede von einer besonderen "Verantwortung Rußlands zur Stärkung von Stabilität und Sicherheit auf dem Territorium der früheren UdSSR". Dies wiederum erforderte "die Entwicklung der Zusammenarbeit auf militär-politischem Gebiet mit dem Ziel, ein kollektives Sicherheitssystem zu schaffen, den Status Rußlands als der einzigen Nuklearmacht in der GUS zu garantieren sowie jene Militär-Infrastrukturen und -Objekte zu erhalten, die die Einheitlichkeit des militärischen Sicherheitssystems ihrer Mitglieder gewährleisten". Viele dieser Vorstellungen sind in das hauptsächlich von Rußland entworfene, im Januar 1993 von der Mehrheit der GUS-Staaten verabschiedete Statut der Gemeinschaft eingegangen. Verständlicherweise rufen solche Ansprüche in verschiedenen GUS-Staaten Befürchtungen vor einem Aufleben großrussisch-imperialer Ambitionen hervor, zumal Rußland seine Armee schon heute unverhohlen für die Durchsetzung eigener Interessen einsetzt (Moldau-Republik. Georgien, Aserbaidschan) und darüber hinaus gezielt wirtschaftlichen Druck ausübt, um bestimmte Nachfolgestaaten gefügig zu machen (Ukraine, Belarus, Estland). Eine große Gefahr für die äußere Sicherheit des Landes würde nach Auffassung der Jelzin-Führung dann entstehen, wenn die Länder Ostmitteleuropas enger zusammenrückten und gemeinsam mit der Ukraine, Belarus und den Baltenstaaten einen "Cordon sanitaire" bildeten, der Rußland von den Prozessen europäischer Zusammenarbeit abkoppeln und gleichsam nach Asien zurückdrängen würde. Denn dies würde Rußland nicht nur von den Quellen materieller und Know-how-Unterstützung für den wirtschaftlichen und politischen Umbauprozeß abschneiden. Vielmehr würde damit in den Augen der Jelzin-Führung potentiell auch die Sicherheit Rußlands bedroht - zumal dann, wenn die Verantwortlichen der osteuropäischen Länder ihre inneren Probleme durch Appelle an leicht mobilisierbare antirussische Sentiments zu überspielen suchten. Daher betrachtet die Jelzin-Führung die verschiedenen Ansätze multilateraler Kooperation in dieser Region, von der Rußland ausgeschlossen bleibt, eher mißtrauisch: den 1991 gebildeten Viererbund der Visegrad-Gruppe Polen, Ungarn, Tschechische und Slowakische Republik; das Konzept zur Formierung einer Kooperationszone, die sich vom Baltikum über Belarus bis hin zum Schwarzen Meer erstreckt; schließlich den Vorschlag der Ukraine vom Frühjahr 1993, die zwischen Rußland und Atlantischer Allianz gelegenen Länder in einer Art "Ost-NATO" sicherheitspolitisch zusammenzufassen. Die erwähnte Bereitschaft der JelzinFührung, eine mögliche Mitgliedschaft der Ostmitteleuropäer in der NATO zu akzeptieren, entspringt offensichtlich auch dem Kalkül, damit allen derartigen Bestrebungen den Boden zu entziehen. Den Gefahren einer Ausgrenzung Rußlands sowie einer als Bedrohung für die äußere Sicherheit des Landes perzipierten Herausbildung von Regional-Allianzen in Osteuropa mit antirussischer Stoßrichtung sucht die Jelzin-Führung u.a. durch das Bemühen zu begegnen, Rußland aktiv in die gesamt-

IC europäischen Kommunikations- und Integrationsprozesse einzuschalten - im Hinblick auf die KSZE und den Europarat ebenso wie gegenüber Westeuropa, den Staaten Ostmitteleuropas und regionalen Organisationen wie dem Rat der Ostsee-Anrainerstaaten. Gerade das Engagement im Rahmen der KSZE hat für sie einen hohen Rang: Es unterstreicht das Anrecht Moskaus auf Mitsprache bei der Neugestaltung der europäischen Architektur. Die KSZE bietet eine wichtige Plattform, um spezifische Interessen des Landes im Verhältnis zu seinen westlichen Nachbarn multilateral zu artikulieren und möglicherweise von dieser Seite her eine zusätzliche Legitimation zu erhalten, wenn sich Rußland zur Durchsetzung solcher Interessen entschließt, die für Sicherheit und Stabilität des Landes als vital empfunden werden (Stichworte: Durchsetzung der Bürgerrechte für ethnisch russische Volksgruppen und Minderheiten in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion; KSZE-gedeckte friedensschaffende Maßnahmen im GUS-Bereich unter tatsächlicher russischer Führung). In den Perzeptionen der äußeren Sicherheit tritt zunehmend die Sorge in den Vordergrund, Rußland könne durch die Öffnung seiner Wirtschaft nach außen Schaden nehmen und zum Rohstoffanhängsel der westlichen Welt absinken. Als gefährliche Folgen der - grundsätzlich als notwendig eingeschätzten - Öffnung nennt das Dokument des Sicherheitsrats eine "Schwächung der ökonomischen Selbständigkeit (samostojatel'nost') Rußlands, eine Abwertung seines technologischen und industriellen Potentials, eine Verfestigung der Brennstoff- und Energiespezialisierung des Landes in der Weltwirtschaft". Auf der einen Seite wird durchaus anerkannt: Die Ursachen hierfür liegen in der tiefen Wirtschaftskrise Rußlands und in der mangelnden Fähigkeit des Staates, die wirtschaftlichen Interessen des Landes wirksam zu schützen. Zugleich aber werden die Mängel vor Ort durch äußere Faktoren verstärkt, heißt es in den "Grundlagen". Als besonders schwerwiegend gelten dabei "Versuche, Rußland von einer Reihe auswärtiger Märkte zu verdrängen; Schutzmechanismen, um den Zugang Rußlands zu moderner Technologie zu begrenzen; fehlende Regelungen für die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den früheren Unionsrepubliken und unserem Land". Die Verdrängung von den Weltmärkten werde das Forschungspotential Rußlands zerstören, heißt es in der Publizistik; fragliche Sanktionen der USA aufgrund fester Handelsverpflichtungen Rußlands (wie im Falle der Lieferung von Raumfahrttechnologie an Indien) stelle die Reputation des Landes als verläßlichen Handelspartner in Frage. Vor dem Hintergrund solcher als Gefahr für die eigene Sicherheit wahrgenommenen Entwicklungen will sich die Jelzin-Führung in ihren Außenbeziehungen fortan verstärkt von ökonomischen Imperativen leiten lassen. Dabei soll der Staat - so heißt es in den "Grundlagen" - seine regulierende Funktion mit dem Ziel erweitem, die Exporte russischer Produkte zu fördern und die russischen Firmen vor "unsauberen Geschäftspraktiken ausländischer Firmen zu schützen". Schwerpunktmäßig bezieht sich

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die aktive Außenwirtschaftspolitik auf eine Intensivierung von Exporten in solchen Produktionsbereichen, in denen die russische Industrie weltweit konkurrenzfähig ist (oder in Moskau als solche wahrgenommen wird): Raumfahrtwesen, Atomindustrie, Maschinenbau sowie vor allem Rüstungsgüter. Besonders das Schrumpfen der Waffenexporte von 17,7 Mrd. Dollar (1987) auf 3,9 Mrd. Dollar (1991) wird dabei als schmerzhaft und zugleich als ungerecht empfunden, da man in Moskau der Überzeugung ist, daß westliche Rüstungskonzerne mit Unterstützung ihrer Regierungen das nach dem Zerfall der Sowjetunion hinterlassene Vakuum in diesem Bereich gern ausfüllen. Die politische Generallinie der "Euro-Atlantiker" um Präsident Jelzin ist, wie bereits eingangs geschildert, keineswegs unumstritten. Im Gegenteil: Die Vertreter der "großrussisch-imperialen" Richtung und die Vorkämpfer einer harten "eurasischen" Orientierung beantworten die eingangs genannten Kernfragen zur zukünftigen Identität Rußland völlig anders und wenden sich daher radikal gegen die Konzeptionen der Jelzin-Führung. Dabei muß in vielen Fällen offen bleiben, ob die vorgetragenen Konzeptionsdivergenzen tatsächlich auf unterschiedlichen Wahrnehmungen und Überzeugungen beruhen oder ob sie eher von taktischem Kalkül im innenpolitischen Machtkampf bestimmt sind. Fest steht nur, daß beide Oppositionsströmungen über beträchtlichen Anhang verfügen - die Nationalpatrioten vor allem unter den Militärs, die Eurasier insbesondere in Kreisen der Intelligenz. Das herausragende Kennzeichen beider Strömungen liegt - zugespitzt formuliert - in ihrem Bestreben, auf der Grundlage einer starken Staatsmacht (der'Zavnost') und einer starken, überwiegend staatlich gelenkten Wirtschaft die frühere Weltmachtstellung für Rußland zurückzuerobern. Dabei bildet die notfalls auch gewaltsame - Wiedereingliederung der GUS-Länder in eine gemeinsame Staatlichkeit unter russischer Dominanz eine unabdingbare Voraussetzung. Aus der Sicht dieser Strömungen läßt sich der Niedergang der Sowjetunion und ihr schließlicher Zerfall - wenn überhaupt - nur teilweise auf innere Ursachen zurückführen. Vielmehr sei es der Westen gewesen, der den Zerfall bewußt betrieben habe und ihn mit tatkräftiger Hilfe der Verräter Gorbatschow, Jakowlew und Schewardnadse schließlich auch erreicht habe. Nach diesem Erfolg sei der Westen nun mit allen Mitteln bestrebt heißt es -, über seine Agenten Jelzin, Kosyrew und Burbulis Rußland selbst zu zerstückeln und dessen Industriepotential unter dem Vorwand von Zusammenarbeit und Unterstützung entweder aufzukaufen oder zu zerschlagen. Aufgrund solcher Wahrnehmungen gehen die Gefahren der auswärtigen Sicherheit für Rußland vom Westen, von den Kemelementen westlicher Zivilisation aus, die für das Land als wesensfremd und verderblich perzipiert werden (Demokratie, Pluralismus, individuelle Rechte, Marktwirtschaft usw.). Allerdings gibt es zwischen beiden Oppositionsströmungen zumindest einen wichtigen Unterschied.

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Die Nationalpatrioten perzipieren den Westen insgesamt als prinzipiell feindlich, wobei in ihren Positionen Isolationismus (als Abwehr fremder Einflüsse) und Imperialismus (als Streben nach Wiedererlangung der Weltmachtrolle) eine merkwürdige Mischung eingehen. Die Vertreter der harten eurasischen Richtung dagegen sehen die Welt als einen Kampfplatz zweier politisch-kultureller Kräfte: der maritimen Atlantiker, repräsentiert durch die angelsächsischen Länder, und die kontinentalen Eurasier, vertreten durch Rußland im Bund mit der romanisch-germanischen und der asiatischen Staatenwelt. Ihr Kampf gilt daher vor allem der Verdrängung der USA aus diesen Regionen - in sicherheitspolitischer ebenso wie in kultureller Hinsicht. Gegenwärtig sind die Aussichten gering, daß die Vertreter der großrussisch-imperialen und/oder der harten eurasischen Richtung an die Macht gelangen. Eher scheint eine Entwicklung möglich, in deren Folge die Jelzin-Führung weitere Positionen zentristischer Strömungen übernimmt, was ein härteres Auftreten Rußlands insbesondere gegenüber dem "nahen Ausland" in Form der GUS-Staaten implizieren würde. Heinz Timmermann

Belarus (Weißrußland) Aufgrund der geopolitischen Lage und der starken Machtbasis der ehemaligen kommunistischen Funktionäre war Belarus einer der letzten Mitgliedsstaaten der GUS, der seine eigene nationale Armee auf den Ruinen der früheren Sowjetunion aufbaute. Belarus hat entsprechend seiner geographischen Lage die strategischen Interessen von Polen im Westen, Litauen im Nordwesten, des größeren Nachbarn Ukraine im Süden und des großen Bruders Rußland im Osten zu berücksichtigen. Folglich war die außenpolitische Orientierung von Belarus mit seinen 10,3 Mio. Einwohnern (davon 78% Angehörige der Titularnation, 13% Russen, 4% Polen und 3% Ukrainern) im ersten Jahr nach der Unabhängigkeits- und Souveränitätserklärung vom 26. August 1991 darauf ausgerichtet, diesen Faktoren Rechnung zu tragen. Unabhängigkeit und Souveränität sind für die frühere Sowjetrepublik eine vollkommen neue Erfahrung, die zudem Resultat eher des gescheiterten Moskauer Putschversuches vom Sommer 1991 als einer starken nationalen Unabhängigkeitsbewegung war. Innen- und außenpolitische Streitfragen sind seither eng miteinander verknüpft. Die weiterhin vorhandenen Abhängigkeiten von Rußland, vor allem im wirtschaftlichen Bereich, erschweren das Streben nach Unabhängigkeit, das mit dem russischen Bemühen um Wahrung eines einheitlichen wirtschaftlichen und militärischen

o Raumes in der früheren UdSSR kollidiert. Dabei stoßen oft Maximalpositionen aufeinander, die Kompromisse während des gegenwärtigen politischen und sozio-ökonomischen Transformationsprozesses erschweren. Die Orientierung von Belarus wirkt sich auch auf die Nachbarstaaten aus. Die baltischen Staaten und die Ukraine tendieren eindeutig nach Europa und zum Westen, während die Russische Föderation zunehmend auf ihr eurasisches Erbe zurückgreift, so daß Belarus mit seiner gegenwärtigen Ausrichtung auf Moskau eher gegen Europa optiert. Die anhaltende Spaltung des Landes in Reformbefürworter und -gegner geht auf das Ergebnis der Wahlen von 1990 zum Obersten Sowjet ("Rat") zurück. Seitdem bestehen Sowjet und Regierung mehrheitlich aus ehemaligen kommunistischen Funktionären. Belarus wurde zu dem am stärksten dem alten System verhafteten Land in der GUS, auch wenn sich während des August-Putsches von 1991 ein Demokratischer Block bildete und in der Kommunistischen Partei Schisma und Mitgliederschwund eingetreten waren. Auch das bis zum Februar 1993 offiziell geltende Verbot dieser Partei änderte nichts an den alten kommunistischen Strukturen und Seilschaften in Regierung, Parlament, Ministerien und Militärisch-industriellem Komplex. Die zunehmenden innenpolitischen und ökonomischen Probleme verschaffen den alten Seilschaften der Nomenklatura Auftrieb und lassen sie den Versuch machen, das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen. Das Staatsoberhaupt, der Vorsitzende des Obersten Sowjet, S. Schuschkewitsch, der niemals dazugehörte, besitzt zwar eine gewisse Popularität, ist aber seit 1992 im Obersten Sowjet isoliert. Er lehnt so wie die demokratisch-nationale Opposition, die Volksfront von Belarus, einen Beitritt des Landes zum GUS-Vertrag über kollektive Sicherheit ab, den die alten Kader betreiben. Das entscheidende Motiv der Vertragsgegner ist die Sorge, daß der Beitritt nicht nur die proklamierte Neutralität des Landes, sondern auch dessen gerade erst errungene Souveränität und Unabhängigkeit zunichte machen würde. In den sich verschärfenden Auseinandersetzungen laufen die innen- und außenpolitischen Grundhaltungen parallel. Während sich die demokratisch-nationale Opposition zu Demokratie, Marktwirtschaft und Europa bekennt, wollen die alten Funktionäre höchstens kosmetische Änderungen am bisherigen System zulassen und verfechten ein sehr enges Zusammengehen mit Moskau. Die Vorstellungen Schuschkewitschs und der Opposition weichen in gewissem Umfang voneinander ab, da der Sowjetvorsitzende weithin eine vermittelnde Position einzunehmen suchte. So sah Schuschkewitsch in bilateralen Abkommen mit Rußland eine bestmögliche Sicherheitsgarantie und wandte sich auch nicht gegen eine enge wirtschaftliche Union, wohingegen die Volksfront alle irgendwie engen Beziehungen mit Moskau so schnell wie möglich zu kappen sucht und ein Zusammenwirken mit der Ukraine, den baltischen Staaten und Westeuropa anstrebt.

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Der innenpolitische Widerstreit trat insbesondere auch bei Fragen des Aufbaus nationaler Streitkräfte hervor: Sollten sie unter eigenem - von Moskau unabhängigem - Kommando stehen? Belarus war bis zur Auflösung des Warschauer Paktes Bestandteil der zweiten strategischen Staffel des offensiven sowjetischen Dispositivs - mit der Folge der hohen Truppenstärke von 180.000 Mann im Lande. Aufgrund der Abziehung der ehemals sowjetischen Streitkräfte aus Mittel- und Osteuropa wuchs die Zahl auf 250.000 an. Mit einem Soldat auf 43 Einwohner ist die Militärdichte zwei- bis dreimal so hoch wie im GUS-Durchschnitt. Die ersten Verteidigungsgesetzentwürfe sahen Neutralität und Kernwaffenfreiheit des Landes vor. Die Militärdoktrin sollte defensiven Charakter haben. Auch wird bewußt auf ein Feindbild und Gebietsansprüche verzichtet. Der Oberste Sowjet verabschiedete im Herbst 1992 eine Militärdoktrin, in der von einer "bewaffneten Neutralität" zum Schutz der Souveränität und der territorialen Integrität die Rede war. In militärpolitischer Hinsicht wurden die Leitvorstellungen "Kriegsverhütung" und "Durchkreuzen einer Aggression" herausgestellt. Umfang und Ausrüstung sollten sich an "vernünftiger Hinlänglichkeit" orientieren. Im militärtechnischen Teil wurde eine Strategie der "Zügelung" und der "aktiven Verteidigung" festgelegt. Struktur und Wortwahl des Gesetzes lassen die Übernahme von Leitvorstellungen aus der Gorbatschow-Ära erkennen. Dies wiederum deutet daraufhin, daß sich im Verteidigungsministerium von Belarus Kräfte der Beharrung durchgesetzt haben. Vorerst unklar ist der Status der Strategischen Streitkräfte der GUS in Belarus. Lediglich bezüglich deren Nuklearwaffenkomponente besteht eine verbindliche Regelung. Die Jurisdiktion darüber war im Juli Rußland zugestanden worden. Im Februar 1993 ratifizierte der Minsker Oberste Sowjet den START-I-Vertrag, das Lissaboner Protokoll und den Vertrag über die nukleare Nichtverbreitung. Die Abziehung der 81 mobilen ICBMs vom Typ SS-25 vom Territorium des Lanmdes soll noch schneller als im STARTVertrag vorgesehen erfolgen. Die regulären Streitkräfte von Belarus sollen nach einer Übergangszeit von zwei Jahren (bis 1994/95) aus Heer, Luftwaffe, Luftverteidigungsstreitkräften und Reservetruppen in einem Gesamtumfang von nur noch 90.000 Mann (die später auf eine Stärke von 60.-70.000 reduziert werden sollen) bestehen. Die Pläne des Verteidigungsministerium sehen als Kern 22.000 hochqualifizierte Berufsoffiziere vor. Die Volksfront von Belarus plädiert allerdings für eine größere Armee von 100-110.000 Mann, da sie - so wie die demokratisch-nationale Bewegung in den GUS-Staaten in der Ukraine - in Rußland eine große Bedrohung sieht. Das KSE-Abkommen erlaubt Belarus 1.800 Kampfpanzer, 2.000 bewaffnete Kampffahrzeuge und 130 Kampfflugzeuge. Angesichts der damit verbundenen hohen finanziellen und ökonomischen Aufwendungen dürfte diese Rüstung jedoch unterschritten werden.

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Nach der verabschiedeten Militärdoktrin sollen nicht mehr als 10% des Staatshaushaltes für die Streitkräfte ausgegeben werden. 1993 beläuft sich der Verteidigungshaushalt zwar nur auf 6,3% des Gesamthaushalts. Doch soll dieser nur 45% des Bedarfs der Streitkräfte decken. Aber auch dieser Anteil bedeutet bereits eine schwere Hypothek für das im Übergangsstadium befindliche Land. 100110.000 Mann nach dem Vorschlag der Volksfront wären noch weit schwerer zu verkraften. Die politische Spaltung in Befürworter und Gegner von Reformen tritt auch in den Streitkräften und in deren Beziehungen zur Gesellschaft hervor. Ein zentraler Faktor dabei ist das 44.000 Mann starke alte Offizierskorps im früheren weißrussischen Militärbezirk, in dem die Angehörigen des russischen Volkstums mit 80% dominieren. Zugleich dienten 39.000 Offiziere belarusischer Nationalität außerhalb ihrer Heimat. Sie sollen heute im Falle eines Angriffs auf Belarus bereit sein, für die Unabhängigkeit ihres Landes zu kämpfen. Zwischen beiden Gruppen gibt es daher Spannungen. Schwierigkeiten entstehen auch aufgrund der Pläne, nach denen in den nächsten zwei bis drei Jahren 20.-22.000 Offiziere entlassen werden sollen. Für die Volksfront von Belarus und der ihr nahestehende Vereinigung der Militärangehörigen in Belarus sind die meisten weiterhin im Lande dienenden russischen Offiziere ein Sicherheitsrisiko für den Fall, daß es zu einer russischen Aggression käme. Der Konflikt zwischen Reformern und Nationalgesinnten in Belarus - repräsentiert in der Vereinigung der Militärangehörigen - auf der einen Seite und ihren Gegnern zuzüglich der Militärs russischen Volkstums - organisiert in der unabhängigkeits- und souveränitätsfeindlichen Union der Offiziere von Belarus - zeigte sich bei der Wahl des Verteidigungsministers. Nach dreimonatigem Ringen zu Beginn des Jahres 1992 hatten die Widersacher nationaler Streitkräfte die Verteidigungspolitik in Belarus übernommen. Das ist um so gravierender, als - ähnlich wie in Rußland und anderen GUS-Staaten - auch in Belarus bislang keine politisch-parlamentarische Kontrolle über das Verteidigungsministerium und das Offizierskorps etabliert worden ist, so daß das Militär faktisch ein Staat im Staate ist. Die prokommunistische Mehrheit im Obersten Sowjet wendet sich scharf gegen alle Versuche, die bewaffneten Kräfte einer Kontrolle zu unterwerfen. Unter diesen Voraussetzungen kann das Verteidigungsministerium in innen- und außenpolitischen Fragen als eigene Partei auftreten. Dabei geht es ihm nicht um eine Wahrung der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität, sondern um die HerStellung enger militärischer Bindungen an das russische Verteidigungsministerium. In Belarus ist daher das militärische Establishment der Motor, der den Beitritt zum GUS-Vertrag über kollektive Sicherheit antreibt. Verteidigungsminister Koslowski unterstrich dies mit den Worten, "daß nur die Mitglieder der GUS unsere Alliierten werden können. Niemand will uns in der NATO."

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Seit Sommer 1992 geht es um die Streitfrage der Neutralität oder Beitritts zum GUS-Vertrag über kollektive Sicherheit. Diese Entscheidung war bis zum Frühjahr 1993 weitgehend hinter dem Rücken der Öffentlichkeit diskutiert und entschieden worden. Im Juli 1992 wurden 21 Abkommen militärischen und ökonomischen Inhalts mit Rußland unterzeichnet. Dabei sprachen beide Seiten von einem ersten Schritt in Richtung auf eine Konföderation. Für die nationale und demokratische Opposition bedeuteten die geleisteten Unterschriften eine "Kapitulation vor dem Druck aus Moskau". Charakteristisch in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß der Grundsatz der Neutralität mittlerweile aus dem Verfassungsentwurf verschwunden ist und daß die Kommunistische Partei im Februar 1993 wieder offiziell zugelassen wurde. Schuschkewitsch wird durch den Obersten Sowjet und den Sicherheitsrat von Belarus genötigt, dem GUS-Vertrages über kollektive Sicherheit nicht länger seine Unterschrift zu verweigern. Neben einer engen ökonomischen Union mit Moskau zeichnet sich auch ein enger militärischer Schulterschluß am nahen Horizont ab. Dem suchen Schuschkewitsch und die Volksfront durch den Ruf nach einem landesweiten Referendum entgegenzuwirken, das abgehalten werden müsse, bevor der GUS-Sicherheitsvertrag endgültig ratifiziert werden könne. Dagegen wehren sich die alten Nomenklaturaseilschaften in Regierung, Offizierskorps, Militärisch-industriellem Komplex, Außenministerium und Oberstem Sowjet, die über enge Beziehungen zu Jelzins politischem Hauptgegner, dem russischen Parlamentspräsidenten Chasbulatow, und seinen politischen Anhängern verfügen. Diese politische Koalition zwischen den alten Nomenklatur-Apparatschiks und großrussischen Verfechtern hat sich die Wiedererrichtung eines einheitlichen Staates zum politischen Ziel gesetzt. Der Anfang Juli gerade noch einmal für Schuschkewitsch glücklich ausgegangene Mißtrauensantrag der ehemals kommunistischen Funktionärsschicht im Parlament war nur durch das fehlende Quorum gescheitert, nachdem zuvor Anhänger der demokratischen Opposition sich geweigert hatten, an der Abstimmung teilzunehmen. Für die Durchsetzung des Referendums brauchen Schuschkewitsch und die Opposition zudem 116 von 347 Stimmen im Obersten Sowjet. Es ist jedoch fraglich, ob sie diese zusammenbekommen werden. Ein zunächst ausgehandelter Kompromiß zwischen den jeweiligen Vorstellungen der Mehrheit im Parlament sowie Schuschkewitsch und seinen Anhängern sieht dagegen gewisse Einschränkungen für den Beitritt von Belarus zum GUS-Sicherheitsvertrag vor. So sollen die eigenen Streitkräfte nicht außerhalb des Landes eingesetzt werden dürfen (so z.B. nicht im Rahmen gemeinsamer GUS-Friedenstruppen), und der Beitritt soll nur bis zum völligen Abzug der Strategischen Streitkräfte vom Territorium Weißrußlands gelten. Danach behält sich Belarus das Recht vor, wieder aus dem Vertrag der kollektiven Sicherheit auszuscheren.

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Sollte es zu einem Beitritt von Belarus zum GUS-Sicherheitsvertrag kommen, ergäben sich weitreichende Auswirkungen auf die Nachbarstaaten, So würden in der Ukraine die Befürworter eines Kernwaffenbesitzes weiter gestärkt werden. Polen und die baltischen Staaten dürften sich zusammen mit der Ukraine durch Belarus als vorgeschobenen Brückenkopf Moskaus bedroht sehen. Die Folge wäre Mißtrauen auf allen Seiten, was zukünftige vertrauensbildende Maßnahmen und Kooperationen in der Region erschweren dürfte.

Frank Umbach

Ukraine Von Anbeginn übernahm die Ukraine die führende Rolle im Prozeß der Nationalisierung der Sicherheits- und Militärpolitik zunächst in der UdSSR und später in der GUS. Bereits unmittelbar nach dem Putschversuch vom August 1991 regten sich in der Ukraine Bestrebungen nach einem eigenen sicherheitspolitischen Konzept. Die Diskussion um die ukrainische Sicherheits- und Militärpolitik ist noch heute voll im Gange. Gleichwohl lassen sich bereits klare außen- und sicherheitspolitische Grundvorstellungen erkennen. 1. Die Sicherheit der Ukraine wird als Bestandteil der internationalen Sicherheit wahrgenommen. Die Ukraine verzichtet auf Gewalt bei der Austragung internationaler Streitigkeiten und setzt auf wechselseitige Berücksichtigung von Sicherheitsinteressen mit anderen Staaten. 2. Die Beziehungen zu Rußland stehen im Mittelpunkt der ukrainischen Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik. Für die zukünftige Sicherheit der Ukraine wird die innenpolitische Situation in Rußland von vorrangiger Bedeutung sein. 3. Die vollständige Integration in den europäischen Prozeß und die europäischen politischen und wirtschaftlichen Strukturen ist eines der wichtigsten langfristigen Ziele der Ukraine. Die Fortsetzung des gesamteuropäischen Prozesses stellt ein lebenswichtiges Element der nationalen Sicherheit der Ukraine dar. 4. Auf dem Weg nach Europa können aus ukrainischer Sicht die ostmitteleuropäischen Staaten eine Brückenfunktion übernehmen. Daher mißt die Ukraine den Beziehungen zu diesen Staaten große Bedeutung bei. Die ukrainischen Politiker gehen davon aus, daß die Quellen einer militärischen Bedrohung nach wie vor existieren. Als Hauptursachen für eventuelle Kriege und Militärkonflikte nennen sie wirtschaftliche, politische, territoriale, national-ethnische, religiöse und ähnliche Gegensätze, die von den Staaten nicht immer auf dem friedlichen Wege ausgetragen werden.1 In ihren Sicherheitsüberlegungen sehen Vasil' Durdinec, SuSäsna Ukrajina i bezpeka v Evropi, in: Holos Ukrajiny, 25.06.1993.

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sich die Ukrainer in die Lage versetzt, daß ihr Land seine Staatlichkeit und Sicherheit in einer äußerst unstabilen internationalen Umgebung und praktisch ohne Verbündete aufbauen muß.2 Die Quellen und der Charakter der militärischen Bedrohungen und Gefahren wurden im Entwurf der ukrainischen Militärdoktrin definiert.3 Dabei wurden folgende Hauptquellen der militärischen Gefahr aufgelistet: die Vorräte an Kernwaffen in der Welt und die zunehmende Zahl von Staaten, die solche Waffen herstellten; militärische Konflikte, welche die nationalen Interessen sowie Sicherheit der Ukraine berühren könnten; die mögliche Verwicklung in einen provozierten national-ethnischen Konflikt, aus dem in ein Krieg entstünde; das Bestreben einzelner Staaten, in der europäisch-asiatischen Region zu dominieren und eine Politik der Selbststärkung mittels bewaffneter Eroberung von Territorien zu betreiben. Der Ukraine könnte demgemäß künftig irgendwann einmal ein Krieg aufgezwungen werden, bei dem es dem Gegner um die Eroberung ihres Territoriums und/oder um die Beseitigung der Ukraine als ökonomischer Konkurrent bzw. um eine aufgenötigte Änderung ihrer Politik gehen würde. Die Ukraine betrachtet sich gleichwohl nicht als potentiellen Widersacher irgendeines bestimmten Staates und sieht auch nicht in irgendeinem konkreten Staat ihren feststehenden Feind. Als eine ernstliche Bedrohung der ukrainischen Unabhängigkeit wird vor allem die von Rußland ausgehende Bedrohung perzipiert. Ein ganzer Katalog von ungelösten Problemen belastet das russischukrainische Verhältnis. Einige davon diesen haben direkte sicherheitspolitische Relevanz. 1. Die ukrainischen Politiker und die ukrainische Öffentlichkeit sind besonders über russische Territorialansprüche besorgt. Diese werden von verschiedenen russischen Gruppierungen erhoben und beziehen sich nicht nur auf die Halbinsel Krim, sondern gegebenenfalls auch auf Teile der Ost- und Südukraine. 2. Mit den russischen Ansprüchen auf die Krim ist die zwischen Rußland und der Ukraine heftig umstrittene Schwarzmeerflotte-Frage verbunden. In Sewastopol, dem Hauptstützpunkt der Flotte, treffen russische Gebietsansprüche mit russischen und ukrainischen Militärinteressen zusammen. Das Vorhaben einer Teilung der Schwarzmeerflotte stieß von Anfang an auf Schwierigkeiten. Auf dem Treffen zwischen Jelzin und Krawtschuk am 17. Juni 1993 in Moskau wurde zwar ein Kompromiß hinsichtlich des Modus und der Frist beschlossen, aber die Ukraine mußte dafür einen hohen Preis zahlen. Rußland hat von der Ukraine erhebliche Zugeständnisse bezüglich der weiteren Stationierung der

Vgl. z.B. Oleksandr Honcarenko u.a., Koncepcija nacional'noji bezpeky Ukrajiny: problemy i perspektyvy rozbudovy, in: Vijs'ko Ukrajiny, 1993, Nr. 2, S. 12. Der endgültige Text der Militärdoktrin steht noch nicht zur Verfügung. Hier und weiter wird der zweite, überarbeitete Entwurf vom 17. April 1993 in deutscher Übersetzung zitiert: F.Walter, Militärdoktrin, Militärstrategie und Militärreform im Bereich der früheren Sowjetunion. Ukraine. IABG, Texte und Kommentare - Neue Folge, Nr. 9, 25.05.] 993, S. 21-33.

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russischen Kriegsmarine auf der Krim erzwungen.4 Diese - auch rechtmäßig nicht unumstritten Konzessionen widersprechen den Gesetzen der Ukraine, welche Stationierung fremder Streitkräfte auf ukrainischem Boden untersagen, und könnten zu einer politischen und militärischen Spaltung in Kiew führen. Das Verteidigungsministerium der Ukraine, das sonst eine gemäßigte Position vertrat, wandte sich mit einer Erklärung gegen das Vorhaben einer Verpachtung militärischer Stützpunkte auf der Krim, einschließlich Sewastopols, an Rußland, weil dieses die Sicherheitsinteressen der Ukraine ernstlich verletze.5 3. Wie bekannt, besteht eines der akutesten Probleme der Ukraine in deren fast totaler Abhängigkeit von Energie-Importen. Die Ukraine muß mehr als 90% ihres entsprechenden Bedarfs (Erdöl und Gas) durch Einfuhren decken. Rußland ist bisher der einzige Lieferant und benutzt die Abhängigkeit der Ukraine als politischen Hebel. Die Verminderung dieser einseitigen Abhängigkeit wird in der Ukraine als eine der Hauptaufgaben der nationalen Sicherheitsgewährleistung betrachtet. 4. Nicht weniger problematisch ist für die Ukraine die Frage, wie Rußland die GUS und seine eigene Rolle in derselben definiert. Manche Politiker und Politikwissenschaftler kommen zur Schlußfolgerung, daß die politische, wirtschafliche und militärische Unabhängigkeit der Ukraine vor allem durch ihre Mitgliedschaft in der GUS bedroht wird. Der Vorschlag eines dem Warschauer Pakt ähnlichen multilateralen GUS-Sicherheitssystems war für die Ukraine von vornherein unannehmbar. Wie man in Kiew fürchtet, könnten sich Kommandostrukturen der GUS in ein Instrument russischer Hegemonialmacht verwandeln. Angestrebt werden dagegen bilaterale Verträge mit anderen Staaten zur Gewährleistung der eigenen Sicherheitsinteressen. Der Anspruch Rußlands auf die Rolle des einzigen Garanten des Friedens und der Sicherheit auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR bedeutet nach ukrainischer Überzeugung eine unverhüllte Gefahr, daß der eine Situation entsteht, in der Rußland die Funktion des Polizisten übernimmt. Dies würde unausweichlich zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten führen und die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine bedrohen.6 Mehr als das: Kiew hegt die Sorge, daß die Großmächte aus Furcht vor bewaffneten Konflikten geneigt sein könnten, Rußland als Ordnungsmacht auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion zu akzeptieren. Deswegen gilt in Kiew die mögliche Rolle Rußlands als um so bedrohlicher. 5. Ganz oben im russisch-ukrainischen Problem-Katalog steht die Frage der Kontrolle über die auf ukrainischem Territorium stationierten strategischen Nuklearwaffen sowie des Eigentums an ihnen.

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Soglasenie mez°du Rossijskoj Federaciej i Ukrainoj o neotloznych merach po formirovaniju Voenno-Morskogo Flota Rossii i VoennoMorskich Sil Ukrainy na baze Cernomorskogo flota, in: Rossijskaja gazeta, 19.06.1993. Zajava pres-slufby ministerstva oborony Ukrajiny, in: Ukrainisches Femsehen, 9.06.1993. Demokratycna Ukrajina, 6.03.1993.

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Die ukrainische Haltung in dieser Frage wird in erster Linie von einem ebenso berechtigten wie ungestillten Bedürfnis nach Sicherheit bestimmt. Die Ukraine sieht die Kernwaffen auf ihrem Territorium einzig als ein Instrument der Abschreckung und sucht sich auf denkbare Bedrohungen durch den russischen Nachbarn und auf Gefahren durch latente oder bereits manifeste Territorialstreitigkeiten sowie durch sezessionistische Bestrebungen vorzubereiten. Die Ukraine perzipiert die Möglichkeit des Übergreifens bewaffneter zwischenethnischer Konflikte in anderen GUS-Staaten auf ihr Territorium als direkte Bedrohung ihrer Sicherheit. Die Konflikte in der GUS haben sich den ukrainischen Grenzen genähert. Als Quelle der Bedrohung und eines ernstzunehmenden Sicherheitsproblems werden der Konflikt im angrenzenden Transnistrien und die russische militärische Präsenz in der Region wahrgenommen. Die Konsolidierung der "Transnistrischen Republik" unter russischem Militärschutz und die Einmischung der russischen Streitkräfte in den damit geschaffenen Konflikt könnten die Interessen der Ukraine am Schwarzen Meer bedrohen sowie zur politischen und ethnischen Instabilität in der Südwest-Ukraine beitragen. Die Sezession der "Transnistrischen Republik" würde zur Schaffung eines russischen Vorpostens unmittelbar an der ukrainischen Grenze führen. Eine äußerst wichtige Stellung in den ukrainischen Sicherheitsüberlegungen nehmen die Beziehungen zu den osteuropäischen Nachbarstaaten ein. Die Ukraine ist bestrebt, die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen und den Schutz der ukrainischen Minderheiten in Abkommen mit diesen Ländern zu sichern. Nach offiziellen Verlautbarungen ukrainischer Politiker kann die Gefahr eines Grenzrevisionismus nur von Rußland und von Rumänien ausgehen. Nach der in verschiedenen politischen Kreisen verbreiteten Meinung könnte jedoch jeder Nachbarstaat - ausgenommen Belarus - Gebietsansprüche erheben.7 Nationalistische Gruppierungen in Rumänien, Polen, Ungarn und in der Slowakei rufen zur Revision der Grenzen mit der Ukraine auf, auch wenn sie nicht den offiziellen Standpunkt ihrer Regierungen darstellen. Außerdem glaubt man in Kiew, daß sich die Ukraine gemeinsam mit ihren direkten europäischen Nachbarn um die Schaffung einer "Zone der Stabilität und Sicherheit", eines neuen Sicherheitsraums in Mittel- und Osteuropa bemühen sollte. Zwei Faktoren sind hierfür ausschlaggebend. Erstens: Es gibt gute Gründe für Zweifel daran, ob Rußland je bereit sein wird, die Idee einer unabhängigen Ukraine zu akzeptieren. In der Ukraine verbreitet sich weiterhin die Überzeugung, daß der Westen, in erster Linie Amerika, entweder nicht fähig oder nicht willens ist, die neuen, nach dem Zerfall der Sowjetunion entstandenen Realitäten anzuerkennen. Mit der Schaffung einer Zone der Stabilität und Sicherheit in Mittel- und Osteuropa sucht die Ukraine eine engere Zusammenarbeit der Länder der Region herbeizuführen. 7

Holos Ukrajiny, 27.01.1993.

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In der ukrainischen Konzeption der nationalen Sicherheit spielt auch die Integration des Landes in die Gemeinschaft Europas und der Welt eine große Rolle. Die Ukraine betrachtet die UNO und die KSZE als Garanten ihrer Entwicklung, ihrer Unabhängigkeit und Sicherheit. Im Entwurf der Militärdoktrin wird dem Problem der "Schaffung einer gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur auf der Basis der vorhandenen internationalen Institutionen" als Gewährleistung der nationalen Sicherheit "besondere Bedeutung" beigemessenen. Die Ukraine gehört keinem Verteidigungsbündnis an. Daher stellt sich die Frage der Gewährleistung der nationalen Sicherheit besonders dringlich. Die ukrainischen Politiker würden gerne die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems sehen.8 Es wird auch eine Annäherung an die NATO erwogen, da man die NATO als Schutz gegen Moskau betrachtet. Die Führung war freilich lange sehr zurückhaltend in der Festlegung ihrer Prioritäten gegenüber der NATO. Präsident Krawtschuk erklärte die Unvereinbarkeit des Beitritts zur NATO mit dem blockfreien Status. Vertreter des Außen- und Verteidigungsministeriums sprechen sich dagegen inzwischen für eine Annäherung an die NATO aus. Die ukrainische Haltung in Fragen der Sicherheitsbündnisse bleibt allerdings widersprüchlich. Dies hängt nicht zuletzt mit der Diskussion um Neutralität und Blockfreiheit der Ukraine zusammen. Über Blockfreiheit und Neutralität herrscht nach wie vor Unklarheit. Durch die Erklärung ihres blockfreien Status wollte die Ukraine vor allem die Möglichkeit einer Allianz mit Rußland oder eines Beitritts zu einem engeren militär-politischen Zusammenschluß der GUS-Staaten ausschließen. Der überarbeitete Entwurf der ukrainischen Militärdoktrin enthielt keine ausdrückliche Aussage mehr, daß die Ukraine ein neutraler, keinem Militärbündnis angehörender Staat sein wolle. Im Gegenteil. Es wird die Aufhebung des blockfreien Status für den Fall ins Auge gefaßt, daß die Ukraine einer Bedrohung durch Nachbarstaaten ausgesetzt wird. Jetzt spricht man immer öfter von der Hast und der Unbedachtsamkeit bei der Annahme des Prinzips der Blockfreiheit. Das Neutralitätsprinzip wurde zum Gegenstand heftiger Diskussionen in der Obersten Rada bei der Debatte über die Militärdoktrin. Die Haltung der Ukraine in der Frage der Kernwaffen ist zum zentralen Problem der sicherheitspolitischen Diskussion geworden. Diese Frage ist direkt verbunden mit der Definition der Bedrohung und der dagegen einzusetzenden Mitteln. Sie ist auch Gegenstand der Beziehungen zu Rußland, zu den USA, zur NATO und zu weiteren Atommächten. Das Bekenntnis zu den drei nichtnuklearen Prinzipien - "Kernwaffen nicht einzusetzen, nicht herzustellen und nicht zu erwerben" - wurde im Entwurf der Militärdoktrin bekräftigt, ohne daß jedoch der nuklearwaffenfreie Status der Ukraine weiter erwähnt worden wäre. In den am 2. Juli 1993 verabschiedeten "Hauptrichtungen der Außen•

Der stellvertretende Außenminister Boris Tarasjukim Interview mit der "Nezavisimaja gazeta", 11.01.1993.

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politik" wurden die auf ukrainischem Territorium stationierten Kernwaffen zum Eigentum des Staats Ukraine erklärt. Dieser letzte Akt der Obersten Rada der Ukraine schließt die spätere Ratifizierung des START-1-Vertrages und sogar den Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag nicht aus. Allerdings will die Ukraine die Bedingungen selbst bestimmen. Sie fordert Sicherheitsgarantien von allen Nuklearmächten bzw. von den Ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats. Die Ukraine sieht eine wichtige Sicherheitsgarantie darin, daß die Nuklearstaaten als Garanten der Stabilität auftreten, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine gewährleisten sowie der Ukraine im Falle einer Aggression Beistand zusagen, ohne dafür irgendwelche Korrekturen der Politik als Gegenleistung zu verlangen und sich in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einzumischen. Diese Garantien sollten nicht den Beitritt der Ukraine zu irgendwelchen politischen Blöcken zur Voraussetzung haben.9 Außenminister Slenko nannte vier Bedingungen, unter denen die Ukraine den START-1-Vertrag ratifizieren und dem Atomwaffensperrvertrag beitreten könnte: 1. das Vorhandensein von Sicherheitsgarantien seitens der Atommächte; 2. die Verpflichtung der USA und anderer westlicher Länder zur Finanzhilfe für die Vernichtung der Kernwaffen; 3. Kompensationen für die atomaren Komponenten der bereits abgezogenen taktischen Nuklearwaffen; 4. Kompensationen für die atomaren Komponenten der strategischen Nuklearwaffen, wenn sie nach Rußland zur Demontage abgezogen werden.10 Aus ukrainischer Sicht ist die Frage der Nuklearwaffen mit anderen äußerst Sicherheitsfragen verstrickt. Die Diskussion über das Eigentum an den Nuklearwaffen wurde zur einer Schlüsselfrage in der Debatte über die Souveränität des Landes. Erhoffte finanzielle Gewinne haben dieser Frage noch eine wirtschaftliche Dimension gegeben. Eine Rolle spielt auch die Zähigkeit des früheren sowjetischen Sicherheitsdenkens, für das es ein Axiom war, daß die Sicherheit eines Staates ausschließlich mit Atomwaffen zu gewährleisten sei. Der ganze Problem komplex wurde zu einer zentralen politischen Frage, der vitale nationale Bedeutung beigemessen wird. Olga Alexandrova

9 10

Nezavisimaja gazeta, 20.01.1993. Ukrinform-TASS, 3.06.1993.

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Polen Die Auffassungen über die auswärtige Sicherheit werden in einem breiten Konsens desjenigen Teils der politischen Elite in Polen, der von der sozialdemokratischen Orientierung bis zu den gemäßigten Vertretern von christlich-nationalen Orientierungen im bisherigen Regierungs- und Oppositionslager reicht, zum einen von der Risikoanalyse der konfliktträchtigen Beziehungen zwischen den angrenzenden Nachfolgestaaten der Sowjetunion (Litauen, Belarus und v.a. Ukraine und Rußland) und zum anderen von der instabilen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation der Staaten Ost- und Südosteuropas mit deren vielfachen Auswirkungen, beispielsweise in Gestalt von Massenmigrationen und internationalem organisiertem Verbrechen, bestimmt. Zur sicherheitspolitischen Bestandsaufnahme gehören auch die derzeitige erzwungene Bündnislosigkeit Polens ("Zone verminderter Sicherheit"), also die Notwendigkeit, eine nationale Sicherheitsdoktrin zu entwickeln, und die psychologisch wichtige Tatsache, daß Polen von den Folgen des tiefgreifenden territorial-politischen Wandels in der Mitte Europas am meisten betroffen ist. Bis 1990 besaß Polen drei Nachbarstaaten (DDR, UdSSR, CSSR), heute sind es sieben, wobei von den drei ursprünglichen Nachbarn jeder seine Identität gewechselt hat (Deutschland, Rußland, Tschechien, Slowakei, Ukraine, Belarus, Litauen). Polen sieht sich derzeit von keinem Staat direkt bedroht. Die politische Führung betont, daß Polen keine natürlichen Feinde habe und daß es keine Existenzbedrohung gebe. Polen beobachtet aber aufmerksam die starke Konzentration russischer Streitkräfte im Gebiet Kaliningrad/Königsberg. Wenn diese Präsenz auch nicht als Beweis aggressiver Absichten wahrgenommen wird, so ist Polen doch beunruhigt über das Militärpotential an seiner Nordgrenze. Die Gefahr eines Ausbruchs lokaler Kriege in den östlichen Nachbarstaaten oder zwischen denselben wird vor dem Hintergrund des Vorhandenseins erheblicher Militärpotentiale (Atommacht Ukraine) ernst genommen, wobei sich das

:

eher indirekte - militärische Risiko aus der Eventualität lokaler

Streitigkeiten entlang der polnischen Grenze ergibt, die auf polnisches Territorium übergreifen könnten. Von einem möglichen Zerfall der Russischen Föderation gehen für Warschau die größten Gefahren für die Sicherheit Polens aus, die - ebenfalls eher indirekt - als riesige Flüchtlingswellen aufträten. In Deutschland sieht Polen einen Sicherheitspartner, wobei allerdings angesichts der vorhandenen politischen und wirtschaftlichen Asymmetrie der Beziehungen psychologische Vorbehalte fortbestehen. Die Asyldebatte und die daraus folgenden Regelungen in Deutschland haben den Warschauer

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Verdacht verstärkt, daß Polen sich in einer "Zone verminderter Sicherheit" befindet und - bei formal ausgeglichenen Standards - mit den sich ergebenden Konsequenzen für die innere Sicherheit Polens überfordert werden könnte. Im Verhältnis zu Litauen stellt die Lage der dortigen polnischen Minderheit (ca. 220.000 = 7 %) einen besonderen Aspekt der Sicherheitsperzeption dar. Ein vergleichbares Risikopotential besteht, verstärkt durch die konfessionelle Komponente, wegen der polnischen Minderheit in den Beziehungen zu Belarus (ca. 380.000 = 4 %). In beiden Fällen, derzeit vor allem im Verhältnis zu Litauen, stellt die polnische Ethnie ein bilaterales Konfliktpotential dar. Allerdings versucht die polnische Regierung in der jüngsten Zeit, das Verhältnis zu Litauen mit demonstrativen Gesten zu entspannen. Beispielsweise übergab Verteidigungsminister Onyszkiewicz am 15. Juli in einer bedeutungsschweren Zeremonie während der jährlich abgehaltenen Feierlichkeiten zum Jahrestag des Sieges des vereinigten polnischlitauischen Heeres über den Deutschen Orden bei Grunwald (1410) seinem litauischen Amtskollegen Butkevicius zehn gepanzerte Fahrzeuge sowie anderes Militärgerät. Die Ukraine wird in Polen wegen ihres ungeklärten Verhältnisses zu Rußland und unausgereifter sicherheitspolitischer Vorstellungen als potentiell destabilisierender Faktor bewertet. Die staatliche Teilung der CSFR in Tschechische und Slowakische Republik stellt aus polnischer Sicht kein sicherheitspolitisches Risiko dar. Die politischen, wirtschaftlichen und psychologischen Ungleichgewichte innerhalb des Visegrad-Drei-/Vierecks wurden durch die Spaltung der CSFR weiter zugunsten Polens verändert. Am 2. November 1992 wurden vom "Komitee für Landesverteidigung" (KOK), dem höchsten sicherheitspolitischen Gremium Polens, die "Grundlagen der polnischen Sicherheitspolitik" und die "Sicherheitspolitik und Verteidigungsstrategie der Republik Polen" verabschiedet. Dem KOK gehören unter dem Vorsitz des Staatspräsidenten der Ministerpräsident, die Minister für Äußeres, Verteidigung, Inneres und Finanzen, die Präsidenten der beiden Parlamentskammern, der Generalstabschef und der Leiter des federführenden Büros für Nationale Sicherheit beim Präsidenten an. Ausgangspunkt der Überlegungen in den "Grundlagen" ist ein erweiterter Sicherheitsbegriff, der neben den politischen und militärischen die wirtschaftlichen, ökologischen, gesellschaftlichen und ethnischen Aspekte umfaßt.

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In der Praxis bleibt aber der klassische "harte" militärisch-politische Sicherheitsbegriff im Mittelpunkt der Konzeptionen zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit. Mit Blick auf die "weichen" Sicherheitsthemen wird Polen durch die Entwicklung in der Region gezwungen, Ansätze für eine einvemehmliche Regelung der sich verschärfenden Migrations- bzw. Asylproblematik durch Rückführungsabkommen mit seinen Nachbarstaaten bzw. mit europäischen Herkunftsländern zu suchen. So hat Polen nach dem Abschluß des deutsch-polnischen Rückführungsabkommens ebensolche Abkommen mit der Ukraine, Tschechien, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien geschlossen. Ein Datum für eine entsprechende Regelung mit Rußland steht noch nicht fest. Die sicherheitspolitischen Grundpositionen und Richtungen in den "klassischen" Feldern sowie die Absichten in der Verteidigungspolitik werden in den erwähnten "Grundlagen" folgendermaßen näher umschrieben: - Verzicht auf territoriale Ansprüche gegenüber anderen Staaten; - als Hauptziel die politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Integration in Westeuropa (EG, WEU) und die Vollmitgliedschaft in der NATO, die weiterhin als das grundlegende Element für politische Sicherheit und Frieden in Europa gilt; - langfristige Sicherheit durch Mitgliedschaft in einem gesamteuropäisch-atlantischen Sicherheitssystem; - das Weiterbestehen der US-Militärpräsenz in Europa als Basis von Stabilität und Frieden; - ständiger sicherheits- und verteidigungspolitischer Dialog mit allen Nachbarn ohne Ausnahme zwecks Schaffung einer Zone des Vertrauens. Die Armee soll, um künftig ihren Verteidigungsauftrag und die Voraussetzungen für die langfristig angestrebte NATO-Mitgliedschaft erfüllen zu können, von der bisherigen - noch weithin am strategischen Dispositiv des ehemaligen Warschauer Pakts ausgerichteten und an das Modell der ehemaligen sowjetischen Armee angeglichenen - Streitkräftestruktur abgehen und in allen ihren Teilen einschließlich des Ministeriums für Nationale Verteidigung (MON) Reformen durchführen.

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Durch die Anknüpfung konkreter militärisch-politischer Beziehungen ist Polen zum einen bestrebt, der Mitgliedschaft in der NATO näher zu kommen. Zum anderen verfolgt es konsequent den Leitgedanken regionaler sicherheits- und verteidigungspolitischer Zusammenarbeit und Vertrauensbildung. Mit den NATO-Mitgliedern Frankreich (6/92), Deutschland (1/93) und Griechenland (11/92) hat Polen Abkommen/Vereinbarungen über militärpolitische Zusammenarbeit abgeschlossen. Mit Großbritannien (11/92) wurde die Einrichtung von Arbeitsgruppen zur Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit vereinbart. Von diesen bilateralen Vereinbarungen erhofft sich Polen indirekt ein Näherrücken an NATO und WEU. Vor allem bezüglich der USA ist Polen bemüht, ein enges sicherheitspolitisches Verhältnis aufzubauen. Die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa hat aus polnischer Sicht größte Bedeutung für die Stabilisierung der Lage in Europa. Dementsprechend enttäuscht ist Polen daher von der schwachen Resonanz Washingtons auf den polnischen Wunsch nach sicherheitspolitischer Partnerschaft, die auf die finanzielle Lage der USA wie auf amerikanische Rücksichtnahnme auf sicherheitspolitische Empfindlichkeiten Rußlands zurückgeführt wird. Was die sicherheitspolitische Vernetzung mit den Staaten Ostmitteleuropas betrifft, so bestehen mittlerweile Abkommen über militärpolitische Zusammenarbeit mit Lettland, Litauen und mit Estland. Militärpolitisch arbeitet Polen auf der Grundlage bilateraler Abkommen mit der Tschechischen und der Slowakischen Republik sowie mit Ungarn im Gesamtrahmen der Visegrad-Gruppe zusammen. Dabei wird von der polnischen Politik sehr deutlich gemacht, daß die regionale Zusammenarbeit mit Prag, Bratislava und Budapest nicht als Ersatz für die Westintegration Polens betrachtet wird, sondern vielmehr als multilaterale Verstärkung der individuellen Integrationsabsichten der politisch und wirtschaftlich am weitesten fortgeschrittenen ehemaligen WP-Staaten und als Übungsfeld für Integrationspolitik. Ende 1992/Anfang 1993 begann Polen mit der Aufnahme konkreter militärisch-politischer Beziehungen mit den angrenzenden Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Mit Belarus schloß es im Dezember 1992, mit der Ukraine im Februar 1993 ein Abkommen über militärisch-politische Zusammenarbeit. Die politisch bedeutsamste militärisch-politische Vereinbarung war das Abkommen mit Rußland vom Juli 1993, das Verteidigungsminister Onyszkiewicz gemeinsam mit seinem russischen Kollegen Gratschow unterschrieb. Von der neuen Souveränität Polens nach dem Zusammenbruch der östlichen Bündnisstrukturen und von der Standfestigkeit der polnischen sicherheitspolitischen Option zeugt die

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Tatsache, daß der polnische Verteidigungsminister in Moskau die sicherheitspolitische Konzeption Polens mit der ersten Priorität der allgemein- und sicherheitspolitischen Westbindung einschließlich des angestrebten NATO-Beitritts vor dem Lehrkörper der Akademie des Generalstabs der Russischen Streitkräfte darlegte. Die polnische Hinwendung zum Westen sei keineswegs auf irgendwelche Befürchtungen oder auf ein Gefühl der Bedrohung zurückzuführen. Sie sei vielmehr die logische Konsequenz der zuvor gefaßten Absicht eines EG-Beitritts. Polen verspüre um sich herum keinerlei militärische Bedrohung. Gefährlich werden könne dagegen ein eventuelles Scheitern der Reformen in irgendeinem der ostmitteleuropäischen Staaten, eine mögliche Migrationswelle und der internationale Terrorismus. Mit der Ende Oktober 1992 erfolgten Rückführung aller Kampftruppen der ehemals 60.000 Mann umfassenden Nordgruppe sowie der Ankündigung von Präsident Jelzin während seines Staatsbesuchs in Polen (24.-26. August 1993), den Abzug der restlichen Einheiten um drei Monate vorzuziehen und bis zum 1. Oktober 1993 abzuschließen, sind die belastendsten Probleme der physischen Präsenz der ehemaligen sowjetischen Armee in Polen beseitigt. Einen bemerkenswerten politischen Erfolg ihrer beharrlichen Bemühungen um Verständnis für die eigenen sicherheitspolitischen Prioritäten konnte die polnische Diplomatie während des Jelzin-Besuchs in Warschau verbuchen. Für viele Beobachter der jüngsten Windungen russischer Außenpolitik überraschend, verkündete Präsident Jelzin in einer "gemeinsamen Erklärung" mit Präsident Walesa, daß "die Entscheidung des souveränen Polen ... nicht im Widerspruch zu den Interessen anderer Staaten" stehe und auch nicht die Interessensspäre Rußlands verletze. Jelzin bekundete sogar das russische "Verständnis für die polnische Haltung" in der Bündnisfrage. Prompt forderten Außenminister Skubiszewski und Verteidigungsminister Onyszkiewicz konkrete Schritte von Seiten der NATO. Mit der Stabilisierung der bilateralen sicherheitspolitischen Beziehungen zu den östlichen Nachbarn, insbesondere zu Rußland, bezweckt Polen offensichtlich neben einer Verbesserung seiner Sicherheitslage auch ein Signal an die NATO. Den potentiellen westlichen Verbündeten soll damit gesagt werden, daß Polen keine ungelösten Konflikte mit Rußland in das Bündnis einbringen werde und jede Belastung des Verhältnisses zwischen NATO und Rußland zu vermeiden suche. Auf einer polnischamerikanischen Konferenz, die im Mai 1993 in Chicago stattfand und den Problemen der NATO-Integration Polens gewidmet war. warb das polnische Mitglied des Center for International and Strategie Studies, Janusz Bugajski, für den NATO-Beitritt Polens mit dem Hinweis darauf, daß dieser die Sicherheit Rußlands nicht nur nicht bedrohen, sondern im Gegenteil stärken werde, wobei zugleich dessen innere Demokratisierung gefördert werden würde. Eine NATO-Erweiterung würde eine breitere Stabilitätszone westlich von Rußland schaffen und die potentielle Bedrohung Rußlands von Seiten Deutschlands verhindern.

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Mit dem Abschluß des polnisch-russischen Abkommens hat Polen das Netz der bilateralen sicherheits- und militärpolitischen Vereinbarungen mit den sieben Nachbarstaaten vervollständigt. Der gewünschten weitreichenden Zusammenarbeit ungeachtet, strebt Polen mit den Vereinbarungen keineswegs bilaterale militärische Bündnisse oder Allianzen an und richtet die Abkommen nicht gegen Drittstaaten. Polen stellt sich mit vertrauenschaffenden Maßnahmen gegenüber seinen Nachbarn als Stabilitätsfaktor in Ostmitteleuropa dar. Die von Präsident Walesa zeitweise formulierte und favorisierte Idee eines NATO-ähnlichen Bündnissystems zwischen den ostmittel-/osteuropäischen Staaten ("NATO II") als Übergangslösung vor einem NATO-Beitritt bzw. vor dem Aufbau gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen hat somit weder in die sicherheitspolitische Konzeption noch in die konkrete Vertragspolitik Polens Eingang gefunden. Ein "Wackeln" der regierenden politischen Eliten in dieser Schlüsselfrage wäre bei den Avancen von Präsident Krawtschuk während des Staatsbesuchs von Präsident Walesa in der Ukraine (6/93) oder während des Onyszkiewicz-Besuchs in Moskau deutlich geworden. Spätestens seit der Warschauer Jelzin-Erklärung muß jede sicherheitspolitische Alternativkonzeption in Polen als politisch nicht mehr durchsetzbar gelten. Die Darstellung der sicherheitspolitischen Perzeptionen und Konzeptionen in Polen konzentriert sich auf Vorstellungen, die sich auf der Plattform eines breiten politischen und politikwissenschaftlichen Konsens in den politischen Entscheidungszentren seit dem Systemwechsel durchgesetzt und verstetigt haben. Ungeachtet möglicher Regierungswechsel mit unterschiedlichen Parteienkonstellationen, ist eine beachtliche Kontinuität zu verzeichnen. Die drei Machtzentren Präsident, Regierung und Parlament haben in den Grundfragen der polnischen Außen- und Sicherheitspolitik weitgehende Übereinstimmung demonstriert. Über die bisherigen und abzusehenden Regierungswechsel hinweg und ungeachtet der ungeklärten Verfassungssituation wird die Kontinuität der Außen- und Sicherheitspolitik vom Präsidialamt (Büro für Nationale Sicherheit) stark vorgezeichnet. Auch seit 1989 in der Opposition befindliche größere Parteien, seien es die Nachfolger früherer "Systemparteien", wie die postkommunistische Sozialdemokratie (SdRP) und die Bauernpartei (PSL), sei es die nationalpopulistische "Konföderation" (KPN), die nach den Parlamentswahlen am 19. September 1993 weiter an politischem Einfluß gewinnen könnten, werden die Grundlagen der polnischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht umstoßen können bzw. wollen. Der SdRP liegt stark an ihrer demokratischen "Hoffähigkeit", wie sie sich durch außen- und sicherheitspolitische Anpassungsfähigkeit (wie etwa in den programmatischen Aussagen ihrer führenden Vertreter im Sejm) und mit

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sozial- und wirtschaftspolitischer Profilierung erringen läßt. Vergleichbares gilt für die bisher oppositionelle Polnische Bauernpartei. Die lautstark auftretende "Konföderation Unabhängiges Polen" - mit wiederbelebten Vorkriegskonzeptionen eines Bündnissystems von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer (Miedzymorze) als dritter Macht zwischen NATO und Rußland - gilt bei den politisch einflußreichen Parteien unter keinen Umständen als bündnisfähig. Die Perzeption der auswärtigen Sicherheit ist in den Jahren seit der Wiederherstellung der Demokratie in Polen - ungeachtet des medienwirksamen Geplänkels in empfindlichen Bereichen um den nationalen Souveränitätskomplex (z.B. Thema "Euroregionen") - nicht zum Feld großer politischer Auseinandersetzungen geworden, obwohl die politische Landschaft ansonsten fragmentiert ist. Speziell in der Außen- und Sicherheitspolitik demonstrieren die polnischen Denkfabriken und Entscheidungszentren meist einen bemerkenswerten Grad von analytischer Durchdringung und Rationalität. Die außen- und sicherheitspolitischen Alternativen zu den gültigen Konzepten erscheinen als zu riskant und als nicht mehrheitsfähig. Und es fehlten die Stabilität versprechenden äußeren Partner dafür. Dieter Bingen

Tschechische Republik Die Sicherheitsperzeptionen in der Tschechischen Republik haben sich noch nicht zu einer klar urarissenen und umfassenden Doktrin zusammengefügt. Dennoch kommt der Prozeß der Konzeptbildung gut voran.11 Einige Grundprinzipien stoßen auf allgemeine Zustimmung, und einige Reformen, die sich in die langfristigen Muster des angestrebten Wandels fügen, werden schon in Angriff genommen. Die Regierungskoalition der rechten Mitte scheint in ihrer Haltung zu den Problemen der äußeren Sicherheit weitgehend einig zu sein, und sie trägt die volle Verantwortung für den Transformationsprozeß.12 Die Opposition, die sich auf die Parteien der linken Mitte, der extremen Linken, der extremen Rechten sowie einige nicht gebundene Abgeordnete verteilt, hat bislang noch keine schlüssige AlterEine Arbeitsgruppe, die die neue Gestalt des Militärs entwerfen soll, existiert seit November 1992, nachdem klar geworden war, daß die Option einer gemeinsamen Armee mit der Slowakei bzw. zweier Armeen unter einem Dach nicht mehr gegeben war. Die Arbeitsgruppe wurde Mitte Januar 1993, als Antonin Baudys Verteidigungsminister wurde, umgebildet und erweitert. Sie ist noch immer tätig. 1^

Das heißt nicht, daß schon alles geregelt wäre. Die Aufteilung der Vollmachten zwischen dem Präsidenten als Oberbefehlshaber und dem Verteidigungsministerium (also der Regierung) hat zu einigen Reibungen geführt. Ein Staatlicher Verteidigungsrat, der in der Verfassung nicht vorgesehen ist und sich auf keine eindeutige Gesetzgebung stützt, bildet ein nach Bedarf zusammentretendes Kriegskabinett. Nachdem der Rat am 29. April 1993 zum erstenmal zusammengetreten war, sagte Havel, er besitze rein beratende Vollmachten, während Innenminister Jan Ruml meinte, der Rat würde "in schwierigen Zeiten" zu einem "Organ der Exekutive". Was das für die Reformen und für die Amtsführung in Notzeiten bedeutet, wird nicht auf den ersten Blick sichtbar. Vgl. Lidove noviny, 30.04.1993.

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native angeboten. Da sich das entstehende Sicherheitskonzept der Regierung logischerweise in den allgemeinen Demokratisierungsprozeß einpaßt, ist anzunehmen, daß zumindest ein Teil der Opposition allgemeinen Widerstand leisten wird, wenn es zu einer Abstimmung im Parlament kommt. Zweifellos werden gegen einige Aspekte des Konzepts Einwände erhoben werden, aber es sieht nicht danach aus, daß es zu einer Kraftprobe zwischen den entgegengesetzten Absichten kommen wird. Die Sicherheitsvorstellungen der Regierung beinhalten in groben Zügen die folgenden Elemente: In einer Situation, da dem Land ein militärischer Angriff nicht droht und ein eindeutiger Feind nicht auszumachen ist, leiten sich die potentiellen Risiken vor allem aus zwei Faktoren her, und zwar aus einem militanten Nationalismus und ethnischen Konflikten in Ost- und Südosteuropa sowie aus dem anhaltenden Niedergang der früheren Sowjetunion und der eventuellen Wiederkehr eines aggressiven (bzw. revanchistischen) Regimes in Moskau. Sicherheit wird heute als Stabilität verstanden, die durch Entwicklungen ohne klare militärische Dimension gefährdet werden kann. Dazu gehören der Zustrom von Flüchtlingen und anderen Migranten, Umweltgefahren aus dem Ausland, internationaler Terrorismus und organisiertes Verbrechen, Drogenschmuggel sowie Bedrohungen im Zusammenhang mit verbotenem Handel mit spaltbarem Material.13 Um den militärischen Arm des Staates an diese Situation anzupassen, sollen die Tschechischen Streitkräfte verkleinert, unter zivile Leitung gestellt (bei genau definierter Kompetenzenteilung zwischen dem Verteidigungsministerium und dem Generalstab), nach dem Brigade- und Bataillonsmodell reorganisiert, mobiler gemacht, mit einem zunehmenden Anteil an Karrieresoldaten ausgestattet, entsprechend den Erfordernissen der neuen Umrisse des Landes stationiert und auf moderne Waffensysteme westlichen Standards umgerüstet werden. Da sich die Tschechische Republik zu den demokratischen Werten des Westens bekennt, strebt sie die Mitgliedschaft in der NATO und der Westeuropäischen Union an, wobei sie sich dessen bewußt ist, daß der beste Weg zur Integration eher in einer graduellen Annäherung als in einer baldigen Aufnahme liegt. Es besteht der ausdrückliche Wunsch, sich an allen erdenklichen Arten von militärischen Missionen unter der Ägide der Vereinten Nationen, der NATO und der WEU zu beteiligen und zu diesem Zweck gemeinsam mit NATO-Einheiten eventuell auf tschechischem Territorium Übungen abzuhalten.14 Man ist sich dessen bewußt, daß die Verwirklichung einer derartigen Doktrin wegen einiger Beschränkungen nur in einem kontinuierlichen Prozeß vorangehen kann und nicht einfach kurzfristig

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Liste nach dem "Konzept der Außenpolitik" der tschechischen Regierung, November 1992, hektographiert. Verteidigungsminister Antonin Baudys in Rüde prävo, 15.03.1993.

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verordnet werden kann.15 Die für die Sicherheitspolitik Verantwortlichen müssen, ohne daß hier auf Details eingegangen werden soll, vier Einflußfaktoren in Betracht ziehen: Zum ersten ist das Erbe der von Moskau gesteuerten und an die Entwürfe des Warschauer Pakts gebundenen Militärkonzepte einfach zu groß, als daß diese sofort durch etwas anderes ersetzt werden könnten. Zum zweiten müssen neben allen Veränderungen, die auch im Falle des Fortbestehens der Tschechoslowakei zur Geltung gekommen wären, die Folgewirkungen der Abspaltung der Slowakei verarbeitet werden. Drittens geht eine beschleunigte Militärreform über die Kraft der öffentlichen Kassen, da zivile Prioritäten dringlicher sind. In der öffentlichen Meinung nimmt die Armee nicht nur einen niedrigen Stellenwert ein, sondern darüber hinaus scheint eine große Zahl von Menschen die Notwendigkeit eines militärischen Arms des Staates grundsätzlich in Frage zu stellen. Viertens stehen einfach keine Experten zur Verfügung, die bereit wären, all die erforderlichen Veränderungen, über deren Wünschbarkeit die Ansichten nur wenig auseinandergehen, zu formulieren und auszuführen. Gute Absichten, außenpolitische Erfahrungen und Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten werden sich noch eine Zeitlang weiter vermischen. Möglicherweise wird die Verknüpfung militärischer und nichtmilitärischer Erfordernisse im Gesamtkonzept der Sicherheit noch viel zu wünschen übrig lassen. Wie soll z.B. eine demokratische Regierung den Einsatz ihrer Streitkräfte zur Abwehr unerwünschter Zuwanderung regeln? Was die praktischen Aspekte der Reform betrifft, so ist vereinbart worden, die Dauer des Wehrdienstes von 18 auf 12 Monate zu reduzieren. Von ihrer gegenwärtigen Stärke von etwa 105.000 Mann sollen die Streitkräfte bis 1996 auf 65.000 abgebaut werden. Damit werden sie kaum mehr als 0,6% der Bevölkerung betragen. Gegenwärtig machen Offiziere ungefähr 40% der Gesamtstärke aus, ihre Zahl soll um 30% auf etwa 30.000 sinken. Mit etwas weniger als der Hälfte der für 1997 geplanten Gesamtstarke wäre dies ein beachtlicher Grad an Professionalisierung. Aber im Offizierscorps herrscht heute ein starkes Übergewicht der höheren Ränge, d.h. der Majore und Oberste, während es an Unteroffizieren und niederen Offiziersrängen (bis zum Rang des Hauptmanns), die eher Kommando- als Stabsfunktionen ausüben können, mangelt. Während die höheren Ränge ausgedünnt werden müssen - es ist schon von einer "Schwemme" von Obersten gesprochen worden, die heute 30% aller Ränge ausmachen - wird es nicht leicht sein, Personal für die Truppenführungsebene zu rekrutieren und auszubilden, insbesondere wenn der Offiziersrang eher anstrengende Arbeit verspricht als einen bequemen Bürosessel und eine fast automatische Beförderung auf eine Lebensstellung. Wenn Fundamentalistische Kritiker von rechts lassen, wie üblich, Ungeduld und Wehklagen vernehmen. Vaclav Zaspal beklagt im Telegraf vom 22.03.1993 die tschechische Unfähigkeit zu "radioelektronischer Kriegführung" nach der Art des Golf-Kriegs und sagt für die Zeit nach 1996, wenn die heutigen Waffen ihren Geist aufgeben, einen "Zusammenbruch der Rüstung" voraus. Er bemängelt, daß für "postkommunistische Oberste und Generäle", denen er mißtraut, große Geldsummen zur Verfügung gestellt wurden und werden.

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aber, wie das Gesetz über Bankrott anzukündigen scheint, die Arbeitslosigkeit im zivilen Bereich sich weiter ausbreitet, dann könnten militärische Karrieren wieder attraktiv werden, aber nur wenige dürften darauf wetten, daß dieser Effekt schnell eintritt.16 Die tschechischen Streitkräfte werden (wie es schon jetzt mehr oder weniger der Fall ist) aus dem Heer, der Luftwaffe und der Luftabwehr bestehen. Es ist geplant, 1993 zumindest eine Division nach dem Brigade- und Bataillonsschema umzustrukturieren.17 Die Garnisonen in Mähren (dem östlichen Teil der Tschechischen Republik) werden zulasten der böhmischen Garnisonen verstärkt werden. Einige überzählige Flughäfen werden geschlossen werden, während für andere, die in der Nähe regionaler Zentren gelegen sind, eine gemeinsame zivile und militärische Nutzung ins Auge gefaßt ist. Eine Revision des teuren militärischen Bildungswesens wird vermutlich die Schließung aller Schulen der mittleren Ebene und eine erhebliche Beschneidung und Reorganisation auf der höheren Ebene zur Folge haben (die angesehene medizinische Militäruniversität in Hradec Krälove könnte unter zivile Hoheit gestellt werden). Die Offiziersausbildung wird in tschechischen und westlichen Schulen stattfinden; die Entsendung von Soldaten zur Ausbildung nach Rußland ist eingestellt worden. Mit einigen Dienstleistungen, einschließlich der Bewachung bestimmter Liegenschaften, könnte in Zukunft der private Sektor beauftragt werden. Der Verkauf überschüssigen militärischen Grundbesitzes wird erwogen. Die Armee wird nach und nach alle Wirtschaftsunternehmen aufgeben. Die 23 Mrd. Kronen, die im Haushaltsjahr 1993 für die Streitkräfte bereitgestellt worden sind (und die allgemein als nicht mehr als ein "Etat zum Überleben" angesehen werden), enthalten 7,5 Mrd. für Versorgung, 6,5 Mrd. für Löhne und Gehälter und nur 1,5 Mrd. für Investitionen.18 Eine Folge der Abspaltung der Slowakei ist ein drastischer Rückgang der Waffenproduktionskapazität der Tschechischen Republik. Das ist allenfalls ein zwiespältiger Segen, denn für den begehrten Erwerb von Waffen aus dem Westen fehlt die finanzielle Grundlage.19 Die Planer der Militärreform sind radikal pro-westlich eingestellt, eine besondere Partnerschaft im Rahmen der Visegrad-Gruppe befürworten sie halbherzig, sie treten für eine völlige Lösung der Bindungen an die ehemalige Sowjetunion ein, und sie achten argwöhnisch darauf, welche wirtschaftli-

Für wen eine militärische Karriere verlockend ist, läßt sich jetzt noch nicht sagen. Mit der "Zivilisierung" des Verteidigungsministeriums, die zweifellos im Einklang mit der Reform steht, stellt sich die Frage, woher man hochqualifizierte Administratoren nehmen soll, an denen es in allen Sektoren, den staatlichen wie den privaten, mangelt. Die Personalsorgen sind zu groß als daß man sich eine Säuberung von Kommunisten leisten könnte. Aber aufs Ganze gesehen, bilden die etwa 670 ehemaligen Politoffiziere der Partei, die noch (andere) Posten innehaben, nur ein geringeres Problem (vor 1990 gab es in der tschechoslowakischen Armee 3 500 hauptamtliche Indoktrinatoren). 17

Oberst i.G. Petr Luzny in Öesky denik, 11.02.1993.

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Stv. Verteidigungsminister Miroslav Kalousek, Hospodärske novmy, 24 02.1993. General Karel Pezl, Mladä fronta dnes, 24.11.1992.

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chen und politischen Verschlechterungen in der Slowakei sich eventuell auf die Sicherheit der Tschechischen Republik auswirken könnten. Verteidigungsminister Antonin Baudys glaubt: "...Die Slowakei hat schon immer zu engerer Zusammenarbeit mit der Ukraine und Polen tendiert, und ihre Beziehungen zu Ungarn sind sehr kompliziert. Die Tschechen wiederum suchen Anlehnung an Deutschland und Österreich. Nach meiner Ansicht verläuft hinter Honodin und Breclav eine imaginäre Grenze. Das bedeutet, daß die Slowakei nach Schutz gegen Ungarn sucht. Solche Sicherheitsgarantien kann sie nur von der Ukraine und von Polen erhalten, und das wiederum kann sich auf die tschechischslowakischen Beziehungen auswirken."20 Der Leiter der außenpolitischen Abteilung im Verteidigungsministerium Jaromir Novotny hat davon gesprochen, daß die Region östlich der Tschechischen Republik "sehr gefährlich" werde, falls dort die wirtschaftliche Stabilität nicht gesichert werden könne.21 Des weiteren sprach er die Hoffnung aus, daß "die NATO vermutlich nicht untätig zusehen würde, wenn sich die Situation östlich der Tschechischen Republik spürbar verschlechtern würde."22 Die polnische Idee, die Visegrad-Gruppe zu institutionalisieren, trifft auf keine große Begeisterung. Baudys sagte, er sehe keinen Grund, warum die Armeen der Visegrad-Staaten untereinander enger zusammenarbeiten sollten als beispielsweise mit den österreichischen Streitkräften. Er räumte ein, daß bestimmte Probleme, die alle Visegrad-Partner gemeinsam betreffen, etwa die Umrüstung, Gegenstand gemeinsamer Diskussionen sein könnten.23 Es ist auch die Ansicht geäußert worden, daß die vier Visegrad-Partner sich auf gegenseitige Hilfe bei Abrüstung und Konversion orientieren sollten, statt gemeinsam ihre Produktionskapazitäten für Waffen zu steigern.24 Vladimir V. Kusin

Slowakei Die slowakischen Perzeptionen der äußeren Sicherheit sind von weniger klarer Kontur als die tschechischen. Zum einen wirkt sich auf ihre Herausbildung der Umstand aus, daß ein tragfähiger Konsens im Parlament fehlt, wo die von der Bewegung für eine demokratische Slowakei (HZDS) gestellte,

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Mladäfrontadnes,25.01.1993. Telegraf, 14.04.1993 Mladä frontet dnes, 03.04.1993. Ebenda, 25.01.1993. Ebenda, 24.11.1992.

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jetzt in der Minderheit befindliche Einparteienregierung lediglich für allgemeine Absichtserklärungen, aber nicht für klar umrissene politische Programme Unterstützung finden kann. Zum anderen macht sich in der Slowakei die Tragweite des Postkommünismus stärker bemerkbar als in den tschechischen Ländern. Dementsprechend müssen die Militärplaner eine pragmatische Reform in Angriff nehmen, was jedoch durch die Hinterlassenschaften der Vergangenheit doppelt erschwert wird. Einheimische und ausländische Kommentatoren haben von Versagen der Führung gesprochen, von einer Art politischem Treibenlassen, das sich weiterhin aus dem von der Unabhängigkeitskampagne gegebenen Impuls speist und auf manche wichtige Herausforderung, die sich nach der Trennung gestellt hat, keine Antwort hat. Aber wie dem auch sei, am Entwurf einer Sicherheitsdoklrin scheint garbeitet zu werden, wobei allerdings deren Eckpunkte der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis gelangt sind. Wenn die parlamentarische Opposition ein eigenes Sicherheitskonzept besitzen sollte, dann ist es erstens noch nicht sichtbar geworden und zweitens mit einiger Sicherheit uneinheitlich und nicht auf einen Nenner zu bringen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Mai 1993) scheint das slowakische Parlament mattgesetzt zu sein, da die Mehrheit in ihm die Herrschaftsmethoden der HZDS mißbilligt, gleichzeitig aber furchtet, daß ein Fall der gegenwärtigen Exekutive die Situation nur noch schlimmer machen würde. Die Bildung eines Sicherheitskonzepts gehört unter den vielen noch ungelösten Problemen durchaus zu den nachrangigen; nur wenige Angehörige der heutigen politischen Klasse würden diese Frage als dringend ansehen. Die größte Oppositionsgruppe, die ehemals kommunistische Partei der Demokratischen Linken (SDL), ist in jüngster Zeit näher an die HZDS herangerückt, ohne sich jedoch auf volle Parnerschaft zu verpflichten. Die Slowakische Nationale Partei (SNS), früher ein lautstarker Verfechter aller nationalen Anliegen, hat ihre politischen und wirtschaftlichen Standpunkte gemäßigt, aber sie hat auch die Regierungskoalition (in der sie einen Minister stellte) verlassen und scheint irgendwo im freien Raum zwischen Zustimmung und Ablehnung zu schweben. Die anderen Fraktionen sind zu klein, als daß sie einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung der Politik leisten könnten, aber sie können helfen, die Handlungsfreiheit der Regierung zu beschneiden. Die HZDS ihrerseits verliert an Zusammenhalt und, wie aus jüngsten Meinungsumfragen hervorgeht, an Rückendeckung durch die Öffentlichkeit. Das politische Klima scheint für die Bildung eines Rahmens, innerhalb dessen ein gemeinsam getragenes Sicherheitskonzept gefunden werden kann, äußerst ungünstig zu sein, obwohl gerade auf diesem Gebiet parteipolitische Divergenzen eine geringere Rolle spielen als etwa im Hinblick auf die Wirtschaftsreform oder die Ethik des politischen Zusammenlebens. Jedenfalls liegt weder ein Paket

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von Sicherheitskonzepten der Regierung noch eines der Opposition auf dem Tisch. Erlauben wir uns den Luxus, zu spekulieren: Falls die HZDS den Wunsch haben sollte, sich durch ein engeres Bündnis mit der Partei der Demokratischen Linken zu stärken, dann wäre in den Sicherheitsperzeptionen eine ungarnfeindliche Note schwerer durchzusetzen als in einer erneuerten Partnerschaft mit der Slowakischen Nationalen Partei. Trotz all dem wäre es falsch, den Planern der Militärreform unlautere Absichten zu unterstellen. Wie es aussieht, entwerfen sie nach besten Kräften eine Streitmacht, die den Modemi sierungsmustem entspricht, die gemeinhin als die für die neuen postkommunistischen Staaten in Osteuropa geeignetsten angesehen werden. Die slowakische Armee wird unter ziviler Leitung stehen, sie wird verteidigungsorientiert, klein und mobil sein, sie wird in Brigaden und Bataillone gegliedert sein, den sozialen Bedürfnissen der Mannschaften und höheren Ränge gerecht werden, nach zunehmender Professionalisierung streben und allgemein das Beste aus dem machen, was unter dem Kostengesichtspunkt machbar ist. Unter den Aspekten, die man als die "technischen" Aspekte der Militärreform bezeichnen könnte, ist - jedenfalls nach den zugänglichen Informationen - keiner, der ernsthaften Widerspruch auslösen könnte. Anlaß zu einiger Skepsis gibt aber doch die Art, wie die slowakische Außenpolitik betrieben wird: sie muß sich zwangsläufig auf die Entstehungsphase von Sicherheitskonzepten auswirken. Was auch immer die Gründe dafür sein mögen, nur wenige Beobachter werden bestreiten, daß die Slowakei bislang ein wirres Bild von sich vermittelt hat. Zwar hat die Slowakei keinen unversöhnlichen Feind, aber sie hat auch - so traurig das ist - keinen wirklichen Freund auf der Welt, niemanden, der gewillt ist, ihr zur Seite zu stehen, was auch immer geschieht, niemanden, dessen Herz für sie schlägt. Allenfalls sieht die Welt die Slowakei als graue Maus, als einen Staat, dessen Regime sich erst noch entfalten muß. Dagegen neigen viele in der HZDS-Führung zu dem Glauben, in der Außenwelt gäre es vor getarnter konspirativer Feindseligkeit: die Tschechen, die Ungarn und der Westen allgemein würden sich verschwören, um die zarten Triebe der slowakischen Unabhängigkeit auszureißen. Ein Schleier von Schuldzuweisung und Selbstmitleid verdüstert viele Visionen. Bisher hat niemand öffentlich die Auffassung vertreten, daß Ungarn der erste Anwärter auf die Rolle des potentiellen Feindes Nummer eins sei, und in offenen Quellen gibt es keine Hinweise auf Truppenstärken in der Südslowakei, die diese Vermutung untermauern würden.25 Daneben wird aber anDer ungarische Verteidigungsminister Läjos Für besuchte auf Einladung seines slowakischen Amtskollegen am 23. April 1993 Bratislava. Man sprach über offenen Luftraum und offene Garnisonen. Ungarn bot ein Abkommen über militärische Zusammenarbeit an, und die Slowaken versprachen, es zu prüfen. Der slowakische Verteidigungsminister Imrich Andrejcäk sagte, die gemeinsame Grenze werde "eine Grenze des Friedens und der Ruhe" sein. Uj Magyarorszäg, 24.04.1993. Hier ist anzumerken, daß die militärische Verständi-

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gesichts der gegenwärtig herrschenden Stimmung kaum jemand bezweifeln, daß eine ungamfeindliche Tendenz besteht, daß sie aus den nationalistischen Ausfällen der Anhänger von Istvan Csurka in Ungarn selbst gespeist wird und daß das historische Mißtrauen einen Niederschlag in der Formulierung der Sicherheitsparameter finden muß. Hier ist jedoch anzumerken, daß, solange der Warschauer Pakt bestand, die südlichen Bereiche der Slowakei militärisch mager ausgestattet waren. Darüber hinaus machen unerwünschte Migranten aus Südosteuropa auf ihrem Zug nach Westen regen Gebrauch von der slowakisch-ungarischen Grenze. Daher muß nicht jeder Schritt zu einem Ausbau der in der Südslowakei stationierten Truppen einer anti-ungarischen Haltung entspringen. Die während des Endspurts zur Unabhängigkeit in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres zunehmende Tendenz, in der Ukraine und Rußland aktive militärische Verbündete und Lieferanten von Rüstungsgütern zu sehen, ist in jüngerer Zeit, vermutlich unter dem Einfluß des kontinuierlichen Niedergangs in den beiden Ländern, zurückgegangen. Von Sicherheitsrisiken, die aus dem Chaos oder aus der möglichen Rückkehr zu einer feindseligen Politik in der ehemaligen Sowjetunion resultieren, ist jedoch nur selten die Rede. Keine Furcht scheint vor dem nördlichen Nachbarn Polen zu bestehen, auch wenn offenbar über die Ausbildung von Spezialeinheiten für den Einsatz in gebirgigem Gelände nachgedacht wird, so wie es im gesamten Verlauf der slowakisch-polnischen Grenze besteht. Zwar setzt sich die Slowakei eine NATO-Mitgliedschaft als Ziel, aber sie betont mehr, als die Tschechen dies tun, den langwierigen Charakter der Entwicklung, die dahin führen kann. Außenminister Jozef Moravcik drückte es folgendermaßen aus: "Es ist unser Wunsch, daß schon jetzt daran gedacht wird, die Voraussetzungen für unseren künftigen Beitritt zum Bündnis zu schaffen. Das heißt, daß die Beitrittsbedingungen zuerst vereinbart werden müssen. Der nächste Schritt wäre dann die Festlegung des Zeitplans, nach dem diese Bedingungen erfüllt werden sollen."26 Andere scheinen diese - wie sie es nennen - "Imitation" westlicher Vorbilder skeptisch zu betrachten. Generalmajor Julius Humaj, der Befehlshaber der slowakischen Armee (und damit der Stabschef), meinte, daß ein slowakisches "Militärmodell" vorzuziehen sei.27 Gleichzeitig legen slowakische Politiker - im Unterschied zu den Tschechen - größeren Wert auf militärischen Multilateralismus innerhalb der Visegrad-Gruppe. Moravcik betonte: "Wir sind bei unseren Überlegungen immer von einem mitteleuropäischen Rahmen ausgegangen, das heißt von Beziehungen innerhalb einer Region, die durch die Territorien der Visegrad-Gruppe definiert ist." N a c h seiner Aufgang zwischen Ungarn und Rumänien schon seit einiger Zeit harmonischer ist als die offizielle politische Rhetorik auf beiden Seiten vermuten läßt. 26

Pravda (Bratislava), 26.04.1993.

27

Pravda, 09.02.1993.

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fassung könnte die NATO-Mitgliedschaft gemeinsam von den vier Mitgliedern der Visegrad-Gruppe angestrebt werden 28 Praktische Gründe für eine engere Zusammenarbeit werden in der Notwendigkeit gesehen, sich bei der Herstellung von Ersatzteilen und beim Ersatz für veraltende Waffensysteme auf Länder des ehemaligen Bündnisses zu stützen.29 Wenig Klarheit herrscht in Bezug auf eine mögliche slowakische Beteiligung an internationalen Militärmissionen. Innerhalb eines Monats gab Verteidigungsminister Imrich Andrejcäk hierzu zwei unterschiedliche Erklärungen ab, oder er wurde zumindest von Journalisten als Quelle beider Versionen genannt. Laut der ersten Version war ein Pionierbataillon für einen UNO-Einsatz in Bosnien vorbereitet worden, aber, so hieß es, als Kampfeinsätze möglich geworden seien, hätten die Slowaken geäußert, daß sie es vorzögen, nur eine Sanitätseinheit zu entsenden.30 Kaum einen Monat später soll Andrejcäk gesagt haben, die Pioniere würden weiter ausgebildet, und die UNO wünsche sehr, auch ein slowakisches Infanteriebataillon einzusetzen.31 Was auch immer die Wahrheit ist, man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß die Slowaken nicht so stark wie die Tschechen darauf erpicht sind, auf dem Schlachtfeld zu beweisen, daß sie aus westlichem Holz geschnitzt sind. Das Verteidigungsministerium in Bratislava mit seinen etwa 300 Angestellten wird jetzt als zivile Verwaltungs- und Aufsichtsbehörde angesehen, obwohl der Minister (Imrich Andrejcäk) Karriereoffizier in den militärischen Institutionen des kommunistischen Staates und - nach 1989 - des Bundesstaates war. Der in Armeekommando umbenannte Generalstab hat seinen Sitz in Trencin, sein Personalbestand beträgt gegenwärtig etwa 800 Mann. Generalmajor Julius Humaj, der den Titel des Armeekommandeurs trägt, übt die Befehlsgewalt aus. Die Umstrukturierung der Divisionen in Brigaden ist ein Teil des Reformprogramms, aber der Zeitplan für die Durchführung dieser Maßnahme ist nicht bekannt. Humaj sagte, die Reorganisation von Divisionen, die über alle Waffensysteme verfügen, könne nicht in Angriff genommen werden, solange diese die einzigen kampfbereiten Elemente in der slowakischen Armee seien.32 Die gegenwärtige Stärke von ca. 46.000 Mann dürfte kaum weiter reduziert werden. In einigen Standorten soll man sich für eine Erhöhung der Truppenstärke ausgesprochen haben, aber es liegen keine Informationen vor, daß dies geschieht.33 Tatsächlich wird die Slowakei über eine größere Armee verfugen als sie sie als Teil der Tschechoslowakei gehabt hat; damals war die Kopfstärke des sogenannten Ostcorps kleiner als die des Westcorps in Böhmen und Mähren. Eine 28

30 31 32 33

Pravda, 26.04.1993. So der slowakische Präsident Michal Koväcfin (dem Rundfunksender) Radiozurnäl, 24.03.1993, und Verteidigungsminister Imrich Andrejcäk mPräca, 31.03.1993. Präca, 31.03.1993. Pravda, 20.04.1993. Närodna obroda, 11.12.1992. Pravda, 09.02.1993.

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Debatte, die offenbar noch andauert, betrifft den Bedarf an einer zentral organisierten Unterstützungsstreitmacht und deren Stärke und Form. Es könnte sich um eine Struktur der Zivilverteidigung (von der Reste vorhanden sind), eine Territorialarmee oder eine Heimwehr handeln.34 Die Wehrpflichtdauer ist kürzlich von 18 auf 12 Monate gesenkt worden. Die Rekrutierung von Karriereoffizieren zur Erhöhung des Professionalisierungsgrades ist ins Auge gefaßt, aber zunächst muß die Slowakei mehrere tausend zurückkehrende Offiziere aufnehmen, die auf tschechischem Territorium in der tschechoslowakischen Armee Dienst getan haben.35 Zu den vorrangigen Investitionen gehören Wohnungsbau (bzw. Kauf von Wohnungen) für die heimkehrenden Armeeangehörigen, der Bau von neuen Flughäfen und Luftabwehreinrichtungen sowie die Verbesserung der Kommunikationsverbindungen. Für alle diese Maßnahmen waren im Rahmen der kommunistischen Prioritätenliste für Militärfragen nicht genügend Mittel vorgesehen. Die Überkapazitäten zur Produktion schwerer Waffen in der Slowakei sind ein Problem, das nur durch ein separates Konzept bewältigt werden kann. Daneben machen die undeutlichen Konturen der Sicherheitsperzeption, die Dringlichkeit einer Militärreform und die schwere Last einer aufgeblähten Rüstungsindustrie den Fragenkomplex der äußeren Sicherheit für den gerade unabhängig gewordenen Staat zu einem großen Problem. Zum Schluß noch einmal zur ungarischen Dimension. Ein besonderes Problem, dessen Bedeutung sich anhand der zugänglichen Quellen nicht sicher einschätzen läßt, betrifft das Element der ungarischen Minderheit unter den Wehrpflichtigen und, was noch wichtiger ist, im Offizierscorps. Die gegenwärtige slowakische Regierung weigert sich, einen Autonomiestatus irgendwelcher Art, sei es politisch oder kulturell, für die schätzungsweise 580.000 Bürger ungarischer Abstammung (12% der Bevölkerung) in Betracht zu ziehen. Entgegen den von der Budapester Propaganda gern gebrauchten und oft wiederholten Klischees findet keine Unterdrückung der magyarischen Minderheit in der Slowakei statt. Sie genießt die gleichen Bürgerrechte wie die slowakischen Bürger. Aber ebenso wenig sind die Beziehungen harmonisch, und es gibt auf beiden Seiten Spielraum, sich in rationaler Weise um ihre Verbesserung zu bemühen. Was das Militär betrifft, so bleibt abzuwarten, ob und inwieweit ethnische Kriterien eine Rolle spielen, wenn neue Karriereoffiziere in den Dienst genommen und mit Kompetenzen betraut werden. Vladimir V. Kusin

34 35

Slovensky dennik und Kondor, 14.01.1993. Pravda, 20.04.1993.

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Ungarn Bezüglich der militärischen Sicherheit des Landes sind sowohl die Regierung als auch die Opposition der Meinung, daß die Bedeutung der militärischen Aspekte abgenommen hat und daß die Wahrscheinlichkeit eines totalen Krieges zwischen Staaten auf dem europäischen Kontinent geringer geworden ist, wenngleich sie noch nicht ganz und gar verschwunden ist.36 Gleichwohl gibt es in Osteuropa ein Konfliktpotential, das zu Konfrontationen zwischen Staaten eskalieren kann, das aber Ungarn nicht unmittelbar militärisch bedroht.37 Eine militärische Bedrohung größeren Ausmaßes könnte nur von der Richtung Rußland/Ukraine ausgehen. Ministerpräsident Jözsef Antall äußerte sich kürzlich diesbezüglich warnend, als er die Möglichkeit eines Wiederauflebens der russischen Bedrohung ansprach.38 In Kreisen politischer Experten besteht jedoch weitgehend Einigkeit darüber, daß selbst dann, wenn in Rußland ein feindseliges Regime an die Macht käme, dieses kaum eine direkte militärische Bedrohung darstellen würde. Was die Ukraine angeht, so gilt die allgemeine Ansicht, daß trotz der Überlegenheit der ukrainischen Armee über die ungarische Armee beide aufgrund der geographischen Gegebenheiten doch vergleichbar sind. Auch stellt Ungarn für die Ukraine nicht das vorrangige militärische Sicherheitsproblem dar. Die ungarische Armee läßt sich auch mit den Armeen aller anderen Nachbarstaaten vergleichen, wenn man von Serbien absieht. Zudem gibt es keine Anzeichen für eine bevorstehende militärische Konfrontation. Die ungarische Armee und das Verteidigungsministerium haben erklärtermaßen gute Beziehungen zu ihren rumänischen Kollegen.39 Ähnlich ist die Situation gegenüber der Slowakei. Und obwohl die militärischen Beziehungen zu Rest-Jugoslawien (Serbien und Montenegro) gespannt sind, vertraut man in ungarischen Regierungskreisen darauf, daß das Land alle kleineren und auch größeren Grenzverletzungen an der Südgrenze, falls irgendetwas dieser Art stattfinden sollte, abwehren könnte (zumindest solange, bis internationale Hilfe in irgendwelcher Form eintrifft). Ungarische und internationale Einschätzungen (auch solche der NATO) kommen übereinstimmend zu dem Schluß, daß niemand im ehemaligen Jugoslawien ein Interesse daran haben könne, eine Aggression gegen Ungarn zu begehen.40

Vgl. hierzu Punkt 8 der am 14. April 1993 vom Parlament mit den Stimmen von sechs Parteien angenommenen Verteidigungspolitischen Prinzipien. Rudolf Jöo, stellvertretender Staatssekretär im Verteidigungsministerium, in einem Interview mit "Magyar Nemzet", 24.3.1993. 38

"Nepszabadsag ", 27.4.1993.

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Vgl. hierzu den Staatssekretär für politische Angelegenheiten im Verteidigungsministerium Läszlo Szendrei in "Uj Magyarorszag , 31.4.1993 und Janos Gömbös in "Magyar Hirlap", 27.2.1993. Zu erwähnen ist auch das Luftraumabkommen zwischen Rumänien und Ungarn, das nur von sehr geringer operativer Bedeutung ist, aber ein bedeutendes vertrauensbildendes Potential besitzt. Vgl. hierzu Generalmajor Janos Koväcs in "Magyar Nemzet", 1.3.1993. Vgl. ebenso die Aussagen von Regierungsbeamten und Experten vor dem Außenpolitischen Ausschuß des Parlaments, in "Nepszabadsag", 3.6.1993. Zur Einschätzung der NATO vgl. Generalmajor i.R. Dietrich Genschell, gegenwärtig Berater der ungarischen Regierung für Fragen der NATO, in "Nepszabadsag", 1.7.1993.

-:'.

Zur Verbesserung seiner Sicherheitslage hat Ungarn jedoch ein breites Netz bilateraler Abkommen über militärische Zusammenarbeit geknüpft und kooperiert auch multilateral auf militärischem Gebiet. Ein Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit mit der NATO im Rahmen des North Atlantic Cooperation Council (NACC). Lieferungen von Militärgütern (aus Rußland und aus Deutschland, aus den Beständen der ehemaligen NVA) sollen Ungarn helfen, eine Abnahme der Gefechtsbereitschaft seiner auf 100.000 Mann (davon 74.000 Militär- und 26.000 Mann Zivilpersonal) geschrumpften Armee zu verhindern. Es herrscht die überwiegende Auffassung, daß für die ungarische Sicherheit keine dramatischen Bedrohungen militärischer Art bestehen. Selbst wenn militärische Bedrohungen aufkommen sollten, wäre noch immer genügend Zeit, sie zu erkennen und entsprechende vorbeugende Maßnahmen zu treffen. Aber dennoch gibt es mangels glaubwürdiger und verläßlicher Mechanismen zur Konfliktprävention und zum Krisenmanagement (und ebenso - wie die beharrliche Verweigerung von NATO-Garantien für Ungarn im Zusammenhang mit dem Jugoslawien-Konflikt zeigt - mangels zuverlässiger Sicherheitsgarantien) keinerlei Gewißheit. Außerdem haben Bedrohungsperzeptionen oder Ungewißheiten bezüglich der militärischen Sicherheit in der ostmitteleuropäischen Region nicht unbedingt mit konkreten militärischen Bedrohungen zu tun. Unter diesen Umständen ist nicht auszuschließen, daß Feinde "erzeugt" werden.41 Auch herrscht unter den politischen Eliten (und ebenso in der Öffentlichkeit) eine unterschwellige Unsicherheit und Angst, daß im Falle einer (von Osten kommenden) Bedrohung "westlicher" Schutz nicht zu erhalten sei,42 d.h. die Gefahr, in einem Sicherheitsvakuum gefangen zu sein, wird als Bedrohung wahrgenommen. Hier entsteht natürlich eine in gewisser Weise paradoxe Situation: Einerseits herrscht die weit verbreitete Auffassung, daß, was die militärische Sicherheit betrifft, keine ernsthaften Bedrohungen bestehen, während andererseits ein Gefühl der Unsicherheit und eines drohenden Sicherheitsvakuums besteht. Aus ebendiesem Grunde drängt es die ungarischen politischen Kreise (die Regierung ebenso wie die Opposition) mit Macht, sich um die Mitgliedschaft in der NATO oder eine Assoziierung an sie, zumindest aber um irgendeine Form offizieller Sicherheitsgarantien zu bemühen.43 Eines der größten Sicherheitsprobleme für Ungarn in politischer Hinsicht ist die Ungewißheit hinsichtlich der Lage in Rußland und der Ukraine. Der Ministerpräsident hat bei verschiedenen Anlässen betont, daß eine Isolierung Rußlands nicht im ungarischen Interesse liege. Die ungarische Außen- und Vgl. z.B. das Interview mit Istvän Gyarmati, Leiter der Abteilung für Sicherheitspolitik und europäische Zusammenarbeit im Außenministerium, in "Magyar Narancs", 17.6.1993. Security for Europe Project, Initial Report, Dezember 1992, Center for Foreign Policy Development, Brown University, S. 6. Zu einer zukünftigen NATO-Mitgliedschaft Ungarns vgl. Istvän Gyarmati in "Magyar Narancs", a.a.O. Auch von dem außenpolitischen Berater des Ministerpräsidenten (Gyula Kodolänyi) und vom Staatssekretär für politische Fragen im Außenministerium ist berichtet worden, daß sie die Möglichkeit von NATO-Garantien sondieren. "Nepszabadsag", 31.7.1993, 14.5.1993.

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Sicherheitspolitik sei vielmehr bemüht, Rußland in die gesamteuropäischen Sicherheitsstrukturen einzubeziehen. Ähnliches gilt für die Ukraine. Eine von Ungarn ausgehende neue Initiative zu regionaler Zusammenarbeit war ausdrücklich darauf angelegt, die Ukraine einzubeziehen. Ein für viele Beobachter und Politiker sicherheitsrelevantes Problem betrifft eine mögliche Konfrontation zwischen Rußland und der Ukraine. Was die unmittelbaren Nachbarn angeht (d.h. Slowakei, Rumänien und "Rest-Jugoslawien"), so liegt hier das größte Spannungspotential in der Frage der ungarischen Minderheiten. Es besteht in Budapest Konsens darüber, daß ein Grundelement der Beziehungen Ungarns zu seinen Nachbarn die rechtliche Situation der dortigen ungarischen Minderheiten ist. Aber gleichermaßen wird auch die Gefahr gesehen, die darin liegt, alle Aspekte der Beziehungen von der Minderheitenfrage abhängig zu machen, und jegliche Tendenz in dieser Richtung wird weithin abgelehnt.44 Auch auf der ungarischen Seite gibt es, was die Minderheiten in den Nachbarländern anbelangt, intolerante, extremistische Ansichten.45 Diese sind jedoch auf die Ränder des politischen Spektrums beschränkt. Der ungarisch-ukrainische Vertrag (mit seiner Klausel über Grenzgarantien) ist vom Parlament mit überwältigender Mehrheit gebilligt worden.46 Die ebenfalls von einer großen Mehrheit gebilligten und vom gesamten politischen Spektrum unterstützten sicherheitspolitischen Prinzipien haben deutlich gemacht, daß Ungarn keine originären Feinde hat. daß die Frage der ethnischen Minderheiten durch weitgefächerte internationale Zusammenarbeit geregelt werden muß und daß Ungarn jegliche gewaltsamen Grenzveränderungen ablehnt.47 Wie auch ausländische Beobachter bestätigen, kann Ungarn, nachdem die extremistischen Kräfte an den Rand gedrängt sind (und Csurka und seine Anhänger eine Niederlage erlitten haben), nicht mehr in ein falsches Licht gestellt werden, was die Frage der Minderheiten betrifft48 Auch die Öffentlichkeit scheint sich von extremistischen Positionen in der Minderheiten- oder der Grenzfrage nicht verführen zu lassen.49 Jedenfalls gibt es kein nennenswertes öffentliches Drängen auf Selbstbehauptung Ungarns gegenüber irgendeinem der Nachbarländer. Ungarisches Selbstbewußtsein äußert sich sowohl für die Elite als auch für die Öffentlichkeit darin, daß man zu "Europa" gehört, d.h. daß man Teil des europäischen Vgl. z.B. Laszlo Koväcs von der oppositionellen Sozialistischen Partei in "Nepszabadsag", 3.3.1993. So erklärte Ministerpräsident Antall, er sei "spirituell" der Ministerpräsident von 15 Millionen Ungarn; der Verteidigungsminister deutete an, daß die Minderheitenfrage ein Element der ungarischen Sicherheitspolitik: sein könnte. Ein ehemaliges führendes Mitglied der stärksten Regierungspartei (MDF), Istvan Csurka, hat verschiedentlich polemische Äußerungen über einen "ungarischen Lebensraum" gemacht, worauf er aus seiner Partei ausgeschlossen wurde. 46

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223 Stimmen dafür, 39 dagegen bei 17 Enthaltungen. "Nepszabadsag", 12.5.1993. Die sicherheitspoiitischen Prinzipien wurden mit 205 Stimmen bei einer einzigen Gegenstimme angenommen. Charles Gati, "Magyar Nemzet", 12.6.1993. George Schopflin, Hungary and its Neighbors, Chaülot Papers (7), Institute for Security Studies, WEU, Mai 1993.

n Integrationsprozesses und des atlantischen Raumes ist. Man kann also sagen, daß die ungarische Außen- und Sicherheitspolitik zwar von der doppelten Aufgabe angetrieben wird, einerseits die Situation der Minderheiten regeln zu helfen und andererseits die Beziehungen zu den Nachbarstaaten zu verbessern und zu "normalisieren", daß aber die Koordinierung dieser zwei Aufgaben von dem Wunsch beherrscht sein wird, zu Europa und zum atlantischen Raum zu gehören.50 Ungarn setzt sich sehr dafür ein, daß die Frage der Minderheiten internationalisiert wird, und zwar durch die verschiedenen Foren der KSZE, den Europarat, die Mitteleuropäische Initiative, durch ein Netz bilateraler Vereinbarungen über Minderheitenschutz sowie durch das Vorantreiben europäischer Normen für Minderheitenschutz. Die ungarischen Erwartungen hinsichtlich der Rolle europäischer Institutionen bei der Regelung von Problemen der politischen Sicherheit beschränken sich nicht allein auf die Minderheitenfrage. Ein weiterer solcher Fall ist die Anrufung des Internationalen Gerichtshofs und die Bitte um EG-Vermittlung in der Frage des Donau-Staudamms. Wirtschaftliche Sicherheit ist sowohl für die Regierung als auch für die breite Öffentlichkeit ein wichtiges Problem. Wie der Minister für Außenwirtschaftsbeziehungen sagte, gibt es keine Sicherheit ohne politische Stabilität, keine politische Stabilität ohne soziale Stabilität, keine soziale Stabilität ohne einen angemessenen Beschäftigungsgrad, keinen angemessenen Beschäftigungsgrad ohne Wirtschaftswachstum und kein Wachstum ohne Märkte und Ressourcen.51 Deshalb schenkt Ungarn seinen Beziehungen zur EG aufmerksame Beachtung. In der Zugehörigkeit zur EG wird das Kriterium gesehen, das entscheidet, ob man einer wirtschaftlich und politisch instabilen oder stabilen Region angehört. Wirtschaftliche Stabilität oder gar ein geringfügiger Aufschwung und Wohlstand in Ungarn könnte sich auch stabilisierend auf die kleinere ungarische Region auswirken. Daher nimmt Ungarn argwöhnisch jeden Schritt der EG wahr, der als Versuch aufgefaßt werden kann, eine ungarische EG-Mitgliedschaft hinauszuzögern. Insgesamt sind Regierung und Opposition, Elite und breite Öffentlichkeit, stark daran interessiert, Ungarns Sicherheitslage durch Anschluß an den europäischen Integrationsprozeß und an den atlantischen Raum zu verbessern. Auch läßt sich, was die Sicherheitsperzeptionen angeht, ein ziemlich weitgehender Konsens zwischen den hauptsächlichen politischen Parteien Ungarns ausmachen. Dafür spricht auch die kürzlich erfolgte parlamentarische Billigung der sicherheitspolitischen Prinzipien und der Prinzipien der nationalen Verteidigung. Zwar ist die Verabschiedung des neuen Verteidigungsgesetzes aufgeschoben worden, aber das liegt nicht in irgendwelchen größeren Differenzen in den Si-

"Magyar Nemzet", 16.1.1993. BelaKädärin "MagyarHirlap", 3.4.1993

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cherheitsperzeptionen begründet. Daher dürfte auch ein Regierungswechsel keine größeren Veränderungen in den Sicherheitsperzeptionen nach sich ziehen. Istvän Szönyi

Gesamtkonstellation Das Ende der Ost-West-Konfrontation hat die Sicherheitslage in Mittel- und Osteuropa nicht nur objektiv, sondern auch in der Wahrnehmung der Beteiligten grundlegend verändert. Die früher vom sowjetischen Imperium ausgehenden Zwänge und - soweit es die mitteleuropäischen Staaten anbelangt - Bedrohungen sind entfallen. Dafür sehen sich heute alle Länder der Region Nachbarn mit neuer bzw. veränderter Identität gegenüber. Dazu kommen Herausforderungen, die sich aus politischer, wirtschaftlicher und teilweise sogar militärischer Instabilität jenseits der eigenen Grenzen - vor allem auf dem Boden der früheren UdSSR und des ehemaligen Jugoslawiens - ergeben. Die Gefahren, die hier gesehen werden, reichen von einer bereits jetzt sich über Staatsgrenzen hinweg ausbreitenden organisierten Kriminalität über teilweise schon in größerem Umfang einsetzende Migrationen bis hin zu den befürchteten Folgen totaler Auflösung und der Eventualität nicht einzudämmender Kriegsgeschehnisse für den Fall, daß die derzeit angestrebte Transformation vom Sozialismus zu einer neuen Ordnung scheitern sollte. Demgegenüber tritt, teilweise auch aufgrund binnenwirtschaftlich gesehener Erfordernisse, die Wahrnehmung ökologischer Bedrohungen zurück, obwohl der Unfall von Tschernobyl die Ukraine und Belarus außerordentlich in Mitleidenschaft gezogen hat und obwohl ein beträchtlicher Teil des russischen Territoriums ökologisch in einem unvorstellbaren Ausmaß belastet ist. Das Gefühl einer generellen Unsicherheit im klassischen Sinne in der früheren UdSSR wird entscheidend durch strittige oder zumindest nicht-anerkannte Grenzen und durch zahlreiche ethnische Konflikte gespeist. Dazu kommt, daß die nicht-russischen Staaten in dieser Region in der Russischen Föderation eine weithin fehlende Bereitschaft feststellen, das Auseinanderbrechen des Imperiums zu akzeptieren und sich mit dem derzeitigen Territorialbestand und mit der staatlichen Emanzipation der früheren Sowjetrepubliken zufriedenzugeben. Solange die Russen nicht willens sind, ihr Land als einen auf gleicher Ebene mit anderen Nationalstaaten stehenden Nationalstaat zu betrachten und daher unzweideutig auf die Pflege imperialer Am-

4,4.

bitionen zu verzichten, kann es aus der Sicht der anderen Völker keine Beruhigung und Stabilisierung in den zwischenstaatlichen Verhältnissen Osteuropas geben. Der Verdacht des imperialen Revisionismus führt jedoch nicht überall zu einer ablehnenden Einstellung gegenüber Moskau. Zwar sehen die politischen Kräfte, die in der Ukraine und Belarus die Sache der nationalen Unabhängigkeit vertreten, in Rußland naturgemäß den potentiellen Widersacher, vor dem man sich sichern muß. Eine völlig andere Einstellung ist bei den alten Kadern zu beobachten, die inzwischen in Belarus die Macht weitgehend wieder in ihre Hand gebracht haben: Diese wollen die zurückgewonnenen Positionen durch eine "Wiedervereinigung" mit Rußland befestigen. Ihnen gilt ein deutliches imperiales Interesse der russischen Seite am eigenen Land geradezu als Gewähr dafür, daß sie auf Rückhalt gegen die innerstaatlichen Herausforderer rechnen können. Folgerichtigerweise stehen sie in direktem Einvernehmen mit der Moskauer Fundamentalopposition gegen Jelzin. Diesem Haltungsunterschied gegenüber Moskau entspricht ein ebensolcher gegenüber den Staaten des Westens. Während man in Kiew und in den unabhängigkeitsbewußten Kreisen von Minsk an der Entwicklung von Verbindungen zum Westen interessiert ist, setzten einige prorussische Gruppen in der Ost- und Südukraine sowie die zur Macht zurückstrebende Nomenklatur in Belarus auf eine antiwestliche Orientierung. Unter den politisch führenden Personen und Gruppen Rußlands gibt es eine derzeit noch unentschiedene Kontroverse darüber, ob sich das Land dem Westen zuwenden oder aber irgendeinen eigenen Sonderweg wählen soll. Für die Fundamentalopposition gegen Jelzin, die diesem unter anderem seine Rolle bei der Auflösung des Imperiums vorwirft, kommt eine Westorientierung von vornherein nicht in Frage. Sollte diese Richtung, die in der letzten Zeit bereits einen gewissen Einfluß auf die russische Außenpolitik ausgeübt hat, die Macht im Lande an sich reißen, so würde dies zugleich die Hinwendung zu einem imperialen Revisionismus bedeuten. An diesem Punkt kulminiert die Sorge, welche die Verfechter einer nationalen Unabhängigkeit in den nicht-russischen Hauptstädten der früheren UdSSR hegen. Auch die Führungen vor allem Polens und Ungarns fürchten, daß von Wiederbelebung imperialer Tendenzen in Rußland eine Bedrohung ihrer Sicherheit ausgehen könnte. Die Gefahr, die von den imperial-revisionistischen Bestrebungen der radikalen Gegner Jelzins ausgeht, wird von den Führungen verschiedener Länder als eine schon jetzt durchaus aktuelle Bedrohung wahrgenommen. Sorge ruft von Moskau bis Kiew und Budapest das inzwischen offen bekundete Einverständnis der alten Kader in Minsk mit der Gruppierung Chasbulatows hervor, Belarus an Rußland anzuschließen, um so eine Reichsbildung unter reaktionärem Vorzeichen einzuleiten. Die ukrainische Unabhängigkeit wird - zum Entsetzen der Visegrad-Länder - nicht nur von außen, sondern auch von innen - durch koordinierte Machenschaften der in Moldova stehenden russischen 14. Armee, der unter

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ihrem Schutz stehenden "Dnjestr-Republik" und russisch-kommunistischen Kreisen auf der Krim, im Räume Odessa und in der Donbass-Region bedroht. In Warschau, in Budapest und in den anderen mitteleuropäischen Hauptstädten sieht man in der NATO die einzige zuverlässige Garantie, die diese und andere Sicherheitssorgen umfassend beheben könnte. Eine Erfüllung der Hofmungen auf Mitgliedschaft im westlichen Bündnis steht allerdings der Umstand gegenüber, daß die der NATO angehörenden Länder bisher keine Neigung gezeigt haben, die Allianz zu erweitem und neue Sicherheitspflichten zu übernehmen. Aufgrund der so erzwungenen Bündnislosigkeit sehen sich die mitteleuropäischen Länder in einer "Zone verminderter Sicherheit", deren Überwindung durch eine Erweiterung der NATO die westlichen Regierungen verweigern. Die angebotene Ersatzlösung der Zusammenarbeit im NATO-Kooperationsrat wird zwar wahrgenommen, aber nicht für ausreichend erachtet. Mit einer Enttäuschung sehen sich die mitteleuropäischen Länder auch durch die EG konfrontiert. Sie halten es um ihrer inneren Konsolidierung und um der Herstellung eines stabilen zwischenstaatlichen Sicherheitszustandes willen für notwendig, großzügige Möglichkeiten des Exports nach Westeuropa und die Perspektive eines baldigen EG-Beitritts zu erhalten. Auch hier führt ablehnende westliche Haltung zu Frustration in den um Transformation und Reform ringenden Staaten. Der Wunsch der mitteleuropäischen Länder nach engen Verbindungen zum Westen ist nicht allein auf pragmatische Überlegungen zurückzuführen. Vielmehr kommt darin auch das Gefühl einer lange unterbrochenen und daher dringlich wiederherzustellenden Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Kulturkreis zum Ausdruck, das in der Formel von der "Rückkehr nach Europa" seinen prägnantesten Ausdruck gefunden hat. Aus diesem Grund - und auch weil man keine Alternative zu den im Westen winkenden Entwicklungs- und Sicherheitsvorteilen erkennen kann - lehnt man in Warschau. Prag, Bratislava und Budapest jeden Gedanken an eine selbstgenügsame und dauerhafte regionale Organisation Mitteleuropas - allein oder auch zusammen mit weiter östlich gelegenen Ländern - kategorisch ab. Gelegentliche Anregungen aus dem Westen, daß vielleicht irgendein funktionelles Äquivalent des früheren Warschauer Pakts und/oder des einstigen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, natürlich mit veränderter Struktur und eventuell auch mit veränderter Zusammensetzung, nützlich sein könnte, stoßen auf taube Ohren. Die Gruppierung von Visegrad gilt den Beteiligten lediglich als ein Vehikel, das es ihnen ermöglichen soll, schneller und besser die Voraussetzungen für den Anschluß an Westeuropa zu schaffen. Die ukrainische Anregung schließlich, einen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichenden Verbund zu schaffen, gilt selbst in Warschau und Budapest als den am stärksten an

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einem starken ukrainischen Staat interessierten Hauptstädten als nicht diskussionswürdig. Dabei mag freilich auch mitsprechen, daß man sich nicht mit einem Projekt identifizieren möchte, das in Moskau als odiose Neuauflage des antisowjetischen "cordon sanitaire" der zwanziger und dreißiger Jahre angesehen werden dürfte. Das Vorgehen des serbisch-montenegrinischen Staates und seiner Helfershelfer ist ein großes Unsicherheitsmoment in Mittel- und Osteuropa. Auch dort, wo die im früheren Jugoslawien stattfindenden militärischen Aggressionen und ethnischen Säuberungen keine Bedrohtheitsgefühle wecken, zeigen sich weitreichende politisch-psychologische Wirkungen. Belgrad bietet einen nicht zu übersehenden Anschauungsunterricht darüber, daß, aller gegenteiligen Erklärungen der internationalen Staatenwelt ungeachtet, Versuche zur gewaltsamen Veränderung der territorialen Verhältnisse Erfolg versprechen. Es hat vor allem bei den am stärksten potentiell bedrohten Staaten wie der Ukraine einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, daß weder die NATO noch die EG fähig und/oder bereit sind, Anschläge auf die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa zu verhindern. Diejenigen politischen Kräfte, die ihr Vertrauen statt auf die internationale Gemeinschaft lieber auf zweifelhafte eigene Handlungsmöglichkeiten - wie etwa auf die wegen Tschernobyl zunächst allgemein abgelehnte nuklearmilitärische Option - setzen wollen, sind dadurch deutlich gestärkt worden. Ebenso ist damit zu rechnen, daß die extremistischen Vertreter der imperial-revisionistischen Tendenz in Rußland die serbisch-montenegrinische Lektion lernen. Das Ergebnis ist in jedem Falle eine Verstärkung der auf Destabilisierung hinwirkenden Tendenzen. Als unmittelbare Nachbarn der Belgrader Aggressoren sehen sich die Ungarn durch das Geschehen im früheren Jugoslawien einer direkten Bedrohung ausgesetzt. Da die ungarischen Streitkräfte nicht stark genug sind, um der hochgerüsteten serbisch-montenigrinischen Armee Widerpart bieten zu können, ist die Führung in Budapest genötigt, auf Konfliktvermeidung zu setzen und dabei manche Beeinträchtigung - wie insbesondere Verletzungen der ungarischen Grenze - ohne ernsthafte Gegenwehr hinzunehmen. Für die zunehmenden Bedrückungen ausgesetzte ungarische Minderheit in der serbischen Vojvodina kann sich Budapest nicht einsetzen. Es muß froh sein, wenn Belgrad nicht zu offener Vertreibung übergeht und damit eine Migration nach Ungarn auslöst, die das um ein inneres Gleichgewicht ringende Land möglicherweise destabilisieren würde. Für alle mittel- und osteuropäischen Länder hängt die Wahrung der äußeren Sicherheit entscheidend vom Grad der innerstaatlichen Kohäsion ab. Als nach außen schwächendes Moment hat nicht allein der innenpolitische Dissens über die Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu gelten, wie er - anders als insbesondere in Polen und in der Tschechischen Republik - vor allem in der Russischen Födera-

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tion und in Belarus, potentiell auch in der Ukraine zu beobachten ist. Von nicht geringerer Bedeutung ist das Ausmaß der Zuversicht, das die Führung den Bürgern bezüglich einer Entwicklung von Wirtschaft und Auskommen zu vermitteln imstande ist. Ein weiterer Faktor von größter Wichtigkeit ist, ob das Militär und gegebenenfalls auch andere Sicherheitskräfte sowie der vor allem auf den Boden der früheren UdSSR noch existierende militärindustrielle Komplex entschärft und/oder einer zuverlässigen politischen Kontrolle unterworfen sind. In dieser Hinsicht bieten namentlich die Russische Föderation und Belarus Anlaß zur Sorge, wo die Gefahr besteht, daß materiell und politisch frustrierte Teile der Streit- und Sicherheitskräfte zu Werkzeugen von gegen die legitime Staatsautorität bzw. die Unabhängigkeit arbeitenden Kräften werden. Der militärindustrielle Komplex, der bisher noch kaum durch Konversionsbemühungen reduziert worden ist, könnte ebenfalls zum Instrument extremistischer Gruppen werden. Eine weitere, von den politisch maßgebenden Kreisen zumindest in Moskau häufig vernachlässigte Bedrohung besteht für die Russische Föderation und die Ukraine darin, daß zentrifugale Tendenzen die Oberhand gewinnen und die staatliche Einheit zerstören könnten. In diesem Falle würde es mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu militärischen Verwicklungen kommen, die ganz Osteuropa und möglicherweise auch Teile Mitteleuropas in Mitleidenschaft ziehen würden. Die Wahrung der ukrainischen Unabhängigkeit hat unter anderem die Funktion, einer solchen Entwicklung im Südwesten der früheren UdSSR vorzubeugen, denn nur die Unabhängigkeit von Rußland bietet die Basis für einen Konsens, auf den sich der Osten, die Mitte und der Westen des Landes einigen können. Würde dieser Konsens zerbrechen, wäre die - ohnehin als reale Möglichkeit nicht auszuschließende - Intervention der russischen Seite mit allen daraus erwachsenden Konsequenzen unausweichlich. Dieser knappe Überblick über die Lage, die sich aus den in Ost- und Mitteleuropa existierenden Sicherheitswahrnehmungen ergibt, läßt das große Ausmaß der nach dem Ende der Ost-WestKonfrontation dort eingetretenen Labilität und Unsicherheit erkennen. Ein Abgleiten Osteuropas in Auflösung. Streit und Gewalt mit noch unabsehbaren Folgewirkungen für Mittel- und auch für Westeuropa, namentlich für Deutschland, läßt sich nur durch zweierlei verhindern: durch den politischen Erfolg der gemäßigten Kräfte in der Region und durch ein sehr ernsthaftes Bemühen von NATO und EG um die Stabilisierung der weiter östlich entstandenen Verhältnisse. Dabei besteht zwischen beidem eine Wechselwirkung. Wenn die westlichen Staaten sich weiterhin ihres Wohlstandes und ihrer Sicherheit erfreuen wollen, dann müssen sie sehr viel sensibler auf die Hilferufe reagieren, die an die NATO und an die EG gerichtet werden. Gerhard Wettig

49 Gerhard Wettig (ed.) Perceptions of Security and Threats in Eastern and Central Europe Bericht des BlOst Nr. 43/1993

Summary The present report describes the perception of external security among those groups involved in shaping political opinion and/or decision-making processes in the Russian Federation, Belorussia, the Ukraine, Poland, the Czech Republic, Slovakia and Hungary. "Security" is not meant exclusively in a military sense; other, often less tangible, threats will also be taken into account where these play a significant role in the minds of the people involved. The findings of the individual case studies summarized in this report (which for reasons of space could only go into the most important issues) are as follows: 1. Although many non-military Problems which had previously been neglected came to light following the end of the Cold War, very considerable attention is paid even today in Eastern and Central Europe to external security in the traditional sense. Alongside concerns about economic development and social stability, it shapes thinking about security, and other considerations generally play a secondary role. 2. The perception of foreign relations in the Russian Federation is shaped by the awareness that the empire was dismantled along with the Soviet Union. The number of people who see this change primarily as an opportunity for democratization, development and modernization has diminished radically. There is a growing tendency among old cadres and reformers alike to see the reduction of the State to the borders of what had been the Russian republic inside the USSR as an intolerable defeat. This view then translates into a demand for restoration of the old empire in one way or another. These groups subject Yeltsin and his government to severe criticism and strong pressure, which has taken its toll on official foreign policy. An imperialist-revisionist fundamentalist Opposition has arisen whose goal is to overthrow the "traitors" leading the country. Individuais and groups with imperialistrevisionist ideas are primarily interested in Russia's immediate neighbours (the "near abroad"), the states which have arisen on what was once Soviet territory, which they see as an exclusively Russian interest zone and whose independent existence seems equivalent to a threat to Russian interests. 3. In Belorussia as well, there are two conflicting attitudes and perceptions. The democratic-nationalist forces and President Shushkevich, who sees himself as a centrist, wish to preserve the independence of their country and therefore to avoid a close union - especially in military affairs - with the Russian Federation. These groups are very concerned by the prospect that imperialist-revisionist leaders could replace the Yeltsin government in Moscow. On the other hand, the cadres of the old Communist regime are recovering their strength and see the much desired guarantee for the position

50 they seek in domestic politics in the closest possible Union - even ultimately in reunification - with Russia. The understanding formed on this basis with the fundamentalist Opposition in Moscow is grounds for concern both for their domestic opponents in Minsk and for Russian President Yeltsin. 4. Within the CIS, the Ukraine has become the main Opponent of Russian attempts to make this institution into a lasting framework that binds the member states to each other and to Moscow. But these are not the only ambitions which, from Kiev's perspective, appear to threaten Ukrainian national existence. The Ukraine has noted with even greater concern that the Russian Federation has so far neglected to recognise Ukrainian borders unambiguously, that the Russian Supreme Soviet (which is dominated by Yeltsin's opponents) has even made overt territorial Claims to the Crimea, that the transfer of the entire Black Sea fleet forced by Moscow has a negative impact on Ukrainian independence, and that the 14th Army, which has to a great extent evaded official control, is protecting a Russian political structure on Moldavian soil in the Ukraine's hinterland. Kiev's greatest fear is that the anti-Yeltsin fundamentalist Opposition could seize power and the Ukraine would be faced not only with the economic and other pressures currently in place but would also have to deal with a massive and direct use of armed force. This would destroy all hope, which still exists in principle, of reaching an understanding. At the same time, there is ever clearer Support in Kiev - especially within the old establishment - for an association with Russia as the best possible guarantee for the Ukraine's future. If such a trend should predominate, one can expect serious internal conflict especially with Western Ukraine. 5. Two factors are of special importance in assessing the perception of a threat in the internal relations among the three successor states of the exSoviet Union. First there is the economic dependence of the two smaller states on the Russian Federation, especially with regard to the supply of oil. Second there is the presence on the territory of all three east Slavic states of nuclear weapons and their delivery Systems which used to belong to the Soviet Union. In Belorussia, even the democratic nationalist forces keen on independence see no alternative to a policy directed towards accommodation, which takes into account the Russian plan to withdraw the nuclear weapons and to form an economic union. A contrary trend can be seen to emerge in the Ukraine. While reservations concerning the originally announced policy of renouncing nuclear weapons are heard more often, as people begin increasingly to see the control of nuclear weapons as a political counterbalance to feared Russian attempts to reincorporate the Ukraine, the Kiev government is increasingly prepared to make economic concessions in the face of pressure, which is having catastrophic effects. At the same time, the Ukrainian leadership is assessing the international Channels open to it to fend off the Russian threat. It would be happy to create a Baltic to Black Sea arrangement or to form the closest possible association with the EC and NATO, and, at the same time, it worries that the Western states might abandon Eastern Europe to Russia as the dominant or sovereign power. The Western reaction to Serbian activities in ex-Yugoslavia has greatly reinforced these fears.

51 6. In Poland, there continues to be a consensus that the wind-up of the Warsaw Pact has, for the first time, provided Poland with the basis for true independence and at the same time for external security. The subsequent dissolution of the Soviet Union also freed Poland from its constricting and potentially dangerous Position between two great powers, Russia and Germany. Polish policy has a vital interest in maintaining the Status quo. As a result, Warsaw seeks to establish the best possible relations with the states in the territory of the ex-Soviet Union, regardless of the various differences and difficulties that exist between them, and considers any attempt by forces in Moscow to restore the former empire as, at least, an indirect threat to Polish security. In this connection, there is also the fear that the imperialist-revisionist forces in Russia might include the restoration of a sphere of influence in Central Europe as one of their longer term goals. Poland is unambiguously seeking ties with the West and views the closest possible association with NATO, which should soon culminate in Polish membership, as an essential guarantee for its security. At the same time, it is considered necessary for Poland to be included in the EC. 7. The Czech Republic and to a large extent Slovakia as well - although, as its foreign policy is not yet clearly established, this can only be stated tentatively - see themselves to be in a "zone of diminished security" as long as they are not allowed to join NATO and their security cannot be guaranteed by it. It is also clear that both countries, but especially the Czech Republic, are seeking membership in the EC not only as a guarantee for participation in Western European trade and in Western European development, but also as an opportunity to consolidate both their domestic and foreign policies. 8. In Hungary as well, the feeling of having been forced into a "zone of diminished security" is strong, to the extent that their determined efforts to establish links to NATO are resisted, as has happened with Poland. The dominant impression in Budapest is that Hungary is in a particularly exposed Position in the Central European area. The Hungarian government is extremely concerned by the exposed Position of large Hungarian minorities in neighbouring states, especially in Slovakia and Romania, by Serbian wars of aggression in ex-Yugoslavia which threaten the whole region at least indirectly, by increasing evidence of instability in the Balkans generally, by the disunity and inactivity of the Western states in the face of challenges south of the Hungarian border and by the dangers facing Croatia, the Ukraine and the pact between the West and Turkey. 9. Looking at Eastern and Central Europe as a whole, it becomes clear that relations among the states - where they are not affected by the numerous conflicts and thus also by uncertainties of a local or regional character are encumbered by problems arising from the collapse of the two multi-ethnic empires: the Soviet Union and Yugoslavia. The most serious threats perceived in Eastern and Central European capitals are due to more or less intense efforts by influential groups among the one-time imperial peoples either to restore the lost unity of their empires along with their own domination of the empire (as the Milosevic government was attempting at first and as the fundamentalist Opposition in Moscow proposes) or instead to expand their own ethnic and territorial domination at the expense of the other peoples of the old empire in order to achieve a centralized power base in this area that resembles an empire (as has since become Beigrade's policy). In Kiev, Warsaw

52 and Budapest, it is feared that Serbia's activities are merely further actions and developments of this kind in the Balkans greater explosions in the ex-Soviet Union, which would render security in Eastern and Central Europe - and presumably beyond well - an illusion.

a prelude to and to even any sense of this area as

Neuere Arbeiten aus dem Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien

Aufbruch im Osten Europas Chancen für Demokratie und Marktwirtschaft nach dem Zerfall des Kommunismus. Hrsg. vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1993, 388 S. Schriftenreihe des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien

Band 22: Radko Brach Die Außenpolitik der Tschechoslowakei zur Zeit der „Regierung der nationalen Verständigung". Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1992,177 S. Band 23 Oleg Bogomolow/Heinrich Vogel (Hrsg.) Rußland und Deutschland Nachbarn in Europa. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1993,238 S. Band 24 Marlis Sieburger Die Finanzautonomie der Unternehmen im Kontext der sowjetischen Wirtschaftsreformen. Auswirkungen des „Gesetzes über das staatliche Unternehmen". Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1993,199 S.