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German Pages 516 Year 1991
Peter Blickle (Hrsg.) Landgemeinde und Stadtgemeinde
Peter Blickle (Hrsg.)
Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa Ein struktureller Vergleich
Redaktion André Holenstein
R. Oldenbourg Verlag München 1991
C I P - T i t e l a u f n a h m e der Deutschen Bibliothek Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa : ein s t r u k t u r e l l e r Vergleich / P e t e r Blickle (Hrsg.). - M ü n c h e n : O l d e n b o u r g , 1991 ISBN 3-486-55886-2 N E : Blickle, Peter [Hrsg.] Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa : ein s t r u k t u r e l l e r Vergleich / P e t e r Blickle (Hrsg.). - M ü n c h e n : O l d e n b o u r g , 1991 (Historische Zeitschrift : Beiheft ; N.F., 13) ISBN 3-486-64413-0 N E : Blickle, Peter [Hrsg.]; Historische Zeitschrift / Beiheft
© 1991 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: R.Oldenbourg Graphische Betriebe G m b H , München ISBN 3-486-55886-2 Erscheint auch als Beiheft 13 der „Historischen Zeitschrift" mit der ISBN 3-486-64413-0
INHALT Vorwort des Herausgebers
1
Theoretisch-konzeptioneller Teil Kommunalismus. Begriffsbildung in heuristischer Absicht. Von Peter Blickte
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Dorfgemeinde und Stadtgemeinde zwischen Feudalismus und Kapitalismus. Von Günter Vogler
39
Kommunalismus als sozialer „common sense". Zur Konzeption von Lebenswelt und Alltagskultur im neuzeitlichen Gemeindegedanken. Von Wolfgang Kaschuba
65
Zum Feudalismusbegriff in der Kommunalismusdiskussion. Von Heide Wunder und Carl-Hans Hauptmeyer
93
Regional-vergleichender Teil Stadt- und Landgemeinde in Franken. Von Rudolf Endres . . .
101
Dorfgemeinde und Stadtgemeinde in Sachsen zwischen 1300 und 1800. Von Karlheinz Blaschke
119
Die Land- und Stadtgemeinden in den habsburgischen Ländern. Von Sergij Vilfan
145
Die ländliche Gemeinde im oberdeutsch-schweizerischen Raum. Von Peter Bierbrauer
169
Die städtische Gemeinde im oberdeutsch-schweizerischen Raum (1300-1800). Von Eberhard Isenmann
191
Die ländliche Gemeinde im mittleren Deutschland (vornehmlich 16.-18. Jahrhundert). Von Werner Troßbach
263
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Inhalt
Die städtische Gemeinde im mittleren Deutschland (1300-1800). Bemerkungen zur Kommunalismusthese Peter Blickles. Von OlafMörke
289
Die Landgemeinde im ostelbischen Gebiet (mit Schwerpunkt Brandenburg). Von Hartmut Harnisch
309
Die Stadtgemeinde im brandenburgischen Gebiet. Von Evamaria Engel
333
Die Landgemeinde in Norddeutschland. Von Carl-Hans Hauptmeyer
359
Systematischer
Teil
Die ländliche Gemeinde als Strukturprinzip der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Geschichte Mitteleuropas. Von Heide Wunder
385
Kommunale Genossenschaften als Träger des Rechts in Mitteleuropa. Von Dietmar Willoweit
403
Stadt- und Dorfgemeinden im territorialstaatlichen Gefüge des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Von Volker Press
425
Über das Verhältnis von ländlicher Gemeinde und christlicher Ethik: Graubünden und die Innerschweiz. Von Heinrich Richard Schmidt
455
Diskussionsbericht. Von André Holenstein, Beat Andreas Würgler
489
Kümin,
Abkürzungen
507
Anschriften der Autoren und Tagungsgäste
509
VORWORT Herkömmlicherweise werden in der Geschichtswissenschaft Stadt und Land als getrennte Welten beschrieben. Das gilt auch für die Geschichte Alteuropas, für jene Epoche, die das Spätmittelalter und die Frühneuzeit umspannt. Die übliche Trennung hat zweifellos ihre Berechtigung, rückt man die Formen des Wirtschaftens und davon abgeleitete Erscheinungen in den Vordergrund. Sie verliert freilich viel von ihrer Plausibilität, wenn man die Organisationsformen des ländlichen und städtischen Lebens näher betrachtet. Zeitgenossen des Spätmittelalters und der Frühneuzeit scheinen eine solche Einschätzung zu teilen, wenn sie den Begriff der „Gemeinde" zur Beschreibung städtischer und ländlicher Verbände gleichermaßen verwenden. „Landgemeinde" und „Stadtgemeinde" auf ihre „strukturellen" Gemeinsamkeiten hin zu befragen, stellt somit einen heuristischen Ansatz dar, der seine Evidenz aus der vorrevolutionären Zeit selbst bezieht. Vereinzelt haben Historiker auf solche Zusammenhänge hingewiesen, von Georg Ludwig Maurer bis Karl Siegfried Bader, sie konnten sich allerdings mit ihrer Betonung der Gemeinsamkeiten von Stadt und Land nicht durchsetzen, jedenfalls ist es ihnen nicht gelungen, die Gemeinde als Bauprinzip der vorrevolutionären gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu einer leitenden Fragestellung ihrer Disziplin zu machen. Zwar mangelt es keineswegs an Untersuchungen über Gemeinden, doch in der Spezialisierung der historischen Disziplinen in Agrargeschichte und Stadtgeschichte kamen deren Verwandtschaften nie richtig in den Blick. Der merkliche Aufschwung, den die Erforschung der bürgerlichen und bäuerlichen Gesellschaft im Zuge der Sozialgeschichte der letzten zwanzig Jahre genommen hat, erlaubt es heute, Landgemeinde und Stadtgemeinde unter vergleichender Perspektive auf einer soliden empirischen Basis zu untersuchen. Das war die Absicht einer Tagung, die vom 6.-9. März 1989 auf Schloß Reisensburg, gefördert von der Volkswagen-Stiftung und mitorganisiert von Herrn Rudolf Endres, stattgefunden hat. Die dort gehaltenen Referate werden hier vorgelegt, mehrheitlich in
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Vorwort
einer von den Autoren überarbeiteten Fassung. Daß sie als Beiheft der Historischen Zeitschrift veröffentlicht werden können, ist dem Interesse von Herrn Lothar Gall zu verdanken, der entgegenkommenderweise eine Anregung des Oldenbourg Verlags aufgenommen hat. Konzeptionell liegt den Beiträgen ein gemeinsamer Katalog von Fragen und Problemstellungen zugrunde, der sich gewissermaßen aufdrängt, zieht man das verfügbare Material aus Deutschland, der Schweiz und Österreich zu Rate - die eher vage räumliche Umschreibung „Mitteleuropa" soll das andeuten. Daß die relative Kohärenz der Beiträge die Diskussion um die damit verbundenen Probleme nicht zu einem Abschluß bringt, sondern sie erst in Gang setzen dürfte, zeigt das Protokoll der Diskussion. P. B.
Theoretisch-konzeptioneller Teil
KOMMUNALISMUS BEGRIFFSBILDUNG IN HEURISTISCHER ABSICHT VON PETER BLICKLE
V O N „Kommunalismus" habe ich ausdrücklich und absichtlich erstmals in meiner Berner Antrittsvorlesung 1981 gesprochen. Der Begriff ruhte empirisch auf süddeutschem und österreichischem Material. Spätere Erweiterungen und Präzisierungen gingen Hand in Hand mit dem schrittweisen Einarbeiten in schweizerische Quellen. Daraus ließ sich für das Spätmittelalter und die Frühneuzeit ein strukturell gleich gestalteter Raum herausarbeiten, für den heutige Staats- und Ländergrenzen nichts bedeuten. Um ein Bild zu gebrauchen: die Eidgenossenschaft ist nur der Gipfel eines breiten Gebirgsmassivs. Es reicht vom Thüringer Wald bis an den Genfer See und von den Vogesen bis ins Land ob der Enns und deckt mindestens ein Drittel des Reichsgebiets zur Zeit Maximilians. Die Schweiz hat lediglich etwas bestätigt, was ich glaubte, im süddeutsch-österreichischen Raum gefunden zu haben. Was freilich die Schweizer längst wußten! Adolf Gasser hat in väterlich wohlwollender Weise den Begriff als sein geistiges Eigentum reklamiert, das er als solches bereits während des Zweiten Weltkrieges habe patentieren lassen, und zwar in Form einer Monographie, die in zweiter Auflage den Titel „Gemeindefreiheit als Rettung Europas" trug.1) Gasser wollte das „Massensterben europäischer Demokratien" erklären; das fand seiner Ansicht nach dort statt, „wo man an politische Freiheit nicht von altersher gewohnt war". Politische Freiheit setzt das „Ordnungsprinzip des Kommunalismus" voraus. Es gründet auf Freiheit und Recht, was „ein allgemeines und politisches soziales Vertrauen" schafft. „Auf dem Boden des Kommunalismus und des Selbstverwaltungsprinzips vermö') A. Gasser, Gemeindefreiheit als Rettung Europas. 2. Aufl. 1947.
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gen sich [...] Gefühle der sozialen Mißachtung und des sozialen Hasses nicht recht zu entfalten", im Gegenteil zwingt die Gemeindefreiheit „zu fortwährender Selbsterziehung", und damit wird die G e m e i n d e „eine Anstalt für Menschenbildung". Kühn lädt Gasser seinen Kommunalismus von Argument zu Argument mit mehr Moral auf. „Achtung vor den Lebensrechten des Schwächeren, der Glaube an das Gute und selbsttätig Verbesserungsfähige im Menschen" würden durch den „ K o m m u n a l i s m u s " gestiftet. Er sei der „Urquell des höchsten abendländischen Kulturwertes: des Humanitätsgedankens". „Individualfreiheit und Nächstenliebe", so triumphiert Gasser schließlich, sind „kulturschöpferische sittliche Kräfte", die in der „ k o m m u n a l e n Gemeinschaftsethik" angelegt sind. 2 ) Gasser entwickelt seinen Kommunalismusbegriff, wie unschwer zu erkennen ist, spekulativ. Der Kommunalismus als Begriff erfreut sich gegenwärtig einer bescheidenen Beliebtheit. Er wird verwendet im Zusammenhang mit Entwürfen der „Entstaatlichung" 3 ) oder einer „neuen Gesellschaft" 4 ), er wird getestet auf seine Brauchbarkeit in Abgrenzung zu „Genossenschaft" 5 ) und „Republikanismus" 6 ), er begünstigt alternative Begriffe wie „Territorialismus". 7 ) In allen Fällen setzt die 2
) Ebd. Die Zitate 8, 13, 19, 20, 25, 29. ) Th. Schmid, Gemeindefreiheit. Über die Kontinuität einiger staatsabgeneigter Traditionen, in: Ders. (Hrsg.), Entstaatlichung. Neue Perspektiven auf das Gemeinwesen. 1988, 117-136, bes. 130-133. 4 ) K.-L. Schibel, Das alte Recht auf die neue Gesellschaft. 1985. 5 ) D. Willoweit, Genossenschaftsprinzip und altständische Entscheidungsstrukturen in der frühneuzeitlichen Staatsentwicklung. Ein Diskussionsbeitrag, in: G. Dilcher - B. Diestelkamp (Hrsg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie. 1986, 126-138. 6 ) H. Schilling, Die deutsche Gemeindereformation. Ein oberdeutsch-zwinglianisches Ereignis vor der „reformatorischen Wende" des Jahres 1525?, in: Z H F 14, 1987, 325-332. 7 ) V. Press, Kommunalismus oder Territorialismus? Bemerkungen zur Ausbildung des frühmodernen Staates in Mitteleuropa, in: H. Timmermann (Hrsg.), Die Bildung des frühmodernen Staates - Stände und Konfessionen. 1989, 109-135. - Die Arbeit von Press stellt die bislang ausführlichste Auseinandersetzung mit dem Kommunalismus-Konzept von Seiten der deutschen Geschichtswissenschaft dar. - Die umfassendste kritische Würdigung neuerdings bei Th. A. Brady Jr., From the Sacral Community to the Common Man: Reflections on German Reformation Studies in: CEH 20, 1987, bes. 242-245. 3
Kommunalismus
- Begriffsbildung in heuristischer Absicht
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Diskussion bei dem von historischen Quellen abstrahierten Begriff an. 8 ) Ihn 9 ) genauer inhaltlich zu füllen, soll mein heutiges Geschäft sein. 1. Definition durch Abstraktion Weshalb verwenden die historisch arbeitenden Geistes- und Sozialwissenschaften Begriffe wie „Feudalismus", „Absolutismus", „Kapitalismus"? Sie tun es in der Absicht, das Signifikante einer Epoche abzubilden. Solche Epochen definieren sich durch ihnen eigene institutionelle Ausprägungen, durch ihre unverwechselbare gesellschaftliche Grundlage, durch ein System anerkannter Normen und Werte und schließlich durch eine in der Epoche selbst erfolgende Reflexion auf die institutionellen, gesellschaftlichen und normativen Grundlagen in Form einer „Theorie". „Großbegriffe" dieser Art haben in der Regel eine begrenzte Reichweite, sei es räumlich, sei es sachlich. Mit „Absolutismus" ist kein Staat zu machen in England, Skandinavien, den Niederlanden, der Eidgenossenschaft und in vielen Territorien des Heiligen Römischen Reiches. „Feudalismus" hat sich in der deutschen Geschichtswissenschaft nicht so recht durchsetzen können, nicht nur weil er durch seine marxistische Ausweitung und Generalisierung zu einem „Reizbegriff" geworden ist, sondern weil er eine Reihe konkreter Erscheinungen - etwa das Städtewesen oder den Humanismus nicht restlos befriedigend integrieren kann. Kurzum: „Begriffe" dieser Art haben immer auch ihre Gegner. Nichtsdestoweniger sind sie unentbehrlich, will man überhaupt geschichtliche Vergangenheiten „begreifen". s
) W. Eberhard, Kommunalismus und Gemeinnutz im 13. Jahrhundert. Zur Ausbildung einer Stadträson und ihrer Bedeutung in der Konfrontation mit der Gemeinde, in: F. Seibt (Hrsg.), Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Bosl zum 80. Geburtstag. 1. Bd. 1988, 271-294. - In bezug auf die Reformation diskutiert bei H.-J. Goertz, Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517-1529. 1987, 240-244. ®) Den Kommunalismus-Begriff habe ich schrittweise, im wesentlichen in drei Studien entwickelt und präzisiert: Der Kommunalismus als Gestaltungsprinzip zwischen Mittelalter und Moderne, in: N. Bernard - Q. Reichen (Hrsg.), Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Ulrich Im Hof. 1982, 95-113. - Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil. 1985, bes. 165-204. Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus, in: HZ 242, 1986, 529-556.
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Peter Blickte
Die Redeweise vom „Kommunalismus" unterstellt - dies vorausgeschickt - , daß es in Dörfern und Tälern, Städten und Märkten gemeinsame institutionelle, gesellschaftliche und normative Ausprägungen gegeben habe. Mein Demonstrationsobjekt ist der eingangs skizzierte Raum - Oberdeutschland nennen ihn die Zeitgenossen. Auf dieser empirischen Basis ruhen die folgenden „Abstraktionen" über institutionelle Formen (1), gesellschaftliche Grundlagen (2) und normative Ausprägungen (3) kommunaler Ordnung. 1.1 Institutionelle Formen kommunaler Ordnung Zu den Institutionen in Dörfern, Tälern, Märkten und Städten gehören - vereinzelte Abweichungen eingeräumt - die Gemeindeversammlung, eine kollegial organisierte Verwaltungsbehörde und das Gericht.10) Gemeindeversammlungen werden in der Regel periodisch abgehalten, meistens einmal jährlich. Auf dem Land finden anläßlich solcher Gemeindeversammlungen die Wahlen in jene Ämter statt, die die Gemeinde zu vergeben hat oder für die ihr ein Mitspracherecht zusteht; die kommunalen Rechnungen werden abgehört; Gebote und Verbote werden erlassen; gelegentlich sind Gerichtstage damit verknüpft. In der Stadt sind die gemeindlichen Kompetenzen regional unterschiedlicher, in der Regel auch komplizierter - vornehmlich durch das Dazwischenschalten der Zünfte als Wahlkörper - , doch ist die „Wahl eines jährlich wechselnden Rates durch die Bürgergemeinde" 11 ) keine Seltenheit. Darüber hinaus tritt die Gemeinde bedarfsweise in außerordentlichen Fällen zusammen, vor allem dann, wenn weiterreichende Entscheidungen zu treffen sind. Die Beschwerdeschrift eines Dorfes an die Herrschaft erfordert einen Beschluß der Gemeindeversammlung. Das Bündnis zweier Städte muß in der Regel von der Gemeindeversammlung bestätigt werden. Gleiches gilt für neue statutarische Rechte auf dem Land wie in der Stadt. Im Dorf sind die Rechtsmaterien naheliegenderweise eng auf Fragen der Landwirtschaft bezogen, in der Stadt entsprechend auf solche des Marktes. In beiden Fällen kommen Rechtsbereiche hinzu, die sich aus der Enge in Dorf und Stadt erge10 ) Generell verweise ich auf die unter Anm. 9 genannten Arbeiten. Einige ergänzende Belege für die Städte sind nachgetragen. ") E. Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250-1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. 1988, 134.
Kommunalismus - Begriffsbildung in heuristischer Absicht
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ben, kurzum: die Regelung eines geordneten Zusammenlebens der Nachbarn. Auch über die Einführung der Reformation entscheidet die Gemeinde, nicht nur in der Stadt, sondern auch im Dorf. Zusammengefaßt: „Grundsätzlicheres", die Vergabe der Ämter auf der einen Seite, weitreichende und folgenreiche Bindungen wie Bündnis und Bekenntnis auf der anderen, entscheidet die Gemeindeversammlung. Kollegial organisierte Verwaltungsbehörden, um diesen modernen und damit nicht ganz angemessenen Ausdruck zur Veranschaulichung zu verwenden, bilden ländliche Gemeinden, je nach ihrer Größe, in der Figur der „Vierer", der „Sechser", der „Zwölfer" oder auch des gelegentlich sogenannten „Rates" aus. Sie entsprechen dem „Rat" in der Stadt, der sich mit zunehmenden Amtsgeschäften in „großen" und „kleinen" oder „geheimen" Rat sondert. Die anstehenden Geschäfte werden kollegialisch entschieden und die Entscheidungen als Gebote und Verbote oder Mandate ausgebracht, zu deren Durchführung verschiedentlich eigene Ämter ausgebildet werden: Flurschütz und Forstwart im Dorf gehören dazu wie Büttel und Steuereinzieher in der Stadt. Es gehört zu den Aufgaben solcher und anderer Ämter, das Alltägliche zu regeln, Holz zuzuteilen, Allmenden auszuzeichnen, den Wochenmarkt zu überwachen, den Betrieb in Badstuben zu kontrollieren, Brände zu verhindern, Schlägereien zu vermeiden. Auf einen zeitgenössischen Begriff gebracht: es geht um die Erhaltung „guter Polizei".12) Ein Dorf, ein Tal, ein Markt, eine Stadt verfügen über ein Gericht. Bekanntermaßen sind Verwaltung und Rechtspflege in der ständischen Gesellschaft nicht scharf getrennt. Besonders kommt das in der Stadt zum Ausdruck, in der „das Gericht völlig in die Hand des Rates und unter die Leitung von Ratsherren (Gerichtsherren) gelangt war".13) Daraus ergibt sich, insofern der Rat die Gemeinde repräsentiert, auch eine gewisse Bindung des Gerichts an die Gemeinde. Sie drückt sich darin aus, daß der Vorsitzende im Gericht, der Schultheiß, von einem Organ des Stadtherrn zu einem solchen der Stadtgemeinde wird. Im ländlichen Bereich sind die Verhältnisse, wie so oft, einfacher: die Trennung vom Amt der „Vierer" oder „Sechser" ist eindeutiger; der gemeindliche Bezug enger, weil die Mitglieder des Ge12 ) Vgl. dazu H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre. 2. Aufl. 1980. ") Isenmann, Stadt (wie Anm. 11), 161.
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richts von der Gemeinde gewählt, vorgeschlagen oder aus der Gemeinde durch die Richter selbst kooptiert, gelegentlich auch durch die Obrigkeit bestimmt werden. Zweifellos trägt das Gericht unter allen kommunalen Institutionen am ausgeprägtesten herrschaftliche Züge. Das ist einsichtig, weil die Gewährleistung von Recht zu den vornehmsten Herrenpflichten gehört. Die Rechtsmaterien, die vor ihm verhandelt werden, machen es gleichzeitig aber auch zu einer kommunalen Einrichtung, weil es über die Übertretung jener statutarisch festgesetzten Normen verhandelt, die von der Gemeindeversammlung oder ihrem repräsentativen Organ, dem Rat, erlassen worden sind. Vielleicht steckt hinter dem Rechtssprichwort „Bürger und Bauer scheidet nichts als die Mauer" mehr an spätmittelalterlichfrühneuzeitlicher Lebenserfahrung als wissenschaftliche Rekonstruktionsversuche bislang freizulegen vermochten. Die Trennung der abendländischen Welt in eine solche der „Ökonomik" und eine solche der „Chrematistik" 14 ), eine bäuerlich-adelige und bürgerlichstädtische verliert viel von ihrer Überzeugungskraft, betrachtet man ein Dorf und eine Stadt von innen. Kommunalismus - um ein erstes Ergebnis über den institutionengeschichtlichen Aspekt des Themas zu formulieren - bildet nicht das Abstraktum für beliebig unterschiedliche Formen von Gemeinden, sondern für „politisch verfaßte" Gemeinden, die über eine Grundausstattung an Satzungs-, Gerichts- und Strafkompetenz verfügen. In diesem Sinne sind, um in der staatsrechtlichen Terminologie der altständischen Gesellschaft zu sprechen, nicht nur Städte, sondern auch Dörfer Ausdruck der societas civilis cum imperio. Satzungs-, Gerichts- und Strafkompetenz müssen ihren angemessenen institutionellen Niederschlag finden: von der Gemeindeversammlung, über den Rat und das Gericht bis zum städtischen Bürgermeister und dörflichen Ammann. Der Begriff Kommunalismus verlangt auch, daß der gemeindliche Bezug dieser Institutionen gesichert ist. Das muß nicht immer in Form der Wahl der städtischen und dörflichen Amtsträger durch die Gemeinde geschehen, doch Grundformen eines Repräsentationsverständnisses müssen erkennbar werden, die Amtsträger in der Stadt und im Dorf müssen sich auch als Vertreter ihrer Gemeinden verstehen. 14
) O. Brunner, Das „Ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik", in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. 1968, 103-127.
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Zu den wichtigsten definitorischen Merkmalen des. Kommunalismusbegriffs gehört schließlich, daß die in den Gemeinden und namens der Gemeinde ausgeübten politischen Rechte nicht allein als herrschaftlich delegierte Rechte erfaßt werden können. Kommunale Satzungs-, Gerichts- und Strafgewalt nehmen in diesem Sinn ihren Ausgang von der veränderten Arbeitsverfassung und den neuen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die sich mit dem Entstehen von Dorf und Stadt herausbilden. Neu entstandener Regelungsbedarf, den es zuvor in dieser Form nicht gegeben hatte, hilft mit, die gemeindliche Autonomie zu entwickeln und zu befördern. 1.2 Gesellschaftliche Grundlagen kommunaler
Ordnung
Die dichotomische Trennung von Dörflern und Städtern, Bauern und Bürgern, die den historischen Wissenschaften heute selbstverständlich scheint, bezieht ihre vermeintliche Evidenz aus verschiedenen Beobachtungen : der Bauer ist naturabhängig und naturverbunden, mit magischen Praktiken erzwingt er die gute Ernte und hält die Tierkrankheiten von seinem Vieh fern, ohne reflexives Bewußtsein zieht er, illiterat wie er ist, durch die immer gleichbleibenden, von Aussaat und Ernte, Alpauftrieb und -abtrieb geprägten Jahre. Der Bürger hingegen, marktorientiert und klug, lese- und schreibfähig und damit prädisponiert für die intellektuellere Form des Christentums in Form des Protestantismus, bricht aus diesem Kreislauf des ewig Gleichen aus. Inwieweit sich hinter dieser kontradiktorischen Gegenüberstellung von Magie und Rationalität das Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts seine eigene Identität wissenschaftlich bestätigt hat, muß hier nicht untersucht werden. Auffällig jedenfalls ist, daß den Zeitgenossen solche Zuspitzungen eher fremd waren. Die Bürger der Stadt St. Gallen und die Bauern des Appenzellerlandes haben während des ganzen 15. Jahrhunderts mit täglichen Vexationen und großen Kriegen dem Abt von St. Gallen ein Herrschaftsrecht nach dem anderen abgestrickt. 15 ) Bauern der württembergischen Dörfer und Bürger der württembergischen Städte tragen 15
) P. Blickte, Bäuerliche Rebellionen im Fürststift St. Gallen, in: P. Blickle, P. Bierbrauer, R. Blickle, C. Ulbrich, Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. 1980, 215-295.
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1514 den Aufstand des Armen Konrad gegen den Herzog.16) Die Bürger von Bozen und Meran vertreten mit den Südtiroler Bauern die gleichen Forderungen gegenüber König Ferdinand auf dem Innsbrucker Landtag 1525.17) Durch die enge Kooperation der Stadt Chur mit den Talschaften am Hinterrhein und im Engadin wird aus dem Hochstift Chur im Verlauf des 16. Jahrhunderts die Republik Graubünden. 18 ) In solchen Aktionen wird erkennbar, daß Bürger und Bauern etwas Gemeinsames verband, mindestens in dem Sinn, daß sie sich in einer gewissen Übereinstimmung in ihren Handlungen gegenüber „der Herrschaft" befanden. Das konnte der Herzog von Württemberg oder der Erzherzog von Österreich, der Bischof von Chur oder der Abt von St. Gallen sein. Bürger und Bauern wenden sich gegen „Herren", gegen die „Herrenstände" Adel und Geistlichkeit. Das Gemeinsame von Bürgern und Bauern besteht, sucht man es über die Kategorisierung der Ständelehre zu beschreiben, darin, daß sie nicht zu den Herrenständen gehören. In der zeitgenössischen Terminologie heißt diese unter Adel und Geistlichkeit liegende gesellschaftliche Gruppe vom 15. bis zum 18. Jahrhundert „gemeiner Mann". 19 ) Das Wort selbst wird nicht nur taktisch und strategisch in pejorativer Absicht von den Obrigkeiten verwendet, es dient durchaus auch Bürgern und Bauern, sich in einer ständischen Gesellschaft selbst zu lokalisieren. 20 ) Der gemeine Mann dürfte keine deutsche, geschweige denn eine oberdeutsche Eigentümlichkeit sein. Der „dritte Stand" hat eine ähnliche begriffliche Fixierung in den englischen „commons" gefunden, und seine engen Bezüge ") W. Grube, Der Stuttgarter Landtag 1457-1957. Von den Landständen zum demokratischen Parlament. 1957, 79. ") Mehrfach belegt in F. Dörrer (Hrsg.), Die Bauernkriege und Michael Gaismair, 1982. 1S ) W. Schaufelberger, Spätmittelalter, in: Handbuch der Schweizer Geschichte. 1. Bd. 1972, 286 f. ") Programmatisch habe ich den Begriff erstmals in meiner Untersuchung Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes. 1973, 27, verwendet. Hier wird aufgrund eines breiten, über den gesamten oberdeutschen Raum vom 15. bis zum 18. Jahrhundert reichenden Materials das Polarisieren des Begriffs auf Herrschaft (Obrigkeit) als das definitorische Merkmal herausgehoben. An diesem Eindruck halte ich weiterhin fest. - Für die Modifikationen für den städtischen Bereich vgl. zuletzt H. R. Schmidt, Reichsstädte, Reich und Reformation. Korporative Religionspolitik 1521-1529/30. 1987, 32 f. 20 ) P. Blickle, Die Revolution von 1525. 2. Aufl. 1981, 191-195.
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zur Gemeinde bestätigt die französische Entsprechung „tiers état", denn die „Urwähler" für Repräsentanten des tiers état in den General- und Provinzialversammlungen Frankreichs sind Städte und Pfarreien, also Gemeinden. Über die Etymologie des Wortes gemeiner Mann weiß man bis heute wenig. Als starke Vermutung darf immerhin ins Feld geführt werden, daß er die laboratores der Ständelehre ersetzt; laboratores hebt auf Handarbeit a,b, unterscheidet jedoch nicht zwischen landwirtschaftlicher und handwerklicher Arbeit. 21 ) Die häufig synonyme Verwendung von „gemeiner" Mann und „armer" Mann ließe sich als Eindeutschung der mittelalterlichen potens-pauper-Redeweise deuten, die pauper und „beherrscht" gleichsetzt. 22 ) In beiden Ableitungen - falls sie richtig sein sollten - wird der gemeine Mann über ihm eigene Defizite erfaßt: er ist von Herrschaft ausgeschlossen. Seit dem 14. Jahrhundert ist verbreiteter auch ein anderer Verwendungsmodus von gemeiner Mann nachweisbar. Was gemeint ist, sei am Bündnis der Städte und Länder Zürich, Luzern, Uri, Schwyz und Unterwaiden von 1351 erläutert. Im Falle von Streitigkeiten zwischen zwei „Orten", sprich Gemeinden, soll jede der beiden streitenden Parteien „zwen erber man dazü setzen [...]; dieselben vier sullend dann schwerren zu den heiigen, die sach und die stöss unverzogenlich uszerichten ze mynnen oder ze dem rechten [...]. Wer aber, das die vier, so darzä benent werdent, sich gelich teiltin und stôssig wurdin, so sùllent si [...] inwendig ùnserr eidgnosschaft ein gemein man zfi in kiesen und nemen, der si in der sach schidlich und gemein dunk". 23 ) An diesem Beleg ist wichtig, daß der gemeine Mann als Urteiler in einem „nicht-herrschaftlichen" Kontext begegnet. Der gemeine Mann ersetzt den König als letztrichterliche Instanz. Alle bekannten Verwendungsmodi von gemeiner Mann ziehen die Demarkationslinie also zu traditionaler „Herrschaft". 21
) Hinweise bei O. G. Oexle, Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters, in: W. Schulze (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. 1988, 19-51, hier 46 f. 22 ) K. Bosl, Potens und Pauper. Begriffsgeschichtliche Studien zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter und zum „Pauperismus" des Hochmittelalters, in : Ders., Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. 1964, 106-134. 23 ) Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Abt. I Urkunden. Bd. 3 / 1 . Hälfte. Bearb. von E. Schudel, B. Meyer, E. Usteri. 1964, Nr. 942, 600-618, hier 610 (Nidwaldner Fassung).
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Wenn gemeiner Mann aber eine Fortschreibung von laboratores sein sollte, dann bezeichnet er auch einen „Stand". Dieser Stand ist jedoch nicht der gesamte „Rest" der Gesellschaft gegenüber den Herrenständen Adel und Geistlichkeit, in dem Maße wie sich unterständische oder randständische Gruppen herausbilden - Reisläufer und Söldner, Fahrende und Bettler, Vaganten und Spielleute 24 ) - , wird der gemeine Mann über seine ordentliche, regelmäßige Arbeit definiert, und sie drückt sich aus in der „Ehrbarkeit", der „Haushäblichkeit", im „Haus". Ein Haus in der Stadt oder ein Hof im Dorf sind die Voraussetzung, um zur Gemeinde gehören zu können. Bezieht man diese Überlegungen auf die institutionellen Formen der Gemeinde, so ergibt sich, daß sich der „dritte Stand", der gemeine Mann, im Gehäuse der Gemeinde seine eigene, und das heißt eine gänzlich neue Form politischer Organisation schafft. Jede kohärente gesellschaftliche Gruppe entwickelt ihre eigenen Normen und Werte. Das gilt auch für die kommunal organisierte Gesellschaft. 1.3 Normative Ausprägungen kommunaler
Ordnung
Über Normen und Werte der verschiedenen gesellschaftlichen Großgruppen ist wenig bekannt. Noch vergleichsweise viel weiß man über den Adel, einiges über das Bürgertum, nahezu nichts über die Bauern. 25 ) Annäherungen und Vermutungen müssen vorläufig Stringenz und Evidenz ersetzen. Wenn der gemeine Mann mehr ist als eine ungefähre Redensart, er vielmehr Bauern und Bürger begrifflich vereinigt, und wenn die kommunalen institutionellen Ausprägungen vom Dorf bis zur Stadt mehr sind als zufällige Analogiebildungen, sich in ihnen viel24
) Die Ineinssetzung der Begriffe „gemeiner Mann" und „Gemeindsmann", wie sie R. Lutz, Wer war der gemeine Mann? Der dritte Stand in der Krise des Spätmittelalters. 1979, 61-69, vornimmt, dürfte falsch sein, so verführerisch es auch wäre, diese Hypothese zur Verstrebung der hier vorgetragenen Überlegungen einzubeziehen. " ) Darstellung und Bewertung des Forschungsstandes bei P. Münch, Grundwerte der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft? Aufriß einer vernachlässigten Thematik, in: W. Schulze (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. 1988, 53-72. - Eine Ausnahme machen die Untersuchungen zu mediterranen Dorfgesellschaften durch die Sozialanthropologie, vgl. dazu M. Dinges, Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte, in: Z H F 16, 1989, 409-440, bes. 4 1 7 ^ 2 4 .
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mehr ein gemeinsames Bauprinzip v o n G e m e i n d e n ausdrückt, dann hat die Suche nach N o r m e n und Werten dieses gesellschaftlich und institutionell Gemeinsame aufzuspüren. Frieden ist eine leitende Kategorie für kommunale Ordnungen. Für Oberschwaben etwa läßt sich bei quantifizierender Auswertung der Dorfordnungen zeigen, daß in 80% der Fälle die Friedewahrung einen prominenten Platz in den Statutarrechten einnimmt. 2 6 ) Nicht anders ist das bekanntermaßen in der Stadt. 27 ) Der naheliegende Einwand, hier werde eine Banalität zur N o r m stilisiert, weil die Friedenssicherung per definitionem zu jedem Gemeinwesen gehöre, läßt sich mit folgenden Überlegungen wohl in Frage stellen: Nicht nur die Geschlechtertürme von Regensburg zeigen, daß der Frieden keineswegs zur Grundverfassung der Stadt gehörte, sondern zahllose Gemeinde- und Ratsbeschlüsse in den Städten vom 13. bis 15. Jahrhundert versichern, daß viel eher die Fehde und mindere Formen der Gewalttätigkeit den Lebensrhythmus der Bürger prägten. 28 ) Für das Land läßt sich ähnliches belegen; in der Innerschweiz entstehen politische Verbände wie Uri und Schwyz als Gegenbewegung zu zahlreichen Fehden der dort ansässigen Geschlechter. 29 ) Die eidgenössischen Bünde der Orte, einschließlich der sogenannten „Gründung" von 1291, verfolgen keinen anderen Zweck 26
) P. Gehring (Hrsg.), Nördliches Oberschwaben (Württembergische Ländliche Rechtsquellen 3). 1941. - Von diesem Erscheinungsbild gibt es gelegentlich im oberdeutschen Raum Abweichungen. Begründungen und Überlegungen bei P. Blickte, Die staatliche Funktion der Gemeinde und die politische Funktion des Bauern, in: Ders. (Hrsg.), Deutsche Ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung. 1977, 205-223. 27 ) H.-Ch. Rublack, Political and Social Norms in Urban Communities in the Holy Roman Empire, in: K. von Greyerz (Hrsg.), Religion, Politics and Social Protest. Three Studies on Early Modern Germany. 1984, 24-60. 28 ) Vgl. etwa für Zürich die Belege bei H. Zeller-Werdmüller - H. Nabholz (Hrsg.), Die Zürcher Stadtbücher des XIV. und XV. Jahrhunderts. 3 Bde. 1899-1906, 1. Bd. Nr. 237, 91; 3. Bd. Nr. 106, 200. - Für Luzern F. Gtauser, Luzern und die Herrschaft Österreich 1326-1336. Ein Beitrag zur Entstehung des Luzerner Bundes von 1332, in: Luzern und die Eidgenossenschaft. Festschrift zum Jubiläum „Luzern 650 Jahre im Bund". 1982, 9-135. - Generalisierende Urteile, die die Verbindlichkeit der hier behaupteten Zusammenhänge stützen, bei Isenmann, Stadt (wie Anm. 11), 74ff. " ) Zur ersten Annäherung an das Problem vgl. A. Riggenbach, Der Marchenstreit zwischen Schwyz und Einsiedeln und die Entstehung der Eidgenossenschaft. 1965 und W. Koller, Die Urner Fehde der Izeli und Gruoba 1257/58. Wirklichkeit und Deutung in der Historiografie zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 1973.
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als den, die Fehde zu verhindern, den Frieden zu stiften. 30 ) Sie richten sich viel weniger gegen „außen" - gegen die Habsburger - , als vielmehr gegen „innen", die führenden Geschlechter. Über die Konsolidierung der Gemeinden, und nur über sie, wird allmählich und mühsam genug der Friede hergestellt. Kommunen verdrängen die Geschlechter; Frieden verdrängt die Fehde. Zunftsatzungen, Stadtrechte, Dorfordnungen veredeln ihre profanen Regelungen, indem sie ihnen häufig zur Legitimierung den gemeinen Nutzen umhängen. Der Gemeinnutz erfreut sich in der ländlichen und städtischen Gesellschaft großer Beliebtheit. Ihm geht es im wissenschaftlichen Diskurs wie dem Frieden : jedes Gemeinwesen sei auf Gemeinnutz, auf das bonum commune hin, angelegt, heißt es. Das läßt sich mit einem Blick auf die verfügbaren Quellen bezweifeln: Rechtsetzung in der Stadt und auf dem Land nämlich ist argumentativ viel enger mit dem Gemeinwohl verknüpft, als im Reich und in den Territorien, jedenfalls gilt das für das Spätmittelalter. 31 ) Mit wenigen Ausnahmen wird der Gemeinnutz auf Reichsebene nur in den Landfrieden, und zwar erst seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert genannt 32 ), sie ihrerseits jedoch verdanken viel dem Interesse der Bürger und - wie die Schweiz zeigt - auch der Bauern an einem friedlichen Leben. Mit dem Gemeinnutz argumentiert - so jedenfalls mein vorläufiger Eindruck - die städtische und ländliche Gesellschaft früher und umfassender als das Reich. 33 ) In der Stadt Bern gehört der Ge30
) Die Ausführungen basieren auf einer längeren Beschäftigung mit der Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft, deren Ergebnisse 1990 in Form einer Darstellung über „Friede und Verfassung. Voraussetzungen und Folgen der Eidgenossenschaft von 1291", herausgegeben vom „Historischen Verein der fünf Orte", erscheinen sollen. 3 ') Vgl. O. Brunner, Land und Herrschaft. Grundlagen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. 6. Aufl. 1970. - Friede und Recht sind nach seiner Untersuchung die Grundlagen politischer Verbände. 32 ) Ausgewertet wurden die Reichsabschiede (soweit deutschsprachig) nach der Ausgabe von E. A. Koch, Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede. 2 Bde. 1747. - Außer in Landfrieden wird vom gemeinen Nutzen (oder ähnlichen Varianten) gesprochen in der Goldenen Bulle, der Verordnung des Gemeinen Pfennigs von 1427 und der Reformation Kaiser Friedrichs 1442. Hingegen verwenden den Begriff (oder analoge Bildungen) die Landfrieden von 1389 (95 f.; alle Seitenverweise beziehen sich auf Bd. 1), 1398 (99 f.), 1431 (142), 1438 (158), 1466 (198, 201, 204), 1467 (225), 1474 (261). Die Reichsabschiede wurden bis 1495 durchgesehen. 33 ) Die Auswertung des Quellenmaterials ist äußerst aufwendig. Für die
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meinnutz seit 1350 zu einer geläufigen Begründungsfigur bei Bündnisabschlüssen, in Gerichts-, Markt- und Zunftordnungen. 3 4 ) In Oberösterreich wird er in den 77 überlieferten Taidingen des Spätmittelalters immerhin 11 Mal verwendet. 3 5 ) D e n Gemeinnutz zu fördern, wird zum legitimierenden Ausweis der Bündnisse der eidgenössischen Orte seit 13 1 5 36 ), er dient aber beispielsweise auch den Bauern v o n Arth am Vierwaldstätter See 1354 als Begründung für eine umfassende Allmendordnung der Gemeinde. 3 7 ) Etymologisch hat der in der Sphäre des Kommunalismus verwendete Gemeinnutz mit der rhetorischen Figur des b o n u m comm u n e der griechisch-lateinischen Antike nichts zu tun. 38 ) Repräsentative Erhebungen städtischer und ländlicher Rechtsquellen lassen drei Traditionsstränge erkennen. D e n ersten könnte man den lehenrechtlichen nennen, denn er ist eine Fortentwicklung der alten Formel ,Nutzen mehren und Schaden warnen', was der Vasall seinem Lehensherrn, der Bürger seinem Stadtherrn und der Bauer seinem Grundherrn verspricht. Dieser ursprüngliche ,Nutzen des Herrn' konnte zum „gemeinen" Nutzen dort werden, w o Städte und DörFortsetzung Fußnote von Seite 16 Durchsicht geschlossener edierter Quellenbestände für Basel, St. Gallen, Österreich (Taidinge) und das Wallis danke ich meinen Mitarbeitern Beat Kümin, Dr. Heinrich R. Schmidt und Andreas Würgler. " ) Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen. Abt. II: Die Rechtsquellen des Kantons Bern. Teil I: Stadtrechte. 12 Bde. 1939-1979, 1. Bd., 258; 3 Bd., 10, 165; 4. Bd. (1), 186, 241 ; 5. Bd., 68, 72; 7. Bd. (1), 348; 8. Bd. (1), 4, 6, 9, 109; 10. Bd., 247. - Die Rechte der „Landschaft" wurden nicht berücksichtigt; sie verzeichnen gleichfalls eine Reihe Gemeinnutz-Belege, wie eine kursorische Durchsicht ergeben hat. 35 ) Oberösterreichische Weistümer. 4 Teile (Österreichische Weistümer 12-15). 1956-1960. " ) Am leichtesten zugänglich über H. Nabholz - P. Kläui (Hrsg.), Quellenbuch zur Verfassungsgeschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Kantone von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3. Aufl. 1947, 5-71. 37 ) Abgedruckt bei R. Sidler, Die schwyzerische Unterallmendkorporation in ihrer rechtlichen Abgrenzung gegenüber dem alten und neuen Lande Schwyz seit 1353. Diss. jur. Zürich 1956, 88. 38 ) W. Eberhard, Der Legitimationsbegriff des „gemeinen Nutzens" im Streit zwischen Herrschaft und Genossenschaft im Mittelalter, in: J. O. Fichte u.a. (Hrsg.), Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongreßakten zum ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen 1984. 1986. 241-254. Eberhards Belege zeigen (ebd. 247 f.) drei Verwendungsformen, nämlich seitens der königlichen Legisten, der Staatstheoretiker und der ständisch-genossenschaftlichen Verbände. In den ersten beiden Fällen bildet das Referenzsystem die antike Staatsphilosophie, im letzten Fall nicht.
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fer, Kommunitäten, mehr und mehr die Rechte der Herren verdrängten. Auf den „gemeinen Nutzen" werden in der Regel die Amtsträger in Städten und Dörfern in ihrem Amtseid verpflichtet. ,Nutz und Ehre' heißt das zweite und ,Nutz und Notdurft' heißt das dritte der häufig verwendeten Begriffspaare, die im städtischen und ländlichen Kontext langsam zum gemeinen Nutzen fortgeschrieben werden. Der Transformationsprozeß der verschiedenen Nutzen in den gemeinen Nutzen entwickelt naturgemäß eine gewisse ideologische Sprengkraft, weil jeder „private" Nutzen, vornehmlich der der Herren und Großen, sich an seiner Verträglichkeit mit dem Gemeinen, dem Allgemeinen, der Gesamtheit, der Gemeinde messen lassen muß. Nicht umsonst wird er in den Aufstandsbewegungen der Reformationszeit einer der Leitbegriffe, um feudale Herrschaft anzufechten. Man wird - so denke ich - erst noch untersuchen müssen, ob nicht der Gemeinnutz in den Präambeln neuzeitlicher territorialer Polizei- und Landesordnungen einerseits eine Expropriierung der Bauern und Bürger durch den Fürsten darstellt, der sich so seine durch Aufstände gefährdete und durch das Reich ohnehin zweifelhafte Legitimität sicherte. Andererseits wäre zu klären, ob nicht erst durch Kaiserrecht und „republikanische" Ideologie der Reichsstädter das Zusammenfließen von deutschem Gemeinnutz und griechisch-römischem bonum commune in der Zeit des Humanismus möglich wurde. Gemeinnutz als Ideologie gemeindlicher Ordnung findet seine Entsprechung im kommunalen Subsystem der Häuser in Form der Hausnotdurft.39) Der Quellenbegriff besagt, daß jedem „ H a u s " eine seiner Größe und Ausstattung angemessene Auskömmlichkeit gewährleistet sein muß. Daraus erklärt sich, daß der Bauer Saatgetreide außerhalb des Marktzwangs kaufen kann und Holz einschlagen darf, soweit er es zum Bauen und Brennen benötigt. Die Gegenprobe läßt die grundrechtsähnliche Kategorie der Hausnotdurft noch deutlicher hervortreten. Der Adelige hat für seine Burg Anrecht auf Fronen, nicht aber zum Bau eines Stadtpalais oder zum Betreiben von Ziegelbrennereien oder Brauereien. ") R. Blickle, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. 1987, 42-64. - Dies., Nahrung und Eigentum als Kategorien in der ständischen Gesellschaft, in: W. Schulze (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. 1988, 73-93.
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Das übersteigt seine „Hausnotdurft" und darf vom Bauern nicht eingefordert werden. Die Hausnotdurft gehört zum Ensemble kommunaler Werte und Normen insofern, als sie die Existenz von Häusern voraussetzt, und sie gibt es recht eigentlich erst mit der Verstädterung und Verdorfung; erst jetzt werden Häuser auf feste Steinfundamente gebaut 40 ), verlieren damit ihre Beweglichkeit und ihren verbreiteten Charakter als Fahrhabe. Die Norm Hausnotdurft verfügt über eine erhebliche Abwehrsubstanz: abgewehrt werden nämlich soll, daß durch übermäßige Belastung die Arbeit umsonst getan ist. Wo immer das der Fall ist oder zu werden droht, ist nicht nur die Existenz bedroht, sondern auch die „Ehre". 41 ) Not polarisiert auf Nutzen, Nutzen und Ehre gehören - wie erwähnt - zusammen, und auch auf diese Weise läßt sich der gemeine Nutzen mit der Hausnotdurft verknüpfen. In der Logik der Präsumtion, daß Arbeit nicht umsonst getan sein darf, lag, den Anteil am Arbeitsertrag für sich selbst zu mehren, was nichts anderes heißen konnte, als den des Herrn zu schmälern. Gefährdet war der „Lohn der Arbeit" auf zweifache Weise: durch die Rente von Grund und Boden und die Unfreiheit der Person; das eine erlaubte, jährlich Teile des Arbeitsertrags abzuschöpfen, das andere am Lebensende Teile des durch Arbeit gewonnenen Vermögens, etwa Vieh, einzuziehen. Beides war letztlich nur zu verhindern, wenn Grund und Boden zu Eigentum wurden und personale Abhängigkeiten, Leibeigenschaft genannt, durch Freiheit verdrängt wurden. 42 ) Die Durchsetzung von Eigentum und Freiheit ist in der Stadt zuerst gelungen, sie findet aber ein vernehmliches Echo auf dem Lande: denn vom Spätmittelalter bis in die Frühneuzeit verbes40
) R. Sablonier, Das Dorf im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter. Untersuchungen zum Wandel ländlicher Gemeinschaftsformen im ostschweizerischen Raum, in: L. Fenske - W. Rösener - Th. Zotz (Hrsg.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein. 1984, 727-745. 41 ) Der Zusammenhang von Notdurft und Ehre ist für den deutschen Bereich nicht hinreichend aufgearbeitet. Anregende Überlegungen ergeben sich aus der Studie von H. Neveux, Die ideologische Dimension der französischen Bauernaufstände im 17. Jahrhundert, in: HZ 238, 1984, 265-285. *2) Für die Hauptlinien vgl. Blickte, Kommunalismus, Parlamentarismus (wie Anm. 9). Für die zeitverschobenen Parallelen zwischen Stadt und Land vgl. summierend die Nachweise bei P. Blickte, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800. 1988, 100-109.
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sern sich die Besitzrechte, von der jährlich befristeten Nutzung in Form der „Freistift" über das lebenslängliche „Leibrecht", gefolgt v o m „Erbrecht" bis zum zinsbelasteten „Eigentum" 4 3 ); und v o m Spätmittelalter bis in die Frühneuzeit wird kein Herrschaftsrecht so beharrlich und vehement attackiert wie die Leibherrschaft, und das mit doch bemerkenswerten Erfolgen. 4 4 ) D i e Fronen nehmen an Bedeutung ab, die Erbansprüche der Herren reduzieren sich v o m Halbteil oder Drittel der Verlassenschaft auf das beste Stück Vieh im Stall, das Verbot der ungenoßsamen Ehe wird durch praktische Freizügigkeit zu einem formalen Relikt aus der Zeit der mittelalterlichen Hofverbände. Der „labora-Imperativ" der Ständelehre hat im Gehäuse kommunaler Ordnung eine enorm modernisierende Brisanz entwickelt. Freiheit und Eigentum sind die normativen Fluchtpunkte für die arbeitenden Menschen - insofern Arbeit auf das Haus bezogen bleibt, gehört die Sicherstellung der Hausnotdurft zu deren Voraussetzungen; Frieden und Gemeinnutz sind die kollektiven Werte in D o r f und Stadt. 45 ) Wenn die Ist-Bestände verwirklichter N o r m e n und
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) Genauere zusammenfassende Untersuchungen fehlen, soweit ich sehe. Die Tendenz als solche vertritt und skizziert F. Lütge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. 2. Aufl. 1967, 176-181. Das landesgeschichtliche Schrifttum aus dem oberdeutsch-schweizerischen Raum belegt deutlicher die hier behauptete Linie. Vgl. etwa H. Wopfner, Beiträge zur Geschichte der freien bäuerlichen Erbleihe Deutschtirols im Mittelalter. 1903. - G. Kirchner, Probleme der spätmittelalterlichen Klostergrundherrschaft in Bayern, in: ZBLG 19, 1956, 1-94. P. Liver, Vom Feudalismus zur Demokratie in den graubündnerischen Hinterrheintälern. 1929. - P. Blickte, Grundherrschaft und Agrarverfassungsvertrag, in: H. Patze (Hrsg.), Die Grundherrschaft im späten Mittelalter. 1. Bd. 1983, 241-261. 44 ) Vgl. K. Gerteis, Auswanderungsfreiheit und Freizügigkeit in ihrem Verhältnis zur Agrarverfassung. Deutschland, England, Frankreich im Vergleich, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848. 1981, 162-182. - Ders., Auswanderungsfreiheit und Freizügigkeit in Deutschland. Das 18. und 19. Jahrhundert im Vergleich, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grundund Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. 1987, 330-344. 45 ) Zu den „Grund- und Freiheitsrechten" in der Stadt zählt Heinz Schilling: persönliche Freiheit, Schutz vor willkürlicher Verhaftung und „das Recht auf freie und ungeschmälerte Verfügung über den Besitz". Vgl. H. Schilling, Gab es im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Deutschland
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Werte massiv bedroht werden, wehrt sich die kommunal verfaßte Gesellschaft, indem sie gegen die als Tyrannei wahrgenommene Bedrückung ein „Naturrecht auf Defensión" geltend macht. Sie seien „höchst verursacht und getrungen worden, [...] hilf und zueflucht bei erlaubter, natürlicher defensión zu suchen", schreiben die aufständischen oberösterreichischen Bauern 1626 an den Kaiser, und zwar „auß schuldiger lieb gegen unserm lieben vatterland, eitern, weib und kinder auch natürlichen rechten nach anweisung und trib der natur selbsten, so allen thieren auf erden zu irer selbst erhaltung, hail, wolfart und sorgfaltigkeit eingepflanzet". 46 ) Das Stichwort „Widerstand" erlaubt, die institutionellen, gesellschaftlichen und normativen Grundlagen des Kommunalismus nochmals zu verzahnen und zu präzisieren. Aus wilder Wurzel oder durch die Aushöhlung älterer Hofverbände 47 ) - schafft sich der gemeine Mann in der Gemeindeverfassung ein institutionelles Gehäuse, das er durch Normen und Werte sichert, die den individuellen und kommunalen Bedürfnissen gleichermaßen Rechnung tragen. Aus der Konfliktforschung der letzten 10 bis 15 Jahre war zu lernen, daß städtische und ländliche Unruhen einen gemeinsamen Nenner haben: sie sind Auseinandersetzungen zwischen Gemeinden und Obrigkeiten. Konflikte entstehen, wo gemeindliche Rechte eingeschränkt werden sollen, aber auch dort, wo sie sich nicht erweitern lassen. Unruhen gibt es von 1300 bis 1800, das heißt, sie sind definitorisches Merkmal der Ständegesellschaft. Wo Obrigkeit direkt auf die Gemeinde trifft, steht sie unter einem ständigen Legitimationszwang. Er schwindet, je weiter Herrschaft von der bäuerlichen und bürgerlichen Gesellschaft entfernt ist: Der Kaiser kommt nie ins Visier der Kritik, das Reich ist nie gefährdet, immer jedoch sein feudaler Charakter. 48 )
Fortsetzung Fußnote von Seite 20 einen städtischen „Republikanismus"? Zur politischen Kultur des alteuropäischen Stadtbürgertums, in: H. G. Koenigsberger (Hrsg.), Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit. 1988, 101-143, hier 105. 4t ) F. Stieve, Der oberösterreichische Bauernaufstand des Jahres 1626. 2. Bd. 2. Aufl. 1905, 255-268, hier 266. 47 ) Vor allem in der Innerschweiz läßt sich dieser Prozeß besonders gut verfolgen. Er läuft in der Regel so ab, daß die Genossenschaft die herrschaftlichen Rechte ablöst und auskauft, und sich so in eine Gemeinde verwandelt. 48 ) Blickle, Unruhen (wie Anm. 42), 109.
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Die Begriffe, die der Historiker schafft, sind unscharf, sie haben offene Ränder, sie sind anfechtbar. Um so dringlicher ist es, sie gegenüber benachbarten Bezeichnungen abzugrenzen. Das ist - bekanntermaßen - ein mühsames Geschäft: von Bodin bis Montesquieu wurde argumentativ daran gearbeitet, den westeuropäischen Absolutismus vom osmanischen Despotismus abzugrenzen. Kommunalismus ist nicht, erstens, identisch mit Genossenschaft. Kommunalismus ist allenfalls ein Unterfall von Genossenschaft. Die Behauptung oder Unterstellung, Kommunalismus sei eine Begriffsbildung in profilneurotischer Absicht mit neidischem Blick auf Otto von Gierke, der das alles ohnehin schon besser gewußt und beschrieben habe, übersieht, daß Gierke die mit dem Wort Kommunalismus gemeinten Zusammenhänge eher fremd waren, und das aus mindestens drei G r ü n d e n : Er trennt die Stadtgemeinde scharf von der Landgemeinde, weil letztere - im Gegensatz zur Stadt - nicht auf dem Einungsprinzip beruhe; er unterscheidet die Landgemeinde von der Stadtgemeinde typologisch-genetisch, weil erstere in der frühmittelalterlichen Markgenossenschaft wurzele; die Genossenschaft des Spätmittelalters (und, soweit sie sich behaupten kann, die der Frühneuzeit) sei als freie Einung eine umfassende Erscheinung, die nicht nur der Bildung des Bürgerverbandes zugrundeliege, sondern auch adeligen Bünden, den Land- und Reichsständen, ja schließlich sogar der spätmittelalterlichen Staatsbildung. 49 ) Der Begriff des Kommunalismus setzt die Herausbildung von Stadt, Markt u n d Dorf voraus. Sie aber findet als verbreitete Erscheinung erst seit dem 13./14. Jahrhundert statt. Damit verbunden sind einerseits neue Formen der Arbeitsverfassung - die Trennung von Landwirtschaft u n d Gewerbe gehört dazu, auch die Abkoppelung des Wirtschaftens von den Hofverbänden, den D o m h ö f e n , Fronhöfen 49
) Die wichtigsten Daten bei O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 1. Bd.: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft. [Nachdruck] 1954, 1-7, 60 ff., 220 ff., 586, 589. - Zur Kritik am Kommunalismus-Konzept (unter Hervorhebung der zu geringen Trennschärfe zum Gierkeschen Genossenschaftsbegriff) vgl. J. Weitzel in: ZRG GA 104, 1987, 311-315. Weitzels Kritik versteht sich vor dem Hintergrund seiner äußerst beeindruckenden Bewertung der Dinggenossenschaft; siehe J. Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. 2 Teilbde. 1985. - Vgl. dazu auch O. G. Oexle, Otto von Gierkes ,Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft*. Ein Versuch wissenschaftsgeschichtlicher Rekapitulation, in: N. Hammerstein (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. 1988, 193-217, bes. 213 ff.
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oder wie immer sie heißen mögen 50 ) - , andererseits massive Umschichtungen von politischen Rechten, die in den stabilen mittelalterlichen Genossenschaften so nicht zu verzeichnen sind. Was in der stadtgeschichtlichen Forschung heute wissenschaftsterminologisch mit „Kommunebewegung" 5 1 ), „Zunftkämpfen" 5 2 ) und „städtischen Unruhen" 5 3 ) abgebildet wird, beschreibt die vom ausgehenden Hochmittelalter bis in die Reformation reichenden Bemühungen der Städter, ihre Rechte auf Kosten des Stadtherrn und adeliger Patriziate zu erweitern bzw. die einmal errungenen Positionen der Gemeinde gegenüber Oligarchisierungstendenzen zu verteidigen. Deswegen wird der Rat von den Bürgern als repräsentatives Organ der Gemeinde verstanden 54 ), deswegen gilt selbst der gewaltsame Protest der Gemeinde als legitim. 55 ) Daß auf dem Land erst im Spätmittelalter aus der Genossenschaft eine Gemeinde wird, gehört zu den gesicherten Besitzständen der Rechtsgeschichte 56 ), und wie der Prozeß der Transformation herrschaftlicher in kommunale Rechte vonstatten ging, weiß man mit der wünschenswerten Genauigkeit heute wenigstens für Teile des Territoriums der Reichsstadt Bern.57) Zum anderen gibt es, wenn überhaupt, nur äußerst schwache Linien der Rechtskontinuität vom Fronhof zum Dorf und vom 50
) Sablonier, Dorf (wie Anm. 40). ) B. Berthold - E. Engel - A. Laube, Die Stellung des Bürgertums in der Feudalgesellschaft bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, in: ZfG 21, 1973, 196-217. ") E. Maschke, Verfassung und soziale Kräfte in der deutschen Stadt des späten Mittelalters, vornehmlich in Oberdeutschland, in: VSWG 46, 1959, 289-349, 433-476. 53 ) Vgl. dazu etwa F. Petri (Hrsg.), Städtische Führungsgruppen und Gemeinde in der werdenden Neuzeit. 1980. 54 ) E. Maschke, „Obrigkeit" im spätmittelalterlichen Speyer und in anderen Städten, in: A R G 57, 1966, 7-23. ") W. Ehbrecht, Bürgertum und Obrigkeit in den hansischen Städten des Spätmittelalters, in: W. Rausch (Hrsg.), Die Stadt am Ausgang des Mittelalters. 1974, 276 f. - Ders., Köln - Osnabrück - Stralsund. Rat und Bürgerschaft hansischer Städte zwischen religiöser Erneuerung und Bauernkrieg, in: Petri (Hrsg.), Führungsgruppen (wie Anm. 53), 61. ") K. S. Bader, Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes. 3 Bde. 1957-1973. 57 ) P. Bierbrauer, Korporative Freiheit und gemeindliche Integration. Die Freiheitsvorstellungen der Bauern im Berner Oberland (1300-1700). Diss, phil. Saarbrücken 1984 [erscheint 1990], - Für eine leichter zugängliche Kurzfassung Ders., Die Oberländer Landschaften im Staate Bern, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 44, 1982, 145-157. 51
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Domhof zur Stadt. Die Dinggenossenschaft verhandelt gewiesenes Recht, das sehr stark auf die herrschaftlichen Rechte hin orientiert ist ; die gerügten Materien sind von großer Beständigkeit, das Recht paßt sich eher zäh den Veränderungen an. Ein schönes Beispiel liefert die Weistumsfamilie von St. Matthias in Trier. 58 ) Das Recht bleibt vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution gleich, allenfalls eine Handvoll einzelner Polizeimandate wird in die Weistumserneuerungen des 17. Jahrhunderts hineingeschrieben, und die Rügeprotokolle zeigen, daß noch 1790 nicht mehr Regelungsbedarf bestand als um 1400. Das Recht der kommunal organisierten Gesellschaft hingegen ist gewillkürt und statutarisch. Es richtet sich nach innen, auf die horizontalen Bezüge in der Gemeinde und nicht auf die Herrschaft. Und es ist in hohem Maße entwicklungsfähig und utilitaristisch. Einzuräumen ist, daß sich hier regional gelegentlich ein Beweisnotstand ergibt. Wo Gemeinden sich aus Dinggenossenschaften entwickeln, wie das Landgericht in Salzburg aus dem Ehafttaiding, wird man andere Erklärungsmuster suchen müssen. Kommunalismus ist, zweitens, nicht identisch mit Republikanismus. 59 ) Zwar neigt der Kommunalismus dazu, zum Republikanismus im Sinne von Freistaat 60 ) zu konvertieren, wenn er selbst ein hohes Maß von Autonomie erreicht hat 61 ) - die Umformung des 5S ) R. Hinsberger, Die Weistümer des Klosters St. Matthias/Trier. Studien zur Entwicklung des ländlichen Rechts im frühmodernen Territorialstaat. 1989. " ) Zur begrifflichen Eingrenzung das Nötige bei W. Mager, Artikel Republik, in: O. Brunner - W. Conze - R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache. 5. Bd. 1984, 549-651. - Schilling, Gab es . . . einen städtischen „Republikanisjnus" (wie Anm. 45), 143, räumt ein, daß die deutschen Städte, für die er den Begriff „Republikanismus" in Anspruch nimmt, „von einem veritablen Republikanismus weit entfernt" waren. Wie er die Stadt idealtypisch beschreibt, ließe sie sich jedoch gut unter dem Kommunalismus-Begriff subsumieren, zumal ja die territorial-landesherrliche Oberhoheit in vielen Städten gegeben war. 60 ) Den ideengeschichtlichen bzw. politiktheoretischen Zusammenhang zwischen „frei" und „Republik" beleuchtet nochmals W. Mager, Respublica und Bürger. Überlegungen zur Begründung frühneuzeitlicher Verfassungsordnungen, in: Res publica. Bürgerschaft in Stadt und Staat. 1988, 69-84, bes. 68 ff. 61 ) Unter diesem Gesichtspunkt habe ich das Material systematisiert in einem Aufsatz Kommunalismus und Republikanismus, in: H. G. Koenigsberger
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Hochstifts Chur in den Freistaat Graubünden62) oder die des Hochstifts Sitten in die Republik Wallis63) sind dafür Beispiele, in minderer Form auch der Weg einer Bischofsstadt zur freien Stadt.64) Solche Fälle zeigen, daß es keinen Republikanismus ohne Kommunalismus gibt. In der Umkehrung freilich gilt dieser Satz nicht. Der Kommunalismus erträgt einen monarchischen oder aristokratischen Überbau. Der Kommunalismus findet, drittens, keine Fortsetzung in der modernen Gemeinde. Was der Absolutismus an Autonomieresten noch nicht geschluckt hatte, das besorgte die Volkssouveränität.65) „Die kommunale Selbstverwaltung fiel [...] dem Prinzip der einheitlich strukturierten Verwaltungsgebiete zum Opfer." Zwar diskutierte das 19. Jahrhundert lebhaft, „was der eigentliche Bezugsrahmen, was das eigentliche Leitmotiv bürgerlicher Politik sei, die Gemeinde oder die Nation". Die Antwort fiel zugunsten der Nation aus, ausgenommen in der Schweiz.66) Auch der Versuch von 1848, in Deutschland die Selbstverwaltung der Gemeinde als Grundrecht zu verankern, ist gescheitert. Die Reichsverfassung von 1871 überantwortete die Gemeinde der einzelstaatlichen Gesetzgebung, und auch Fortsetzung Fußnote von Seite 24 (Hrsg.), Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit. 1988, 57-75. " ) Forschungsstand aufgearbeitet im Sammelband Festschrift 600 Jahre Gotteshausbund. 1967. ") G. Ghika, La fin de l'état corporatif en Valais et l'établissement de la souveraineté des dizains aux XVII ème siècle. 1947. " ) Die Sonderstellung der ehemaligen Bischofsstädte gegenüber den Reichsstädten im engeren Sinn, ihre erheblich geringere rechtliche Bindung an den König und ihre damit größere Autonomie beschreibt eindrücklich E. Isenmann, Reichsstadt und Reich an der Wende vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit, in: J. Engel (Hrsg.), Mittel und Wege früher Verfassungspolitik. Kleine Schriften I. 1979, 9-223, bes. 20-31. - Skeptisch zur Autonomie und damit natürlich auch zum republikanischen Charakter der freien Städte P. Moraw, Zur Verfassungsposition der Freien Städte zwischen König und Reich, besonders im 15. Jahrhundert, in: Res publica. Bürgerschaft in Stadt und Staat. 1988, 11-39, bes. 31 ff. " ) Grundlegend, auch die wichtigsten Entwicklungsetappen seit dem Absolutismus zusammenfassend und die theoretische Diskussion verarbeitend R. Koch, Staat oder Gemeinde? Zu einem politischen Zielkonflikt in der bürgerlichen Bewegung des 19.Jhs., in: HZ 236, 1983, 73-96. 66 ) L. Carlen, Die Bürgergemeinde in der Schweiz. Gestern - heute - morgen. 1988, 13: „Die Mitgliedschaft an der Bürgergemeinde ist das Bürgerrecht, und dieses umfaßt das Kantonsbürgerrecht und das Schweizer Bürgerrecht".
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das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zeigt „eine gewisse Schwäche in der verfassungsrechtlichen Ausformung der Prinzipien der Selbstverwaltung". 67 ) Die Einzelstaaten und Bundesländer haben im 19. und 20. Jahrhundert die Gemeinde allenfalls als ein Department der Verwaltung geduldet. Nichts zeigt das deutlicher als die Gebietsreformen, welche die letzten Zweifel zerstreut haben, daß nicht nur die Kompetenzen der Gemeinden, sondern auch ihre schiere Existenz im Belieben der Länderparlamente liegt.68) Staatlich delegierte Kompetenzen jedoch machen den Begriff des Kommunalismus gänzlich überflüssig. Kommunalismus erweist sich in der dreifachen Abgrenzung gegen Genossenschaft, Republikanismus und heutige Gemeindeverfassungen als ein lediglich für die ständische Gesellschaft, und das heißt für die Zeit zwischen 1300 und 1800, tauglicher Begriff, der Erscheinungen wie Reich und Territorialstaat nicht gerade begünstigt, aber durchaus erträgt. Das läßt sich an den „Symbiosen" ablesen, die der Kommunalismus mit dem Reich wie mit dem Territorialstaat einzugehen bereit und fähig ist: in Form der Reichsstandschaft der Städte 69 ) und in Form der Landstandschaft der ländlichen Gemeinden. 70 ) Die Abgrenzungsbegriffe sagen aber auch etwas über Phasen in der Geschichte des Kommunalismus: die aufsteigende spätmittelalterliche, in der der Umschlag zur Republik relativ häufig festzustellen ist; die reformationszeitliche, die einen gewissen Höhepunkt darstellt und die absteigende während des späteren 17. und 18. Jahrhunderts, in der Gemeinden durch die nivellierenden und integrierenden Tendenzen des Absolutismus zu Vorzimmern der landesfürstlichen Amtsstuben herabgemindert werden sollen.
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) Ebd. Die Zitate 76, 83, 92. ) Ergänzend für die Zeit nach Verabschiedung des Grundgesetzes A. B. Gundlicks, Local Government in the German Federal System. 1986. ") G. Oestreich, Zur parlamentarischen Arbeitsweise der deutschen Reichstage unter Karl V. (1519-1556), in: Ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze. 1980, 201-228. 70 ) Vgl. die Einordnung des Problems in die größeren Zusammenhänge der deutschen Ständegeschichte bei G. Oestreich, Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus. Ständische Verfassung, Landständische Verfassung und Landschaftliche Verfassung, in: Ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze. 1980, 253-271. 6i
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3. Präzisierung durch Kritik Geistesgeschichtler unter den Historikern kritisieren gelegentlich das Kommunalismuskonzept mit der hinterlistig gemeinten Frage, wo denn die „Theorie" zum Kommunalismus bleibe. Immerhin könne der Kapitalismus einen Karl Marx, einen Werner Sombart und einen Fernand Braudel vorweisen, der Absolutismus - machen wir es kurz - einen Jean Bodin und der Feudalismus einen Adalbero von Laon oder Gerhard von Cambrai. Die Frage war - eingestandenermaßen - eine der hilfreichsten. Von einer Theorie des Kommunalismus weiß man bis heute nichts. Das m u ß wohl nicht so bleiben. Vorauszuschicken ist allerdings, daß man fairerweise den Erwartungshorizont nicht übermäßig weit spannen darf. Der Kommunalismus ist ja in der Regel nicht „zur Herrschaft" gekommen wie der Feudalismus, Absolutismus und der Kapitalismus, und so ist anzunehmen, daß die Theoriebildung dem entspricht. Kommunalismustheorie beginnt mit der Reichsreformdebatte ausgangs des Spätmittelalters. Der Oberrheinische Revolutionär fordert als Grundlage sozialer und politischer Ordnungen die Respektierung von göttlichem Recht, Kaiserrecht und altem Herkommen, denn nur so ließen sich der wahre Staatszweck, Gemeinnutz und Gerechtigkeit, verwirklichen. 71 ) Die institutionelle Gewährleistung erfolgt über ein „consistorium imperiale", das den Kaiser wählt, kontrolliert, ihn in seiner Regierungsführung unterstützt und höchstrichterliche Funktionen im Reich wahrnimmt. Besetzt wird es mit drei Räten, die je fünf Beigeordnete haben. Die Räte - und entsprechend die Beigeordneten - repräsentieren zu gleichen Teilen die drei Stände, den „von der gburt" (regierende Fürsten), „den andren von den g b ü r e n " (Bauernstand), den dritten „von der gmein als von h a n d t w u r t e n " (Handwerken). Dazu kommen 12 juristisch geschulte Ritter, „die do wissend [...] zûregieren; [...] wie man das feld buwen solt vnd vier von der g e m e i n / d y sich von den fryen handtwurten verstünden". Somit sind auch die „Ritter" gehalten, die Interessen der „ d r e i " Stände angemessen zu vertreten. D a ß die Räte des ,Konsistoriums' gewählt werden, ist offensichtlich, wie ist unklar. D a ß die Gemeinde Bezugspunkt sein dürfte, geht aus der Einführung des " ) Zur Interpretation Κ. H. Lauterbach, Geschichtsverständnis, Zeitdidaxe und Reformgedanke an der Wende zum sechzehnten Jahrhundert. Das oberrheinische „Buchli der hundert Capiteln" im Kontext des spätmittelalterlichen Reformbiblizismus. 1985, 241-249.
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„Sent" als Rügegericht für geistliche und weltliche Vergehen hervor, von dem an das consistorium imperiale appelliert werden kann. Der Sent tagt einmal jährlich in jeder Kirche, ist also gleichermaßen auf Stadt- und Landgemeinden bezogen. „Der ,sent' ist in der vom Oberrheiner konzipierten Form weder eine Neuauflage des alten bischöflichen Diözesangerichts noch des fränkischen Missats oder der Feme; es werden vielmehr die Rechtstraditionen gesichtet und erörtert, aufgrund derer sich ein ,modernes' Rügegericht der Reichsverfassung eingliedern ließ."72) Bauern und Dörfer, Städte und Bürger sind so fest in die Reichsverfassung integriert. Weiter geht Hans HergotP) Die „Ehre Gottes" und der „gemeine Nutzen" - ein Begriffspaar, das er äußerst häufig in seiner Schrift „Von der neuen Wandlung eines christlichen Lebens" verwendet - werden zum Telos politischer Ordnung. Der von ihm entworfene „Weltstaat" nimmt seinen institutionellen Ausgangspunkt von „dem Flur", der Gemeinde, die auf ein „Gotteshaus" bezogen ist und an deren Spitze ein gewählter Ammann oder Schultheiß als „Gotteshausernährer" steht. Mehrere „Fluren", sprich Gemeinden, bilden ein „Land", dessen „Herr" von den Gotteshausernährern gewählt wird. Zwölf Länder bilden ein „Viertel", denen entsprechend ein „Viertelsherr" vorsteht74), aus drei Vierteln besteht die ganze Welt.75) Michael Gaismair76) setzt dem Staat in seiner „Landesordnung" zum Ziel, „zum ersten die Eer gottes und darnach den gemainen nuz zuesuchen". Institutionelle Grundlage des Staates wird das ") Ebd. Die Zitate 243 f. 73 ) Druck bei A. Laube - H.-W. Seiffert (Hrsg.), Flugschriften der Bauernkriegszeit. 1975, 547-557. 74 ) Möglicherweise darf es als Anpassung an die vorherrschenden konkreten Verhältnisse kommunaler Ordnung verstanden werden, daß die „Herren", vom „Gotteshausernährer" bis zum „Viertelherrn", nach ihrer Wahl vom übergeordneten Herrn ausdrücklich und förmlich bestätigt werden. 75 ) Analytisch scharf die neueste Untersuchung von F. Ganseuer, Der Staat des „gemeinen Mannes". Gattungstypologie und Programmatik des politischen Schrifttums von Reformation und Bauernkrieg. 1985, 464-598. 76 ) Eine neuere kritische Edition des Textes bei H. Biicking, Michael Gaismair: Reformer - Sozialrebell - Revolutionär. Seine Rolle im Tiroler „Bauernkrieg" (1525/32). 1978, 153-162. - Zur großflächigen Einordnung zuletzt die anregende Arbeit von G. Politi, I setti sigilli della „Landesordnung". Un programma rivoluzionario del primo Cinquecento fra equivoci e mito, in: Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient 12, 1986, 9-86 und 14, 1988, 87-239.
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„Gericht" - und das heißt übersetzt Stadt- oder Landgemeinde - , in dem jedes Jahr der Richter und die acht Geschworenen gewählt werden. Die Appellation von den Gerichten geht an das Regiment, das seinerseits von den Vierteln gewählt wird. „Gerichte" und „Viertel" waren im frühen 16. Jahrhundert festverankerte Verfassungsinstitutionen in Tirol, denen Gaismair lediglich eine größere Autonomie einräumt, indem er den Adel und den Landesfürsten ersatzlos streicht. Alle Autoren rücken als Staatszweck den gemeinen Nutzen in den Mittelpunkt.77) Alle gründen die politische Ordnung auf Gemeinden, über die sich unterschiedliche Formen von Regimenten wölben. Alle rücken Wahlen für die Vergabe der politischen Ämter in den Vordergrund. Theologische Kommunalismustheorie könnte man die Ekklesiologie der Reformatoren nennen. Jakob Strauss meint, „die recht göttlich institution der selensorg kumbt auß eintrechtiger khfir der versamlung"; amtet der Seelsorger nicht im Sinne des „reinen Evangeliums", kann er abgesetzt werden, was der Gemeinde das Recht einräumt, über die richtige Lehre zu entscheiden.78) Martin Bucer räumt den Weißenburgern ein zu beurteilen, welche Lehren 77
) Vgl. auch Ganseuer, Der Staat des „gemeinen Mannes" (wie Anm. 75). An der Grenze zu den Reformationstheologen stehen die sogenannten „Laientheologen". Vgl. P. A. Russell, Lay theology in the Reformation. Popular pamphleteers in Southwest Germany 1521-1525. 1986. Russell versteht - wofür die durchschlagende Evidenz in den Texten fehlt - die von ihm untersuchten Laientheologen als ,radikale Chiliasten' ; zwingender und plausibler ist die Herausarbeitung des .gemeinen Nutzens' als leitende Kategorie aller Texte. Die Arbeit bringt zahlreiche Hinweise dafür, daß in der Reform- und Reformationszeit des 15. und 16. Jahrhunderts noch weitere Belege für eine rudimentäre Kommunalismus-Theorie gefunden werden könnten. - Nachdrücklicher hat erstmals Buszello darauf hingewiesen, daß ein Großteil der bäuerlichen Programme im Bauernkrieg von 1525 dahingehend zusammengefaßt werden kann, daß ihnen die Vorstellung einer kommunalen Fundierung gemeinsam ist. Vgl. H. Buszello, Der deutsche Bauernkrieg als politische Bewegung. Mit besonderer Berücksichtigung der anonymen Flugschrift an die Versamlung gemayner Pawerschaft. 1969, 67-91. Mit Modifikationen und offensichtlich unter Zurücknahme der ursprünglichen Bewertung des Reiches Ders., Legitimation, Verlaufsformen und Ziele, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Der deutsche Bauernkrieg, 1984. 319 ff. 78
) „Das nit herren aber diener eyner yedenn Christlichen versamlung zugestelt werden/beschlußreden und haupt artikel", gewidmet Johann Friedrich von Sachsen. Faksimile bei J. Rogge, Der Beitrag des Predigers Jakob Strauss zur frühen Reformationsgeschichte, 1975, 157-166, das Zitat 163.
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„wor oder falsch seyen" und gibt ihnen das Recht, die falschen Prediger „ab und die woren einzüsetzen". 7 9 ) Huldrich Zwingli bringt in vielen unterschiedlichen Wendungen seine Auffassung in den zentralen Satz, „den predger soll die kirchhöre erwellen [...]; denn dieselb wirt über sin 1er urteilen, sust nieman". 8 0 ) Zwingli stattet die Gemeinde auch mit der Banngewalt aus 81 ), wie auch Johannes Brenz.*2) Alle genannten Reformatoren konnten sich auf Martin Luther berufen. Er hatte seit 1520 immer wieder die Wahl des Seelsorgers durch die G e m e i n d e und deren Recht, über die richtige Lehre zu urteilen, vertreten 83 ) und schließlich 1523 in seiner Schrift „ D a ß ein christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urtheilen und Lehrer zu berufen, ein und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift" 84 ) umfassend begründet. Ecclesia wird von den Reformatoren mit G e m e i n d e übersetzt. Mehrheitlich räumen sie der G e m e i n d e das Recht ein, den Pfarrer zu wählen, über das richtige Bekenntnis zu urteilen und den Bann 8 5 ) auszuüben. Ist es überzogen, eine solche Theologie als Theorie der institutionellen Formen kommunaler Ordnung zu lesen? Ist die Paßfähigkeit der Pfarrerwahl zur A m m a n n - und Bürgermeisterwahl, die der Entscheidung über einen so weitreichenden Gegenstand wie das Bekenntnis zur Entscheidung über Bündnisse, die der " ) „Martin Butzers an ein christlichen Rath und Gemeyn der statt Weissenburg Summary seiner Predig daselbst gethon". Druck bei R. Stupperich (Hrsg.), Martin Bucers Deutsche Schriften. 1. Bd.: Frühschriften 1520-1524 (Martin Buceri opera omnia, Series I). 1960, 79-147, das Zitat 135. 80 ) Huldreich Zwingli, Sämtliche Werke. 14 Bde. (Corpus Reformatorum 88-101). 1905-1983, hier Bd. 3, 78 Zeile 27 f. - Ergänzende Belege ebd. Bd. 3, 262 Zeile 11 f., 756 Zeile 23 f. 81 ) Ebd. Bd. 4, 427. 82 ) „Ain sermon zû allen christen von der kirche und von yrem schlüssel und gewalt auch von dem ampt der priester". Druck bei M. Brecht, G. Schäfer, F. Wolf (Hrsg.), Johannes Brenz. Frühschriften. Teil 1. 1970, 17-22. *3) M. Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe. 60 Bde. 1883-1980, hier Bd. 6, 379-402; Bd. 12, 420-426. 84 ) Ebd. Bd. 11, 401-416. 85 ) Der Bann, den sich die reformierten Kirchen vindizieren, wird üblicherweise als Usurpation der Kompetenzen des geistlichen Gerichts, also des kirchlichen Banns, interpretiert. Vgl. zuletzt G. Seebass, Artikelbrief, Bundesordnung und Verfassungsentwurf. Studien zu drei zentralen Dokumenten des südwestdeutschen Bauernkrieges. 1988, 149-154. In der kommunalen Sphäre wird man allerdings nicht von vornherein ausschließen dürfen, daß der Anspruch auf die Banngewalt möglicherweise nur eine Ausweitung des weltlichen Banns in den kirchlichen Bereich darstellt.
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kommunalen Gebotsgewalt zum gemeindlichen Bann schierer Zufall? Eine neue Ebene der Kommunalismustheorie wird im 17. und 18. Jahrhundert erreicht. Sie dient jetzt vornehmlich der Absolutismuskritik. Johannes Althusius hat seine „Politica" bekanntermaßen gegen Bodin geschrieben und dessen Lokalisierung der majestas in der Person des Fürsten. 86 ) Stützt man sich bei der Interpretation der Politica stärker auf die als Theorie konsistentere erste Auflage von 1603 als auf die durch viele Anpassungen an die politische Realität von Emden und Ostfriesland modifizierte Ausgabe von 1614, dann wird das Apriori des Systems deutlicher erkennbar. 87 ) Soweit es auf historischer Erfahrung beruht, ist Oberdeutschland mit im Spiel: die Studien in Basel und Genf werden dazu beigetragen haben, daß sich Althusius anmerkungsweise wiederholt auf die Schweiz bezieht und gelegentlich auch den ersten Theoretiker der Eidgenossenschaft, Josias Simler, zustimmend zitiert. Althusius baut das politische Gemeinwesen über den freiwilligen Zusammenschluß privater Institutionen der Vergesellschaftung, vornehmlich der Familie, beziehungsweise deren Repräsentanten, der Hausväter, auf. So entsteht die consociatio publica particularis, die synonym auch universitas genannt wird. 88 ) Universitates treten in drei Formen in Erscheinung: Porro universitas ilia est vicus, pagus, opidum, vel urbs.*9) Sieht man von dem „störenden" pagus einmal ab, mit dem Althusius versucht, konkrete Erscheinungsformen wie Grundherrschaften seinem System einzubauen, was nicht gerade mit Eleganz gelingt, dann geschieht mit dieser Grundlegung etwas sehr Wesentliches: Erstmals nämlich werden Dörfer (vicus) u
) J. Althusius, Politica methodice digesta et exemplis sacris et profanis illustrata. 1603. " ) Zu den methodischen Problemen der Althusius-Forschung gehört, die realhistorische Erfahrung, die der .Politica' zugrundeliegt, genauer herauszuarbeiten. Wenn die 2. Auflage gegenüber der ersten in hohem Maße Erfahrung verarbeitet, ist anzunehmen, daß auch die 1. Auflage viel der geschichtlichen Anschauung ihres Autors verdankt. Vgl. dazu zuletzt H. Amholz, Johannes Althusius als Syndicus Reipublicae Embdanae. Ein kritisches Repetitorium, in: K.-W. Dahn u.a. (Hrsg.), Politische Theorie des Johannes Althusius. 1988, 67-88. 88 ) Universitas, est plurium conjugum, familiarum, & collegiorum, in eodem loco habitäntium collectio in unum corpus. Althusius, Politica (wie Anm. 86), 36. " ) Ebd. 35.
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und Städte (oppidum vel urbs) - und deren Subsystem, die Häuser als gleichwertig und unentbehrlich in einen theoretischen Entwurf von Politik eingebaut. Und das in einer der Realität des Kommunalismus in hohem Maße entsprechenden Weise. Definiert nämlich wird die consociatio publica particularis beziehungsweise die universitas als communicatio rerum, communicatio operarum, communicatio iuris und - das ist eine besondere Zutat des Calvinisten Althusius communicatio concordiae, was als Übereinstimmung des Bekenntnisses zu übersetzen ist. Communicatio rerum orientiert auf Allmende, communicatio operarum auf die Ämter, communicatio iuris auf Stadt- und Dorfrecht. Die Kategorien Vertrag und Freiwilligkeit, die allem Politischen bei Althusius zugrundeliegen, erlauben und erfordern - was im einzelnen darzustellen sehr zeitaufwendig wäre - vielfache Rücksichtnahmen gegenüber der Basis politischer consociationes: Vergabe der Ämter durch Wahlen, Bestätigung von Gesetzen durch die Gemeindeversammlung. Althusius' Politica - um das abschließend anzumerken - erträgt, unbeschadet ihrer gesellschaftsvertraglichen Grundannahmen, fürstliche und königliche Herrschaft. Das ist theoretisch zwar nicht eben intellektuell gefällig gelöst, aber gerade darin bestätigt sich der Verdacht, daß Althusius auch Kommunalismustheorie schreibt. Die horizontalen Ordnungen von Gemeinden und die vertikalen von Fürstenstaaten sollen in der Theorie versöhnt werden. Vom Gesellschaftsvertrag her entwirft schließlich Jean-Jacques Rousseau seine Staatstheorie. 90 ) Man kann sie auf verschiedene Weise zur Darstellung bringen, eine Möglichkeit besteht darin, vom Leitbegriff der „volonté générale" auszugehen. Die volonté générale, der Gesamtwille, drückt sich in Gesetzen aus. Insofern das Volk den Gesetzen unterworfen ist, muß es auch deren Urheber sein.91) Zweck des Gesetzes ist es, die Freiheit und Gleichheit zu wahren 92 ) und den Gemeinnutz, das Gemeinwohl - „le bien com-
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) J.-J. Rousseau, Politische Schriften Bd. 1. Übersetzung und Einführung von L. Schmidt. 1977. Zitiert wird der im vorliegenden zur Beweisführung ausreichende „Gesellschaftsvertrag" nach Buch/Kapitel. Die Originalzitate nach J.-J. Rousseau, Œuvres complètes. Tome III: Du contrat social. Écrits politiques. 1964. " ) Ebd. II/7. ,2 ) „Si l'on recherche en quoi consiste précisément le plus grand bien de
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m u n " - zu fördern. Da jeder Mensch Freiheit und Gleichheit behaupten und am Gemeinwohl teilhaben will, läßt sich durch Abstimmungsverfahren die volonté générale aus der „volonté de tous", der Summe der Einzelwillen, herausfiltern. Idealiter, so versichert Rousseau tapfer, kann sich die volonté générale nicht irren. Was sie in Gesetzen zum Ausdrudk bringt, hat die Regierung nur zu vollziehen, und so ist „jede rechtmäßige Regierung [...] republikanisch". 93 ) Als Kommunalismustheorie kann man die im „Contrat social" vertretenen Grundannahmen und ihre Verknüpfung zu einer Theorie des Politischen insofern lesen, als sie eine hohe Paßfähigkeit zur konkreten Verfaßtheit schweizerischer Landsgemeindeorte und zunftverfaßter Städte aufweisen. Hinweise auf solche Verknüpfungen gibt Rousseau selbst, wenn er bei Erörterung der volonté générale auf ,das glücklichste Volk der Welt' verweist - gemeint ist die Schweiz - , wo Bauernversammlungen die staatlichen Angelegenheiten besorgen. 94 ) Daß solche Zusammenhänge nicht Gemeingut der Forschung sind, liegt möglicherweise an der zu geringen Vertrautheit der Politologen und Philosophen mit den eidgenössischen Verfassungsprinzipien. Freiheit gehört zu den fundamentalen Rechtsbeständen der Eidgenossen, Gleichheit - Rousseau meint damit existenzsicherndes und das heißt bescheidenes Eigentum - war wohl nirgendwo in Europa so ausgeprägt wie in der Schweiz. Liegenschaften auch in der ländlichen Sphäre waren Eigentum, und der egalitäre Grundzug zeigt sich beispielsweise an den im Prinzip gleichen Ausschlagsrechten an Vieh auf die Alpen. Der Handlungsspielraum der Regierung blieb äußerst bescheiden, selbst Tagsatzungsbeschlüsse bedurften der Ratifizierung durch die Gemeinde. Und schließlich: die Gesetzgebung, und zwar jedweder Art, erfolgt durch die Landsgemeindeversammlung. Sie ist die Kommandozentrale des politischen Getriebes in den Schweizer „Orten". Im „Mehren" nach oft langem Hin und Her der Argumente drückt sich in der Sprache Rousseaus die volonté générale aus.
Fortsetzung Fußnote von Seite 32 tous, qui doit être la fin de tout sistême de législation, on trouvera qu'il se réduit à ces deux objets principaux, la liberté, et l'égalité" (ebd. 11/11, 391). ") Ebd. II/7. ®4) Ebd. IV/1. „Quand on voit chez le plus heureux peuple du monde des troups de paysans regier les affaires de l'Etat [...]"; und die Anm. in der kritischen Originalausgabe 1491.
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Selbst die deutsche Polizeiwissenschaft, bestrebt, alle politischen Befugnisse als landesfürstlich abgeleitete Kompetenzen zu interpretieren, trägt schließlich dem Kommunalismus Rechnung. In Günther Heinrich von Bergs siebenbändigem „Handbuch des Teutschen Policeyrechts" wird immerhin, wenn auch widerstrebend, eingeräumt, daß es autonome Bereiche des Kommunalen in Polizei und Rechtspflege geben könne, und dabei vornehmlich auf süddeutsche Verhältnisse Bezug genommen. 95 ) „Manche Gemeinheiten haben [...] das Recht", heißt es bei ihm 96 ), „ihre Vorsteher, Bürgermeister, Schulzen, Bauermeister etc. selbst zu wählen oder ihrer Obrigkeit zu präsentiren, und sie könnten vielleicht daraus den Schluß ziehen wollen, daß ihnen an den von jenen auszuübenden Rechten einiger Antheil gebühre. Dieses ist zwar auch allerdings der Fall, insofern die Vorsteher die besonderen Angelegenheiten der Gemeinheit zu besorgen, ihr Vermögen zu verwalten, und sie in vorkommenden Fällen zu vertreten haben. Übrigens aber sind sie lediglich als Diener der Dorfobrigkeit zu betrachten, in welcher Eigenschaft sie auch die ihnen anvertrauten, in das Policeywesen einschlagenden Geschäfte zu verrichten haben. Hin und wieder findet man jedoch noch in Teutschland Spuren der alten Dorfs- und Schulzengerichte, welche in älteren Zeiten eine Art genossenschaftlicher Policey ausübten und welchen wahrscheinlich eine in einigen Gegenden noch bestehende Gemeinheitspolicey ihren Ursprung zu danken hat." „Diese Gemeinheitspolicey", erläutert von Berg weiter, „welche einen Haupttheil der sogenannten jurisdictio communitatis ausmacht, ist von der so eben beschriebenen Policeyverwaltung in den Dörfern wesentlich verschieden. Die jurisdictio communitatis ist nehmlich eine mit der Besorgung der Gemeindeangelegenheiten und der Erhaltung guter Ordnung in der Gemeinde und deren Markung verbundene Gewalt, die den Namen von Gerichtsbarkeit sehr uneigentlich führt. Sie ist theils beschränkt, theils unbeschränkt. Die jurisdictio communitatis plena, die unbeschränkte Gemeindeherrschaft, das vollkommne Gemeinderecht besteht in der Befugnis, die gesellschaftliche Ordnung in der Gemeinde, und die genossenschaftlichen Rechte derselben zu handhaben, zu diesem Ende Dorfs- und Gemeinde-Ordnungen zu verfassen, Gebote und Verbote in Gemeindesachen ergehen zu lassen, Gemeindeämter zu be") G. H. von Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts. 7 Teile. 1801-1809, hier Bd. IV/1, 124-141. ") Ebd. 130 ff.
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setzen, auf die Dorfs- und Feld-Policey zu achten, die Benutzung der Gemeindegüter anzuordnen, die Aufsicht über ihre Verwaltung zu führen, die Dorfsanlagen zu erheben u.d.m. Das unvollkommene Gemeinderecht kann auf mancherley Weise, in Ansehung der Gegenstände, so wie der Grenzen des Zwangsrechts und der zu dessen Ausübung erforderlichen Mittel beschränkt sein." Schließlich räumt von Bergt in: „Bisweilen stehet aber die jurisdictio communitatis der Gemeinde selbst, ganz oder zum Theil zu [...], welche sie durch ihre Dorfschulzen, Bauermeister, Richter, Geschworene etc. ausüben läßt. Auch sie enthält gewöhnlich einige Policeygerechtsame, insonderheit die Befugniß zu einer gewissen Policeyaufsicht in der Gemeinde." 97 ) Und zum räumlichen Geltungsbereich dieser kommunalen Rechte sagt von Berg: „Im südlichen Teutschland, besonders in Franken, hat sich die jurisdictio communitatis und folglich auch die damit verbundene Gemeinheitspolicey bey mehreren Gemeinden im ausgedehntesten Umfange erhalten. In Niedersachsen, und insonderheit in den churbraunschweigischen Landen, finden sich nur noch wenige Überbleibsel derselben." 98 ) Den Kommunalismus begleiten über die Jahrhunderte Bemühungen, ihn theoretisch zu verarbeiten. Kommunalismustheorie ist sicher kein reißender Strom im politischen Denken, aber möglicherweise wird seine wirkliche Breite erst erkennbar, wenn die hier unterstellten Zusammenhänge weitere Untersuchungen nach sich ziehen. Von Dilthey stammt das Urteil, Alexis de Tocqueville sei „der Analytiker unter den geschichtlichen Forschern der Zeit, und zwar unter allen Analytikern der politischen Welt der größte seit Aristoteles und Machiavelli". 99 ) Zu seinen schärfsten Analysen gehört - und damit weitet sich das Problem Kommunalismus ins Europäische und Universale - die Rekonstruktion der Grundlagen der „Demokratie in Amerika". In den meisten europäischen Ländern, sagt Tocqueville, „entspringt das politische Leben in den oberen Schichten der Gesellschaft. Ganz im Gegensatz dazu hat sich, wie man feststellen kann, in Amerika die Gemeinde vor der Grafschaft, die Grafschaft vor dem Staat und der Staat vor der Union gebildet." „Im Schöße der Gemeinde", fährt er fort, „herrscht wirkliches politi") Ebd. 134. ") Ebd. 135. ") A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. 2. Aufl. 1984, 876 (Nachwort von J. P. Mayer, Tocqueville heute).
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sches Leben, rührig, ganz demokratisch und republikanaisch." 100 ) Wo aristokratisch-monarchische Herrschaft schwach ausgebildet ist oder wegfällt, entsteht aus der Verfaßtheit der Gemeinde Demokratie. Tocqueville hat diese Einsicht in seiner Analyse der Französischen Revolution an Europa überprüft und kommt zu dem Schluß, daß im Ancien Régime Gemeinden überall in mehr oder minder entwickelter Form anzutreffen seien. Im Mittelalter hätten sich selbst Dörfer demokratisch verwaltet', von den Städten zu schweigen, noch für das 18. Jahrhundert seien solche Grundstrukturen in vielen Ländern Europas - Deutschland eingeschlossen - zu erkennen und die Ähnlichkeit mit amerikanischen Gemeinden sei »frappierend'. 101 ) Seine Belegstücke aus den einzelnen europäischen Ländern werden sich auf dem Prüfstand neuester historischer Erkenntnisse nicht durchgängig aufrechterhalten lassen, doch seine große Vertrautheit mit altständischen Ordnungen nährt immerhin den Verdacht, es könne lohnend sein, mit dem Kommunalismusmodell in heuristischer Absicht weiterzuarbeiten.
4. Strategie durch Heuristik „Kommunalismus" als „Begriff in heuristischer Absicht" könnte möglicherweise zu zweierlei dienen: zur angemesseneren und präziseren strukturellen Beschreibung alteuropäischer politischer Ordnungen und zur differenzierenden Bewertung der Modernisierungspotentiale, die, aus der Sphäre eines kommunal verfaßten .Dritten Standes' kommend, Grundbefindlichkeiten von Staat und Gesellschaft heute bestimmen. Mögliche Fragen seien nur skizziert: Eine Typologie der europäischen Länder und der Epochen nach kommunalen Verdichtungszonen könnte andere Einsichten erbringen 102 ), als die allein auf die Führungsschichten eingestellte Optik, die Begriffe wie Feudalismus, Absolutismus und Kapitalismus l0
°) Ebd. Die Zitate 46 f. ) A. de Tocqueville, L'Ancien Régime et la Révolution (Œuvres complètes. Tome 2). 1952, 108-122, bes. 119 f. 102 ) Für die in den letzten Jahren weit geöffnete Diskussion über die klassichen Problemfelder hinaus vgl. H. G. Koenigsberger, Schlußbetrachtung. Republiken und Republikanismus im Europa der frühen Neuzeit aus historischer Sicht, in: Ders. (Hrsg.), Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit. 1988, 285-302. 101
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trägt. Möglicherweise läßt sich der Begriff auch als universalhistorische Kategorie nützen. Ethnologische Einsichten in das Funktionieren der vorindustriellen „little community" in Mittelamerika und Afrika erlauben 103 ), das wenigstens als Verdacht zu formulieren. Prüfbar etwa wäre, was Landfrieden und Wohlfahrt, Freiheit und Eigentum, mehrheitlich verfassungsmäßig garantierte und gesicherte Besitzstände der modernen westeuropäisch-nordatlantischen Gesellschaften, den kommunalen Ordnungen verdanken und, um bei den Modernisierungsaspekten zu bleiben, die Kommunalismustheorie mit ihrem subversiven Grundzug gegen Hierarchien aller Art an kritischem Potential freigesetzt hat. 104 ) Wenn Tocqueville recht hat, dann bedingen sich Demokratisierung und Kommunalisierung wechselseitig. Diese Ansicht muß man nicht teilen - ich teile sie nicht, halte den Kommunalismus, der seine Existenz einer ganz bestimmten geschichtlichen Konstellation von Arbeitsorganisation und Siedlungsform verdankt, für tot und alle Europacharten, die ihn neuerdings wieder beleben wollen 105 ), für politisch wenig kreativ - , aber Tocquevilles Behauptung, die Gemeinde arbeite der Demokratie vor, wird sich vermutlich eher bestätigen als widerlegen lassen. Auch für Deutschland. Ich beschränke mich auf die Bemerkung, daß der Weg zur „demokratischen" Verfassung von 1848 von einer leidenschaftlichen Debatte um die Alternative Staat-Gemeinde begleitet wird. Daß die süddeutschen Liberalen daran einen bemerkenswerten Anteil haben 106 ), dürfte schwerlich blanker Zufall sein. Solche Verknüpfungen sind nicht als linearer Prozeß mit aufsteigender Tendenz zur Demokratie zu verstehen. Viel eher handelt es sich um gebrochene Kontinuitäten, die fragmentiert und umgeformt über die „Sattelzeit" in die Moderne des 103
) R. Redfleld, The little community. 10. Aufl. 1973, 1-182. ) Einige Perspektiven sind angedeutet bei D. Wyduckel, Althusius - ein deutscher Rousseau? Überlegungen zur politischen Theorie in vergleichender Perspektive, in: K.-W. Dahm u.a. (Hrsg.), Politische Theorie des Johannes Althusius. 1988, 465-493. 105 ) Der Europarat hat 1985 eine Charta für die Gewährleistung der Autonomie lokaler Organisationen aufgelegt. Die wichtigsten Passagen zitiert Carlen, Bürgergemeinde (wie Anm. 66), 17. 106 ) „ D i e große Mehrheit des deutschen Frühliberalismus verlangte die Bindung staatsbürgerlicher politischer Partizipation an die Kriterien des gemeindlichen bürgerlichen Status- und Rechtsbegriffs, an ererbtes und erworbenes Recht, an Besitz und Bildung." So Koch, Staat oder Gemeinde (wie Anm. 65), 88. 104
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19. Jahrhunderts kommen: als vage Erinnerung, als politische Theorie. Applaus erntet, wer die Redeweise von der „Sozialdisziplinierung" als Voraussetzung der „Fundamentaldemokratisierung" im Munde führt, auf Kongressen und in Seminaren. Vielleicht sollte man es einmal versuchen mit der Redeweise von der „Kommunalisierung" als Vorstufe der „Demokratisierung"?
DORFGEMEINDE UND STADTGEMEINDE ZWISCHEN FEUDALISMUS UND KAPITALISMUS VON GÜNTER VOGLER
D A S Nachdenken darüber, wie mein Thema zu interpretieren ist, stößt sich zuerst an der Präposition „zwischen". Da ländliche und städtische Gemeinde weder chronologisch noch sachlich zwischen Feudalismus und Kapitalismus als gesellschaftlichen Formationen existierten, werden wir vordringlich zu der Frage hingelenkt, welche Herausforderungen sich für Dorf- und Stadtgemeinde aus den Prozessen ergaben, die mit der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus relevant wurden. 1 ) Jüngst hat Peter Blickte einen Forschungsbericht über „Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800" in die Feststellung einmünden lassen, zu den Gemeinsamkeiten städtischer und ländlicher Unruhen gehöre, daß sich in ihnen Auseinandersetzungen zwischen Gemeinden und Obrigkeiten dokumentieren. „Damit stellt sich als eine dringliche Forschungsaufgabe, den Charakter der Gemeinde in Deutschland schärfer zu bestimmen, auch die Gleichheiten und Ungleichheiten städtischer und ländlicher Kommunen deutlicher herauszuarbeiten. Vermutlich wird dem Tatbestand, daß die Gemeinde neben der Familie bzw. dem Haus die wichtigste Form der Vergesellschaftung für die bäuerliche und bürgerliche Bevölkerung darstellt, für die Interpretation der deutschen Geschichte eine höhere Aufmerksamkeit zu widmen sein." 2 ) ') Zur Charakterisierung der Übergangsepoche vgl. A. Laube - G. Vogler u.a., Die Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus von den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts bis 1789 (Deutsche Geschichte in zwölf Bänden Bd. 3). 1983, 7 f. ; G. Vogler, Einheit und Vielfalt im Prozeß des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. Probleme und Perspektiven der Forschung, in: ZfG, 34, 1986, 22-39. 2 ) P. Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800. 1988, 108.
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Aus dieser Sicht auf die deutsche Geschichte leiten wir für die folgende Betrachtung vier Fragen ab : Welchen Stellenwert gewann die Gemeindefrage an der Nahtstelle zwischen Feudalismus und Kapitalismus, oder genauer: am Beginn der Übergangsepoche zum Kapitalismus (I)? Welche charakteristischen Züge weisen Dorf- und Stadtgemeinde im 14./15. Jahrhundert auf (II)? Welche Herausforderungen und Konsequenzen ergeben sich in der Situation von Reformation und Bauernkrieg aus der Konfrontation mit dem expandierenden Territorialstaat und mit der Kapitalismusgenese (III)? Wie läßt sich das Verhältnis von Gemeinde, Feudalismus und Kommunalismus erfassen (IV)? Definitive Antworten verbietet der Forschungsstand, so daß die vorzutragenden Beobachtungen nicht mehr als eine Problemskizze und ein Diskussionsangebot sein können. I. Der Nürnberger Ratskonsulent Christoph Scheurl urteilte in seiner „Epistel über die Verfassung der Reichsstadt Nürnberg" von 1516 im achten Kapitel unter dem Titel „Von aigenschaft und wirdigkait des Nürnbergischen rats" wie folgt: „Alles regiment unserer stat und gemainen nutzes steet in handen der, so man geschlechter nennet." Fremde und „das gemain völklein" hätten keine Gewalt, und diese stehe ihnen auch nicht zu, „dieweil aller gewalt von gott, und das wolregirn gar wenigen und allein denen so vom schöpfer aller ding und der natur mit sonderlicher weysheit begäbet sein verliehen ist". 3 ) Neun Jahre später, auf dem Höhepunkt des Bauernkrieges, brachte der Nürnberger Drucker Hieronymus Höltzel die Flugschrift eines anonymen Autors mit dem Titel „An die versamlung gemayner pawerschaft" heraus, in deren drittem Kapitel, das die Verpflichtungen eines christlichen Amtmanns behandelt, es heißt: „ U n d ob ir yetz gleych schneyder, schuster oder pawern zur oberkayt aufwürfen, die euch trewlich vorstünden in aller brüderlicher trew, die christlichen brüderschaft zu erhalten, denselbigen haltent für könig und kayser in aller gehorsamkayt." 4 )
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) Ch. Scheurl, Epistel über die Verfassung der Reichsstadt Nürnberg, in: Die Chroniken der fränkischen Städte. Bd. 5 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert Bd. 11). 1874, 791. 4 ) S. Hoyer - B. Rüdiger (Hrsg.), An die Versammlung gemeiner Bauern-
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Im einen Fall wird das obrigkeitliche Herrschaftsverständnis in einer patrizisch regierten Reichsstadt beschrieben, im anderen Fall der Herrschaftsanspruch aufständischer Untertanen artikuliert. In beiden Stellungnahmen zeichnen sich Standpunkte ab, die einander ausschließen. Sie signalisieren eine alternative Situation, in der sich in der Zeit von Reformation und Bauernkrieg nicht zuletzt widerspiegelt, welchen Rang die Gemeindefrage im revolutionären Prozeß gewann. Dorf- und Stadtgemeinde waren Subjekt und Objekt der Auseinandersetzungen. Einen prinzipiellen Charakter erlangten derartige Vorstellungen während des Bauernkrieges durch die Berufung auf das Evangelium als göttliches Recht. Im ersten Artikel des Programms, das der Taubertaler Haufen sich gab, heißt es: „Und was das hailig ewangelium aufricht, soll uffgericht sein, was das niderlegt, soll nidergelegt sein und bleyben. Und mittler zeyt soll man kainem herrn weder zins, zehend, gult, hantlon, hauptrecht oder dergleychen nichtz geben, solang biß durch die hochgelerten der hailigen, göttlichen, warn schrift ain reformation aufgericht werde, was man gaistlicher und weltlicher oberkait schuldig sey zu laisten oder nit." 5 ) Das Verständnis von Reformation in der Flugschrift „Teütscher Nation notturft" von 1523 und des darauf basierenden Reichsreformationsentwurfes von 1525 beruht auf dem Gedanken, zur Gewährleistung des „gemeinen Nutzens" sei eine Reform der Geistlichkeit, aller weltlichen Fürsten, Grafen, Herren und Ritter, auch aller Städte und Gemeinden im Reich erforderlich. 6 ) In der Zeit von Reformation und Bauernkrieg wurden unterschiedliche Vorstellungen über die Neugestaltung der gesellschaftlichen Ordnung artikuliert und propagiert. 7 ) In ihrer Tendenz weisen
Fortsetzung Fußnote von Seite 40 schaft. Eine revolutionäre Flugschrift aus dem Deutschen Bauernkrieg (1525). 1975, 93. 5 ) A. Laube - H. W. Seiffert (Hrsg.), Flugschriften der Bauernkriegszeit. 1975, 109. 6 ) A. Laube (Hrsg.), Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518-1524). Bd. 2. 1983, 760ff.; Laube - Seiffert, Flugschriften der Bauernkriegszeit (wie Anm. 5), 73 ff. 7 ) Vgl. P. Blickte, Die Revolution von 1525. 2. Aufl. 1981, 152ff., 196ff.; H. Buszello, Die Staatsvorstellung des „gemeinen Mannes" im deutschen Bauernkrieg, in: P. Blickle (Hrsg.), Revolte und Revolution in Europa. 1975, 273-295; ders., Gemeinde, Territorium und Reich in den politischen Pro-
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sie jedoch darauf hin, daß kirchliche Organisation und politisches Regiment auf der Grundlage der Gemeinden strukturiert und gestaltet werden sollten, und diese boten organisatorische Voraussetzungen für die städtische Reformation und die bäuerliche Aufstandsbewegung. 8 ) In der deutschen frühbürgerlichen Revolution 9 ) wurde das Verlangen transparent, eine vom „gemeinen M a n n " getragene bzw. von ihm in hohem Maße beeinflußte Ordnung einzurichten. Die Frage nach alternativen Vorstellungen reflektiert demzufolge nicht nur Gedankenspiele von Historikern, sondern dieses Denken war für die Zeitgenossen selbst charakteristisch. 10 ) Mit diesen Feststellungen soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, die zwei hier zur Diskussion stehenden Jahrhunderte vor den problemreichen Jahren zwischen 1517 und 1525 seien nicht mehr als die Vorgeschichte und die nachfolgenden fast drei Jahrhunderte nur die Nachgeschichte dieses „Scheitelpunkts" 11 ) gewesen. Wenn hier dennoch die Reformations- und Bauernkriegsphase herausgehoben wird, dann deshalb, weil sich in ihr am deutlichsten abzeichnet, in welchem Maße die Gemeindefrage eine gesamtgesellschaftliche Dimension gewann, welchen Rang sie einnahm und welchen Einfluß sie auf den Lauf der deutschen Geschichte ausübte oder hätte ausüben können.
II. Freunden wir uns mit dem Einstiegsdatum 1300 an, so sind wir der Schwierigkeit enthoben, noch einmal die Debatte über den Ursprung von Dorfgemeinde und Stadtgemeinde, über die Vorbildhaftigkeit des Dorfes für die Stadt, oder umgekehrt, über das Für und Wider zu Markgenossenschaft und Gemeineigentum mit ihrer verFortsetzung Fußnote von Seite 41 grammen des Deutschen Bauernkrieges 1524/25, in: H.-U. Wehler (Hrsg.), Der deutsche Bauernkrieg 1524-1526. 1975, 105-128. 8 ) Vgl. P. Blickte, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil. 1985. ') Vgl. A. Laube - M. Steinmetz - G. Vogler, Illustrierte Geschichte der deutschen frühbürgerlichen Revolution. 2. Aufl. 1982; Laube - Vogler u.a., Die Epoche des Übergangs (wie Anm. 1), 96 ff. 10 ) Vgl. P. Blickte, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch. 1981, 118 ff. ") Vgl. dagegen die Polemik gegen das „Wunderjahr" bei H. Schilling, Die deutsche Gemeindereformation. Ein oberdeutsch-zwinglianisches Ereignis vor der ,reformatorischen Wende' des Jahres 1525, in: ZHF, 14, 1987, 329f.
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wirrenden Fülle v o n Argumentationen nachvollziehen zu müssen. 1 2 ) Wir k ö n n e n uns auf die Feststellung beschränken, daß D o r f u n d Stadt, D o r f g e m e i n d e u n d Stadtgemeinde zu diesem Zeitpunkt existente Lebensbereiche u n d Institutionen waren. 1 3 ) „Überall da", so urteilte Franz Steinbach, „ w o die Bürger in städtischen A n g e l e g e n heiten mitredeten u n d in einem mehr oder weniger großen Sektor im Kreise der k o m m u n a l e n A u f g a b e n genossenschaftlich, o h n e herrschaftliche B e v o r m u n d u n g , handelten, sprechen wir v o n Stadtg e m e i n d e . Was den Stadtgemeinden recht ist, ist den Landgemeinden billig". 1 4 ) Geht m a n von den quantitativen G e g e b e n h e i t e n aus, so überw o g zwischen 1300 u n d 1800 die Zahl der Dörfer bei weitem die der Städte. N a c h Heinz Stoob gab es in Mitteleuropa u m 1450 zirka 5000 Städte. 1 5 ) D a g e g e n rechnet Karlheinz Blaschke allein für Sachsen mit etwa 4000 Dörfern, d e n e n rund 150 Städte gegenüberstehen. 1 6 ) W e n n g l e i c h Seuchen immer wieder Einbrüche in die Bevöl,2 ) Vgl. E. Uitz, Stadtgemeinde und Stadtbürgertum im Feudalismus. Bemerkungen zum Problem der Stadtgemeinde in der bürgerlichen und der marxistischen Historiographie, in: E. Papke (Red.), Stadtgemeinde und Stadtbürgertum im Feudalismus. 1976, 8-26; K. Bosl, Eine Geschichte der deutschen Landgemeinde, in: ZAA 9, 1961, 129-142; Th. Mayer (Hrsg.), Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen. 2 Bde. 1964; F. Steinbach, Ursprung und Wesen der Landgemeinde nach rheinischen Quellen, in: F. Petri - G. Droege (Hrsg.), Collectanea Franz Steinbach. Aufsätze und Abhandlungen zur Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, geschichtlichen Landeskunde und Kulturraumforschung. 1967, 559-594; ders., Stadtgemeinde und Landgemeinde, in: ebd. 776-810; Ph. Dollinger, Die deutschen Städte im Mittelalter. Die sozialen Gruppierungen, in: H. Stoob (Hrsg.), Altständisches Bürgertum. Bd. 2. 1978, 269-300; K. S. Bader, Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde (Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, 2. Teil). 1962, 30ff.; E. Ennen - W. Janssen, Deutsche Agrargeschichte. Vom Neolithikum bis zur Schwelle des Industriezeitalters. 1979, 178ff.; H. Wunder, Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland. 1986, 26ff.; Blickle, Deutsche Untertanen (wie Anm. 10), 23 ff. n ) Vgl. zu den gesellschaftlichen Bedingungen generell E. Engel - B. Töpfer u.a., Die entfaltete Feudalgesellschaft von der Mitte des 11. Jahrhunderts bis zu den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts (Deutsche Geschichte in zwölf Bänden Bd. 2). 1983, 278 ff. M ) Steinbach, Ursprung und Wesen der Landgemeinde (wie Anm. 12), 567. 1S ) H. Stoob, Die hochmittelalterliche Städtebildung im Okzident, in: ders. (Hrsg.), Die Stadt. Gestalt und Wandel bis zum industriellen Zeitalter. 1979, 145. ") K. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution. 1967, 143.
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kerungszahl bewirkten 17 ), besteht kein Zweifel, daß auf dem Lande die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebte, arbeitete und wirtschaftete. Doch das quantitative Übergewicht des Dorfes korrespondierte nicht mit einer qualitativen Überlegenheit. Die ökonomische, politische und kulturelle Entwicklungspotenz der Städte war langwirkend intensiver und einflußreicher, sie führte zur Dominanz der Stadt gegenüber dem Dorf. Dennoch zeichnen sich funktionale und strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Dorf und Stadt ab. 18 ) Eine Schwierigkeit bei dem Versuch eines Vergleichs besteht jedoch darin, daß das Bemühen um die Erforschung der Gemeinde überwiegend das Dorf oder die Stadt im Blick hatte und die herausgestellten Kriterien nicht unbedingt auf den je anderen Bereich voll zutreffen. Dennoch: In welchen Charakteristika wird Gemeinsames und Trennendes faßbar? Ohne notwendige regionale und zeitliche Differenzierungen hier sichtbar machen zu können, sei auf einige Aspekte hingewiesen. 1. Gemeinsam war Dorf und Stadt die sich ausprägende genossenschaftliche Organisation der Gemeinde. Voraussetzung für die Gemeindezugehörigkeit waren im Dorf die Hofstelle, in der Stadt Grundbesitz bzw. später ein finanzielles Äquivalent. 19 ) In beiden Fällen wurde die Aufnahme in den genossenschaftlichen Verband durch die Eidleistung rechtlich sanktioniert. 20 ) Die Gleichartigkeit der Entwicklung widerspiegelte sich in der Ausbildung ähnlicher Institutionen, Berechtigungen und Verpflichtungen. Das gilt im be") Vgl. E. Keyser, Die Bevölkerung der deutschen Städte, in: Stoob (Hrsg.), Altständisches Bürgertum. Bd. 2 (wie Anm. 12), 258 f. I8 ) Vgl. Blickle, Deutsche Untertanen (wie Anm. 10), 53; K. S. Bader, Das mittelalterliche Dorf als Friedens- und Rechtsbereich (Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes. 1. Teil). 1957, 299ff.; K. Blaschke, Qualität, Quantität und Raumfunktion der Stadt vom Mittelalter bis zur Gegenwart, in: JbRegG 3, 1968, 34-50. ") Vgl. R. H. Lutz, Wer war der gemeine Mann? Der dritte Stand in der Krise des Spätmittelalters. 1979, 4 I f f . ; G. Dilcher, Zum Bürgerbegriff im späteren Mittelalter. Versuch einer Typologie am Beispiel von Frankfurt am Main, in: J. Fleckenstein - K. Stackmann (Hrsg.), Über Bürger, Stadt und städtische Literatur. 1980, 81 f. 20 ) Vgl. W. Ebel, Der Bürgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts. 1958, 46ff.; O. Brunner, Souveränitätsproblem und Sozialstruktur in den deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, in: Stoob (Hrsg.), Altständisches Bürgertum, Bd. 2 (wie Anm. 12), 372; K. S. Kramer, Die Nachbarschaft als bäuerliche Gemeinschaft. Ein Beitrag zur rechtlichen Volkskunde mit besonderer Berücksichtigung Bayerns. 1954, 19.
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sonderen für die Gemeindeversammlung, die Satzungshoheit, die Rechtssicherung und die Nutzung von gemeindlichen Einrichtungen. 2 1 ) Das Kriterium des „gemeinen Nutzens" war die entscheid e n d e Norm, die für Dorf und Stadt als Ausdruck guter Politik verbindlich wurde. 22 ) Deren Nutzen erwies sich vorrangig in der Friedenswahrung als wichtigste Aufgabe der G e m e i n d e und ihrer Organe. 23 ) Dorf- bzw. Stadtgemeinde umfaßten jedoch die jeweilige Einwohnerschaft in unterschiedlichem Maß. 2 4 ) Daraus ergab sich, daß im Dorf oder in der Stadt ein kleinerer oder auch größerer Teil der Bevölkerung nicht zur G e m e i n d e zählte, also auch deren Berechti2
') Für das Dorf vgl. Bader, Dorfgemeinde und Dorfgenossenschaft (wie Anm. 12), 291 ff.; Blickle, Deutsche Untertanen (wie Anm. 10), 30ff.; J. Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes. Bd. 1. 1980, 246ff.; H. Harnisch, Gemeindeeigentum und Gemeindefinanzen im Spätfeudalismus. Problemstellungen und Untersuchungen zur Stellung der Landgemeinde, in : JbRegG 8, 1981, 126-174; H. Reyer, Die Dorfgemeinde im nördlichen Hessen. Untersuchungen zur hessischen Dorfverfassung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. 1983, 23 ff.; U. Lange (Hrsg.), Landgemeinde und frühmoderner Staat. 1988. Für die Stadt: K. Czok, Die Stadt. Ihre Stellung in der deutschen Geschichte. 1969, 27ff.; H. Planitz, Die deutsche Stadt im Mittelalter. Von der Römerzeit bis zu den Zunftkämpfen. 1975, 251 ff., 295 ff. Da für die Stadtgemeinde im Vergleich zum Dorf zusammenfassende Darstellungen selten sind, muß auf die einzelne Städte behandelnden Publikationen verwiesen werden, von denen hier nur einige neuere genannt werden sollen: H. Asmus (Hrsg.), Geschichte der Stadt Magdeburg. 2. Aufl. 1977, 53ff.; H. Ewe (Hrsg.), Geschichte der Stadt Stralsund. 1984, 33 ff.; W. Gutsche (Hrsg.), Geschichte der Stadt Erfurt. 1986, 65ff.; H.-H. Kasper - E. Wächller (Hrsg.), Geschichte der Stadt Freiberg. 1986, 77ff. " ) Vgl. zuletzt H.-Ch. Rublack, Political and Social Norms in Urban Communities in the Holy Roman Empire, in: K. von Greyerz (Hrsg.), Religion, Politics and Social Protest. Three Studies on Early Modern Germany. 1984, 24-60; ders., Grundwerte in der Reichsstadt im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: H. Brunner (Hrsg.), Literatur in der Stadt. 1982, 9-36; W. Schulze, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit. 1987, 11 ff.; G. Vogler, Gemeinnutz und Eigennutz bei Thomas Müntzer, in: S. Bräuer - H. Junghans (Hrsg.), Der Theologe Thomas Müntzer. 1989, 174-194. " ) Vgl. Bader, Das mittelalterliche Dorf (wie Anm. 18), 118 ff. ; T. Krzenck, Friedenswahrung und Recht im Spiegel thüringischer Dorfordnungen vom Ende des 15. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Diss. Α. Leipzig 1985. ") Dollinger, Die deutschen Städte (wie Anm. 12), 275; E. Ennen, Die Forschungsproblematik Bürger und Stadt - von der Terminologie her gesehen, in : Fleckenstein - Stackmann (Hrsg.), Über Bürger, Stadt und städtische Literatur (wie Anm. 19), 23 f.
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gungen nicht innehatte. Zum anderen dürfte das direkte Mitwirken der Gemeindezugehörigen in Dorf und Stadt an den jeweiligen Angelegenheiten unterschiedlich intensiv gewesen sein. Es ergab sich im Dorf beispielsweise aus der stärker als in der Stadt und dem Handwerk ausgeprägten genossenschaftlichen Organisation der Arbeit. 25 ) Insofern wird der einzelne als Gemeindemitglied hier auch häufiger als in der Stadt aktiv in Erscheinung getreten und beansprucht worden sein. Angesichts der unterschiedlichen Organisation nach dem personalen oder territorialen Prinzip 26 ) war zudem die Zusammenkunft der ganzen Gemeinde eigentlich nur im Dorf leicht zu regeln und erforderlich. 2. Die jeweils spezifische Tätigkeit der Bauern eines Dorfes bzw. der Bürger einer Stadt beruhte auf der Arbeitsteilung zwischen Landwirtschaft auf der einen und Handwerk und Handel auf der anderen Seite.27) Natürlich ist nicht zu übersehen, daß in der großen Zahl von Kleinstädten Ackerbürger als vollberechtigte Gemeindemitglieder ansässig waren und eine strikte Trennung von Landwirtschaft und Gewerbe nicht gegeben war. Renate Schilling hat auf der Grundlage von 1911 Städten errechnet, daß davon 1163 Ackerbürgerstädte waren (60,9 Prozent) und 1283 Landwirtschaft betrieben (67,1 Prozent), also die Arbeitsteilung weder sachlich noch räumlich durchgängig erfolgte. 28 ) Dennoch ist die Existenz unterschiedlicher Produktionsverhältnisse im Dorf und in der Stadt zu respektieren, was am ausgeprägtesten natürlich in den großen Handels- und Exportgewerbestädten zur Geltung kam. Da auf dem Lande der Boden als Herreneigentum den Bauern in Gestalt von Hofstellen zur Nutzung überlassen wurde, ergaben sich hier Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse, zu deren Realisierung auch die Dorfgemeinden in Anspruch genommen wurden (zum Beispiel auf dem Wege der Arbeitsorganisation oder der
25 ) Vgl. U. Bentzien, Bauernarbeit im Feudalismus. Landwirtschaftliche Arbeitsgeräte und -verfahren in Deutschland von der Mitte des ersten Jahrtausends u.Z. bis um 1800. 1980, 94ff. 26 ) Brunner, Souveränitätsproblem (wie Anm. 20), 373 f. 27 ) Vgl. B. Berthold - E. Engel - A. Laube, Die Stellung des Bürgertums in der deutschen Feudalgesellschaft bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, in: ZfG 21, 1973, 196. 28 ) R. Schilling, Die agrarische Komponente der Städte im Feudalismus, in: Probleme der Agrargeschichte des Feudalismus und des Kapitalismus. Teil XVI. 1985, 63 f.
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kollektiven Verantwortung für feudale Rentenleistungen). 29 ) Natürlich verfügten nicht nur feudale Grundherren, sondern auch Städte und Städtebürger über Bauern und Dörfer. Aber deren Existenz beruhte im Schwerpunkt weithin nicht mehr auf feudalen Beziehungen. Entscheidend war für sie geworden, „daß mit der Konstituierung der freien Stadtgemeinde ein gegenüber der feudalen Umwelt abgegrenzter Raum geschaffen wurde, in dem die für die Feudalordnung typischen, auf Grundeigentum und außerökonomischem Zwang beruhenden Ausbeutungsverhältnisse aufgehoben waren". 30 ) Während also die Gemeinde im Dorf in feudale Produktionsverhältnisse eingebunden war und blieb, existierten diese in der Stadt unmittelbar nicht mehr oder wurden in ihrer Bedeutung zurückgedrängt. 3. Wenngleich für städtische und ländliche Gemeinden die errungene Autonomie - in welchem Maße sie auch immer real gegeben war - unterstrichen wird 31 ), gehört zu ihrem Erscheinungsbild die Einbindung in Herrschaftsverhältnisse oder ihr Verhältnis zu herrschaftlicher Gewalt. In vielen Städten war zwar die unmittelbare stadtherrliche Einflußnahme ausgeschaltet oder eingegrenzt worden und wurde der Rat als Vollzugsorgan des Gemeindewillens verstanden, aber zu den Grundkonstellationen gehörte das Verhältnis zu feudaler Herrschaft, woraus sich potentiell eine Situation der Kooperation oder der Konfrontation ergeben konnte. Überlagert wurde diese Konstellation bald von dem im Vordringen begriffenen 29
) Vgl. J. Richter, Wesen und Funktion der spätfeudalen Landgemeinde. Erläutert an den Dörfern der Landpropstei des Klosteramtes Dobbertin, in: JbGFeud 11, 1987, 226ff.; G. Heitz, Bäuerliche Gutskommunen in Mecklenburg. Zur Rolle der ostelbischen Dorfgemeinde im Spätfeudalismus, in: R. Groß - M. Kobuch (Hrsg.), Beiträge zur Archivwissenschaft und Geschichtsforschung. 1977, 261 f. 30 ) Vgl. Engel - Töpfer u.a., Die entfaltete Feudalgesellschaft (wie Anm. 13), 104 f. Im Schwerpunkt „beruhte die Existenz der Städtebürger weitgehend auf dem Eigentum an anderen Produktionsmitteln wie Produktionsstätten, handwerklichen Produktionsinstrumenten, Rohstoffen und in wachsendem Maße auf beweglichem Vermögen, vor allem Geld. Auf der ökonomischen Grundlage der einfachen Warenproduktion und des persönlichen Eigentums an Produktionsmitteln waren in der Stadt wesentliche feudale Abhängigkeitsverhältnisse, das den Feudalismus charakterisierende Produktionsverhältnis und die diesem eigene Dialektik von Eigentum und Besitz in den Beziehungen zum Hauptproduktionsmittel Grund und Boden aufgehoben" (Berthold - Engel - Laube, Die Stellung des Bürgertums (wie Anm. 27), 202). 3 ') Vgl. E. Müller-Mertens, Bürgerlich-städtische Autonomie in der Feudalgesellschaft. Begriff und geschichtliche Bedeutung, in: ZfG 29, 1981, 205-225.
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Selbstverständnis des Rats als Obrigkeit bzw. Herrschaft. Otto Brunner hat generalisierend geurteilt: „Die Stadt, die Civitas, die Bürgergemeinde, die Universitas ist Inhaber der ,Rechte und Freiheiten', der ,Jura et libertates' [...] Bürgermeister, Rat und Gemeinde' bilden zusammen die Gesamtheit. Zugleich zeigt aber diese Formel, daß zwischen Rat und Gemeinde ein Herrschaftsverhältnis besteht, daß der Rat, die .Herren des Rats', die ,gnädigen Herren', wie sie oft genannt werden, der Bürgerschaft gegenübertreten ; sie sind wie in allen älteren Herrschaftsverhältnissen wechselseitig aufeinander bezogen." 32 ) Während für die Städte neben der möglichen stadtherrlichen Einflußnahme die Konstellation von Rat und Stadtgemeinde im engeren Sinne an Bedeutung gewann und die Bürgergemeinde im Laufe der Zeit an Einfluß verlor 33 ), war auf dem Lande mit seiner feudalen Struktur das Verhältnis von Grundherr und Dorfgemeinde konstitutiv. Dadurch wurden die Stellung und der Handlungsspielraum der Gemeinden bestimmt, wurde hier entscheidend das von außen diktierte Spannungsverhältnis. Auf jeden Fall hatten Dorfgemeinde und Stadtgemeinde jeweils mit einem „Gegenüber" zu rechnen - sei es in Gestalt eines Stadtherrn oder eines Grundherrn - , und für die Stadt trat hinzu das Auseinanderdriften von Rat und Bürgergemeinde. Aus diesen Konstellationen ergaben sich nicht nur Möglichkeit und Notwendigkeit der Kooperation, sondern angesichts der nicht in jedem Fall gegebenen Interessenkongruenz auch Spannungen und Konflikte, also Konfrontationen. 4. Das Verhältnis von Obrigkeit bzw. Herrschaft und Gemeinde, das im Dorf primär von Abhängigkeit und Untertänigkeit, in der Stadt neben den Beziehungen zu feudalen Gewalten oder Stadtherren anwachsend von der Beziehung des herrschaftlich agierenden Rats zur Gemeinde im engeren Sinne bestimmt oder beeinflußt wurde, barg latent Konflikte in sich, die sich in bestimmten Situationen in Beschwerden, Protesten oder Revolten der Bauern oder Bürger artikulierten und entluden. Aufstandsbewegungen sind deshalb ein Signum dieser Zeit. Immerhin verweisen Peter Blickte für das 15. und beginnende 16. Jahrhundert auf 60 bäuerliche Auf-
") Brunner, Souveränitätsproblem (wie Anm. 20), 374. Vgl. auch Stoob, Die hochmittelalterliche Städtebildung (wie Anm. 15), 134. 33 ) Vgl. Engel - Töpfer u.a., Die entfaltete Feudalgesellschaft (wie Anm. 13), 298.
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stände 34 ) und Erich Maschke für den Zeitraum von 1301 bis 1520 auf ca. 170 städtische Unruhen. 35 ) In diesen Bewegungen bot die Gemeinde im Dorf in ihrer personalen Struktur, in der Stadt nach dem sachlichen (Gilden, Zünfte) oder territorialen (Viertel) Prinzip organisatorische Grundlage und Rückhalt. Doch die Konfliktebenen differieren : Opposition richtete sich im Dorf vornehmlich gegen Grundherrschaft bzw. Leibherrschaft und ausnahmsweise auch gegen die Landesherrschaft, in der Stadt zwar auch gegen Eingriffe von außen, überwiegend aber gegen die vom Rat praktizierte Politik. Für die Dorfgemeinden waren folglich in den Klassenauseinandersetzungen die feudalen Beziehungen, für die Stadtgemeinden in Konfliktsituationen das Spannungsverhältnis zum Rat primär. Im Rückblick erweist sich - so möchte ich kurz zusammenfassen - , daß im Dorf wie in der Stadt Gemeinden mit vergleichbaren Funktionen und Strukturen existierten. Doch deren Grundlage bildeten auf dem Land feudale Produktionsverhältnisse, die zwar auch auf die Städte ausstrahlten und einwirkten, aber hier in wesentlichen Bereichen aufgehoben oder eingeschränkt waren. Insofern scheint die Feststellung berechtigt, die Übereinstimmung im Erscheinungsbild von Dorf- und Stadtgemeinde zeige sich in erster Linie in den formalen Strukturen, die Unterschiedlichkeit vor allem in ihrer Stellung im und zum Feudalismus, im erreichten Maß der Autonomie und in deren inhaltlicher Auffüllung. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts komplizierte sich offenbar in manchen Regionen die Situation der Dorf- und Stadtgemeinden, indem ihr errungener Status stärker attackiert wurde. Für die Stadt hat Gerhard Pfeiffer - neben anderen - darauf aufmerksam gemacht, „daß im Laufe der Entwicklung der Genossenschaftsgedanke, die ursprüngliche Basis einer den Stadtfrieden beschwörenden Gemeinde, wieder gegenüber dem Herrschaftsprinzip zurücktrat, als der Rat vielfache obrigkeitliche Funktionen wahrzunehmen begonnen hatte, die ursprünglich dem Stadtherrn zugekommen wa-
") Vgl. Blickle, Gemeindereformation (wie Anm. 8), 65; ders., Unruhen in der ständischen Gesellschaft (wie Anm. 2), 12 ff. 35 ) E. Maschke, Deutsche Städte am Ausgang des Mittelalters, in: Ders., Städte und Menschen. Beiträge zur Geschichte der Stadt, der Wirtschaft und Gesellschaft 1959-1977. 1980, 95, Anm. 206; Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft (wie Anm. 2), 7 ff.
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ren". 36 ) Im gleichen Sinne hat Erich Maschke darauf aufmerksam gemacht, die Zeit von 1470 an sei als diejenige anzusehen, „in der das Obrigkeitsbewußtsein des Rates voll zur Geltung kam". 37 ) Für die Dorfgemeinden entstand zudem in manchen Regionen eine prekäre Situation, als die Bemühungen um die Durchsetzung einer Territorialleibeigenschaft oder herrschaftliche Einbrüche in das Dorf über die Allmendefrage relevant wurden. 38 ) Die Sachverhalte legen Fragen nahe: Waren die städtischen Gemeinden bemüht, zur Herrschaftsausübung tendierende Räte auf ihre ursprüngliche Funktion zurückzuführen? War der offensichtlich höhere Grad politischer Autonomie einer Zahl von Städten eine Herausforderung für das Land? Auf welche Weise suchten Dorfund Stadtgemeinde die Angriffe auf ihre errungene Stellung abzuwehren? Welche Rolle spielte die Tendenz zur Kommunalisierung der Kirche? Stoßen wir hier längerfristig auf Wurzeln für die Bewegungen im Zeichen von Reformation und Bauernkrieg? Neuerdings hat Olaf Mörke für die vorreformatorische Phase unterstrichen: „Zum Zentrum der Eigeninterpretation und -legitimation der Bürgergemeinde wurde der allerdings von den Zeitgenossen gruppenspezifisch durchaus different ausgelegte Genossenschaftsgedanke, der die Einheit der Bürgergemeinde garantieren sollte. Als Anspruch überdauerte er die Oligarchisierungstendenzen der politischen Eliten im 15. Jahrhundert und erfuhr in den periodisch wiederkehrenden Konflikten zwischen etablierten Gruppen und zur Macht drängenden sozialen Aufsteigern jeweils Revitalisierungsschübe, die in den reformatorischen Auseinandersetzungen der 1520er und 1530er Jahre besonders kraftvoll gerieten." 39 ) Dies
") G. Pfeiffer, Die Bedeutung der Einung in Stadt- und Landfrieden, in: ZBLG 32, 1969, 823. ") E. Maschke, „Obrigkeit" im spätmittelalterlichen Speyer und in anderen Städten, in: Ders., Städte und Menschen (wie Anm. 35), 134. Vgl. auch Brunner, Souveränitätsproblem (wie Anm. 20), 375 f. 38 ) Vgl. P. Blickte, Leibherrschaft als Instrument der Territorialpolitik im Allgäu, in: H. Haushofer - W. A. Boelcke (Hrsg.), Wege und Forschungen der Agrargeschichte. 1967, 51-66; ders., Deutsche Untertanen (wie Anm. 10), 39f.; ders.. Die Revolution von 1525 (wie Anm. 7), 40ff. Zur Allmendefrage in späterer Zeit vgl. exemplarisch Richter, Wesen und Funktion (wie Anm. 29), 258 ff. ") O. Mörke, Integration und Desintegration. Kirche und Stadtentwicklung in Deutschland vom 14. bis ins 17. Jahrhundert, in: La ville, la bourgeoisie et la genèse de l'état moderne ( Χ Ι Γ - Χ Υ Ι Ι Γ siècles). 1988, 306.
Dorfgemeinde und Stadtgemeinde
51
dürfte auf Dorfgemeinde und Bauernkrieg übertragbar sein. Wir werden damit aber zu Problemen einer neuen Epoche hingeführt. III. Am Ende des 15. Jahrhunderts sieht die marxistische Forschung einen gravierenden Einschnitt mit dem Beginn der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus gegeben.40) Welche Herausforderungen ergaben sich daraus für Dorf- und Stadtgemeinde? Drei Fragen bedürfen der Aufmerksamkeit: Erstens die nach der Rolle der Gemeindefrage in den Bewegungen von Reformation und Bauernkrieg; zweitens die nach dem Einfluß der territorialstaatlichen Konsolidierung und schließlich der Ausbildung absolutistischer Herrschaft auf die Gemeindeorganisation ; drittens die nach den ökonomischen und sozialen Wirkungen der Kapitalismusgenese. Während der erste und zweite Aspekt wiederholt diskutiert wurde, wenngleich die Meinungen kontrovers geblieben sind, dürfte zum dritten Aspekt gegenwärtig am schwersten ein Standpunkt zu formulieren sein, weil der Zusammenhang von Gemeindeexistenz und Kapitalismusgenese forschungsmäßig noch kein nachdrückliches Interesse gefunden hat. 1. Reformation und Bauernkrieg Die intensive Diskussion über die Beziehungen von Stadt und Reformation hat den Blick für präzisierte Sichten geöffnet. Unbestritten ist die Rezeption reformatorischer Lehren durch Stadtgemeinden, zuerst in einer Zahl von Reichsstädten. 41 ) Weniger intensiv wurde dagegen untersucht, welche Bedeutung die Reformation im Gefolge der städtischen Rezeption für das Selbstverständnis und das Handeln von Dorfgemeinden gewann. 42 ) Immerhin erhielt der 40
) Vgl. die Literatur zu Anm. 1. ) Vgl. B. Moeller, Reichsstadt und Reformation. Bearbeitete Neuausgabe. 1987, 18ff., 79ff.; Blickle, Gemeindereformation (wie Anm. 8), 76ff.; K. von Greyerz, Stadt und Reformation: Stand und Aufgaben der Forschung, in: ARG 76, 1985, 6-63. 42 )Vgl. Blickle, Gemeindereformation (wie Anm. 8), 24 ff. Kritisch dazu Schilling, Die deutsche Gemeindereformation (wie Anm. 11), 325 ff. Vgl. außerdem F. Conrad, Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft. Zur Rezep41
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Günter Vogler
Reformationsgedanke mit dem Überschreiten des städtischen Bereichs eine breitere soziale Basis, aber auch ein differenzierteres Profil - vor allem in Hinsicht auf seine soziale Ausdeutung. Für den städtischen Bereich ist der. Verlauf der Reformation wiederholt dargestellt worden, kontrovers beurteilt wurden aber Rolle und Anteil von Rat und Gemeinde bei der Stimulierung reformatorischer Neuerungen. In der ausgedehnten Diskussion wurden zum einen die Funktion des Rats als Führungsorgan und Entscheidungsgremium hervorgehoben, zum anderen der Druck der Gemeinde auf den Rat betont, schließlich der reformatorische Prozeß als Zusammenwirken von Rat und Gemeinde begriffen. Am Beginn steht - so läßt sich der Vorgang vereinfacht und thesenhaft zusammenfassen - eine „Phase der nichtöffentlichen Zirkel" 43 ), in der die Bürgergemeinde noch nicht das Zentrum bildet. Anliegen war vorerst die Selbstverständigung in Hinsicht auf die Tauglichkeit der reformatorischen Theologie für die Sicherung des Seelenheils. Das Entstehen einer reformatorischen Bewegung, der Durchbruch zur Reformation der Tat wurde erst ermöglicht, als eine „offene kirchenpolitische Bühne" 44 ) gegeben war. Das Drängen der nicht am Ratsregiment beteiligten bürgerlichen Schichten bewirkte nunmehr reformatorische Neugestaltungen, die jedoch auch von Ratsvertretern stimuliert werden konnten. Die offene Situation, die sich in unterschiedlichen Interessen bei der Artikulierung eines reformatorischen Forderungskatalogs reflektierte, wurde dann allerdings meistens durch Ratsentscheidung kanalisiert. Das erklärte Motiv war die Gewährleistung des inneren Friedens und der Einheit der Stadtgemeinde. Ohne Entscheidung durch den Rat hat es keinen Anschluß einer Stadt an die Reformation gegeben, weil nur so die Neuerungen eine rechtliche Legitimation erfahren konnten. Zum Resultat dieses Prozesses gehört aber auch: „Obgleich die Reformationsbewegung oft von den einzelnen Kirchengemeinden ihren Ausgang genommen hatte, war es am Ende doch jeFortsetzung Fußnote von Seite 51 tion reformatorischer Theologie im Elsaß. 1984; P. Blickte (Hrsg.), Zugänge zur bäuerlichen Reformation. 1987. 4J ) O. Mörke, Rat und Bürger in der Reformation. Soziale Gruppen und kirchlicher Wandel in den weifischen Hansestädten Lüneburg, Braunschweig und Göttingen. 1983, 174. 44 ) H. A. Oberman, Stadtreformation und Fürstenreformation, in: L. W. Spitz (Hrsg.), Humanismus und Reformation als kulturelle Kräfte in der deutschen Geschichte. 1981, 89.
Dorfgemeinde
und Stadtgemeinde
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weils der Rat, der das neue Kirchenregiment in die Hand nahm." 45 ) Wo die reformatorische Bewegung - getragen von der Stadtgemeinde oder unter ihrem starken Einfluß - zum Erfolg kam, war das Ergebnis die Kommunalisierung der Kirche, deren Integration in das städtische Leben. 46 ) Relevant war die Gemeinde indes nicht nur im städtischen reformatorischen Prozeß, sondern ebenso in der Phase des Bauernkrieges - und zwar sowohl im Zusammenhang mit der Neuordnung des Kirchenwesens als auch des politischen Lebens. Dies zeichnete sich im Einzelfall deutlich ab 47 ) und kulminierte 1525 in den bäuerlichen Aufstandsregionen im Verlangen nach unverfälschter Predigt des Evangeliums und Pfarrerwahl durch die Gemeinden. Im ersten der „Zwölf Artikel" wird das prinzipielle Anliegen artikuliert, und die weitreichende Akzeptanz dieser Artikel dokumentiert das allgemeine Einverständnis mit solchem Fordern - auch in der städtischen Bewegung während des Bauernkriegsjahres : Die Reformation kehrte „vom Land zurück in die Stadt". 48 ) Die Vorstellungen der sich in Einungen und Verbiindnissen zusammenschließenden Aufständischen tendierten zur Stärkung der Gemeindeautorität, zu einer politischen Neuordnung, die sich nicht vollständig in den alten feudalen Rahmen einfügen ließ, sondern diesen sprengte oder zumindest durchlässig machte. Die revolutionäre Bewegung auf Gemeindebasis, manifest in der Bildung der Bauernhaufen und der Schaffung „Christlicher Vereinigungen", zeigt zudem an, wie solche Vorstellungen in dem kurzen Zeitraum der auflebenden Aufstandsbewegung auch praktiziert wurden. Peter Blickle faßt sein Verständnis von „Gemeindereformation" in die Formel: „Gemeindereformation heißt theologischethisch, das Evangelium in reiner Form verkündet haben zu wollen und danach das Leben auszurichten; organisatorisch, Kirche auf die Gemeinde zu gründen; politisch, die Legitimität von Obrigkeit an Evangelium und Gemeinde zu binden." 49 ) Für das Dorf wie die Stadt laufen die Forderungen und Aktionen darüber hinaus und in ihrer Konsequenz - wenngleich in unterschiedlicher Intensität - auf 45
) B. Moeller, Deutschland im Zeitalter der Reformation. 1977, 113. ) Vgl. Mörke, Integration und Desintegration (wie Anm. 39), 311 ff. 47 ) Vgl. R. Endres, Die Reformation im fränkischen Wendelstein, in: Blickle (Hrsg.), Zugänge zur bäuerlichen Reformation (wie Anm. 42), 127-146. 48 ) Blickle, Gemeindereformation (wie Anm. 8), 114. 49 ) Ebd. 112. 46
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Günter Vogler
einen Prozeß mehr oder weniger weitreichender „Entfeudalisierung" 50 ) hinaus, vornehmlich des Kirchenwesens, aber sie blieben nicht auf diesen Bereich begrenzt. Angezeigt war damit indes zunächst nicht mehr als eine Möglichkeit, die zwar in einer Reihe von Städten schrittweise auch Wirklichkeit wurde, aber angesichts der Niederlage des Bauernkrieges nicht auf der ganzen Frontbreite zur Entfaltung gebracht werden konnte. Insgesamt jedoch signalisieren Reformation wie Bauernkrieg mit den religiösen, sozialen und politischen Ansprüchen des „gemeinen Mannes", mit den Gemeinden als gedanklicher Basis und institutionellem Rückhalt Gesellschaftsvorstellungen, die im Widerspruch zur existenten herrschaftlichen Ordnung standen. Insofern ist der Bauernkrieg „Höhepunkt und Scheitelpunkt der Bemühungen, von der gemeindlichen Grundlage aus den Staat aufzubauen". 51 ) Das Jahr 1525 markiert mögliche Weichenstellungen eine Chance, die allerdings mächtigeren Tendenzen unterlag.
2. Territorialstaat und
Absolutismus
Die Verfassungsstruktur in den Regionen des Reiches verweist auf in verschiedene Richtungen tendierende Entwicklungen: Einerseits bildete die Konsolidierung von Territorialstaaten bereits seit dem 15. Jahrhundert für die nun stärker defensiv agierenden Dorfund Stadtgemeinden in manchen Regionen eine Herausforderung. Andererseits blieben Gemeindestrukturen und gemeindliches Handeln auch unter den Bedingungen intensivierter Territorialstaatlichkeit oder absolutistischer Herrschaft existent. Nun hat neuerdings Volker Press das Problem prononciert in der Gegenüberstellung von Kommunalismus und Territorialismus thematisiert. 52 ) Es sprächen einige Indizien dafür, so lautet seine Aussage, „daß der ,Territorialismus' die prägende Kraft des späten Mittelalters war, viel stärker als der ,Kommunalismus'. Es fällt aber auf, daß die gleichen Rechte und Funktionen, die Blickle für die 50
) Vgl. G. Vogler, Nürnberg 1524/25. Studien zur Geschichte der reformatorischen und sozialen Bewegung in der Reichsstadt. 1982, 323 ff. 51 ) Blickle, Deutsche Untertanen (wie Anm. 10), 118. ") V. Press, Kommunalismus oder Territorialismus? Bemerkungen zur Ausbildung des frühmodernen Staates in Mitteleuropa, in: H. Timmermann (Hrsg.), Die Bildung des frühmodernen Staates - Stände und Konfessionen. 1989, 109-135.
Dorfgemeinde und Stadtgemeinde
55
Gemeinden in Anspruch nahm, wichtige Attribute des werdenden Territorialstaates waren: Friedenssicherung, Konfliktregulierung, Gesetzgebung und Exekution, Gebot und Verbot. Dort gingen sie in einem großen Rahmen vor sich". 53 ) Er sieht „eine Korrespondenz zwischen der jeweiligen Territorialstruktur und der Ausbildung einer stärkeren oder schwächeren Gemeindeverfassung oder landschaftlichen Organisation". 54 ) Er folgert deshalb, „daß offenkundig zwischen der politischen Gesamtstruktur der Territorienbildung und der Stärke des gemeindlichen Wesens ein enger Zusammenhang bestand - ein schwacher Territorialherr und eine starke Gemeinde waren sicher eine feste Relation". 55 ) Er sieht im Landesstaat den Wegbereiter des modernen Staates, nicht im ausgebliebenen Ausbau kommunal geprägter Staatlichkeit. Deshalb lautet seine Schlußfolgerung: „Der genossenschaftlich-gemeindlichen Entwicklung gebührt dabei ein Platz, bestimmend aber war nicht sie, sondern die Territorialisierung als der säkulare Prozeß." 56 ) Vom Resultat her ist das zutreffend, aber dieses Ergebnis darf die Frage nicht eliminieren, ob der so ausgeprägte Charakter von Territorialstaatlichkeit die einzige denkbare Alternative war. Im Prozeß des Ausbaus und der Zentralisierung politischer Macht gab es die Tendenz, einerseits die Beziehungen von Dorf bzw. Stadt und Herrschaft abzusichern, andererseits den gemeindlichen Freiraum einzuschränken. 57 ) Aus unterschiedlichem Blickwinkel kann die damit gegebene Situation indes differierend beurteilt werden. Aus der Sicht territorialstaatlicher Entwicklung oder absolutistischer Herrschaft ging es darum, dörfliche bzw. städtische Autonomie - wo sie gegeben war - auszuhöhlen oder Freiräume zu beseitigen. Aus der Perspektive von Dorf- bzw. Stadtgemeinde ist jedoch auch unter diesen Bedingungen die Fortexistenz gemeindlicher Strukturen und das Weiterleben gemeindlicher Aktivität zu konstatieren, und auch ihre Bedeutung im Zusammenhang mit - namentlich bäuerlichen - Widerstandsaktionen ist zu Recht betont ") Ebd. 122. ) Ebd. 124. 55 ) Ebd. 56 ) Ebd. 127. 57 ) Vgl. R. Endres, Ländliche Rechtsquellen als sozialgeschichtliche Quellen, in: P. Blickle (Hrsg.), Deutsche Ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistunisforschung. 1977, 161-184; Wunder, Die bäuerliche Gemeinde (wie Anm. 12), 80 ff. 54
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Günter Vogler
worden. 58 ) Damit hatten Widerstandleistende ihren Gegnern „die große Zahl und die kollektive Rückgebundenheit des Individuums in der Gemeinde" voraus. 5 ') Allerdings ist auch zu fragen, inwieweit nunmehr Faktoren zur Wirkung kamen, die lähmend auf Gemeindeaktivitäten einwirkten. Trifft das beispielsweise für die konfessionelle Spaltung zu oder für die Ausgestaltung von Residenzen und die Profilierung anderer frühneuzeitlicher Stadttypen mit ihrer Konzentration von Militärpersonen, Beamten, Akademikern oder Exulanten? 60 ) Es bedarf erst noch des genauen Nachprüfens, um feststellen zu können, inwieweit dadurch die Funktionsfähigkeit von Dorf- oder Stadtgemeinde beeinträchtigt wurde. Ganz eindeutig zeichnen sich negative Wirkungen - negativ aus Gemeindesicht - offenbar dort ab, wo absolutistische Herrschaft installiert und bis zur unteren Ebene durchgesetzt wurde. Rudolf Endres kommt bei der Untersuchung von Dorfordnungen der fränkischen Territorien zu dem Ergebnis: „Während also [das Hochstift] Würzburg die gemeindliche Verfassung beibehielt und sie sogar noch ausbaute, sie allerdings als unterste Ebene der Landesverwaltung voll in den absolutistischen Obrigkeitsstaat integrierte, haben die anderen fränkischen Territorien versucht, ihre .Staatlichkeit' und absolutistische Herrschaft von oben her durchzudrücken und dabei die tradierten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte und Autonomien der Gemeinden zu beschneiden und zu unterdrücken, mit dem erklärten Ziel, einen einheitlichen Untertanenverband herzustellen. Aber insbesondere in den herrschaftlich zer-
58
) Vgl. H. Harnisch, Landgemeinde, feudalherrlich-bäuerliche Klassenkämpfe und Agrarverfassung im Spätfeudalismus, in: ZfG 26, 1978, 891 ff.; D. W. Sabean, Die Dorfgemeinde als Basis der Bauernaufstände in Westeuropa bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: W. Schulze (Hrsg.), Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit. 1982, 191-205. ") W. Troßbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648-1806. 1987, 77. 60 ) Vgl. H. Schultz, Berlin 1650-1800. Sozialgeschichte einer Residenz. 1987; E. Ennert, Mitteleuropäische Städte im 17. und 18. Jahrhundert, in: W. Rausch (Hrsg.), Die Städte Mitteleuropas im 17. und 18. Jahrhundert. 1981, 1-20; H. Stoob, Über frühneuzeitliche Städtetypen, in: R. Vierhaus - M. Botzenhart (Hrsg.), Dauer und Wandel der Geschichte. Aspekte europäischer Vergangenheit. 1966, 163-212.
Dorfgemeinde
und Stadtgemeinde
57
splitterten Gebieten und Dörfern gelang nicht die völlige Entmündigung der bäuerlichen Gesellschaft". 61 ) Während hier territoriale Unterschiede im Durchsetzungsgrad zu konstatieren sind, stellt Hartmut Harnisch für eine Region mit sich später stärker ausprägender absolutistischer Herrschaft fest: „Vor allem die ausgewerteten Gemeinderechnungen aus dem Gebiet von Magdeburg/Halberstadt und die Quellen aus der mittleren und unteren Verwaltungsebene im ostelbischen Preußen beweisen in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit, daß die Landgemeinde neben ihrer ureigensten Funktion als Steuerungsorgan des in genossenschaftlicher Absprache geregelten Ablaufs des landwirtschaftlichen Arbeitsjahres vor allem zum Instrument der Staatsverwaltung auf der untersten Ebene geworden ist". 62 ) Der absolutistische Staat verfügte weder über die materiellen noch über die personellen Möglichkeiten, die institutionellen Strukturen bis zum letzten Dorf und zur letzten Stadt hin umzugestalten. Deshalb lag es nahe, diese Strukturen im Interesse dieses Staates zu nutzen, so daß einerseits ein gewisser Schutz für Gemeinden, andererseits ihre Integration in den absolutistischen Territorialstaat die Folge waren. Wir haben es also mit einem differenzierten Zustand zu tun, indem gemeindliche Strukturen in den Städten oder auf dem Lande unter den Bedingungen territorialstaatlicher oder absolutistischer Entwicklung weiterleben, aber auch einen veränderten Stellenwert zudiktiert erhalten konnten. Das allgemeinste Kennzeichen dieser Veränderung war die Einschränkung des selbständigen Handlungsraumes. Wo Autonomie gegeben war, erfolgte deren Eingrenzung in einem vom territorialen oder absolutistischen Staat abgesteckten Rahmen. Um dies zu kennzeichnen, wurde von „beauftragter Selbstverwaltung" 63 ) oder „Auftragsverwaltung" 64 ) gesprochen. Die
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) R. Endres, Absolutistische Entwicklungen in fränkischen Territorien im Spiegel der Dorfordnungen, in: JbRegG 16, II, 1989. ") H. Harnisch, Die Landgemeinde in der Herrschaftsstruktur des feudalabsolutistischen Staates. Dargestellt am Beispiel von Brandenburg-Preußen, in: JbGFeud 13, 1989, 237. 6J ) L. Wiese-Schorn, Von der autonomen zur beauftragten Selbstverwaltung. Die Integration der deutschen Stadt in den Territorialstaat am Beispiel der Verwaltungsgeschichte von Osnabrück und Göttingen in der frühen Neuzeit, in: Osnabrücker Mitteilungen 82, 1986, 30, 57f. 64 ) U. Lange, Die Gemeinde als ICirchengemeinde. Beispiele aus dem Her-
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Folge war offensichtlich, daß „teilautonome" Gemeinden 65 ) in den Vordergrund traten. Die Tendenz lautet wohl: Wo die Konsolidierung des Fürstenstaates bzw. des absolutistischen Regiments erfolgte, gerieten Dorf- wie Stadtgemeinden unter starken Druck. Sie erwiesen sich zwar als widerstandsfähig, vermochten aber in Konfliktsituationen auf diese Herausforderung nur noch defensiv zu reagieren. 66 )
3.
Kapitalismusgenese
Die Kapitalismusgenese ist zwar seit dem 14./15. Jahrhundert zu verfolgen, erfährt jedoch seit den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts zeitweilig eine erhebliche Intensivierung. 67 ) Für unseren Zusammenhang dürften zwei Bezüge von Bedeutung sein: die sich verstärkende soziale Differenzierung und die Intensivierung von Ware-Geld-Beziehungen und Marktproduktion. Die ausgeprägte soziale Differenzierung mit ihrer Polarisierung von Reichtum und Armut traf in erster Linie die großen Handelsund Gewerbemetropolen. Aber zahlreiche Untersuchungen haben bestätigt, daß sich darin - in abgestuften Dimensionen - ein Grundzug dokumentiert, spürbar bis in das Dorf hinein, wo zwar die sozialen Gegensätze nicht in dem Maße wie in vielen Städten verFortsetzung
Fußnote von Seite 57
zogtum Holstein (17. und 18. Jahrhundert), in: ders. (Hrsg.), Landgemeinde und frühmoderner Staat (wie Anm. 21), 165. 65 ) C.-H. Hauptmeyer, Dorf und Territorialstaat im zentralen Niedersachsen, in: Lange (Hrsg.), Landgemeinde und frühmoderner Staat (wie Anm. 21), 217, 225. 66 ) Das zeigen auch die innerstädtischen Konflikte. Vgl. K. Czok, Zu den städtischen Volksbewegungen in deutschen Territorialstaaten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Rausch (Hrsg.), Die Städte Mitteleuropas (wie Anm. 60), 21-42; K. Gerteis, Frühneuzeitliche Stadtrevolten im sozialen und institutionellen Bedingungsrahmen, in: ebd. 4 3 - 5 7 ; R. Hildebrandt, Rat contra Bürgerschaft. Die Verfassungskonflikte in den Reichsstädten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 1, 1974, 221-241. 67 ) Vgl. Engel - Töpfer u.a., Die entfaltete Feudalgesellschaft (wie Anm. 13), 283 ff.; Laube - Vogler u.a., Die Epoche des Übergangs (wie Anm. 1), 12 ff.; G. Schmidt,,Frühkapitalismus' und Zunftwesen. Monopolbestrebungen und Selbstverwaltung in der frühneuzeitlichen Wirtschaft, in: B. Kirchgässner E. Naujoks (Hrsg.), Stadt und wirtschaftliche Selbstverwaltung. 1987, 77-114.
Dorfgemeinde
und Stadtgemeinde
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schärft wurden, aber doch existent waren. 68 ) Eingedenk der Feststellung von Erich Maschke, die Unterschichten seien in der Stadt des Mittelalters quantitativ und qualitativ von solcher Bedeutung gewesen, „daß die Bevölkerung als Ganzes nur unter ihrer Einbeziehung vollständig erfaßt werden kann" 6 9 ), ist zu respektieren, daß die Relation zwischen Gesamteinwohnerzahl und Gemeindezugehörigen sich zuungunsten letzterer verschob. Heinrich Rubner rechnet immerhin damit, am Ende des 18. Jahrhunderts sei die Hälfte der Bevölkerung den Unterschichten zuzurechnen 70 ), also im Prinzip nicht der Dorf- oder Stadtgemeinde eingegliedert. Als Folge dürfte die ohnehin widersprüchliche Einheit von Dorf- bzw. Stadtgemeinde noch problematischer geworden sein, indem unterschiedliche Interessen stärker zur Geltung kamen und ein Konsens innerhalb der Gemeinde erschwert wurde, aber auch Gegensätze zwischen Gemeindezugehörigen und zahlenmäßig gewachsenen Unterschichten in Dorf und Stadt zunahmen. Dieser Differenzierungsprozeß ergab sich unter anderem aus der Verstärkung der Marktabhängigkeit. Bürger und Bauern waren natürlich auch vor dem Einsetzen der intensiveren Kapitalismusgenese mit den Märkten verbunden. Neben der steigenden Nachfrage nach Lebensmitteln angesichts einer wachsenden Bevölkerungszahl und nach gewerblichen Produkten angesichts der Expansion der Märkte zogen nun auch die Umwandlung von Arbeits- und Naturalrenten in Geldleistungen sowie der Ausbau des Steuersystems und die daraus erwachsende notwendige Verfügbarkeit über Geld eine stärkere Verflechtung von Bauern und Handwerkern mit dem Markt nach sich.71) In jüngster Zeit ist herausgearbeitet worden, in 6
") Vgl. exemplarisch H. Pannach, Das Amt Meißen vom Anfang des 14. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Studien zur Sozialstruktur, Verfassung und Verwaltung. 1960, 38ff.; E. Schwarze, Soziale Struktur und Besitzverhältnisse der ländlichen Bevölkerung Ostthüringens im 16. Jahrhundert. 1975, 69ff.; W. Held, Zwischen Marktplatz und Anger. Stadt-Land-Beziehungen im 16. Jahrhundert in Thüringen. 1988, 21 ff.; W. Jacobeit, Dorf und dörfliche Bevölkerung im bürgerlichen 19. Jahrhundert, in: Bürger, Bürgerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. Das 19. Jahrhundert im europäischen Vergleich. 1986/87, 4 ff. ") E. Maschke, Die Unterschichten der mittelalterlichen Städte Deutschlands, in: Ders., Städte und Menschen (wie Anm. 35), 308. 70 ) Vgl. H. Rubner, Deutsche Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 1, 1974, 49. 71 ) Vgl. H. Harnisch - G. Heitz, Feudale Gutswirtschaft und Bauernwirt-
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welchem Maße die Kapitalismusgenese über das Landhandwerk lief. 72 ) Mit dessen allgemeinem Anwachsen seit dem 16. Jahrhundert entstanden im Dorf Bedingungen für die Entwicklung kapitalistischer Produktionsformen. Besonders fallen in dieser Hinsicht Regionen mit Exportgewerbe auf. Doch ebenso von Interesse sind in diesem Zusammenhang die Stadt-Land-Beziehungen, die Kleinstädte als Schaltstellen zwischen Dorf und Nahmarkt, in denen immerhin ein ganz erheblicher Teil der Bevölkerung lebte. 73 ) Wo Untersuchungen vorliegen, zeichnet sich ab, daß die Marktchancen in unterschiedlichem Maße genutzt wurden und individuelle Interessen in diesem Prozeß stärker in den Vordergrund rückten. Es bedarf allerdings erst noch eingehender Erkundung, in welchem Maße davon Existenz und Funktion der Dorf- und Stadtgemeinden berührt wurden. Die ökonomisch-sozialen Veränderungen dürften differenzierend auf die Gemeinden und ihre Aktivitäten eingewirkt haben. Die eingangs gestellte Frage, welche Herausforderungen sich aus den Prozessen der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus ergaben, kann wohl dahingehend beantwortet werden: Fortsetzung Fußnote von Seite 59 schaft in den deutschen Territorien. Eine vergleichende Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Marktproduktion, in: P. Gunst - T. Hoffmann (Hrsg.), Grand domaine et petites exploitations en Europe au moyen âge et dans les temps modernes. 1982, 9-32; H. Harnisch, Bauern - Feudaladel - Städtebürgertum. Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen Feudalrente, bäuerlicher und gutsherrlicher Warenproduktion und den Ware-Geld-Beziehungen in der Magdeburger Börde und dem nordöstlichen Harzvorland von der frühbürgerlichen Revolution bis zum Dreißigjährigen Krieg. 1980, 127ff.; Held, Zwischen Marktplatz und Anger (wie Anm. 68), 96 ff. 72 ) Vgl. H. Schultz, Landhandwerk im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Vergleichender Überblick und Fallstudie Mecklenburg-Schwerin. 1984, 1984, 24ff., 67ff.; P. Kriedte - H. Medick - J. Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus. 1977. 73 ) Vgl. G. Heitz, Zur Rolle der kleinen mecklenburgischen Landstädte in der Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. Bemerkungen zu einem vernachlässigten Problem, in: Hansische Studien. Heinrich Sproemberg zum 70. Geburtstag. 1961, 103-122; K.-F. Olechnowitz, Landstädte und landstädtisches Bürgertum in Mecklenburg im 17. und 18. Jahrhundert, in: Wissenschaftliche Zeitschrift Universität Rostock 26, 1977, 231-237; K. Fritze, Charakter und Funktionen der Kleinstädte im Mittelalter, in: JbRegG 13, 1986, 7-23; H. Schultz, Kleinstädte im 17. und 18. Jahrhundert, in: ebd. 14, 1987, 209-217.
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und
Stadtgemeinde
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In der Epoche des vollentfalteten Feudalismus - also vor 1500 - vermochten Gemeindestrukturen sich zu entfalten und zu behaupten, wenngleich der Handlungsspielraum jeweils von den feudalen Beziehungen oder von Herrschaftsverhältnissen diktiert wurde. Nach Reformation und Bauernkrieg, die dem Gemeindegedanken noch einmal kräftigen Auftrieb verliehen, blieben zwar Gemeindestrukturen weiterhin existent, aber der Weg zu stärkerer gesamtgesellschaftlicher Einflußnahme und der Festigung politischer Autonomie war weithin abgeschnitten. Sie behielten ihre Funktion in der Feudalordnung, aber als politische Institution wurden sie entmündigt und zum dienenden Glied des spätfeudalen Staates, so daß das Resultat ein „Substanzverlust an Eigenverantwortlichkeit" war. 74 ) IV. Unter einem Periodisierungsgesichtspunkt hat Peter Blickle geurteilt: Die Zeit von 1300 bis 1800 sei „von unten" als Epoche zu charakterisieren, „die ihre Signatur dem Gemeindeprinzip verdankt". 75 ) Wir werden damit zum Schluß noch einmal auf die eingangs anklingende Frage nach der Sichtweise deutscher Geschichte zurückgeführt. Im marxistischen Geschichtsbild ist darauf eine Antwort gegeben worden, indem das Interesse dem Bürgertum und der Bauernschaft sowie den von ihnen ausgekämpften Konflikten galt, um ihren Einfiuß auf die Gestaltung der Gesellschaft unter progressiven Perspektiven zu ergründen. 76 ) Die Gemeindefrage ordnet sich insofern einem komplexeren Thema zu und unter. Nun hat sie aber
") Harnisch, Landgemeinde (wie Anm. 58), 889. Vgl. auch K. Blaschke, Die Dorfgemeinde in Sachsen vom 12. bis 19. Jahrhundert, in: Les communautés rurales. (Recueils de la société Jean Bodin pour l'histoire comparative des institutions 44). 1987, 82, 85, 89. ") Blickle, Deutsche Untertanen (wie Anm. 10), 113. 76 ) B. Toepfer, Volksbewegungen und gesellschaftlicher Fortschritt im 14. und 15. Jahrhundert in West- und Mitteleuropa, in: ZfG 26, 1978, 713-729; G. Heitz, Volksmassen und Fortschritt in der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: ebd. 25, 1977, 1168-1177; G. Heitz - G. Vogler, Bauernbewegungen in Europa vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: ebd. 28, 1980, 442-454; H. Hoffmann - I. Mittenzwei, Die Stellung des Bürgertums in der deutschen Feudalgesellschaft von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1789, in: ebd. 12, 1974, 190-207.
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Günter Vogler
Peter Blickte zu dem Kommunalismus-Konzept ausgestaltet, auf das deshalb abschließend einzugehen ist. Nach Blickles Auffassung - einige seiner hauptsächlichen Thesen werden hier zusammengefaßt - ist die Verfassungsgeschichte zwischen Mittelalter und Moderne „die Geschichte der Spannung zwischen dem horizontalen Prinzip der Gemeinde und dem vertikalen Prinzip des Kommunalismus". 7 7 ) Von Kommunalismus sei nur dann zu sprechen, „wenn die Zuständigkeiten der Organe in der Gemeinde weit gezogen sind und deren Bestellung überwiegend durch die Gemeinde selbst erfolgt, wo sie - anders gewendet - einen hohen Grad von politischer Autonomie erreicht hat". 78 ) Feudalismus und Kommunalismus seien Prinzipien, die sich nur mühsam harmonisieren ließen. Die feudale Ordnung basiere auf dem Prinzip der Ungleichheit, die gemeindliche Ordnung auf dem der Gleichheit der vollberechtigten Gemeindemitglieder. 79 ) Die Gemeinde bedeute eine Bedrohung für die feudale Ordnung. 80 ) Feudalismus und Kommunalismus trenne auch eine unterschiedliche Auffassung vom Menschen, die sich in der Arbeitsverfassung besonders deutlich vergegenwärtigen lasse.81) Blickte folgert aus alldem: „Der Antagonismus Feudalismus - Kommunalismus erklärt den antithetischen Prozeß der Geschichte - zumindest Mitteleuropas - möglicherweise besser als das Begriffspaar Feudalismus - Kapitalismus." 82 ) Und schließlich: „Kommunalismus versus Feudalismus ist das bestimmende Thema der politischen Auseinandersetzung zwischen Mittelalter und Moderne." 83 ) Mit Feudalismus, Gemeinde und wohl auch Kommunalismus werden gewichtige und prägende Institutionen namhaft gemacht, die in regionalen und zeitlichen Räumen Strukturen abstecken und inhaltlich auffüllen helfen. Die Meinungsverschiedenheiten treten 77
) P. Blickte, Der Kommunalismus als Gestaltungsprinzip zwischen Mittelalter und Moderne, in: N. Bernard - Qu. Reichen (Hrsg.), Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Ulrich Im Hof. 1982, 102. Vgl. auch Ders., Deutsche Untertanen (wie Anm. 10), 118, 133. 78 ) P. Blickte, Kommunalismus und Republikanismus in Oberdeutschland, in: H. Koenigsberger (Hrsg.), Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit. 1988, 59. 79 ) Blickte, Deutsche Untertanen (wie Anm. 10), 56. 80 ) Ebd. 57. 81 ) Ebd. 139. 82
) Blickte, Der Kommunalismus (wie Anm. 77), 107.
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) Ebd. 110. Vgl. auch Ders., Deutsche Untertanen (wie Anm. 10), 55.
Dorfgemeinde
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zutage, wenn es um ihre Reichweite einerseits, ihre gegenseitige Zuordnung andererseits geht. Ein Versuch der gegenseitigen Zuordnung hat zunächst zu respektieren, daß die drei Komponenten nicht gleichwertig sind, weil sie unterschiedliche Sachverhalte ansprechen, die auf verschiedene Ebenen verweisen. Feudalismus als Kategorie der marxistischen politischen Ökonomie drückt ein Produktionsverhältnis aus, was für Gemeinde und Kommunalismus so nicht gilt. Haben also die drei Komponenten einen gleichen Geltungsradius in ihrer geographischpolitischen und ihrer zeitlichen Erstreckung? Ist das angesprochene antithetische Wesen von Feudalismus und Kommunalismus generell oder nur temporär gegeben? Bedeutet die Gemeindeexistenz prinzipiell eine Bedrohung für den Feudalismus oder nur in bestimmten Situationen und unter spezifischen Konstellationen? Wird dort, wo Feudalismus aufgehoben wird, das Phänomen des Kommunalismus oder die Formation des Kapitalismus dominant? Die Frage nach der gegenseitigen Zuordnung der drei „Bauprinzipien" ist also relevant und könnte in folgender Richtung beantwortet werden: 1. Wir verstehen Feudalismus als Kategorie, mit der die ökonomische und soziale Struktur prinzipiell erfaßt werden kann. Feudalismus existiert auch dort, wo Gemeinden nicht in Erscheinung treten oder schwach entwickelt sind und wo Kommunalismus nur im Ansatz oder nicht gegeben ist. 2. Die Gemeinde sehen wir einerseits dem Feudalismus integriert, indem Dorfgemeinden auf der Grundlage oder im Rahmen feudaler Beziehungen handeln und diese Beziehungen mit absichern helfen. Wir sehen sie andererseits unabhängig vom Feudalismus, indem auch Städtebürger sich als Gemeinde organisieren und aktiv werden, ohne daß für sie feudale Produktionsverhältnisse die Grundlage abgeben. 3. Wenn Kommunalismus einen hohen Grad politischer Autonomie ausdrückt, dann hat er die Existenz autonomer Gemeinden zur Voraussetzung, aber nicht überall, wo wir Gemeindestrukturen vorfinden, ist Kommunalismus in diesem politischen Verständnis präsent. 4. Setzen wir Gemeinde, Feudalismus und Kommunalismus in einem solchen Verständnis zueinander in Beziehung, so erscheint uns die Gemeinde als formationsübergreifendes Phänomen, der Feudalismus als Erscheinungsform einer spezifischen Produktions-
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weise, der Kommunalismus als mit ihm konkurrierendes Korrelat, mit dem das Streben nach politischer Autonomie seinen konzentriertesten Ausdruck findet. Feudale Produktionsverhältnisse dominierten die sozialökonomische Struktur zwischen 1300 und 1800. Dorf wie Stadt fanden den Weg zur Gemeindeorganisation, die nicht an die feudalen Produktionsverhältnisse gebunden war, aber auch für deren Realisierung gebraucht und genutzt wurde. Der Kommunalismus potenzierte das Bemühen um Stabilisierung gemeindlicher Autonomie, ohne den Feudalismus zu ersetzen - er ist seine Ergänzung und sein Korrektiv. Der Feudalismus prägte prinzipiell die gesellschaftliche Struktur, aber er entfaltete sich auch in Kooperation und Konfrontation mit Gemeinde und Kommunalismus. Wo er in Frage gestellt wurde, konnten Gemeinde und Kommunalismus dies fördern, aber sie traten nicht an seine Stelle. Diese Dialektik signalisiert für Jahrhunderte einen Grundzug deutscher Geschichte.
KOMMUNALISMUS ALS SOZIALER „COMMON SENSE" ZUR KONZEPTION VON LEBENSWELT UND ALLTAGSKULTUR IM NEUZEITLICHEN GEMEINDEGEDANKEN VON WOLFGANG KASCHUBA
I M Sinne wissenschaftlicher „Zuständigkeit" ist die Herausbildung des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gemeinderechts lange Zeit vorwiegend ein Reservat der Rechtsgeschichte gewesen. Punktuell und bezogen auf die Dorfgemeinde haben sich wohl auch die Agrargeschichte und die rechtliche Volkskunde 1 ) damit befaßt, doch erst in den letzten Jahren ist der Kommunalismus allmählich zu einem Thema breiterer sozialgeschichtlicher Forschung geworden. Sicherlich hängt dieser noch unbefriedigende Zustand damit zusammen, daß der Aufbau lokaler Verwaltungsordnungen überwiegend als ein Prozeß der Formalisierung und schriftlichen „Satzung" von kommunalem Recht behandelt wurde, als ein schrittweiser Aufbau „vertikaler" herrschaftlicher bzw. staatlicher Ordnungsprinzipien. Nun kann man sich immerhin fragen, ob die innere Dynamik dieses Vorgangs damit angemessen erfaßt ist. Ob - wenn diese Verrechtlichung als ein Prozeß der Normenproduktion und der Vergesellschaftung solcher Normen begriffen wird - die Bedeutung der Rechtsbeziehungen als Ausdruck von Sozialbeziehungen dabei nicht zu kurz kommt. Ob „Kommunalismus" in der Epoche der Feudalgesellschaft sich nicht jenseits eines „theoretischen" Konzeptes von Hoheitsrechten vielleicht schlüssiger noch als eine Entwicklung von politisch wirksamen Sozialformen gemeindlichen Lebens
') Exemplarisch dafür besonders die Arbeiten Karl-Sigismund Kramers. S. etwa neuerdings: Volksleben in Holstein. Eine Volkskunde aufgrund archivalischer Quellen. 1987.
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erklären läßt, als ein Bewegungsprinzip, das sich in seinen Rechtsformen letztlich mehr widerspiegelt als konstituiert. Dazu seien einige Überlegungen skizziert, die sich zeitlich und inhaltlich vor allem am deutschen 16. bis 18. Jahrhundert festmachen. Selbstverständlich sind dabei erhebliche Differenzierungen regionaler und territorialer Art zu berücksichtigen: Unterschiede zwischen Reichs-, Residenz- und Territorialstädten wie solche zwischen feudaler Stadt- und Dorfherrschaft, zwischen verschiedenen Wegen der Territorialgeschichte wie zwischen den sich verändernden epochalen Rahmenbedingungen. Zudem weist die rechtsgeschichtliche Seite darauf hin, daß der Kommunalismus bzw. seine juristische Konstruktion stets doppelten Charakter besitzt: einerseits als lokale Organisationsform von Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen in Dorf- und Stadtgemeinden, andererseits als lokales Instrument feudaler bzw. absolutistischer Herrschaftssicherung. Beides ist konstitutiv für die Rechtsform wie für die soziale Bewegungsform des Kommunalismus. Gemeinde- und Gemeinschaftsbeziehungen entstehen weder noch verändern sie sich ohne das Gegenüber von Herrschaft, wobei dies die unterschiedlichsten Formen der Herrschaft über die Gemeinde wie innerhalb der Gemeinde einschließt. Diese Vielgestaltigkeit zwingt eigentlich zur Differenzierung und Begrenzung. Dennoch möchte ich versuchen, eher nach übergreifenden, nach „langen" Linien zu fragen, an denen sich strukturelle und funktionale Verwandtschaften kommunaler Ordnungsmodelle zeigen im Sinne eigener, „von unten" gestalteter sozialer Alltagsordnungen und Beziehungsmuster. Zum zweiten wäre darüber nachzudenken, wie der Kommunalismus sich als generelles Prinzip lebensweltlicher Organisation zur feudalen Rahmenordnung verhält, inwieweit sich hier ein komplementäres, ein konkurrierendes oder gar ein antagonistisches Verhältnis entwickelt. 1. Kommunalismus als Lebenswelt-Konzept Was in „Weistümern" und „Privilegien", später in Satzungen als Ordnung der Dorf- und Stadtgemeinden festgehalten ist, erscheint einerseits als Kodifikation bestimmter Wirtschafts-, Arbeitsund Rechtsformen. Andererseits - und darauf liegt hier der Akzent - bedeutet sie eben auch eine Kodifizierung von Sozialverhalten auf der Basis sozialmoralischer Konsensformeln. In der städtischen und dörflichen Lebenswelt bilden diese Formeln das Kernstück einer
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Normenproduktion, die auf stabile soziale Beziehungsstrukturen und feste kulturelle Beziehungsformen zielt: auf wirtschaftliche wie auf soziale Handlungsmuster, auf ethische Maximen wie auf religiöse Motive, die insgesamt alltagsregulierend wirken und den Einzelpersonen wie den Gruppen so handlungsleitende Verhaltensmuster anbieten sollen. Allerdings bildet dieser schriftlich fixierte Rechtskanon nur den einen Teil der gemeindlichen Ordnungskodices. Der andere Teil besteht in informellen Kodifizierungen, die als Gewohnheitsrecht und sozialmoralische Übereinkunft durchaus auch „inneren" Gesetzescharakter tragen, die jedoch kaum schriftlich fixiert und damit quellenmäßig nur schwach überliefert sind. Gerade der Dauerkonflikt der Frühneuzeit zwischen diesen beiden Rechtssystemen, etwa zwischen einer „empirischen" bäuerlichen Rechtsauffassung und „gesatzten" herrschaftlichen Rechtsansprüchen im Bereich von Eigenrecht und Lehensrecht, verweist ja mit Nachdruck auf die Existenz und Brisanz dieser dualen Rechtsformation. In rechtsförmige Gestalt wird vor allem jener Bereich gebracht, in dem besondere innere Interessenkonflikte und Reibungsflächen entstehen oder besondere Spannungen zu äußeren Herrschaftsansprüchen grund- oder territorialherrlicher Natur. Dort soll die schriftliche Kodifizierung von Rechten und Pflichten dann als Mittel des Konfliktaustrags oder der Konfliktvermeidung wirken. Verrechtlichung wäre hier als eine Ausdrucksform der zunehmenden Verdichtung und Vergesellschaftung horizontaler und vertikaler Beziehungen zu verstehen. Diese Auffassung schließt als Prämissen ein: erstens den Charakter solcher Ordnungen auch als Form „innerer Herrschaft" in der Gemeinde, vermittelt über politische oder wirtschaftliche Macht wie über sozialen oder konfessionellen Konformitätszwang; zweitens deren Funktion als Basis gemeinsamer Abwehrhaltung gegen äußere Herrschaftsansprüche, indem kommunale Autonomie und Selbstregulation gegenüber Zwischen- und Zentralgewalten behauptet werden; drittens die Fähigkeit zur Weiterentwicklung und inneren Dynamisierung, also Reaktionsfähigkeiten des ideologischen und rechtlichen „Überbaus" auf Veränderungen von Wirtschaft und Sozialstruktur; viertens das Prinzip der Reziprozität von Beziehungen, also den Grundsatz eines zwar ungleichen, jedoch sozialmoralisch wie juristisch verbürgten Interessenausgleichs zwischen Herrschaft und Gemeinde wie zwischen kommunalem Zentrum und
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Peripherie, also zwischen bürgerlichen oder bäuerlichen Eliten und den Unterschichten. In gewisser Weise verkörpert die gewohnheitsrechtlich-rituelle wie die rechtlich-verschriftlichte Ordnung damit ein Modell des Ausgleichs von Individual- und Gruppeninteressen auf bestimmten gemeinsamen Nennern. Denn von innen betrachtet erweist sich der Kommunalismus als ein Kooperations- und Diskurssystem, das eben auch ein eigenständiges „kulturelles Konzept" verkörpert. Es arbeitet mit sozialen Beziehungsmustern wie dem „Nachbarn" und „Dorfgenossen", mit symbolischen Figurationen wie dem „Ruggericht" oder der „Bürgerzeche", mit erfahrungsgeleiteten, traditionsbestimmten Werteskalen und vor allem mit festen Ehrbegriffen wie Selbständigkeit, Rechtschaffenheit, Billigkeit, die zugleich materiell, religiös wie sozialmoralisch begründet sind und in denen sich Vorstellungen individueller und kollektiver Ehre ineinander verschränken. Voraussetzung dafür ist die Möglichkeit, sich auf einen „common sense" im Sinne verbindender Alltagserfahrungen und Alltagsdeutungen zu beziehen, auf das Selbstverständnis und auf die Selbstverständlichkeit eines lebensweltlichen Ordnungs- und Wertegefüges. Darin bestünde wesentlich auch jene „autochthone" Qualität des Kommunalismus: in der Formulierung von (partialer) Selbstbestimmung im Sinne einer „Eigengesetzlichkeit", die sich tendenziell an jenem anderen Prinzip der feudalen Herrschaft und „Fremdgesetzlichkeit" reibt. Nun wird dieser Ebene der Alltagswelt und Alltagslogik in der Regel gerade der Charakter des Unbewußten und Naturwüchsigen, also des Nicht-Explizierten und Nicht-Kodifizierten zugeschrieben. Der „common sense" bezieht sich auf das quasi unbewußte Alltagswissen und auf den nicht reflektierten, sondern gewohnheitsmäßigen Konsens. Doch haben uns neuerdings vor allem die Ethnologie und die Kulturanthropologie nochmals darauf aufmerksam gemacht, daß im lebensweltlichen Reglement in der Tat ausgesprochen systematische Züge von verbindlicher Alltagserfahrung enthalten sind, ja daß sich im Alltagshandeln gerade jener „heimliche" Kodex verkörpert, der zwischen dem „Drinnen" und „Draußen" einer Gemeinschaft unterscheidet, der zwischen „fremd" und „eigen" eine räumliche wie sozialkulturelle Grenzlinie zieht. Zwar teilen nicht alle Angehörigen einer Gruppe oder lokalen Gemeinschaft deren Alltagsleitwerte im Sinne einer identischen Interpretation -
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oft sind im Gegenteil Deutungskonflikte an der Tagesordnung. Doch drückt sich im Akzeptieren dieses Orientierungsrahmens als gemeinsamem Diskursrahmen und im Wissen um die „Sinnhaftigkeit" seiner Normen bereits die Gruppenzugehörigkeit aus. Und auf dieser Ebene der Abgrenzung nach außen erklärt die „Gemeinde" sich selbst zur räumlich und sozial zusammenhängenden Gruppe. Im Anerkennen dieses Prinzips und seiner „Autorität" äußert sich „common sense". 2 ) Damit ist die Kodifizierung von Beziehungen und Sozialverhalten eingeschlossen - sowohl als ideologisches Konstrukt wie als sozialkulturelle Norm. Pointiert gesagt: Kommunalismus ist nicht tragfähig, wenn er nicht in wesentlichen Elementen solche „common sense"-Vorstellungen enthält. Wenn er also nicht auf der Vereinbarkeit von divergierenden Gruppen- und Einzelinteressen in einem gemeinsamen sozialmoralischen Wertehorizont aufbaut und wenn er sich nicht mit dessen Kontinuität oder Wandlung entsprechend verfestigt oder verändert. Konkret: wenn nicht Privilegien und Leistungen, Pflichten und Normen zwischen Bürgern und Stadtarmen, zwischen Bauern und Taglöhnern immer wieder von beiden Seiten zur Disposition gestellt und neu ausgehandelt werden können. So erscheint als die zentrale Bestimmung neuzeitlicher Stadtund Dorfordnungen die Verwaltung der gemeinsamen Ressourcen als gemeinsamer Lebens-Mittel im wörtlichen Sinn, zu denen zwar nicht gleicher Zugang, von denen jedoch in gleicher existentieller Weise Abhängigkeit besteht: von Bodenfundus - besonders der Allmende - und Wasserversorgung, von Marktorganisation und privater wie kommunaler Vorratshaltung, von Stiftungen und Armenwesen, von Spitälern und ärztlicher Versorgung bzw. den entsprechenden Vorformen auf nachbarschaftlicher Basis.
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) S. dazu C. Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 1987, bes. 261 ff.
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2. Dorfordnungen als Konsens- und Konfliktmodell Schon Dorfordnungen des 15. und 16. Jahrhunderts regeln bekanntermaßen erstaunlich komplexe genossenschaftliche Zuständigkeiten und Verantwortungen: die „niedere" Gerichtsbarkeit wie die „polizeyliche" Aufsicht über die Dominikanz und über die Arbeits· u n d Lebensführung insgesamt, die Einhaltung der Gemeindeverfassung wie der Abgabenleistungen, der Feuerordnung wie der Flur- und Waldordnung, die Haltung des Viehs wie des Scharwerks, die Regelung des Kaufs u n d Verkaufs wie des Gesindewesens, die Organisation des Armenwesens wie der Schule. 3 ) In unterschiedlicher Weise spielen dabei herrschaftliche oder kirchliche Eingriffe in diese Selbstverwaltungskompetenzen eine Rolle. Nun sind dies ja keineswegs nur „künstliche" juristische Organisationsformen, sondern in vieler Hinsicht korrespondieren diese Konstruktionen gemeindlicher Selbstverwaltung mit dem historisch gewachsenen Erfahrungssystem von bäuerlicher Arbeitsorganisation, familiärer Lebensführung und kollektiver Orientierung. Die institutionelle Rechtsform prägt vielfach die informelle G r u n d f o r m zunächst einfach weiter aus und entspricht damit dem lebensweltlichen Horizont. Denn die Gemeinschaft der Nachbarn „stiftet" sich nicht erst als formaler Interessen- u n d Rechtsverband, sondern existiert bereits als ein lebendiger, die einzelne Familie u n d Verwandtschaft umgebender Kranz von Kommunikations- u n d Interaktionspartnern. Wirtschaftsraum und Geselligkeitsraum, Rechtskreis und Heiratskreis sind in vieler Hinsicht kongruent, sie bestätigen die Gemeinsamkeit von Interessenlagen in Gestalt der vielen sich überschneidenden u n d überlagernden sozialen Beziehungskreise im dörflichen Netzwerk. Andererseits ist natürlich nicht zu übersehen, daß sich spätestens seit dem 14./15. Jahrhundert auch in den Dörfern zunehmend soziale Segregationsbewegungen und schärfere innere Widersprüche zeigen. Mit dem Anwachsen der unterbäuerlichen, vielfach sogar landlosen G r u p p e n u n d mit deren weitgehendem Ausschluß aus dem dörflichen Rechtsverband hat sich bäuerliche Herrschaft in fast oligarchischer Form institutionalisiert. Karl Siegfried Bader wies freilich bereits in seinen Pionierstudien zur Dorfgenossenschaft darauf hin, d a ß diese Tendenz keineswegs neu sei, d a ß „die Gleichstellung nach Besitz und sozialer Bewertung [...] dem Dorf ebenso 3
) Vgl. H. Wunder, Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland. 1986, 33 ff.
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fremd (war) wie der Stadt". 4 ) Hinzu kommt die Frage, inwieweit nach den bäuerlichen Revolten und Niederlagen des 16. Jahrhunderts der dörfliche Kommunalismus in seiner Substanz und in seinem Selbstverständnis nicht zusätzlich geschwächt ist. Im Gegensatz zu älteren Positionen weisen da die Untersuchungen von Peter Blickle, Winfried Schulze, Werner Troßbach, Volker Press und anderen inzwischen eher auf Gewichtsverlagerungen hin als auf eine Lähmung: Genossenschaftliches Verhalten bedeute wieder stärker einen alltäglichen institutionellen bzw. juristischen „Kleinkrieg" als die „Revolte", basiere aber nach wie vor auf der Dorfgemeinde als Rahmen und Grundlage des Widerstandes. 5 ) Wo es dennoch erneut zu revoltenhaftem Verhalten gegen die Obrigkeit kommt, scheint die historische Erfahrung der bäuerlichen Niederlagen eher in Lernprozesse umgemünzt. Andreas Suter etwa hat an Hand von Bauernaktionen des frühen 18. Jahrhunderts im Fürstbistum Basel exemplarisch verdeutlichen können, wie nunmehr Konfliktstrategien entwickelt werden, bei denen zwar kollektives Handeln als Aktion stattfindet, allerdings unterhalb der Schwelle juristischer oder polizeilich-militärischer Zugriffsmöglichkeiten der Obrigkeit. Dort agieren im stillschweigenden Auftrag der Gemeinde dörfliche Frauengruppen und „Knabenschaften" in handfesten Rüge- und Protestaktionen, wobei weder die Täter/innen noch die Gemeinde juristisch zur Verantwortung gezogen werden können. 6 ) Auch hier bleibt die Gemeinde also das Kraftfeld von Selbstverständnis und Widerstandsenergie. Dennoch wächst im 17. und 18. Jahrhundert innerdörflich natürlich jenes soziale Spannungspotential um Themen wie Armenunterstützung und Heiratserlaubnis, um Bürgerrechte und Gewerberechte für die neu entstandenen landgewerblichen und protoindustriellen Produzentengruppen, um Fragen der Religions- und Konfessionspraxis, auch um bäuerliche Familien- und Erbschaftspro4
) K. S. Bader, Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde. 1974, 280. ) S . P. Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800. 1988, bes. 34-41; W. Troßbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648-1806. 1987. Dort finden sich auch Überblicke über die weitere Literatur. 6 ) Vgl. A. Suter, Die Träger bäuerlicher Widerstandsaktionen beim Bauernaufstand im Fürstbistum Basel 1726-1740. Dorfgemeinde - Dorffrauen Knabenschaften, in: W. Schulze (Hrsg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa. 1983, 89-111, hier 96 f. 5
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bleme. Vor allem wird die Verwaltung und Nutzung des Gemeindelandes, der Allmende, zum zentralen Prüfstein dörflicher Konfliktund Konsensfähigkeit. Fragen der Weidenutzung, die für die unterbäuerlichen Gruppen mangels eigenen Viehbestandes sinnlos geworden ist, Konflikte um die Berechtigung nur der Vollbauern oder aller Gemeindebürger und Beisitzer oder Verteilungskämpfe um die beginnende „private" Nutzung als Anbaufläche: All dies verweist auf die Zuspitzung der dörflichen „sozialen Frage". 7 ) Das mündet im 18. Jahrhundert mitunter in offene Kämpfe zwischen den dörflichen Gruppen, wie beispielsweise im württembergischen Dorf Nehren, wo sich nach langen Auseinandersetzungen die örtlichen Taglöhnerfamilien in den 1770er Jahren direkt an die württembergische Regierung wenden mit der Bitte um Aufteilung der Allmende. Nach hinhaltendem Widerstand der örtlichen Bauern läßt die Regierung schließlich im Jahr 1794 tatsächlich einen Teil der Allmende als „Krautländer" an die 32 „ärmsten Familien" des Ortes vergeben. 8 ) Aufschlußreich dabei ist, wie selbstverständlich sich beide Parteien sowohl dörflich-kommunalpolitischer Mittel bedienen, die Gemeindeversammlung, Rügeaktionen und auch Gewalt einschließen, als auch bewußt den Rahmen der kommunalen Selbstregulation verlassen, indem „Suppliken" und Deputationen an die Regierung gesandt werden. Dennoch bleibt auch in solchen Konflikten offenbar noch genügend dörfliches „Bindegewebe" im buchstäblichen Sinne: die gemeinsame Abhängigkeit von der Natur, das wechselseitige materielle Angewiesensein auf Tauschbeziehungen und Arbeitshilfe, die Nutzung gemeinsamer Ressourcen, die Einbindung in korporative Flurordnungen und Arbeitssysteme, in Nachbarschafts- und Geselligkeitsbeziehungen. Und viele Reibungsflächen entschärft der Rechtsverband Gemeinde dadurch, daß er durch Satzung, Dorfgericht und Rügeformen feste Modelle öffentlichen Konfliktaustrags bereithält, die in juristischer oder ritueller Form zum Konsens zwingen. Zusätzlich schweißt der Druck von außen zusammen in Gestalt 7 ) Zu den Rechtsformen der (oberdeutschen) Allmende s. H. Jänichen, Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte des schwäbischen Dorfes. 1970, bes. 199ff.; D. Wehrenberg, Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Allmendrechten und Gemeindeverpflichtungen vornehmlich in Oberdeutschland. 1969. 8 ) Vgl. F. A. Köhler, Eine Albreise im Jahr 1790 von Tübingen nach Ulm. Hrsg. von E. Frahm/W. Kaschuba/C. Lipp. 3. Aufl. 1984, 43f.; Nehren. Eine Dorfchronik der Spätaufklärung von F. A. Köhler. Hrsg. C. Lipp/W. Kaschuba/E. Frahm. 1981, 91.
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verstärkter feudaler und staatlicher Zugriffe auf Arbeitserträge wie Selbstverwaltungskompetenzen. So verliert der dörfliche „Klassenkampf" in Gestalt innerer sozialer Distanzen und Interessenkonflikte in dieser Epoche offensichtlich noch an Schärfe, wenn seine Umrisse auf die größere Beziehungsfolie von Gemeinde und Herrschaft projiziert werden. Denn die feudale Herrschaft rührt zunehmend an jene kollektiven Selbstverständnisse von Selbständigkeit, von Autonomie, aüch von sozialer Würde, in denen eine Haltung mitschwingt, die so weit nicht von einem naturrechtlichen Freiheitsbegriff entfernt ist. 3. Stadtordnungen als Basis kommunaler Identität In den Städten sind soziale Segregation und Polarisation natürlich noch weniger zu übersehen. Mit der wachsenden frühbürgerlichen Kapital- und Machtkonzentration auf der einen und dem handwerklich-zünftigen Aufstieg der „neuen Mittelschicht" auf der anderen Seite formiert sich fast überall jene klassische Konfliktfigur von Zunft und Rat bzw. Patriziat als Ausdruck des Widerspruchs zwischen Produzentenmacht und Kapital- bzw. Institutionenmacht wie zwischen den ethischen Prinzipien einer „moralischen" und denen einer „politischen Ökonomie". Die Zunftrevolten gegen verkrustete Ratsverfassungen wie die langen Kämpfe um die Gewerbeund Marktkontrolle vermitteln so ein ausgesprochen zerrissenes Bild des stadtbürgerlichen Kommunalismus.®) Doch ist dies wohl nur die eine Seite. Andererseits scheint dahinter vielfach noch ein Grundverständnis vorhanden, das qua Stadtbürgerrecht und Stadtordnung der kommunalen Identität gruppen- und schichtübergreifende Wirkung verleiht. Offensichtlich werden die aufbrechenden Interessenkonflikte und Kämpfe im Sinne noch nicht antagonistischer, sondern eher konkurrierender Vorstellungen von Recht und Repräsentation immer wieder überbrückt durch Interessenkoalitionen um das städtische Markt-, Verwaltungs- und Geselligkeitswesen oder durch Schutzkoalitionen zum Zwecke der gemeinsamen Abwehr von Pestepidemien wie feudalen Machtansprüchen. So schaffen denn auch Gewerbe- wie Festordnungen neue Koexistenzformeln, sie befestigen den Kommuna9
) Vgl. Blickle, Unruhen (wie Anm. 5), 41 ff.; J. Sydow, Städte im deutschen Südwesten. 1987, 188 f. Allgemein s. W. Schulze (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. 1988.
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lismus auf einer oft „modernisierten" Basis. Zwischen den sozialmoralischen Kleinmilieus der Professionen und der bürgerlichen Viertel als den gemeindlichen „Unterabteilungen" ergeben sich auf institutioneller wie auf lebensweltlicher Ebene gemeinsame Selbstverständnisse, die quasi als Scharniere zwischen partialer und lokaler Lebenswelt wirken. Man mag hier an Max Webers Begriff von der eigenen „Binnenmoral" sozioprofessioneller Gruppen denken, deren Identität sich aus diesem „inneren" Selbstverständnis speist, die sich zugleich jedoch nur dadurch legitimieren können, daß sie sich nicht als „Sonderkultur" darstellen, sondern als integraler Bestandteil des lokalen bürgerschaftlichen Gesellschaftsgefüges. Damit scheint eine Balance möglich im Verhältnis von gemeinsamem sozialmoralischem Wertehorizont und divergierender Gruppen- und Berufsethik - eine historisch gewiß stets diffizile Balance, die in der kommunalen Öffentlichkeit immer wieder neu gesucht werden muß. Heinrich Schmidt hat schon vor über 30 Jahren bei der Untersuchung historischer deutscher Städtechroniken festgestellt, wie sehr darin die Topoi „Einheit" und „Zwietracht" als zeitgenössisches Begriffspaar das Spannungsfeld und zugleich das Selbstverständnis des städtischen Kommunalismus charakterisieren. Und er schlußfolgerte: „Das Recht, aus dem die Stadt lebt, überwölbt den Gegensatz von Rat und Zünften." 1 0 ) Zum Teil formt sich dieser Konsens sicherlich auch in der gemeinsamen Koalition der Vollbürger gegen die städtische Armut und deren „plebejische Kultur", die den Wertehorizont ständischer Sozialordnung immer wieder in Frage stellt. Mit der Verarmung und Stadtzuwanderung großer Produzentengruppen wächst der soziale Druck von unten gegen Bürgerprivileg und „polizeyliches" Ratsregiment. Ein Anteil von bis zu 50% Armer und Besitzloser an der Stadtbevölkerung und eigene Armenviertel, abgedrängt in die Vorstädte zwischen Siechenhaus und Abdeckerei, sind in der Frühneuzeit keine Seltenheit mehr. In Lübeck leben im 16. Jahrhundert bereits 42% aller Haushalte in Mietswohnungen, in Rostock gar 57%"), und die steigenden Mieten und Grundstückspreise bieten 10
) H. Schmidt, Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses im Spätmittelalter. 1958, 86. ") Vgl. E. Schubert, Gauner, Dirnen und Gelichter in deutschen Städten des Mittelalters, in: C. Meckseper/E. Schraut (Hrsg.), Mentalität und Alltag im Spätmittelalter. 1985, 97-128, hier 98.
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auch in kleineren Landstädten kaum mehr eine Möglichkeit, ohne ererbten Besitz eine selbständige Existenz zu begründen. 12 ) Zugleich freilich verstärkt sich im Zuge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auch die wechselseitige Abhängigkeit: Wie die Armenexistenz von Lohn und Brot, von privater und kommunaler Karitativität, so ist die städtische Bürgerexistenz zunehmend von dieser Hand- und Hilfsarbeiterschaft abhängig, die für den städtischen Arbeitsmarkt wie für die kommunalen Versorgungs- und Entsorgungsdienste längst unentbehrlich ist. Der Ausbeutung der Arbeitskraft, ihrer rechtlichen Unterprivilegierung und sozialen Stigmatisierung steht so eine wirtschaftlich und moralisch begründete Fürsorgepflicht gegenüber, die in der systematischen Kommunalisierung der Armenfürsorge seit dem 16. Jahrhundert ihren Ausdruck findet.13) Gerhard Oestreich hat diese „Sozialregulierung" im Rahmen der „Urbanisierung der vorindustriellen Gesellschaft" zutreffend als Doppelstrategie charakterisiert 14 ): Zum einen bedeutet dies die „harte" Disziplinierung durch Polizei- und Strafwesen, zum andern die „weiche" Integration in die kommunale Ordnung durch Stiftungen und Armenunterstützung, auch durch die ständig wachsende Zahl der „niederen" Gemeindedienste, in denen kommunale Normen und Werte von Tor- und Nachtwächtern, von Bütteln und Müllwerkern als „Ordnungsträgern" aktiv mitverwaltet und damit zugleich im Unterschichtenmilieu vertreten, reproduziert werden. Nicht nur in Kämpfen und Revolten, sondern ebenso in solchen Versorgungsbeziehungen und Arbeitsverhältnissen werden die kontroversen Ansprüche und Erwartungen immer wieder neu ausgehandelt. Trotz ungleicher Rechtspositionen und ungleichgewichtiger materieller Abhängigkeiten vollzieht sich so im Rahmen des so12 ) Vgl. K. Drollinger, Kleine Städte Südwestdeutschlands. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Städte im rechtsrheinischen Teil des Hochstifts Speyer bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. 1968, 51 ff. 13 ) Vgl. R. Jiitte, Disziplinierungsmechanismen in der städtischen Armenfürsorge der Frühneuzeit, in: Ch. Sachße/F. Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. 1986, 101-118, hier 107; K. Krüger, Die deutsche Stadt im 16. Jahrhundert. Eine Skizze ihrer Entwicklung, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 2, 1975, 30-47. Zum religiösen bzw. ideologischen Hintergrund s. H.-Ch. Rublack, Gescheiterte Reformation. Frühreformatorische Bewegungen in süd- und westdeutschen geistlichen Residenzen. 1978, bes. 143 ff. 14 ) G. Oestreich, Policey und Prudentia civilis in der barocken Gesellschaft von Stadt und Staat, in: Barock-Symposion 1974. Hrsg. von A. Schöne. 1976, 10-21, hier 11.
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zialen Protests wie auf dem institutionellen Weg der Eingaben und Beschwerden jener permanente Prozeß eines „collective bargaining", wie ihn die neuere englische Sozialgeschichte um Eric Hobsbawm und Edward Thompson als den Grundmodus des vorindustriellen Verteilungs- und Wertekampfes in den Lokalgesellschaften skizziert - ein Grundzug, wie mir scheint, auch im Kommunalismus der neuzeitlichen deutschen Stadtgesellschaft. Ich muß es bei diesen Andeutungen belassen, die nur schlaglichthaft beleuchten sollen, daß trotz der stets virulenten Sozialkonflikte und der wachsenden Partialinteressen der städtische Kommunalismus dennoch für alle Gruppen einen gemeinsamen lebensweltlichen Bezugsrahmen und damit einen wesentlichen Grundzug sozialer Identität zu bilden vermag. Nicht weil er „Gleichheit" und „Gemeinschaft" verspräche, sondern weil er das dialektische Verhältnis von divergenten Gruppeninteressen und kommunalem „common sense" gleichsam zu seiner systemischen Voraussetzung macht. Viele kommunale Strukturen sind - jedenfalls ihrem Prinzip nach - ganz offen als Diskurs- und Konfliktfigurationen angelegt: Sie setzen in der Gestalt von Gericht und Bürgerversammlung, von Rekurs und Petition bereits die Wahrscheinlichkeit des Interessenkonflikts voraus und bieten damit gleichzeitig die Möglichkeit des Verhandeins und des Ausgleichs an. Auf dieser Funktionsebene gemeindlicher Selbstverwaltung sind gravierende Unterschiede zwischen Stadt und Land keinesfalls zu übersehen. „Städtische Freiheiten" als besondere Form bürgerlicher Rechtsgestaltung bezeichnen hier gewiß nicht nur einen Mythos, sondern auch substantielle stadtbürgerliche Grundrechte, die in der feudalen Welt dörflicher Grundherrschaft weithin unbekannt sind. Dort wiederum erscheint die Lebenswelt homogener, allein schon durch jenes gemeinsame Band der Existenzsicherung aller durch körperliche Arbeit, durch den Bezug auf ein gemeinsames Modell einer im Kern bäuerlichen „Arbeitsidentität", wie es im städtischen Bereich mit seiner Trennung und hierarchischen Bewertung von Kopf- und Handarbeit trotz des Aufstiegs der Zünfte nicht mehr existiert. Und neben anderem mehr trennt wohl auch, daß im Dorf mit der bäuerlichen Elite eine eher „traditionale" Form kommunaler Herrschaft existiert, daß dort vielfach die Unterschichten auf Veränderung drängen und in gewisser Weise eine „Modernisierungskraft" verkörpern, während in der Stadt doch die bürgerlichen Eliten in ihrer Gesamtheit wesentliche Wandlungsimpulse geben,
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also eine vergleichsweise „moderne" Form von Herrschaft ausüben. Gleichwohl scheinen Dorf- und Stadtordnungen in der Tat „strukturelle Gemeinsamkeiten" 15 ) aufzuweisen. In Satzung und Rechtsform definieren sie gleichermaßen Raumordnungen und Sozialordnungen im Sinne kollektiver Normen- und Wertehorizonte: Gerechtigkeits- und Moralvorstellungen, Pflicht- und Ehrbegriffe, Statuszuschreibungen und soziale Ausgrenzungskriterien. Dabei beruhen deren Gültigkeit und Konsensfähigkeit nicht etwa auf der Basis von egalitären und demokratischen Vorstellungen, sondern auf dem „Gleichheitsprinzip" der sozialmoralischen Begründung von Rechten und Pflichten, die weder sozial gleich verteilt noch gegeneinander ausgewogen sind. „Berechtigte" Bürger stehen neben Gruppen minderen Rechts, Allmendrecht und Fronpflicht bilden kein reziprokes Verhältnis, entscheidend ist vielmehr die Legitimationsbasis, die lebensweltliche Übereinstimmung von sozialer Logik und rechtlicher Norm. Gewiß spielen dabei auch religiöse und konfessionelle Motive eine wesentliche Rolle. Doch scheinen schon im Verlauf der Reformation die religiösen Begründungen, wie Paul Münch schreibt, „langsam von innerweltlichen Begründungen und Legitimationen abgelöst" zu werden - und dies keineswegs nur im unmittelbaren Wirkungsfeld des Protestantismus.1®) 4. Kommunale „Policey" als kulturelle Alltagsordnung Betrachtet man die historische Entwicklung kommunaler Regulationskompetenz, so läßt sie sich vielleicht ganz grob in drei zeitliche und qualitative Stufen gliedern: zunächst im 13. und 14. Jahrhundert die Organisation gemeinsamer Rahmenbedingungen lokalen Lebens um die Festlegung (oder Übernahme) von Maß, Gewicht und Münze, von Liegenschafts- und Nutzungsrechten, von Preisen und Löhnen, dazu die begrenzte Kontrolle der Marktproduktion, des Bauwesens, der Brandvorsorge; dann, ab dem 15. Jahrhundert, die materielle wie kulturelle Ausgestaltung der lebensweltlichen Beziehungen, also gewissermaßen der sozialen „Infrastruktur": schärfere Markt- und Gewerbekontrolle, ,s
) P. Blickte, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch. 1981, 53. ") P. Münch (Hrsg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden". 1984, 35.
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Straßenverkehr und öffentliche Ordnung, Ausbau von Verwaltung und Rechtsverkehr, von Wasserversorgung und Abfallbeseitigung, auch schon Maßnahmen gegen Lärm- und Geruchsbelästigung; in der Mitte des 18. Jahrhunderts schließlich formuliert Philipp Peter Guden bereits das Programm eines modernen, marktgesellschaftlich orientierten und zugleich wohlfahrtspolizeilich kontrollierten bürgerlichen Kommunalismus: Gute „Polizey" habe zu sorgen „für richtiges Gewichte, wohlfeile Preise, gute Waaren, wohlschmekkende Victualien, Reinlichkeit und Zierde der Örter". 17 ) Fast überall und unbegrenzt zeigt sich nun kommunaler Handlungsbedarf. In Gestalt der Armen- und Gesundheitspolizei, der Markt- und Maßpolizei, der Gewerbe-, Moral- und Fremdenpolizei blähen sich Verwaltungskompetenzen und bürokratische Apparate in einer Weise auf, die selbst zeitgenössische Protagonisten des Polizeigedankens erschreckt. Die totale Verwaltung aller Alltagsbereiche im Zuge der Disziplinierungsprogramme des deutschen Spätabsolutismus soll jenen begonnenen Prozeß vollenden, der die Umwandlung kommunaler Selbstverwaltungsprinzipien in staatliche Delegationsaufgaben wie in die bürgerliche Selbstdisziplinierung zum Ziel hat. 18 ) Kommunalismus erhält hier zumindest auch eine zweite, „moderne" Bedeutung: die des staatlich injizierten bürokratischen Virus. Nun vollzieht sich die Entwicklung bis dahin ja keineswegs linear und mechanisch. Zudem verläuft sie eben nicht einfach von oben nach unten, sondern in wechselseitigen Bezügen und Verschränkungen: Die verstärkte Normenproduktion noch des 17. und 18. Jahrhunderts läßt sich keineswegs einseitig „oben" verorten, sondern sie entstammt großenteils durchaus auch lebensweltlichen Verregelungs- und Verrechtlichungsbedürfnissen im lokalen Kontext von Arbeit, Markt, Steuerleistung, Wohnsituation, Religionspraxis, Geselligkeit. Dabei wird in sehr unterschiedlicher Weise in die alltägliche Lebensführung von Sozialgruppen, Berufen, Familien, Individuen eingegriffen. - In vieler Hinsicht, wie mir scheint, durchaus in Übereinstimmung mit der historisch gewachsenen jeweiligen Praxis von Individualrechten bzw. „gemeinen" Pflichten, also ausgehend von lebensweltlichen Gewohnheiten, die nun eine ") Zit. nach Münch, Ordnung (wie Anm. 16), 169. 18 ) Vgl. W. Kaschuba, Fortschrittsuntertanen? Historische Dimensionen „moderner" deutscher Staatlichkeit, in: Th. Schmid (Hrsg.), Entstaatlichung. N e u e Perspektiven auf das Gemeinwesen. 1988, 7-25.
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neue Qualität der Rechtsförmigkeit erhalten. Nicht der Normenbereich an sich wird wesentlich erweitert, sondern der Anteil an verrechtlichten und damit justitiablen Bestimmungen. Im Bereich der kommunalen Zeitordnung etwa taucht die Möglichkeit einer individuellen Gestaltung des Tagesablaufs in den Regulativen des 16. und 17. Jahrhunderts kaum einmal auch nur als gedankliche Möglichkeit auf. Begrenzt durch die Zeitmarken von Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende und Nachtruhe ist der Tagesrhythmus starr festgelegt, gleich doppelt festgeschrieben durch die weltliche Ordnung der Werkstätten, der Torschließungen, der Nachtwächter, des nächtlichen Ausgangsverbots und durch die rituelle Ordnung der Gottesdienst- und Gebetszeiten. Alltagsgeselligkeit hat sich arbeitsnah in den Nischen dieses Zeitreglements abzuspielen. Alles andere fällt unter den großen Klammerbegriff „Müßiggang" - j e d e n f a l l s bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, wo „Freizeit" im modernen Verständnis überhaupt erst entsteht. 19 ) Demgegenüber steht jener große Komplex der Festordnungen offenbar unter etwas anderen Vorzeichen. Zwar sollen sie ebenfalls reglementierend wirken, in ihren wortreichen Begründungen indessen scheinen sie eigentlich eher vom Prinzip der Übertretung auszugehen als von jenem ihrer Einhaltung. Im katholischen Köln beispielsweise werden bis ins 16. Jahrhundert jährlich rund 50 feste Feiertage begangen, die 1589 zunächst ein erzbischöfliches Dekret um elf verringert. Bis 1770 bleibt die Zahl bei 35, dann wird sie radikal auf 17 reduziert. Als damals gängige Begründung werden einerseits die feiertäglichen Verführungen zu „Schwelgerey", zu „Freßbrauch" und „Ueppigkeit" angeführt, andererseits die angeblichen Klagen von Bauern und Handwerkern über die vielen „der Arbeit entzogenen Tage". 20 ) Aus dem ökonomischen Motiv und den asketischen Zügen spricht nun bereits deutlich die Rationalitätsidee der Aufklärer und der spätabsolutistischen Reformer. Und in protestantischen Regionen wird dies - häufig verstärkt durch die Kleinbürger- und Handwerkerideologie des Pietismus - manchmal noch weit rigider und puritanischer formuliert. So legt in der Reichsstadt Ravensburg eine ") Vgl. W. Nahrstedt, Die Entstehung der „Freizeit" zwischen 1750 und 1850. Dargestellt am Beispiel Hamburgs. 1972, bes. 84ff.; R. Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. 1980. 20 ) Vgl. W. Herborn, Fast-, Fest- und Feiertage im Köln des 16. Jahrhunderts, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 25, 1983/84, 27-61, hier 30f.
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„Zuchtordnung" bereits aus der Reformationszeit einen Grundstock genauester Regeln fest für Hochzeiten wie Feste, für die Dominikanz wie die Polizeistunde. Verboten sind Fluchen, Trinken, Würfel- und Kartenspiel, regelloses Fastnachtstreiben; Kirchenversäumnisse und Ehebruch werden gemäß einem nach Häufigkeit gestaffelten Strafkatalog geahndet. Und in den folgenden Jahrhunderten werden diese Normen stets wiederholt und die Verbote erneuert und verfeinert. 21 ) Doch lesen sich in Köln wie in Ravensburg die lange Kette der Festverordnungen und der Kanon ihrer Verbotsparagraphen mehr wie ein Unordnungs- denn wie ein Ordnungsprotokoll, sie wirken fast wie ein Katalog sich ständig erweiternder Fest- und Freizeitgestaltungsangebote. Ich vermag in der wachsenden Reglementierung des Festwesens im 15. und 16. Jahrhundert insofern noch kein eindeutiges Indiz für dessen Abnahme zu sehen. Eher scheint eine Verschiebung stattzufinden von den öffentlichen hin zu gruppenbezogenen oder häuslichen Festen, die an der Zahl der Festanlässe wie der Verbotsübertretungen durch fast alle städtischen Gruppen wenig ändert. Von kurzen Restriktionswellen abgesehen, klafft die Schere zwischen Norm und Wirklichkeit jedenfalls weit auseinander. Legitimiert durch Tradition und Brauchtum, wehren sich die Geselligkeitsbedürfnisse offenbar energisch und recht erfolgreich gegen jedes Korsett. Denkt man an die lange Tradition etwa jenes Kampfes gegen den „Blauen Montag", gegen den Wildwuchs der Zunft- und Jahreslauffeste oder gegen die Vielfalt der Lokalkirchweihen, der sich bis ins 19. Jahrhundert hinzieht, dann wird deutlich, wie sehr sich hier eine Mischung aus Traditionen und Gewohnheitsrechten, aus Repräsentations- und Freizeitbedürfnissen letztlich eine eigene Realität schafft. Und diese Befriedigung der Festbedürfnisse korrespondiert à la longue zweifellos mit der allgemeinen Lockerung der Lebensnormen. So vermitteln die gesetzlichen Verordnungen vielleicht ein getreues Bild obrigkeitlich erwünschter Zustände. Und ihr Erlaß scheint von der Bürgerschaft als christliche wie sozialmoralische „Pflichtübung" im doppelten Sinne durchaus akzeptiert. Doch geht die praktische Akzeptanz offensichtlich nur so weit, wie zwischen Norm und Wirklichkeit erhebliche Spielräume belassen werden. 21
) Vgl. A. Dreher, Geschichte der Reichsstadt Ravensburg. Bd. 2. 1972, 671 f.
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Pointiert gesagt, besteht der kommunale „common sense" gewissermaßen in der offenkundigen Schizophrenie von eigenhändiger Normensetzung und eigenständiger Normenübertretung. Diesem Prinzip einer „gespaltenen" Normenproduktion scheinen im übrigen auch manche jener Aufwands- und Konsumreglements zu folgen, wie sie etwa die ständischen Kleiderordnungen verkörpern. Einerseits erfüllt ihr Erlaß die kommunale Pflicht der Fürsorge für die öffentlichen wie privaten Budgets nach den Grundsätzen haushälterischen Denkens; manchmal durchaus auch angeregt von Bürgergruppen, denen angesichts solch hoher informeller Repräsentationsnormen die Hochzeit der Tochter buchstäblich zum Ruin werden kann. Andererseits formiert sich in ihnen die Aufwands- und Luxusdebatte zu einem permanenten öffentlichen Diskurs über die Ausgestaltung sozialer Lebensstile, wie sie im Zuge des Wandels ständischer Ordnung und sozialmoralischer Berufsethiken stattfindet. Letztlich entsteht der Eindruck, daß die Thematisierung dieser habituellen Selbstdarstellungs- und Repräsentationsformen als einer symbolischen Konkurrenz der Sozialgruppen wichtiger ist als die faktische Durchsetzung des Ordnungsprinzips selbst. Anders wiederum mag es sich im Falle von Fastnacht und Karneval verhalten. Hier zeigen sich schärfere ordnungs- und sozialpolitische Vorzeichen, die sicherlich mit der vorreformatorischen und reformatorischen Tradition der Fastnacht zusammenhängen. Nachdem es nicht mehr nur Ventil ist für die rituelle Entladung sozialer Spannungen, sondern auch Medium und Instrument konfessioneller wie sozialer Kämpfe, wird zumindest das karnevaleske Straßenfest der „verkehrten Welt" systematisch und ordnungspolizeilich eingeschränkt. Versammlungs- und Vermummungsverbote, Abschaffung der Narrengerichte, Verbote bestimmter Figuren und Masken zielen von Köln bis Wien, von Göttingen bis Nürnberg ganz direkt gegen den straßenöffentlichen Charakter und den sozial- und obrigkeitskritischen Gestus des Narrentreibens. 22 ) Damit erhalten die Verbote zugleich eine klare soziale Stoßrichtung, da die Hauptträgergruppen dieses öffentlichen Sich-Auslebens wie seines Umschlagens in die Revolte vor allem die Handwerksgesellen und die Unterschichten bilden. Wiederum findet die 22
) Vgl. B. Scribner, Reformation, Karneval und die „verkehrte Welt", in: R. van D ü l m e n / N . Schindler (Hrsg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert). 1984, 117-152.
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Doppelstrategie von Disziplinierung und Integration ihre Anwendung: zum einen Verbote und Strafverfolgung eines Artikulationsmodells „plebejischer Kultur", zum andern seine Domestizierung zur häuslichen Fastnacht bzw. die öffentliche finanzielle Förderung offiziös geordneter Umzüge und Fastnachtsspiele und die Übernahme tragender Rollen durch bürgerliche Gruppen und kommunale Mandatsträger. 23 ) Eine derartige Sicherung kommunaler Öffentlichkeitsformen und öffentlicher Räume ist in dieser Zeit ja ein generell zu beobachtender Vorgang. Er drückt sich sowohl im Aufbau von Verkehrsordnungen, von Gasseninspektionen und Straßenreinigungspflichten aus - prosaisch gesprochen stehen wir in der Geburtsstunde der Kehrwoche - , als auch im Ausbau der polizeilichen Straßensicherheit mit verstärkten Passanten- und Bettlerkontrollen, mit der Sicherung der nächtlichen Stadt durch die Scharwache wie die Anfänge einer öffentlichen Straßenbeleuchtung. Kommunale Modernisierung geht so besonders ab dem späten 17. Jahrhundert Hand in Hand mit kommunalen Sicherungsprogrammen. 24 ) Ziel ist die vollkommene „öffentliche Ordnung und Ruhe", die in diesem Bereich paragraphengetreu verfolgt wird und keine „freien" lebensweltlichen Interpretationen duldet. Dabei werden zudem „öffentlicher" und „privater" Raum neu definiert, den mittelalterlichen Begriff des „Friedensbereichs" bereits in einem vorbürgerlichen Sinn modifizierend. Der dörfliche Hauszaun bzw. die Hausschwelle im städtischen Bereich markiert quasi eine begrenzte „Intimsphäre", alles andere unterliegt der direkten öffentlichen Kontrolle. Ganz deutlich ziehen beispielsweise die Polizeiordnungen des frühen 18. Jahrhunderts in puncto Sauberkeit und Abfallbeseitigung die Grenzlinie der öffentlichen Ordnung an den Haustüren und Hausmauern, verbieten etwa das Hinausfegen oder das „Ausschütten" von „ U n r a t " aus den Fenstern. 25 ) Wobei dieser „private" Lebensraum wohl überwiegend die räumlichen ") Vgl. H. Kiihnel, Die städtische Fastnacht im 15. Jahrhundert, in: P. Dinzelbacher/H.-D. Miick (Hrsg.), Volkskultur des europäischen Mittelalters. 1987, 109-127, hier 118ff. M ) Vgl. zu diesem Aspekt W. Schivelbusch, Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. 1986, bes. 85 ff. 2S ) S. etwa O. Borst, Stuttgart. Die Geschichte einer Stadt. 1973, 112 und 154; auch die Beiträge von H. Heidrich („Grenzübergänge") und von B. MüllerWirthmann („Raufhändel") in: R. van Dülmen (Hrsg.), Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. 1983.
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wie rechtlichen Abschließungs- und Rückzugsmöglichkeiten der Oberschichten beschreibt, während das Leben der unteren Schichten weithin „öffentlich" verläuft: öffentlich kontrolliert wie öffentlich gelebt zwischen den Häusern und auf der Straße. Im Unterschied zum städtischen Raum gilt im dörflichen Bereich offenbar stärker die Tendenz, „daß die Gemeinde über gewisse Gegenstände des persönlichen Eigentums eine Art Oberaufsicht führen zu können glaubte". 26 ) Namentlich der Grundbesitz, der ohnehin durch Dreifelderwirtschaft, durch Flur- und Anbauordnungen in gewisser Weise „kommunalisiert" ist, wird als gemeinsame Ressource verstanden. Das entspricht durchaus jenem lebensweltlichen Grundverständnis, wie es sich in der umfassenden dörflichen Sozialkontrolle der Arbeits- und Lebensführung äußert. In besonders drastischer Weise zeigt sich das in der öffentlichen Regie des lokalen Heiratsmarktes, der konsensuell zunächst den einheimischen Familien und Verbindungen vorbehalten bleibt. So stellen die Rügebräuche und Charivaris etwa der dörflichen Ledigengruppen oft einen mehr oder weniger von der dörflichen Öffentlichkeit gebilligten Versuch dar, auswärtige Heiratspartner fernzuhalten, um so die Verehelichungschance wie den familiären Grundbesitz gleichsam als kommunale „Ressource" behandeln zu können 27 ) - dörflicher „common sense" in Reinform. Ohnehin gilt für das Dorf diesbezüglich eine Tendenz, die Karl Siegfried Bader vorsichtig als „Verzicht auf Individualinteressen" und „Sippenindividualismus" zugunsten von Gemeinschaftsinteressen gekennzeichnet hat 28 ), die sich aber natürlich auch in vielen Fällen weniger freundlich als Konformitätszwang und sozialer Druck charakterisieren läßt. Soweit nur einige Beispiele. Entscheidend für die Synchronisation von Ordnungsnorm und praktizierter Lebenswelt-Ordnung scheint mir dabei, daß die normativen Setzungen vielfach als „lebbare" Modelle entworfen sind, als alltagsnahe Kommunikationsund Interaktionsfiguren. Unschwer lassen sich gewisse Grundzüge der Rüge, des Klatsches, des öffentlichen „Schimpfs" in der institutionellen Form der Kirchenkonvente und der Polizeigerichte wie26
) Troßbach, Soziale Bewegung (wie Anm. 5), 89. ) S. dazu H. Medick, Spinnstuben auf dem Dorf. Jugendliche Sexualkultur und Feierabendbrauch in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: G. Huck (Hrsg.), Sozialgeschichte der Freizeit. 1980, 19^19. 2S ) Bader, Dorfgenossenschaft (wie Anm. 4), 56. 27
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dererkennen, die ihrerseits ja durchaus als „halböffentliche" Kontrollorgane zu charakterisieren sind. Ebenso spiegeln sich Motive einer Alltagsordnung wider in jenen „Ordnungskonfigurationen" des „Abläutens" der Polizeistunde in den Wirthäusern, des Kirchgangs als amtlich kontrolliertem „Gang", des ordnungsgemäßen „Gassenkehrern" wie des geregelten Badebetriebs an Flüssen und Seen. Das reicht bis zur Kleidung und zur körpersprachlichen Reglementierung: Die äußere Norm gründet auf ein älteres Substrat innerer Werte und kollektiver Haltungen. Dem entspricht auch die Verschränkung von Fremdkontrolle und Selbstkontrolle, indem die „direkte" personale und gruppeninterne Sozialkontrolle mittels „Sitte und Brauch" ergänzt wird durch die „delegierte" polizeiliche Ordnungskontrolle. Insofern darf nicht übersehen werden, daß diese Ordnungen zwar Herrschaftsformen verkörpern: Programme „innerer Herrschaft" im Sinne sozialkultureller Hegemonie wie äußerer, staatsförmiger Machtausübung; die Abgrenzung fällt im Einzelfall schwer. Zugleich stellen sie jedoch auch Formen der Vergesellschaftung dar: In Polizei- und Kleiderordnungen, in Armen- und Taxordnungen drückt sich auch der Prozeß der kollektiven Normenproduktion bzw. des Normenkonfliktes aus. Max Webers Begriff der „Vergesellschaftung" zielt ja auf diese Ausgestaltung und Verallgemeinerung sozialer Beziehungen und Verhaltensmuster in Form eines - wie er es nennt - „rational motivierten Interessenausgleichs", der letztlich allgemeine „Konvention" und „Billigung" schafft. 29 )
5. Legitimationsprinzipien: soziale Logik und sozialmoralische Norm Kommunalismus folgt also einerseits keineswegs etwa einem ausgewogenen Grundsatz von individuellem Leistungsbeitrag und kommunaler Gegenleistung. Und es sind andererseits auch klare soziale Asymmetrien festgeschrieben durch die rechtlichen Fundierungen sozialer und kultureller Hegemonie, insofern der Rechtsstatus des Gemeindebürgers gegenüber dem Beisitzer, der des Eigentümers gegenüber dem Besitzlosen explizit soziale Ungleichheit voraussetzt. 29
) M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 1972, 21.
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Wie kann dies nun konsensfähig sein? Wie legitimiert sich diese Ordnung eben nicht nur als herrschaftliches Konstrukt, also durchgesetzt qua äußerer wie innerer Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, sondern wie findet sie positive Anerkennung auch als Selbstverständnis und lokale „Welt-Anschauung" der Unterprivilegierten ? Die argumentative Begründung für solche Verordnungen und Normen greift immer wieder auf dieselben Grundsätze zurück: Tradition und Herkommen, Eigenrecht und Satzung, Gemeinwohl und gemeiner Nutzen, räumliche Nähe und nachbarschaftliche Betroffenheit. Mit solchen zugleich juristisch wie funktional, moralisch wie symbolisch argumentierenden Bestimmungen werden komplexe Legitimationsbündel geschnürt, die auf eine gewachsene Basis historischer, sozialer und ethischer Übereinkünfte rückverweisen. Es ist der Rückgriff auf einen in sich geschlossenen Sozialkomment, dessen Logik und dessen Regeln, da sie sich auf „eigene" Tradition und Autorität berufen, in ihrer Wertigkeit nicht bestritten werden können. Sie lassen sich lediglich in ihrer jeweils konkreten Bedeutung neu interpretieren. Dabei meint diese Geschlossenheit auch den aktiven räumlichen und sozialen Abschluß nach außen: die territoriale Abgrenzung und die gesellschaftliche Ausgrenzung des Fremden. Dieses Prinzip drückt sich in der genauen Prüfung von „Vorleben und Abstammung" 30 ) neuaufzunehmender Bürger, also in der kontrollierenden Kooptation des Rechtskreises ebenso aus wie in der hermetischen Abschließung gegenüber „unehrlichen" Berufen, gegenüber Vaganten oder etwa jüdischen Gruppen. In diesen Fällen wird „Fremdheit" gleich doppelt sanktioniert, durch juristische Disqualifizierung wie durch soziale Stigmatisierung. 31 ) So baut die Autorität der Legitimationsprinzipien auf der inneren Kontingenz und auf der zeitlichen Kontinuität von Erfahrungsund Lebensweltstrukturen auf, auf Strukturen also der longue durée. In den Dörfern bewirken die bäuerliche Arbeit, die generationsübergreifende familiäre Perennität, die lokale Endogamie, die konfessionelle Homogenität ohnehin eine Grundtendenz zu sozialer Statik und kultureller Wertestabilität. Und in den Städten gelten bis ins 18. Jahrhundert zumeist ähnlich überschaubare und „personale" Beziehungen durch die bis dahin kleinen Einwohnerzahlen, durch 30 31
) F. Diehm, Geschichte der Stadt Bad Mergentheim. 1963, 91. ) Vgl. Bader, Dorfgenossenschaft (wie Anm. 4), 59.
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die ortsfesten bürgerlichen Kerngruppen, durch die Verbindung von weltlichen und religiösen Ordnungssystemen. Man braucht nur nochmals an den Rhythmus des Alltagslebens zu erinnern, bestimmt durch die handwerkliche Tageszeitordnung 32 ) wie durch Kirchenglocke und Gottesdienstzeiten, oder an den städtischen Festkalender, der ungeachtet aller Veränderungen im 17. und 18. Jahrhundert doch stets eine Synthese bleibt aus den Festterminen des Kirchenjahres und den Brauchterminen des Arbeitsjahres. Satzungs- und Lebensweltprinzipien entsprechen sich also in vielfacher Hinsicht, - insofern „das Herkommen" beides meint, die Anciennität der Werte und Rechte wie der Erfahrungen, der Familien und Lebensalter; - insofern „gemeiner Nutzen" die gemeinsamen Ressourcen bezeichnet sowohl im Sinne der ideell verfügbaren historischen Überlebenserfahrung wie der kooperativ verwalteten materiellen Überlebens-Mittel um die Allmende; - insofern „gerechter Preis" auf die christliche Tradition der mittelalterlichen Wucherdiskussionen um die „justitia pretii" zurückgreift 33 ) wie auf die lebensweltlichen Auskommens- und die Ehrsamkeitsvorstellungen der „ moralischen Ökonomie"; - insofern „Nachbarschaft" auf eine christlich-karitative Ethik verpflichtet wie auf die genossenschaftlichen Subsidiaritätsprinzipien der „ N ä h e " und der „Betroffenheit". 34 ) Damit sind stets „ganze" Erfahrungskontexte angesprochen, Werte und Bedeutungen in einer komplexen historischen und kulturellen Dimension, in der die kommunalen Rechtssatzungen fast als Sakrosanktum kollektiven Selbstverständnisses wirken. Im Recht der Gemeinde als der „Trägerin der Souveränität" 35 ) und in der gemeindebürgerlichen Achtung dieses Rechts verschränken sich kollektive und individuelle Ehre. Es handelt sich also durchweg um ältere Grundsätze, die sich indessen auch noch in den „bürgerlichen Tugenden" der Aufklärer deutlich widerspiegeln. Etwa wenn für Johann Heinrich Gottlob von n
) Vgl. Nahrstedt, Freizeit (wie Anm. 19), 212ff. ) S. dazu C. Bauer, Der Wucher-Begriff der Reformatio Sigismundi, in: Aus Stadt- und Wirtschaftsgeschichte Südwestdeutschlands. Festschrift für Erich Maschke zum 75. Geburtstag. 1975, 110-117. 34 ) Vgl. Bader, Dorfgenossenschaft (wie Anm. 4), 59 f. 35 ) Blickle, Unruhen (wie Anm. 5), 101.
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Justi 1761 die vier Haupttugenden der Bürger „gegen einander" bestehen „1) In der Bereitwilligkeit zum gemeinschaftlichen Beystande 2) in der Gerechtigkeit 3) in der Redlichkeit, und 4) in der Geselligkeit, oder vielmehr in der gesitteten Höflichkeit". 36 ) Unschwer läßt sich darin die Kontinuität jener Kernauffassungen von Subsidiarität, von Rechtsachtung, von sozialmoralischer Bindung und von Ehre erkennen. Eine ganz entscheidende Bedeutung kommt dabei zweifellos der symbolischen Struktur und den fast liturgischen Formen zu, in die dieser Wertehorizont gekleidet ist. Die rituelle Bestätigung der Gemeinschaftlichkeit, der Gültigkeit, der Legitimität, des Respekts vor der eigenen „Souveränität" durchzieht das gesamte Drehbuch kommunaler Selbstdarstellung: das gemeinsame Essen und der Umtrunk bei Amtsgeschäften, die Ablegung des Bürger-Eids „unter Waffen" und die Bürgerversammlungen im Festgewand, die Zunftund die Bürgerfeste, die jährlichen dörflichen Markungsumgänge und das vielfach vorgeschriebene Pflanzen von zwei Bäumen auf der Allmende beim Eintritt ins Bürgerrecht. All das sind rituell geformte, affektiv hoch besetzte Ausdrucksformen von gemeindlicher Würde und Souveränität, in denen sich die persönliche Selbstachtung wie die gegenseitige Achtung manifestieren, in denen versucht wird, „Gemeinschaft neu zu stiften und Solidarität neu zu begründen". 37 ) Umgekehrt gleicht die Bestrafung von Verstößen gegen Ehrgebote und „common sense" einer rituellen Exkommunikation aus der Gemeinschaft. Vor allem dann, wenn sie von Aktionen der „Volksjustiz" begleitet sind, die in Rügeform mit Schimpfreden oder Steinwürfen wiederum mehr symbolisch als materiell die Schwelle des Hauses und die Integrität der Person verletzen. Ja, es wird der symbolischen Struktur getreu regelrecht „ausgebürgert", indem man in württembergischen Dörfern beispielsweise dem Gerügten zwei Bäume niederschlägt und dadurch seinen Eintritt in das Bürgerrecht quasi zurücknimmt. 38 ) Damit beinhalten Norm und Ritus natürlich auch genuine Momente des sozialen Zwangs, ein Festlegen auf konformes Verhalten im Alltag, besonders aber auf die 36
) Zit. nach Münch (Hrsg.), Ordnung (wie Anm. 16), 162. ") Troßbach, Soziale Bewegung (wie Anm. 5), 60. 38 ) Vgl. W. Kaschuba/C. Lipp, Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller und sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert. 1982, 82 f.
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Einhaltung von „Solidarstrategien" in den Konflikten zwischen Gemeinde und Gemeindeherrschaft. 39 ) Andererseits zeigt sich, daß bei bestimmten Normenkonflikten gerade die symbolische Ebene wiederum Kompromißmöglichkeiten anbieten kann. Etwa beim klassischen frühneuzeitlichen „Mentalitätskonflikt" zwischen jener traditionellen Vorstellung des „Auskommens" im Sinne handwerklicher „moralischer Ökonomie" und dem neuen großbürgerlichen Gewinnstreben, bei dem die ethischen Gegensätze sich durch den Rückgriff auf christliche Symbolhandlungen versöhnen lassen: Die berufsbedingte „Unmoral" von Zins und Gewinn wird durch besondere religiöse Aktivität und soziale Karitativität ausgeglichen. Durch wohltätige Spenden und Stiftungen, die neben dem Seelenheil auch den Gelderwerb „reinigen", wird solch individualistisches Abweichen symbolisch eingestanden und durch den Beitrag zur „allgemeinen Wohlfahrt" kompensiert. Vielleicht ein Beispiel dafür, wie gerade mit Hilfe „traditionaler" Muster innere „Modernisierungen" und allmähliche Mentalitätsveränderungen bewerkstelligt werden. Nun kommt die wesentliche Bedrohung der kommunalen Satzungsautorität und Normenproduktion bis ins 18. Jahrhundert doch überwiegend von außen, von den herrschaftlichen Zwischen- und Zentralgewalten. Neue Steuern und die Erhöhung der Feudalrente schwächen den gemeinsamen Fundus bürgerlicher und bäuerlicher Existenzmittel; die Verrechtlichung bedeutet auch die Enteignung von kommunaler Rechtskompetenz; fremde Verwaltungen und juristisch abstrakte Formen des Herrschaftswissens dequalifizieren und degradieren das eigene empirische Produzenten- und Verwaltungswissen. Was äußerlich durchaus auch Züge der Modernisierung von Gesellschaft trägt, nämlich der herrschaftliche und staatliche Zugriff des Absolutismus auf die „untere" Verwaltungsebene, das bedeutet im Innern oft schmerzhafte Autonomie- und Identitätsverluste. Deshalb erscheinen die dörflichen Revolten und die städtischen Abwehrkämpfe gegen grundherrschaftliche Vorstöße wie gegen den neuen Etatismus nicht nur als Reaktionen auf materielle Betroffenheit, sondern stets auch als „Legitimationskämpfe", als Versuche der Behauptung eigener Wert- und Lebenswelthorizonte, 39 ) Vgl. zum dörflichen Bereich Troßbach, Soziale Bewegung (wie Anm. 5), bes. 86.
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einer „Eigenwelt". 40 ) Und deshalb findet der Kommunalismus wohl immer wieder zur politischen Gestalt lokaler Kollektivhaltungen und Bewegungen, die jenseits der internen Lage- und Interessendifferenzen auf der „Einheit im Gegensatz" zur Herrschaft aufbauen. Auch kleine gemeinsame Nenner gewinnen durch die Bedrohung von außen an realem wie symbolischem Gewicht, sie erhalten oft dadurch erst ihre überhöhte und damit bewußte Bedeutung als „Recht" und „Tradition" aus eigener Hand. Zugleich wissen wir natürlich, daß diese Einheit labil und daß die Linie zwischen dem gemeindlichen „Drinnen" und „ D r a u ß e n " so einfach oft nicht zu ziehen ist. Einerseits reicht der Arm der Grund- und Stadtherren stets bis in die Gemeinde herein, hat dort seine Agenturen und Parteigänger. Andererseits spielen im Kommunalismus als antifeudaler Bewegung auch Herrschaftsinteressen bürgerlich-bäuerlicher Eliten mit, die im Rahmen kommunaler „Einheitsfronten" eigene Machtpositionen geschickt neu legitimieren. Diese oft komplizierten „inneren" Parteien- und Interessenkonstellationen dürfen sicherlich nicht unterschätzt werden. David Sabean hat kürzlich bei der Untersuchung dörflicher Herrschaftsformen zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß mit einem allzu „einfachen dichotomen Modell" des Herr-Knecht-Verhältnisses gerade für die frühe Neuzeit weithin ausgeblendet bleibt, „in welcher Weise Menschen verschiedener Gesellschaftsebenen in den Herrschaftsapparat eingebunden sind". 41 )
6. Resümee: Kommunalismus als historische „Volksschule" der politischen Kultur? Gewiß kann man nun fragen, inwieweit der spätmittelalterlichfrühneuzeitliche Kommunalismus sich im Sinne einer gestaltenden politischen Kraft als Gegenspieler der feudalen Herrschaft begreifen und erklären läßt. Peter Blickles Überlegungen vor allem zielen ja wohl in diese Richtung. Und mir scheint die Frage ebenso legitim wie anregend, wesentlich auch für die Überprüfung unseres Geschichtsbildes.
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) Wunder, Bäuerliche Gemeinde (wie Anm. 3), 85. ) D. W. Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit. 1986, 38. 41
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Dagegen wird nun eine ganze Reihe von Einwendungen geäußert, die z.T. jedenfalls nicht neu sind. So wird gern auf die lokalistische Begrenzung des Kommunalismus verwiesen, auf seinen vermeintlichen Kirchturmhorizont und seine Unfähigkeit zu übergreifender Kooperation und Organisation. Doch entspricht dieser lokale Horizont zunächst einfach der lebensweltlichen wie der auch „unfertigen" herrschaftlichen Struktur der feudalen Gesellschaft. Nur auf dieser Ebene läßt sich im 17. und 18. Jahrhundert daher der absolutistische staatliche Regulationsanspruch mit Aussicht auf begrenzten Erfolg eindämmen zugunsten individueller und kommunaler Gestaltungsmöglichkeiten. Peter Blickle nennt dafür als Grundgedanken „die Komplementarität von Individuum und Genossenschaft" 42 ), der bis an die Schwelle der Moderne in der Tat solche begrenzten „Gegenwelten" zu entwerfen vermag. Ein weiterer Einwand betrifft das vielfach konservative, statusquo-verhaftete kommunale Denken. Angesichts der sich verändernden Rahmenbedingungen, also der sich verschärfenden Ausbeutung und Etatisierung, läßt sich dieser „status quo" freilich oft als ein „Zurück nach vorn" interpretieren: Herrschaftsformen werden im Gewände der Tradition und der Besitzstandswahrung abgewehrt und dadurch zum Kompromiß oder zur „Modernisierung" gezwungen. Hier könnte umgekehrt auch eine Stärke des Kommunalismus gerade in dieser Persistenz gesehen werden, in der Dauerhaftigkeit und Kontinuität seiner Haltung, die eine Basis bildet für alltägliche „kleine" Konfliktfähigkeit wie - wenngleich eher punktuell und reaktiv - für die „Revolte". Ein dritter Einwand zielt auf die soziale Asymmetrie des Gemeinderechtes - an unseren Maßstäben gemessen sicherlich zu Recht. Doch im historischen Kontrastbild verkörpert die feudale Ordnung das Ungleichheitsprinzip, während die kommunale Ordnung dort - cum grano salis - das Gleichheitsprinzip vertritt, indem sie zumindest theoretisch keine ständischen und herkunftsbezogenen Schranken errichtet. Allerdings schließt sie Statusminderungen qua Geschlecht und Besitz systematisch ein. Das entscheidende Problem von Blickles These indessen scheint mir darin zu bestehen, daß Kommunalismus und Feudalismus sich weder als kongruente Kategorien noch als antagonistische gesellschaftliche Formationsprinzipien erklären lassen. In gewisser Weise 42
) Blickle, Unruhen (wie Anm. 5), 108.
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verhält sich der Kommunalismus - ähnlich wie sein inneres Zellsystem, die verschiedenen Varianten ländlicher und städtischer Gemeinde - komplementär zum gesellschaftlichen System. Lediglich dort, wo er als Bewegung die „ungerechten" Auswüchse feudaler Herrschaft und damit dann indirekt auch deren Prinzipien attakkiert, übernimmt er punktuell die Gegenspielerrolle. Generell jedoch - ausgenommen vielleicht das 16. Jahrhundert - versucht er keineswegs, seine Grundsätze etwa als allgemeine Grundsätze gesellschaftlich durchzusetzen, sondern er begrenzt sich auf deren lebensweltliche Absicherung. Insofern verhält er sich im System feudaler Gesellschaftsbeziehungen als teilautonome Sozialform, deren „lebensweltliche Logik" die herrschaftliche „systemische Logik" (Jürgen Habermas) in mancher Hinsicht teilt, in anderer unterläuft oder mit ihr konkurriert. Er wird - pointiert gesagt - keine „soziale" Bewegung, sondern bleibt „lebensweltliches" Erfahrungs- und Bewegungsprinzip - auch das ist nicht wenig. Karl Mannheim bereits sprach vom Untergang der altständischen Welt als einem Prozeß der „Fundamentaldemokratisierung". In dessen Rahmen hat der ländliche wie der städtische Kommunalismus mit seinen Diskursmodellen, seinen Repräsentationsmustern, seinen Vergesellschaftungs- und symbolischen Gemeinschaftsformen zweifellos eine zentrale Rolle gespielt hat - in kommunale Metaphern gefaßt: zugleich die Rolle einer „ H e b a m m e " moderner „politischer Kultur" wie jene des Totengräbers „feudaler Willkür". Und schließlich bildet sich im Kommunalismus und in seinem empirischen Begriff von „natürlicher Freiheit" eine Tradition heraus, die sich im 19. und 20. Jahrhundert - wenn auch in anderen Bewegungsformen - fortsetzt: Unter den veränderten industriekapitalistischen Rahmenbedingungen erscheinen dort der soziale Protest und die regionalistischen Bewegungen in vieler Hinsicht als eine Fortführung solcher lebensweltlicher Gestaltungsversuche, als Erben eines Kampfes um begrenzte soziale Autonomie, um eigene kulturelle Autorität und um ein Stück politischer Definitionsmacht.
ZUM FEUDALISMUSBEGRIFF IN DER KOMMUNALISMUSDISKUSSION VON HEIDE WUNDER U N D CARL-HANS HAUPTMEYER
I. K O M M U N A L I S M U S und Feudalismus seien antagonistische Prinzipien. 1 ) Kommunalismus sei ein Annäherungsbegriff an eine Epoche, die von 1300 bis 1800 währte, „mit der gleichen Aussagekraft wie Feudalismus, Kapitalismus oder Absolutismus". 2 ) „Gemeinde" stehe „versus Feudalismus" 3 ), ja „Kommunalismus" stehe „versus Feudalismus", Kommunalismus sei eine „Gesellschaftsformation". 4 ) Im Einführungsreferat der „Kommunalismus-Tagung" verfeinerte Peter Blickle sein Kommunalismuskonzept, ließ allerdings die Abgrenzungs- und Komplementärbegriffe weitgehend unbearbeitet. Das verhindert eine Diskussion um die verwendeten historisch-begrifflichen Kategorien und reduzierte die kritische Auseinandersetzung um die Kommunalismusthese. Eine Verständigung über die Bedeutungsdimensionen von Feudalismus halten wir jedoch für unabdingbar, soll die begonnene fruchtbare Diskussion um den historischen Stellenwert städtischer und ländlicher Gemeinden des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit sinnvoll weitergeführt werden. - Was kann unter Feudalismus verstanden werden? 1. Die älteste und der historischen Quellensprache angemessenste Formulierung bezieht sich auf das mittelalterliche Lehnrecht, ausgehend von dessen materiellem Substrat, dem Lehen (feudum). Während im Lehnrecht die wechselseitigen Verflechtungen zwi-
') P. Blickle, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch. 1981, 118. ) Ebd. 113 f. 3 ) Ebd. 55 f. 4 ) So in Blickles Vorträgen am 6. 3. und 9. 3. 89. 2
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sehen Lehnsherrn und Lehnsmann geregelt werden 5 ), umfaßt das wissenschaftliche Kunstwort „Lehnswesen" zudem das Verhältnis zwischen den Grundherren und den auf deren Landbesitz lebenden und arbeitenden Bauern. Für diese Beziehungen wurde der Begriff „Grundherrschaft", im Sinne Otto Brunners entwickelt als „Herrschaft über Land und Leute" 6 ), geprägt. Da es jedoch auch bäuerliche Lehen gab, blieb feudum keineswegs auf die adlige Sphäre beschränkt. Wilhelm Ebel hat herausgestellt, daß Lehen in diesem Verständnis - und auch Lehen in der Stadt - auf dem Rechtsbegriff der Leihe beruhe, dessen Inhalt Nutzung und nicht Eigentum meine. 7 ) So wurde der Begriff von der sich im 19. Jahrhundert formierenden mittelalterlichen (Verfassungs-) Geschichtsforschung übernommen und bis heute bewahrt. 2. Über die Rechtswissenschaft und Rechtspraxis der Frühen Neuzeit gelangte der Begriff in die Diskussion der Aufklärung. 8 ) Hier trat seine ursprünglich rechtliche Bedeutung immer weiter zurück, um zugleich die „féodalité" als Sinnbild der sozialen und politischen Ungerechtigkeit von Adelsherrschaft über Land und Menschen in den Vordergrund zu stellen. Da der Adel selber sich im Verlauf der Frühen Neuzeit aus seinen lehnsrechtlichen Bindungen an den König oder Landesherrn zu lösen suchte (Allodifikation), wurden adlige Privilegien von den krititschen Zeitgenossen um so deutlicher als illegitim wahrgenommen, war doch die Balance von Rechten und Pflichten empfindlich gestört. So gedieh „féodalité" zum Kampfbegriff der Französischen Revolution, zum Synonym mißbräuchlicher und morbider aristokratischer Herrschaft, zum Abbild einer überholten Ordnung, die durch eine neue zu ersetzen war, in der „Freiheit" und „Gleichheit" der Bürger herrschen sollten. 5
) F. L. Ganshof, Was ist das Lehnswesen? 4. Aufl. 1975. ) O. Brunner, Land und Herrschaft. Grundlagen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. 5. Aufl. 1973. 7 ) W. Ebel, Über den Leihegedanken in der deutschen Rechtsgeschichte, in: Th. Mayer (Hrsg.), Studien zum mittelalterlichen Lehnswesen. 1960, 11-36. 8 ) Soweit nicht anders angemerkt, sind Belege für das Folgende samt der weiterführenden Literatur zu finden bei: K.-F. Krieger, Feudale Gesellschaft, feudaler Staat, in: Staatslexikon. Bd.2. 7. Aufl. 1985, 560-564. - H. Wunder, Feudalismus, in: Enzyklopädie des Märchens. Bd.4. 1984, 1054-1067. - Dies., Feudalismus, in: Lexikon des Mittelalters. Bd.4. 1987, Sp. 411-415. Da die Beiträge der Trierer Tagung zum Feudalismus aus dem Jahr 1981 noch ungedruckt sind, ist bisher nicht erschienen: C.-H. Hauptmeyer, Aspekte des zerfallenden Feudalismus. 6
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3. In diesem Sinne wurden Feudalismus von Karl Marx und seinen Nachfolgern aufgegriffen und in der Sowjetunion - danach auch in der D D R - als notwendige Phase und historische Kategorie im „gesetzmäßigen" Ablauf der Weltgeschichte weiterentwickelt. Feudalismus wurde als Gesellschaftsformation aufgefaßt, die der Sklavenhaltergesellschaft folgte und der neuen Ordnung des Kapitalismus voranging. Im so verstandenen Feudalismus herrschte die agrarische Produktionsweise vor. Die Verfügung über agrarische Produktionsmittel begründete Herrschaft, die sich das bäuerliche Mehrprodukt durch außerökonomische Macht (Recht, Religion/ Kirche) aneignete. Die daraus resultierenden Antagonismen, also der Klassengegensatz Bauern - Adel und die Widersprüche zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften, konnten nur mit den Mitteln des Klassenkampfes beseitigt werden, verhalfen allerdings dem Bürgertum als neu aufsteigender Klasse zur Herrschaft. Da sich der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, bevor es zur „bürgerlichen Revolution" kam, offensichtlich über vier Jahrhunderte hinzog, führte bereits Friedrich Engels das Zwischenstadium der „Frühbürgerlichen Revolution" (Reformation und Bauernkrieg) ein. Um deren Priorität wird allerdings ebenso kontrovers diskutiert wie um die Frage, ob das mittelalterliche Bürgertum eine Nebenklasse sei oder nicht. 4. Vielfach angeregt durch Marx und die - im weitesten Sinne soziologische Forschung, durch die Erkenntnisse der französischen Sozialgeschichte, der deutschen Verfassungs- und Sozialgeschichte und der vergleichenden Rechtsgeschichte wuchs insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg eine eigenständige Feudalismus-Begriffsbildung in der mittel- und westeuropäischen Geschichtswissenschaft heran. Gepflegt wurde sie von Historikern, die sich bemühten, komplexe Zusammenhänge und Entwicklungen begrifflich zu fassen, um auf diese Weise historische und aktuelle Beziehungssysteme sowie Vergleiche zwischen Zeiten und Räumen zu ermöglichen. 9 ) Otto Hintze10) und Otto Brunner"), dann Heide Wunder12) und Ludolf ') Beispielhaft: P. Sweezy u.a., Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. 2. Aufl. 1984. ,0 ) O. Hintze, Wesen und Verbreitung des Feudalismus, in: Ders., Feudalismus - Kapitalismus. 1970, 12-47, insbes. 22 f. ") O. Brunner, „Feudalismus". Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. 1968, 128-159. ,2 ) H. Wunder (Hrsg.), Feudalismus. Zehn Aufsätze. 1974, insbes. 10-76. -
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Kuchenbuchl3) prägten wesentlich den heute in der Bundesrepublik verbreiteten Diskussionsstand. Feudalismus benennt demnach die lange historische Periode der europäischen Geschichte zwischen dem 6. und dem 18. Jahrhundert (vielfach in „Früheuropa" und „Alteuropa" untergliedert). Er beschreibt die reziproken Beziehungen von Menschen und Menschengruppen in dem sie bestimmenden Herrschaftsgeflecht. Innerhalb der europäischen Agrargesellschaften wurde sowohl die agrarische wie die gewerbliche Produktion in Familienwirtschaften organisiert, die sich zu lokalen Verbänden (Gilden, Gemeinden, im Sinne Gierkes „Genossenschaften" 1 4 )) zusammenschlossen und damit ein eigenes politisches Gewicht erlangten. Das Nebeneinander unterschiedlicher menschlicher Verbände und hierarchischer wie genossenschaftlicher Ordnungen, also die Zentrifugalität der Herrschaftsbeziehungen, konkurrierten von Anbeginn mit zentripetalen Tendenzen der Institutionalisierung und Monopolisierung von Macht. Aktiviert wurde dieser Feudalismus durch die Differenzierung der Ware-Geld-Beziehungen (z.B. Städtewesen, gewerbliche Durchdringung ländlicher Räume), und zwar langfristig in aufsteigend hierarchischer (z.B. Monopolisierung der Herrschaftschancen bei einem König/Fürsten) wie in zentralisierend räumlicher Richtung (ζ. B. Konzentration der Macht in einem staatlichen/territorialen Hauptort). Differenzierungs-, letztlich allerdings die stetig erfolgreicheren Konzentrationsprozesse bewegten das wirtschaftlich-soziale Gefüge.
II. Blickle bezieht Feudalismus offensichtlich nur auf adlige Herrschaft über Land und Leute, zu der weder das Städtewesen, noch die ländlichen korporativen Wirtschafts- und Sozialformen passen. 15 ) Somit erscheinen diese notwendigerweise als GegenbewegunFortsetzung Fußnote von Seite 95 Siehe auch Anm. 8 und die in der dort genannten Literatur jeweils zitierten älteren Schriften. 13 ) L. Kuchenbuch, B. Michael, Feudalismus. Materialien zu Theorie und Geschichte. 1977, insbes. 694-761. 14 ) O. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 1. 1868. 15 ) Blickle, Untertanen (wie Anm. 1), 55ff.: „Die feudale Ordnung basiert auf dem Prinzip der Ungleichheit [...] Demgegenüber basiert die gemeindliche Ordnung auf dem Prinzip der Gleichheit [...]" (56).
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gen. Mit seinem Vorgehen stellt sich Blickte freilich hinter den Erkenntnisstand von Hintze oder Brunner. Er setzt sich weder mit den in der Bundesrepublik Deutschland weitergeführten Diskussionen noch mit den immer differenzierter werdenden Aussagen der marxistischen Forschung auseinander. Die Verwendung von „feudal" für „adlig" und „Feudalismus" für „adlige Herrschaft" ist so eindimensional, daß sie alltagssprachlich anmutet, reflektiert sie doch weder zeitgenössische noch aktuell theoretische Implikationen. Ja, anscheinend negiert Blickle sogar die in den mittelalterlichen Lehnsbeziehungen angelegten Formen des Vertrages mit wechselseitigen Pflichten und Rechten, die - beginnend mit dem 11. Jahrhundert auch in die Beziehungen zwischen Adel und Bauern einflossen und die wiederum die „Auflösung" der Villikationen gemeinsam mit der „Verdorfung" als eine Verallgemeinerung „feudaler" Vertragsvorstellungen für weite Teile der Gesellschaft erscheinen lassen: als einen Fortschritt gegenüber älteren Formen von Über- und Unterordnung, von Unfreiheit und Freiheit. Wir fragen uns, wozu Blickle die Abgrenzung von feudal/Feudalismus überhaupt benötigt und warum er sich, gerade aus seinem sehr engen Feudalismusverständnis heraus, gegenüber dem Begriffspaar Herrschaft - Genossenschaft stets abzusetzen versucht. Wir bevorzugen das an vierter Stelle genannte Feudalismusverständnis. Es erscheint uns hilfreich, europäische Geschichte in sich, weltweit zeitgebunden und weltweit aktuell zu vergleichen. Wir meinen, daß mit der von uns gewählten Begriffsbildung eine internationale wissenschaftliche Verständigung über Feudalismus möglich ist. Damit seien nicht Blickles Erkenntnisinteressen negiert oder seine Verdienste geschmälert, eine wissenschaftliche Diskussion um die historische Bedeutung von städtischen und ländlichen Gemeinden anzuregen, auf nicht-obrigkeitsstaatliche Traditionen der deutschen Geschichte hinzuweisen und Oberdeutschland, in welchem Verständnis auch immer, als ein Verbreitungsgebiet politisch verfaßter Gemeinden zu sehen. Das läßt sich mit Kommunalismus kennzeichnen. Dieser Kommunalismus wäre freilich integrativer Bestandteil unseres Feudalismusbegriffes, ein regionaler und lokaler Ausschnitt von Feudalismus innerhalb der Fülle seiner dezentralen und partikularen Aspekte. Darüber hinausgehend - so aber nicht von Blickle ausgeführt - ließe sich Kommunalismus gesellschaftsformationsübergreifend als Prinzip der politisch verfaßten korporativen Ordnung immer dann verstehen, wenn andere, integrierende Ordnungs-
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formen fehlen. Das erscheint uns derzeit für Regionen der Dritten Welt sinnvoll zu sein.
Regional-vergleichender Teil
STADT- U N D L A N D G E M E I N D E IN FRANKEN VON
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M I T dem Zusammenbruch der staufischen Reichslandkonzeption war in Franken ein Machtvakuum entstanden, das erst langsam von den Territorialstaaten ausgefüllt wurde. Gerade das 14. Jahrhundert war so eine Übergangszeit, in der die Territorien begannen, sich nach innen und nach außen abzuschließen. Auch war in dem Landfrieden von 1349 erstmals die geopolitische Einheit Franken wirklich erkennbar. 1 ) Am fortschrittlichsten entwickelt war das Hochstift Würzburg, gefolgt von dem Reichsland um Nürnberg und Rothenburg. In dem Territorialherzogtum Würzburg wurde seit langem konsequent, zielgerichtete Territorialpolitik betrieben mit Burgenbauten und Burgenerwerbungen, mit Burghut- und Öffnungsverträgen, mit der Errichtung neuer Pfarreien und mit Städtegründungen. 2 ) Im Hochstift Bamberg wurden neben dem Burgenbau zur Herrschaftsverdichtung seit dem frühen 14. Jahrhundert vor allem die Städtegründungen oder Städteerhebungen eingesetzt. Die Städte waren, wie das ') König Karl von Luxemburg Schloß am 4. Oktober 1349 mit den Bischöfen von Bamberg, Würzburg und Eichstätt sowie mit den Burggrafen von Nürnberg, den Grafen von Henneberg, von Leuchtenberg und von Wertheim, den Herren von Hohenlohe, Brauneck und Truhendingen und mit den Reichsstädten Nürnberg und Rothenburg einen Landfrieden. Vgl. G. Pfeiffer, Quellen zur Geschichte der fränkisch-bayerischen Landfriedensorganisation im Spätmittelalter. 1975, Nr. 15, 34-37. 2 ) A. Wendehorst, Germania Sacra, N F 13: Das Bistum Würzburg. Teil 2, 1969: H. H. Hofmann, Territorienbildung in Franken im 14. Jahrhundert, in: H. Patze (Hrsg.), Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert. 1971, 255-300.
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Urbar A3) und Urbar Β4) ausweisen, die neuen Zentren der Gerichtsbarkeit, der Marktwirtschaft und vor allem der Verwaltung. Mit Hilfe der Stadt- und Ämterbildung und der Ämterverfestigung erfolgte im Hochstift Bamberg der territoriale Verdichtungsprozeß.5) Bezeichnenderweise erreichten die Städtegründungen oder Stadterhebungen in Franken im 14. Jahrhundert ihren Höhepunkt, als nicht weniger als 57 neue Städte hinzukamen, das sind genau 41 % aller heutigen Städte in Franken. 6 ) Die großen Förderer der Städtepolitik in Franken waren Ludwig der Baier und der Luxemburger Karl IV. Als Amtsstädte aber waren die neuen Städte von Anfang an in die territoriale Verfassung und Organisation fest eingebaut. Deshalb waren auch das städtische Gemeindeleben, die Verfassung, Verwaltung und das Gericht in den Amtsstädten eindeutig landesherrlichherrschaftlich bestimmt und die Amtsstädte nahmen nur eine eingeschränkte „beauftragte Selbstverwaltung" wahr. So wurde im Hochstift Bamberg in den Städten im Jahr 1384 ein Bürgerrat eingeführt, der nur wenig verändert bis zum Ende des Alten Reiches gültig geblieben ist.7) Dieser Bürgerrat bestand aus einem Oberbürgermeister und einem Unterbürgermeister sowie aus acht bis elf Ratsherren und einem Ratsschreiber. Die Ratsherren und der Ratsschreiber bildeten das Bürgerratskollegium, also die Vertretung der Bürgerschaft. Den Vorsitz im Rat aber führte der zuständige herrschaftliche Vogt oder Obervogt, der auch das Nominationsrecht für den Bürgerrat besaß und der an der Spitze des Amtes stand. Auch das Stadtgericht tagte unter dem Vorsitz des herrschaftlichen Vogtes, wobei die Ratsherren als Schöffen fungierten. Das Stadtgericht besaß nur die Niedergerichtshoheit, während die vier hohen Rügen allein vom landesherrlichen Gericht verhandelt wurden. Das Stadtgericht behandelte in der Regel auch die Niedergerichtsfälle des dazugehörigen Amtsbezirks, wobei die Ratsherren 3
) W. Scherzer (Hrsg.), Das älteste Bamberger Bischofsurbar 1323/28 (Urbar A), in: BerHVBamberg 108, 1972, 1-170. ) C. Höfler (Hrsg.), Friedrich's von Hohenlohe, Bischofs von Bamberg, Rechtsbuch (1348). 1852. 5 ) Vgl. E. von Guttenberg, Territorienbildung am Obermain, in: BerHVBamberg 79, 1927, 176ff.; M. Hofmann, Die Außenbehörden des Hochstifts Bamberg und der Markgrafschaft Bayreuth, in: JbfränkLF 3, 1937, 52ff. 6 ) R. Endres, Franken, in: BlldtLG 112, 1976, 457. 7 ) E. Keyser-H. Stoob, Bayerisches Städtebuch. Teil 1 : Franken. 1971, 569. 4
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auch hier als Schöffen tätig waren. Nach einer Verordnung von 1718 gehörten zum Stadtgericht oder Bürgerrat alle Inventuren, Teilungen, Hinterlassenschaften, Vormundschaften, Konkurse, Schand- und Schmähreden, Schlägereien, Frevel, kleine Diebstähle, Heirat, Kauf, Tausch und andere Gerichtsfälle, also alle zivilen Fälle und die Niedergerichtsbarkeit. 8 ) Die Bürgermeister wurden jährlich neu gewählt, wobei in der Regel einer der beiden Bürgermeister direkt vom Bischof bzw. von seinem Vogt eingesetzt wurde, wie etwa in Kronach. 9 ) Vor Amtsantritt mußten beide Bürgermeister den Eid vor dem Vogt leisten. 1439 ordnete Bischof Anton von Rotenhan an, daß die Bürgermeister und Räte jährlich über alle Ausgaben und Einnahmen der Stadt in Gegenwart der Viertelmeister als Vertreter der Bürgerschaft Rechnung ablegen sollten, was offensichtlich auch eingehalten wurde. 10 ) In den Städten des Hochstifts Würzburg war die Stadtverfassung ähnlich. So stand etwa in Neustadt an der Saale ein Bürgermeister an der Spitze und unter ihm zwölf von der fürstbischöflichen Regierung auf Lebenszeit berufene Ratsherren, die alle 2-3 Jahre den Bürgermeister wählten. Im Stadtgericht, das neben dem Hochgericht des Bischofs stand, waren die fürstbischöflichen Beamten die Richter oder Stabhalter, und die zwölf Ratsherren fungierten als Schöffen.") Besonders deutlich wird der Zugriff des bischöflichen Landesherrn bei Münnerstadt, das mit der Stadtrechtsverleihung durch Ludwig den Baiern 1335 die Obrigkeit des Deutschen Ordens ablösen konnte. Das Blutgericht wurde seit 1356 von der Stadt wahrgenommen, dann wurde der Landesherr zu gleichen Teilen Mitinhaber und schließlich 1586 alleiniger Besitzer ohne Protest. Die Vogtei war in der Stadt schon im Laufe des 14. Jahrhunderts an Würzburg übergegangen, dann auch Zehnt, Reis, Folge, Geleit, Fischerei und die Jagd. Im Stadtgericht führte der bischöfliche Kellner den Vorsitz und die zwölf Ratsherren fungierten als Schöffen. Der Rat wählte die beiden Bürgermeister, die zwölf Ratsherren aber wurden seit 1385 aus zwölf Schöffen der Bürgerschaft und zwölf Schöffen
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) Ebd. ') Ebd. 313. 10 ) Ebd. 569. ") Ebd. 84.
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der Kaufleute gewählt, so daß ein gewisses Wahlrecht der Bürgerschaft gewahrt blieb.12) Wie im Hochstift Bamberg, so war auch in den beiden Fürstentümern Ansbach und Bayreuth die Städteverfassung durch die Städteordnung Markgraf Friedrichs I. von 1434 weitgehend vereinheitlicht.13) Die Städteordnung bestimmte die jährliche Erneuerung des Rates durch Selbstergänzung unter Mitwirkung des landesherrlichen Stadtvogtes. Der Rat wählte jährlich die zwei Bürgermeister, die vor Amtsantritt vor dem Vogt den Eid ablegen mußten. Der Rat bestand etwa in Ansbach oder Neustadt a. d. Aisch14) aus einem Inneren Rat, den zwölf Seniores, und einem Äußeren Rat, den zwölf Juniores. Bei der Ratserneuerung hatte in Ansbach der Obervogt vier Stimmen, der Stadtvogt und jeder Bürgermeister je zwei Stimmen und jeder Ratsherr nur eine Stimme. Die Bürgerschaft war bei der Wahl nicht beteiligt. Das Stadtgericht wurde von dem markgräflichen Stadtrichter als Vorsitzendem und den zwölf Mitgliedern des Inneren Rates als Schöffen gebildet, und seine Kompetenz umfaßte nur die Niedergerichtsbarkeit. Das Blutgericht lag stets beim herrschaftlichen Blutrichter des Amtes.15) Nach der Städteordnung von 1434 hatte die Rechnungslegung alle Jahre zu erfolgen, und diese Anordnung scheint befolgt worden zu sein. Ein Teil der eingezogenen Gelder, meist ein Drittel, blieb in der Stadt. Die Kompetenzen der Bürgermeister und des Rates in den zollerischen Städten umfaßten in der Regel das städtische Niedergericht, die Verwaltung, die Gewerbepolizei, die Wohlfahrtspflege, das Bauwesen, die Schulaufsicht und die Anstellung der städtischen Beamten. Dagegen lag die Landeshoheit, die Steuerhoheit, das Hochgericht und die Militärhoheit allein beim fürstlichen Vogt oder Obervogt in der Stadt.16) Praktisch völlig autonom werden in Franken seit dem 14. Jahrhundert die Reichsstädte, voran Nürnberg, doch waren sie nach innen strikt obrigkeitlich ausgerichtet.
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) Ebd. 375 f. ) Städteordnung Markgraf Friedrichs I., abgedruckt in: Hohenzollerische Forschungen II. 1893, 225-227. 14 ) Bayerisches Städtebuch (wie Anm. 7), 384. ") Ebd. 49. ") H. Bahl, Ansbach. 1974, 26-39. 13
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Am Anfang der reichsstädtischen Freiheit für Nürnberg steht das große Privileg von 1219, in dem die Steuererhebung von der Gesamtheit der Bürger festgelegt ist.17) Hieraus erwuchs die städtische Selbstverwaltung. Bereits 1256 wurden nach dem königlichen Schultheißen die Ratsherren oder Cónsules als Organ der universitas civium erwähnt.18) Die beiden Kollegien der 13 Ratsherren und der 13 Gerichtsschöffen verschmolzen dann zu Beginn des H.Jahrhunderts zum Inneren Rat, in dem fast ausschließlich ehemalige Reichsministerialen und Fernkaufleute saßen. 1 ') Nach dem gescheiterten Zunftaufstand von 1348/49 fiel dann alle Macht in Nürnberg dem patrizischen Rat zu.20) Neben dem im Inneren Rat der 26 Bürgermeister vereinigten patrizischen Konsuln und Schöffen gab es seit Ende des O.Jahrhunderts noch das Gremium der „Genannten des Größeren Rates". Diese Genannten waren ein Ausschuß der Bürgerschaft, der an der Gesetzgebung beteiligt war und von der Bürgerschaft selbst gewählt wurde. Doch bereits im 14. Jahrhundert ernannte der patrizische Rat die Genannten und ließ sie den Genannteneid schwören. Die Bürgerschaft war seitdem an der Wahl der Genannten nicht mehr beteiligt. Die Genannten wirkten zwar bis zum Ende des Alten Reiches an der jährlichen Wahl der 26 Ratsherren mit, besaßen selbst aber kein passives Wahlrecht. Die Genannten konnten auch bei besonders wichtigen Entscheidungen als Vertretung der Bürgerschaft gehört werden, doch die politische Entscheidung lag allein beim patrizischen Rat, der auch das ursprüngliche Steuerbewilligungsrecht und Aufsichtsrecht der Genannten bald umging.21) Das Gesamtregiment in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion in der Reichsstadt Nürnberg, die sich selbst als „Republik" bezeichnete, kam ausschließlich dem Inneren Rat der Patrizier zu.22)
") Nürnberger Urkundenbuch. Bearb. von G. Pfeiffer 1959, Nr. 178, 111-114. ") Ebd. Nr. 353, 215. ") H. H. Hofmann, Nobiles Norimbergenses, in: Vorträge und Forschungen 1, 1966, 59ff.; E. Pitz, Die Entstehung der Ratsherrschaft in Nürnberg im 13. und 14. Jahrhundert. 1956. 20 ) W. von Stromer, Die Metropole im Aufstand gegen Karl IV., in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 65, 1978, 55-90. 21 ) Vgl. K. Schall, Die Genannten in Nürnberg. 1971, 145 ff. 22 ) Siehe R. Endres, Nürnberg in der Frühneuzeit, in : K. Krüger (Hrsg.), Städte im Zeitalter des Barock. 1988, 141-167; R. Endres, Adel und Patriziat
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In vollem Umfang setzte der patrizische Rat auch seine Herrschaft in den fünf Landstädten auf reichsstädtischem Territorium durch, die er im Landshuter Erbfolgestreit 1505 gewonnen hatte. 23 ) So wurden in Gräfenberg die zwölf Ratsfreunde und vier Bürgermeister vom Nürnberger Pfleger ernannt und durften nur unter seiner Aufsicht tagen. Auch mußten die Gräfenberger vor dem Stadtgericht in Nürnberg Recht nehmen, denn das Stadtgericht war nur noch Zivilgericht. Auch in den anderen Städten wurden die peinlichen Verfahren in Nürnberg durchgeführt, wie auch das Stadtgericht in Nürnberg das Berufungsgericht war.24) In den kleineren Reichsstädten, Rothenburg, Schweinfurt, Windsheim und Weißenburg, die wie Nürnberg im Laufe des 14. Jahrhunderts den Reichsschultheiß verdrängen konnten, war die Stadtverfassung zwar nicht so extrem aristokratisch-oligarchisch ausgerichtet, aber sie sah nicht viel anders aus. In Windsheim setzte sich der Rat aus zwei Kollegien, dem Inneren und Äußeren Rat, zusammen. Die vier älteren Bürgermeister wurden durch den Äußeren Rat aus den Mitgliedern des Innern gewählt, und aus dem Äußeren Rat kamen die vier jüngeren Bürgermeister, die den jeweiligen Amtsbürgermeister unterstützten. Der Innere Rat wurde jedoch nicht von den Bürgern gewählt, sondern ergänzte sich aus dem Äußeren Rat, und der äußere Rat seinerseits ergänzte sich durch Kooptation nach gemeinsamer Wahl von Innerem und Äußerem Rat, was unausweichlich zu einem „Vetterleinsrat" führen mußte. 25 ) Während in Nürnberg die Stadtherrschaft von 23 patrizischen Familien exklusiv wahrgenommen wurde, regierten in den kleineren Reichsstädten die sogenannten „ehrbaren Geschlechter" oder „Herrenfamilien" die Stadt. Im 16./17. Jahrhundert aber schälte sich in den kleineren Reichsstädten eine Art „Bildungspatriziat" heraus, für das die Ratsstellen zu Familienangelegenheiten wurden. So saßen schließlich in Windsheim im 18. Jahrhundert 21 AkademiFortsetzung Fußnote von Seite 105 in Oberdeutschland, in: W. Schulze (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. 1988, 221-238. n ) F. Schnelbögl, Zwischen Zollern und Wittelsbachern, in: G. Pfeiffer (Hrsg.), Nürnberg - Geschichte einer europäischen Stadt. 1971, 120-127. 24 ) Bayerisches Städtebuch (wie Anm. 7), 223 f. ") W. Korndörfer, Studien zur Geschichte der Reichsstadt Windsheim vornehmlich im 17. Jahrhundert. Diss. Erlangen 1971.
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ker im 25köpfigen Rat, und in Schweinfurt besetzte das „Gelehrtenpatriziat" endlich 28 von den insgesamt 44 Ratsposten. Auf dem Weg über die Lateinschule und die akademische Bildung sicherten sich die Familien des Bildungspatriziats ihren Anteil an der Stadtherrschaft und an den städtischen Ämtern. Bildung war in den kleineren Reichsstädten zu einer engen ständischen Angelegenheit geworden und sicherte den politischen und gesellschaftlichen Rang der Familien des „Gelehrtenpatriziats". 26 ) Die Dorfgemeinde oder Gemein war im ausgehenden Mittelalter in Franken vielerorts ein handlungsfähiger, bäuerlicher genossenschaftlicher Verband, der mit autonomen Selbstverwaltungsrechten ausgestattet war.27) Die Dorfgemeinde war eine Rechtsgemeinschaft und Rechtspersönlichkeit, die zunächst nach mündlich tradierten Geboten und Regeln lebte, die dann im ausgehenden Mittelalter, entsprechend der zunehmenden Schriftlichkeit im öffentlichen Leben, aufgezeichnet wurden. Die ersten Weistümer sind aus dem 13. Jahrhundert überliefert, und sie halten das Verhältnis von Herrschaft und Dorfgemeinde fest, aber auch die nachbarschaftliche Ordnung innerhalb der Dorfgenossenschaft. 28 ) Von diesen durch periodisches Befragen der Dorfschöffen gewonnenen und ständig erneuerten Weistümern müssen jedoch die jüngeren Dorfordnungen unterschieden werden, wenn auch die Grenzen hier fließend sind. Die frühneuzeitlichen Dorfordnungen sind der schriftliche Niederschlag der Dorf- und Gemeindeherrschaft, die in der für Franken typischen territorialen Zersplitterung und Überschneidung von Rechtskreisen einen eigenen Rechtskreis darstellt, neben der Grundherrschaft, der Gerichtsherrschaft und der Landesherrschaft. 29 ) Diese Dorfordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts sind mehr oder weniger von der Herrschaft oktroyiert, und sie sind ein 26
) R. Endres, Die Bedeutung des lateinischen und deutschen Schulwesens für die Entwicklung der fränkischen Reichsstädte des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: L. Kriss-Rettenbeck - M. Liedtke (Hrsg.). Schulgeschichte im Zusammenhang der Kulturentwicklung. 1983, 144-165; R. Endres, Die soziale Problematik in den kleinen Reichsstädten, in: R. A. Müller (Hrsg.), Reichsstädte in Franken. 1987, 70-83. 27 ) Vgl. I. Bog, Dorfgemeinde, Freiheit und Unfreiheit in Franken. 1956, 58 ff. 28 ) D. Werkmüller, Über Aufkommen und Verbreitung der Weistümer. 1972; Fränkische Bauern weistümer, bearb. von K. Dinklage. 1954. ") M. Hofmann, Die Dorfverfassung im Obermaingebiet, in: JbfränkLF 6 / 7 , 1941, 170 ff.
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Spiegel des schrittweisen Zugriffs des absolutistischen Territorialstaates auf die Dorfgemeinden, eines Prozesses, der in den einzelnen fränkischen Territorien mit unterschiedlicher Intensität vor sich ging·30) Beachtenswert sind bereits die Entstehungszeiten der Dorfordnungen, die in deutlichen Wellen erfolgten. So wurden im Hochstift Bamberg nach dem Bauernkrieg fünf neue Ordnungen erlassen und gegen Ende des 16. Jahrhunderts im Zuge der gegenreformatorischen Neuordnungen sogar 30 Neufassungen. Einen nächsten Höhepunkt erreichten die Neuordnungen nach den Wirren des 30jährigen Krieges mit 22 neuen Fassungen und dann noch einmal um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit rund 20 neuen Ordnungen. 31 ) Ein gleiches Bild zeigen die Erlasse von Dorfordnungen im Fürstentum Ansbach 32 ), und in Hohenlohe-Franken lagen die Höhepunkte für die Abfassung neuer Dorfordnungen klar erkennbar um die Mitte des 16. Jahrhunderts und nach Beendigung des 30jährigen Krieges.33) Im Untermaingebiet, und das heißt hauptsächlich im Gebiet des Hochstifts Würzburg, gab es im Spätmittelalter ausgeprägte Dorfverfassungen. 34 ) Doch wurde die Dorfgemeinde bereits im Laufe des 16. Jahrhunderts und dann endgültig nach dem 30jährigen Krieg zum untersten Organ der Staatsverwaltung. Bereits 1688 wurden landesherrliche Verordnungen über die Verwaltung der Gemeindeämter, Gemeindegüter und Pflegschaften sowie über das gemeindliche Rechnungswesen erlassen, die in den Jahren 1726 und 1756 erneuert und beträchtlich ausgebaut wurden. Darüber hinaus befaßten sich weitere fürstliche Mandate 1721 mit der Pflege der 30
) R. Endres, Ländliche Rechtsquellen als sozialgeschichtliche Quellen, in: P. Blickle (Hrsg.), Deutsche ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung. 1977, 161-185; R. Endres, Sozialer Wandel in Franken und Bayern auf der Grundlage der Dorfordnungen, in: Wolfenbütteler Forschungen 19, 1982, 211-229; ders., Absolutistische Entwicklungen in fränkischen Territorien im Spiegel der Dorfordnungen, in: JbRegG 1989, 81-93. 31 ) G. Schrepfer, Dorfordnungen im Hochstift Bamberg. Diss. Erlangen 1940, 188. 32
) H. Rauschert, Dorfordnungen in der Markgrafschaft Ansbach. Diss. Erlangen 1952 (mschr.), Anhang I. ") Hohenlohische Dorfordnungen, bearb. von K. und M. Schümm. 1985, XXXVI. 34 ) K. Arnold, Dorfweistümer in Franken, in: ZBLG 38, 1975, 819-876; D. Willoweit, Gebot und Verbot im Spätmittelalter - vornehmlich nach südhessischen und mainfränkischen Weistiimern, in: HessJbLG 30, 1980, 94-130.
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Gemeindewaldungen, 1772 mit dem Krankenhauswesen, mit der Krankenfürsorge in den Gemeinden und 1777 sogar mit der Siegelfähigkeit der Gemeinde. Die Selbständigkeit und Handlungsfähigkeit der Dorfgemeinden im Hochstift Würzburg blieb also seit dem späten Mittelalter gewahrt, aber die Dorfgemeinden waren nicht tätig kraft tradierter autonomer oder autochthoner Rechte und Freiheiten, sondern im Auftrag und unter Aufsicht des absolutistischen Fürstenstaates. Die Organe der Gemein leiteten die delegierten staatlichen Anweisungen weiter bis zum letzten Haus. Diese staatlichen Aufgaben und Funktionen belegen auch die Dorfarchive, in denen neben den Akten zum dörflichen Gemeindehaushalt auch die Kontributions-, Schätzungs- und Steuerrechnungen aufbewahrt wurden, also die Unterlagen aus dem Bereich des landesherrlichen Steuerwesens. Denn die dörflichen „Finanzbeamten" mußten auch die landesherrlichen Steuern einziehen und an die fürstliche Kammer abliefern. 35 ) Vergleichbares gibt es in den anderen fränkischen Territorien nicht. Dies gilt ebenso für die Dorfgerichte, die im ehemaligen Hochstift Würzburg eine große Rolle gespielt haben. Denn die vor den Dorfgerichten behandelten Streitfälle betrafen nicht nur niedere Strafgerichtsfälle, sondern umfaßten auch zivile Streitigkeiten und Verwaltungsangelegenheiten. So stellten die würzburgischen Dorfgerichte Personenstandspapiere aus, wie Geburts- und Führungszeugnisse, sie verhandelten Geldgeschäfte, Kauf und Verkauf oder griffen bei Streitigkeiten um den Viehbetrieb und die gemeindlichen Finanzen ein. Sie waren weiterhin zuständig für Gotteslästerungen, Scheltworte, Schlägereien, Schulden oder Vergehen um Rain und Stein. Aber sie waren keine autonomen Gemeinde-Gerichte, sondern landesherrliche Vogtei-Gerichte, das heißt Schöffengerichte, die unter dem Vorsitz des landesherrlichen Schultheißen tagten. Dieser Schultheiß wurde entweder direkt von der landesfürstlichen Obrigkeit eingesetzt, oder er wurde von der Gemeinde gewählt, mußte dann aber von der Obrigkeit bestätigt werden. 36 ) Diese Dorfgerichte als landesherrliche Vogteigerichte, die im Hochstift Würzburg verstärkt nach dem 30jährigen Krieg eingerichtet wurden, mit dem Ziel, das ganze Territorium mit einem geschlos3S
) Siehe W. Scherzer, Die Dorfverfassung der Gemeinden im Bereich des ehemaligen Hochstifts Würzburg, in: JbfränkLF 36, 1976, 37-64; K.-S. Kramer, Bauern und Bürger im nachmittelalterlichen Unterfranken. 1957, 37 ff. ") Scherzer, Dorfverfassung (wie Anm. 35), 42ff.
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senen Netz von landesherrlichen Gerichts- und Verwaltungssprengeln zu erfassen, gab es in den anderen fränkischen Territorien nicht. 37 ) Besonders im Obermaingebiet, also im Bereich des Fürstentums Bayreuth, war die Dorfgemeinde kaum entwickelt. 38 ) So ergab eine Umfrage aus den Jahren nach dem 30jährigen Krieg, daß Dorfordnungen weitgehend unbekannt waren und daß in den Gemeinden, in denen ein Gemeindeleben zumindest rudimentär ausgebildet war, der zuständige markgräfliche Vogt oder Amtmann die Schultheißen bestellte und die Gemeindeordnung streng überwachte. 39 ) So heißt es etwa aus dem Amt Thierstein im Fichtelgebirge: „Die Dörfer sowohl als der Marktflecken [...] sind so schlecht, daß keine Dorfordnungen aufgerichtet, weniger ein Gemeinhaus, ein Badstuben, Schmiedten oder andern außer einen gering Hirtenhäuslein zu befinden ist [...]. Die Dorfrichter werden, so oft dasselbe Amt ledig wird, vom Amtsrichter bestellet." 40 ) Im Fürstentum Bayreuth waren das Gemeindeleben und die Gemeindeverfassung so schwach ausgebildet - aus welchen Gründen auch immer - , daß die Dorfgemeinde fast nicht als eigener Rechtskreis neben Grundherrschaft und Landesherrschaft existierte. Auseinandersetzungen zwischen der Dorfgemeinde als politischer, wirtschaftlicher und sozialer bäuerlicher Lebenseinheit oder als Vertreter der kommunalen Interessen einerseits und der Landesherrschaft andererseits lassen sich deshalb auch im Fürstentum Bayreuth nicht finden. Ganz anders dagegen im Hochstift Bamberg, im Fürstentum Ansbach oder in den Territorien der Reichsstädte Nürnberg und Rothenburg. So hat etwa Nürnberg nach dem Bauernkrieg die bedeutende Dorfgemeinde Wendelstein entscheidend entmachtet. 41 ) In der neuen Ordnung von 152942) wurde das bisherige Überprüfungsrecht des Richters für das Amt und Gericht Wendelstein durch die Ge3?
) Ebd. 48 f. ) Siehe Hofmann, Dorfverfassung im Obermaingebiet (wie Anm. 29), 140-196, bes. 140. 39 ) Staatsarchiv Bamberg, Bayreuther Amts- und Waldbeschreibungen Nr. 7, 52 und 56. 40 ) Hofmann, Dorfverfassung im Obermaingebiet (wie Anm. 29), 196. "') Siehe hierzu R. Endres, Die Reformation im fränkischen Wendelstein, in: P. Blickle (Hrsg.), Zugänge zur bäuerlichen Reformation. 1987, 127-146. 42 ) Staatsarchiv Nürnberg ( = StAN) Rep. 151, Oberamt Schwabach, Nr. 793. 3S
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mein von der Reichsstadt aufgehoben, und der Gemein wurden alle eigenmächtigen Gebote, Strafen und Ordnungen verboten. Außerdem wurden nun alle Gemein-Versammlungen generell untersagt, und die Bürgermeister wurden nicht mehr frei von den GemeindeGenossen gewählt, sondern durch den Richter und die Gerichtsschöffen bestellt. Sogar die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten wurde den Dorfgenossen entzogen und den eingesetzten Gerichtsbürgermeistern übertragen, wie auch der Selbstverwaltung der alten Holzmark durch die Gemein ein Ende bereitet wurde. Die oktroyierte Gemeindeordnung von 1529 machte dem weitgehend selbständigen Gemeindeleben und der Autonomie in Wendelstein ein Ende. Auch in den anderen Dörfern seines ausgedehnten Landgebietes suchte der Nürnberger Rat seine Herrschaft stärker durchzusetzen und die tradierten Rechte der Gemeinde zurückzudrängen. So gehörte es zu den ursprünglichen Rechten der Dorfgenossen, daß sie die Dorfführung selbst und frei wählten, also die „Vierer" oder „Dorfmeister". 43 ) Dies änderte sich aber im Laufe der Frühneuzeit. Zunächst mußten die Vierer durch den reichsstädtischen Pfleger bestätigt werden, oder es war ein Vertreter der Obrigkeit bei der Wahl anwesend 44 ), und schließlich wurden die Dorfmeister direkt vom reichsstädtischen Rat eingesetzt.45) Die Dorfversammlung durfte auch als das oberste Gemeindeorgan in vielen nürnbergischen Dörfern nur noch mit Genehmigung des zuständigen reichsstädtischen Pflegers tagen 46 ), oder sie durften nur noch bei „hochwichtigen Sachen" von den Vierern einberufen werden. 47 ) Die ungebotenen regelmäßigen Versammlungen zu bestimmten Terminen wurden nun weitgehend unterdrückt, bis schließlich die Dorfversammlungen nur noch sporadisch unter strenger Aufsicht der Obrigkeit stattfinden durften. 48 ) 45
) So z.B. die Gemeinde Gersdorf nach der Dorfordnung von 1559. StAN Schröttersche Abschrift. 44 ) So in Höfen, Mögeldorf und Neunhof. StAN Schröttersche Abschrift. 45 ) Etwa in Kalchreuth, Berndorf oder Wallsdorf. StAN Schröttersche Abschrift. 46 ) ζ. B. in Grünsberg bei Altdorf. StAN Schröttersche Abschrift. 47 ) Dies schreiben die Dorfordnungen von Erlenstegen, Feucht und Aicha vor. StAN Schröttersche Abschrift. 48 ) Siehe auch H. Scholl, Dorfordnungen im Landgebiet Nürnberg. Diss. Erlangen 1958 (mschr.).
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Ähnlich rigide war der Zugriff der Obrigkeit in der Rothenburger Landwehr, vor allem im Zusammenhang mit der Wiederaufbauarbeit nach den schweren Schäden des 30jährigen Krieges. Die bisherige Finanzhoheit der Landgemeinden wurde nun beseitigt, und die vom Rat eingesetzten „Herren Steuerer" bestimmten seitdem über das Gemeindevermögen und legten die Einnahmen und Ausgaben der Dorfgenossen fest. Zugleich übernahm der vom reichsstädtischen Rat eingesetzte Schultheiß als Beamter alle Aufgaben der obrigkeitlichen „Policey", und er bestimmte sogar darüber, wer neu ins Dorf aufgenommen werden durfte und wer nicht. 49 ) Der Schultheiß als Beamter des reichsstädtisch-absolutistischen „Policey-, Wirtschafts- und Verwaltungsstaates" regelte also den Zu- und Abzug im Dorf und nicht mehr die Gemeinde, die bisher durch zahlreiche Auflagen und Bestimmungen frei entschieden hatte, wer als neuer Genösse oder Nachbar aufgenommen werden sollte.50) Im Fürstentum Ansbach dagegen war der Zugriff der Landesherrschaft auf die Dorfgemeinde und ihre Selbstverwaltungsorgane weniger rigide.") So nahmen die landesherrlichen Amtmänner keinen Einfluß auf die Wahl der Dorfmeister, doch forderte man später von den gewählten „Vierern", daß sie beim zuständigen landesherrlichen Kasten- oder Vogtamtmann einen Eid leisteten, ihr Amt zum Nutzen der Gemeinde wahrnehmen und ausüben zu wollen. So schreibt die Dorfordnung von Brunst von 1667 vor: „Ihr sollt geloben und schweren, dass Ihr dieser Gemeindt getreu und gewehr sein, Ihren Nuzen und Frommen nach Euren höchsten Fleiss und Vermögen fördern, deren Schaden, Gefahr und Nachteil vorkommen und hindern, und da Ihr etwa in Erfahrung brächtet, höretet oder sehet, das einer Gemeindt nachteilig und schädlich wäre, solches deroselben zum besten nit verschweigen, sondern jedesmal dem Vogt oder Gnädiger Herrschaft anzeigen. Die Gemeindnutzungen soviel Euch möglich in guter Hut und Besserung halten, dieselben nit in Abgang kommen lassen, noch etwas davon entziehen lassen. Die Gemeingüter, als Wälder, Wissmathen, Weyer, Äckher, "') R. Endres, Die Folgen des Dreißigjährigen Krieges in Franken, in: H. Kellenbenz (Hrsg.), Wirtschaftsentwicklung und Umweltbeeinflussung. 1982, 125-145. 50 ) H.-P. Ziegler, Die Dorfordnungen im Gebiet der Reichsstadt Rothenburg. 1977, bes. 102 ff. 51 ) Vgl. Rauschert, Dorfordnungen (wie Anm. 32), 40ff.
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auch was sonsten für Stückh derselben zuständig und wie sie möchten genennet werden, in guten Würden und bäuerlichen Wesen erhalten. Euer Jahresrechnung in Einnehmen und Aussgeben, da Euch dann der Aussgaben halber sonderlich mit den Zehrungen mehr nit als verantworten lest und der Gemeind notdürftig es erfordert, passirt werden solle vor deroselben inn Gegenwart der ganzen Gemeindt, wie von altershero geschehen, thuen und alenthalben ablegen, auch sonsten solle alles dass, was getreuen Vorstehern einer Gemeindt gebüret, thun und handeln wollen, alles getreulich und ohne gefährde." 52 ) Im Laufe des 18. Jahrhunderts allerdings griffen die Ansbacher Landesherrn massiver in das Leben der Dörfer ein, und zwar einmal, indem sie verlangten, daß „alle Dorfsleut, Haussessige wie auch Hausgenossen und Hintersassen" zur Gemeindeverwaltung zugelassen werden mußten, und zum anderen, indem sie durchzusetzen suchten, daß auch die vielen neuen Bloß- oder Leerhäusler an den Gemeinderessourcen oder dem Besitz der Allmendgenossenschaft beteiligt wurden. Die absolutistische Landesherrschaft strebte also nach einem einheitlichen Untertanenverband, weshalb sie in die gemeindlichen Autonomien entscheidend eingriff und alle Einwohner im Dorf, Haussässige wie Nicht-Haussässige, am politischen und wirtschaftlichen Leben im Dorf zu beteiligen suchte.53) Auch im Hochstift Bamberg schrieben einige neuere Dorfordnungen ausdrücklich vor, daß zumindest die Köbler oder Söldner, also die Kleinstellenbesitzer im Dorf, gleichberechtigt an der Dorfversammlung und an den Dorfämtern beteiligt werden mußten. So wurden vielerorts die Vierer oder Dorfmeister je zur Hälfte aus dem Kreis der Vollbauern und der Köbler gewählt und anschließend von der Obrigkeit bestätigt. 54 ) Aber nicht nur zugunsten der Dorfarmen griff im 18. Jahrhundert die Landeshoheit in die Wirtschaftsautonomie der Dorfgemeinde ein55), im Fürstentum Bayreuth bereicherte sie sich sogar
") St A N Gemeinbuch 18, Nr. 231. ") Vgl. hierzu Endres, Sozialer Wandel (wie Anm. 30), 211-229. 54 ) Schrepfer, Dorfordnungen (wie Anm. 31), 55f.; Endres, Ländliche Rechtsquellen (wie Anm. 30), 171 f. 55 ) Siehe hierzu W. Scherzer, Herrschaft, Gemeinde und Rechtler in Unterfranken. Dargestellt an den Verhältnissen im ehemaligen bambergischen Klosterdorf Obertheres, in: BerHVBamberg 102, 1966, 449-472.
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selbst auf Kosten der dörflichen Allmenden oder des genossenschaftlichen Eigentumes. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kam der Bayreuther Hof, um die kostspieligen Bauten der Markgräfin Wilhelmine finanzieren zu können, auf den Gedanken, nach herrenlosen Grundstücken suchen zu lassen, die dann dem Landesherrn zufallen sollten. Dabei hatte als herrenloses Grundstück alles zu gelten, wofür keine schriftlichen Erwerbstitel vorgelegt werden konnten. Damit verloren die meisten Gemeinden im Fürstentum Bayreuth fast ihr gesamtes Gemeindeeigentum, das sie seitdem als Erbzinslehen nur gegen jährliche Zinszahlungen weiterhin nutzen konnten. 56 ) Der landesherrliche Zugriff auf die Allmenden der Gemeinden war ein Gewaltakt, der allerdings nur im Fürstentum Bayreuth praktiziert wurde, während in den anderen fränkischen Territorien die wirtschaftliche Autonomie der Gemeinden respektiert wurde, die das bewegliche und unbewegliche Gemeindevermögen selbständig verwalteten und die Gemeindenutzungen eigenverantwortlich regelten. Lediglich zugunsten der Dorfarmen griff die Landesherrschaft, sowohl im Hochstift Würzburg wie im Fürstentum Ansbach, in die Wirtschaftsautonomie der Gemeinden oder der Allmendgenossenschaft ein. Während in den geschlossenen Gebieten und Territorien Frankens, voran im Hochstift Würzburg, aber auch in den reichsstädtischen Territorien, im Hochstift Bamberg, im Fürstentum Ansbach oder in den Hohenloher Grafschaften der Zugriff des absolutistischen Staates auf die Gemeinden unverkennbar war und sich in den stetig erneuerten und bis ins Detail ausgeweiteten Dorfordnungen eindeutig niedergeschlagen hat 57 ), gab es aber auch Randgebiete, in denen sich die neue Dorf- und Gemeindeherrschaft nicht durchsetzen konnte und sich deshalb die ursprünglichen Freiheiten und Gemeindeautonomien noch überraschend gut erhalten haben. Dies gilt nicht nur für die beiden Reichsdörfer Gochsheim und Sennfeld 58 ), die einen Sonderfall darstellen, sondern auch für die zahlreichen Freidörfer oder Schutz- und Schirmdörfer im Südwesten Mittelfran") Endres, Sozialer Wandel (wie Anm. 30), 211-228. ") Die Dorfordnung von Vorbachzimmern bei Mergentheim vom Jahre 1755 umfaßte nicht weniger als 328 Artikel. Hohenlohische Dorfordnungen, bearb. von K. und M. Schümm. 1985, 436-466. 58 ) Vgl. F. Weber, Geschichte der fränkischen Reichsdörfer Gochsheim und Sennfeld. 1913, 88ff.; H. Mackh, Die fränkischen Reichsdörfer. Diss. Erlangen 1951 (mschr.).
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kens und im Grenzbereich des Nürnberger Territoriums gegenüber Ansbach und Bamberg, in denen die grundherrschaftlichen und vogteilichen Rechte zersplittert und die landesherrlichen Hoheitsrechte umstritten und nicht eindeutig geklärt werden. 59 ) In diesen Grenzbereichen fehlte die Dorf- und Gemeindeherrschaft, die von dem Rat des Bischofs von Bamberg, Dr. Anton Winter, noch 1631 als ein novum vocabulum bezeichnet wurde 60 ) und mit deren Hilfe der Verstaatlichungsprozeß immer mehr verdichtet wurde, so daß am Ende des Alten Reiches die Dorf- und Gemeindeherrschaft fast pro superioritate territoriali in Franken gehalten wurde. 61 ) Präzise umschreibt der Altdorfer Rechtshistoriker Johann Christian Siebenkees 1787 die Dorf- und Gemeindeherrschaft: „Das Recht Dorfs- und Gemeindeordnungen zu ertheilen, dieselben nach Beschaffenheit der Umstände abzuändern, zu bessern und aufzuheben; Gebote und Verbote in Gemeindesachen ergehen zu lassen; die Gemeindeämdter zu bestellen und die dabei verordneten Personen in Eid und Pflicht zu nehmen, z. B. Dorfshauptleute, Schulzen und Gemeindehirten; in Policeysachen zu disponiren, z. B. Caminfeger, Nachtwächter zu bestellen; über Mass und Elle sowie Gewicht die Aufsicht zu haben und alle Verfälschungen zu verhindern, die Mühlen zu besichtigen, Verunreinigungen der Gemeindebrunnen zu verhüten, die Zusammenberufung der Gemeinde, die Abhör der Gemeinderechnungen, die Benutzung und Austeilung der Gemeindehölzer, das Eichellesen und andere Gemeindenutzungen zu regulliren und in streitigen Fällen zu entscheiden, die Unterhaltung der Gassen, Wege und Stege, Gemeindeumlagen zur Bestreitung der gemeinsamen Ausgaben und des Aufwandes zu machen, Gemeindefrohnen auszuschreiben und allen Sachen, welche nicht in die Criminalität laufen als Directorium zu untersuchen. In manchen Orten ist die Gemeindeherrschaft der hohen Obrigkeit anhängig und gehört dem Landesherrn; in manchen Orten ist sie der Dorfgemeinde überlassen und wird durch die Vierer ausgeübt; in manchem Dorf, insonderheit in solchen, welche nur einen Eigenherrn haben, ist sie mit der Vogteylichkeit verbunden. Die Dorfsherrschaft ist eine sehr 59
) Siehe H. H. Hofmann, Freibauern, Freidörfer, Schutz und Schirm im Fürstentum Ansbach. Studien zur Genesis der Staatlichkeit in Franken, in: ZBLG 23, 1960, 195-327. 60 ) J. P. Ludewig, Scriptores rerum episcopatus Bambergensis. 1714, Sp. 1023. 61 ) Hofmann, Freibauern (wie Anm. 59), 219.
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ergiebige Quelle von Streitigkeiten, wegen der Collisionen der Gemeindeherren unter sich, der Gemeindeherren mit dem Landherrn und in den Gemeinden selbst." 62 ) In manchen Grenzgebieten aber fehlte diese Dorf- und Gemeindeherrschaft. So heißt es etwa zu dem Dorf Tennenlohe am Rande des Nürnberger Reichswaldes: „Einen Gemeindeherrn hat die Gemeinde nicht, weilen denen Noricis keine Dorfs- und Gemeindeherrschaft eingeräumt wird" 63 ), und zu Poxdorf wird festgehalten: „Die Einwohner sind verschiedenen Lehensherrschaften zugetan, haben dahero keinen Gemeindherrn, halten ihre erforderlichen Zusammenkünfte vor sich an beliebten Tagen und deren Verkommenheiten." 64 ) Hier war also die Gemeinde als Rechtsverband der im gleichen Dorf wohnenden und die gleiche Flur bebauenden Anwesenheitsbesitzer erhalten geblieben, die sich durch Gemeindeversammlung und Dorfmeister selbst regierte, ihr eigenes bewegliches und unbewegliches Vermögen verwaltete, die gemeinschaftlichen Angelegenheiten selbst regelte und Ordnung und Sicherheit in „Dorf, Feld und Gassen" wahrte. Das beste Beispiel für eine „freieigene Gemeinde" ist Oberehrenbach, dessen 22 Anwesen unter sieben Grundherren zersplittert waren. Als das fürstbischöflich-bambergische Amt Forchheim die Abhör der Gemeinderechnungen 1745 mit Gewalt durchsetzen wollte, wehrten sich die Bauern mit Sensen, Mistgabeln und Dreschflegeln. Die Oberehrenbacher klagten schließlich beim Reichshofrat und legten die alten Weistümer und Dorfordnungen vor, die belegten, daß die Gemein das bäuerliche Leben selbst ordnen und widerspenstigen Dorfgenossen sogar „das Gemeinrecht verschlagen" konnte. Die Bamberger Juristen dagegen protestierten, daß in einem fränkischen Hochstift doch nicht „ein Schweizer Kanton Platz haben" kann. Doch am 15. Mai 1748 bestätigte ein kaiserliches Urteil den Oberehrenbachern in aller Form ihre Freiheiten. 65 ) Auf die Freidörfer in der Nähe von Uffenheim und Ansbach hat schon Hanns Hubert Hofmann aufmerksam gemacht, deren ") J. Chr. Siebenkees, Beyträge zum teutschen Recht I. 1786, 211 f. 63 ) Staatsarchiv Bamberg, Standbuch 7152, Bl. 106. 64 ) Ebd., B1.62. 65 ) F. Zimmermann, Das „freie" Dorf Oberehrenbach, ein Beitrag zur Geschichte des Gemeinderechts, in: Bamberger Blätter für fränkische Kunst und Geschichte 12, 1935, Nr. 5.
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Wurzeln er auf Königsfreiensiedlungen der Merowingerzeit zurückführen wollte. 66 ) Die meisten dieser Freidörfer aber profitierten ebenfalls von ihrer Grenzlage zwischen zwei Territorien. So schreibt schon der Ansbacher Archivar Strebet 1801 zu dem Dorf Trommetsheim: „Der orth hat sich lange Zeit her als ein Freydorf geriret, weil jede Herrschaft, welche Unterthanen darinnen besizet, die andere an dem Exercitio der Dorfsherrschaft gehindert." 67 ) Und der bekannte Karl Heinrich Ritter von Lang stellte fest: „Es gibt Freidörfer, wo die Gemeinde selbst in dem Besitz der Dorfherrschaft ist, zufolge deren sie die Gemeindämter durchaus selbst besetzt, die Gemeindegüter ohne Zutun einer anderen Herrschaft selbst verwaltet, die Dorfpolizei selbst versiehet und wo ein jeder eine Gewerbe treiben kann, welches er will." 68 ) Und dann nennt er einen ganzen Katalog der diesen Freigemeinden „regulariter zustehenden Gerechtsame: Freie Wahl und Bestellung der Gemeindeämter. Eigene Verwaltung ihrer Gemeindegüter. Eigene Abhör und Justifizierung der Gemeinrechnung. Verwaltung des Heiligen, zumal wo derselbe mit Gemeindemitteln fundiert ist. Gänzliche Gewerbs- und Umgeldsfreiheit. Dorfpolizei, und zwar Gemeindefrevel, Feuer- und Viehschau, Maß und Gewicht, Kirchweihschutz, wo nicht in neueren Zeiten von dem Patronatsherrn darin eine Änderung bewirkt worden". Aber diese Rechte, Freiheiten und Autonomien waren nur noch in den Gemeinden in Franken möglich, in denen die grundherrliche Zersplitterung sehr groß war und wo vor allem die territorialen Verhältnisse keine Dorf- und Gemeindeherrschaft zuließen, also in einigen Grenzbereichen zwischen den größeren Territorien.
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) Hofmann, Freibauern (wie Anm. 59), bes. 245 ff. " ) Zitat ebd. 254. 6> ) Κ. H. Lang, Kurze Nachricht, in: J. Chr. Siebenkees (Hrsg.), Beyträge zum teutschen Recht I. 1786, 125 ff.
DORFGEMEINDE UND STADTGEMEINDE IN SACHSEN ZWISCHEN 1300 UND 1800 VON KARLHEINZ BLASCHKE
D I E vorstehenden Ausführungen ordnen sich in ein größeres Arbeitsvorhaben ein, bei dem das Thema und der zu behandelnde Zeitraum aus Gründen der Vergleichbarkeit regional unterschiedlicher Sachverhalte vorgegeben sind. Für Sachsen deckt sich die zeitliche Abgrenzung des Themas nicht mit den Epocheneinschnitten in der Geschichte der Gemeindeverfassung, die sich hier in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts voll ausbildete und erst mit der Allgemeinen Städteordnung von 1832') und der Landgemeindeordnung von 18382) eine aus dem Geist des bürgerlichen Staates geborene grundlegende Neuordnung erlebte. Innerhalb des Zeitraumes von 1300 bis 1800 gab es demzufolge keine grundsätzlichen Veränderungen in der Gemeindeverfassung, die unter den Bedingungen der Feudalordnung entstanden war und bis 1800 unter ihr verblieb. Das verschafft dem Thema eine bemerkenswerte innere Geschlossenheit. Um 1300 standen die Gemeinden in Dörfern und Städten auf der Höhe ihrer Entfaltung. 3 ) Die bäuerliche Kolonisation war abgeschlossen, in der die Dorfgemeinde gleich am Anfang ihres Bestehens ihre große Zeit erlebt und in der sie ihre Bewährungsprobe bestanden hatte. Die mit der Rodung riesiger Wälder verbundene Kolonisation des 12./13.Jahrhunderts war in Sachsen eine reine Gemeindekolonisation, sie wurde von der vereinigten Kraft der Gemeinde getragen und ließ ausschließlich Dörfer entstehen. Auch die Entstehung der Städte war um 1300 im wesentlichen beendet. Die ') Allgemeine Städteordnung für das Königreich Sachsen vom 2. Februar 1832. Gesetz- und Verordnungsblatt 1832, 7-110. 2 ) Landgemeindeordnung für das Königreich Sachsen vom 7. November 1838, in: ebd. 1838, 431^149. 3 ) K. Blaschke, Geschichte Sachsens im Mittelalter. 1990, 104 ff. und 232 ff.
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großen Fernhandelsstädte, die sich vielfach im Anschluß an ältere Kaufmannssiedlungen herausgebildet hatten, waren um 1250 durchweg vorhanden, die Entwicklung von kleineren Städten aus Dörfern war zu diesem Zeitpunkt in vollem Gange. In Dörfern und Städten war eine Selbstverwaltung für die Regelung des sozialen Lebens geschaffen worden, die unterhalb der herrschaftlichen Ebene und weitgehend frei von herrschaftlichen Eingriffen funktionierte. Dorfherren und Stadtherren beschränkten sich darauf, die ihnen aus dem feudalen Bodenrecht zustehenden Leistungen einzunehmen und die Gerichtsbarkeit, die sie sich vorbehalten hatten, auszuüben. Die Mitgliedschaft in den Gemeinden beruhte auf dem Besitz von Grundstücken. Erst die Ansässigkeit begründete das volle Gemeinderecht, legte aber gleichzeitig die Pflichten im Rahmen der Gemeinde fest. Die Gemeindemitgliedschaft war also nicht nur auf die Person, sondern in starkem Maße auf eine Sache bezogen. Wer ein unter die Gemeinde gehöriges Grundstück erwarb oder veräußerte, erwarb oder verlor damit die Grundlage der Mitgliedschaft. Die soziale Stellung des Dorf- oder Stadtbewohners hing vom Grundbesitz ab. Die Quellenlage gestattet die Auffassung, daß um 1300 in Dörfern und Städten wohl ausschließlich Besitzer von Grundstücken und Häusern lebten und sich noch keine besitzlosen Unterschichten angesiedelt hatten, so daß die Gemeinde die Gesamtheit aller im Ort wohnenden, wirtschaftlich selbständigen Männer umfaßte. Die Aufnahme in die Gemeinde war ein so wichtiger Akt, daß sie in geprägten Formen vollzogen wurde. In der Stadt geschah das durch die Leistung des Bürgereides, die Zahlung einer Aufnahmegebühr und die Eintragung in das Bürgerbuch, nachdem sich die Schriftlichkeit in der Stadtverwaltung durchgesetzt hatte. Im Dorf hatte der Kandidat den Nachbareid zu leisten und zum Einstand eine festgelegte Menge Bieres zu spenden, das von den Gemeindegliedern vertrunken wurde. Damit war er „ N a c h b a r " und trug somit die Bezeichnung, die nur dem Vollmitglied der Gemeinde zustand. Der heutige Stand der Forschung, namentlich auf dem Gebiet der Stadtentstehungsgeschichte, gestattet die Feststellung, daß in Sachsen die Dorf- und die Stadtgemeinde gleichzeitig ausgebildet worden sind. Dörfer und Städte entstanden im Zuge der hochmittelalterlichen Kolonisation in einem einheitlichen Vorgang, der wirtschaftlich von der Arbeitsteilung zwischen bäuerlicher und gewerb-
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licher Arbeit geprägt wurde und in dem die Geldwirtschaft bereits eine beachtliche Rolle spielte. Dorf und Stadt waren von Anfang an aufeinander angewiesen. Die soziale Lebensform der ländlich-bäuerlichen Bevölkerung in Sachsen ist seit jeher das Dorf. Sowohl die kleinen, nach dem Jahre 600 von Slawen besiedelten Offenlandschaften, wie auch die großen Rodungsgebiete der deutschen Kolonisation des 12./ 13. Jahrhunderts sind durchweg mit Dörfern besetzt. Es hat hier niemals erst nachträglich eine Verdorfung gegeben, weil das Dorf seit der ersten landwirtschaftlichen Erschließung des Gebietes die Urform des sozialen Lebens auf dem Lande gewesen ist.4) Jedes Dorf stellte eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft dar, wobei der gemeinsame Weidegang des individuell gehaltenen Viehs, der gemeinschaftliche Besitz nutzbarer Flächen an Weiden und Wäldern und die Dreifelderwirtschaft mit ihrem Flurzwang die Notwendigkeit gemeinschaftlichen Arbeitens begründeten. Die Fläche, auf der sich diese Arbeit ereignete, war die Dorfflur. Sie war von den Nachbarfluren deutlich abgegrenzt und stellte eine wichtige räumliche Grundlage der ländlichen Arbeitsverfassung dar. Die geordnete Flurnutzung durch Ackerbau und Viehweide mußte von der Dorfgemeinde geregelt werden. Das war ein vorrangiges Aufgabengebiet der dörflichen Selbstverwaltung, die sich aus den elementaren Bedürfnissen der bäuerlichen Arbeit ergab. 5 ) Auf der anderen Seite war es notwendig, das Zusammenleben im Dorf zu regeln, wobei es sich um Ortschaften mit bis zu mehr als 60 Bauernstellen handelte, was Einwohnerzahlen in der Höhe von rund dreihundert bedeutete. Hier war es die Aufgabe der Dorfgemeinde, den Dorffrieden zu gewährleisten, wofür sie eine Eigengerichtsbarkeit zur Beilegung kleinerer Streitfälle und Vergehen aus4
) R. Kötzschke, Ländliche Siedlung und Agrarwesen in Sachsen. Aus dem Nachlaß hrsg. von H. Heibig. 1953, besonders 89-145; - E. O. Schulze, Die Kolonisierung und Germanisierung der Gebiete zwischen Saale und Elbe. 1896. 5 ) Κ. H. Quirin, Herrschaft und Gemeinde nach mitteldeutschen Quellen des 12.-18.Jahrhunderts. 1952; - W. Schlesinger, Bäuerliche Gemeindebildung in den mittelelbischen Landen im Zeitalter der mittelalterlichen deutschen Ostbewegung, in: Ders., Mitteldeutsche Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters. 1961, 212-274; K. Blaschke, Grundzüge und Probleme einer sächsischen Agrarverfassungsgeschichte, in: Z R G G A 82, 1965, 223-287; - Ders., Die Dorfgemeinde in Sachsen vom 12. bis 19. Jahrhundert, in: Recueils de la Société Jean Bodin 44, 1987, 81-90.
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übte. 6 ) Das dabei angewandte Recht war älter als die Dorfgemeinde in Sachsen. Es war nicht erst im Kolonisationsgebiet entstanden, sondern von den Siedlern des 12. Jahrhunderts aus ihren Heimatgebieten mitgebracht worden. 7 ) Es handelt sich nach dem Zeugnis der Quellen um flämisches und oberfränkisches Recht. In welchem Maße die anderen an der Kolonisation beteiligten deutschen Altstämme, nämlich die (Nieder-)Sachsen und die Thüringer, ihre Rechtsgewohnheiten haben einbringen können, ist in der Forschung bisher nicht bekannt geworden. Um dieses Recht handhaben und durchsetzen und das öffentliche Leben in der Gemeinde regeln zu können, bedurfte es eines Leitungsorgans. Dieses erscheint in den Quellen der frühen Neuzeit unter der verallgemeinernden Bezeichnung der „Dorfgerichte". Das weist auf die vorrangige Bedeutung der Rechtswahrung hin, obwohl die Aufgaben durchaus auch im Bereich der Polizei und der Arbeitsordnung lagen. Ursprünglich waren die Bezeichnungen vielgestaltiger. Die älteste urkundliche Erwähnung dieser Art nennt 1154 in Kühren bei Würzen, das damals von Flamen besiedelt worden ist, einen incolarum magister, quem scultetum appellant.8) Das ist der deutsche Schultheiß oder Schulze, dessen Bezeichnung allerdings im Laufe des späten Mittelalters verdrängt worden sein muß, weil sie seit der frühen Neuzeit in Sachsen nicht mehr auftritt. Bei dem incolarum magister denkt man an den Bauermeister des Sachsenspiegels, der zumindest in Nordwestsachsen noch im 18. Jahrhundert mit gemeindlichen Leitungsaufgaben anzutreffen ist. Dabei sollte die sprachliche Parallele zum städtischen Bürgermeister beachtet werden, weil sie Aufschlüsse über die ursprüngliche Gleichartigkeit dörflicher und städtischer Gemeindebildung geben kann. In den westsächsischen Gebieten mit einer starken thüringischen Einwanderung wurden die Dorfvorsteher als Heimbürgen bezeichnet 9 ), während im Bereich der fränkischen Besiedlung der Richter diese Funktion innehatte.
6
) W. Schlesinger, Zur Gerichtsverfassung des Markengebietes östlich der Saale im Zeitalter der deutschen Ostsiedlung, in: Ders., Mitteldeutsche Beiträge (wie Anm.5), 48-132, besonders 118 ff. 7 ) Quirin, Herrschaft (wie Anm.5), 23-43. 8 ) Codex diplomaticus Saxoniae II, 1, Nr. 50, auch in: Urkunden und erzählende Quellen zur deutschen Ostsiedlung des Mittelalters, hrsg. von H. Heibig und L. Weinrich. l.Teil. 1968, 58. ') H. Wiemann, Der Heimbürge in Thüringen und Sachsen. 1962.
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Von dorther hat sich offenbar während des späten Mittelalters die Bezeichnung Richter (Dorfrichter) allgemein durchgesetzt und die anderen verdrängt, die seit dem 16. Jahrhundert nur noch in Resten auftreten. Es muß also eine Vereinheitlichung im Sprachgebrauch stattgefunden haben. Gelegentlich findet sich ein Bauermeister neben dem Richter in deutlicher Aufgabentrennung, wenn der Richter als ein vom Vertrauen der Grundherrschaft getragener Ortsvorsteher die Gemeinde nach außen vertritt und im Auftrag der Obrigkeit für ihre Disziplinierung sorgt, während der Bauermeister auf die Regelung der inneren Angelegenheiten der Dorfgemeinde beschränkt ist. Diese Funktionsverteilung entsprach etwa derjenigen zwischen dem Propst und dem Dechanten eines Domkapitels oder dem Abt und dem Senior eines Klosterkonvents. Dem Mann an der Spitze der Dorfgemeinde standen mehrere Bauern als Schoppen zur Seite, zumeist waren es vier oder höchstens sechs. Sie alle zusammen bildeten „die Dorfgerichte", die einoder mehrmals im Jahr das „Jahrgericht" vor versammelter Gemeinde abhielten. Dabei hatte der Richter die Gerichtshandlung zu leiten, das Gericht zu „hegen" und für dessen ordnungsgemäße Durchführung zu sorgen. Die Dorfgemeinde war demzufolge eine in gewissem Sinne autonome Gemeinschaft, die in eigener Zuständigkeit und mit eigenen Organen für die Wahrung des Rechts einstand und dies im Rahmen der deutschrechtlichen Gerichtsverfassung tat; nur Genossen konnten über Genossen richten. Allerdings betrifft diese Feststellung nur die Fälle der niederen Gerichtsbarkeit, in der das alltägliche Zusammenleben der Menschen in der Dorfgemeinde geregelt wurde. Die Obergerichtsbarkeit „über Hals und H a n d " stand den Dorfgerichten nicht zu, sie war den Dorfherren vorbehalten. Die einzige Nachricht, die aus den Anfängen der dörflichen Gerichtsverfassung im praktischen Vollzug in Sachsen aus dem 12. Jahrhundert vorliegt, betrifft einen Streit zwischen dem edelfreien Dorfherrn Adalbert von Taubenheim bei Meißen und seinen fränkischen Bauern in vier Dörfern (francones sui) von 1186.10) Gegen Zahlung einer jährlichen Geldsumme wurden die Bauern durch den Schiedsspruch des Markgrafen von der Teilnahme am Jahrgericht (iardink, placitum generale) befreit. Nur bei schwierigen Rechtsfällen (arduae causae), die sie von sich aus nicht schlichten 10
) Codex dipl. Saxoniae I, 2, Nr.523, auch in: Urkunden (wie Anm.8), 206.
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konnten, sollte ihr Dorfherr auf ihren Ruf hin (advocatus) kommen und den Fall nach ihrem Rat (secundum consilium eorum) regeln. Selbst bei herrschaftlicher Einwirkung auf die Rechtsprechung blieb also die Mitwirkung der Rechtsgemeinschaft erhalten, wie es das Prinzip des Schöffengerichts vorsieht. Die schon genannte Urkunde für Kühren von 1154 regelt die Gerichtsverfassung des Dorfes grundsätzlich, indem sie die zwei Ebenen der Gerichtsbarkeit festlegt: das Gericht des (herrschaftlichen) Vogtes und jenes des (bäuerlichen) Schultheißen. Dabei sollten gemäß dem allgemeinen deutschrechtlichen Brauch in jedem Falle zwei Drittel der Gerichtseinkünfte an den Bischof von Meißen als den Grund- und Gerichtsherren fallen, während das eine Drittel des Richters entweder dem Vogt oder dem Schultheißen ( = Bauermeister!) zustand. Der aus der bäuerlichen Gemeinde hervorgegangene Dorfrichter war also dem herrschaftlichen Vogt in bezug auf die Gerichtsverfassung gleichgestellt, der Unterschied zwischen beiden lag in der materiellen Zuständigkeit. Allerdings zeigt gerade auch diese Regelung von Kühren an, daß die Gerichtsherrschaft nicht bei der Gemeinde lag. Die Gemeinde war nicht souverän und im strengen Sinne des Wortes auch nicht autonom, wenn man darunter das Recht eines Gemeinwesens versteht, die Rechtsverhältnisse seiner Mitglieder durch Aufstellung bindender Rechtssätze zu regeln. Die Dorfgemeinde regelte hier im Rahmen vorgegebener Rechtssätze, die vor allem durch das Gewohnheitsrecht bestimmt wurden, in eigener Zuständigkeit und mit eigenen Organen die Rechtsverhältnisse ihrer Mitglieder, so daß am besten von einer Selbstverwaltung in rechtlicher Hinsicht gesprochen werden kann. Dazu gehörte auch die Möglichkeit des eigenen Strafvollzugs. Als sich im Jahre 1520 ein Bauer in Holzhausen bei Leipzig weigerte, eine ihm von der Gemeinde auferlegte Geldstrafe zu bezahlen, brach ihm die Gemeinde seinen Holzhaufen im Walde auf, was von dem Leipziger Thomaskloster als Grundherrschaft ausdrücklich gebilligt wurde. 11 ) Man wird darin einen Rest dörflicher Eigengerichtsbarkeit sehen können, die auch dem einzelnen Dorfgenossen gegenüber durchgesetzt werden konnte. Als nach 1150 im späteren Sachsen durch Rodung Tausende neuer Dörfer entstanden, deren Bewohner in Dorfgemeinden zu") B. Markgraf, Ländliche Sittlichkeit in Leipzigs Umgebung im ausgehenden Mittelalter, in: Beitr. z. sächs. Kirchengeschichte 24, 1911, 40ff.
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sammengeschlossen waren, war auch die Entstehung der Städte in Gang gekommen. Der undatierte Stadtbrief für Leipzig wird seinem Inhalt nach in die Zeit um 1165 gesetzt.12) Als Keimzelle für die Stadt Chemnitz entstand der 1143 privilegierte Fernhandelsmarkt (forum publicum), der bei der dortigen Nikolaikirche mit einer frühen Kaufmannssiedlung zu lokalisieren ist.13) Für die Mitte des 12. Jahrhunderts sind an den Kreuzungspunkten des Fernhandels Kaufmannssiedlungen vorauszusetzen, die bald darauf topographisch und rechtlich zu Städten weiterentwickelt wurden. 14 ) Wenn in der Urkunde für Kühren von 1154 von den Bauern ein Grundzins in Bargeld gefordert wird, so konnten sie sich das nur durch Verkauf ihrer landwirtschaftlichen Erzeugnisse auf einem in der Nähe gelegenen Markt beschaffen. Genossenschaftlich organisierte Kaufmannssiedlungen, die zugleich eigene Kirchgemeinden darstellten, waren die unmittelbaren Vorläufer der nunmehr entstehenden Stadtgemeinden. Walter Schlesinger hat gezeigt, wie sich aus dem Recht der freien, unter Königsschutz fahrenden Kaufleute das Marktrecht und daraus das Stadtrecht entwickelte. 15 ) Das war ein elementarer Vorgang, der inmitten einer von feudaler Herrschaft und Naturalwirtschaft geprägten Umwelt notwendigerweise neue Rechtsgrundsätze für eine Gruppe von Menschen hervorbrachte, die mit dem Geld wirtschafteten und sich bewußt, z.T. sogar mit Gewalt, von feudaler Herrschaft befreiten. Die Entwicklung von Kaufmanns-, Markt- und Stadtrecht ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie eine Gemeinschaft sich ein eigenes Recht schafft, dieses Recht gegen die herrschaftlichen Gewalten durchsetzt und dann noch diese Gewalten dazu zwingt, das neue Recht anzuerkennen und zu schützen. Stadtgründung und Stadtrechtsverleihung wurden noch vor wenigen Jahrzehnten als Maßnahmen angesehen, die im freien Belieben feudaler Stadtherren lagen. Die seither auch in Sachsen betrie,2
) Dazu zuletzt: J. Sebánek, Zum Leipziger Stadtbrief, in: JbRegG 2, 1967, 175-185. ,3 ) M. Kobuch, Die Anfänge der Stadt Chemnitz, in: Arbeits- und Forschungsberichte zur sächs. Bodendenkmalpflege 26, 1983, 139-162. 14 ) K. Blaschke, Studien zur Frühgeschichte des Städtewesens in Sachsen, in: FS für W. Schlesinger, hrsg. von H. Beumann. l . B d . 1973, 333-381. 15 ) W. Schlesinger, Der Markt als Frühform der deutschen Stadt, in: Vorund Frühformen der europäischen Stadt im Mittelalter, T. I, hrsg. von H. Jankuhn u.a. 1973, 262-293.
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benen Forschungen haben gezeigt, daß die Inhaber der Herrschaft nur dort mit Aussicht auf Erfolg eine Stadt „gründen" konnten, wo es bereits städtische Vor- und Frühformen gab, die auf die spontane Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte zurückgingen. 16 ) Sie waren also in ihren Entscheidungen nicht frei, wenn sie eine bereits bestehende Kaufmannssiedlung zur Stadt im vollen Rechtssinne weiterentwickelten oder neben einer solchen Siedlung die Anlage einer Stadt ermöglichten. Sie verliehen auch nicht irgendein von ihnen ausgedachtes Stadtrecht, sondern bestätigten nur der werdenden Stadtgemeinde das von dieser bereits wahrgenommenen Kaufmanns- und Marktrecht, womit in das herrschaftlich strukturierte, feudal und naturalwirtschaftlich begründete Landrecht ein Loch gerissen wurde. Inhaber feudaler Herrschaft „gründeten" eine Stadt, indem sie einer schon herangewachsenen frühstädtischen Siedlung das Recht zusprachen, nach den darin schon geltenden Rechtsgrundsätzen zu leben. Nach dieser Sicht der Dinge liegt das Schwergewicht bei der Entstehung der Städte eindeutig auf der Seite der Stadtgemeinde und nicht des Stadtherrn. Über die Art und Weise, wie die Städte Sachsens in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts angelegt wurden und wie sich ihre Gemeinden bildeten, ist sehr wenig bekannt. Erkennbar sind die damals entstandenen Stadtgrundrisse, die wohl nur als Ergebnisse bürgerlichen Ordnungsdenkens und gemeinschaftlichen Gestaltungswillens verstanden werden können und somit als Leistungen der Stadtgemeinde insgesamt anzusehen sind. 17 ) Die Auffassung, es habe bestimmte dynastisch festgelegte Typen von Stadtgrundrissen gegeben, etwa Zähringerstädte oder Ludowingerstädte, müssen eingehend geprüft werden. 18 ) Auch die soziale Gestalt der ersten Stadt16
) K. Blaschke, Geschichte Sachsens im Mittelalter (wie Anm.3), 111-135. ) Ders., Kirchenorganisation und Kirchenpatrozinien als Hilfsmittel der Stadtkernforschung, in: Stadtkernforschung, hrsg. von H. Jäger. 1987, 23-57. 18 ) W. Hess, Hessische Stadtgründungen der Landgrafen von Thüringen. 1966; - C. Meckseper, Städtebau, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte Kunst - Kultur. Bd. 3. 1977, 75-86; - B. Schwineköper, Beobachtungen zum Problem der „Zähringerstädte", in: Schauinsland 84/85, 1966/67, 49-78; B. Diestelkamp, Weifische Stadtgründungen und Stadtrechte des ^.Jahrhunderts, in: Z R G G A 81, 1964, 164-224; - F. Metz, Die elsässischen Städte. Die Grundformen ihrer Entstehung und Entwicklung, in: Beiträge zur Oberrheinischen Landeskunde. FS zum 22. Deutschen Geographentag. 1927, 203 ff. Meckseper hält die Annahme eines einheitlichen Grundrißtyps der 17
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gemeinden liegt im Dämmerlicht. Daß sie aus den vorherrschenden Grundbesitzern bis hin in die Reihen der Ministerialität, aus Fernhändlern und Handwerkern bestanden, ist ebenso klar wie ihre Geschlossenheit und Einmütigkeit gegenüber dem Stadtherrn. Ungewiß ist dagegen schon der innere Aufbau, die Stellung der einzelnen sozialen Gruppen innerhalb der kommunalen Selbstverwaltung und das Funktionieren kollektiver, kommunaler oder gar demokratischer Prinzipien, die ja doch in irgendeiner Weise in der hochmittelalterlichen Stadtverfassung vorauszusetzen sind. Wenn im Jahre 1299 in Pirna eine Meßstiftung vom Erbvogt, dem Bürgermeister, den geschworenen Ratsherren und der ganzen Gemeinde (universitas civium) beurkundet wird, so läßt sich das als Zeichen der Einmütigkeit zwischen der Stadtgemeinde und ihren Leitungsorganen deuten. 19 ) In diesem Rahmen war die Stadtgemeinde darauf bedacht, das Stadtrecht durchzusetzen und den Stadt- und Marktfrieden in ihrer eigenen Zuständigkeit zu gewährleisten. Genau wie bei der Dorfgemeinde mit ihrem Ziel, die bäuerliche Arbeit in einer Gemeinschaft zu regeln, stand bei der Stadtgemeinde die Sicherung von Handel und gewerblicher Arbeit im Vordergrund der Aufgaben, ging es auch hier um die elementaren Lebensbedürfnisse. Da auch in der Stadt in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens zu jeder Familie ein Haus gehörte und Kaufleute und Handwerker für ihre wirtschaftliche Tätigkeit ein Haus benötigten, ergab sich die selbstverständliche Übereinstimmung von Hausbesitz und Bürgerrecht. Die Stadtgemeinde bestand also aus den Besitzern der unter Stadtrecht stehenden Grundstücke. Diejenigen Grundstücke innerhalb der topographischen Einheit einer Stadt, deren Bewohner ihrer Funktion nach nicht in die Wirtschaftseinheit der Stadt gehörten, standen daher nicht unter Stadtrecht, ihre Bewohner gehörten nicht zur Stadtgemeinde. Das betrifft vor allem die Burgmannen, die Bewohner adliger Freihöfe und die Geistlichen in entsprechenden FreihäuFortsetzung
Fußnote von Seite 126
Zähringerstädte nicht für stichhaltig. Andererseits sieht er bei den Stadtgründungsvorgängen des 12. Jahrhunderts „Grundrißtypen" und „charakteristische Gruppierungen" und in der Schweiz eine „reine Typenlandschaft". M. Kobuch hat bei der Untersuchung der Städte Chemnitz (vgl. Anm. 13) und Zwickau Grundrißähnlichkeiten bei den staufischen Stadtgründungen Hagenau, Altenburg, Zwickau, Chemnitz und Eger bemerkt. Vgl. auch C. Meckseper, Kleine Kunstgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter. 1982, 82. ") Codex dipl. Saxoniae 11,5, 11.
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sern. Burglehen, Dom- und Stiftsfreiheiten gehörten daher nicht zum Rechtsbereich der Stadt, sie waren, wie der Name „Freiheit" es ausdrückt, der Stadtgemeinde gegenüber frei.20) Während sich die Dorfgemeinde noch in das feudale Herrschafts- und Rechtssystem einfügte, sprengte die Stadt als eine grundsätzlich revolutionäre Größe die bestehenden Ordnungen. Sie befand sich daher in einer doppelten Frontstellung: einmal gegenüber den feudalen Stadtherren, zum andern gegenüber dem landwirtschaftlich ausgerichteten ländlichen Umfeld. Da sie in dieser doppelten Hinsicht einen Fremdkörper in der Gesellschaft des hohen Mittelalters darstellte, mußte sie sich von Anfang an in dieser doppelten Abwehrhaltung und in ihrer Minderheitssituation behaupten. Dabei gelang es ihr, die Feudalordnung zu durchbrechen, denn in jeder voll ausgebildeten Stadtgemeinde war nicht nur das feudale Landrecht außer Kraft gesetzt, sondern auch der unmittelbare Zugriff des feudalen Herrn auf den einzelnen Menschen beseitigt. Während der Bauer als Mitglied der Dorfgemeinde unmittelbar dem Grundherrn unterworfen war, dem er Abgaben und Dienste schuldete, hatte der Bürger als Mitglied der Stadtgemeinde unmittelbar den Stadtrat über sich, also eine genossenschaftliche Vertretung der Bürger, durch die sie dem Stadtherrn gegenüber abgeschirmt wurden. Abgaben leistete der Bürger nur seinem Stadtrat, bei dem die Zugriffsmöglichkeit der Feudalgewalten endete. Die Herrschaftsinhaber hatten es mit einer Kollektivpersönlichkeit zu tun, als die ihnen die Stadtgemeinde gegenübertrat. Das verschaffte dem einzelnen Bürger eine Freiheit, die der Bauer auch innerhalb der Dorfgemeinde niemals erreichen konnte. Gegenüber dem ländlichen Umfeld nahm die Stadtgemeinde die wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder wahr, indem sie für die strenge Einhaltung der Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land sorgte und dazu die Ansiedlung von Handwerkern und das Bierbrauen auf den Dörfern zu verhindern suchte. So war die Stadtgemeinde in mehrfacher Hinsicht eine Gemeinschaft, die einem nach ihren eigenen Bedürfnissen festgelegten Recht folgte und auch die Möglichkeit hatte, dieses Recht durchzusetzen. An einer Stelle des späteren Sachsen hat das kommunale Prinzip innerhalb der städtischen Welt seine höchstmögliche Steigerung 20
) K. Blaschke, Sonderrechtsbereiche in sächsischen Städten an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Civitatum Communitas. FS für Heinz Stoob. 1984, 254-265.
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erreicht. Im Jahre 1346 schlossen sich die Städte Bautzen, Görlitz, Zittau, Kamenz, Löbau und Lauban zum Oberlausitzer Sechsstädtebund zusammen, um die durch einen räuberischen Adel gefährdete Sicherheit der Straßen zu gewährleisten und die adligen Raubnester zu brechen, was ihnen auch in vollem Maße gelang.21) Ihr Landesherr, der König von Böhmen, stand auf ihrer Seite, da ihm die Städte eine Aufgabe abnahmen, die eigentlich ihm zugefallen wäre. Aber da er den Vorgängen in der Oberlausitz als einem Nebenland der Krone Böhmen nicht die nötige Kraft zuwenden konnte, überließ er den Städten die Friedenswahrung, die man in erster Linie als eine Aufgabe sich entwickelnder Staatlichkeit ansprechen darf. Die sechs Stadtgemeinden hatten die Kraft und das heißt vor allem das Geld, um anstelle des Königs das zu leisten, was von der obersten öffentlichen Gewalt erwartet wurde. Nur an dieser Stelle und unter den besonderen Verfassungsverhältnissen der Oberlausitz sind also städtische Kommunen mit ihrer Wirksamkeit bei der Verfolgung natürlicher Interessen bis in den Zuständigkeitsbereich staatlicher Gewalten vorgedrungen und haben einen Kommunalismus als Alternative zum Territorialstaat praktiziert. Das konnte freilich nur deshalb geschehen, weil hier der Territorialstaat eine Lücke gelassen hatte, die darum durch kommunale Aktivitäten ausgefüllt werden konnte. Die Entstehung der Stadtgemeinde im späteren 12. Jahrhundert war nur der Beginn einer insgesamt expansiven Entwicklung, in der es um die ständige Erweiterung der Zuständigkeit städtischer Gerichtsorgane ging. Die Niedergerichtsbarkeit lag auch hier in den Händen eines Schultheißen, aber er scheint stärker als der dörfliche Schultheiß-Richter unter der Aufsicht des Stadtherrn gestanden zu haben und von ihm abhängig gewesen zu sein, vor allem was seine Einsetzung betrifft. In Torgau, einer der großen Fernhandelsstädte, wurde die Niedergerichtsbarkeit auch nach der Stadtrechtsverleihung im Auftrage des Markgrafen durch einen Schultheißen ausgeübt, der aus dem Kreis der dortigen Burgmannen stammte, wie es sich aus Nachrichten von 1343 und 1370 ergibt. Erst in diesem Jahr ging sie an einen Angehörigen der Ratsgeschlechter über, fünf Jahre später wurde sie dem Rat in seiner Gesamtheit verpfändet und ihm 2
') K. Czok, Der Oberlausitzer Sechsstädtebund in vergleichender geschichtlicher Betrachtung, in: Oberlausitzer Forschungen, hrsg. von M. Reuther. 1961, 108-120.
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schließlich 1437 erblich überlassen. 22 ) Denn eben an dieser Stelle setzte das Bestreben der Stadtgemeinden ein. Es sind viele Fälle überliefert, in denen eine Stadt gegen die Leistung oft beträchtlicher Summen baren Geldes ihrem Stadtherrn schrittweise die Niedergerichtsbarkeit und dann auch die Obergerichtsbarkeit abgepachtet oder abgekauft hat. Die Städte konnten ihr Geld anwenden, um dafür Herrschaftsrechte einzuhandeln. Die Verfügung über das Geld war ihr großer Vorteil. So erlangten die großen Städte des Landes bis zum Ende des Mittelalters die volle Eigengerichtsbarkeit, die Stadträte waren Herren im eigenen Hause geworden, die Stadtgemeinden waren in ihren inneren Angelegenheiten von feudaler Bevormundung freigeworden. Hier ist freilich eine Einschränkung notwendig. Die bisher geschilderte Entwicklung gilt nur für die großen Fernhandelsstädte mit ihrer starken wirtschaftlichen Stellung, die ihnen die Umwandlung von Geld in Herrschaft ermöglichte und ihnen in den Augen des Stadtherrn einen entsprechend hohen Wert verschaffte. Da es keine einheitliche Städteordnung gab und jede einzelne Stadtverfassung das Ergebnis einer ganz eigenen Entwicklung im Ringen zwischen Stadtgemeinde und Stadtherrn war, kam es zu einer Abstufung in der Zuständigkeit der Stadtgemeinden, die von der vollen Gerichtsbarkeit bis zur vollständigen Abhängigkeit von der Patrimonialgerichtsherrschaft reichte. Trotz der Unterschiedlichkeit der jeweils erreichten Stufe besaß jede Stadtgemeinde ein Leitungsorgan. Bei den größeren Städten war das der Rat mit dem Bürgermeister an der Spitze, bei den kleineren ein Schöffenkollegium mit dem Stadtrichter, der oft noch vom Stadtherrn eingesetzt wurde oder zumindest von ihm bestätigt werden mußte. In diesem zweiten Falle kam also die städtische Gemeindeverfassung jener der Dörfer nahe. Wenn eine Stadt mit Ratsverfassung die volle Eigengerichtsbarkeit erlangte, dann richtete sie das Amt eines Stadtrichters ein, der neben dem Bürgermeister amtierte und dem städtischen Rat angehörte. Die getrennte Darstellung der Dorfgemeinde und der Stadtgemeinde in Sachsen seit dem späteren 12. Jahrhundert hat grundlegende Gemeinsamkeiten zutage gebracht. Die gesellschaftliche Ausgangslage war in beiden Fällen gleich, in Dorf und Stadt wurden im Zusammenhang mit der deutschen Kolonisation Menschen unter 22
)C. Knabe, Urkundenbuch von Torgau. 1902, Nr.60, 84b und 213.
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günstigen Rechtsverhältnissen und in persönlich freier Stellung in das Land gezogen. Der Rechtsgrundsatz „Stadtluft macht frei" brauchte hier nicht angewandt zu werden, weil auch die Landluft nicht unfrei machte. Die vorhandenen Quellen geben jedoch keine Auskunft darüber, ob während des Mittelalters ein Bewußtsein kommunaler Gemeinsamkeit oder Interessengleichheit zwischen Dorf und Stadt bestanden hat. Die Wahrscheinlichkeit spricht nicht dafür. Beide Formen der Gemeindeverfassung entwickelten sich unter jeweils eigenen Bedingungen, die sehr unterschiedlich waren. Vor allem dürfte der grundsätzliche Interessengegensatz zwischen Städten und Dörfern in wirtschaftlicher Hinsicht dahin gewirkt haben, daß ein Gefühl der Gemeinsamkeit nicht aufkommen konnte, was ja eine gewisse Abstraktion der Gemeinde an sich vorausgesetzt hätte, die dem konkret denkenden Menschen des Mittelalters fernlag. Das eifersüchtige Wachen der Stadt über ihre privilegierte Stellung gegenüber dem Land wegen ihrer Monopolstellung in bezug auf Handel, Handwerk und Bierbrauen war nicht geeignet, ein derartiges Gefühl zu fördern. Als während des Bauernkriegsjahres 1525 die aufständischen Bauern des westlichen Erzgebirges sich an die Stadt Zwickau um Hilfe wandten, fanden sie dort keinerlei Bereitschaft und nicht einmal irgendwelche Anzeichen der Solidarität. 23 ) So ist die weitere Entwicklung der Gemeindeverfassung wiederum getrennt nach Dörfern und Städten zu verfolgen. Die Dorfgemeinde erlitt während des späten Mittelalters einen Schwund an Zuständigkeit. 24 ) Dieser Vorgang läßt sich bei der Quellenarmut dieser Zeit im einzelnen nur schwer erfassen, er muß eher an seinem Ergebnis erkannt werden, wie es in der Zeit reichlicher fließender Quellen seit dem 16. Jahrhundert deutlich wird. 25 ) Die Ursache war das Vordringen und Erstarken der Grundherrschaft, die ihre Patrimonialgerichtsbarkeit ausbauen und dadurch die eigenrichterlichen Funktionen der Dorfgerichte zurückdrängen konnte. Man muß geradezu von einer Entmündigung der Dorfgemeinde sprechen, wenn man ihre Stellung im späten 12. mit jener im frühen 16. Jahrhundert vergleicht. In der Neuzeit war ihr die 23 ) Akten zur Geschichte des Bauernkrieges in Mitteldeutschland. Bd. 2, hrsg. von W. P. Fuchs. 1942, 232 und 247. 24 ) Blaschke, Grundzüge (wie Anm. 5), 277. 25 ) H. Kuntze, Die Landgemeinde und ihre Stellung im Staate im Gebiet des Königreiches Sachsen, unter Ausschluß der Lausitz, vom 16. Jahrhundert bis heute. Jur.Diss. Leipzig 1919.
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selbständige Handhabung der Gerichtsbarkeit entzogen, sie war jetzt auf die bloße Regelung des dörflichen Gemeinschaftslebens und der Flurnutzung beschränkt. Dabei ging es um die Besserung der Wege, die Zahl des zur Gemeindeweide zugelassenen Viehs, die Haltung des Gemeindebullen und Gemeindeebers, die Einhaltung des Flurzwanges, die Anstellung der Gemeindehirten und Nachtwächter, die Unterhaltung der Gemeindehäuser, die Regelung des Reiheschanks in Dörfern ohne Schenke und die Umlegung von Gemeindelasten bei Einquartierungen auf alle Gemeindemitglieder. Auch die Fürsorge für Alte, Arme und Waisenkinder, die Bestattung der Leichen und die Verwaltung von Gemeindegeldern wie auch der Feuerschutz waren Gegenstände in der Obhut der Gemeinde. In allen diesen Angelegenheiten waren Entscheidungen zu treffen, die von mehreren Gemeindemitgliedern oder der ganzen Gemeinde zu tragen waren. Zu diesem Zweck wurden Gemeindeversammlungen abgehalten, die in der Regel mit dem Gemeindebier verbunden wurden. Es handelte sich dabei um die Kührtage, die zwei- bis viermal im Jahr stattfanden, wobei die Teilnahme aller Mitglieder Pflicht war. Die Grundfunktion der Dorfgemeinde nach innen änderte sich also nicht, wenn man vom Verlust der Gerichtsbarkeit absieht. Auf diesem Gebiet blieb zwar die Bestellung der Gerichtspersonen erhalten, aber diese wurden teils zu Organen der Grundherrschaft in Polizeisachen gemacht, teilweise auf rein formale Mitwirkung am weiterhin stattfindenden Jahrgericht beschränkt. 26 ) Noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde an manchen Stellen das Jahrgericht abgehalten, wobei Dorfrichter und Schoppen in feierlicher, formelhafter Rede die Hegung vornahmen. Aber das war nur der äußere Rahmen, in dem dann die Vertreter der Patrimonialgerichte die wirklichen Entscheidungen trafen. Wichtiger war dagegen die Übertragung ortspolizeilicher Aufgaben an die Dorfrichter seitens der Patrimonialherrschaften, zumal der ganze Bereich der „Polizei" im Sinne des frühneuzeitlichen Staates immer wichtiger wurde. Diese Verlagerung der Aufgaben hatte wiederum die Folge, daß ein Richteramt nicht gern übernommen wurde, weil es seinen Träger zum Organ der Obrigkeit machte und ihn dadurch in einen Gegensatz zu seinen Dorfgenossen brachte. Der ursprünglich weit26
) K. Blaschke, Die fünf neuen Leipziger Universitätsdörfer. Phil.Diss. Leipzig 1950, in: Wiss.Zs.Universität Leipzig 1951/52, H.5, 99-103.
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verbreitete Brauch, das Richteramt in einer Familie erblich an den Besitz eines Erbrichtergutes zu binden, das dann bestimmte Privilegien genoß, war in der frühen Neuzeit weitgehend verlorengegangen. An manchen Orten wurden die Richter und Schoppen der Reihe nach und zeitlich befristet bestellt, doch setzte sich schließlich die Berufung durch die Grundherrschaft als allgemein üblich durch. Es sind viele Beispiele überliefert, mit welchen Gründen die Bauern sich vor der Übernahme des Richteramtes zu drücken suchten, so daß es gelegentlich zur zwangsweisen Einsetzung eines Richters kam. Diese Tatsachen zeigen recht deutlich, in wie starkem Maße die Dorfgemeinde ihre ursprüngliche Stellung als Selbstverwaltungskörperschaft eingebüßt hatte. Andererseits blieb sie als Interessengemeinschaft zur Wahrung der wirtschaftlichen und sozialen Belange ihrer Mitglieder lebendig. Bis zur Abschaffung der Feudalverhältnisse nach 1832 sind in Sachsen Tausende von Prozessen gegen die Inhaber der Grundherrschaft geführt worden, um neue Forderungen an Abgaben und Diensten oder sonstige Beschwerungen der Bauern abzuwehren. Meistens trat dabei eine ganze Gemeinde als Klägerin vor den landesherrlichen Gerichten auf, weil von den Forderungen in der Regel ein ganzes Dorf oder mehrere Dörfer einer Grundherrschaft betroffen waren. Als Prozeßvertreter wirkte dabei nicht der Dorfrichter, sondern ein von der Gemeinde gewählter „Syndicus". Nicht selten findet sich in den Vollmachten für die Syndici die Formulierung seitens der Bauern, sie „stehen alle für einen Mann". Ein deutlicher Beweis für die Überformung der ehemals selbständigen Dorfgemeinde durch die Grundherrschaft sind die Dorfartikel, die für viele sächsische Dörfer aus dem 16. bis 18. Jahrhundert vorliegen.27) In der letztlich überlieferten Form zeigen sie eindeutig ihre Herkunft aus dem Bereich der Obrigkeit, denn die Schuldigkeiten der Dorfbewohner gegenüber Kirche, Landesherrschaft und Dorfherrschaft stehen vornan. Danach aber folgen Artikel, die das innere Leben im Dorf und die Arbeit auf der Flur zum Gegenstand haben. In ihnen darf man den überlieferten Kern und das althergebrachte Gewohnheitsrecht der Dorfgemeinden sehen, das im Mittelalter mündlich überliefert und spätestens im 16. Jahrhundert unter obrigkeitlichem Einfluß aufgeschrieben worden ist. 27
) J. G. Klingner, Sammlungen zum Dorf- und Bauernrechte. 4 Bde. 1749-1755, mit Texten von Dorfartikeln im 3. Bd.
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Da es in Sachsen keine Weistümer gibt, müssen diese Dorfartikel als Zeugnisse alter dörflicher Rechtssatzung dienen, denn im Kern sind sie trotz aller späteren Inanspruchnahme durch die Obrigkeit dörfliches Gewohnheitsrecht. Das wird in ihrer anderweitigen Bezeichnung als „Dorfrügen" deutlich. Rügen sind Auskünfte über Rechtsgewohnheiten, die u.a. bei den Jahrgerichten in formelhafter Rede und Gegenrede von einzelnen Dorfgenossen über bestimmte Sachverhalte eingeholt wurden. Das im heutigen Sprachgebrauch negativ besetzte Wort Rüge mit seinem tadelnden, anklagenden Sinn konnte auch in einem positiven Nebensinn gebraucht werden und bedeutete dann soviel wie „bekennen, ein Befugnis durch ein feierliches Bekenntnis in seiner Kraft erhalten". 28 ) Noch um 1800 konnte man sagen, „sie rügen seine Erbgerichte und Lehen, sie bekennen, daß sie ihm gehören". Dieser Wortsinn deckt sich aber weithin mit jenem des Wortes „weisen", das den Weistümern zugrundeliegt. Die Dorfartikel oder Dorfrügen können also bei kritischer Betrachtung den oberdeutschen Weistümern an die Seite gestellt werden. Während somit die Dorfgemeinde in der frühen Neuzeit einem Druck von oben ausgesetzt war, machte sich gleichzeitig ein zunehmender Druck von unten bemerkbar. Er kam von den neu entstehenden unterbäuerlichen Schichten, die sich seit dem späten 15. Jahrhundert in vielen Dörfern vornehmlich des Erzgebirges und der südlichen Oberlausitz ausbildeten. 29 ) Diese Gärtner, Häusler und Hausgenossen waren ein Ergebnis der Bevölkerungszunahme. Da die in Sachsen herrschende Agrarverfassung eine Teilung der Güter nicht gestattete, mußten die überzähligen Bauernsöhne ihr Brot in gewerblicher Arbeit finden, als Leineweber, Bergleute, Waldarbeiter und Hersteller von Blech-, Holz- und Spielwaren. Die Dorfgemeinde der besitzenden Bauern schloß sich gegen diese Schichten ab und verwehrte ihnen die Teilnahme an der Flurnutzung und am gemeinsamen Weidegang des Viehs. Die dadurch entstehenden Spannungen blieben bis zur Landgemeindeordnung von 1838 ungelöst. Am wenigsten wurde die Dorfgemeinde von der Ausbildung des modernen Staates betroffen. Sie war für ihn zu unbedeutend, 28
) J. Ch. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 3.Bd. 1798, Sp. 1199; Quirin, Herrschaft (wie Anm.5), 58. 29 ) K. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution. 1967, 148 ff.
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stellte für ihn keine Konkurrenz dar und hatte keine Funktionen inne, die der Staat hätte an sich ziehen wollen. Adel, Kirche und Städte waren die Inhaber öffentlicher Gewalt, die er einschränken oder beseitigen mußte, um das angestrebte Machtmonopol zu erlangen, nicht aber die Dorfgemeinde mit ihren bescheidenen, politisch nicht ins Gewicht fallenden Lebensäußerungen. Sie lag jetzt im Schatten der Entwicklung. In wenigen Fällen lassen sich Aktivitäten von Dorfgemeinden feststellen, die dieser allgemeinen Einschätzung entgegenstehen. So kauften im Jahre 1661 sämtliche Untertanen in Quatitz (Oberlausitz) das dasige Rittergut, was für sie den Wegfall aller Feudallasten bedeutete. 30 ) Quatitz war seitdem ein Freidorf inmitten einer in starkem Maße von adligen Grundherrschaften geprägten Landschaft, wie die Oberlausitz sie darstellte. Aber dieser Freikauf einer Dorfgemeinde blieb ein Einzelergebnis und wurde nicht nachgeahmt. Die Reformation bot Gelegenheit zu selbständigen Entscheidungen einzelner Dorfgemeinden über ihre Konfession im Widerspruch zur konfessionellen Festlegung ihrer Grundherrschaften. Das Kirchspiel Jauernick bei Görlitz schloß sich mit seinen acht Dörfern der Reformation an, doch wurde 1539 die Pfarrkirche durch die Äbtissin des Klosters Marienthal als Kirchenpatronin wieder mit einem katholischen Pfarrer besetzt. Die Bauern blieben jedoch evangelisch und wandten sich bis zum Bau einer eigenen evangelischen Kirche 1839 zum regelmäßigen Gottesdienst in die evangelischen Nachbarkirchen, während sie die Kasualien bei ihrem katholischen Ortspfarrer zu verrichten hatten. Die unter der Grundherrschaft des Klosters Marienstern stehenden vier Pfarrkirchen Bernstadt, Berzdorf, Dittersbach und Schönau setzten in langwierigem Ringen mit ihrer katholischen Obrigkeit während des 16. Jahrhunderts ihre Zugehörigkeit zur evangelischen Konfession durch, wobei es sich neben der Kleinstadt Bernstadt um sieben Dorfgemeinden handelte, die in dieser wirksamen Weise ihren konfessionellen Selbstbehauptungswillen an den Tag legten. Die besondere Oberlausitzer Landesverfassung begünstigte in allen diesen Fällen die Entscheidung der Dorfgemeinden. Aufs Ganze gesehen blieben das aber Ausnahmen. Wenn von der Stärke des bäuerlichen Elements in der sächsischen Agrarverfassung gesprochen wird, dann müssen die Erblehn30
) W. von Boetticher, Geschichte des oberlausitzischen Adels und seiner Güter 1635-1815. Bd. 3. 1919, 396.
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richter in den Dörfern der südlichen Oberlausitz, des Elbsandsteingebirges und des Osterzgebirges genannt werden, denen, wie es in den Quellen des 16. Jahrhunderts zuerst erkennbar ist, weitgehende Rechte zustanden. 31 ) Ihr Amt war mit dem Besitz eines Erblehnrichtergutes verbunden, dem das Recht des Bierausschanks, des Bakkens, Schlachtens und Brauens und des Salzverkaufs zustand, mehrfach war ihnen auch die Ansetzung eines Schmiedes, eines Schneiders und eines Schuhmachers und die Niederjagd gestattet, von Frondiensten und Einquartierungen waren sie befreit. Diese Erscheinung ist im Zusammenhang noch nicht untersucht worden, aber schon die bekannten Einzelheiten zeigen, daß es sich hier um landschaftlich verbreitete dörfliche Gemeindestrukturen handelt, in denen sich eine herausgehobene Schicht von Dorfrichtern mit außergewöhnlichen Befugnissen erhalten hat. Es gehört in diesen Zusammenhang, daß in den großen Dörfern der südlichen Oberlausitz die bäuerlichen Dorfrichter für die Handlungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit zuständig waren, wovon die seit dem 16. Jahrhundert erhaltenen Dorfschöppenbücher Zeugnis ablegen. Die Dorfrichter nahmen in dieser Hinsicht die gleichen Aufgaben wahr wie ansonsten die Patrimonialgerichte oder in anderen Ländern Europas die öffentlichen Notare. Grundstückskäufe, hypothekarische Belastungen, Testamente und Vormundschaften gehören stets zu den Aufgaben, die eine Gemeinschaft um des guten Zusammenlebens willen und im Interesse des einzelnen zu regeln hat. Hier geschah das nicht durch die Obrigkeit, sondern in der eigenen Verantwortung der Dorfgemeinde durch deren Leitungsorgan. Auch die Stadtgemeinde machte im Laufe des späten Mittelalters Veränderungen durch, die aber nicht im Verhältnis zur Herrschaft, sondern in ihren eigenen Reihen spürbar wurden. Dabei entsteht vor allem die Frage nach dem sozialen Gefüge und seinen Wandlungen. Idealtypische Vorstellung von der hochmittelalterlichen Stadtgemeinde und die Feststellung, daß die frühen Stadtgemeinden als Schwurgenossenschaften (coniurationes) die Freiheit der Stadt erkämpft haben, legen die Vermutung nahe, daß am Anfang eine homogene, in rechtlicher Hinsicht gleichgestellte Mitgliedschaft vorhanden war. Dem stehen Beobachtungen über privilegierte Grundstücke, politisch hervortretende Führungskräfte und 31
) Zahlreiche Hinweise dieser Art enthalten die einzelnen Ortsartikel in: A. Meiche, Historisch-topographische Beschreibung der Amtshauptmannschaft Pirna. 1927.
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wirtschaftlich überlegene Bürger schon in den ersten Jahrzehnten der Stadtgeschichte entgegen. Ob man unter diesen Bedingungen von einer in sich einheitlichen Stadtgemeinde im 12./13. Jahrhundert ausgehen kann, in der gleiches Wahlrecht für alle Mitglieder bestand und alle die gleiche Chance hatten, in ein Führungsamt gewählt zu werden, ist daher fraglich, doch dürfte es gestattet sein, die Stadtgemeinde in ihren Anfängen als eine verhältnismäßig geschlossene Interessengemeinschaft anzusehen, in der ein Grundkonsens zwischen allen Mitgliedern bestand, zumindest was die Stellung gegenüber dem Stadtherrn und gegenüber dem ländlichen Umfeld angeht. Dieser Grundkonsens wurde dadurch gefährdet, daß sich innerhalb der Stadtgemeinde, jedenfalls in den größeren Städten, eine Führungsgruppe herausbildete, die sich gegen die Gemeinde hin abschloß und für sich das Recht in Anspruch nahm, die Leitungsämter allein zu besetzen. In der Ratswahlordnung der Stadt Freiberg von 1307, damals der größten und wirtschaftlich bedeutendsten Stadt im ganzen meißnisch-sächsischen Bereich, wird die jährliche Erneuerung des Rates durch Kooptierung festgelegt, was naturgemäß jede Mitwirkung der Gemeinde ausschloß. 32 ) Auch in anderen Städten bildete sich ein Kreis von Ratsfamilien aus, die allein das Stadtregiment in die Hand nahmen. Die Mitgliedschaft im Rat wurde lebenslänglich, in regelmäßigem Wechsel von einem sitzenden und zwei ruhenden Räten übten die Mitglieder der Ratsfamilien die Leitung der Stadt aus. Diese Stadt hatte sich von ihrer Entstehung um 1200 bis zum Beginn der Neuzeit weiterentwickelt, die Zahl der Einwohner hatte zugenommen, was eine Verstärkung der Unterschichten zur Folge gehabt hatte. Im 16. Jahrhundert war nicht mehr jeder Bürger und schon gar nicht jeder Stadtbewohner auch ein Hausbesitzer, das Bürgerrecht war immerhin schon auf wirtschaftlich selbständige Stadtbewohner ohne Haus- und Grundbesitz übertragen worden, die als Pfahlbürger bezeichnet wurden. Die Stadtgemeinde stellte sich zu Beginn der Neuzeit als eine in sich gegliederte Vielfalt dar, die von sozialen Spannungen betroffen war. Zur obersten Schicht gehörten die wohlhabenden Handwerksmeister, die sich gegen die selbstherrlichen Ratsfamilien auflehnten und eine Mitwirkung am Stadtregiment beanspruchten. In der Un") Codex dipl. Saxoniae II, 12, 57.
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terschicht hatten sich Lohnarbeiter zusammengefunden, die um ihre wirtschaftliche Besserstellung rangen. Die ganze städtische Gesellschaft wurde von Kräften der Bewegung in Unruhe versetzt, die von unten nach oben wirkten. In einigen größeren Städten machten sich die Spannungen in Gewalttätigkeit Luft, was zu den bekannten Zunft- und Bürgerkämpfen des 14. und 15. Jahrhunderts führte. 33 ) Sie endeten an manchen Stellen mit der Aufnahme von Handwerkern in den Rat. Eine andere Möglichkeit, mit der sich die Gemeinde ein größeres Gewicht zu verschaffen suchte, war die Einrichtung der Stadtviertel mit der Wahl der Viertelsmeister als Vertreter der Stadtbewohner. Sie hatten polizeiliche, militärische und fiskalische Aufgaben wahrzunehmen. Die Stadträte sahen in ihnen eine Beeinträchtigung ihrer selbstherrlichen Stellung. Der Rat zu Freiberg wehrte sich vergeblich gegen die Bestellung der Viertelsmeister, die schließlich 1527 mit landesherrlicher Zustimmung in Funktion traten und das Recht hatten, vor dem Herzog gegen den Rat Beschwerde zu führen. 34 ) Allgemein werden die Viertelsmeister als gewählte Organe der Gemeinde angesehen. Im Jahre 1520 wurde in Pirna eine ständige Rechnungsprüfung durch die Gemeinde eingerichtet, wozu die sechs „Rechherren" oder auch „die Sechser" gewählt wurden, die sich aber später auch wieder durch Zuwahl ergänzten. 35 ) Es ist bezeichnend, daß die Mitbestimmung der Gemeinde bei der Aufsicht über das Rechnungswesen begann. Wenn in Sachsen in der frühen Neuzeit von der Stadtgemeinde die Rede ist, muß immer an das Nebeneinander oder auch Gegeneinander eines oligarchisch aufgebauten Stadtrates und einer vom Stadtregiment ausgeschlossenen Gemeinde gedacht werden. Die kommunale Selbstverwaltung lag eben in den Händen dieser Ratsoberschicht, sie handhabte die Stadtverwaltung, sie sorgte für Recht und Ordnung, sie regelte das Gemeinschaftsleben. Sie tat das im Rahmen der im Lande allgemein gültigen Rechtsgrundsätze und des überlieferten Stadtrechts, Satzungen eigenen Rechts wurden hierbei nicht benötigt. Das herrschende Ratsregiment vertrat in jedem Falle ") K. Czok, Revolutionäre Volksbewegungen in mitteldeutschen Städten zur Zeit von Reformation und Bauernkrieg, in: 450 Jahre Reformation, hrsg. von L. Stern und M. Steinmetz. 1967, 128 ff. 34 ) Geschichte der Bergstadt Freiberg, hrsg. von H.-H. Kasper und E. Wächtler. 1986. 35 ) Deutsches Städtebuch. 2. Bd., hrsg. von E. Key ser. 1941, 183.
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die wirtschaftlichen Interessen der Gemeindemitglieder, wie es in den ungezählten Streitfällen und Prozessen gegen Dorfhandwerker und für den Schutz der städtischen Biermeile zum Ausdruck kam. Die seit dem 16. Jahrhundert immer stärker in das öffentliche Leben eingreifenden Behörden des frühneuzeitlichen Staates schützten die Städte bei der Bewahrung ihrer Privilegien.36) Wie weit die Selbstverwaltung einer Stadt im Einzelfalle gehen konnte, zeigt das Beispiel der Stadt Leipzig, die allerdings mit ihrer Messe einen Trumpf auch gegenüber den staatlichen Behörden in der Hand hielt. Der Leipziger Rat führte eine rigorose Interessenpolitik zugunsten der Leipziger Handelshäuser, die im 18. Jahrhundert ernste Besorgnisse auf der Landesebene hervorrief. Seine streng lutherische Konfessionspolitik drohte reformierte, katholische, orthodoxe und jüdische Messebesucher abzuschrecken, so daß staatlicherseits Abhilfen im Sinne religiöser Toleranz geschaffen werden mußten, ohne freilich die Rechte der Stadt Leipzig zu beeinträchtigen. Eine wirtschaftlich so mächtige, für Kursachsen so unentbehrliche Stadt konnte ein höheres Maß an kommunaler Selbständigkeit wahrnehmen als alle anderen. 37 ) Die konfessionelle Entscheidungsfreiheit muß als eine wesentliche Äußerung kommunaler Selbständigkeit angesehen werden. Die beginnende Reformation gab hierzu vielen sächsischen Städten die Gelegenheit, eine solche Selbstbestimmung zu praktizieren, indem sie gegen den Widerstand der altgläubigen Kirchenpatrone und gegen das geltende Kirchenrecht in eigener Zuständigkeit lutherische Prediger anstellten. Mit Rücksicht auf die hohe Bedeutung der Religion für das öffentliche Leben jener Zeit muß ein solches Verhalten besonders gewürdigt werden. Die evangelisch gewordene Stadtgemeinde Bautzen setzte sogar das Recht durch, in der dem katholischen Domkapitel gehörenden Stadtkirche, die dadurch zur Simultankirche wurde, evangelischen Gottesdienst zu halten. Die Ausbildung des modernen Staates seit etwa 1500 hat sich unmittelbar nur auf die landsässigen Städte ausgewirkt. Die Landes") Noch die Staatsreformer des Rétablissements von 1763 sprachen sich für die Aufrechterhaltung der privilegierten Stellung der Städte und gegen die Tätigkeit von Handwerkern auf den Dörfern aus: Die Staatsreform in Kursachsen 1762-1763. Quellen zum kursächsischen Rétablissement nach dem Siebenjährigen Kriege, hrsg. von H. Schlechte. 1958, 423. ") K. Blaschke, Die kursächsische Politik und Leipzig im 18. Jahrhundert, in: Zentren der Aufklärung III: Leipzig, hrsg. von W. Martens (erscheint demnächst).
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herrschaft wuchs sich dadurch zum Staat aus, daß sie von konkurrierenden öffentlichen Gewalten Befugnisse an sich zog und neue Befugnisse schuf. Die landsässigen Städte in Sachsen besaßen seit dem Mittelalter Rechte und Privilegien, die in manchen Fällen der Ausbildung moderner Staatlichkeit im Wege standen. So schufen die kursächsischen Konstitutionen von 15 7 238) ein vereinheitlichtes Landesrecht, durch das sich diese oder jene Stadt in ihren alten Rechten verletzt sah. Als die Abgesandten der Stadt Freiberg in dieser Angelegenheit bei der Landesregierung vorstellig wurden, gab ihnen der Kanzler die Antwort, viele Städte hätten ein grobes, unvernünftiges, viehisches Recht, das wider die Natur liefe, und die früheren Fürsten hätten die alten Stadtrechte nur aus Albernheit und Einfältigkeit gegeben, zumal sie ja auch noch nicht so viele gelehrte Leute gehabt hätten, wie es jetzt der Fall sei. In dieser Konfrontation eines kommunalen Traditions- und Wertbewußtseins mit der rational und naturrechtlich begründeten Staatsidee wird die ganze Problematik des kommunalen Prinzips deutlich, das dem Territorialstaat hoffnungslos unterlegen war. Im großen ganzen griff der sächsische Staat aber nicht so sehr in das innere Gefüge und den Mechanismus der Stadtgemeinde ein. Eine „Verstaatlichung" der Stadtgemeinde, wie sie im absolutistischen Preußen des 18. Jahrhunderts mit Hilfe der Steuerräte durchgeführt wurde, hat es in Kursachsen niemals gegeben, was freilich auch dazu führte, daß die mittelalterlichen Verhältnisse weitgehend unverändert bestehen blieben und allmählich eine der Entwicklung hinderliche Erstarrung eintrat. So blieb die Stadtgemeinde als ein gewachsener Organismus ohne Eingriff des Staates erhalten, wurde aber wie alle anderen politischen Institutionen in die neu aufgebauten staatlichen Zuständigkeiten eingeordnet. Der erworbene Grad der Nieder- und Obergerichtsbarkeit wurde nicht beeinträchtigt, aber die neugeschaffenen kurfürstlichen Gerichtshöfe legten sich als zweite Instanzen über die Stadtgerichte. Die selbständige Finanzverwaltung der Stadträte wurde nicht geschmälert, aber die landsässigen Städte mußten alljährlich ihre Rechnungen einer obersten Landesbehörde zur Prüfung einsenden. So legte der heranwachsende Staat neue Schichten öffentlicher Machtausübung über die kommunale Selbstverwaltung, wobei er sie zwar zudeckte, aber nicht erdrückte. Die Stadtgemeinde blieb auch unter diesen Bedingungen 38
) Codex Augusteus. Bd.I. 1724, 74-132.
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eine notwendige Institution zur Regelung des städtischen Gemeindelebens. Die bis 1800 gelaufene Entwicklung rief nur eine kumulative Anhäufung neuer Zuständigkeiten hervor, noch nicht die grundlegend und qualitativ veränderte Neuregelung, wie sie erst der bürgerliche Staat des 19. Jahrhunderts zuwege brachte. Um 1800 erwiesen sich die inneren Ordnungen der Dorf- und der Stadtgemeinde in Sachsen als dringend reformbedürftig. Sie waren beide auf älteren Stufen der Entwicklung stehengeblieben, so daß es zu offenkundigen Widersprüchen zwischen der traditionellen Verfassung und den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen gekommen war. Die Dorfgemeinde hatte die seit dem Beginn der Neuzeit herangewachsenen dörflichen Unterschichten nicht in sich aufgenommen und war ihrerseits von der Grundherrschaft als einer mittlerweile zum Absterben verurteilten Institution entmündigt worden, so daß sie in einem doppelten Anachronismus lebte und ihre volle Aufgabe nur in ungenügendem Maße wahrnehmen konnte. 39 ) Die Stadtgemeinde wurde durch ihren selbstherrlichen, auf eine schmale Oberschicht eingeschränkten und somit sozial isolierten Rat von der Mitbestimmung ferngehalten, so daß sich die bürgerliche Demokratie in ihr nicht entfalten konnte. In beiden Bereichen der Gemeindeverfassung war eine grundlegende Veränderung dringend notwendig geworden. Diese Beobachtungen und Überlegungen über die Dorf- und die Stadtgemeinde in Sachsen sind im Rahmen einer Tagung vorgebracht worden, in der es um die Erörterung eines als Kommunalismus bezeichneten Konzepts ging.40) Dabei ist deutlich gemacht worden, daß Kommunalismus nicht einfach mit dem genossenschaftlichen Prinzip gleichzusetzen ist, aber auch nicht mit Republikanismus oder mit demokratischer Gemeindeverfassung im bürgerlich-liberalen Staat. Er gehört vielmehr in die Ständegesellschaft, er steht dem herrschaftlichen Prinzip entgegen und setzt Gemeindefreiheit als einen Urgrund abendländischer Humanität voraus. Was aber heißt hier Freiheit?
39 ) K. Blaschke, Vom Dorf zur Landgemeinde. Struktur- und Begriffswandel zwischen Agrar- und Industriegesellschaft, in: Wege und Forschungen der Agrargeschichte, FS für Günther Franz, hrsg. von H. Haushofer und W. A. Boelcke. 1967, 230-24!. 40 ) P. Blickle, Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus, in: HZ 242, 1986, 529-556.
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Sachsen gehört zum Kolonialland des späteren ^ . J a h r h u n derts, seine gesellschaftlichen Ordnungen haben ihre Grundlegung auf Rodungsboden erhalten, auf einem Neuland ohne vorgegebene Tradition. Es kann nicht zu den klassischen Gebieten der Gemeindefreiheit gerechnet werden, nicht einmal zu jenen, in denen die Arbeit des Bauern stark von der Gemeinde bestimmt wurde, was sich dann in einem großen Anteil der Allmende an der Flur ausdrückte. Die Agrarstruktur in Sachsen war von Anfang an auf individuelle bäuerliche Arbeit gegründet, die Fluren der Kolonistendörfer waren zu individueller Nutzung und persönlichem Besitz aufgeteilt, Gemeindeland spielte eine recht geringe Rolle. Das waren keine günstigen Voraussetzungen für eine Gemeindeverfassung im Sinne des Kommunalismus. Dennoch hat sich auch unter diesen Bedingungen die Gemeinde in Dorf und Stadt ausgebildet und hat es zu hoher Bedeutung gebracht. Die ungeheure Leistung der Rodung riesiger Wälder erforderte die in der Dorfgemeinde vereinigte Kraft der Kolonisten. Die Fernhändler des 11./12. Jahrhunderts schlossen sich bei ihren gefahrvollen Überlandreisen zu Fahrmännergemeinschaften zusammen und ließen sich in genossenschaftlich organisierten Kaufmannssiedlungen nieder, aus denen die Städte mit ihren Stadtgemeinden hervorgingen, in denen der alte Gemeinsinn weiterlebte. Die Gemeinde war notwendig zur alltäglichen Lebensbewältigung, zur Sicherung des Erwerbs, zur Ordnung des Zusammenlebens, zur Wahrung von Friede und Recht in den kleinen Lebensbereichen. Sie entstand unterhalb der Ebene feudaler Herrschaft, blieb von dieser unbehelligt und diente unter gewissen Bedingungen zur Abwehr herrschaftlicher Ansprüche. Die Feudalordnung braucht nicht die Gemeinde, aber sie kann mit der Gemeinde leben, weil beide auf verschiedenen Ebenen des gesellschaftlich-politischen Lebens angesiedelt waren. Zu Konflikten zwischen beiden Ebenen kam es dort, wo die eine in die sachliche Zuständigkeit der anderen einzudringen suchte, sei es, daß die Inhaber feudaler Herrschaft die produktive Leistungsfähigkeit der Bauern zu stark beanspruchten und dadurch deren Widerstand herausforderten, sei es, daß die Stadtgemeinden in den Raum politischer Machtausübungen vordrangen und damit zu Konkurrenten für die feudalen Gewalten wurden. Ein harmonisches Zusammenwirken beider Ebenen läßt sich demzufolge dann am besten denken, wenn sich jede im Sinne einer Arbeitsteilung auf
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ihre eigentliche Bestimmung beschränkt. Das bedeutet freilich den grundsätzlichen Verzicht der Gemeinde auf die Ausübung politischer Herrschaft und ihre freiwillige Beschränkung auf die produktive Tätigkeit und die menschlichen Beziehungen innerhalb der Gesellschaft. Eine kraftvolle Bewegung zur Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft konnte von einer derartigen Gemeinde nicht ausgehen, sie war eher eine Kraft auf der Seite der Beharrung. In dieser Hinsicht herrschte in Sachsen ein weitgehend ausgeglichenes Verhältnis zwischen den Inhabern der Herrschaft und den Gemeinden. Der in diesem Lande nur in gemäßigter Form auftretende Absolutismus hat deshalb auch die Zuständigkeit der Gemeinden nicht betroffen und schon gar nicht beseitigt, so daß sie sich über das Jahr 1800 hinaus bis zur Neuregelung im bürgerlich-liberalen Staat fortsetzen konnten, um dort in organischer Weiterentwicklung als Grundlagen für die neugebildeten Land- und Stadtgemeinden zu dienen. Als die Gemeinden nach 1150 in Sachsen entstanden, war das feudale Herrschaftssystem bereits voll ausgebildet. Die Herrschaft ist hier also älter als die Gemeinde. Vielleicht liegt es daran, daß die Gemeinden in Sachsen immer in der zweiten Linie standen, während die im Mittelalter ausgesprochen tatkräftige Dynastie der Wettiner die herrschaftliche Ebene straff organisierte und die dem Kommunalismus verwandten ständischen Kräfte im Zaume hielt. Zu dem zielstrebigen Aufbau des Territorialstaates konnte es auf der politischen Ebene keine Alternative im Sinne des Kommunalismus geben. Die einzige Ausnahme war der Oberlausitzer Sechsstädtebund, dessen Geschichte recht deutlich die bewegliche Grenze zwischen kommunaler Entfaltung und herrschaftlich-feudaler Machtausübung von oben anzeigt. Er blieb allein auf der weiten Flur der mitteldeutschen Verfassungsgeschichte und endete infolge der adligen Reaktion im Pönfall des Jahres 1547. Ob unter diesen Bedingungen in Sachsen von einem Kommunalismus gesprochen werden kann, hängt von der Definition des Begriffs und seiner weiteren wissenschaftlichen Durchdringung ab. Wenn kommunale Selbstverwaltung, selbständige Rechtssetzung, Eigengerichtsbarkeit der Gemeinde, Leitungsorgane und ein funktionierendes Gemeindeleben Kriterien für den Kommunalismus sind, dann hat es ihn zumindest in deutlichen Ansätzen auch in diesem Lande gegeben.
DIE LAND- UND STADTGEMEINDEN IN DEN HABSBURGISCHEN LÄNDERN VON SERGIJ VILFAN
I. Die Hauptgruppen und die Problematik ihrer Grundlagen D A S hier behandelte Gebiet umfaßt die Länder, Herrschaften und kommunalen Siedlungen, die in den Ostalpen mit dem unmittelbar angrenzenden pannonischen und karsteradriatischen Raum seit Ende des Mittelalters (um 1500) unter habsburgischer Hoheit waren. Ausnahmsweise werden im adriatischen Raum auch istrische Siedlungen herangezogen, die erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts dazukamen. Sie unterscheiden sich nämlich ihrer kommunalen Struktur nach nicht wesentlich von ihren Nachbarn, und sie erleichtern uns die Aufgabe, in einer größeren Anzahl von Beispielen die wesentlichen Merkmale herauszusuchen. Die ethnische bzw. sprachliche Differenzierung dieses Raumes in Romanen (Rätoromanen-Friauler, Italiener), Slawen (Slowenen und zum Teil Kroaten) ist für unser Thema von sekundärer Bedeutung. Ihre Kenntnis muß hier vorausgesetzt werden, da sie stellenweise doch heranzuziehen sein wird. Gemeinsam ist diesem Raum, außer inwieweit er nach Norden über die Donau reicht, seine einstige Zugehörigkeit zum römischen Imperium, sehr unterschiedlich war jedoch das Schicksal der römischen Kultur in diesem Raum, in dem die weit vorherrschende Diskontinuität fast ohne Übergang an einen am Meer entlanglaufenden Streifen des Gebietes mit spätantiker Kontinuität grenzte. In diesem war die Kontinuität bis etwa 800 von Byzanz getragen und dann von den Franken mit Müh und Not übernommen worden, worauf sie zumindest im späteren Rahmen der mediterranen Kultur fortgesetzt wurde. Der Unterschied zwischen Gebieten mit Kontinuität einerseits und jenen (fast) ohne Kontinuität andererseits ist für die Entwick-
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lung der mittelalterlichen kommunalen Strukturen deshalb wesentlich, da in der ersten Gruppe die Städte als vorherrschender Organisationsrahmen auf größere ländliche Territorien (im Sinne des italienischen contado) reichten, während in der zweiten Gruppe die städtischen Burgfriede nur Inseln in grundherrschaflichen Besitzund Jurisdiktionsterritorien waren. Dieser Unterschied war sowohl für die verschiedene Struktur der leitenden Gruppen, als auch für den Charakter der ländlichen Autonomien von Belang. Nachdem somit der Leitfaden der folgenden Skizze (denn um mehr als eine Skizze kann es sich hier angesichts der umfangreichen Materie nicht handeln) angedeutet wurde, einleitend noch ein Blick in die Problematik an Hand bisheriger theoretischer Gesichtspunkte und Wertungen. Die Entwicklung vom spätantiken territorialen Städtewesen über eine Etappe bischöflicher Stadtherrschaft im Rahmen einer daneben zum Teil auch grundherrschaftlich strukturierten Mark zum eigentlichen Kommunalwesen in den Küstenstädten, das im 13./14. Jahrhundert zu einer staatlichen oder fürstlichen Stadtherrschaft über autonome Kommunen führt, scheint nicht zu größeren theoretischen Auseinandersetzungen geführt zu haben. Weniger sicher scheint die Beurteilung des sogenannten Feudalismus.')Benussi legt in der Darstellung dieser Entwicklung besonderes Gewicht auf die Erscheinung von städtischen Schöffen (scabini) im 10. Jahrhundert 2 ), und wohl gerade darin sieht er den Höhepunkt des Feudalsystems in Istrien, als das ländliche Gebiet der Stadt entzogen war und der Feudalismus in die Stadt drang. Die Schöffen wurden nach Benussi im 11. Jahrhundert von judices ersetzt, was er als Reaktion des römischen Munizipalwesens gegen den germanischen Feudalismus deutet: Das Feudalsystem habe die Mitwirkung der freien Kommunalmitglieder bei öffentlichen Angelegenheiten nicht vollkommen beseitigt. 3 ) Für die Binnenstädte lautet schon die Problemstellung ganz anders. Antikes Kommunalwesen wird hier kaum gesucht, man fragt ') B. Benussi, Nel Medio Evo. Pagine di Storia Istriana. 1897, passim, besonders über die ländliche Kommune der castellieri (ebd. 518). Die ältere Literatur befaßte sich gerne mit der Frage, wann die Slawen ihren Besitz in Istrien angetreten haben und welche Rolle die Deutschen in der städtischen Verwaltung hatten (ebd. 581). 2 ) Ebd. 585-586. 3 ) Ebd. 612, 589, 592.
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sich vor allem über die Umstände der Stadtentstehung 4 ) und über die entsprechende Terminologie. 5 ) Es unterliegt keinem Zweifel, daß Vorgänger kommunaler Strukturen hier - wenn überhaupt nur in Grundzügen zu suchen sind, die in landwirtschaftlichen Gesellschaftsformen entstehen konnten, ζ. B. im Versammlungsprinzip oder in der Funktion des herrschaftlichen Richters. Wieder anders verhält es sich mit der Problematik auf ländlichem Gebiet. In Istrien, wo ländliche Autonomien in alten, relativ großen Höhensiedlungen oder befestigten Orten zumindest seit dem Spätmittelalter reichlich ausgebildet waren, möchten einige Historiker darin eine Auswirkung des mediterranen städtischen Kommunalwesens auf die Umgebung erblicken. So unterscheidet etwa der slowenische Historiker Josip Zontar dreierlei Gemeinden: städtische Gemeinden (in denen Iudices und Stadträte fungieren), Bauerngemeinden (bestehend aus dem zupan und der Dorfgemeinde) und Zwischenformen. 6 ) Dabei spricht er von einer von außen, das heißt von den Städten her, beeinflußten Freiheitsbewegung und erwähnt die Möglichkeit, zwei konkrete Gemeinden (Kastav, Veprinac) seien im 13. Jahrhundert entstanden. Ähnlich die kroatische Historikerin Nada Klaic7), anders dagegen der kroatische Soziologe Oleg Mandic, der in den Landgemeinden Istriens und der Quarnerbucht Überbleibsel der ursprünglichen freien Dorfgemeinde erkennen möchte. 8 ) 4
) Von österreichischer Seite, jedoch auch mit Bezug auf Westeuropa, vgl. M. Mitterauer, Markt und Stadt im Mittelalter. Beiträge zur historischen Zentralitätsforschung. 1980. - Hierzu auch ders. Zollfreiheit und Marktbereich. Studien zur mittelalterlichen Wirtschaftsverfassung am Beispiel einer österreichischen Altsiedellandschaft. 1969. 5 ) Für den altkarantanisch-österreichischen Raum vgl. F. Zwitter, Κ predzgodovini mest in mescanstva na starokarantanskih tleh, in: Zgodovinski casopis 6 - 7 , 1952-53, 218 ff. 6 ) J. Zontar, Kastavscina in njeni statuti do konca 16. stoletja, in: Zbornik znanstvenih razprav XXI, 1945-46, 153-219, besonders 157-161. Vgl. in etwas breiterem Kontext ders. Der Stand der Forschung über die südslawische ländliche Ordnung, in: Th. Mayer (Hrsg.), Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen. 2. Bd. 2. Aufl. 1986. 7 ) N. Klaic, Pitanje drustvenog uredjenja kvarnerskih opcina u novijoj literaturi, in: Zgodovinski òasopis 12-13, 1958-59, 242-254. Dies., Drustvena struktura kvarnerskih opcina u razvijenom srednjem vijeku, in: Kròki zbornik 2, 1971, 111-144. 8 ) O. Mandic, Bratstvo u ranosrednjovjekovnoj Hrvatskoj, in: Historijski zbornik 5, 1956, 225-298. Ders., Osnove pravnog uredjenja veprinacke op-
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Die auf istrische ländliche Siedlungen applizierte Theorie der freien Dorfgemeinde verbindet sich im Binnenland mit der Problematik der Markgenossenschaftstheorie. Es erübrigt sich, an dieser Stelle mit dieser Theorie bis zu Georg Ludwig von Maurer (1854 u.f.) zurückzugreifen. 9 ) In der österreichischen Literatur scheint die Theorie keinen besonderen Anklang gefunden zu haben. 10 ) Eher im Gegenteil: Alfons Dopsch verwarf die Theorie nicht nur allgemein für Deutschland, sondern besonders auch für die Alpenländer Österreichs. Dabei hob er die frühe entscheidende Rolle der Grundherrschaft hervor, die keine Kontinuität der angeblich älteren freien Marken und der damit verbundenen Gemeinschaften bis in relativ neuere Zeiten zugelassen habe. Mit der Betonung der grundherrschaftlichen Gewalt verbindet Dopsch die Weistumsfrage, auf die wir noch zurückkommen werden (V.C).11) Ohne zu der im Wesen frühmittelalterlichen Ursprungsproblematik eingehend Stellung zu nehmen, sei hier nur allgemein bemerkt, daß die Bezeichnung ¿upan für einen Dorfältesten und veca für eine Versammlung altslowenisch bzw. zum Teil gemeinslawisch oder zumindest südslawisch sind. Dies deutet auf eine formelle, äußere Verbindung zwischen älteren Versammlungs- und Organisationsformen einerseits und spätmittelalterlichen Gemeinden andrerseits hin, gestattet es aber nicht, beides begrifflich zu identifizieren, Fortsetzung Fußnote von Seite 147 eine u XVIII stoljecu, in: Rad JAZU 306, 1955, 75-120. Ders., La condition particulière des communautés rurales de Kastav, Veprinac et Moscenice (domaine féodal de Kastav) dans le système social de l'empire des Habsbourgs (Istrie orientale, 16e—18e siècle), in: Les Communautés rurales. Teil VI. 1986, 153-166. Hier spricht Mandié von einer Wiedereinsetzung des „régime archaïque de l'exploitation féodale" durch die Habsburger nach 1466 (ebd. 166). ') Zumindest die „größeren Marken" waren nach G. L. v. Maurer urgeschichtlichen Ursprungs und in den von Slawen und Wenden bewohnten Territorien vorhanden, „sehr wahrscheinlich" auch in Baiern, Österreich und Kärnten; ders., Geschichte der Markenverfassung in Deutschland. 1856, bes. 4-5 und passim. 10 ) Vgl. E. Bruckmüller, Bäuerliche Gemeinde und Agrargemeinschaft, in: Bauernland Oberösterreich. 1974, 63-75, besonders 69-73. - Nur pauschal kann ich mich hier auf die rechts- bzw. verfassungsgeschichtliche Literatur beziehen. ") A. Dopsch, Die freien Marken in Deutschland. Ein Beitrag zur Agrar- und Sozialgeschichte des Mittelalters. 1933, besonders 96-99. - Ders., Die ältere Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bauern in den Alpenländern Österreichs. 1930, besonders Teil III.
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da ja wesentliche wirtschaftliche und soziale Umstrukturierungen dazwischenliegen. 12 ) Wie bereits aus der angedeuteten Problematik hervorgeht, haben wir es in der Zeit der entwickelten Kommunalstruktur am Ende des Mittelalters und in der frühen Neuzeit mit vier Hauptgruppen zu tun : zwei städtischen und zwei ländlichen, zugleich mit zwei küsten- und zwei binnenländischen. In Einzelheiten ist die Struktur noch viel differenzierter, was nur stellenweise aus den weiteren Ausführungen ersichtlich werden wird. Im allgemeinen wird am generalisierenden Konzept festzuhalten sein, weil gerade die Generalisierung es ermöglicht, spezifische Einzelheiten in weiteren Forschungen vergleichend hervorzuheben. II. Der herrschaftliche Rahmen Die Formen des Kommunalwesens sind nur in Verbindung mit der jeweiligen territorialen Struktur verständlich. Dabei sind insbesondere die Landgerichte von Bedeutung, da sie überall vorkamen, auch wenn sie aus verschiedenen Wurzeln stammten und verschieden bezeichnet wurden. Sie bildeten Jurisdiktions-Territorien mit bestimmten Kompetenzen in der hohen Gerichtsbarkeit. 13 ) A) Die Küstenstädte waren Bestandteile und zugleich Sitze solcher Jurisdiktionen für relativ große Kommunalgebiete. Die Stadtherrschaft war in der Hand des Staates (Venedig) oder des Landesfürsten. B) Das ländliche Gebiet im adriatischen Raum war (1) weitgehend Bestandteil des städtischen Gebietes oder aber (2) es bestand aus etwas kleineren, eine oder mehrere Siedlungen umfassenden Einheiten, einer Art Burgbezirken (terre, feudi), die vom Staat oder vom höheren Adel (zuletzt waren es die Habsburger) abhängig waren. Sie wurden entweder durch staatliche bzw. landesfürstliche Organe oder durch die Verleihung an adelige Familien verwaltet. In einem Teil dieser Burgbezirke war das Hubenwesen nicht ausgebildet, und der Schwerpunkt der Wirtschaft lag in der Viehzucht. Die 12
) Vgl. S. Vilfan, Rechtsgeschichte der Slowenen. 1968, 55-57. ) Erläuterungen zum Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften in Wien. I. Abteilung. Die Landgerichtskarte. 2. Aufl. 1917 ff. Besonders sei hier auf den Beitrag für das Küstenland hingewiesen H. Pirchegger, Überblick über die territoriale Entwicklung Istriens, in: ebd. Teil IV. u
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globale Bemessung der Abgaben solcher Siedlungen stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl. C) Im Binnenland war die Dorfsiedlung älter als die Stadt, und die Landgerichte waren meist ursprüngliche Herrschaftsterritorien, die diesen Charakter behielten, auch als sie im Spätmittelalter vorwiegend landesfürstlich wurden und ihr öffentlichrechtlicher Charakter ausgeprägter hervortrat. Innerhalb der Landgerichte als geschlossener, mehrere Siedlungen umfassender Bezirke kamen insbesondere zersplitterte Grundherrschaften (mit zerstreutem Hubenbesitz), seltener Dorfherrschaften und (Wein-)Bergherrschaften vor. Die Landgerichtsherrschaft war der eigentliche Ursprung der anderen Herrschaftsarten. Die Dorfherrschaft, besonders in Niederösterreich nördlich der Donau und in der Steiermark östlich der Mur, war das Resultat einer relativ späten, von Ministerialen betriebenen Kolonisation 14 ); die Bergherrschaft im nördlichen Niederösterreich und ebenso in den südlicheren Ländern (besonders im Süden der Steiermark und Krains) ist ebenfalls aus der relativ späten Rodung sonniger Hänge, die dem Weinbau erschlossen wurden, entstanden.15) D) Die Binnenstädte und -märkte waren an sich auf ihre Burgfriedensbezirke begrenzt, auch wenn ihnen später mitunter auch die Landgerichtsbarkeit über das umliegende Landgericht überlassen wurde. Der Territorialgrundherr, auf dessen Boden die Siedlung entstanden war und der in der Regel auch als ihr Gründer galt, war ihr Stadtherr. Immer häufiger war es der Landesfürst selbst. Der Stadtherr betrachtete die Stadt oder den Markt als sein privates (Kamerai-) Vermögen.
'*) Α. A. Klein, Landgemeinde und Dorfherrschaft in Steiermark, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 46, 1955, 82-111. H. Feigl, Die niederösterreichische Grundherrschaft. 1964, 122-125. P. Feldbauer, Herren und Ritter, in: Herrschaftsstruktur und Ständebildung Teil I. 1973, 25. - Zum ethnischen Hintergrund der steirischen Siedlungsgeschichte vgl. etwa F. Posch, Die deutsch-slawische Begegnung im Ostalpenraum und die Grundlagen des steirischen Volkstums, in: Jahrbuch der Landeskunde von Niederösterreich 36, 1964, 87-99. F. Posch, Die Besiedlung und Entstehung des Landes Steiermark, in: Das Werden der Steiermark. 1980, 23-62, hier 50 f. 15 ) A. Meli, Das steirische Weinbergrecht und dessen Kodifikation im Jahre 1543. 1928. Vgl. unten Anm.44.
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III. Die Gemeindemitgliedschaft A) Die führenden Schichten in der Stadt. Der wesentliche Unterschied zwischen Binnen- und Küstenstädten bestand hinsichtlich der Struktur der Führungsschichten. Da die Stadt an der Küste große agrarische Bereiche umfaßte, waren die zur Zeit der Konsolidierung der K o m m u n e (Ende des 13. Jahrhunderts) reicher begüterten Bürger zugleich Grundherren und Salinenbesitzer auf dem städtischen Gebiet. Eine ähnliche Funktion hatte das Eigentum an Schiffen. Der Charakter dieses Besitzes ermöglichte seine Erblichkeit und damit auch die Erblichkeit der damit erworbenen privilegierten Stellung, was man vom reinen Handelskapital, das viel rascheren Schwankungen ausgesetzt ist, nicht behaupten kann. So bildete sich aufgrund einer soliden materiellen Basis das Patriziat als städtischer Adel, neben dem es keinen ausschließlich landwirtschaftlichen, nichtbürgerlichen Adel gab. Besonders nach etwa 1400 bildete das Patriziat eine geschlossene Gruppe, in die neue Familien nur ausnahmsweise aufgenommen wurden. 1 6 ) Da die Binnenstädte dagegen fast keine agrarischen Bereiche umfaßten und diese in der Regel streng vom Stadtgebiet getrennt waren, konnte sich hier auf die Dauer kein Patriziat bilden. Erbliche Berechtigungen im Sinne des Patriziates gab es im Normalfall keine. Der Adel, auch wenn er in der Stadt lebte, war von den bürgerlichen Schichten in sozialer und rechtlicher Sicht getrennt. Es gab zwar stellenweise besonders um 1300 Ansätze zur Bildung eines Patriziates 17 ) (das Wort sollte vorsichtig gebraucht werden!), doch blieben diese erfolglos. Auch um 1500 war die Grenze zwischen dem Adel und den Bürgern ziemlich labil, im allgemeinen aber war der Status eines Landadeligen mit jenem eines Bürgers unvereinbar. Die Führungsschichten waren hier aus Bürgern gebildet, deren Ansehen auf ihrem jeweiligen Vermögen beruhte, das als Handelskapital un") Vgl. ζ. B. M. Pahor, Socialni boji ν obèini Piran od XV. do XVIII. stoletja. 1972. ") Für Laibach z. B. J. ¿ontar, Bänke in bankirji ν mestih srednjeveske Slovenije, in: Glasnik muzejskega drustva za Slovenijo 13, 1932, 21-35. F. Gestri», Doneski k zgodovini Ljubljane ν srednjem veku, in: Zgodovinski 6asopis 5, 1951, 192-209. M. Kos, O izvoru prebivalcev Ljubljane ν srednjem veku, in: ebd. 10-11, 1956-57, 7-31. Vgl. R. Perger, Das Ende der Stadtministerialität in den landesfürstlichen Städten Österreichs, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart. Festschrift E. C. Hellbling. 1981, 645-657.
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beständig war und an sich keine solide Grundlage für eine erbliche Vorrangstellung bildete. Der reiche Bürger unterschied sich in bezug auf seine Bürgerrechte von anderen Bürgern mehr durch seine politischen Perspektiven als durch seine rechtlichen Prärogativen. B) Andere Schichten in der Stadt. In mediterranen städtischen Kommunen sind neben Patriziern auch gewöhnliche Bürger (popolani) unter die Gemeindemitglieder zu zählen. Wie ihre Aufnahme in die Bürgerschaft stattfand, ist nicht ganz geklärt. Die Bauern im städtischen Territorium bildeten dagegen eine besondere nichtbürgerliche Schicht 18 ), ebenso die Mitglieder von Burgbezirks-Kommunen. In den Binnenstädten waren die Bürgerrechte in der Regel von der formellen Aufnahme in die Bürgerschaft abhängig, sonst aber verlangte man vom Anwärter städtischen Grund-, vor allem Hausbesitz, gewerbliche Fähigkeiten, ehelichen Stand und Geburt. Für Bürgersöhne war die Aufnahme etwas erleichtert. In Einzelheiten waren die Bedingungen unterschiedlich und veränderlich. 19 ) Neben Bürgern (die untereinander beruflich und dem Vermögen nach differenziert waren) lebten in der Stadt Inwohner, Taglöhner und Gesinde, die keine Bürgerrechte besaßen. Der in der Stadt wohnhafte Adel und der Klerus mitsamt ihren Bediensteten waren aus der städtischen Jurisdiktion ausgenommen. C) Die Mitgliedschaft in ländlichen Gemeinden. 20 ) Für die Bauern galt wohl in allen hier behandelten Gebieten die (obwohl spärlich und spät ausdrücklich belegte) Regel, wonach volljährige männliche Bauernwirte als vollberechtigte Gemeindemitglieder galten. Von außen zugesiedelte, z. B. eingeheiratete Bauern mußten ein 18
) Pahor, Piran (wie Anm. 16), 49 ff.
") Aufnahmebedingungen und -verfahren schildert am Beispiel der städtischen Ratsprotokolle Laibachs detailliert A. Svetina, Pogoji za sprejem ν mesòanstvo in pravni polozaj ljubljanskih mesianov od 16. do 18. stoletja, in: Razprave zvezek 2 (Publikacije Mestnega arhiva ljubljanskega). 1971, 155-208. Im Jahr 1635 wurde hier eine besondere Kategorie von „aufgenommenen" Inwohnern geschaffen, in die man auch ohne Grundbesitz gelangen konnte. 20 ) Als Überblick und genereller Literaturnachweis über ländliche Gemeinschaften, auch für einen Teil der österreichischen Literatur, s. 5. Vilfan, Soseske in druge podezelske skupnosti, in: Gospodarska in druzbena zgodovina Slovencev, Zgodovina agrarnih panog II. 1980, 9 - 7 4 , (mit deutscher Zusammenfassung ebd. 609-614 [Nachbarschaften und andere ländliche Gemeinschaften]).
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Beitrittsgeld bezahlen. 21 ) Der Unterschied zwischen Küsten- und Binnengebieten bestand, was die Mitgliedschaft in ländlichen Gemeinden betrifft, eher in ihrer wirtschaftlichen Basis. In weiten Gebieten des Alpenraumes und seiner unmittelbaren Umgebung waren die Dörfer hauptsächlich vor dem Ende des 13.Jahrhunderts nach dem Hubensystem organisiert worden. Der normale Typ eines Bauernwirtes war der Ganzhübler, und die Dorfgemeinde bestand ursprünglich aus grundsätzlich gleichgestellten Bauern. Eine Ausnahme bildeten in der Kolonisationszeit die slowenischen zupane als abgabenfreie Doppelhübler (siehe unten!). Verschiedene Typen von Unfreien gingen mit der Auflassung der Villikationsverfassung im Bauerntum auf. Dafür aber differenzierten sich die Bauern untereinander, erstens durch die - allerdings nur selten praktizierte - Teilung der Huben in Halb-, Viertel- usw. Huben, und zweitens durch die Entstehung von Kleinbauernanwesen (Keuschler, Untersassen) auf Gemeindegründen oder Hubenteilen. Damit entstand eine soziale Differenzierung innerhalb des Dorfes, die zweifelsohne das Ansehen einzelner Mitglieder und deren Aussichten auf führende Posten beeinflussen konnte, deren Auswirkungen auf das Mitspracherecht in der Gemeinde aber wenig erforscht sind. Erst seit dem 18. und 19. Jahrhundert kann man an Hand der Quellen etwas genauer verfolgen, in welchen Fällen der Besitz von echten Bauernanwesen die Bedingung für eine vollberechtigte Mitgliedschaft in der Dorfgemeinde bildet und in welchen nicht. In dieser späten Zeit sind jedoch in dieser Beziehung keine einheitlichen Regeln festzustellen. In Regionen, die nahe an der Küste lagen, bestand das Hubenwesen entweder von Anfang an überhaupt nicht, oder aber es zerfiel weitgehend gegen Ende des .Mittelalters und zu Beginn der angehenden Neuzeit. Der Unterschied zwischen Eigentümern von Hubenbruchteilen bestand hier nicht, oder er verschwand bald. Daraus könnte man auf eine weniger ausgeprägte Differenzierung und daher auf eine ausgeglichenere Mitgliedschaft schließen, als auf dem klassischen Hubengebiet. Doch hat gewiß auch hier das Vermögen bei der Handhabung der Mitgliedsrechte tatsächlich eine erhebliche Rolle gespielt. 21
) Explizit kenne ich das Beitrittsgeld (oder oft statt dessen Wein) erst aus dem Gewohnheitsrecht der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, es war aber gewiß viel älter.
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IV. Die herrschaftlichen Organe und ihre Wählbarkeit Aus terminologischer Sicht ist vorauszuschicken: Wenn im weiteren von Gerichtsbarkeit die Rede ist, sind neben der gängigen Bedeutung dieses Wortes jene Teile der autonomen Normengebung u n d Verwaltung Inbegriffen, die nach den damaligen Auffassungen unter dem Vorsitz der Herrschaft stattzufinden hatten. A) In der küstenländischen Stadt samt Gebiet wurde der Stadtherr (Staat oder Fürst) vom potestas et capitaneus bzw. vom Hauptm a n n vertreten, der im Gericht den Vorsitz führte und im Krieg die städtischen Truppen befehligte. Der Vertreter des Stadtherrn war aus den Reihen des Adels (gewöhnlich jedoch nicht aus der betreffenden Gemeinde) ernannt und wurde nie ein erwähltes Organ der städtischen Autonomie, wie es in südlicher gelegenen Küstenstädten ausnahmsweise vorkommen konnte. Ähnlich war es im venezianischen Gebiet mit der Bestellung der Burggrafen und der Bauernhauptleute, die ebenso leitende richterliche und militärische Funktionen ausübten (der capitaneus Sclavorum im Stadtgebiet von K o p e r / C a p o d i s t r i a und der capitaneus Paisanatici etwas südlicher davon). B) Im Binnenland vertrat sowohl in bürgerlichen Gemeinden als auch in Landgerichten ein - ursprünglich ernannter - Richter (iudex) den Herrn. In den Städten u n d Märkten war der adlige Stand für die Bestellung zum Richter bereits im 13. Jahrhundert nicht (mehr) erforderlich. Ziemlich häufig wirkte der iudex zugleich f ü r das Stadt- und das umgebende Landgericht. So ist es mitunter sehr schwierig, in den Urkunden des 13. und des beginnenden 14. Jahrhunderts eigentliche Stadt- bzw. Marktrichter, die zweifelsohne nur für die bürgerliche Siedlung tätig und aus den Reihen der Bürger ernannt waren, von anderen herrschaftlichen Richtern zu unterscheiden, wie etwa von Landrichtern in Landgerichten, die nach einer Stadt benannt waren. 22 ) Auch im Falle, daß der Richter aus den Reihen der Bürgerschaft bestellt wurde und nur f ü r die Stadt tätig war, kann er in seiner vorwiegenden Eigenschaft als ernannter Vorsitzender des Stadtn
) J. Mlinaric, Mariborski mestni sodniki ν srednjem veku, in: Casopis za zgodovino in narodopisje 54, 1983, 29-54, gibt die Reihe der angeblichen Stadtrichter von Maribor/Marburg an, doch sind die ältesten nur als judices bezeichnet. Auch wenn etwa der iudex Walker 1273 Bürger war, bedeutet das noch nicht, daß er unbedingt Stadtrichter gewesen sein muß.
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gerichtes nur mit Vorbehalten als autonomes Organ gelten. Als im Laufe der Zeit die Funktion fast überall wählbar wurde, gliederte er sich in die Autonomie ein und hatte, ähnlich wie der Landeshauptmann, rechtlich eine herrschaftlich-autonome Doppelfunktion. Da die Wählbarkeit des Richters ein eigenartiges Bindeglied zwischen Herrschaft und Autonomie bildete, ist sie für den Grad, den die Entwicklung der kommunalen Autonomie erreicht hat, besonders kennzeichnend. Sie tritt in sehr verschiedenen Zeiten und in sehr differenzierten Formen auf. Eine gute, obwohl bei weitem nicht erschöpfende Übersicht bietet das Österreichische Städtebuch 23 ), besonders der Band für Oberösterreich. Hier muß allerdings vorausgeschickt werden, daß das Richterwahlrecht, das der Stadt Steyr angeblich bereits 1287 bestätigt wurde 24 ), noch einige Fragen aufwirft und, falls die Angabe stimmt, jedenfalls ausnehmend früh auftritt. In anderen Städten Oberösterreichs scheint die Richterwahl relativ spät aufzukommen: Ried 1402, Ischl 1466, Linz 1490, Enns erstes Viertel des 16. Jahrhunderts, Eferding 1533, Schwanenstadt 1571 (Wahl als Terno-Vorschlag, d.h. aus einem Dreiervorschlag). Für die meisten Städte und Märkte dieses Landes ist zwar die Wählbarkeit des Richters bezeugt, der Zeitpunkt ihrer Entstehung aber nur als terminus post quem non, der oft recht spät dokumentiert ist, feststellbar. Auch in Österreich unter der Enns 25 ) (Niederösterreich) werden die ältesten Daten über Stadt- und Marktrichter (z. B. St. Pölten und Tulln 1192)26) vielleicht mit etwas Vorsicht anzuführen sein, doch um 1300 dürfte sich die Funktion bereits allgemein mit der Stadt
") A. Hoffmann (Hrsg.), Österreichisches Städtebuch. 1. Bd. Die Städte Oberösterreichs. Red. von H. Knittler, 1968. - Ders., Städte und Märkte, in: Herrschaftsstruktur und Ständebildung. Teil 2. 1973, befaßt sich vor allem mit der Frage der Landstandschaft, auf die ich hier nicht eingehe. 24 ) Knittler, Städtebuch (wie Anm. 23), 286. - Vgl. Urkundenbuch des Landes ob der Enns. Bd. 4. 1867, Nr. 74, 66-69. Den Bürgern der Stadt Steyr ist keiner an die Spitze zu setzen, den sie nicht de suo consorcio iuxta beneplacitum nostrum (nämlich Albrechts v. Habsburg) sev principis terre duxerint assumendum. ") A. Hoffmann, O. Pickl(Hrsg.), Österreichisches Städtebuch IV. Die Städte Niederösterreichs. 3 Bde. Red. von F. Goldmann u.a. 1988, 1976, 1982. 26 ) Ebd. unter den Namen. Ferner: Pöchlarn (Stadtrichter erstmals 1209-1218), Wiener Neustadt (1232), Herzogenburg (Marktrichter seit 1258), Hainfeld (Marktrichter seit 1263), Waidhofen an der Ybbs (Stadtrichter 1283), Melk (Marktrichter 1303).
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bzw. dem Markt verbunden haben. Der Heunburger civis, der 1246 zugleich Richter von Heunburg war, zeugt gewiß von einer frühen, wenn auch nicht unbedingt beständigen Verbindung des Richteramtes mit der Stadt. Verhältnismäßig spärlich sind für Niederösterreich die Angaben über das Aufkommen oder das erwiesene Bestehen des Richterwahlrechtes. Das Bestehen der Richterwahlen ist bezeugt: spätestens 1346 für Langenlois (Bestätigung!), seit 1369, gewiß aber seit 1404 für Wiener Neustadt, im 14. Jahrhundert auch für Tulln, seit 1391 für Klosterneuburg. Für einige Städte ist das Richterwahlrecht erstaunlich spät erwiesen, so im 15. Jahrhundert für Retz, Scheibbs und Zwettl, für einige weitere Orte noch später. Es gab aber auch bürgerliche Siedlungen, in denen es nie zur Richterwahl kam, wie etwa Mautern, das unter die Stadtherrschaft des Bischofs von Passau gehörte. Die Richterwahl scheint sich in Städten, die nicht landesfürstlich waren, schwerer durchgesetzt zu haben. In Wien werden in Tills Übersicht keine Richterwahlen ausdrücklich hervorgehoben. 27 ) Greifen wir zum Vergleich weiter nach Süden, so erweist es sich in der Krainer Hauptstadt Ljubljana/Laibach, daß die im 13. Jahrhundert nach der Stadt benannten Richter noch keine eigentlichen Stadtrichter waren und daß die seit Ende des 13. Jahrhunderts bis 1337 zugleich auftretenden zwei bzw. drei Richter eigentlich Pächter der Einnahmen aus herrschaftlichen Funktionen in der Stadt und im Landgericht (wenn nicht sogar im stark reduzierten Land) waren. Die Wählbarkeit des Stadtrichters galt 1370 als „alter" Brauch. Ihre Entstehung dürfte durch die soeben erwähnte Pacht des Richteramtes beschleunigt worden sein, worauf nach dem Antritt der Habsburger (1335) wieder jeweils nur ein Richter bestellt wurde. (Ähnlich ging später, 1391, im niederösterreichischen Klosterneuburg die Pacht des Richteramtes in die Richterwahl über.) Wenn die Stadt selbst das Richteramt in Pacht nahm, lag es ja nahe, daß sie selbst die Person(en) bestimmte, die das Amt auszuüben hatten. Bei Laibach ist es gewiß kein Zufall, daß die Pacht des Richteramtes zur 27
) R. Till, Geschichte der Wiener Stadtverwaltung in den letzten zweihundert Jahren, in: Handbuch der Stadt Wien 70, 1957, 281-323. Über die sehr variablen Formen der Bestellung des Wiener Stadtrichters: R. Perger, Beiträge zur Wiener Verfassungs- und Sozialgeschichte im Spätmittelalter, in: Jahrbuch des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 32/33, 1976/77, 11-41, hier 22. Ders., Die Wiener Ratsbürger 1396-1526. 1988, 18, 23.
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gesamten Hand zur Zeit der görzischen Land- und Stadtherrrschaft die Regel war, bald nach dem Antritt der Habsburger und zugleich mit dem Landesprivilegium von 1338, das den Adel begünstigte, aber verschwand. 28 ) Während sich also die Richterwahl ursprünglich aus sehr verschiedenartigen Konstellationen ergeben konnte, wurde sie später zum Gegenstand von Verleihungen, wie in Kranj/Krainburg im Jahr 1423.29) In Österreich wie in Krain war es in der Regel möglich, daß ein erwählter Richter nicht bestätigt wurde und ebenso muß man mit verschiedenen Einengungen der freien Wahl (etwa Terno-Vorschläge) rechnen. Generell läßt sich über das Richteramt zusammenfassen: Ursprünglich war der Stadt- bzw. Marktrichter Vertreter des Herrn und daher ernannt. Sein Übergang in die autonome Sphäre verlief in mehreren Etappen: Ernennung aus den Reihen der Bürger, Verpachtung an (Bürger-)Gruppen, Bindung an das städtische Jurisdiktionsgebiet (Burgfried), schließlich Wahlen unter bestimmten Möglichkeiten zur Einwirkung des Stadtherrn. Diese Reihenfolge war selbstverständlich weder obligat noch tritt sie ausnahmslos auf. C) Ländliche Gemeinschaften. Der Gerichtsherr selbst oder sein Stellvertreter standen in allen landgerichtlichen und ähnlichen Gebieten an der Spitze der Gerichtsgremien im weitesten Sinn sowie auch des bäuerlichen Landesaufgebotes. Eine Wählbarkeit dieser leitenden Funktionen konnte sich nicht entwickeln. Dasselbe gilt für die Dorfobrigkeiten, wo solche bestanden und gerichtliche Funktionen ausübten. Anders in Dörfern oder zerstreuten Bauerngruppen einer Herrschaft, wenn sie nur wirtschaftliche Funktionen gemeinschaftlich zu verwalten hatten. Hier mischte sich die Herrschaft gewöhnlich nicht ein und führte nicht den Vorsitz. Daher sind solche Gemeinschaften im folgenden Abschnitt über Autonomien zu behandeln.
28
) S. Vilfan, Zgodovina Ljubljane do zaëetka 16. stoletja, in: Zgodovina Ljubljane 1984, 75-95, insbesondere 89 ff. ") F. Zwitter, Starejäa kranjska mesta in mesôanstvo (Inavguralna disertacija). Ljubljana. 1929, 32.
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Sergii Vilfan V. Die autonomen Organe
A) Der gemeinsame Ausgangspunkt. Wo immer eine neugebildete Gemeinschaft ihre internen Angelegenheiten zu verwalten hatten, tat sie dies zunächst an einer Versammlung aller Mitglieder. Die frühen Bezeichnungen für solche Versammlungen waren: placitum, taiding, slow, veca, langob. arengo, in Städten auch universitas civium, gemein der burger. Handelte es sich um Gerichtsversammlungen, fanden sie unter dem Vorsitz des Herrn oder seines Vertreters (s. oben IV.) statt. Außer in sehr kleinen Dorfgemeinschaften machte sich darauf die Tendenz bemerkbar, daß die eigentliche entscheidende Gewalt immer mehr von engeren Kollegien an sich gezogen wurde, worauf die Plenarversammlungen allmählich abstarben. In Städten entstanden Räte verschiedener Größe und Abstufungen, auf dem Land weniger differenzierte Beisitzergremien. Dabei ergaben sich die verschiedensten Formen. B) Die küstenländischen städtischen Kommunen. Der Arengo oder die universitas civium wurden durch den großen Rat (consilium maius) ersetzt. Darin konnten nur Patrizier die Mitgliedschaft erlangen, meist sobald sie volljährig wurden, seltener - wie in Piran noch zusätzlich durch Erwählung (im Ballotageverfahren). 30 ) Der große Rat war vor allem jenes Organ, das nach bestimmten Regeln sowohl die engeren Kollegialorgane als auch höhere und niedere Funktionäre wählte. Das - ähnlich wie in Venedig - häufig angewandte Ballotieren war ein wohldurchdachtes Mittel, um auch der Minderheit Chancen bei der Besetzung von Ämtern einzuräumen. In Einzelheiten war die Struktur der Kollegien und Ämter zwar weniger kompliziert als in Venedig, doch immerhin sehr verzweigt. Beispielshalber seien hier die autonomen Organe der Stadt Piran kurz zusammengefaßt: Im Namen des großen Rates wirkte als führendes Exekutivkollegium der kleine Rat oder Rat der Weisen, der somit zugleich den Namen zweier venezianischer Kollegien führte. Unter venezianischer Herrschaft verlor er an Bedeutung; er wurde nicht mehr gewählt, sondern vom Potestas und den Richtern ernannt, und seine Rolle engte sich auf die Überprüfung von Vorschlägen ein, die der große Rat zu behandeln hatte. Die wichtigsten Befugnisse waren unterdessen auf das Kollegium vierer Richter 30
) M. Pahor - J. Sumrada, Statuti piranskega komuna od 13. do 17. stoletja/Gli Statuti di Pirano dal XIII al XVII secolo. Teil 1. 1987, 230-231.
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(iudices, anderorts auch cónsules) übergegangen, die Nachfolger der Schöffen aus der Zeit der Markenverfassung sein dürften. Die Richter hatten als führendes Verwaltungs- und Gerichtskollegium die stärkste exekutive Gewalt in der städtischen Autonomie, doch in ihrer kurzen viermonatigen Mandatsperiode kommt die in den Kommunalstädten häufige Tendenz zum Ausdruck, Machtansprüche einzelner zu verhindern. 31 ) C) Die binnenländischen städtischen Autonomien. Auch hier übernahmen Räte die Führung der Stadt, doch die Ratsmitgliedschaft oder das passive Wahlrecht zum Rat waren nicht von einer ererbten adeligen Stellung abhängig. Rein rechtlich gesehen konnte ein jeder Bürger in einen der Räte gelangen, und zwar durch Wahl. Allerdings waren sowohl die Wahlgremien (Bürgergemeinde oder engeres Kollegium) als auch die verschiedenen Arten der Wahlverfahren (z.B. die Mutation) und ebenso die Mandatsperioden von Ort zu Ort sehr verschieden, und es wäre kaum sinnvoll, hier eine Generalisierung zu erstreben. Wieder soll nur ein ziemlich typisches Beispiel ausgesucht werden: In Laibach entstand im 14. Jahrhundert aus dem Beisitzerausschuß (iurati, Geschworene, Zwölfer) des am Banntaiding versammelten Komaunes der zwölfköpfige (später innere) Rat, der die eigentliche autonome Behörde in der Stadt wurde. Soziale Konflikte führten wohl kurz vor 1472 zur Bildung des äußeren Rates, der in Vertretung der Bürgergemeinde als Kontrollorgan über den (nunmehr) inneren Rat gedacht war, während 1472 das aktive Wahlrecht der Bürgergemeinde durch das neugebildete Gremium der hundert „genannten" Wahlmänner zu einem direkten wurde. 32 ) Während der Richter (s. oben IV.) - auch wenn erwählt als herrschaftlicher oder vermittelnder Funktionär betrachtet wurde, galt der Bürgermeister ausschließlich als Oberhaupt der städtischen Autonomie und besaß keine Gerichtsgewalt. Einen ernannten oder erwählten Richter hatte eine jede örtliche Gemeinschaft, einen Bürgermeister jedoch nicht. Im allgemeinen gilt es für die deutschen Städte, daß der Bürgermeister (magister civium) im Vorsitz der im Entstehen begriffenen Räte an die Stelle des Schul3
') Hier zusammengefaßt nach Vilfan, Rechtsgeschichte (wie Anm. 12), 105. Ausführlicher M. Pahor, Oblastni organi Pirana ν dobi beneske republike, in: Kronika 6, 1958, 109-130. Zum Vergleich mit der venezianischen Verfassung: F. Thiriet, Histoire de Venise. 1952. M. Hellmann, Grundzüge der Geschichte Venedigs. 1976. 32 ) Vilfan, Zgodovina (wie Anm. 28), 92, 94-95.
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theißen trat und daß sich sein Amt („Stadtoberhaupt und Ratsvorsitzender") im Verlaufe des 13. und 14. Jahrhunderts über die gesamte deutsche Städtelandschaft ausbreitete. 33 ) Das Aufkommen eines Bürgermeisters als größten Sieg der geschlossenen Bürgergemeinde gegenüber dem Stadtherrn (so Gutkas) zu bezeichnen, dürfte etwas übertrieben sein. Ich glaube eher, daß die Anerkennung dieser Funktion durch den Stadtherrn irgendwie entgeltlich geschah. Dabei sind zu unterscheiden: (1) Bürgermeister größerer Städte, die eine angesehene, vom Stadtherrn anerkannte oder von ihm selbst eingeführte, relativ stabile Stellung innehatten (in Wien erstmals 1282, stabilisiert im 14. Jahrhundert; Wiener Neustadt erstmals 1285), und (2) andere Bürgermeister, besonders in einigen kleineren Siedlungen, die in älteren Zeiten eher sporadisch und im allgemeinen wohl ohne besondere Privilegierung seitens des Stadtherrn vorkommen. 34 ) In Oberösterreich kam das Bürgermeisteramt relativ früh in Braunau (1333) und in Freistadt (1388) vor, in Linz erst 1490, in Steyr 1499 usw. Für Niederösterreich sind folgende Daten überliefert: Bruck an der Leitha 1344, Eggenburg erstmals 1374 (jedoch erst 1531 Privilegium über die Bürgermeisterwahl), Gmünd 1487, Hainburg 1383, Krems 1416, Horn 1494, usw. Erste Erwähnungen, nur sporadische Erscheinungen (z.B. Hardegg 1358) und ausdrückliche Einführungen der Funktion durch Privilegien sind nicht immer ganz klar zu unterscheiden. 35 ) Die Funktion des Bürgermeisters bestand keineswegs in allen bürgerlichen Siedlungen und verbreitete sich, wie aus dem Vorausgehenden zu schließen ist, in den habsburgischen Ländern relativ spät. Dies gilt um so mehr, wenn wir noch einen Blick nach Süden werfen: Die Krainer Hauptstadt Laibach bekam erst 1504 auf eigene Bitte von Kaiser Maximilian das Privilegium, alljährlich „einen Bürgermeister vnder inen selbs" zu „welen vnnd kiesen"; ") Vgl. mehrere Artikel von Κ. P. Schroeder, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 25. Lief. 1985, bes. Sp. 157 f. 54 ) H. Knittler (Hrsg.), Die Rechtsquellen der Stadt Weitra (Fontes Rerum Austriacarum. 3. Abt.: Fontes iuris. Bd.4). 1975, 38-40. Vgl. auch K. Gutkas, Das Bürgermeisteramt in den niederösterreichischen Städten, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 14, 1961, 111-121. ") Hoffmann - Pickl (Hrsg.), Städtebuch (wie Anm.23 und 25), passim. Gutkas, Bürgermeisteramt (wie Anm.34), zum Teil durch das Städtebuch überholt.
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die Wahlordnung und die Kompetenzen des Bürgermeisters hatten sich an das steirische Gewohnheitsrecht zu halten. 36 ) Andere Krainer Städte hatten keinen Bürgermeister. Einen legalisierten Bürgermeister zu haben, war - zumindest im Süden - eine Prestigesache und nirgends ein unumgängliches Bedürfnis für das Funktionieren einer städtischen Autonomie. Dies gilt besonders dort, wo - wie in Krain - der Stadtrichter relativ früh von den Bürgern gewählt wurde. D) Die ländlichen Gemeinschaften allgemeinen Charakters im Binnenland. 37 ) Ihre Arten hängen in großem Maß vom eingangs erwähnten herrschaftlichen Rahmen ab. Einige autonome Formen entwickelten sich in Landgerichten: Das mit den Privilegien von 1338 für Kärnten und Krain vorgeschriebene Taiding der Gerichtsinsassen, das dreimal jährlich zum Zweck der Landfrage tagen sollte (doch auch andere Funktionen erfüllte), erinnert an die Gemein der Bürger in den Anfängen der städtischen Autonomie. Dies bedeutet nicht, daß es die zur Teilnahme Verpflichteten als demokratische Errungenschaft empfunden hätten. Aus solchen Plenarversammlungen entstanden auch in den Landgerichten engere Beisitzerkollegien. Wenn sich im Sprengel des Landgerichtes eine Stadt oder ein Markt befanden, wurden die Beisitzer aus der Bürgerschaft bestellt, sonst wurden angesehene Bauern (ζ. B. in slowenischem Gebiet zwölf Suppane als Dorfälteste oder einige Edlinger/Kosezi usw.) als Beisitzer herangezogen. Dies dauerte bis ins 17. Jahrhundert. Kleinere Einheiten der ländlichen Autonomien bestanden aus einem Dorf oder aus einigen Dörfern. In ihnen lebten praktisch überall gewisse Formen der Wirtschaftsautonomie, wie sie z.B. bei der Verwaltung der Dorfgemeinen vonnöten waren. Nur in Verbreitungsgebieten der Dorfherrschaft bestand auch die Dorfgerichtsbarkeit. Da es sich bei Dörfern um kleine Gemeinschaften handelt, gab es in ihren Versammlungen entweder überhaupt kein engeres Kollegium (im Sinne eines „Rates"), oder es war ziemlich unformell 36
) B. Otorepec, Gradivo za zgodovino Ljubljane ν srednjem veku IV. 1959, No 44. ") Vilfan, Soseske (wie Anm.20). Vgl. auch ders., Samouprave i obiCajno pravo kod Slovenaca do poCetka XX veka, in : Posebna izdanja Balkanoloskog Instituía SANU 1. 1974, 72-89. Ders. Les communautés rurales entre l'Occident et les Balkans, in: Les Communautés rurales VI. 1986, 87-106.
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zusammengesetzt und begrenzte sich bei Dorfgerichten auf die Urteilsfindung. Zu Zwecken der Vergleichung ist besonders die Funktion des Dorfältesten von Bedeutung. Auch er war häufig ein zwischen der Herrschaft und der lokalen Gruppe vermittelndes Organ. Die Nomenklatur dieses Amtes beweist, daß die Funktion des Dorfältesten sowohl aus slowenischen als auch aus deutschen Wurzeln hervorgehen konnte. Ohne hier in die frühmittelalterliche Problematik abzuschwenken, sei auf die interessante Feststellung hingewiesen, wonach sich die ältere slowenische Siedlungsschicht unter anderem durch die Benennung des Dorfältesten (zupan - Suppan) von anderen Siedlungsgeschichten, besonders von der deutschen (wo die Bezeichnungen preco, stifterius und vor allem Richter vorkamen), unterschied. Dies gilt sowohl für die freisingische Herrschaft in Oberkrain als auch in der früh germanisierten Mittelsteiermark. 38 ) In der Neuzeit unterschieden sich beide Typen durch einzelne Rechtsbräuche, wenn nicht auch durch das Vorhandensein von Gemeindehäusern in den Suppanendörfern. In der Kolonisationszeit wurden die Richter wohl ernannt, während die Einsetzung der Suppane vielleicht auf andere Art (Erblichkeit?) stattfinden konnte. Jedenfalls hat sich diesbezüglich im Laufe der Zeit eine enorme Vielfalt ergeben, die jede Verallgemeinerung unmöglich macht. Ein Beispiel dieser Vielfalt in einer kleinen Region bietet das Urbar der Grafschaft Görz von 1523: In den meisten Dörfern war der Suppan gewählt, die Bestätigung seiner Wahl war jedoch dem Landeshauptmann oder dem Verweser oder beiden vorbehalten. In einigen Dörfern ernannte die Herrschaft die Suppane, in einem Dorf stellten der Landeshauptmann und der Verweser den Wählern einen Kandidaten vor, an dessen Stelle diese zwar einen anderen erwählen durften, doch die Entscheidung blieb den beiden Antragstellern vorbehalten; in einem weiteren Dorf wählte die Dorfgemeinde „mit Wissen des Landrichters" usw. 39 )
3β
) P. Blaznik, Urbanji freisinske skofije. 1963, 68, 73 und passim. S. Walter, Suppan und Dorfrichter in der Steiermark, in: Alpes Orientales V. 1969, 267-280 (mit einer Karte). Vgl. S. Vilfan, Die deutsche Kolonisation nordöstlich der Oberen Adria und ihre sozialhistorischen Grundlagen, in: W. Schlesinger (Hrsg.), Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte. 1975, 567-604, besonders 600-601. 39 ) M. Kos, Urbarji slovenskega Primorja 2. 1954, 152-195.
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Eine zentrale Frage in Verbindung mit der älteren Dorfverfassung stellen die Weistümer dar. Vor allem handelt es sich auf österreichischem Gebiet nicht immer primär um Dorfweistümer. Die Sammlung der österreichischen Akademie 40 ) enthält überhaupt viele Texte, die nicht dem engeren Sinne des Weistums entsprechen, schon gar nicht dem Begriff eines Dorfweistums. Da sich die Sammlung auf vorwiegend deutschsprachige Länder beschränkt, hat sie zudem die völlig irrtümliche Meinung unterstützt, wonach das Weistum ein germanischer, bei den Slawen unbekannter Begriff gewesen sein soll. Die theoretischen Auseinandersetzungen über die Weistümer (bei besonderer Berücksichtigung der habsburgischen Erbländer) betrafen jedoch eine andere Frage. Nachdem die Weistümer ursprünglich als besonders bedeutender Ausdruck der ländlichen, besonders aber der Dorfautonomie gegolten hatten, bekämpfte die grundherrschaftliche Theorie A. Dopschs und seiner Schule (E. Patzelt, W. Wiessner, A. Günther) diese Vorstellung einer Dorfidylle und betrachtete alle Akten dieser Art kurzweg als Äußerungen der grundherrschaftlichen Gewalt, die in der Form der Weistümer nur ihren eigenen Willen zum Ausdruck brachte. Für einen großen Teil der Normen, die in die Sammlung der österreichischen Weistümer aufgenommen wurden, trifft dies tatsächlich zu. Doch gerade diese Sammlung hat infolge unausgewogener Kriterien viel Verwirrung verursacht. Zum Teil wohl gerade unter dem Eindruck dieser Sammlung haben die Vertreter der grundherrschaftlichen Theorie die Rolle der Bauern in den ländlichen Autonomien unterschätzt. Den entgegengesetzten Standpunkt, wonach die Bauern auch bei der Entstehung der Weistümer nicht nur passiv beteiligt waren, vertrat H. Baiti. Vor allem vertrat er auch eine etwas engere Auffassung über das Wesen der Weistümer. 41 ) - Hiezu sei nur kurz vermerkt: Die in der Sammlung enthaltenen Texte sind zwar vorwiegend im Interesse der Herrschaften oder mit ihrem Willen entstanden (Privilegien, Urbarsnotizen, Zeugenaussagen, Ordnungen), oder sie enthalten Bestimmungen über Marktrechte, die grundherrschaftliche Theorie hat aber mit dem Bagatellisieren der 40
) Österreichische Weist(h)ümer 1-17. 1870-1966. ') Auch als forschungsüberblick H. Baiti, Die österreichischen Weistümer. Studien zur Weistumsgeschichte, in: Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 59, 1951, 366-410; 61, 1953, 38-78. - Vgl. weitere Literaturnachweise über die Weistumsfrage bei Vilfan, Soseske (wie Anm. 20), 17-18. 4
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autonomen Gemeinschaften gewiß übertrieben. In der Sammlung fehlen eben sehr viele Texte, die dem Begriff der Weistiimer viel näher stehen als die publizierten Texte. In den südlicheren Ländern gab es ζ. B. die sogenannten „Gemeinurteile" als autonome Regeln, und davon sind auch aus ländlichen Gebieten mehrere erhalten. Allerdings kaum als Dorfweistümer, da es hier keine eigentlichen Dorfgerichte gab. E) Die istrischen ländlichen Kommunen. Gewöhnliche Dörfer sowohl im slowenischen als auch im kroatischen Teil Istriens genossen eine ähnliche wirtschaftliche Autonomie wie die binnenländischen Bauerngemeinden, nur war diese Autonomie stärker ausgebildet und erhielt sich gut bis in das 20. Jahrhundert. Die Viehzucht war hier von großer wirtschaftlicher Bedeutung, die Verwaltung des gemeinschaftlichen Bodens lebenswichtig, und daher waren auch entsprechende Formen des Gemeindewesens notwendig. Dorfoberhaupt war der alljährlich auf ein Kerbholz erwählte Suppan, dem zwei Posuppen zur Seite standen. Der Suppan war zugleich Landgerichtsbeisitzer. Die Kommunen der Burgbezirke im kroatisch-liburnischen Teil Istriens (drei Siedlungen in der Herrschaft Kastav-Kastau) hatten mehr Einwohner als normale Dörfer und eine etwas reichere Struktur ihrer autonomen Organe. Der Herr war durch einen ernannten Hauptmann vertreten, dem in finanziellen Angelegenheiten ein Amtmann behilflich war. Jede Siedlung hatte ihren Ruf, der auf freie Stellen neue Mitglieder auf Lebenszeit kooptierte. Der Rat fungierte zugleich als Beisitzerkollegium beim Gericht. Im Städtchen Kastav selbst wurden vom Rat (einschließlich des Pfarrers) neben dem Suppan noch ein Richter gewählt, in den beiden anderen Orten nur der Suppan. Vor allem militärische Aufgaben (Abwehr) oblagen dem „Hunderter" (satnik), die Feldpolizei dem dvornik. Die beiden letzterwähnten Bezeichnungen sind kroatischen Ursprungs, und auch die Statuten dieser Kommunen sind in kroatischer Sprache bekannt. 42 ) F) Besondere Formen der ländlichen Autonomie. Wie bereits oben angedeutet, boten verschiedene Herrschaftsformen den Rahmen für die Entstehung verschiedener Formen autonomer Gemeinschaften. Neben den bereits dargestellten war auch die autonome Verwaltung der größeren Tabore, d. h. der Festungen, die vom letz42
) ¿ontar, Kastavsiina (wie Anm.6), besonders 164-165.
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ten Viertel des 15. Jahrhunderts an bis ins 17. Jahrhundert als Zuflucht der ländlichen Bevölkerung bei Türkeneinfällen und überhaupt bei Feindesgefahr (auch an der venezianischen Grenze) dienten, an Siedlungen gebunden und besaß daher gewissermaßen kommunalen Charakter. Einem dieser tabore (Kosana auf dem Karst) befehligten ζ. B. ein Guardian und zwölf Kapitäne, die von den Untertanen gewählt und von den Landesobrigkeiten eingesetzt und vereidigt wurden. Im Namen der Grundherrschaften, die in der Umgebung des Tabors begütert waren, wurde die Verwaltung durch einen Burgrichter beaufsichtigt, mit dem es häufige Konflikte gab.43) In der slowenischen rechtsgeschichtlichen Forschung haben vor allem die (Wein-)Berggemeinschaften und ihre Bergtaidinge bzw. Bergrechte ein besonderes Interesse erregt.44) Vor allem waren andere Formen der sogenannten Volksgerichtsbarkeit unter den Slowenen damals noch unbekannt oder unvorstellbar, außerdem aber sind die Archivalien in Verbindung mit den Bergrechten ziemlich gut erhalten, und man versprach sich, in der Aktivität solcher Gemeinschaften und ihrer Organe einheimisches, nationales Gewohnheitsrecht zu entdecken. Die Berggemeinschaften, die aus an sich freien Bergholden unter einem Bergherrn bestanden, waren jedoch keine Siedlungsgemeinschaften, da ihre Mitglieder verschiedenen, oft bürgerlichen Standes waren und zersplittert in manchmal sogar entlegenen Orten lebten, so daß nur der Weinberg ein Bindeglied unter ihnen bildete. Daher sind diese Gemeinschaften keine
43
) J. Leinmüller, Der Tabor zu Koschana, in : Mittheilungen des Historischen Vereines für Krain 20, 1865, 65-69. Weitere Literatur angeführt bei Vilfan, Soseske (wie Anm.20), 69-72. 44 ) Meli, Kodifikation (wie Anm. 15). M. Dolenc hat dem Weinbergrecht und insbesondere den Bergrechten (im Sinne von Gerichtsverhandlungen) etwa 30 Abhandlungen und ein Buch gewidmet. Synthese und Quellen: Gorske bukve ν izvirniku, prevodih in priredbah. 1940. - Ders., Die niedere Volksgerichtsbarkeit unter den Slovenen von Ende des 16. bis Anfang des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte des Slaven NF 5/3, 1929, 299-368. Ders., Die Rechtsidee des Kollektivismus im slovenischen Volksrechte, in: Przewodnik historiczno-prawny 2, 1931, 93-107. Bibliographie der Werke von Dolenc durch J. Polec in : Zbornik znanstvenih razprav 18, 1942, 23-73. Aufgrund der Werke von Dolenc hai sich auch F. Gorsic mit dem Thema befaßt. Seine Bibliographie bei S. Vilfan in : Zgodovinski 6asopis 23, 1969, 137-151.
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Gemeinden im eigentlichen Sinne, und es kann hier bei ihrer kurzen Erwähnung bleiben. Die zerstreut lebenden Untertanen einer Grundherrschaft bildeten ebenso keine eigentliche Gemeinde, auch wenn der Grundherr für einzelne Gruppen eigene Organe (Amtleute oder Suppane) bestellte. Viele Erscheinungen, die an das Kommunalwesen erinnern, trifft man dagegen bei der Organisation der Bauernaufstände an, wie etwa Versammlungen, Wahlen, engere Kollegien usw. Viele dieser Erscheinungen sind von legalen Institutionen inspiriert, sie wurden aber nicht zu einer ständigen Einrichtung. Vergleichend kann man in sehr vereinfachter Form folgende Grundlinien zusammenfassen: Ein Teil der kommunalen Strukturen (Richter, Plenarversammlungen) hat sich als weit verbreitet, wenn nicht als allgemeine Erscheinung erwiesen. Es handelt sich hier vor allem um allgemeine Anfangsformen. Wesentliche Unterschiede bestehen in der Bildung und Größe der Stadtterritorien, der darauf basierenden Struktur der führenden Schichten (Patrizier einerseits, nicht erbliches Ansehen andrerseits) und in der entsprechenden Struktur der städtischen Organe (angeborene Ratsfähigkeit im großen Rat einerseits, Wahlen engerer Kollegien andrerseits). Diese Unterschiede entsprechen verschiedenen kulturgeographischen Regionen Europas. 45 ) Die Gemeindestruktur der Dörfer weist zwar eine Vielfalt von Formen auf, sie läßt sich aber nicht so scharf in zwei große und wesentlich verschiedene Gruppen einteilen. Als spezifische Erscheinung ist in relativ späten Kolonisationsgebieten die Dorfgerichtsbarkeit zu vermerken. Sonst gehen die am meisten sichtbaren Unterschiede zum Teil auf ethnisch unterschiedliche Siedlungsschichten zurück (Richter einerseits, Suppane andrerseits). Es ist auch zu be4S
) Abschließende bibliographische Notiz: Obige Literaturnachweise dienen nur der unmittelbaren Dokumentierung oder enthalten Werke sehr allgemeiner Art, die zu weiterer Literatur führen. Unter den Abhandlungen, die ich bisher dem Vergleich zweier Städtetypen gewidmet habe, sind in deutscher Sprache erschienen: S. Vilfan, Die mittelalterliche Stadt zwischen Pannonien und der Nordadria, in: Internationales kulturhistorisches Symposion Mogersdorf 4. 1974, 125-141 (auch auf ungarisch). Ders., Stadt und Adel. Ein Vergleich zwischen Küsten- und Binnenstädten zwischen der Oberen Adria und Pannonien, in: W. Rausch (Hrsg.), Die Stadt am Ausgang des Mittelalters. 1974, 63-74.
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merken, daß die gemeinschaftlichen wirtschaftlichen Interessen durch die Weideviehzucht begünstigt wurden. Dies gilt auch für die größeren küstenländischen ländlichen Kommunen. Hier war die Autonomie auch deshalb stärker, weil die Siedlungen materiell global belastet waren.
DIE LÄNDLICHE GEMEINDE IM OBERDEUTSCH-SCHWEIZERISCHEN RAUM VON PETER BIERBRAUER
DIE ländliche G e m e i n d e ist im oberdeutsch-schweizerischen R a u m 1 ) in besonderer Weise ausgeprägt. Ihr G e w i c h t im Verfassungsgefüge der altständischen Gesellschaft scheint hier größer als in anderen R ä u m e n , etwa im N o r d e n oder Osten des Reiches. 2 ) D a bei ist die G e m e i n d e v e r f a s s u n g im S ü d e n insgesamt sehr differenziert. Es gibt ein breites Spektrum unterschiedlicher G e m e i n d e t y pen, die den verschiedenartigen ö k o n o m i s c h e n , siedlungsmäßigen u n d politischen A u s g a n g s b e d i n g u n g e n entsprechen. Verallgemeinerbare Aussagen zur L a n d g e m e i n d e im oberdeutsch-schweizerischen R a u m sind daher kaum m ö g l i c h ; es kann nur versucht werd e n , das spezifische Profil der einzelnen G e m e i n d e t y p e n zu beschreiben. ') Die Abgrenzung des ausgedehnten Untersuchungsraums wird pragmatisch verstanden. Betrachtet wird der Südwesten des Alten Reiches zu beiden Seiten des Rheins und der Raum südlich der Donau bis zu den Alpen. Neben der Alten Eidgenossenschaft wird dabei auch der östlich angrenzende Bereich (Vorarlberg, Graubünden und Tirol) berücksichtigt. 2 ) Vgl. dazu etwa G. Franz, Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. 2. Aufl. 1976, der mehrfach die besondere Ausprägung der Gemeindeverfassung in Oberdeutschland hervorhebt, so 52, 55, 63. - Eine besondere Dynamik der ländlichen Kommunalverfassung insbesondere im Südwesten des Reiches, der vom Aufstieg der Eidgenossenschaft besondere Impulse erhielt, betonte schon früh K. S. Bader, Altschweizerische Einflüsse in der Entwicklung der oberrheinischen Dorfverfassung, in: ZGO 50, 1937, 405-453. - Auf einen vergleichsweise spät einsetzenden Prozeß, und zwar die frühneuzeitliche Entwicklung der Gutsherrschaft, führt Peter Blickte die Schwächung der kommunalen Strukturen im mittleren und östlichen Deutschland zurück, während er im Spätmittelalter noch einen vergleichbaren Entwicklungsstand der Dorfgemeinden konstatiert. P. Blickte, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch. 1981, 43-51.
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Der Forschungsstand ist, bezogen auf die regionalen Varianten der Kommunalverfassung, recht unterschiedlich. Für die wichtigste Gemeindeform, und zwar die Dorfgemeinde, existiert mit dem dreibändigen Werk Karl Siegfried Baders1), das sich speziell auf den südwestdeutschen und schweizerischen Raum bezieht, eine einzigartige wissenschaftliche Grundlage. Für andere Gemeindeformen und auch für andere Regionen, etwa für Bayern, Tirol oder Graubünden, fehlt es an vergleichbar breit angelegten Untersuchungen. Das Schwergewicht der auf die Dorfgemeinde bezogenen Forschungen Karl Siegfried Baders bedeutet eine gewisse Schwierigkeit für die angemessene Einordnung der verschiedenen Gemeindeformen. Die Gemeinde, die Bader beschrieben hat, besitzt eine spezifische siedlungsmäßige Voraussetzung, nämlich das geschlossene Dorf, wie es etwa für Südwestdeutschland oder auch Franken charakteristisch ist. In Teilen Oberdeutschlands und insbesondere im Alpenraum sind jedoch auch andere Siedlungsformen verbreitet. Wir finden sowohl Einzelhöfe als auch Weiler 4 ), so daß die Gemeindebildung hier in anderen Formen verläuft und andere Ansatzpunkte besitzt, das Kirchspiel 5 ) etwa oder das Gericht. Diejenigen Gemeinden, die nicht auf der dörflichen Grundlage aufbauen, hat Bader als „Sonder- und Seitenerscheinungen der Gemeindebildung" 6 ) bezeichnet und ihnen in seinem Werk nur einen knappen kursorischen Abschnitt gewidmet. Das ist aus der spezifischen Aufgabenstellung Baders verständlich. Die Bewertung der Dorfgemeinde als „Regelform" und der übrigen Gemeindeformen als „Sonderform" ist jedoch inadäquat. Die nicht auf das Dorf bezogenen Ausprägungen der politischen Gemeinde dürfen nicht einfach als Abweichungen von der Dorfgemeinde betrachtet werden. Der Gemeindebildung im Bereich der nicht-dorfgebundenen Landgemeinden liegen gleichgelagerte Erfordernisse und Interessen zu-
3
) K. S. Bader, Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes. 3 Bde. 1957-73. 4 ) B. Huppertz, Räume und Schichten bäuerlicher Kulturformen in Deutschland. Ein Beitrag zur deutschen Bauerngeschichte. 1939, 119-130. ') Zur Bedeutung der Pfarrgemeinde als Ansatzpunkt der politischen Organisation der ländlichen Gesellschaft vgl. etwa O. Stolz, Geschichte der Gerichte Deutschtirols. Abhandlungen zum historischen Atlas der österreichischen Alpenländer, Landgerichtskarte von Deutschtirol, in: Archiv für österreichische Geschichte 102, 1913, 213 ff. ') K. S. Bader, Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde. 1962, 265.
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gründe, wie im Fall der Dorfgemeinde. 7 ) Das Gewicht dieser Gemeindetypen ist auch rein numerisch viel zu groß, um sie als abweichende Sonderformen zu qualifizieren: - Gemeinden, die nicht auf der Ebene des Dorfes, sondern an der Gerichtsorganisation ansetzen, bilden die wesentliche politische Organisationsform der ländlichen Gesellschaft in Tirol 8 ), Graubünden 9 ) und Vorarlberg. 10 ) - Talgemeinden bestimmen das Bild im alpinen Raum der Innerund Westschweiz. Sie begegnen auch im Schwarzwald und im Jura. 11 ) - „ Z e n d e n " prägen als eine spezifische Form überlokaler Großgemeinden die ländliche Verfassung des Wallis. 12 ) - Eine besondere Ausprägung der ländlichen Gemeindeverfassung ist in Bayern festzustellen, w o im 16. Jahrhundert zwei unterschiedlich strukturierte Gemeindetypen nebeneinander bestanden. 1 3 ) Während die „Hofmarksgemeinden" der adligen und geistlichen Grundherrschaften Elemente der hochmittelalterlichen Agrarverfassung tradierten, formierte sich die auf die Landesherrschaft bezogene „landgerichtische G e m e i n d e " parallel zum Ausbau der territorialen Ämter- und Gerichtsverfassung. ') Vgl. dazu insbesondere die regionalen Einzelstudien zur Gemeindebildung in Th. Mayer (Hrsg.), Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen. 1964, etwa: F. Huter, Zur Frage der Gemeindebildung in Tirol, 223-235, oder P. Kläui, Genossame, Gemeinde und Mark in der Innerschweiz mit besonderer Berücksichtigung des Landes Uri, 237-244. ') Stolz, Gerichte Deutschtirols (wie Anm. 5), 83-334, zur politischen Funktion insbesondere 249 ff. - H. Wopfner, Die Lage Tirols zu Ausgang des Mittelalters und die Ursachen des Bauernkriegs. 1908, 154-191. - Vgl. auch Huter, Gemeindebildung in Tirol (wie Anm. 7). ') A. Meuli, Die Entstehung der autonomen Gemeinden im Oberengadin. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte Graubündens in: Jahresberichte der Historisch-antiquarischen Gesellschaft von Graubünden 31, 1902, bes. 7, 24 ff. ,0 ) K. H. Burmeister, Die Verfassung der ländlichen Gerichte Vorarlbergs vom Spätmittelalter bis zu Beginn des 19.Jahrhunderts, in: ZAA 19, 1971, 26-39. - B. Bilgeri, Der Bregenzerwald in der ländlichen Verfassungsentwicklung Vorarlbergs, in: Montfort 21, 1969, 282-334. " ) Zusammenfassend Bader, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 250-265, mit zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen. n ) A. Niederer, Das Gemeinwerk im Wallis: Bäuerliche Gemeinschaftsarbeit in Vergangenheit und Gegenwart. 1956, 31 ff. - D. Imesch, Der Zenden Brig bis 1798, in: Blätter aus der Walliser Geschichte 7, 1930, 103-224. 13 ) Zusammenfassend H. Wunder, Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland. 1986, 72 ff.
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- Eine vielfältig differenzierte Gemeindeorganisation bestimmt auch die ländliche Verfassung des Allgäus, wo neben Dorfgemeinden besondere Territorialgemeinden („Tigen") und siedlungsübergreifende Personalkorporationen (Verbände der Freien auf Leutkircher Heide und der Eglofser Freien) festzustellen sind. 14 ) Die Typologie ließe sich noch um weitere Formen nichtdorfgebundener Gemeinden ergänzen. Zwar wird man zweifellos feststellen müssen, daß wesentlich mehr Menschen in Dorfgemeinden lebten, als in Gerichts- und Talgemeinden, aber neben dem quantitativen Befund ist auch der qualitative zu berücksichtigen. Die Kraft gerade dieser Groß-Gemeinden zur Gestaltung ihrer historischen Umwelt im Sinn bäuerlicher Interessen war besonders groß. Zu erinnern ist an die Rolle der Gerichte in den Landständen Tirols, an den Weg der Gemeindeverbände in Graubünden und im Wallis über die feudalen Herrschaftsstrukturen hinweg zu politischer Selbstbestimmung, schließlich an die Rolle der Talgemeinden in der Geschichte der Eidgenossenschaft. Wenn von der strukturbildenden Kraft des Kommunalismus die Rede ist, dann bezieht sich dies zuallererst auf die Leistungen der siedlungsübergreifenden Groß-Gemeinden. Die kommunale Kultur des oberdeutsch-schweizerischen Raums findet in diesen Formationen ihren Gipfel. Es ist im Rahmen eines Überblicks über die Grundlinien der ländlichen Kommunalverfassung im oberdeutsch-schweizerischen Raum nicht möglich, die regionalen und typologischen Besonderheiten eingehender zu behandeln. Auch das für den regional-vergleichenden Teil der Günzburger Tagung vorgesehene systematische Frageraster läßt sich angesichts der Vielfalt der historischen Ausprägungen und Varianten des kommunalen Lebens nur in einer recht schematischen Weise abhandeln. Dabei soll im folgenden vor allem versucht werden, die wichtigsten Abweichungen zu zeigen, die zwischen der Gemeindeverfassung der Dorfgemeinden und der siedlungsübergreifenden Gemeinden bestanden. Die Untersuchung bezieht sich auf die Gemeinden im Stadium ihrer vollentwickelten Verfassung, zeitlich also vor allem auf das 16. Jahrhundert.
14
) P. Blickte, Personalgenossenschaften und Territorialgenossenschaften im
Allgäu, in: Anciens Pays et Assemblées d'Etats 53, 1970, 183-241.
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1. Die Gemeindeversammlung Die Gemeindeversammlung wird - das gilt ohne Unterschied für Dorfgemeinden und Gerichts- oder Talgemeinden - grundsätzlich gebildet aus allen vollberechtigten Gemeindemitgliedern 15 ), wobei allerdings die Gemeindemitgliedschaft je nach Gemeindetyp und spezifischen lokalen Rechtsverhältnissen unterschiedlichen Anforderungen unterliegt. Die Gemeindeversammlung repräsentiert nicht die Gemeinde, sondern sie ist die Gemeinde, könnte man in Anlehnung an Brunner sagen. Das zeigt sich auch im Sprachgebrauch, insofern „gemeind" oder „gemain" zugleich die Gemeinde als Gebietskörperschaft wie auch als Personenverband und als Versammlung bezeichnet. 16 ) In der Regel ist das Zusammentreten der Gemeinden durch die Tradition bestimmt: etwa zum Jahrgeding, zur Öffnung des Weistums, zum Gerichtstag. Der Autonomiegrad der Gemeinden spiegelt sich in den Modalitäten der Einberufung zu Gemeindeversammlungen aus besonderem Anlaß. Nur bei Gemeinden mit hoher Autonomie bedarf es zum Zusammentreten der Gemeindeversammlung keiner herrschaftlichen Einwilligung. 17 ) Schon früh zeigte sich auf herrschaftlicher Seite die Tendenz, das Zusammentreten der Gemeinden zustimmungspflichtig zu machen. Die Entwicklung ging in der Frühen Neuzeit immer mehr dahin, daß freie Gemeindeversammlungen unterbunden wurden. 18 ) Gelegentlich findet sich in größeren Gemeinden die Einrichtung eines Ausschusses, der die Gemeindeversammlung allmählich ersetzt. So wurde etwa in der Talschaft Saanen im Berner Oberland 1609 auf Drängen der Berner Regierung die alte Landsgemeinde durch einen hundertköpfigen Ausschuß ersetzt, der fortan unter der Bezeichnung „Landsgemeinde" amtierte. 19 ) Häufiger verbreitet ist
") Zusammenfassend Bader, Dorfgemeinde (wie Anm.6), 291-297. - Regionale Fallstudien: G. A. Thumm, Die bäuerlichen und dörflichen Rechtsverhältnisse des Fürstentums Hohenlohe im 17. und 18. Jahrhundert. Diss. Hohenheim 1970, 149 ff. - Ν. M. Scherer, Die Landgemeindeverwaltung im Fürstentum Nassau-Saarbrücken 1735-1793. Diss. Saarbrücken 1971, 93-95. ") Bader, Dorfgemeinde (wie Anm.6), 15-20. ") Vgl. etwa G. Kurz - Ch. Lerch, Geschichte der Landschaft Hasli. 1979, 363 ff. 18 ) Bader, Dorfgemeinde (wie Anm.6), 294f. ") H. Rennefahrt (Hrsg.), Das Statutarrecht der Landschaft Saanen (bis 1798). 1942, Nr. 108, 231-237.
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die Ausbildung eines Bürgerausschusses, der eine dem städtischen Rat angenäherte Stellung anstrebt. 20 ) 1.1 Die Kompetenzen der Gemeinden Die wichtigste Kompetenz der Gemeindeversammlung besteht in der Wahl der gemeindlichen Funktionsträger. 21 ) In der Regel ohne herrschaftliche Einwirkung besetzt die Gemeinde solche Ämter, die mit den spezifischen Aufgaben der kommunalen Selbstverwaltung betraut sind. Abgestuft sind die Mitwirkungsrechte hingegen bei der Bestellung des Dorfvorstehers, der gemeindliche und herrschaftliche Funktionen wahrnimmt. Über diese gesonderten Funktionsbereiche wird noch zu reden sein. Die Gemeindeversammlung wählt das Kollegium des Dorfgerichts, also die Schöffen, Geschworenen oder Urteiler. Schließlich besetzt die Gemeindeversammlung durch Wahl die niederen Gemeindeämter, etwa den Gemeindehirten, den Bannwart oder den Waibel des Dorfgerichts. Die zweite zentrale Aufgabe der Gemeindeversammlung liegt in der Kontrolle der gemeindlichen Finanzen. Nach Bader ist „das wichtigste und häufigste Geschäft der Gemeindeversammlung [...] die Rechnungsabhör" 22 ), also die Aufsicht über den Gemeindehaushalt. Die Dorfordnungen geben der Regelung der finanziellen Fragen breiten Raum. 23 ) Verantwortlich für Einnahmen und Ausgaben sind die gewählten Gemeindevertreter. Die Rechnungslegung bei der Gemeindeversammlung findet in der frühen Neuzeit regelmäßig unter der Beteiligung des herrschaftlichen Amtmanns statt.24) Das Gemeindevermögen 25 ) besteht im wesentlichen aus der Allmende und bestimmten kommunalen Zweck-Einrichtungen wie Mühle, Badstube, Taverne und Schmiede. Aus der Vergabe von Nutzungsberechtigungen bezieht die Gemeinde Einnahmen, weiterhin aus einem unterschiedlich hohen Einstandsgeld, das von neu zuziehenden Einwohnern als Gebühr für den Gemeindeeintritt 20
) Bader, Dorfgemeinde (wie Anm.6), 312 f. ) Zusammenfassend Blickte, Untertanen (wie Anm.2), 32 f. - Bader, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 295 f. 22 ) Bader, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 295, ausführlich zum Gemeindehaushalt, 427-460. 23 ) Vgl. etwa Thumm, Hohenlohe (wie Anm. 15), 194-198. 24 ) Bader, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 447. ") Ebd. 427-444. - Thumm, Hohenlohe (wie Anm. 15), 188-193 mit anschaulichen Beispielen. 21
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erhoben wird. Verbreitet sind darüber hinaus besondere kommunale Umlagen, die zunächst zu Sonderzwecken erhoben werden und sich mancherorts zu einer ständigen Gemeindesteuer entwickeln. Die Gemeinden führen in einem erstaunlichen Umfang Finanztransaktionen durch. Gemeinden geben aus ihrem Vermögen Darlehen an die Herrschaft und nehmen umgekehrt auch von der Herrschaft Kredite auf.26) Die Finanzkraft und auch die organisatorische Kompetenz der Gemeinden zeigt sich in besonderer Deutlichkeit, wenn mit dem Einsatz erheblicher Mittel auf die Herrschaftsstruktur selbst eingewirkt wird. Nicht selten sorgten bäuerliche Gemeinden und Verbände aus eigenen Mitteln für die Ablösung verpfändeter Herrschaftsrechte, um einem unliebsamen Herrschaftswechsel zuvorzukommen. 27 ) So verhinderten etwa die zur Grafschaft Hauenstein und den Talschaften Schönau und Todtnau gehörenden Schwarzwälder Bauern seit dem 14. Jahrhundert mehrfach, daß das Kloster St. Blasien auf dem Weg der Pfandschaft in den Besitz der Herrschaftsrechte gelangen konnte. Erstmals lösten die Gemeinden 1370 durch Zahlung von 2000 fl. die verpfändeten Herrschaftsrechte an die Habsburger zurück; 1562/63 und 1655 wiederholte sich dieser Vorgang, zuletzt um den Preis von 15000 fl.28) Den denkbar größten Effekt erzielten gemeindliche Finanztransaktionen dort, wo die ökonomische Misere der Herrschaft es erlaubte, feudale Herrschaftsrechte an die Gemeinde zu kaufen und sie auf diese Weise abzulösen. Die hervorstechendsten Beispiele für eine systematische Ablösungspolitik nach diesem Muster bieten die Talschaften Saanen und Niedersimmental im Berner Oberland. Während es der Talschaft Saanen in einem langwierigen Prozeß zwischen 1312 und 1448 gelang, sukzessive die Leibeigenschaftslasten, die Vogteiabgaben und schließlich auch noch die Grundherrschaft insgesamt abzulösen 29 ), erreichten die Bauern im Niedersimmental binnen zweier Generationen zwischen 1393 und 1445 in mehreren Schritten die Ablösung der personalen und grundherrlichen Abgaben, wobei der Ablösungssatz bei den letzten und wichtigsten Transaktionen dem 26
) Bader, Dorfgemeinde (wie Anm.6), 449-453. ) P. Bierbrauer, Der Aufstieg der Gemeinde und die Entfeudalisierung der Gesellschaft im späten Mittelalter, in: P. Blickle - J. Kunisch (Hrsg.), Kommunalisierung und Christianisierung. 1989, 38-45. 2S ) K. F. Wernet, St. Blasiens Versuche, sich der Grafschaft Hauenstein pfandweise zu bemächtigen, in: ZGO 107, 1959, 161-182, bes. 170-172, 178. ") Rennefahrt (Hrsg.), Saanen (wie Anm. 19), Nr.4, 3; Nr.8, 9 - 1 4 ; Nr. 14, 19-27, Nr. 32, 83-92. 27
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Vierzigfachen des Jahresertrages entsprach. 30 ) Wenn diese spätmittelalterliche Variante der Bauernbefreiung auch zweifellos eine Ausnahme darstellt, so zeigt sich doch in den häufigeren Beispielen für begrenzte Ablösungskäufe 3 ') die Reichweite der gemeindlichen Finanzpolitik. Daß in der Unabhängigkeit der Finanzverwaltung der Kern der gemeindlichen Autonomie liegt, manifestiert sich in der Finanzierung gemeindlichen Konflikthandelns aus dem Gemeindehaushalt. Insbesondere die zahlreichen und teuren Prozesse, die Gemeinden gegen ihre Herrschaften führten, wären ohne ein entwickeltes und eigenständiges gemeindliches Haushaltswesen kaum zu finanzieren gewesen. Neben der Eigenständigkeit der kommunalen Finanzverwaltung ist vor allem der Umfang des gemeindlichen Satzungsrechts der wichtigste Indikator für den Autonomieradius der Gemeinden. Die Gemeinde hat zumindest die Befugnis zur Regelung derjenigen gemeindlichen Angelegenheiten, durch die herrschaftliche Rechte nicht tangiert werden. 32 ) Das gilt etwa für die Allmendnutzung oder bestimmte Selbstverwaltungsaufgaben, wie die Regelung der Feuerpolizei. Sofern Bereiche geordnet werden, die auch in die herrschaftliche Rechtssphäre hineinreichen, bedarf es eines Zusammenwirkens von Herrschaft und Gemeinde. So wird die Dorfsatzung oder Dorfordnung in der Regel zwischen der Gemeinde und der Obrigkeit vereinbart, zumindest in der Form, daß ein von der Gemeinde vorgelegter Entwurf konfirmiert wird.33) Tendenziell wird in der frühen Neuzeit das Satzungsrecht der Gemeinde durch den Territorialstaat eingeengt, sei es, daß durch territoriale Polizeiordnungen der Gestaltungsbereich der Gemeinden beschnitten wird, sei es, daß die Herrschaft aus eigenem Recht Dorfordnungen erläßt. 34 ) 30
) L. S. von Tscharner (Hrsg.), Das Statutarrecht des Simmentais bis 1798, 1.Halbband: Das Niedersimmental 1912, Nr.8, Nr.10, N r . l l a-c, l l f f . ; Nr. 14, 28-30; Nr. 18, 33-36. 31 ) Vgl. dazu Bierbrauer, Aufstieg der Gemeinde (wie Anm.27), 39 f. n ) Blickle, Untertanen (wie Anm.2), 31. - Bader, Dorfgemeinde (wie Anm.6), 334 ff. ") Vgl. insbesondere Thumm, Hohenlohe (wie Anm. 15), 35-57. Thumm hat 55 Dorfordnungen von Dörfern aus dem hohenlohischen Herrschaftsgebiet untersucht. Ein wesentlicher Teil dieser Ordnungen kam auf kommunale Initiative zustande und war auch inhaltlich von den Dorfgemeinden geprägt. 34 ) P. Blickle - R. Blickle (Bearb.), Schwaben von 1268 bis 1803. 1979, 66f„ stellen in oberschwäbischen Klosterherrschaften im 16. Jahrhundert eine
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Karl Siegfried Bader stellt zusammenfassend fest, daß es sich bei der Gemeinde „niemals um volle Satzungsautonomie handeln kann. Solche Autonomie haben nicht einmal die im Reichsverband verbliebenen Reichsstädte erlangt. Immer geht es allenfalls um Satzungsrecht in einem beschränkten kommunalen Wirkungskreis". 35 ) Gemeindliche Satzung ist nach den Feststellungen Baders vor allem im Bereich nachgeordneter polizeilicher und agrarwirtschaftlicher Funktionen zu finden. Vor allem in Landgemeinden, die nicht auf das geschlossene Dorf bezogen sind, lassen sich jedoch erheblich weitergehende Rechtssetzungsbefugnisse aufzeigen. In den Talschaften des Berner Oberlandes wurde das jeweils spezifische Landrecht der Gemeindeverbände bis ins 16. Jahrhundert fast durchgängig auf dem Weg kommunaler Satzungen statuiert, die von der Berner Regierung lediglich konfirmiert wurden. 36 ) Noch größer war die Autonomie der (bis 1555 zur Grafschaft Greyerz, danach zu Bern gehörenden) Landschaft Saanen, wo die Gemeinde in zahlreichen Einzelsatzungen ein eigenes Erb- und Vermögensrecht entwickelte, das schließlich im „Landbuch" der Talschaft niedergelegt wurde. 37 ) Gegenstände kommunaler Satzungen waren in den Talschaften des Berner Oberlandes 38 ) unter anderem die Bedingungen der Veräußerung bäuerlicher Güter, die Aufnahme von Fremden ins Landrecht, Gewerbeordnungen für einzelne Handwerkszweige, Fragen des Handels und der Lebensmittelpolizei, insgesamt fast das gesamte Spektrum der Lebenszusammenhänge im Dorf. Die Verhältnisse in den Talschaften des Berner Oberlandes können durchaus als typisch gelten für die politisch besonders profilierten Gerichts- und Talgemeinden des Alpenraumes. So läßt sich
Fortsetzung Fußnote von Seite 176 Tendenz zur Vereinheitlichung der Dorfordnungen fest. - Vgl. auch Blickte, Untertanen (wie Anm.2), 41. 35 ) Bader, Dorfgemeinde (wie Anm.6), 335. 36 ) Vgl. dazu die vorbildlichen Rechtsquellensammlungen, die für alle Ämter des Berner Oberlandes vorliegen. Neben den zuvor zitierten Bänden für Saanen (siehe Anm. 19) und das Simmental (siehe Anm.30) sind in der gleichen Reihe erschienen: M. Graf-Fuchs (Hrsg.), Das Recht der Ämter Interlaken und Unterseen. 1957. - H. Rennefahrt (Hrsg.), Das Statutarrecht der Landschaft Frutigen (bis 1798). 1937. - J. Brülisauer (Hrsg.), Das Recht des Amtes Oberhasli. 1984. ") Vgl. dazu Rennefahrt (Hrsg.), Saanen (wie Anm. 19). 38 ) Vgl. die in Anm. 36 zitierten Rechtsquellenbände.
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auch für die Gerichtsgemeinden Vorarlbergs 39 ) und Graubündens 4 0 ) ein sehr weitgehendes Satzungsrecht belegen. Die Gerichtsgemeinde des Bregenzerwaldes etwa kodifizierte unter dem Titel „Landsbräuche" umfassende Satzungen, die mit territorialen Polizeiordnungen zu vergleichen waren. 41 ) 1.2 Das
Gemeindebürgerrecht
Die Gemeindezugehörigkeit im Rahmen der Dorfgemeinde 42 ) folgt im Prinzip einem einfachen Grundsatz: Als vollberechtigte Gemeindemitglieder treten die Inhaber der bäuerlichen Stellen auf, die ein Nutzungsrecht an der Allmende aufweisen. In dieser Regelung spiegelt sich die genossenschaftliche Grundlage der Dorfverfassung. Die Gemeindeversammlung ist demzufolge eine Versammlung der Hausväter, ergänzt um die Witwen, die einem bäuerlichen Betrieb vorstehen. Dorfbewohner ohne förmliches Recht an der Allmende bleiben ausgeschlossen, auch wenn ihnen mitunter die Nutzung der Allmende eingeräumt wird. Offenere Regelungen finden sich bei Gemeinden, die als Personenverband nicht mit genossenschaftlichen Nutzungsverbänden kongruent sind. In den Talschaften des Alpenraums, die unabhängig von den Alpgenossenschaften waren, galt der Grundsatz, daß alle wehrfähigen Männer das Gemeinderecht besitzen und zur Gemeindeversammlung erscheinen. Im Berner Oberland sind es bereits die Jugendlichen ab 14 Jahren. 43 ) In den Gerichtsgemeinden gilt ebenfalls ein weitgefaßtes Gemeinderecht. Im Prinzip besitzen alle diejenigen Männer das Gemeinderecht, die im Gericht ansässig und ihm unterworfen sind. 44 ) In bestimmten politischen Zusammenhängen begegnet in den Tiro39
) Burmeister, Gerichte Vorarlbergs (wie Anm. 10), 36 f. ) P. Liver, Die staatliche Entwicklung im alten Graubünden, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 13, 1933, 206-248, sieht allein in den Gemeinden auch grundsätzlich die legislative Gewalt in Graubünden verkörpert: „Der Mehrheitsbeschluß der Gemeinden ist das Mittel zur Willensbildung des Gesamtstaats" (210). - Einzelbeispiele bei Meuli, Gemeinden im Oberengadin (wie Anm. 9), 28, 50. 41 ) Bilgeri, Bregenzerwald (wie Anm. 10), 293 ff. 42 ) Bader, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 275 ff. 43 ) G. Aebersold, Studien zur Geschichte der Landschaft Saanen. 1915, 32. Kurz - Lerch, Hasli (wie Anm. 17), 365. ") Wopfner, Lage Tirols (wie Anm. 8), 158. 40
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1er Gerichten allerdings eine Einengung der Partizipation auf einen kleineren Kreis von Gemeindsleuten. 45 ) Ein Weg zur Aufnahme von Zuzügern und Hintersassen in die Gemeinde wird häufig durch die Erhebung eines Einkaufsgeldes 46 ) geöffnet. In seine Einführung und in die Festsetzung der Höhe können sowohl herrschaftliche als auch gemeindliche Interessen einfließen. Es handelt sich um ein Regulativ, das unterschiedlich eingesetzt wird, sowohl um Zuzug zu erleichtern, als auch um ihn zu erschweren. Stark prohibitive Tendenzen in der Gemeindeaufnahme finden sich häufiger bei Gemeinden mit besonders günstigen Rechtsverhältnissen. Die Talschaft Saanen, die sich von allen feudalen Lasten freigekauft und das freie Eigen an den Gütern erlangt hatte, setzte derart hohe Hürden vor den Erwerb des Bürgerrechts 47 ), daß schließlich die Heiratsmöglichkeiten außerhalb der Gemeinde so stark eingeschränkt waren, daß von einem Verbot der ungenossamen Ehe gesprochen werden könnte. Die Gemeinde versuchte, den angestammten Familien ein exklusives Recht an den wirtschaftlichen Ressourcen zu sichern. Ein entgegengesetztes Beispiel findet sich in der Grafschaft Nassau Saarbrücken, wo infolge der hier praktizierten Realteilung in den Dörfern eine relativ homogene kleinbäuerliche Schicht mit meist nur noch minimalem Landbesitz entstanden war. Hier verschaffte 1764 ein landesfürstliches Gesetz allen Hausbesitzern das Gemeindebürgerrecht 48 ) und beseitigte damit den alten Unterschied von Gemeindsleuten und Hintersassen. 2. Kommunale Administration In der Dorfgemeinde sind drei Ebenen kommunaler Funktionsträger zu unterscheiden. Die erste Ebene ist durch die Verbindung herrschaftlicher und kommunaler Rechte und Pflichten gekennzeichnet. Der zweiten Ebene sind die ureigenen Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde zugeordnet. Auf der dritten Ebene sind die niederen gemeindlichen Ämter angesiedelt, die gegen Entloh45
) P. Blickle, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland. 1973, 177, weist nach, daß die Wahl der Landtagsboten in den Gerichtsgemeinden durch „ein engeres Gremium" erfolgte, bestehend aus „politisch verantwortlichen Personen des Gerichts". 46 ) Bader, Dorfgemeinde (wie Anm.6), 438 f. " ) Rennefahrt (Hrsg.), Saanen (wie Anm. 19), Nr. 70, 162 f. 4S ) Scherer, Nassau-Saarbrücken (wie Anm. 15), 83.
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nung verrichtet werden. In der Differenzierung der Funktionen auf der ersten und zweiten Ebene findet der dualistische Charakter der dörflichen Kommunalverfassung zwischen herrschaftlich-obrigkeitlichen und gemeindlichen Rechtspositionen seinen Ausdruck. Auf der ersten Ebene steht im Dorf ein singulärer Amtsträger, der in einer Doppelfunktion sowohl die herrschaftliche Sphäre als auch die Gemeinde repräsentiert. 49 ) Die verbreitetsten Bezeichnungen sind Schultheiß oder Ammann, gelegentlich auch Vogt. Ursprünglich Vorsitzender im Dorfgericht (Stabhalter), entwickelt sich dieses Amt zu einer Art von Dorfvorsteher. Die Wahl erfolgt im Zusammenwirken von Herrschaft und Gemeinde bei unterschiedlichen Modalitäten im Einzelfall. Auf der zweiten, der kommunalen Ebene begegnet in den Dorfgemeinden üblicherweise ein Kollektivorgan, das mit den spezifisch gemeindlichen Angelegenheiten betraut ist, sich um das Gemeindevermögen kümmert, die Allmendnutzung regelt und für die Einhaltung der gemeindlichen Normen, Gebote und Satzungen sorgt. Der Name entspricht oft der Zahl der Mitwirkenden, am häufigsten ist nach Bader die Bezeichnung „Vierer". 50 ) Andere Bezeichnungen, die meist auf die Größe des Gremiums hinweisen, lauten: Zweier, Fünfer, Zwölfer oder Einunger. Eine regionale Sonderform - vor allem im Rheinland beheimatet, aber auch am Oberrhein verbreitet stellt das Amt des Heimburgen dar, der vor allem mit der Sorge um das Gemeindegut betraut ist.51) Die Amtsinhaber werden in der Regel, wie oben angesprochen, von der Gemeindeversammlung autonom gewählt. Gelegentlich handelt es sich um ein Zwangsamt, das der Gewählte wahrnehmen muß. Auf der dritten Ebene sind schließlich die gemeindlichen Exekutivorgane angesiedelt 52 ), die selbst nicht als politische Ämter zu bewerten sind. Dazu gehören der Hirte, der Flurwart und der Büttel des Dorfgerichts, die ihre Dienste gegen Sold versehen. Wesentlich komplexer als in den Dorfgemeinden ist das Ämtergefüge meist in den Talgemeinden. Als Beispiel soll die Organisa"') Bader, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 298-307. 50 ) Ebd. 309. - Vgl. auch Blickle - Blickte (Bearb.), Schwaben (wie Anm. 34), 95. - Scherer, Nassau-Saarbrücken (wie Anm. 15), 115 ff. 51 ) K. S. Bader - Th. Bühler, Heimbürgen in Schwaben und am Oberrhein, in: E. Hassinger - J. H. Müller - H. Ott (Hrsg.), Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer zum 75. Geburtstag. 1975, 93-110. ") Bader, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 314-321.
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tion der Talschaft Oberhasli") im Berner Oberland beschrieben werden. An der Spitze der Verwaltung der Talschaft steht ein Landammann, der zunächst von der Landsgemeinde gewählt wurde und später, nachdem die Talschaft im 14. Jahrhundert ihre Reichsfreiheit eingebüßt hatte und an Bern übergegangen war, vom Berner Rat für sechs Jahre gesetzt wurde, und zwar aus dem Kreis der Gemeindemitglieder. Der Landammann vertrat die Obrigkeit, leitete die Verwaltung und war Vorsitzender im Gericht. Dem Landammann zur Seite stand als Stellvertreter der Landsvenner. Er wurde von der Landsgemeinde gewählt und war der eigentliche Repräsentant der Gemeinde. Nicht der Landammann, sondern der Landsvenner verwahrte das Siegel der Landschaft und führte zugleich ein persönliches Siegel zur Beurkundung von Rechtsgeschäften innerhalb der Gemeinde. Bei Kriegszügen führte er das Banner der Landschaft. Unter dem Landammann und dem Landsvenner amtierte ein fünfzehnköpfiges Kollektivorgan, das abwechselnd als „Rat" oder als „die Fünfzehn" bezeichnet wurde. Ihm gehörte auch der Landsvenner an. Die Fünfzehn waren Repräsentanten der Gemeinde und mit Verwaltungsgeschäften betraut, zugleich bildeten sie das Gericht. Die Fünfzehn wurden von der Landsgemeinde gewählt und jährlich von Bern bestätigt. Neben diesen politischen Behörden kannte die Landschaft eine Reihe von besoldeten Funktionsträgern. Der wichtigste war der Landschreiber, der als Protokollant der Landschaftsorgane fungierte und zugleich mit Gehilfen und Lehrlingen als Notar für die Gemeindeleute arbeitete. Der Landschreiber wurde zunächst von der Landsgemeinde bestimmt, seit 1674 wurde die Stelle auf gemeindlichen Vorschlag hin von Bern besetzt. Weitere besoldete Ämter waren der Waisenschreiber (Vormundschaftswesen), der Landweibel und der Gemeindeprofoß (Ortspolizist mit Gehilfen, insbesondere mit der Aufsicht über Landstreicher und Bettler betraut). In unbesoldeten Ehrenämtern fungierten der Landsäckelmeister (Verwaltung des Landschaftsgutes), der Kirchmeyer (Verwaltung des Kirchengutes), der Baumeister (Wegebau und Unterhalt der gemeindlichen Gebäude), der Schulvogt (Verwaltung des Schulwesens), der Spendvogt (Verwaltung des Armengutes, Armenpfleger), ") Kurz-Lerch, Hasli (wie Anm. 17), 314-356.
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der Siechenvogt (verwaltete das Siechenhaus im Hauptort Medingen) und die vier Bannwarte (insbesondere Waldaufsicht). Neben den Ehrenämtern bestanden zwei als Vollzeitbeschäftigung ausgeübte „Landdienste": ein „Spittler" versah das landschaftliche Hospiz am Grimselpaß, während der „Landhauswirt" das Land- und Gerichtshaus der Landschaft in Meiringen bewirtschaftete. Das Beispiel der Ämterstruktur in der Landschaft Hasli kann durchaus als charakteristisch für die Verhältnisse in den überlokalen Tal- und Gerichtsgemeinden des Alpenraums gelten. Ähnlich differenziert wie im Hasli war nicht nur das Ämterwesen in den herausragenden autonomen Talschaften der Innerschweiz, sondern auch in den unter Berner Territorialherrschaft stehenden Landschaften des Berner Oberlandes. 54 ) 3. Das Gericht Gericht und Gemeinde entwickeln sich parallel, wobei die beiden Entwicklungslinien sich auf zwei Arten vereinigen können: Im ersten Fall wird das Gericht auf eine geschlossene Siedlung radiziert. Der Prozeß der „Verdorfung" spiegelt sich auf rechtlicher Ebene in der Ausbildung eines besonderen Rechtsbereiches, die Verfassungshistoriker sprechen in diesem Zusammenhang vom „Etterbezirk" und von „Twing und Bann". 55 ) Das Gericht folgt dieser Entwicklung, der entsprechende Terminus lautet „Verdorfung des Gerichts". 56 ) Am Ende steht die Dorfgemeinde mit ihrem Dorfgericht. Im zweiten Fall wird das Gericht zur politischen Gemeinde. Die überlokale Gerichtsgemeinde eignet sich allmählich politische Funktionen an, bis sie schließlich zum eigentlichen politischen und staatlichen Integrationskörper wird.57) Unterhalb dieser politischen
M
) Vgl. etwa Aebersold, Saanen (wie Anm.43), 30ff. ) K. S. Bader, Über Herkunft und Bedeutung von Zwing und Bann, in: ZGO 50, 1937, 617-637. Bader setzte sich in diesem Aufsatz kritisch mit den Thesen Hermann Wießners auseinander und widerlegte sie auf überzeugende Weise. Vgl. H. Wießner, Twing und Bann. Eine Studie über Herkunft, Wesen und Wandlung der Zwing- und Bannrechte. 1935. ") Bader, Dorfgemeinde (wie Anm.6), 344, dabei ist nicht etwa an eine direkte Kontinuität älterer Formen der niederen Gerichtsbarkeit im Rahmen des Hofrechts zu denken. ") Stolz, Gerichte Deutschtirols (wie Anm.5), 249 ff. - Burmeister, Gerichte 55
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Gerichtsgemeinde können dann siedlungsbezogene politische Einheiten weiterbestehen, auch Dorfgemeinden, aber deren politische Kompetenzen sind dann der überlokalen Gerichtsgemeinde nachgeordnet. Auf diese Weise läßt sich das Entstehen der politischen Gerichtsgemeinden im Alpenraum erklären. Zunächst zum ersten Fall, zum Dorfgericht. Aus der Literatur ergibt sich, daß die Verfassung der Dorfgerichte eine noch erheblich größere Vielfalt von Formen und Varianten aufweist, als die der Dorfgemeinde selbst.58) In der Pfalz, an der Saar und am Oberrhein begegnen häufiger Dorfgerichte, die aus 12 Schöffen unter dem Vorsitz des Schultheißen gebildet werden. Es gibt daneben Gerichte mit einer kleineren Anzahl von Schöffen. Als Vorsitzender des Gerichts fungiert in der Regel der Gemeindevorsteher, daher erscheinen hier neben „Schultheiß" auch die Bezeichnungen „Ammann" oder „Vogt". An die Stelle des Begriffs „Schöffe" können sehr verschiedenartige Bezeichnungen treten, etwa Gerichtsmann, Rechtsprecher, Geschworene, Urteiler oder Richter, und zwar wiederum in unterschiedlicher Zahl. Grundsätzlich erfolgt die Aufteilung der Funktionen derart, daß die Urteilsfindung allein Sache der Geschworenen oder Schöffen, also der Beisitzer, ist, während der Vorsitzende die Wahrung der Verfahrensform verbürgt. Abgestuft sind die Kompetenzen der Dorfgerichte. Zum mindesten urteilt das Gericht über den Bereich der bäuerlichen „Einung", d.h. über den Rechtsbereich, der der gemeindlichen Vereinbarung unterliegt. Dazu gehören Verstöße gegen genossenschaftliche Ordnungen im wirtschaftlichen Bereich, Grenzverletzungen, Übertretungen dörflicher Ordnungen etwa zum Feuerschutz usw. Eine zentrale Aufgabe besitzt das Dorfgericht in dem Bereich, den man heute „privatrechtlich" nennen würde: Das Dorfgericht sorgt für die Beurkundung von Grundstücksgeschäften und allgemein für rechtliche Sicherheit in Fragen, die mit Eigentums- und Erbrechten in Zusammenhang stehen. 59 ) Über den genossenschaftlichen Bereich geht die dörfliche Gerichtsbarkeit jedoch in der Regel hinaus. Fortsetzung
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Vorarlbergs (wie Anm. 10), 37 f. - Meuli, Gemeinden im Oberengadin (wie Anm.9), 24 ff. 58 ) Zusammenfassend Bader, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 342-363. Thumm, Hohenlohe (wie Anm. 15), 214-257. - Scherer, Nassau-Saarbrücken (wie Anm. 15), 95-118. 5 ®) Bader, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 359 f.
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Vor dem Dorfgericht werden strittige Fragen der Rechtsabgrenzung zwischen Herrschaft und Gemeinde entschieden, Verstöße gegen die Dorfordnung sanktioniert und individuelle Fehlhandlungen strafrechtlich geahndet. 60 ) Als Ruggericht bestraft das Gemeindegericht Raufhändel oder Ehrverletzungen, wobei neben der Geldbuße auch Haft verhängt werden kann („Stock"). 61 ) Mit diesen Aufgaben reicht das Dorfgericht in die herrschaftliche Rechtssphäre hinein. Es nimmt Funktionen wahr, die dem staatlichen Bereich der Rechtsund Friedenswahrung zuzuordnen sind. Von daher ist es zu verstehen, daß auch die Besetzung des Gerichts meist nicht ausschließlich in der Hand der Gemeinde liegt. Neben dem Vorsitzenden des Gerichts, an dessen Wahl die Herrschaft ohnehin beteiligt ist, unterliegt auch die Bestellung der Richter oder Geschworenen in irgendeiner Form der herrschaftlichen Einflußnahme, zumindest derart, daß die von der Gemeinde gewählten oder vom Gericht selbst kooptierten Mitglieder von der Herrschaft bestätigt und vereidigt werden. In anderen Fällen ist die Herrschaft auch direkt an der Bestellung beteiligt.62) Zum zweiten Fall : Aus dem Gericht entwickelt sich eine politische Gemeinde. Dieser Prozeß ist bei den Gerichtsgemeinden Vorarlbergs, Tirols und Graubündens zu konstatieren. Ausgangspunkt ist dabei jeweils ein Gericht, das auf unterschiedliche historische Ursprünge zurückgehen kann. So sind die Gerichtsgemeinden in Vorarlberg meist älteren herrschaftlichen Einheiten zuzuordnen, die allmählich dem habsburgischen Territorialbesitz zugefügt wurden, ohne daß dabei eine einheitliche Gesamtstruktur des Territoriums durchgesetzt wurde. 63 ) In Tirol hingegen und teilweise auch in Graubünden gehen die Landgerichte häufig auf ältere Grafschaftseinteilungen zurück, auf denen die Landesherrschaft dann ihre administrative und gerichtliche Gliederung aufbaute. 64 ) Der Sprengel dieser Gerichte ist meist siedlungsübergreifend. Zwar gibt es einige Tiroler Landgerichte, die im Kern mit einer größeren Dorfsiedlung identisch sind, aber in der Regel werden einige Kernsiedlungen zusammen mit Weilern und Einzelhöfen in einem Gerichtssprengel 60
) Ebd. 360 f. ) Ebd. 362. - Eine differenzierte Auflistung der Zuständigkeitsbereiche bei Scherer, Nassau-Saarbrücken (wie Anm. 15), 99-106. 62 ) Bader, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 348 f. ") Blickte, Landschaften (wie Anm. 45), 255-262, 267 ff., 295-314. ") Stolz, Gerichte Deutschtirols (wie Anm. 5), 115 ff. 61
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vereinigt.65) Das Gericht ist dabei nicht nur als rechtliche Formation, sondern auch als politisch-administrative Einheit zu verstehen. In ihrem engeren jurisdiktioneilen Aufgabenbereich fungieren die Gerichte zumindest als Niedergericht, nicht selten kommt ihnen auch die Hochgerichtsbarkeit zu. In Tirol ist dabei die Besonderheit zu berücksichtigen, daß die ca. 20 geistlichen und adeligen Hofmarken im Territorium zwar jeweils über eine spezifische grundherrliche Gerichtsbarkeit verfügen, aber dennoch die Niedergerichtsbarkeit der Landgerichte für die Agrarverfassung zentral ist. Bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurde in Tirol vom Landesherrn durchgesetzt, daß strittige Fragen zum Erbbaurecht, der in Tirol am weitaus stärksten verbreiteten Leiheform, vor den Landgerichten zu entscheiden sind.") Den Vorsitz in den Gerichten führt ein Ammann, Pfleger oder Richter, wobei die Mitwirkung der Gerichtsgemeinde bei seiner Bestellung unterschiedlich ist. Während in den Gerichtsgemeinden Vorarlbergs und Graubündens tendenziell das Schwergewicht der Entscheidung bei den Gerichtsgemeinden liegt, sind derartige Mitwirkungsrechte in Tirol zurückgedrängt worden zugunsten eines Ernennungsrechts des Landesherrn. 67 ) In der Regel versammelte sich die Gerichtsgemeinde zweimal jährlich zu einer Gerichtsversammlung, zu der alle dem Gericht unterworfenen Männer zu erscheinen hatten („ehehaft täding"). 68 ) Das allgemeine Aufgebot zur Gerichtsversammlung erging auch, sofern hochgerichtliche Fälle zu entscheiden waren. Kleinere niedergerichtliche Fälle erledigte das Gericht bei periodischen Sitzungen, wobei entweder der Richter selbst für einen hinreichenden Umstand aus der Gerichtsgemeinde zu sorgen hatte oder gewählte Geschworene an die Stelle des Umstandes traten. Dieses Prinzip setzte sich schließlich allgemein durch, in Tirol wurde die Geschworenenverfassung am Ende des 15. Jahrhunderts allgemein eingeführt. Die Geschworenen wurden teilweise von der Gerichtsgemeinde gewählt, teilweise auch vom Geschworenenkollegium kooptiert und von der Gerichtsherrschaft lediglich bestätigt. Ähnlich der Verfassung der Dorfgerichte findet sich auch in diesen überlokalen Gerichten eine ") Ebd. 213-216, 220 ff. ") Wopfner, Lage Tirols (wie Anm.8), 10 f. ") Blickte, Landschaften wie Anm.45), 304-307. - Meuli, Gemeinden im Engadin (wie Anm.9), 26-28. - Wopfner, Lage Tirols (wie Anm.8), 157. 68 ) Ebd. 158 ff.
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Funktionsteilung dergestalt, daß der Vorsitzende des Gerichts lediglich für die Einberufung und Versammlungsleitung zuständig ist, während das Urteil von der Gerichtsgemeinde bzw. den Geschworenen gesprochen wird. 69 ) Die politisch-staatlichen Funktionen der Gerichtsgemeinden gehen auf zwei verschiedene Wurzeln zurück. Teilweise war der Gerichtsverband von vornherein auch als politische Gemeinde konstituiert, die ihre spezifischen Selbstverwaltungsaufgaben analog der Dorfgemeinde wahrnahm. Teilweise wuchsen den Gerichten aus der territorialen Verfassungsentwicklung politische Funktionen zu. Dieser zweite Aspekt ist vor allem für Tirol wichtig, wo die Gerichte im 14. und 15. Jahrhundert allmählich in die Landstände integriert wurden. Daraus erwuchsen für die Gerichtsgemeinden sowohl neue personelle als auch funktionale Kompetenzen. Üblicherweise wurden die Tiroler Gerichte auf den Landtagen durch zwei Abgeordnete vertreten, die von der Gerichtsgemeinde gewählt wurden. 70 ) Das Ergebnis der Landtagsverhandlungen wurde wiederum von der Gerichtsgemeinde angenommen oder verworfen. 71 ) Die Einbindung der Gerichtsgemeinden in das Gesamtgefüge des Territoriums führte zu spezifischen Aufgaben 72 ), etwa bei der Steuerumlage, bei der Organisation des Wehrwesens oder bei der Fortentwicklung der territorialen Rechtsordnung (Landesordnung). Anders als die Dorfgemeinden, die in ihrer politischen Aufgabenstellung vorrangig auf einen abgegrenzten lokalen Gestaltungsbereich orientiert sind, erscheint die Gerichtsgemeinde als ein Gemeindetyp, der auf Außenwirkung und überlokale politische Organisation angelegt ist. Diese Feststellung ließe sich nicht nur durch die Funktionen der Gerichtsgemeinden Tirols untermauern, sondern auch durch die Rolle der Gerichtsgemeinden Graubündens und der ähnlich angelegten Zenden des Wallis.
69
) ) 71 ) n ) 70
Ebd. 161. Blickte, Landschaften (wie Anm.45), 176. Ebd. 178. Ebd. Insbesondere zu den Funktionen der Landschaft, 476-564.
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4. Zur Rekrutierung der gemeindlichen Amtsträger Die Frage nach der Rekrutierung der kommunalen Funktionsträger ist im Frageraster der Günzburger Tagung getrennt für Gemeinde und Gericht ausgewiesen, es bietet sich jedoch an, beide Bereiche zusammenzufassen, weil sich im Hinblick auf die soziale Zuordnung keine wesentlichen Unterschiede ergeben. In der Literatur wird vielfach die Auffassung vertreten, daß der Zugang zu gemeindlichen Ämtern an den Besitz gebunden ist, daß also in der gemeindlichen Führungsschicht vor allem die wohlhabenden Bauern zu finden sind. In diesem Sinn hat Bader von Dorfpatriziaten gesprochen 73 ), die einen exklusiven Zugang zu den Ämtern aufwiesen. Günther Franz hat im Z u s a m m e n h a n g einer Untersuchung zu den Führungsschichten im Bauernkrieg darauf hingewiesen, d a ß auf der mittleren Führungsebene gemeindliche Funktionsträger dominieren, die auch er den wohlhabenden Schichten zuordnet. 7 4 ) In den Studien eines 1975 publizierten Sammelbandes zu den bäuerlichen Führungsschichten wurden vielfach ähnliche Thesen formuliert. 75 ) Folgte man dieser Auffassung, so wäre der Typus des gemeindlichen Amtsinhabers mit dem von Max Weber geprägten Begriff des „Honoratioren" 7 6 ) zu beschreiben. „ H o n o r a t i o r e n " sind danach solche Personen, die erstens kraft ihrer ökonomischen Lage imstande sind, kontinuierlich nebenberuflich in einem Verband leitend oder verwaltend unentgeltlich tätig zu sein (Abkömmlichkeit), und die zweitens ein besonderes Ansehen genießen, so daß sie schließlich traditional für bestimmte Ämter herangezogen werden. Insbesondere das Problem der Abkömmlichkeit läßt den skizzierten Typus des Honoratioren plausibel erscheinen. Man wird annehmen können, d a ß wohl nur ein wohlhabender Bauer seinen Hof verlassen konnte, um etwa als Abgesandter seines Gerichts an Tiroler Landtagen teilnehmen zu können. Auf einen anderen Aspekt hat Francis Rapp hingewiesen, indem er an elsässischen Beispielen die vielfältigen ökonomischen Abhängigkeiten aufgezeigt hat, die zwischen reichen, im Handel tätigen Bauern und den bei ihnen häufig 73
) Bader, Altschweizerische Einflüsse (wie Anm. 2), 430-440. ) G. Franz, Die Führer im Bauernkrieg, in: Ders. (Hrsg.), Bauernschaft und Bauernstand 1500-1970. Büdinger Vorträge 1971-1972. 1975, 1-15. - Ähnlich A. Waas, Die Bauern im Kampf um Gerechtigkeit 1300-1525, 1964, 16. '5) G. Franz (Hrsg.), Bauernschaft und Bauernstand 1500-1970. Büdinger Vorträge 1971-1972. 1975. 76 ) M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Aufl. 1976, § 20, 170f. 74
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verschuldeten ärmeren Gemeindegenossen bestanden. 77 ) Diese Abhängigkeiten ließen sich auch politisch, beim Abstimmungsverhalten in der Gemeindeversammlung nutzen. Gegen die verbreitete Auffassung, daß die gemeindlichen Ämter vorzugsweise einer durch Besitz ausgewiesenen bäuerlichen Oligarchie vorbehalten waren, lassen sich jedoch auch Gegenargumente anführen. Wichtig ist vor allem die Feststellung, daß quantifizierende empirische Untersuchungen bislang kaum vorhanden sind. Die Argumentation stützt sich fast durchgängig auf Einzelbeispiele. Eine der ganz wenigen empirischen Untersuchungen, eine 1977 von Renate Blickle publizierte Studie zur Rekrutierung der Obleute im niederbayerischen Landgericht Griesbach zwischen 1474 und 15 3 878), kommt sogar zu dem entgegengesetzten Resultat, daß die Besitzgröße keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle spielte. Eine Untersuchung Peter Blickles zu den Ammännern in den vorarlbergischen Gerichten Mittelberg und Bregenzerwald 79 ) gibt gleichfalls keine Aufschlüsse über Erblichkeit und Oligarchisierung, eher im Gegenteil. Wenn schon auf der Ebene der Dorfvorsteher und Gerichtsvorsitzenden eine generalisierende soziale Zuordnung nach dem bisherigen Forschungsstand nicht möglich ist, so läßt sich dies noch viel weniger für die Ebene der Vierer und Gerichtsgeschworenen leisten. Allein schon der Umstand, daß diese Ämter gelegentlich auch im Reihendienst oder im Amtszwang 80 ) besetzt wurden, spricht gegen eine Eingrenzung der Rekrutierungsbasis auf die wohlhabenden Bauern. Die Honoratiorenthese bleibt vorläufig eine These.
5. Zum Friedegebot Friedewahrung ist eine der zentralen staatlichen Aufgaben, was in der strikten Reglementierung des Friedegebots in der altständischen Gesellschaft seinen Ausdruck findet. Wie sensibel und konfliktträchtig dieser Bereich ist, mag an einem Beispiel gezeigt werden: In Bern begann 1469 ein langwieriger Verfassungskonflikt um ") F. Rapp, Die bäuerliche Aristokratie des Kochersberges, in : Franz (Hrsg.), Bauernschaft (wie Anm.75), 89-101. 78 ) R. Blickle-Littwin, Besitz und Amt. Bemerkungen zu einer Neuerscheinung über bäuerliche Führungsschichten, in: ZBLG 40, 1977, 277-290. ") Blickle, Landschaften (wie Anm.45), 309 f. 80 ) Bader, Dorfgemeinde (wie Anm.6), 313.
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die Abgrenzung städtischer Hoheitsrechte und adeliger Herrschaftsrechte in einzelnen, dem städtischen Territorium eingegliederten Herrschaften. Dieser als Berner Twingherrenstreit bezeichnete Konflikt nahm seinen Ausgangspunkt, als ein städtischer Freiweibel auf einer Hochzeit in der Twingherrschaft Worb den Frieden gebot und daraufhin vom Herrschaftsinhaber inhaftiert wurde. 81 ) Daß gemeindliche Funktionsträger berechtigt sind, den Frieden zu gebieten, unterstreicht daher die Partizipation der Gemeinde an staatlichen Funktionen, letztlich auch ihren staatlichen Charakter insgesamt. Als Beleg für die Verhältnisse in den Gemeinden mag eine Quelle zitiert werden, die das Friedegebot besonders differenziert erörtert. In einer Ottobeurer Klosterordnung von 1540 wird die Hierarchie des Friedebietens festgelegt 82 ): „Wir sötzen, wollen und ordnen, das alle unsere amtleuth, hauptleuth, vierer und diener, auch ob deren kainer entgegen, jeder geschworner richter, desgleich, so obgeruertter personen kaine vorhanden were, ain jeder gerichtsverwandter und hindersess, auch ain jeder innwoner oder gast, ob auffroren, gefecht und empörungen ersteen würden, den friden zu gepietten macht haben sollen." Zugleich wurden hohe Geldstrafen für diejenigen festgesetzt, die dem Friedegebot nicht folgten (zwischen 5 und 20 Pfund Heller). Daß die hier für Ottobeuren zitierte Regelung als repräsentativ gelten kann, hat eine systematische Untersuchung der von Paul Gehring edierten Rechtsquellen für das nördliche Oberschwaben gezeigt.83) Danach ist das Recht zum Friedebieten für 80% der Dörfer belegt. Die Partizipation an der hoheitlichen Funktion der Friedewahrung, die Beteiligung an der Rechtsetzung via kommunale Satzung und die Integration in die Rechtsprechung über die gemeindlichen Gerichte sicherten den ländlichen Gemeinden im oberdeutschschweizerischen Raum bei allen Unterschieden der Formen und regionalen Ausprägungen eine staatliche Qualität. Diese Feststellung 81
) H. Rennefahrt, Grundzüge der bernischen Rechtsgeschichte. Teil 3. 1933, 21. 82 ) Blickle-Blickle (Bearb.), Schwaben (wie Anm.34), Nr.94, 356. 83 ) P. Blickle, Die staatliche Funktion der Gemeinde - Die politische Funktion der Bauern. Bemerkungen aufgrund von oberdeutschen Ländlichen Rechtsquellen, in: Ders. (Hrsg.) Deutsche ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung. 1977, 205-223.
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wird nicht dadurch gemindert, daß die staatlichen Funktionen meist in einer gemeinsamen Trägerschaft von Gemeinde und Obrigkeit wahrgenommen wurden. In der dualistischen Verfassungsstruktur von Herrschaft und Gemeinde bildete das kommunale Element nicht von vornherein den schwächeren Teil. Der Dualismus konnte - das zeigt ein Blick auf Graubünden, das Wallis und die alte Eidgenossenschaft - auch zur gemeindlichen Seite hin aufgelöst werden. Und selbst dort, wo sich die Gewichte zur herrschaftlichen Seite hin verschoben, war die Gemeinde nicht einfach als Unterabteilung in das obrigkeitliche Herrschafts- und Verwaltungssystem einzugliedern. Die Gemeinden verkörperten ein eigenständiges, im Kern egalitäres Prinzip, das in der Wahl der Funktionsträger, in der eigenverantwortlichen Regelung der kommunalen Verhältnisse und in der Vereinbarung der Normen des Zusammenlebens seinen Ausdruck fand. In dieser grundsätzlichen Bauform bestand zwischen ländlichen und städtischen Gemeinden keine Differenz. Warum sich diese strukturelle Verwandtschaft von Stadt- und Landgemeinden in der Frühneuzeit nicht auch jenseits der Schweiz in eine dauerhafte und historisch prägende Verbindung hat umsetzen lassen, kann an dieser Stelle nicht erörtert werden. Die Frage jedenfalls scheint noch unbeantwortet. Sie hat sich bereits dem jungen Karl Siegfried Bader gestellt, der 1937 mit einem bedauernden Blick über den Rhein hervorhob: „Kein einziges Bündnis gelingt außerhalb der Schweiz zwischen Stadt und Dorf." 84 )
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) Bader, Altschweizerische Einflüsse (wie Anm.21), 425.
DIE STÄDTISCHE GEMEINDE IM OBERDEUTSCH-SCHWEIZERISCHEN RAUM (1300-1800) VON EBERHARD ISENMANN
Ausgangspunkt der kommunalen Phase der Stadtgeschichte stehen als wesentliche Faktoren die Schwureinung der Bürger und die Gründung von Willkürrecht und Bürgerpflichten auf den Bürgereid.1) Die Konstituierung des bürgerlichen Schwurverbandes zur handlungsfähigen Bürgergemeinde, die Verwillkürung eigenen Rechts und die Ausformung eigener Leitungs- und Verwaltungsinstanzen sind nur eine Seite des Kommunalisierungsprozesses als Durchsetzung gemeindlicher Autonomie und Autokephalie, wie Max Weber die Bestellung eines eigenen Verwaltungsstabes nennt.2) Friedensrechtlicher Selbstschutz, polizeiliche Selbstregulierung und Selbstverwaltung werden angesichts einer nur unvollständigen Ortsherrschaft des Stadtherrn, durch Unzulänglichkeiten des dinglichen, ') Grundlegend: W. Ebel, Die Willkür. Eine Studie zu den Denkformen des älteren deutschen Rechts. 1953. Ders., Der Bürgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts. 1958. Ders., Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland. 2. Aufl. 1958, 20-25, 53 ff. G. Dilcher, Rechtshistorische Aspekte des Stadtbegriffs, in: H. Jankuhn - W. Schlesinger - H. Steuer (Hrsg.), Vor- und Frühformen der europäischen Stadt im Mittelalter. I.Teil. 2.Aufl. 1975, 20ff. Vgl. zusammenfassend E. Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250-1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. 1988, 89-93. Zur Kategorisierung der stadtbürgerlichen Eidverbrüderung und Verbandsbildung als „nichtlegitime Herrschaft" bei M. Weber s. K. Schreiner, Die mittelalterliche Stadt in Webers Analyse und Deutung des okzidentalen Rationalismus. Typus, Legitimität, Kulturbedeutung, in: J. Kocka (Hrsg.), Max Weber, der Historiker. 1986, 119-150. 2 ) M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Hrsg. von J. Winckelmann. 5. Aufl. 1972, 26 f., 736, 788 ff.
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stadtherrlichen Burg- und Marktfriedens und eine wachsende Differenzierung des städtischen Wirtschafts- und Soziallebens begünstigt und erforderlich. Der zweite Aspekt der Kommunalisierung betrifft die Ablösung und Aneignung herrschaftlicher, d.h. stadtherrlicher, auf Vogtei, Gericht, Markt-, Zoll- und Münzregal beruhender Befugnisse, Ämter und Gerechtsame, deren Überführung in die Zuständigkeit v o n Rat und Gemeinde, ohne daß damit die Stadtherrschaft insgesamt erloschen wäre. Ein v o n den Freien Städten abgesehen jederzeit virtuell vorhandenes und je nach politischer Konjunktur, auch entsprechend territorialer Verdichtungsvorgänge aktiviertes oder durch Auseinandersetzungen zwischen Rat und G e m e i n d e provoziertes Interventionsrecht des Stadtherrn blieb bestehen. Was nun die relativ weitreichende A u t o n o m i e der für Oberdeutschland und insbesondere den deutschen Südwesten charakteristischen Reichsstädte groß- bis kleinstädtischen Zuschnitts anlangt, so sind unterschiedliche Züge hervorzuheben. D i e Reichsstädte 3 ) 3
) P. Moraw, Reichsstadt, Reich und Königtum im späten Mittelalter, in: Z H F 6, 1979, 385-424. E. Isenmann, Reichsstadt und Reich an der Wende vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit, in: J. Engel (Hrsg.), Mittel und Wege früher Verfassungspolitik. 1979, 9-223. K. O. Müller, Die oberschwäbischen Reichsstädte. Ihre Entstehung und ältere Verfassung. 1912. E. Naujoks, Obrigkeitsgedanke, Zunftverfassung und Reformation. Studien zur Verfassungsgeschichte von Ulm, Eßlingen und Schwäbisch Gmünd. 1958. E. Maschke, Verfassung und soziale Kräfte in der deutschen Stadt des späten Mittelalters, vornehmlich in Oberdeutschland, in: VSWG 46, 1979, 289-349, 433-476. H. Rabe, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte. Rechtsgeschichtliche Untersuchungen über die Ratsverfassung der Reichsstädte Niederschwabens bis zum Ausgang der Zunftbewegungen im Rahmen der oberdeutschen Reichs- und Bischofsstädte. 1966. P. Eitel, Die oberschwäbischen Reichsstädte im Zeitalter der Zunftherrschaft. Untersuchungen zu ihrer politischen und sozialen Struktur unter besonderer Berücksichtigung der Städte Lindau, Memmingen, Ravensburg und Überlingen. 1970. G. Pfeiffer, Stadtherr und Gemeinde in den spätmittelalterlichen Reichsstädten, in: W. Rausch (Hrsg.), Die Stadt am Ausgang des Mittelalters. 1974, 201-223. P.-J. Heinig, Reichsstädte, Freie Städte und Königtum 1389-1450. Ein Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte. 1983. P. F. Kramml, Kaiser Friedrich III. und die Reichsstadt Konstanz (1440-1493). Die Bodenseemetropole am Ausgang des Mittelalters. 1985. A. Niederstätter, Kaiser Friedrich III. und Lindau. Untersuchungen zum Beziehungsgeflecht zwischen Reichsstadt und Herrscher in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. 1986. B. Moeller, Reichsstadt und Reformation. 1962. P. Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil. 1985. H. R. Schmidt, Reichsstädte, Reich und Reformation. Korporative Religionspolitik
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huldigten dem königlichen Stadtherrn, zahlten vogteiliche Jahressteuern und wurden im Spätmittelalter gelegentlich zu außerordentlichen Leistungen herangezogen, auch zu solchen, die nicht durch H o f - oder Reichstage vermittelt wurden. Daneben unterlagen sie gewissen Gastungspflichten. Auch die ständische Stellung der Reichsstädte auf den Reichstagen wurde von ihrer speziellen Beziehung zum König mitgeprägt. 4 ) Zum einen verlangte die königliche Seite von den Reichsstädten gelegentlich unter Androhung des Privilegienentzugs einen gegenüber den adlig-fürstlichen Reichsständen erhöhten Gehorsam, zum anderen suchten die Reichsstädte - und Freien Städte - im 15. und 16. Jahrhundert gegen ihre Majorisierung durch die kurfürstliche und fürstliche Kurie, die sie ausdrücklich als partielle Mediatisierung betrachteten, Rekurs und Schutz bei ihrem königlichen Herrn. Grundsätzlich waren die Beziehungen der Reichsstädte zum K ö n i g zugleich herrschaftlicher und - eingeschränkt und subordiniert - ständischer Natur, vergleichbar derjenigen der Territorial-
FortSetzung Fußnote von Seite 192 1521-1529/30. 1986. Th. A. Brady, Turning Swiss. Cities and Empire 1450-1550. 1985. O. Borst, Zur Verfassung und Staatlichkeit oberdeutscher Reichsstädte am Ende des alten Reiches, in: Esslinger Studien 10, 1964, 106-194. K. S. Bader, Die oberdeutsche Reichsstadt im alten Reich, in: ebd. 11, 1965, 23-42. V. Press, Die Reichsstadt in der altständischen Gesellschaft, in: J. Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. 1987, 9-42. Ders., Reichsstadt und Revolution, in: B. Kirchgässner - E. Naujoks (Hrsg.), Stadt und wirtschaftliche Selbstverwaltung. 1987, 9-59. M. Walker, German Home Towns. Community, State, and General Estate, 1448-1871. 1971. ") Isenmann, Reichsstadt und Reich (wie Anm.3), 89-189. Ders., Zur Frage der Reichsstandschaft der Frei- und Reichsstädte, in : F. Quarthai - W. Setzier (Hrsg.), Stadtverfassung - Verfassungsstaat - Pressepolitik. Festschrift für E. Naujoks. 1980, 91-110. M. Meyer, Die Haltung der Vertreter der Freien und Reichsstädte auf den Reichstagen 1521 bis 1526, in: JbGFeud 5, 1981, 181-236. G. Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung. Eine Untersuchung zur korporativen Politik der Freien und Reichsstädte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 1984. Schmidt, Reichsstädte, Reich und Reformation (wie Anm.3). H. Gollwitzer, Bemerkungen über Reichsstädte und Reichspolitik auf der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, in: H. Jäger u.a. (Hrsg.), Civitatum Communitas. Studien zum europäischen Städtewesen. Festschrift H. Stoob. 1984, 488-516.
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Städte 5 ) zu ihrem Stadt- u n d Landesherrn, w e n n sie in eine landständische Verfassung e i n g e b u n d e n waren. D i e Lösung v o m königlichen Stadtherrn u n d die A b l e h n u n g der Wormser Reichsreform v o n 1495, d . h . vor allem die Exemtion v o n der Jurisdiktion des Kammergerichts u n d v o n den steuerlichen A n f o r d e r u n g e n des G e m e i n e n Pfennigs s o w i e der Reichsmatrikel, machten indessen für die eidgenössischen Reichs- u n d Freistädte trotz weiterbestehender formeller Reichszugehörigkeit den Weg frei zur Konstituierung als freie „ R e p u b l i k e n " innerhalb der sich nicht als Republik, sondern als „ C o r p u s " b e z e i c h n e n d e n Eidgenossenschaft. 6 ) 5
) Zu den Territorialstädten s. die Beiträge von V. Press und R. Endres in diesem Band. Für unsere Frage nach der Gemeinde in der Stadt, nicht nach der Stadtgemeinde, finden sich hinsichtlich der Territorialstädte nur spärliche Hinweise. R. Seigel, Gericht und Rat in Tübingen. Von den Anfängen bis zur Einführung der Gemeindeverfassung 1818-1822. 1960. Ders., Die württembergische Stadt am Ausgang des Mittelalters. Probleme der Verfassungsund Sozialstruktur, in : W. Rausch (Hrsg.), Die Stadt am Ausgang des Mittelalters. 1974, 177-193. K. Drollinger, Kleine Städte Südwestdeutschlands. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Städte im rechtsrheinischen Teil des Hochstifts Speyer bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. 1968. H. E. Specker, Die Verfassung und Verwaltung der württembergischen Amtsstädte im 17. und 18. Jahrhundert, in: E. Maschke - J. Sydow (Hrsg.), Verwaltung und Gesellschaft in der südwestdeutschen Stadt des 17. Jahrhunderts. 1969, 1-21. W. Leiser, Privilegierte Untertanen. Die badischen Städte im Ancien Régime, in: ebd. 22-45. F. Laubenberger, Die Freiburger Stadtverwaltung im 17. und 18. Jahrhundert und ihre gesellschaftliche Struktur, in: ebd. 46-65. J. Sydow, Tübingen und seine Stadtherren als Beispiel der Entwicklung in einer südwestdeutschen Territorialstadt, in: W. Rausch (Hrsg.), Stadt und Stadtherr im 14. Jahrhundert. Entwicklungen und Funktionen. 1972, 283-300. Ders., Landesherrliche Städte des deutschen Südwestens in nachstaufischer Zeit, in: B. Diestelkamp (Hrsg.), Beiträge zum spätmittelalterlichen Städtewesen. 1982, 18-33. Ders., Die Klein- und Mittelstadt in der deutschen Geschichte, in: H.-P. Becht (Hrsg.), Pforzheim im Mittelalter. 1983, 9-38. W. Grube. Amt und Stadt in Altwürttemberg, in: E. Maschke - J. Sydow (Hrsg.), Stadt und Umland. 1974, 20-28. F. Quarthai. Die Verfassungsänderungen in den Städten Vorderösterreichs im Rahmen der Staatsreformen Maria Theresias, in: Quarthai - Setzier (Hrsg.), Stadtverfassung (wie Anm.4), 121-138. 6
) Vgl. U. Im Hof, Ancien Régime, in: Handbuch der Schweizer Geschichte. Bd. 2. 1977, 675, Anm.2. W. Mager, Respublica und Bürger. Überlegungen zur Begründung frühneuzeitlicher Verfassungsordnungen, in: G. Dilcher (Red.), Res publica. Bürgerschaft in Stadt und Staat. 1988, 69 f. Angesichts der Landeshoheit der Reichsstädte ist Johann Jacob Moser der Ansicht, daß die Reichsstädte zumindest völkerrechtlich betrachtet Republiken seien.
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Von ihrer Entstehung her repräsentierte die Bürgergemeinde eine genossenschaftliche, also horizontal-gleichheitliche Bauform von Rechts- und Sozialbeziehungen und bildete einen Kontrapunkt zur vertikal-herrschaftsständischen, hierarchischen Ordnung, die der Stadtherr gegenüber der Stadt verkörperte. 7 ) Die Genossenschaft der Bürger tritt im oberdeutsch-schweizerischen Raum bis zur Mediatisierung der deutschen Reichsstädte 1802/06 und bis zur Helvetica von 1798 auf den Schwörtagen in Erscheinung. 8 ) Auf den Schwörtagen werden Rat und Bürgermeister jährlich oder halbjährlich vor versammelter Gemeinde auf Nutzen und Ehre von Stadt und Bürgern vereidigt. Die auf der Grundlage gegenseitiger Treue, Freundschaft und Hilfe konstituierte Gemeinde, verschiedentlich auch die Gesamtbürgerschaft und alle eidesfähigen Einwohner, leisten als andere Partei des Gesamtschwurs dem neuen Kleinen Rat und dem Bürgermeister den Treue- und Gehorsamseid. Hier werden Verfassungsdokumente, Satzungen und Verordnungen oder Teile davon den Bürgern und Einwohnern zur Erinnerung und Verpflichtung öffentlich verlesen, von diesen vielfach auch beschworen. Gelegentlich wird auch im vorhinein ein Schwur auf künftige Satzungen geleistet. Durch diese regelmäßige Teilreproduktion eines Urvorgangs der Gemeindebildung an den Schwörtagen mit ihren vielfältigen lokalen Varianten in der Form
Fortsetzung Fußnote von Seite 194 Teutsches Staats-Recht. Buch 3. Kap. 118. Sectio 1. § 4 = Teil 39, 1749 [Neudruck 1969], 281. Vgl. Mager, Respublica (wie Anm.6), 73. Zur zögerlichen Lösung der eidgenössischen Orte vom Reich seit 1495 s. H. C. Peyer, Verfassungsgeschichte der alten Schweiz. 1978, 75 ff. Dort wie in den beiden Bänden des Handbuchs der Schweizer Geschichte (1972, 1977) finden sich knapp gezeichnete Entwicklungslinien für die Schweizer Städte. Vgl. noch D. W. H. Schwarz, Die Städte der Schweiz im 15.Jahrhundert, in: Rausch (Hrsg.), Die Stadt am Ausgang des Mittelalters (wie Anm.3), 45-59. H. C. Peyer, Schweizer Städte des Spätmittelalters im Vergleich mit den Städten der Nachbarländer, in: Ders., Könige, Stadt und Kapital. Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. 1982, 262-270. R. Braun, Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriß einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts. 1984, 143-313. ') Vgl. G. Dilcher, Zur Geschichte und Aufgabe des Begriffs Genossenschaft, in: G. Dilcher - B. Diestelkamp (Hrsg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Begriffen der germanistischen Rechtshistorie. Symposion für A. Erler. 1986, 117. 8
) Vgl. besonders Ebel, Der Bürgereid (wie Anm. 1), 11-46.
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einer coniuratio reiterata 9 ) bleibt die genossenschaftlich-gemeindliche Grundlage der Stadtverfassung auch dann noch als konstitutives rechtliches Merkmal erhalten und bildhaft in das Bewußtsein der Bürger gerückt, wenn sich die Stadt längst zur dauerhaften Korporation fortentwickelt hat, wenn gemeindliche Mitwirkungsrechte am Stadtregiment längst verkümmert sind und, wie in Ulm 1558, für den Gehorsam der Bürger - und Einwohner - mit dem Ziel „bürgerlicher Einigkeit" auch unabhängig vom Gemeindeschwur eine Begründung der Gehorsamspflicht gegenüber der Stadt als dem „Vaterland" auf der Grundlage der kaiserlichen, natürlichen und menschlichen (positiven) Rechte angegeben wird. 10 ) Mit der Bestellung eines leitenden und regierenden Ausschusses, der mit den meliores identisch sein kann, eines schließlich behördenmäßig und kontinuierlich arbeitenden Täglichen Rates, sichert sich der relativ große genossenschaftliche Bürgerverband seine Bestandsdauer und seine Handlungsfähigkeit, nimmt aber damit das herrschaftliche Prinzip in sich auf. Der Frankfurter Rat etwa bildet, wie der Lübecker, förmlich eine eigene geschworene Herrschaftsgenossenschaft, die sich im Ratseid verbindet und sich eigene Satzungen gibt.") Je mehr sich der Rat als eine eigenberechtigte, zudem von Gott eingesetzte Obrigkeit versteht, Ratswahlen auf Grund herrschaftsständischer Prätention eines Patriziats oder plutokratischer Verhältnisse sowie familialer Vernetzungen bloße Bestätigungswahlen darstellen, um so schroffer tritt das Ratsregiment in Distanz zur Bürgergemeinde. Die Beschlüsse der Ratsherren, denen der Titel „Herr (dominus)" zukommt, erscheinen dann als Herrenwillen. So bezeichnete sich der Ulmer Rat, ein Rat mit Zunftmajorität, um die Mitte des 15. Jahrhunderts als „Obrigkeit", die „ir vnderthon vnd den gemeinen manne in aller erberkeit vnd billichkait zu regieren" habe. 12 ) In dem Schwörbrief von 1558, der nach dem Verfassungsoktroi Kaiser Karls V. neu gefaßt worden war, erscheint der Ulmer Rat als der „ordenliche von Gott eingesetzte Magistrat und Ober®) Ebd. 10, 15 f. 10 ) E. Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung. Ausgewählte Aktenstücke zu den Verfassungsänderungen in den oberdeutschen Reichsstädten (1547-1556). 1985, Nr.29, 161. ") A. Wolf, Die Gesetze der Stadt Frankfurt am Main im Mittelalter. 1969, A 7 9 , 123; N r . l , 127; Nr.49, 161 f. W. Ebel, Lübisches Recht. Bd. 1. 1971, 241. I2 ) Naujoks, Obrigkeitsgedanke (wie Anm.3), 15, vgl. 11 ff., 21 ff.
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kait", dem Bürgerschaft und Gemeine „bürgerlichen Gehorsam" schuldeten. 13 ) Städtische Räte bezeichneten sich im ausgehenden 15. Jahrhundert zunehmend als die „Obrigkeit" und sprachen von der Bürgerschaft als ihren „Untertanen" und dem „gemeinen Mann". 1 4 ) Schon 1458/59 wurde in Donauwörth bekundet, daß der Rat besser wisse, was zum Wohle der Stadt diene „denn ein jeder gemeiner mann". 15 ) Wenn von den Bürgern als „Untertanen" die Rede ist, wird man allerdings zunächst noch nicht schon in jedem Fall tendenziell an den politisch entmündigten Untertanen des Absolutismus zu denken haben, beziehen sich doch die Begriffe „Obrigkeit (oberkeit, superioritas)" und „Untertanen" in ihrer rechtlichen Bedeutung auf das formale, keineswegs politisch diskriminierende amtsrechtliche Verhältnis der Überordnung der höheren Gewalt und der Unterordnung und des Gehorsams. Zur Zeit des ersten Ulmer Schwörbriefes, der die Gleichheit von Arm und Reich hervorhebt, um die Mitte des 14. Jahrhunderts also, erscheinen die Zunftgenossen als „Untertanen" des Zunftmeisters. 16 ) Die Gehorsamspflicht konnte freilich unterschiedlich scharf und einseitig formuliert werden. So hatten 1477 alle Männer über 14 Jahre sowohl der Landschaft als auch der Stadtgemeinde Berns dem Rat als „ir rechten natürlichen herschaft, die in allen sachen ganzen und vollen gewalt und macht" habe, Treue und Gehorsam zu schwören. 17 ) Umfassender konnte der Berner Rat seinen Herr-
n
) Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (wie Anm. 10), Nr. 29, 162. In Luzern bezeichneten sich die Räte seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts als die „von Gott verordnetten rechten nattürlichen herren und obern". Regierung und Verfassung wurden zu Wohltaten „göttlicher wyßheit", zu Werken „sonderer gnadrychen fürsehung Gottes deß allmechtigen"; Verfehlungen wurden als „wider Gott und die oberkeit" gerichtet erachtet. K. Messmer - P. Hoppe, Luzerner Patriziat. Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Studien zur Entstehung und Entwicklung im 16. und 17. Jahrhundert. Mit einer Einführung von H. C. Peyer. 1976, 68 f. 14 ) E. Maschke, „Obrigkeit" im spätmittelalterlichen Speyer und in anderen Städten, in: A R G 57, 1966, 7-22. Rabe, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte (wie Anm. 3), 185 f., 249 ff., 282 ff. ") Rabe, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte (wie Anm. 3), 257. ") C. Mollwo (Hrsg.), Das rote Buch der Stadt Ulm. 1905, Nr. 192, 108 ff. ") H. Rennefahrt, Grundzüge der bernischen Rechtsgeschichte. I.Teil. 1928, 35f. R. Feller, Geschichte Berns. l . B d . 1946, 432ff. Zur Herrschaftsterminologie vgl. auch F. Elsener, Rechtsgeschichtliche Anmerkungen zum Stanser Verkommnis von 1481, in: 500 Jahre Stanser Verkommnis (1481). Beiträge
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schaftsanspruch kaum darstellen. Er verband die aus der Adelswelt stammende, eigentlich dem Stadtherrn zugehörige landrechtliche Figur des dominus naturalis mit der Doktrin des römisch-kanonischen Rechts von der herrscherlichen Vollgewalt (plenitudo potestatis) des princeps 18 ); bestürzender noch ist vielleicht die ausdrückliche Erstreckung des Gebots- und Gehorsamsanspruchs auf „alle Sachen". Eine weitere legitimatorische Steigerung erlangte die Ratsobrigkeit durch die Konzeption eines ratsherrlichen Gottesgnadentums. In einer Nördlinger Ratsordnung von 1480 ist unter Berufung auf Römer 13,1 davon die Rede, daß alle Gewalt von Gott dem Herrn, „von obnen herab" sei. Wer „zu Gewalt erweit wirt", der werde also - woran die Gerechtigkeitsbilder in den Ratssälen erinnern zwar dereinst vor Gott Rechenschaft ablegen müssen, habe aber im irdischen Leben Anspruch auf klaglosen Gehorsam der Untertanen.") Der Nürnberger Ratskonsulent Dr. Christoph Scheuerl schließt in seiner Darstellung der Nürnberger Verfassung, der berühmten Epistel an Staupitz von 1516, entsprechend dem patrizischen Ratsregiment das „gemain völklein [plebeij]" von der Regierungsgewalt aus, weil „aller gewalt von got" herrühre und „das wolregirn gar wenigen", d.h. in Nürnberg der geburtsständischen Aristokratie der Geschlechter, und „allein denen so vom schöpfer aller ding und der natur mit sonderlicher weyshait [ingenium] begäbet sein verlihen ist". 20 ) Geburtsstand und natürliche Befähigung zur Herrschaft korrelieren. Die Augsburger Geschlechter betrachteten sich als „von Geburt an Herren der Stadt", doch wurde ihnen diese Auffassung 1718 von einer kaiserlichen Kommission verwie-
Fortsetzung
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zu einem Zeitbild. Hrsg. vom Historischen Verein Nidwaiden und vom Historisch-Antiquarischen Verein Obwalden. 1982, 157 ff. ") Zur zeitgenössischen Rezeption der Lehre von der plenitudo potestatis vgl. E. Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung in Konsilien reichsstädtischer Juristen (15.-17.Jahrhundert), in: R. Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates. 1986, 569 ff. ") Rabe, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte (wie Anm.3), 184. 20 ) Die Chroniken der deutschen Städte. Bd. 11. 1874, 791. Die Zugehörigkeit von acht sozial angesehenen Handwerkern aus der „gemain" zum Rat und ihre dortige untergeordnete Rolle bestätigen das herrschaftsständische Prinzip.
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sen, allerdings im Hinblick auf die übergeordnete kaiserliche Stadtherrschaft. 21 ) Die Zunftverfassung, die den Handarbeiter zur Regimentsfähigkeit erhob, bedeutete sicherlich insoweit eine revolutionäre Negation der patrizischen oder kaufmannsaristokratischen Herrschaftsauffassung. 22 ) Sie betonte zunächst zwar genossenschaftlichgemeindliche Mitwirkungsrechte, verhinderte aber auf Dauer kaum eine mehr einseitige, obrigkeitliche Ausrichtung der Stadtverfassung. Gründe dafür sind ökonomisch-soziale Ungleichheiten innerhalb der Zünfte, die Dominanz nichthandwerklicher Elemente, das Erfordernis der Abkömmlichkeit 23 ) für die Bekleidung von Ämtern, das plutokratisch-oligarchische Tendenzen fast unvermeidbar macht, aber auch in gewissem Umfang die Entwicklungslogik amtsrechtlichen Denkens. 24 ) Der frei- oder reichsstädtische Rat konnte sich - wie im Falle Speyers oder auch Lübecks - außerdem mit aktueller und politischer Zielsetzung von der Gemeinde als Legitimationsgrundlage lösen und sich über sie erheben, indem er seine Regierungsgewalt von König und Reich herleitete, sich damit die stadtherrliche Gewalt in einem Delegationszusammenhang zu eigen machte und bekundete, „als ein vogt des riches von des keisers wegen" zu regieren. 25 ) Mit 21
) I. Bátori, Das Patriziat der deutschen Stadt. Zu den Forschungsergebnissen über das Patriziat besonders der süddeutschen Städte, in : Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 2, 1975, 29. " ) Zusammenfassend (mit Literatur) Isenmann, Die deutsche Stadt (wie A n m . l ) , 190 ff., 207 ff. ") Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm.2), 170 f. Maschke, Verfassung und soziale Kräfte (wie Anm.3), 330 ff. Isenmann, Die deutsche Stadt (wie Anm. 1), 246 f. 24 ) Zur „Verwaltung kraft amtlicher Pflicht" in der mittelalterlichen Stadt s. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Hrsg. von M. Weber. 1924 [Neudruck 1988], 261. Zum Übergang von einer kaum schriftlich fixierten Ratsherrschaft und Verwaltung zu einer kontrollierten durch ein umfassenderes, fast systematisches Bücherwesen als Folge zünftiger Mitherrschaft s. O. Feger (Bearb.), Vom Richtebrief zum Roten Buch. Die älteste Konstanzer Ratsgesetzgebung. 1955, 27 ff., 34 ff., 43. U. Lindgren, Stadtrecht als Ursache und Wirkung der Verwaltung. Über die Entwicklung von Verwaltungsformen im mittelalterlichen Augsburg, in: HJb 99, 1979, 133-160. ") Maschke, „Obrigkeit" (wie Anm. 14). Vgl. auch das Gutachten des Nürnberger Ratskonsulenten Dr. Johann Müller zur Frage eines Widerstandsrechts gegen den Kaiser von 1529/30. Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (wie Anm. 18), 614.
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Hilfe der Explikationen seiner Juristen gründete der Nürnberger Rat ausgangs des 15. Jahrhunderts jenseits einer genossenschaftlichgemeindlichen Herleitung die Substanz der Ratsgewalt als Jurisdiktions- und Gesetzgebungsgewalt auf kaiserliche privilegiale Rechtsverleihung, die Verleihung des merum et mixtum imperium, und auf den römischen Begriff des ius magistratus, um sowohl den reformatorischen Eingriff in das an sich unveränderliche „Recht" als auch die „willkürliche" Statutengebung zu legitimieren. 26 ) Die allmähliche Herausbildung einer eigenen, abstrakten städtischen Verbandspersönlichkeit, einer Einheit über dem bürgerlichen Personenverband 2 7 ), förderte den obrigkeitlichen und amtsrechtlich objektivierten Charakter des Stadtregiments. Als Korporation (universitas) 28 ) besaß die Stadt unabhängig vom Mitgliederwechsel im Bürgerverband, ausgeübt durch den Rat als Korporationsvorstand, eine eigene Rechts- und Handlungsfähigkeit, insbesondere Partei- und Prozeßfähigkeit, Deliktsfähigkeit, Vermögens-, Verschuldungs- und Haftungsfähigkeit 2 9 ); es eigneten ihr ein Stadtwappen, ein Siegel, eine objektive Ehre, ein Nutzen und Frommen, durch den Begriff Notdurft (necessitas) ausgedrückt eine raison d'être sowie ein vor-
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) Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (wie Anm. 18), 572-577. W. Leiser, „Kein doctor soll ohn ein solch libell sein". 500 Jahre Nürnberger Rechtsreformation, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 67, 1980, 1-16. ") K. S. Bader faßt die Genossenschaft als „Gesamthandverhältnis", als „gesamthänderisch verbundene Vielheit" auf und spricht - hinsichtlich des Dorfes - von einem Nebeneinander von Genossenschaft und Gemeinde, von einer „dynamisch" zu verstehenden Durchdringung von beidem, die von gesamthänderisch-genossenschaftlichen zwangsläufig zu körperschaftlich-gemeindlichen Formen führe. Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde. 1974, 268, 383, 29. Vgl. Dilcher, Rechtshistorische Aspekte (wie Anm. 1), 22 f. Ders., Zur Geschichte und Aufgabe des Begriffs Genossenschaft (wie Anm. 10). D. Willoweit, Genossenschaftsprinzip und altständische Entscheidungsstrukturen in der frühneuzeitlichen Staatsentwicklung, in: Dilcher Diestelkamp (Hrsg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey (wie Anm. 7), 126 ff. 28 ) P. Michaud-Quantin, Universitas. Expressions du mouvement communautaire dans le moyen âge latin. 1970. 29 ) Zur Vermögensfähigkeit der Gemeinde der Stadt Ulm s. die Urkunde König Albrechts I. vom 17. Juni 1300; Mollwo (Hrsg.), Das rote Buch (wie Anm. 16), Nr. 193, 111. In Rottweil konnte man schon 1415 von einer „Allmend des Rats" sprechen. Rabe, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte (wie Anm. 3), 258.
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zugsweise durch einen Geheimen Rat versehener Arkanbereich. 30 ) Der herrschaftlich-obrigkeitlichen Heraushebung des Ratsregiments aus dem bürgerschaftlichen Verband entspricht auf der gleichwohl auch an konkreten kommunalen (italienischen) Verhältnissen entwickelten doktrinären juristischen Ebene, „daß bereits die Kanonisten die korporationsobrigkeitlichen Befugnisse aus der Sphäre der Gesamtberechtigung vollkommen herausheben und die Stellung des Korporationsvorstehers in die eines Vormundes und obrigkeitlichen Kontrollorgans übergehen lassen". 31 ) Der städtische Bürgerverband sah sich somit zwei unterschiedlich gearteten Herrschaftsgewalten gegenüber, einmal der ursprünglichen, feudal-herrenständischen und meist nur temporär aktivierten des Stadtherrn als des „rechten, natürlichen" oder „ordentlichen Herrn", zum andern der kollektiven, stets präsenten und kontinuierlich tätigen Herrschaft des Rates. Der Rat wird vom Bürgerverband - von Unterverbänden (Zünften), topographischen Einheiten oder Wahlmännerkollegien - durch Wahl bestimmt, oder er ergänzt sich als Herrschaftsgenossenschaft mit vielfältigen Übergängen und unter Beibehaltung rudimentärer Wahlvorgänge mehr oder weniger selbst; jedenfalls wird der Rat jährlich oder halbjährlich „verändert" oder „umgesetzt". 32 ) Schließlich sind noch einander widerstrebende Prinzipien in der Konstruktion der Ratsgewalt hervorzuheben. Zunächst wahrte die Ratsgewalt 33 ) eindrucksvolle Geschlossenheit, indem sie ohne gewaltenteilige Hemmnisse rechtsetzende, judikative und exekutive Befugnisse vereinigte, zudem Ratskommissionen und verstetigte Ratsämter aus sich heraus ausbildete und mit der Ausformung eines Geheimen Rates (Geheimer Stuben) eine weitere Herrschaftskonzentration durch fachliches und „sekretiertes 30 ) Zur nur allmählichen Herausbildung einer Verbandsperson und universitas s. J. Leist, Reichsstadt Rottweil. Studien zur Stadt- und Gerichtsverfassung bis zum Jahre 1546. 1962, 25-27. 31 ) P. Sander, Feudalstaat und bürgerliche Verfassung. Ein Versuch über ein Grundproblem der deutschen Verfassungsgeschichte. 1906, 47, Anm. 1. O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. III. 1881 [Neudruck 1954], 305, 332 f. Allgemein zum Korporationscharakter der Stadt, Bd. II. 1873, 573ff. Zur legistischen und kanonistischen Doktrin, Bd.III, 186ff., 35Iff., 416 ff. Bader, Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde (wie Anm. 27), 385-393. 32 ) In Konstanz anfänglich viermal, in Zürich dreimal jährlich. 33 ) Zusammenfassend Isenmann, Die deutsche Stadt (wie Anm. 3), 136-166.
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Dienstwissen" 34 ), das auch das politische Gewicht von Sonderbehörden wie den Steuer- und Rechnungsämtern stärken konnte, ferner durch nicht seltene Lebenslänglichkeit des Ratsamtes oder des Sitzes in Sonderbehörden eine Abschottung nach außen vornahm. Zur Gewaltenfülle kam hinzu, daß die Ratsgerichtsbarkeit nicht wie das ehemals stadtherrliche Gericht an landrechtliche strenge Verfahrensformen gebunden war; sie besaß diskretionäre Gewalt, konnte sich an polizeilichen Zweckmäßigkeitserwägungen orientieren und war auf Grund der Unterwerfung des Bürgers mit Leib und Gut, die im Bürgereid enthalten war, mit arbiträrer Strafgewalt ausgestattet. Das Ratsgericht etablierte sich noch im 13. Jahrhundert, meist im 14. Jahrhundert - mit Ausnahmen kleiner oder grundherrschaftlicher Städte - in Sachen um Schuld und Gut, Hals und Hand sowie Freiheit als Appellationsinstanz über dem ehedem stadtherrlichen Gericht (Stadtgericht), zog in Fällen von öffentlichem Interesse Zivilsachen an sich und beherrschte durch das von ihm gesteuerte inquisitorische Vorverfahren und seine Urteilsfindung die Hoch- und Blutgerichtsbarkeit des Stadtgerichts. Gegen Ende des 14.Jahrhunderts war der Blutbann, d.h. das Recht zur Vollstrekkung von Bluturteilen, vielerorts kommunalisiert. Der Rat erlangte ein Verhaftungsrecht, das sonst nur dem Richter zustand. Hinzu kamen spezielle Ratsdeputationen zur Aburteilung von Injurienhändeln und Unzucht (Friedensstörung) ; einzelne Ratsämter waren befugt, in ihrem Amtsbereich Strafen zu verhängen. Auf der anderen Seite gab es Grundsätze und technische Mittel für eine Reduktion oder gar Minimisierung von Macht. 35 ) Dazu gehören das Kollegialitätsprinzip des Rats selbst und die Mehrfachoder Doppelbesetzung von Kommissionen und Ämtern, auch des Bürgermeisteramts - im Unterschied zum Einmannamt des Schultheißen (Ammanns) - mit dem zusätzlichen Gesichtspunkt einer Arbeitsteilung, ferner Turnus und Rotation, kurze Amtsfristen, Karenzzeiten für die Wiederwahl, Verwandtschaftsverbote, der mit der Ehrenamtlichkeit verbleibende „Nebenberufscharakter" des Amtes, das imperative Mandat für die Art der Amtsführung durch speziellen Ratsbeschluß, schließlich die Rechenschaftspflicht vor Ratsausschüssen, vor dem Großen Rat oder sogar vor der Bürgerversamm") Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm.2), 169. ") Ebd. 169 f. Vgl. auch H.-J. Gerhard, Stadtverwaltung und städtisches Besoldungswesen von der Frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert, in: VSWG 70, 1983, 28 ff.
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lung, die Begrenzung des eigenständigen finanziellen Handlungsspielraumes und die Pflicht, bestimmte Fragen weitergefaßten Versammlungen bis hin zur Bürgerschaft vorzulegen. Konterkariert wurden derartige Prinzipien und Maßregeln durch herrschaftsständische Prätentionen von Patriziaten oder Kaufleutearistokratien, plutokratische Selektion und Rekrutierung von Amtsträgern, das Erfordernis der Abkömmlichkeit, die als eine Art Zauberformel Oligarchisierungstendenzen zu erklären vermag, den Erwerb von speziellem Fachwissen, der innerhalb des Regiments besondere Dispositionsfreiheiten und politische Machtpositionen entstehen ließ, bloße Bestätigungswahlen oder faktische Kooptationen sowie familiale Macht. Derartige Erscheinungen, vielleicht auch eine eingeborene Schwäche genossenschaftlicher Verfassungsprinzipien 36 ), ließen die ohnehin nicht leicht zu organisierenden bürgerschaftlichen Zuständigkeiten in Verfall geraten. Das städtische Verbandsleben bewegt sich in vielfältigen, wechselnden Abstufungen und Zuordnungen im Gravitationsfeld zwischen den Polen Genossenschaft und Herrschaft. In einer gewissermaßen skalierbaren imaginären Bandbreite bilden populäre bürgermeisterliche Stadttyrannis (Zürich), Geheimer Rat, Gruppen von nominati und iurati, Großer Rat, temporäre Bürgerausschüsse und Syndikate sowie Bürgerversammlungen des Spektrum institutioneller Tatbestände. Für deren genauere Positionierung zwischen Herrschaft und Genossenschaft ist ihr jeweiliger Grad der Oligarchisierung, positiv gewendet das Ausmaß an Partizipationsmöglichkeiten sozialer Gruppen, korporativer Verbände oder einer gleichförmig rechtlich definierten Bürgerschaft bestimmend. Herrschaft selbst kann - idealiter - eher als eigenberechtigte, unabgeleitete Herrschaft (Patriziat) oder eher als repräsentativ-gebundene Herrschaft (Zunftverfassung) verstanden werden. Die Attitüde der Herrschaftsausübung erscheint eher der Bürgerschaft verpflichtet und fürsorglich37), eher paternalistisch-vormundschaftlich 38 ) oder eher obrigkeitlich-objektiv und neutral. Selbstredend können dies nur vorsich36
) Rabe, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte (wie Anm. 3), 257. ) Vgl. etwa die beiden Ulmer Schwörbriefe von 1345 und 1397; Mollwo (Hrsg.), Das rote Buch (wie Anm. 16), Nr. 192, 108 ff. ; Anhang Nr. VII, 258 ff. 38 ) Vgl. etwa A. Müller, Die Ratsverfassung der Stadt Basel von 1521 bis 1798, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 53, 1954, 96. Ch. R. Friedrichs, Urban Society in an Age of War: Nördlingen, 1580-1720. 1979, 198 ff. 37
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tige und vorläufige Typisierungen sein, um die Variationsbreite der verschiedenen Erscheinungsformen anzudeuten. Für Generalisierungen des Verbandslebens und gemeindlicher Strukturen sind die Prinzipien Genossenschaft und Herrschaft nach wie vor nicht zu entbehren. 3 9 ) Genossenschaft und Herrschaft bilden indessen keine absoluten, sondern nur relative Gegensätze und ergänzen sich. 40 ) Begreift man das städtische Verbandsleben als eine gelegentlich in Unruhen dramatisch verlaufende Auseinandersetzung um eine mehr herrschaftliche oder eine mehr genossenschaftliche Ausgestaltung des gemeindlichen Gesamtwillens, so wird man die Stadtgemeinde größerer Städte doch überschlägig als einen weithin und weitgehend herrschaftlich bestimmten Verband charakterisieren müssen. 4 1 ) Ein ähnliches Spannungsverhältnis zwischen Herrschaft und Genossenschaft spiegelt sich auch im fraktionierten engeren Verbandsleben der unteren Ebene, vor allem der durchorganisierten gewerblich-politischen Zunft wider, die ihrerseits mit Zunftmeister, Zunftvorstand und Zunftversammlung, dem Treu- und Gehorsamsgelöbnis der Zunftgemeinde gegenüber dem Zunftmeister gemeind39
) Vgl. Dilcher, Zur Geschichte und Aufgabe des Begriffs Genossenschaft (wie Anm.7), 115 ff., 121 f. 40 ) Sander, Feudalstaat (wie Anm.31), 44-47, 45. O. Brunner hat geltend gemacht, „daß nicht nur herrschaftliche Herrschaft (anderwärts auch Obrigkeit* genannt), sondern auch genossenschaftliche Herrschaft eben Herrschaft ist". O. Brunner, Bemerkungen zu den Begriffen „Herrschaft" und „Legitimität" (1962), in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. 1968, 70. 41 ) O. Brunner charakterisiert anhand der Formel „Bürgermeister, Rat und Gemeinde" das Grundverhältnis zwischen Rat und Bürgerschaft als wechselseitig aufeinander bezogen, als ein „Herrschaftsverhältnis älterer Art" mit einem „auf der Wahrung des Rechts beruhenden Treuebegriff'. Im Rahmen dieses Herrschaftsverhältnisses fordert und erhält der Rat von der Bürgerschaft Treue und Gehorsam. „Der Bürgereid schuf ein echtes Herrschaftsverhältnis älterer Art; die Stellung des Rates als ,gottgesetzte Obrigkeit' wie der Bürgerschaft mit ihrer .bürgerlichen Freiheit' als Verband war religiös fundiert." O. Brunner, Souveränitätsproblem und Sozialstruktur in den deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit (1963), in: Ders., Neue Wege (wie Anm.40), 305, 302 ff. Es erscheint jedoch fraglich, ob der gesteigerte Obrigkeitsgedanke, das Amtsverständnis und die intensive Polizeigesetzgebung noch zureichend im Rahmen dieses sehr allgemein beschriebenen älteren Herrschaftsverhältnisses mit seinen wechselseitigen Treueansprüchen gedeutet werden können. Zur Frage der Herrschaft in der Stadt vgl. noch E. Voltmer, Reichsstadt und Herrschaft. Zur Geschichte der Stadt Speyer im hohen und späten Mittelalter. 1981, 163 ff.
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liehe Strukturen mit Autonomie und Autokephalie für bestimmte Gebiete aufweist sowie als Abbild in verkleinertem Maßstab, zunächst egozentrisch auf ihren eigenen Verband bezogene, aber auch für die kommunale Gesamtgemeinde bedeutsame Aufgaben und Ordnungsfunktionen wahrnimmt. In Städten mit Zunftverfassung, die für den oberdeutsch-schweizerischen Raum charakteristisch sind, war die Gemeinde zünftig durchgegliedert, vermittelte die Zunft die politische Berechtigung und organisierte teilweise deren Ausübung. In Anbetracht ihrer Zuständigkeiten und Befugnisse bildete die Zunft im kommunalen Großverband eine teilautonome Untergemeinde, die verschiedentlich und zeitweise ohne spezielle Delegation neben dem Ratsregiment gleichfalls die übergeordneten Gemeinschaftsziele des Friedens und gemeinen Nutzens verwirklichte.42) Weder der Stadtherr noch später der Rat begaben sich indessen grundsätzlich ihres Aufsichts- und Vorbehaltsrechts, ihres Bestätigungs-, Kontroll- und Interventionsrechts gegenüber der Zunft, mochten sie ihr auch zeitweise einen ganz erheblichen Freiraum zubilligen. Mit der Konsolidierung der zünftigen Beteiligung am Ratsregiment schwand die Gefahr einer Sonderstellung der Zunftmeister, die in Zürich tatsächlich als Sondergremium gegenüber dem Rat zeitweise das Stadtregiment beherrscht hatten 43 ), wie auch die Zunftautonomie beschnitten wurde. Die Bürgergemeinde ist ein egozentrischer Verband, der den Erwerb der Zugehörigkeit, den Zugang zum Bürgerrecht bereits Stadtsässiger oder neu Hinzuziehender nach bevölkerungspolitischen, militärischen, wirtschaftlich-fiskalischen und sozialen Nützlichkeitserwägungen, etwa seit der Mitte des 16. Jahrhunderts verstärkt nach Maßgabe eines protektionistischen Nahrungsprinzips 42
) Mollwo (Hrsg.), Das rote Buch (wie Anm. 16), Nr. 192, 108 ff., 252. ") P. Guyer, Verfassungszustände der Stadt Zürich im 16., 17. und 18. Jahrhundert unter der Einwirkung der sozialen Umschichtung der Bevölkerung. Diss. phil. Zürich. 1943, 9 ff., 13 f., 32 f. In Basel stand das Kollegium der Zunftmeister ursprünglich außerhalb des Rates und war auch von den zünftigen Ratsherrn verschieden, es handelte aber bei militärischen Anordnungen, Steuerbeschlüssen, Bürgeraufnahmen, bei der Strafgesetzgebung und bei privatrechtlichen Erlassen gemeinsam mit dem Rat, so daß es am Regiment teilhatte. Erst 1382 traten die Zunftmeister in den Rat ein. R. Wackernagel. Geschichte der Stadt Basel. Bd. II, 1. 1911, 227 f. Zum Verbot von Sonderräten der Zunftmeister oder der „burger" (Patrizier) in Ulm im 14. Jh. vgl. Mollwo (Hrsg.), Das rote Buch (wie Anm. 16), 109, 261.
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und später auch im Hinblick auf die wünschenswerte Anzahl politisch Berechtigter oder „Regimentsfähiger" - also in Ausprägung bestimmter Konjunkturen - reguliert. Das Bürgerrecht erlegte - durch den Bürgereid - nicht nur Pflichten und Lasten auf wie den bürgerlichen Gehorsam, die solidarische Hilfe für angegriffene Mitbürger, die Friedenspflicht, das Friedegebot (Trostungsgebot) 44 ), die Rügepflicht, Bürgerfron, Wacht-, Feuerwehr- und Kriegsdienst, Steuerpflicht („Mitleiden") sowie die Verpflichtung, vor den städtischen Gerichtsinstanzen Recht zu nehmen und zu geben, sondern es vermittelte zugleich bestimmte Rechtsfähigkeit - etwa zum Erwerb städtischer Liegenschaften - , politische Berechtigung - passives und nicht immer aktives Wahlrecht - und als „nutzbare Gerechtigkeit" 45 ) bestimmte bürgerliche Nutzungsrechte. Während die bloßen Beisassen (Hintersassen, Seidner, Habitanten, Einwohner) - meist Tagelöhner und Dienstknechte - in ihren Pflichten zunehmend und weitgehend den Bürgern gleichgestellt wurden, blieben ihnen die politischen Rechte und die bürgerlichen Nutzungsrechte, vielfach sogar die Sicherheit des Verbleibs in der Stadt, vorenthalten. Hinzu kamen Einschränkungen im Erwerbsleben, manchenorts auch die Unfähigkeit zum Grundbesitzerwerb in der Stadt. Der „Unbürger", so heißt es im Rottweiler Bürgerrezeß von 1691, habe sich „allen bürgerlichen Nutzens und Genusses" zu enthalten. 46 ) In Luzern, wo 1573 erstmals die Minderberechtigung aller Neubürger statuiert wurde, besaßen viele Rechte nur die eingesessenen und regimentsfähigen, nicht auch die angenommenen Bürger.47) Zu diesen bürgerlichen Nutzungsrechten gehörte, daß das Bürgerrecht - in zünftigem Rahmen - die selbständige Ausübung eines Handwerks, den Betrieb eines offenen Ladens oder einer Handelsunternehmung gewährte. In unterschiedlichem Maße waren einzelne Handwerke nur Bürgern zugänglich. In Verbindung mit dem 44
) Eine chronologische und örtliche Übersicht über die Regelungen des Friedegebots für den Zeitraum von 721 bis 1887 findet sich bei C. Wilke, Das Friedegebot. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Strafrechts. 1911, 522-550. 45 ) O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. I. 1868 [Neudruck 1954], 704. "') A. Laufs, Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Rottweil 1650-1806. 1963, 29. Zu Rottweil im folgenden Laufs, 22f.; Leist, Reichsstadt Rottweil (wie Anm.30), 216 f. 47 ) Zu Luzern s. Messmer - Hoppe, Luzerner Patriziat (wie Anm. 13), 220 ff.
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Zunftrecht durften in Rottweil nur Bürger die öffentlichen, für Handel und Gewerbe errichteten Anlagen wie etwa Brotlaube, Metzig, Kürschnerlaube, Waage, Bläumühle und Bleiche benutzen, während Nichtbürger in ihrer Handelstätigkeit auf den offenen Markt und das Kaufhaus beschränkt blieben und die gewerblichen Anlagen nicht nutzen durften. Nur Bürger hatten an der Nutzung der städtischen Allmende („wunn, waid und almende"), der Alpen und Wälder Anteil, durften zu bestimmten Zeiten eine bestimmte Anzahl Fische fangen oder besaßen - wie in Rottweil - Freijagd in der Pürsch. Nur Bürger hatten Anspruch auf ein bestimmtes Maß an Brennholz („Bürgerholz") zu einem bestimmten Preis, kamen - wie in Luzern - in den Genuß der jährlichen Getreideausschüttung, der Verteilung des jährlichen Pensionsthalers (seit 1730 auch Neubürger) oder ausländischer Stipendien. Die Bürger besaßen Zollfreiheit und „bürgerliches Zugrecht", d.h. unter anderem das Recht zum Eintritt in einen Kaufvertrag. Bürgerrecht war Voraussetzung für die Wahl zum Kanonikus (Luzern) und für die Verteilung des „Titulus Mensae" durch den Magistrat, d.h. für die Zuweisung laufender Einkünfte einer Kirche, eines Altars oder einer Stiftung an einen Geistlichen zu dessen Lebensunterhalt. Bürger erhielten „Vertröstungen" des Rats, daß man sie berücksichtigen werde, wenn eine Pfründe, ein Lehen oder eine niedere Stelle im Stadtdienst zu besetzen war 48 ), ferner wurden ihnen in schweizerischen Städten bestimmte Positionen im fremden Solddienst reserviert. Schließlich waren in der Regel nur Bürger berechtigt, Fürsorgeleistungen aus den Erträgnissen der städtischen Stiftungsvermögen, der zahlreichen und teilweise reich dotierten Pia Corpora zu beziehen. Außerdem fanden bedürftige Bürger Aufnahme in das Armenspital. In der Frühzeit der Stadt war civis (Bürger), wer in der Stadt ein Wohngrundstück, eine area, besaß. Seit der bürgerlichen coniuratio war Mitglied der Bürgergemeinde, der Friedens-, Rechts- und Nutzungsgemeinschaft der Bürger, wem der Status des geschworenen Bürgers eignete, d.h., wer ins Bürgerrecht (Burgrecht) aufgenommen worden war, den Einzelbürgereid des Neubürgers geleistet hatte und an dem als Bürgerpflicht bei Strafe gebotenen, institutionengeschichtlich jedoch primären Gesamtschwur der Bür48
) „ M a n findet unglaublich kleinliche Distinctionen [...], so ζ. B., ob zum Dienst eines Boten zwischen Lucern und Baden nur Burger oder auch Hintersassen fähig seien". A. Ph. ν. Segesser, Rechtsgeschichte der Stadt und Republik Lucern. 3. Bd. 1857, 131, Anm. 1.
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gergemeinde am Schwörtag teilnahm. 49 ) Nur langsam vollzog sich angesichts eines Anwachsens nichtbürgerlicher Stadtbewohner der Übergang vom personalen, eidgebundenen Frieden der geschworenen Bürger und von der rechtsgeschäftlichen Geltung des städtischen Willkürrechts hin zum lokalen Frieden und zur lokalen, objektiv-normativen Geltung des Stadtrechts im engeren Sinne. Um Nichtbürger zur Beachtung des bürgerlichen Rechts zu veranlassen, um sich ihrer zu vergewissern und sie in die bürgerliche Ordnung einzufügen, forderte der Rat - nicht nur in Gefahrenzeiten - den Beisassen, Seidnern und Einwohnern, den speziellen Berufsgruppen der Handwerksgesellen und des männlichen Gesindes und gelegentlich selbst Fremden („Gästen") spezielle, vielfach dem Bürgereid angeglichene oder aber im Wortlaut identische Eidesleistungen ab.50) Er vereidigte sie - am Schwörtag - auf das Stadtrecht, legte ihnen Lasten in Form jährlicher pauschaler oder bei der Niederlassung festgesetzter, auch nach Vermögen gestaffelter Sitz- und Schirmgelder auf oder wandte einfach die bürgerliche Vermögensteuer auf sie an, und er erklärte sie eigens der Gebotsgewalt des Rates und den städtischen Gesetzen und Ordnungen samt den Strafen für Übertretungen für unterworfen. Das andere Mittel bestand darin, alle Bewohner, welche die Bürgerrechtsvoraussetzungen erfüllten, nachdrücklich zum Eintritt in das Bürgerrecht zu drängen, von der Voraussetzung der Haushäblichkeit abzugehen und damit die ursprüngliche Konzeption der Grundbesitzergemeinde aufzulokkern oder gar in einmaligen Sonderaktionen das Bürgerrecht ohne besondere Leistungen zu gewähren. Als ein Kompromiß des Übergangs kann gelten, wenn statt eines Wohngrundstücks eine auf eine 49
) Ebel, Der Bürgereid (wie Anm. 1), 46 f. K. O. Müller, Das Bürgerrecht in den oberschwäbischen Reichsstädten, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte 25, 1916, 163-192; 26, 1917, 42-63. W. Schultheiss, Das Bürgerrecht der Königs- und Reichsstadt Nürnberg, in: Festschrift für H. Heimpel. Bd. II. 1972, 159-194. G. Dilcher, Zum Bürgerbegriff im späten Mittelalter, in: J. Fleckenstein - K. Stackmann (Hrsg.), Über Bürger, Stadt und städtische Literatur im Spätmittelalter. 1980, 59-105. R. E. Portmann, Basels Einbürgerungspolitik 1358-1798 mit einer Berufs- und Herkunftsstatistik des Mittelalters. 1979. Leiser, Privilegierte Untertanen (wie Anm. 5), 23, 27 ff. Drollinger, Kleine Städte (wie Anm. 5), 10 ff. Leist, Reichsstadt Rottweil (wie Anm. 30), 212 ff. Laufs, Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Rottweil (wie Anm. 46), 25 ff. F.-J. Fuchs, Le droit de bourgeoisie à Strasbourg, in: Revue d'Alsace 101, 1962, 19-50. 50
) Ebel, Der Bürgereid (wie Anm. 1), 48 ff., 77 ff., 209 ff. Müller, Das Bürgerrecht (wie Anm. 49), 178 f.
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Immobilie radizierte Rente verlangt wurde. An die Stelle des Grundbesitzes oder der Verpflichtung zu späterem Grunderwerb trat zunehmend die Aufnahmegebühr (Burgrechtsgeld) als Einkauf in das Bürgerrecht. Verschiedentlich mußten Bürgen gestellt werden, oder es mußten Bürgen oder ein Grundstück für eine bestimmte Kautionssumme Sicherheit leisten; in anderen Fällen war die Kautionssumme in bar zu hinterlegen. An diese konnte sich die Stadt für Schäden, bei Ungehorsam, Verlust des Bürgerrechts und ähnlichem halten. Viele Städte verlangten - früher oder später - den Nachweis eines in der Höhe variabel gehandhabten, meist ansteigenden Mindestvermögens, damit der Neubürger einigermaßen die Gewähr bot, daß er nicht alsbald dem städtischen Almosen zur Last fiel, wofür aber gelegentlich auch Bürgen zu stellen oder Kaution zu leisten waren. Später ging es vielfach darum, nur noch reiche Bewerber zum Bürgerrecht zuzulassen. Hinzu kam der Nachweis eines Harnisches und bestimmter Waffen, damit die Erfüllung der militärischen Dienste sichergestellt war. Vor allem in Städten mit Zunftverfassung schließlich kam die Maßregel auf, daß jeder Bürger Mitglied einer Zunft sein mußte, so daß noch eine Zunftaufnahmegebühr (Zunftkauf) zu entrichten war, oder daß keiner Zunftmitglied werden konnte, ohne Bürger zu sein. Was die personenrechtlichen Voraussetzungen des Bürgerrechtserwerbs anlangt, so wurden zunächst auch Unfreie in das Bürgerrecht aufgenommen, bildeten Unfreiheit und Bürgerstatus keinen sich ausschließenden Gegensatz. 51 ) Im 15. Jahrhundert schränkten die Städte die Aufnahme von Eigenleuten ins Bürgerrecht ein und machten die vorherige „Verrichtung", d.h. die Abfindung ihrer Herren, zur Bedingung. Basel verlangt seit 1534 - wie Nördlingen seit 1486 und Zürich seit 1540 - den Nachweis des „ehrlichen Abschieds", d.h. eine Bescheinigung, nicht leibeigen zu sein und keinen „nachjagenden Herrn" zu haben, wie die allgemeiner gebräuchliche Formel lautet. Uneheliche Geburt war zunächst kein Hindernis für den Erwerb des Bürgerrechts, doch sahen später Städte in der Unehelichkeit einen Ausschließungsgrund; ähnlich verhält es sich mit der Berufsunehrlichkeit, doch finden sich immer wieder Ausnahmefälle. Die Reformation hatte zur Folge, daß in Städten wie Donauwörth (1596) und Basel beschlossen wurde, nur noch Protestanten 5I
) Müller, Das Bürgerrecht (wie Anm.49), 167 ff.
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ins Bürgerrecht aufzunehmen, wobei in Basel mitunter Theologen das Glaubensbekenntnis zweifelhafter Antragsteller abhörten. In Rottweil hatten seit 1593 neu aufzunehmende Bürger zu schwören, bei der katholischen Religion zu verharren. Als allgemeiner Trend kann gelten, daß die Städte, um ihre Mauern zu füllen, die Eidgenossenschaft und das Ordnungsgefüge zu stärken, die Wirtschafts-, Finanz- und Militärkraft zu steigern, Wachtdienst und Verteidigungsfähigkeit zü sichern, Kriegs- und Seuchenverluste abzugleichen, den wirtschaftlich-sozialen und politischen Unterverband der Zunft fest in den allgemeinen Bürgerverband einzufügen und im Innern der Zunft einen gleichförmigen, bürgerrechtlichen Status der Mitglieder zu schaffen sowie bestimmte Berufe und Amtsträger an die Stadt zu binden, längere Zeit sehr bereitwillig und zu günstigen Bedingungen und Voraussetzungen Neubürger aufnahmen und Stadtbewohner zuweilen - auch durch Zwangseinbürgerungen (Luzern) - geradezu in das Bürgerrecht drängten. Das Bürgerrecht konnte in Basel bis zum Murtenzug von 1476 auch durch unentgeltlichen Kriegsdienst für die Stadt erworben werden, von 1489 an grundsätzlich nur noch durch Zahlung einer Gebühr. 52 ) Gleiches galt für Zürich bis zu den Kappeler Kriegen. 53 ) Im Verlaufe des 16. Jahrhunderts, insbesondere dann seit der Mitte des Jahrhunderts, gingen die Städte zu einer immer restriktiveren Bürgerrechtspolitik über. Hauptmotive für die Restriktionen waren die Abwehr des Armutsproblems, die Sicherung der bürgerlichen Nahrung gegen mögliche wirtschaftliche Konkurrenten sowie die Beschränkung des Kreises derjenigen, die in den Genuß der bürgerlichen Nutzungsrechte kamen, die Eindämmung der Abwanderung aus den städtischen Untertanengebieten, um ihre angebliche Entvölkerung zu verhindern, das Fernhalten fremdländischer (welscher) Elemente und fremden Wesens und die Beschränkung des Kreises der politisch voll Berechtigten, Regimentsfähigen. Es handelt sich einmal um die Reduktion der Zahl der Neubürger oder gar der Hintersassen und des allgemeinen Zuzugs, zum andern um die Reduktion der Rechte von Neubürgern nach Maßgabe der Zeit ihrer Ansässigkeit und ihrer örtlichen Herkunft, sofern nicht eigens ein gemindertes Bürgerrecht - Kleinbürgerrecht oder Schultheißenbürgerrecht - ohne politische Rechte für bestimmte Bewerber - Wel") Portmann, Basels Einbürgerungspolitik (wie Anm. 49), 49 f. ") Guyer, Verfassungszustände der Stadt Zürich (wie Anm. 43), 67 ff.
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sehe (Zürich) oder wenig Vermögende (Straßburg) - eingerichtet wurde. In Freiburg i. Ü. kam es 1626 zur Einrichtung eines nicht regimentsfähigen Bürgerrechts und damit zur bewußten Privilegierung der Altbürgerschaft. Die Zahl der möglichen Bewerber um das Bürgerrecht wurde verringert, indem man die Voraussetzungen personenrechtlicher Art verschärfte, ferner die nachzuweisenden Vermögen und Subsistenzmittel sowie die Einkaufsgebühren empfindlich erhöhte, die Haushäblichkeit in besonderer Form wiedereinführte (Luzern) 54 ) und eine scharfe berufliche Selektion im Hinblick auf wirtschaftliche Konkurrenz oder Nutzen für die Stadt und die im wesentlichen als konstant erachtete Zahl der vorhandenen Vollerwerbsstellen traf, schließlich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts immer ausgedehntere Aufnahmesperren verhängte, bis im 18. Jahrhundert und teilweise schon früher praktisch ein Numerus clausus herrschte. In Basel besaß im 18. Jahrhundert zeitweise nur die Hälfte der Bewohner das Bürgerrecht 55 ); in Augsburg waren nach zeitgenössischen Schätzungen nur etwa 6000 Einwohner auch Bürger der Stadt bei einer Bevölkerungszahl von vielleicht 27000 bis 30000.56) Gelockert wurde die Erschwerung des Bürgerrechtserwerbs, wenn wie in Basel 1610/11 eine Pestzeit große Bevölkerungsverluste gebracht hatte oder wo die Verluste durch den Dreißigjährigen Krieg Wiederaufbaumaßnahmen notwendig machten. In dieser Zeit kamen etwa nach Rottweil zahlreiche Einwanderer aus Schwaben, Belgien, Tirol und viele aus der Schweiz. Der Magistrat schloß mit Einwanderern nicht selten Bürgerrechtsverträge, die gewerbliche Abmachungen und Kreditvereinbarungen enthielten, während im 18. Jahrhundert der Bürgerrezeß das Nahrungsprinzip zur Richtschnur machte. 57 ) In der Spätzeit waren in Luzern nur noch „Capitalisten und fabricanten" als Bewerber für das Bürgerrecht erwünscht. In den 144 Jahren von 1655 bis 1798 gab es nur 33 Eintragungen in das vermutlich ungenaue Bürgerbuch. Überhaupt entwik54
) MessmerHoppe, Luzerner Patriziat (wie Anm. 13), 223. Als Beitrag zum Brandschutz mußte seit 1677 ein Neubürger ein Holzhaus kaufen, abreißen und als Steinhaus wiederaufführen, seit 1721 das Steinhaus an der Stelle wenigstens zweier Holzhäuser errichten. ") Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel. Bd. II, 1 (wie Anm. 43), 356. 56 ) I. Bätori, Die Reichsstadt Augsburg im 18. Jahrhundert. Verfassung, Finanzen und Reformversuche. 1969, 14ff. ") Laufs, D i e Verfassung und Verwaltung der Stadt Rottweil (wie Anm. 46), 27.
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kelte Luzern äußerst rigide Bedingungen nicht nur für die „ G n a d e " des Bürgerrechts, das zudem für Neubürger in seinem Wert gemindert wurde, sondern auch für die Ansiedlung zu Hintersassenrecht. 58 ) 1571 entschieden „Rat und Hundert", daß niemand mehr ratsfähig sei, der nicht in der Stadt oder in ihren Ämtern, d.h. in der Landschaft, geboren wäre, damit billigerweise die heimischen Bürger den aus der Fremde zugezogenen vorgezogen würden. 1573 wurde der Neubürger von der Nutzung der Genoßsame, des Genossengutes, ausgeschlossen. Somit gelangten erst die Söhne in den Besitz sämtlicher Bürgerrechte. Im Jahre 1647 wurde dann die Ratsfähigkeit erst den Enkeln der Neubürger zuerkannt, doch wurde sie 1653 wieder auf die Söhne vorgeschoben, bis sie 1721 erneut auf die Enkel verlagert wurde. 59 ) Das Fundamentalgesetz vom 27. März 1773 Schloß dann den Kreis der Regimentsfähigen. Die Zahl der regimentsfähigen Geschlechter sei groß genug. Künftige Neubürger sollten hinsichtlich der Regimentsfähigkeit so eingeschränkt werden, „daß dieselbe äußert stand versetzt wurden, denen dermaligen alten und Regimentsfähigen Geschlechtern mit hinfließung der Zeit in diesen so kostbahren Vorrechten einigen eintrag zu thun". 60 ) Erst wenn eines der vor 1772 angenommenen und daher regimentsfähigen Geschlechter ausgestorben war, konnte das erste seit 1773 ins Bürgerrecht gelangte Geschlecht in die Regimentsfähigkeit aufrükken und nun an den Ratsämtern, den Propsteien und Kanonikaten, den militärischen Stellen und zivilen Ämtern, die an die Regimentsfähigkeit gebunden waren, partizipieren. Über die materiellen Bedingungen hinaus verlangten etwa Basler Verordnungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ausdrücklich jederzeitiges Wohlverhalten, „ehrliche Eltern" und „redliches deutsches Geblüt", wobei allerdings Anträge von besonders qualifizierten und der Stadt nützlichen Bewerbern aus anderen Nationen vor den beiden Räten gehört werden sollten. 61 ) Vollends im 18. Jahrhundert wurde ein bisweilen kleinlicher Zwang zu Konformität und Wohlverhalten ausgeübt. Einzelne Neubürger wurden an58
) Messmer- Hoppe, Luzerner Patriziat (wie Anm. 13), 222ff., 59, 96f.; v. Segesser, Rechtsgeschichte. 3. Bd. (wie Anm.48), 100-115. ") Messmer - Hoppe, Luzerner Patriziat (wie Anm. 13), 224 ff. v. Segesser, Rechtsgeschichte. 3. Bd. (wie Anm. 48), 124 ff. Vgl. die Regelung in Basel am Ende des 17. Jahrhunderts, als es ohnehin kaum mehr Neubürger gab; Müller, Die Ratsverfassung der Stadt Basel (wie Anm. 38), 90, vgl. 87 ff. 60 ) v. Segesser, Rechtsgeschichte. 3. Bd. (wie Anm. 48), 129, vgl. 129 ff. ") P. Ochs, Geschichte der Stadt und Landschaft Basel. 7. Bd. 1821, 352 f.
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gewiesen, vaterländische Tracht und ortsübliche Kleidung zu tragen, sich still zu verhalten und keine Unruhen mehr zu machen, sich des Umgangs mit Fremden zu enthalten, keine Disputationen über Glaubensfragen zu führen, bei Strafe der Ausweisung „ärgerliches wesen" zu bessern und das „Gotteswort" fleißig zu besuchen. Der in mehreren Schriften für eine liberale Handhabung der Bürgerrechtsaufnahme plädierende Ratsschreiber Isaak Iselin, dessen Schrift von 1762 vom Rat verboten wurde, resümierte, es sei seinen Gegnern gelungen, „so harte und verworrene Bedingnisse auszuhekken, daß selbst Banditen dadurch die Lust verlieren müßten, sich um unser Bürgerrecht zu bewerben und daß man ein Engel sein müßte [...], um würdig zu sein, uns beigesellt zu werden". 62 ) Den statischen, saturierten und philiströsen Standpunkt gibt ein Basler Bürgergutachten von 1762 wieder, das sich gegen die Aufnahme neuer Bürger ausspricht und dabei auch preispolitische Argumente ausspielt: ,,a) Man habe viele Hintersäßen, Knechte und Mägde; b) die Volkszahl nehme auf dem Lande zu; c) es sey bequem in seinem Hause allein zu wohnen; d) der wohlfeile Preis der Häuser sei ein Vortheil für die, welche Häuser kaufen wollen; e) die Handlung blühe ohne neue Bürger; f) man sehe einen schönen Aufwachs von jungen Bürgern vor sich; g) man sollte billig Bedenkens tragen, unser reines, edles, eidsgenössisches Geblüt mit Fremden zu vermischen; h) das Beyspiel unserer Altvordern beweise nichts, da die Stadt durch öftere Pesten verödet worden sey; i) der Preis der Lebensmittel sey hoch genug". 63 ) Im Gegensatz dazu gab es im 18. Jahrhundert Landesherren, die für ihre Städte - wie etwa Konstanz 1750 - auswärtige Handwerker zur Einwanderung ermutigten und Neubürger durch Manufakturbeiträge unterstützten und eine Art von Peuplierungspolitik betrieben. 64 ) " ) Zitiert nach Portmann, Basels Einbürgerungspolitik (wie Anm.49), 56. Vgl. F. Gschwind, Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftsstruktur der Landschaft Basel im 18. Jahrhundert. 1977, 91 ff. ") Ochs, Geschichte der Stadt und Landschaft Basel (wie Anm.61), 633 f. Der bürgerliche Anteil der Stadtbewohner beträgt 61,6% in Zürich (1780), 54,4% in Basel (1779), 32,9% in Bern (1764) und 27% in Genf (1781). Braun, Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz (wie Anm.6), 161; vgl. 149, 153, 155. M ) K. Buchegger, Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Konstanz im 18. Jahrhundert unter Berücksichtigung der Tätigkeit des Stadthauptmanns Fransz von Blanc. 1912, 51 ff. Über gescheiterte Peuplierungsversuche s. Leiser, Privilegierte Untertanen (wie Anm.5), 27-33.
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Eine zahlenmäßig kleine Bürgerschaft hatte unabhängig von der Gesamtzahl der Einwohner einen hohen Grad der Partizipation der Bürger am Regiment zur Folge. Der nominelle Anteil der Bürger am Regiment wurde hauptsächlich durch die Mitgliederzahl des spätestens seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts anzutreffenden Großen Rates bestimmt, der regelmäßig den Kleinen Rat in sich mitbegriff, auch nach seiner Mitgliederzahl gesondert ausgewiesen sein kann, auf jeden Fall aber gemeinsam mit dem Kleinen oder Inneren Rat tagte. In den eidgenössischen Städten erreichte der Kleine Rat grob gesprochen 20 bis 50 Mitglieder, der Große Rat - abzüglich der Kleinräte - 50 bis 200 Mitglieder. Ähnliche Zahlenverhältnisse gelten für die oberdeutschen Städte. Über die Ratszugehörigkeit und die Innehabung von Ratsämtern hinaus konnte ein weiterer Kreis von Bürgern wenigstens kleinere, gelegentlich ausdrücklich den Bürgern vorbehaltene Dienstämter als Nebentätigkeit und Zuerwerb erlangen und war auf diese Weise in subalterner Stellung dem Stadtregiment verbunden. In Luzern hatte der Große Rat im engeren Sinne anfänglich 300 Mitglieder; Mitte des 14. Jahrhunderts wurde er auf 100 reduziert. Die 136 Mitglieder beider Räte waren einer Bürgerschaft von 400-500 Köpfen zu entnehmen. 65 ) Im Jahre 1492 wurde beschlossen, die 100 auf 50-60 absterben zu lassen. Danach bestand der Große Rat aus 64 Großräten und 36 Kleinräten und wurde die „Hundert" genannt. Für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts kann mit gut 400 Bürgern und knapp 300 Bürgergeschlechtern gerechnet werden, so daß etwa jeder vierte Bürger in den Räten („Rat und Hundert") saß, wenn man von der Diskrepanz zwischen dem Mindestalter für den Bürgerrechtserwerb und für die Ratsfähigkeit absieht. Freilich fand in dem Zeitraum von 1500 bis 1600 eine Konzentration der Kleinratsgeschlechter von 45 (1501-1510) auf 31 (1559-1560) und der Großratsgeschlechter von 90 auf 63 statt.66) Die Zahl der Kleinratsgeschlechter erreichte etwa seit 1680 ein stabiles Niveau von 20 Familien; die Groß- und Kleinräte zusammen entstammten etwa 40 Geschlechtern. 67 ) In der Zeit von 1637 bis 1790 65
) Messmer - Hoppe, Luzerner Patriziat (wie Anm. 13), 54 f. ) Ebd. 37 ff. Die Bewegung verlief in Wellen. Die Zahl der Geschlechter ist im zweiten Jahrzehnt am höchsten (48/113), sie fällt dann ab, erreicht aber im sechsten Jahrzehnt einen neuerlichen Höhepunkt (46/94) und sinkt stetig im letzten Viertel des Jahrhunderts. 67 ) Ebd. 39, 239 ff.
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nahm in Zürich auf sechs bis acht Bürger einer einen Sitz im Regiment ein. Kleiner und Großer Rat, die „Zweihundert", hatten 218 Sitze (1489).68) Der Große Rat Basels bestand aus 282 Mitgliedern und umfaßte zu Beginn des 18. Jahrhunderts fast ein Fünftel aller zünftigen Bürger.69) In Städten mit Zunftverfassung herrschte in dem zusammen mit dem Kleinen Rat tagenden Großen Rat eine klare zünftige Mehrheit. Dadurch konnte in wichtigen Fragen, in deren Behandlung der Große Rat einbezogen wurde, auch dann eine eindeutige Zunftmehrheit erzielt werden, wenn im Kleinen Rat nur eine knappe zünftige Mehrheit oder gar eine patrizische Mehrheit bestand. 70 ) Der Große Schöffenrat Straßburgs hingegen wurde ausschließlich aus Zunftvertretern gebildet. Die Augsburger Zunftverfassung von 1368 bestimmte, daß jeder der in den Rat entsandten Zunftmeister 12 der ehrbarsten Männer zur Seite haben sollte, die dem Rat schwören mußten. 71 ) Wollte man einen Großen Rat abhalten, so sollten von den Zwölfern so viele beigezogen werden, wie es der Bedeutung der Sache entsprach. Allerdings durfte nichts Wichtiges ohne die Zwölfer verhandelt werden. Wollten die Zunftmeister mit ihren Zwölfern im Rat etwas beraten und verkünden lassen, so sollten sie mit den Ihren einen Tag vor dem Großen Rat eine Vorberatung veranstalten. War indessen die Angelegenheit so wichtig, daß sie von den Zwölfern nicht entschieden werden konnte, so sollte jeder Zunftmeister seine gesamte Zunft versammeln, den Zunftgenossen die Sache vorbringen, mit ihnen beraten und eine Entscheidung treffen, die dann verbindlich war. Der Prozeß der Willensbildung schloß somit eine Gemeindebefragung mit ein. Der Kleine Rat konnte in anderen Städten mit einem Kreis vermögender und geachteter Bürger in Verbindung treten, die als 68
) Guyer, Verfassungszustände der Stadt Zürich (wie Anm.43), 29 f., 155, 79-127. Nach Abzug der nichtregimentsfähigen Bürger, der Geistlichen und der städtischen Beamten, die während ihrer Diensttätigkeit nicht in das Regiment gewählt werden durften, betrug die Zahl der Bürger 1175 (1637), 1417 (1671), 1763 (1730), 1500 (1790). Im Regiment saß einer auf 5,5 (1637), 6,6 (1671), 8,2 (1730), 7,0 (1790). Vgl. auch P. Guyer, Die soziale Schichtung der Bürgerschaft Zürichs vom Ausgang des Mittelalters bis 1798. 1952. ") Müller, Die Ratsverfassung der Stadt Basel (wie Anm. 38), 93. 70 ) Rabe, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte (wie Anm. 3), 157 ff. 71 ) F. Blendinger, Die Zunfterhebung von 1368 in der Reichsstadt Augsburg. Ihre Voraussetzungen, Durchführung und Auswirkung, in: Quarthai - Setzier (Hrsg.), Stadtverfassung (wie Anm. 4), 82.
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geformte Gruppe bereits wichtige Funktionen als Geschworene (iurati) oder Genannte (nominati) wahrnahmen. In Nürnberg sind es die „Genannten des Größeren Rates" 72 ), die als Beisitzer im Stadtgericht und als Zeugen in der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Erscheinung treten. Sie werden vom Kleinen Rat ernannt und bilden einen dem Patriziat nachgeordneten, aber aus der übrigen Bürgerschaft herausgehobenen politisch-sozialen Stand mit den Kennzeichen einer speziellen Ehre sowie eines besonderen Amtes und eines speziellen Amtseides. In Städten mit Zunftverfassung wurden derartige die Bürgerschaft repräsentierende Gruppierungen durch Große Räte auf anderer, hauptsächlich zünftiger Grundlage ersetzt. Schließlich konnte - ungeachtet der Existenz eines Großen Rates - der amtierende Rat sich mit den abgetretenen alten Räten zu gemeinsamen Beratungen vereinigen. Ob der Große Rat beigezogen wurde, lag häufig im Ermessen des Kleinen Rates. Seine Einberufung war vorgesehen beim Erlaß wichtiger Satzungen, bei Erwerb, Veräußerung oder Nutzung kommunaler Güter und Herrschaften, bei Anleihen und Rentenverkauf, bei der Erhebung und Festsetzung von Steuern oder bei finanzwirksamen Verfügungen, die eine bestimmte Summe überschritten, ferner bei Entscheidungen über Krieg und Frieden und über Bündnisse. In Steuer- und Finanzangelegenheiten konnte dem Großen Rat eine Kontrollfunktion zukommen, wobei allerdings in einigen Städten die Finanzverwaltung aus dem Rat ausgegliedert war. 73 ) Außerdem war der Große Rat vielfach an der Wahl des Kleinen Rates und an Amtsbesetzungen beteiligt. Grundsätzlich konnten derartige Zuständigkeiten auch bei der Gemeinde residieren. Der Große Rat 72 ) K. Schall, Die Genannten in Nürnberg. 1971. ") In Straßburg war die Finanzverwaltung vom Rat und von den Geheimen Stuben getrennt. U. Crämer, Die Verfassung und Verwaltung Straßburgs von der Reformationszeit bis zum Fall der Reichsstadt (1521-1681). 1931, 127. In Schwäbisch Hall war die Steuerverwaltung seit 1340 vom Rat losgelöst. Rabe, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte (wie Anm. 3), 252. Mit bürgerschaftlichen Forderungen nach einer Finanzkontrolle kollidierte das Prinzip der Geheimhaltung der Finanzlage nach außen. Finanzielle Angelegenheiten unterlagen in Basel dem „Hehlbieten". Die Räte sollten ewiglich geheimhalten, wie reich oder arm die Stadt sei. Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel. Bd. II, 1 (wie Anm.43), 237. In Augsburg lag nach der Aufhebung der Zunftverfassung die Rechnungskontrolle allein in Händen des Geheimen Rates, während der Kleine Rat die Verfügungsgewalt über die städtischen Finanzen und Besitzungen besaß. Bätori, Die Reichsstadt Augsburg (wie Anm. 56), 52 f.
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war bei seiner Entstehung und anfänglich Repräsentant der Gemeinde; seit dem 15. Jahrhundert verstanden sich Kleiner und Großer Rat jedoch zunehmend als Obrigkeiten, so daß auch beim Großen Rat repräsentative, der Gemeinde verpflichtete Vorstellungen zugunsten einer herrschaftlichen Auffassung zurücktraten. In Luzern, wo es im übrigen nur „Gesellschaften" und keine politischen Zünfte gab, bildete der Große Rat ein Bindeglied zwischen dem Kleinen Rat und der Gemeinde. 74 ) Im Verein mit dem Kleinen Rat75) und ohne klare Kompetenzabgrenzung nahm er die Rechte der Bürgerschaft wahr. 1430/31 kam es dann zum Bruch. Die Hundert versammelten sich ohne Wissen des Rates, änderten Beschlüsse des Kleinen Rats oder hoben sie auf. Sie fungierten als eine ständige Vertretung der Bürgerschaft und stellten sich oft mit der Gemeinde gemeinsam gegen den Rat. Doch 1463 begannen die Hundert sich von der Bürgerschaft zu lösen, ihre Interessen verschmolzen mit denen des Kleinen Rates. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert geriet der Große Rat "zunehmend unter die Kontrolle des Kleinen Rates und wurde zudem personell von den Kleinratsgeschlechtern unterwandert. Politisch hatte er nunmehr die Entscheidungen des Kleinen Rates abzusichern. Die Reduzierung der Sitze im Großen Rat war 1492 damit begründet worden, man wolle nicht mehr gezwungen sein, Bürger zu wählen, die ungeeignet oder auf Grund ihrer politischen Haltung unerwünscht waren. In Straßburg entsandten die 20 Zünfte je 15 Vertreter in den 300 Mitglieder umfassenden Großen Schöffenrat. 76 ) Die Zahl der Bürger schwankte im 16./17. Jahrhundert zwischen 3000 und 4000. Die Zugehörigkeit zum Schöffenrat war lebenslänglich, die Ergänzung erfolgte durch Zuwahl. Der Schöffenrat wurde von der Obrigkeit, d.h. vom Rat und den XXIern, berufen. Er war in seinen Bera74
) V. Segesser, Rechtsgeschichte (wie Anm.48), 2.Bd. 1854, 150ff.; 3.Bd. 1857, 105, 134ff. Messmer - Hoppe, Luzerner Patriziat (wie Anm. 13), 39f., 53 f., 240 ff. 75 ) Der Rat ergänzte sich selbst. Im Geschworenen Brief von 1489 heißt es: „Vnd als danne die eltest friheit gewesen vnd noch ist, das yr ein rat den andern setzet vnd das man deren dheinen endren noch absetzen sol, die wil er lept, einer verschulde denn das mit vneren". v. Segesser, Rechtsgeschichte. 2. Bd. (wie Anm. 74), 192, vgl. 185 ff. Ebenso verhielt es sich mit dem Großen Rat. Ebd. 169. 76 ) Crämer, Die Verfassung und Verwaltung Straßburgs (wie Anm. 73), 27 f., 36f. Vgl. noch generell Th. A. Brady, Ruling Class, Regime and Reformation at Strasbourg 1520-1555. 1978.
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tungen an die vorgelegten Gegenstände gebunden, traf aber mit seiner „Erkenntnis" die letzte Entscheidung. Der Schöffenrat befand über Krieg, Frieden und Bündnisse, über Anleihen und neue Steuern, Veränderungen hinsichtlich der Allmende und des Landgebiets sowie in der Reformationszeit auch über religiöse Fragen. Im allgemeinen waren die Schöffen auf dem Hintergrund eines vertrauensvollen Verhältnisses zwischen Obrigkeit und Bürgerschaft leicht lenkbar. Nach der Reformationszeit verlor der Schöffenrat an Bedeutung, zudem griff ein zunehmendes Mißtrauen Platz, das auch dadurch zum Ausdruck kam, daß es seit 1612 ständige Gewohnheit wurde, die Schöffen nicht mehr in der Plenarversammlung, sondern nach Zünften getrennt auf ihren Zunftstuben und einzeln abstimmen zu lassen. Dadurch konnten die Schöffen leichter beeinflußt und kontrolliert werden. Denn wer gegen Vorschläge des Magistrats stimmte, mußte dies namentlich tun. Im Falle der „Zweihundert" Zürichs wurden 1489 und 1539 statutarische Kompetenzzuweisungen vorgenommen. 77 ) Die „Zweihundert" besaßen über den Kernbestand an Zuständigkeiten hinaus das Recht der Burgrechtserteilung an fremde Herren und Edelleute, Anteil an der Wahl von Bürgermeister und Ratsherren, der Vögte und Amtleute, der Bestellung der Gesandten und Tagherren und der Münzgesetzgebung. Außerdem hatte der Große Rat Zürichs seit 1489 das Recht der Verfassungsrevision, das er 1713 verlor. Durch das sogenannte Zugrecht war es mindestens drei Kleinräten möglich, eine im Kleinen Rat strittige Sache an den Großen Rat gelangen zu lassen. Anläßlich der Zunftunruhen in Zürich vom Jahre 1401 waren Zuständigkeiten der „Gemeinde" beschnitten worden; zugleich hatten die Zünfte jeden Einfluß auf die Besetzung des Großen Rates verloren, der umfassende Befugnisse bei sich vereinigte. Seither amtierten die Mitglieder des Großen Rates auf Lebenszeit, Ergänzungen wurden durch Kooptation vorgenommen. Damit war der verfassungsgeschichtlich paradoxe Zustand eingetreten, daß dasjenige Gremium, das durch seine relativ große Mitgliederzahl geeignet war, die Bürgerschaft zu repräsentieren, nicht durch Wahlvorgänge bestellt worden, sondern aristokratisch verfaßt war. 78 ) ") Guyer, Verfassungszustände der Stadt Zürich (wie Anm.43), 23 ff., 28 ff., 34 f., passim. 78 ) Das wesentliche politische Recht des Zunftbürgers war die Wahl des Zunftmeisters. Für die beiden Räte besaß jeder Zunftbürger das passive Wahlrecht. Wählbar war jeder seit mindestens zehn Jahren in Zürich nieder-
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Gleiches gilt für den Straßburger Schöffenrat. Der Große Rat Zürichs bestand 1489 (1498) aus 144 Vertretern der Zünfte - je zwölf aus zwölf Zünften - und 24 (18) Vertretern der Constaffel und Schloß die 50 Mitglieder des gesamten zweischichtigen Kleinen Rates ein, so daß sich die Zahl von 218 (212) - vereinfacht die „Zweihundert" - ergab. Der in seinen zwei Ratsrotten halbjährlich wechselnde Kleine Rat, der sonst am ehesten oligarchischen Tendenzen zugänglich war oder eine Aristokratie darstellte, wurde in seiner Mehrheit durch die Zunftversammlungen gewählt. Der neue Rat konnte im übrigen die abgetretene alte Ratsrotte beiziehen und gemeinsam mit ihr tagen. In Basel79) ist ein Großer Rat, bestehend aus den Zunftvorständen, zum ersten Mal 1373 erwähnt. Er stellte so lange die Gemeindevertretung dar, als die Zunftvorstände aus der freien Wahl der Zunftversammlungen hervorgingen und der Große Rat daher gelegentlich noch „die Gemeinde", später auch „Gemeine oder des Mehrern Gewalts" genannt wurde. Seit 1354 in einigen Zünften, dann seit 1401 generell und im wesentlichen bis zur Helvetik mit ihrer Einwohnergemeinde von 1798 gültig, wurde das aktive Wahlrecht hinsichtlich der Wahl der in den Kleinen Rat gelangenden Zunftmeister auf die zweischichtigen Zunftvorstände (Sechser) beschränkt. Die Zunftgemeinde verlor das aktive Wahlrecht, angeblich wegen der vielen Fremden in den Zünften. Die neben den Zunftmeistern gleichfalls in den Kleinen Rat gelangenden „Zunftratsherrn" wurden vom Kleinen Rat, seit 1691 vom Großen Rat gewählt. Die politischen Rechte der Zunftgenossen beruhten nur noch im passiven Wahlrecht, in der sogenannten Regimentsfähigkeit, die indessen angesichts der üblichen bloßen Bestätigungswahlen erst zum Zuge kam, wenn Ergänzungswahlen vorzunehmen waren. Durch wahlsoziologische Umstände wurde die Regimentsfähigkeit vor allem seit dem 17. Jahrhundert weiter eingeengt. Wegen der allgemein üblichen Erhebung von Wahlgeldern und wegen der WahlFortsetzung
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gelassene Bürger mit „Ehre, Gut, Witz und Bescheidenheit", von ehrlicher und freier Geburt (1489). Gemäß dem Wahleid von 1713 sollten nur Leute gewählt werden, die dem „Geitze feind" seien. Ebd. 54 f., 66. ™) Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel (wie Anm.43), 252 f. Müller, Die Ratsverfassung der Stadt Basel (wie Anm.38), 12ff., 19ff., 34ff., 47ff., 91 ff. H. Fiiglister, Handwerksregiment. Untersuchungen und Materialien zur sozialen und politischen Struktur der Stadt Basel in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 1981, 137, 257 ff.
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beeinflussung durch Bestechungsgelder wurde der Kreis derjenigen, die für die verbliebenen Ergänzungswahlen noch in Frage kamen, auf sehr vermögende Kaufleute, Gewerbeleute und Handwerksmeister beschränkt. Die wohlhabenden Berufsgruppen sammelten sich zwar in den vier „Herrenzünften", doch öffneten sich die Handwerkerzünfte schon frühzeitig fremden Berufen. Von den Professoren, Gelehrten, Beamten und Offizieren, die keinem Zunftzwang unterlagen, traten nicht wenige aus Gründen der politischen Karriere nicht in eine Herrenzunft, sondern als sogenannte „Herren" in eine Handwerkerzunft ein, wo sich für sie größere Chancen eröffneten, das Amt des Zunftratsherren zu erlangen. Der Grundsatz der zünftigen Parität, der dieser Entwicklung steuern sollte und wonach die Zunft und ihr Vorstand je zur Hälfte aus „Herren" und Zunfthandwerkern bestehen sollte, ließ sich nicht immer durchhalten. Die „Herren" in den Handwerkerzünften konnten die Handwerksmeister aus den Zunftvorständen weitgehend verdrängen und besetzten die Zunftratsherrrensitze fast ausschließlich, während die gleichfalls in den Rat entsandten Zunftmeister immer Handwerksmeister waren. Zu diesen „Herren" gehörten ausweislich eines Memorials der Weberzunft von 1787 Offiziere, die aus fremdem, meist französischem Dienst zurückgekehrt waren, Gelehrte, Kapitalisten, Fabrikanten, Großkaufleute, Bankiers, Buchhändler, Spediteure. Im 17. Jahrhundert waren Refugianten mit neuen Gewerben und Industrien auf die Handwerkerzünfte verteilt worden. Frei von „Herren" waren nur die Brotbecken, Gerber, Kürschner, Metzger, Schärer (Barbiere, Bader) und Schuhmacher. 80 ) Der Große Rat Basels bestand aus den Zunftvorständen, den alten und neuen Sechsern der 15 Zünfte (180 Mitglieder), den Schultheißen beider Stadtgerichte, den Richtern des Großbasier Gerichts, sofern sie nicht Kleinräte waren, und vier Vertretern der Kleinbasler „Gesellschaften", insgesamt aus 250-282 Mitgliedern. Der Große Rat wurde vom Kleinen Rat einberufen und tagte gemeinsam mit ihm. Dies geschah meist in wichtigen Fragen, aber nicht nach bestimmten Regeln. Zu derartigen wichtigen Materien gehörten Bündnisse, Verfassungsgesetze, Stadtfriedensordnungen, Gesandteninstruktionen, neue Steuern, allgemein Geschäfte mit „ewigem", d.h. längerfristigem Charakter. Bei diplomatischen Verhandlungen wurde, wie etwa in Straßburg, die Zuständigkeit des 80
) Müller, Ratsverfassung (wie Anm. 38), 97.
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Großen Rates ostentativ vorgeschoben. Der Große Rat wurde seit dem Eintritt Basels in die Eidgenossenschaft (1503) häufiger einberufen, spielte aber von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Verfassungsreform von 1691 nur noch eine bescheidene Rolle. Im 17. Jahrhundert wurde er bis dahin nur fünfmal einberufen. Die Aufzählung bedeutender Kompetenzen, dies gilt für alle Großen Räte oder Gemeindeversammlungen, besagt noch nichts über die Art und Weise, wie diese tatsächlich ausgeübt werden konnten. Der Kleine Rat bewahrte eine überlegene Gewalt, wenn er mit den Großräten tagte, indem er gelegentlich nur Mitteilungen machte, ohne eine Umfrage zu veranstalten, oder nach erfolgter Diskussion eine Beschlußfassung verhinderte; oftmals lagen schon Kleinratsbeschlüsse vor. 81 ) Der Kleine Rat selbst war zweischichtig und wechselte halbjährlich. Die meisten laufenden Geschäfte besorgten jedoch Spezialkommissionen („Botten") und ständige Kommissionen. 82 ) Unter diesen ragten die Dreizehner heraus, die zunächst nur einen Kriegsrat darstellten, auch zeitweise aufgelöst waren, dann aber zum Geheimen Staatsrat avancierten. Das Schwergewicht der Herrschaftsgewalt lag beim Kleinen Rat und bei den Dreizehnern ; die beide tragenden Familien bildeten noch keine geburtsständische Aristokratie, eher eine Art Syndikat, bestehend aus Großkaufleuten, Fabrikanten, Offizieren und Gelehrten, meist Juristen. 83 ) Erst die Verfassungsbewegung des sogenannten „1691er Wesens" gegen die Alleinherrschaft und Allmacht des Kleinen Rates führte zu einer Neuordnung der Gewaltenverhältnisse. 84 ) Ursachen der Unruhen von 1690/91 bildeten der aristokratische Wahlmodus, dazu die Wahlumtriebe, Meineide und Wahlbestechungen, die trotz verschiedener Wahlgesetze und des 1688 eingeführten komplizierten Ballo8
') Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel (wie Anm.43), 252. ) Ebd. 237, vgl. 236-243. Der Oberstzunftmeister Rieher hatte 1495 neben seinem Zunftamt noch weitere 13 Ämter in Kollegien und Pflegereien inne. Müller, Ratsverfassung (wie Anm.38), 39ff., 60ff. Es gab eine Vielzahl von Ratsämtern und Ratskommissionen, eine Vielzahl niederer, aber nur wenige höhere Dienstämter, die in etwa einer Bürokratie entsprächen. Eine gleiche Struktur weisen alle Städte des Ancien Régime auf. In Zürich gab es 1730 etwa 70 Kommissionen, 1798 waren es 98. In diesen Kommissionen saßen nur wenige Fachleute aus der Bürgerschaft. Guyer, Verfassungszustände der Stadt Zürich (wie Anm.43), 43ff. ") Müller, Die Ratsverfassung der Stadt Basel (wie Anm. 38), 94. 84 ) Zum folgenden ebd. 40 ff. Braun, Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz (wie Anm. 6), 259 ff. 82
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tierverfahrens (Kugelung) nicht unterbunden werden konnten 85 ), die Gefahr eines Familienregiments, wie es die Sold- und Verwaltungspatriziate Berns, Freiburgs und Solothurns aufwiesen, die zerrüttete Finanzlage infolge einer nachlässigen Verwaltung des Klostergutes, ferner die außenpolitische Lage angesichts des von Ludwig XIV. projektierten Baus der Festung Hüningen vor den Toren Basels sowie eine allgemeine Teuerung. Unter Berufung auf ihre Bezeichnung als „des mehrern Gewalts", auf die Basler Fundamentalgesetze, d.h. die Organisationsgesetze der Reformationszeit von 1521 und 1533, auf das Herkommen und auf Gewohnheiten der Städte Bern, Zürich, Schaffhausen und anderer „Republiken", wonach die Obrigkeit durch den Kleinen und den Großen Rat gebildet werde, verlangten die Großräte die Anerkennung ihrer Stellung als „Mit Räth" und ihrer alten Rechte. Sie setzten durch, daß künftig Kleiner und Großer Rat vereint die höchste Gewalt bilden, in allen Hauptsachen, so bei Verfassungs- und Gesetzesanträgen, entscheiden und alle Amtsträger bestellen sollten. Die radikalere Richtung der zünftigen Bürgerschaft ging entschieden weiter und wandte sich auch gegen die Großräte. Sie bildete revolutionäre Ausschüsse, die eine tiefgehende Verfassungsneuordnung in 178 Artikeln ausarbeiteten, und nötigte den Großen Rat in einigen Punkten zum Nachgeben, indem sie ihn arrestierte. So erzwang sie für kurze Zeit die jährliche Ernennung der Sechser und Zunftmeister und deren Wahl durch alle Zunftgenossen. In ihrer Argumentation verband die Zunftbürgerschaft den Rückgriff auf wirkliche oder vermeintliche alte Freiheitsrechte, wie sie vor allem in der Reformationszeit errungen worden waren, mit der konstruktiven Idee der Volkssouveränität, genauer noch mit dem Konstruktionsprinzip der juristischen Souveränitätslehre, als hätten die Redakteure ihren Bodin gelesen, um so über einen bloßen Traditionalismus hinaus mit Deduktionen einer politischen Theorie und des Staatsrechts substantielle Selbstregierungsrechte der Gesamtbürgerschaft zu begründen. So heißt es in einem Memorial der Bürgerausschüsse: „ D a ist nicht zu zweiflen, daß wir einen democraticum und popularen statum haben, da die Majestät oder die höchste Gewalt fundamentaliter penes universum 8S
) Zu den Wahlmißbräuchen, Bestechungen und zum versteckten Ämterkauf Müller, Ratsverfassung (wie Anm.38), 22 ff. 1718 entschied man sich zu einem ausgeklügelten Losverfahren. Bei alledem handelte es sich um relativ seltene Ergänzungswahlen. Zu den Wahlumtrieben und Praktiken in Zürich s. Guyer, Verfassungszustände der Stadt Zürich (wie Anm.43), 59 ff.
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Populum oder bei der gesamten Bürgerschaft stehet." Es gehe natürlich nicht an, daß besagter Gewalt von allen Bürgern zugleich administriert werde. Aber gewisse Hauptrechte könnten nicht an die Behörden delegiert werden. „So bringt es die Natur des demokratischen und Popularstands et praesumta populi voluntas von sich selbsten mit, daß, wo Sachen von höchster Importanz vorfielen, da einem jeglichen Bürger insonderheit daran gelegen, als: wenn Bündnisse mit fremden Potentaten und Ständen zu machen, zu Krieg und Frieden zu traktieren, neue Auflagen, Contributiones und Umgeldt anzulegen, in Religionssachen eine Änderung vorzunehmen, und was dergleichen wichtige Sachen mehr, daß hierüber der gesamten Bürgerschaft Will und Meinung eingeholt, und ohne dieselbe von dem Magistrat nichts beschlossen werde." 86 ) Dauerhaftes Ergebnis der Verfassungsbewegung war jedoch eine Übereinkunft zwischen Kleinem und Großem Rat, das „Verkommnis" vom 23. Juli 1691, welches die beiderseitigen Kompetenzen definierte und bis zum Ende des Ancien Regime gültig blieb.87) Seither führte auch der Große Rat Protokolle. Er erlangte Periodizität und damit ein Selbstversammlungsrecht; tagen sollte er quartalsweise. Jene für die gesamte Bürgerschaft reklamierten Zuständigkeiten fielen an den Großen Rat, der ja den Kleinen Rat einschloß. Allein vom Großen Rat sollten, wie die Generalklausel lautet, diejenigen Sachen behandelt werden, die „von der höchsten Unseres Standes Importanz und Wichtigkeit sind, und welche das Gemeine Wesen, und dessen Wohlfahrt, und eines jeden verbürgerten insonderheit, betreffen". Im einzelnen liegt es beim Großen Rat, Bündnisse, Verträge, Einungen und Verkommnisse mit fremden Fürsten, Herren und Ständen abzuschließen, neue Steuern, Contributionen, Akzisen und Ungelder je nach Notwendigkeit aufzuerlegen sowie alte Abgaben zu erhöhen, neue Eide - und damit auch Pflichten und Befugnisse - einzuführen und alte zu ändern, über Krieg und Friedensschluß zu befinden, neue Statuten zu geben und das „Fundamentalgesetz de novo anzuordnen". Trat der Große Rat zur Behandlung dieser Angelegenheiten zusammen, dann war er „die größte Obrigkeit" der Stadt; seine Mehrheitsbeschlüsse durften nur im Einvernehmen mit ihm geändert werden. Außerdem sollten die Wahlen zu den wichtigsten Ämtern einschließlich der Ratsherren 86
) Müller, Ratsverfassung (wie Anm.38), 44f. ) Ebd. 46 ff.
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und die Aufnahme neuer Bürger vom Großen Rat vorgenommen werden, vor dem auch noch die Instruktion und die Relation der Tagsatzungsgesandten erfolgen sollten. Ferner führte der Große Rat die Oberaufsicht über die Standesökonomie, das durchaus noch mittelalterlich organisierte Finanzwesen. Der Große Rat erlangte 1691 nicht nur Periodizität in Form vierteljährlicher ordentlicher Sitzungen - von 1718 an sollte er monatlich tagen - , zu denen außerordentliche hinzukamen, sondern er leitete zudem aus der Generalklausel des Verkommnisses ein Initiativrecht, das sogenannte „Anzugsrecht" ab. Das hatte zur Folge, daß vor dem Großen Rat keineswegs nur Wichtiges, sondern auch Unbedeutendes verhandelt wurde. Der Kleine Rat verfügte über die Exekutiv- und Jurisdiktionsgewalt; in der Rechtsetzung konkurrierte er mit dem Großen Rat. Souveränitätsdiskussion, Gewaltenverständnis, normative Kompetenzzuweisung, ferner Periodizität und Initiativrecht des Großen Rates lassen bei Fortbestehen der Unschärfen rudimentäre Ansätze für eine Gewaltenteilung erkennen, die das Schwergewicht der Gesetzgebung in den Großen Rat verlagert.88) Dieser mußte allerdings 1735 statuieren, daß seine Erkenntnisse von keinem Kollegium mehr umgestoßen werden dürften, gegenteilige Handlungen nichtig und von Häuptern, Rats- und Stadtschreibern zu ahnden seien. Eine Instanz war indessen für den Schutz der Rechte der Bürgerschaft ausersehen. Laut Großratsprotokoll von 1722 sollte das zweite Haupt neben dem Bürgermeister, der Oberstzunftmeister, der ursprünglich im Mittelalter Vertreter des Zunftmeisterkollegiums war und die Handwerkerschaft gegenüber Adel und Patriziat vertrat, „als Vorsteher des Volkes auf die Privilegien und Freiheiten der Zünfte und Bürgerschaft ein wachendes Auge haben und nicht zugeben, daß dieselben im geringsten gekränkt werden". 89 ) Auseinandersetzungen zwischen Großem und Kleinem Rat um die Souveränität hatten in Bern bereits zehn Jahre früher stattgefunden.90) Der Kleine oder Tägliche Rat gründete seine Gewalt auf die 88
) Die Großratsmandate umfaßten nahezu alle Rechtsmaterien. Ebd. 57 f. ) Ebd. 68. ,0 ) H. Rennefahrt, Grundzüge der bernischen Rechtsgeschichte. 4 Teile. 1928-1936. R. Feller, Geschichte Berns. 4 Bde. 1946-1960. K. Geiser, Bern unter der Regierung des Patriziates, in: Archiv des Historischen Vereins Bern 32, 1934, 85 ff. Ch. ν. Steiger, Innere Probleme des bernischen Patriziates an der Wende zum 18. Jahrhundert. Diss. Bern. 1954. E. Wälder, Refor89
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kaiserliche Goldene Handfeste Berns von 1218, während der Große Rat - die „Zweihundert" oder „Burger" - erst durch die Verfassungsänderung von 1294, welche die Unruhen und die politische Zunftbewegung auffing, geschaffen wurde. Durch den Großen Rat erhielt das in „Gesellschaften" organisierte handwerklich-gewerbliche Bürgertum Anteil am Regiment. Seit den Unruhen von 1384 galt die Bestimmung, daß die „Zweihundert (Burger)" aus den Handwerksgesellschaften, aber durch die vier Venner - die vom Großen Rat gewählten hohen städtischen Amtsträger - und von den Sechzehnern - dem von den Vennern bestellten Wahlausschuß des Großen Rates - und dem Kleinen Rat zu wählen, genauer: zu kooptieren waren, so daß die „Gesellschaften" keine selbstgewählten Vertreter in den Großen Rat entsenden konnten. Die frühere Bestätigung der Wahlen durch die Gemeinde entfiel. Der Kleine Rat und die „Zweihundert" tagten zusammen und bildeten eine einzige, nach Mehrheitsprinzip und bei Fundamentalgesetzen mit Zweidrittelmehrheit beschließende Körperschaft („Räte und Burger"). Zwei „Heimlicher von Bürgern" hatten als Vertreter der „Zweihundert" darüber zu wachen, daß der Kleine Rat nicht gegen Satzungen und Ordnungen verstieß und keine Beschlüsse faßte, die seinen freilich nirgends klar definierten Zuständigkeitsbereich überschritten. In den ad hoc gebildeten und in den ständigen Kommissionen wurde ein gewisses Gleichgewicht zwischen „Räten" (Kleinräten) und „Burgern" gewahrt. Die Bürgergemeinde, die in den „Zweihundert" eine Repräsentation besaß, wurde seit dem 15. Jahrhundert praktisch nicht mehr zu politischer Mitwirkung herangezogen. 91 ) Mit einer ähnlichen Wendung wie in Basel wurde der Große Rat der Zweihundert als „der höchste Gewalt" bezeichnet. Er entschied Fortsetzung
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mation und moderner Staat, in: Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 64/65, 1980/81, 445-583; 468-537. F. de Capitani, Adel, Bürger und Zünfte im Bern des 15. Jahrhunderts. 1982. Braun, Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz (wie Anm.6), 214 ff. ") Rennefahrt, Grundzüge, I (wie Anm. 17), 93 f. Wälder, Reformation (wie Anm.90), 469 f. Die Bürgerschaft spielte aber in der Reformation 1527/28 eine aktive Rolle. Walder, Reformation (wie Anm.90), 512ff. Seit dem 16. Jahrhundert gehörten auch die Mitglieder des Großen Rates immer ausschließlicher den Vennergesellschaften und der Adelsgesellschaft an. Rennefahrt, Grundzüge II (wie Anm.90), 127f. Vorübergehend, Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts, überprüften die Handwerksgesellschaften die Stadtrechnung. Ebd. 125. Braun, Ancien Régime (wie Anm.6), 222.
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letztinstanzlich in Fragen der Gesetzgebung und der äußeren Politik und bildete die oberste richterliche Instanz, kontrollierte die öffentlichen Einkünfte, bewilligte Ausgaben über 100 Thaler und wählte die wichtigsten Amtsträger. Indessen gelangte nichts vor „Räte und Burger", das nicht zuvor im Kleinen Rat oder von den „Räten und XVI" traktiert worden war. Angesichts fehlender eindeutiger Kompetenzregelungen besaß der Kleine Rat einen erheblichen Ermessensspielraum, in welchen Fragen er den Großen Rat berufen wollte. Die politische Schwäche des Großen Rates lag in seiner großen Mitgliederzahl und in der Unregelmäßigkeit seiner Einberufung, während die tägliche Geschäftsführung, die genaue Kenntnis der Sachlage und die im 17. Jahrhundert fortschreitende Verengung des Kreises der regierenden Geschlechter die Herrschaftsposition des Kleinen Rates stärkten. Auf der anderen Seite zeigten sich die „Burger" verschiedentlich bereit, energisch ihre politische Berechtigung durchzusetzen. Ausdruck des politischen Selbstbehauptungswillens des Großen Rates sind die um 1650 entstandenen „Burgerspunkte", eine Art von Ratsordnung. 92 ) Darin enthalten ist ein Dekret von 1648, das sich entschieden dagegen wendet, daß „der Burgeren wohlmeinende vaterländische, obwohl nicht allezeit ausgeschliffene Meinungen" von den Kleinräten unfreundlich beiseite geschoben werden. Es sei vielmehr der Burger Wille und Meinung, daß über die aus der Mitte der Zweihundert fallenden Voten wie über diejenigen des Kleinen Rates abgestimmt werden solle. In einem Statut von 1649 wird klargestellt, daß für den Erlaß und die Abänderung von Satzungen nur Räte und Burger als Großer Rat zuständig seien. Es gab verschiedentlich Klagen über Kompetenzüberschreitungen des Kleinen Rates, durch die der Große Rat übergangen wurde. Auch beanstandeten die „Burger" präjudizierliche Entscheidungen des Kleinen Rates, die sie bereits vor vollendete Tatsachen stellten, und verlangten, daß künftig nicht mehr dem Großen Rat „vorgeeylt" und erst dann, wenn „die Sachen schon eingericht und ohne dissreputation des täglichen Rahts nicht mehr zu revocieren sind, vor den höchsten Gewalt gebracht werden söllind". 93 ) Die Unzufriedenheit der „Burger" führte 1681 dazu, daß sie zur Sicherstellung der Rechte beider „Gewalten" eine Kompetenzabgrenzung durch einen Ausschuß forderten. Sie begründeten ihren Vorstoß mit ") v. Steiger, Innere Probleme, 44. ") Ebd. 44 f. Braun, Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz (wie Anm.6), 221 f., 268.
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der Beobachtung, daß der Tägliche Rat „viele Sachen an sich ziehe und seine Gewalt zu nachtheil des höchsten Gewalts merklich vermehren thue", daß ferner „auf der Bahn gewesen zu begehren, die Rathserkanntnussen sollen absolut sein undt nicht können weiteres gezogen werden". 94 ) Die tatsächlich eingerichtete Standeskommission, die aus vier Kleinräten und acht „Burgern" bestand, wurde instruiert, sich vor allem mit den Anmaßungen des Kleinen Rates auseinanderzusetzen, der „dem höchsten Gewalt viel von seiner Authoritet benommen und gleichsam die Nerven entzwei geschnitten" habe. 95 ) Das Kommissionsgutachten geht von dem Vorwurf aus, daß „auch die wichtigsten Sachen nicht ad deliberandum sondern nur pro forma ad confirmandum und zum Bericht" vom Kleinen Rat an die „Zweihundert" gebracht würden. Die Lösung des Verfassungsstreits wird nun nicht durch eine enumerative Festlegung von Zuständigkeiten angegangen, sondern durch das prinzipielle Mittel, daß nach dem Inhaber der Souveränität gesucht wird, den man im Großen Rat findet. Spätestens jetzt wird zudem klargestellt, daß sich der Große Rat nicht als Repräsentant der Bürgergemeinde versteht, sondern als einseitige Obrigkeit. In das Rote Buch soll als Satzung eingetragen werden, daß der Große Rat „allein supremam potestatem oder den höchsten Gewalt und Souverainitet zu allen Zeiten in geist- und weltlichen Sachen zu üben habe, hiemit die oberste Macht und Herrschaft hiesigen Stands seie, welcher allein Gott dem Herrn um seine Regierung Rechenschaft zu geben schuldig und [...] wider niemand als wider solchen höchsten Gewalt allein das crimen laesae maiestatis begangen werden möge". Jetzt kann deduziert werden, daß alle Kammern und Ämter vom Großen Rat abhängen und nur nach seinem Belieben „gemehret, gemindert oder geändert" werden können, ferner auch auf das Territorium bezogen, daß „dieser höchste Gewalt der Teutschen und Weltschen Landen, auch aller derselbigen Einwohneren, Herr und natürliche, von Gott verordnete Oberkeit" und somit der einzig verfügungsberechtigte Inhaber aller „Rechtsame, Gerechtigkeiten, Einkünfte und Ertragenheiten" sei. Als solchem sei ihm besonders vorbehalten, „allein zu beratschlagen, abzusprechen und zu erkennen über alle Regalia und Jura Magistratis, das ist solche Recht, die durchgehend in allen wohlpoli,4
) v. Steiger, Innere Probleme (wie Anm. 90), 46. ") Ebd. 47.
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eierten Ständen, einem Fürsten oder dem höchsten Gewalt allein abhängig sind".96) Nach dieser theoretisch-juristischen Grundlegung befaßt sich das Gutachten mit der Festlegung der Regimentsfähigkeit sowie mit den konkreten organisatorischen Fragen der Bekämpfung unlauterer Wahlpraktiken und mit den Ämterbesatzungen, wobei es mit einiger Folgerichtigkeit die Position des Großen Rates stärken will, denn auf dieser Ebene vollzieht sich das reale Verfassungsleben. Nun aber hatten „Räte und Burger", der Große Rat, über die Frage zu befinden, „wer namblichen der höchste Gewalt seye und wo derselbe residieren solle". Der Beschluß sollte zum Fundamentalgesetz erhoben werden, doch ist er nur in Form eines Entwurfs überliefert. Dort aber sind „der höchste Gewalt und Landesherrliche Souveränität, auch die oberste Herrschaft, Macht und Botmäßigkeit" über das Territorium gemeinsam dem Schultheißen, den Klein- und den Großräten zuerkannt, dergestalt, daß diese außer Gott niemanden über sich erkennen und wegen ihrer Handlungen niemand rechenschaftspflichtig sind.97) Es ist offensichtlich nicht zu klären, ob dieser Formelkompromiß, der die Souveränität auf alle hohen Instanzen des patrizischen Regiments überträgt und eine souveräne Entscheidung durch Konsens der Instanzen mit allen Gefahren für die Willensbildung fordert, tatsächlich einen versöhnlichen Beschluß des Großen Rates darstellt oder ob es sich um eine nachträgliche Verfälschung des Beschlußtextes, der den „Zweihundert" die Souveränität ungeteilt zuspricht, durch die Kanzlei handelt. Jedenfalls verfügte die Berner Verfassungsdiskussion mit ihrer begrifflichen Fassung von Souveränität und höchster Gewalt über einen obrigkeitlichen Herrschaftsanspruch, der nicht die herkömmlichen konkreten Herrschaftsrechte nur ansammelt, sondern ganz im Sinne Bodins die Herrschaftsbefugnisse und die Gerechtsame in einer essentiell einheitlichen Gewalt konzentriert und sie verschmilzt, um aus ihr dann die Rechte und Befugnisse der Obrigkeit herzuleiten.98) Nicht im Sinne Bodins ist die Aufteilung der Souveränität auf verschiedene Instanzen, doch hat dies in der Verfassungsdiskussion
" ) Ebd. 49. Vgl. dazu H. Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806. 1986, 89 f. ") v. Steiger, Innere Probleme (wie Anm.90), 54 f. ,a ) Vgl. auch ebd. 56.
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Hollands und Englands Entsprechungen. 99 ) Die Bürgergemeinde ist in Bern als politische Größe eliminiert; soziologisch trägt den so gefaßten einseitigen Herrschaftsanspruch der Obrigkeit ein ständisches, wenn auch nicht auf den Kern der „großen Familien" beschränktes Patriziat, das vom Staat und seinen Ämtern lebt, während die Basler Diskussion auch die Gemeinde, die Bürgerschaft als Inhaberin der Souveränität denkbar werden läßt. Die zäh vonstatten gehende Behandlung des Kommissionsgutachtens wurde 1683 weitgehend ergebnislos abgebrochen. Dem Großen Rat waren wenig später doch noch Erfolge beschieden. 1685 setzte er für die Ämterwahlen das Ballotierverfahren durch 100 ), und 1686/87 gelang es ihm, die Zuständigkeiten und Befugnisse der mächtigen Vennerkammer, welche die Finanzverwaltung, die Leitung und Verwaltung der Standesökonomie und die Obervogtei über die vier Landgerichte innehatte und weitgehenden Einfluß auf Wahlen und Ämterbesetzungen besaß, die daher den behördlichen Kern des Kleinratsregiments bildete, nachhaltig zu beschneiden und im wesentlichen auf die immer noch sehr bedeutsame Oberaufsicht über die Landvogteien zu beschränken. 101 ) Die Nürnberger Verfassung, wie sie uns aus der berühmten Epistel des Ratskonsulenten Dr. Christoph Scheuerl von 1516102) und aus einer Rechtsauskunft der Älteren Herren, des Geheimen Rates, für Augsburg und Ulm aus dem Jahre 1548 bekannt ist103), gebraucht zwar den Ausdruck „gemain" (Gemeinde) in dem Zusammenhang, daß acht angesehene Handwerker aus der „gemain" in subordinierter Stellung in den Rat aufgenommen sind, doch er") Quaritsch, Souveränität (wie Anm.96), 90. 10 °) v. Steiger, Innere Probleme (wie Anm.90), 59. Zu den weiteren Maßnahmen gegen mißbräuchliche Wahlpraktiken, das „Praktizieren", und die „Standeskrankheiten" ebd. 71-109. "") Ebd. 60ff. Im Jahre 1749 wurde eine Verschwörung des Samuel Henzi und einer kleinen Anhängergruppe gegen das patrizische Regime zerschlagen ; Henzi wurde enthauptet. Die Denkschrift Henzis und sein Verfassungsprojekt sind gedruckt in: J. A. Balthasar (Hrsg.), Helvetia. Denkwürdigkeiten für die XXII Freistaaten der Schweizerischen Eidgenossenschaft. l . B d . 1823, 401^443. Braun, Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz (wie Anm.6), 270ff. Zu weiteren städtischen Unruhen s. P. Felder, Ansätze zu einer Typologie der politischen Unruhen im schweizerischen Ancien Régime 1712-1789, in: SZG 26, 1976, 347-356. 102 ) Die Chroniken der deutschen Städte. Bd. 11 (wie Anm.20), 785-804. 103 ) Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (wie Anm. 10), Nrn. 7-12, 72-96.
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scheint die Gemeinde als eine Art politischer Residualkategorie, nicht im vollen Sinne einer politisch berechtigt gedachten Gemeinde, denn „das gemain völklein hat kainen gewalt". 104 ) Es fehlen in Nürnberg politisch-gewerbliche Zünfte, die eine Gemeinde politisch strukturieren und politische Rechte effektuieren könnten. Überhaupt sind in Nürnberg, wie die Älteren Herren darlegen, die politischen Institutionen „mehr im Geprauch, dan in ordentlichen Verfassungen". 105 ) Daß vor allem die Rats Verfassung auf Gewohnheitsrecht und nicht auf einer geschriebenen Ordnung beruht, daß „von den dingen", wie Dr. Scheuerl schreibt, „kain außtrucklichs gesetz gemacht ist"106), kennzeichnet die unangefochtene patrizische Herrschaft, die von Zünften nie zu einem schriftlich festgehaltenen Verfassungskompromiß etwa in der Form eines Sühne- oder Schwurbriefes genötigt wurde. Die „Genannten des größeren Rates" 107 ) repräsentieren also keine politische Gemeinde, jedenfalls nicht in einem vertretbaren Wortsinn; sie sind ein eigenberechtigter, aber vom Kleinen Rat inaugurierter politisch-sozialer Stand. Die Zugehörigkeit zum Größeren Rat ist grundsätzlich lebenslänglich, Abgänge werden jährlich durch den Kleinen Rat ergänzt. Aus dem jährlich im Kleinen Rat verlesenen Buch, in dem die Genannten verzeichnet sind, wird nur gestrichen, wer wegen unredlicher und unehrlicher Handlungen durch Urteil des Kleinen Rates aus dem Größeren Rat entfernt wird, was als „infamia" gilt. Die Zahl der Genannten schwankt, beträgt aber üblicherweise bis in die Dreihundert. Zu Genannten berufen werden Angehörige der patrizischen Ratsgeschlechter, der den Geschlechtern nachgeordneten Ehrbarkeit der Kaufleute und Rentner sowie einige angesehene Handwerker. Nur wer dem Genanntenstand angehört und den speziellen Genannteneid geschworen hat, kann in den Kleinen Rat aufgenommen werden. Die Funktion eines Genannten wird als „Amt" begriffen; kraft dieses Amtes kommt den Genannten - nach den Herren des Kleinen Rates - „Autorität" und „Ansehen" zu. Genannte können zu zweien Testamente durch ihr Siegel beglaubigen; Verträge, die vor ihnen abgeschlossen und 1M
) Die Chroniken der deutschen Städte ) Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und Nr. 12, 93. 106 ) Die Chroniken der deutschen Städte 107 ) Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und Nr. 10, 81 f. 105
(wie Anm.20), 786, 791. die Zunftverfassung (wie Anm. 10), (wie Anm. 20), 792. die Zunftverfassung (wie Anm. 10),
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ins Gerichtsbuch eingetragen werden, gelten nicht weniger, als ob die Vornahme vor offenem Stadtgericht erfolgt wäre. „Ehrbarkeit", lebenslange Amtsfunktion und Prestige formen die Genannten zu einem eigenen „Stand", der von der übrigen Bürgerschaft abgehoben ist. Als Größerer Rat treten die Genannten in Erscheinung, wenn es den Kleinen Rat gut und erforderlich dünkt, sie auf das Rathaus zu berufen. Dies geschieht einige Male im Jahr, insbesondere zu Zeiten der beiden Frankfurter Messen, um ihnen - den Groß- und Fernkaufleuten - die Geleitsbriefe der Fürsten und Herren zu verlesen. Außerdem wird der Größere Rat einberufen, wenn es der Kleine Rat für notwendig erachtet, eine Losung (Vermögensteuer) oder sonst eine Abgabe zu erheben. Als weitere Gelegenheiten nennt Dr. Scheuerl, wenn ein Krieg zu führen ist oder Maßregeln zu treffen sind, um die Untertanen vor künftigen Gefahren zu bewahren. 108 ) Dabei handelt es sich kaum um ein substantielles Mitspracherecht, sondern um eine das Handeln des Rats absichernde formelle Mitwirkung. Denn auf die Information durch den Rat hin - so führen die Älteren Herren aus - pflegen die Genannten dem Rat mit genereller Formulierung anheimzustellen und zu übertragen („bevelhen"), „gemainer Statt Nutz und Notturft zum besten zu bedencken". Es ist aber überhaupt nicht „im Brauch", daß die Genannten in der Sache definitive Beschlüsse fassen oder mit ihren Stimmen eine Mehrheitsentscheidung herbeiführen, den Kleinen Rat majorisieren, beides läge außerhalb der durch den Genannteneid gezogenen Grenzen. 109 ) Es bleibt daher unklar, inwieweit nach der Information durch den Kleinen Rat eine Erörterung der Sache stattfindet und es zu einer artikulierten Willensbildung kommt, wenn die Genannten „um ihren Rat gefragt werden". Dr. Scheuerl spricht noch von der „sentenz, mainung und stimm" der Genannten, die man erforsche. Die hauptsächliche Bedeutung des Genanntenamtes sieht er indessen in der Funktion der Genannten als Zeugen bei Vertragsabschlüssen und in ihrer ostensiblen, vorbildlichen und die Ordnung stabilisierenden Konformität, indem sie „eins erbarn raths gesetzen fieissig nachgeen und denselben gleichförmig handeln". 110 ) "") Die Chroniken der deutschen Städte "") Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und 81 f. 110 ) Die Chroniken der deutschen Städte nus eorum officium: ferre testimonium,
(wie Anm.20), 787. die Zunftverfassung (wie Anm. 10), (wie Anm.20), 787f. Lat.: et id gesequi Patrum decreta. Ebd. 788
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In den oberschwäbischen Reichsstädten gab es gleichfalls Große Räte und politische Gemeinden. 1 1 1 ) Der Große Rat - Vertreter der Zünfte oder die Vereinigung der ganzen Zunftvorstände unter gelegentlicher Beiziehung patrizischer Vertreter - konnte mit der G e m e i n d e identisch gesetzt sein (Lindau, Ravensburg). Außerdem wurden als G e m e i n d e Ausschüsse der Zunftbürger, in denen alle Zünfte gleichermaßen, teilweise auch die zunftähnlichen Patriziergesellschaften vertreten waren, oder die Gesamtheit der Zunftbürger bezeichnet. Diese Versammlungen wurden beim Erlaß gewerberechtlicher und das Handwerk betreffender Statuten wie auch zu anderen wichtigen Gesetzgebungsakten, zur Verkündung der jährlichen Steuer und des Steuerfußes beigezogen; sie dienten als Wahlkörper und fungierten in einigen Städten als oberste Appellationsinstanz über Zunft-, Stadt- und Ratsgericht. In M e m m i n g e n konnten der Bürgermeister oder zwei Zunftmeister eine strittige politische Entscheidung des Rats an die G e m e i n d e bringen. In Konstanz gab es zwar die G e m e i n d e als Versammlung der Zunftgenossen, daneben aber auch ein als G e m e i n d e bezeichnetes kleineres Gremium, das aus sechs Vertretern einer jeden Zunft, dem Kleinen und dem Großen Rat bestand, wobei ausdrücklich eine Versammlung der gesamten G e m e i n d e rechtlich fingiert wurde. 112 ) Fortsetzung Fußnote von Seite 231 Anm. 1. Erst durch die Verfassungsänderung des Grundvertrags von 1794 erhielt das Genanntenkolleg eine quasi-parlamentarische Funktion. '") Eitel, Die oberschwäbischen Reichsstädte (wie Anm. 3), 58-66. Nach der karolinischen Verfassungsänderung spielten die Großen Räte im allgemeinen nur noch eine bescheidene Rolle, wichtiger wurden bürgerschaftliche Ausschüsse hinsichtlich ihrer Konflikte mit dem Rat. 112 ) „[...] dis ward geacht, als ob ain gantze gemaind zügegen were, dann sy von wegen ainer gmaind by ainander waren." P. Meisel, Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Konstanz im 16. Jahrhundert. 1957, 39. Zum Konstanzer Bürgerrecht s. ebd. 54 ff. Der Große Rat umfaßte in wechselnder Stärke 30 (1430-1510), 50 (1511-1548) und 20 (ab 1549) Mitglieder ohne die Kleinräte. Der Große Rat besaß kein Selbstversammlungsrecht und wurde vom Kleinen Rat einberufen. Zwingend war die Zuziehung der Großräte bei der Wahl von Bürgermeister und Vogt, bei wichtigen politischen Entscheidungen wie Bündnissen und Verfassungsänderungen. Nach 1548 war die Zuziehung des Großen Rates nicht mehr obligatorisch. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts suchte der Kleine Rat ein Einvernehmen mit dem Großen Rat für seine kirchenreformatorischen Zielsetzungen, bei der Entscheidung von Streitigkeiten der Zünfte, bei der Aufnahme von Anleihen, beim Erlaß wichtiger Gesetze und selbst für zahlreiche einzelne Verwaltungsakte. Nach dem Übergang der Stadt an Österreich wurde der Große Rat seltener einbe-
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Die Maximilianeische Verfassung von 1510 bestimmt: „ob aber ainiche pündtnis, verainigung oder verenderung halben der statt etwas fürgenommen wurde, daz soll durch groß und klein rähte an die zünft und gemeind gelangen, und on ir alle oder der merern thails wissen und willen nit beschlossen werden." 113 ) Es handelte sich bei den Gemeindebefragungen indessen kaum um eine offene Diskussion mit abschließender Willensbildung. Der Rat setzte durch, was er wollte. Eine Ratsdeputation bestehend aus Bürgermeister, Vogt und einigen Ratsherren erschien auf der Zunftversammlung und unterbreitete die Frage und die Ansicht des Rates; sodann befragte die Deputation jeden einzelnen Abstimmungsberechtigten oder nahm eine Abstimmung durch Handaufheben vor. Die Zünfte billigten entweder die Vorschläge des Rats oder legten in einer Art Vertrauenserklärung die Entscheidung zurück in die Hände des Rates. Den Zünften wurde auch Mitsprache in Handwerksangelegenheiten eingeräumt, doch entschied der Rat autonom, nachdem er die Ansichten und Vorschläge angehört hatte. Nach dem Verlust der Reichsunmittelbarkeit durch den Übergang an Österreich und mit der Verfassung von 1549 gab es keine Gemeindeabstimmungen mehr, wie auch die Autonomie des Rates durch den landesfürstlichen Stadtherrn beschränkt wurde. Einige charakteristische Besonderheiten weist die Rottweiler Verfassung auf. 114 ) Der Große Rat umfaßte hier die relativ kleine Zahl von 80 Mitgliedern, von denen 44 dem mit ihm gemeinsam tagenden Kleinen Rat zugehörten. Ganz außergewöhnlich war, daß nach einer Auswahl von jeweils drei Kandidaten durch das Wahlkollegium der Siebener der Bürgermeister und der Schultheiß durch Fortsetzung
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rufen, so etwa bei Türkensteuern und bei Gesetzen und Verwaltungsakten, die den Unwillen der Bürger erregen konnten, um Rückendeckung beim Großen Rat zu suchen. Ebd. 33 f. Satzungen des Großen Rates finden sich im Roten Buch der Stadt. Der Große Rat fungierte als Appellationsinstanz in der Ratsgerichtsbarkeit und als erste Instanz bei Klagen um „aigen, um lehen und umb rob". Feger, Vom Richtebrief zum Roten Buch (wie Anm.24), Nr. 19, 135. m ) Meisel, Verfassung (wie Anm. 112), 39ff. "4) Leist, Reichsstadt Rottweil (wie Anm. 30), 34 ff., 43 ff., 76 ff., 84 ff. Laufs, Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Rottweil (wie Anm.46), 3 I f f . , 52 ff. Ders., Die Verfassung der Reichsstadt Rottweil im Zeitalter der Mediatisierung, in: E. Maschke - J. Sydow (Hrsg.), Verwaltung und Gesellschaft in der südwestdeutschen Stadt (wie Anm. 5), 84-102.
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die gesamte wahlberechtigte Bürgergemeinde nach Köpfen gewählt wurden. Die Verfassungsänderung von 1378, die mit Zustimmung der Gemeinde erfolgte, räumte den Zunftmeistern das Recht ein, Angelegenheiten, die sie nicht im Kleinen Rat verhandelt wissen wollten, vor den Großen Rat zu bringen. Der Große Rat sicherte nun dadurch seine Rechte, daß aus dem Kreis der nicht dem Kleinen Rat zugehörigen Mitglieder die jährlich neu zu wählende Kommission der Fünfer eingerichtet wurde, die vom Großen Rat in den Kleinen Rat entsandt wurde, wenn dieser separat als Kollegium tagte. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, den Großen Rat authentisch zu informieren, sodann aus eigenem Recht auch Fälle an den Großen Rat zu ziehen. Die Fünfer erfüllten auf diese Weise eine Kontrollfunktion, bildeten aber auch eine Klammer zwischen Großem und Kleinem Rat, wenn beide Gremien auseinandergetreten waren. In die Zuständigkeit des Großen Rates fiel der Erlaß solcher Gesetze, welche die Gesamtheit der Bürger betrafen; auch hatte der Kleine Rat für seine Finanzverwaltung dem Großen Rat Rechnung zu legen. 1378 wurde in Reaktion auf Eingriffe des Kleinen Rates festgelegt, daß Beschlüsse des Großen Rates nur von diesem selbst wieder geändert werden konnten. Als sich auch noch die Stimmenverhältnisse im Kleinen Rat eindeutig zugunsten der Zünfte verschoben hatten, verschmolzen beide Räte kurz nach 1500 im Zusammenhang mit einer Reduzierung der Sitze auf 50 und etwas darunter zu einem einzigen Rat, dessen Mitgliedschaft seit 1500/1503 zudem lebenslänglich war. Am Ende des 17. und in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts bestand der Magistrat nur noch aus 32 Mitgliedern, darunter 13 Assessoren des Hofgerichts; in den letzten Jahren der reichsstädtischen Zeit umfaßte er nur noch 27 Mitglieder. Die markanteste Verfassungsneubildung von 1378 ist jedoch die Einrichtung des zünftigen Zweiundzwanzigerkollegiums, in das von jeder Zunft durch ein Wahlkollegium je zwei Vertreter gewählt wurden, die bis 1785 zu den Zunftrichtern gehörten. 115 ) Mit der Reduzierung der Anzahl der Zünfte schrumpfte das Kollegium auf achtzehn (1503) und später auf sechzehn Mitglieder. Aufgaben und Befugnisse des Kollegiums sind in etwa mit denen der vier Statthalter
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) Leist, Reichsstadt Rottweil (wie Anm.30), 53 ff., 79 ff. Laufs, Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Rottweil (wie Anm.46), 57 ff.
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in Zürich vergleichbar 116 ), nur gehörten die Rottweiler Zweiundzwanziger dem Ratsregiment nicht an. Ihre Befugnisse waren von der Zunftgemeinde abgeleitet. Die Zweiundzwanziger hatten die generell umschriebene Verpflichtung, alles, „daz schaden oder unfride bringen möchte", von dem sie hörten oder das an sie herangetragen wurde, über die Zunftmeister an den Großen Rat zu bringen. Im Notfall durften sie sich unmittelbar an die Zünfte, d.h. die Gemeinde als offensichtlich höchste Instanz wenden. Sie hatten über den Verfassungs- und Friedenszustand, über das Gemeinwohl der Stadt zu wachen ; vom Regiment getrennt waren sie ein institutionelles Korrektiv und Kontrollorgan in einer nicht gewaltenteilig organisierten Verfassung. Die Zünfte gaben ihnen die Zusicherung, für sie einzustehen, falls sie wegen der Verteidigung irgendwelcher Rechte von irgend jemandem angegriffen würden. Grundsätzlich sollten sich die Zweiundzwanziger (Achtzehner) nicht in die Regierung des Rates, „bei dem alle Oberkait und gewalt" liege, einmischen. Hingegen sollten Bündnisse und Kriege nur mit ihrer Zustimmung möglich sein; Angebote, die der Stadt den Kauf von Land und Leuten antrugen, konnten nur mit Zustimmung der Achtzehner abgelehnt werden. Kommunale Ewigrenten durften nur mit ihrem Willen aufgelegt werden, anders als Leibgedinge zur Ablösung ewiger Zinsen. Weitere Bestimmungen betrafen die Gerichtsverfassung. 117 ) Außerdem waren die Achtzehner befugt, die Zunftmeister des Rats so oft und so viel zu befragen, wie es ihnen erforderlich schien, doch wurde diese Befugnis im Schweizer Schiedsurteil, dem 116 )Die Institution der Statthalter wurde in Zürich anläßlich der Verfassungsrevision von 1498 eingeführt und geht auf die Position der Vorsitzenden des Zunftmeisterkollegs, der Obristzunftmeister des 15. Jahrhunderts, zurück. Zu Statthaltern wurden drei, dann vier Obristzunftmeister genommen. „Sie hatten zu helfen, daß der Stadt Sachen und Bedürfnisse vorgenommen und behandelt würden und jedermann, reich und arm, verhört werde und gleiches Recht erlange. Nach ihrem besten Wissen und Können sollten sie Stadt und Land behüten und ,vergaumen', damit niemand Gewalt oder unbillige Beschwerung erleiden müsse; wenn sie dabei ein Versäumnis oder eine Irrung fänden oder im Rat Zwietracht und Unfug entstünde, so sollten sie das unverzüglich abstellen. Ferner sollten sie, wenn sie in oder außerhalb des Rates etwas erführen, woraus Schaden und Gebresten entstehen könnten - sie würden dazu ermahnt, oder es schiene ihnen selbst ratsam - , die Angelegenheit selbst oder durch den Bürgermeister im kleinen oder großen Rat vorbringen lassen". Guyer, Verfassungszustände der Stadt Zürich (wie Anm.43), 40 f., 39. ln
) Laufs, Verfassung Rottweil (wie Anm.46) Anhang Nr. 1, 136.
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sogenannten Schweizerlaudum von 1579, mit der Begründung kassiert, daß daraus in Rottweil viel Unruhe und Zwietracht entstanden seien und es in keinem der Orte der Eidgenossenschaft gebräuchlich sei, daß „die von der Gemeind oder ire Verwalter zu allen dingen zu reden" hätten. 118 ) Der Bürgerrezeß von 1713 räumte den Achtzehnern allerdings das Recht ein, zu drei bestimmten Terminen im Jahr zusammenzutreten, um ihre Anstände das gemeine Stadtwesen, die Beobachtung der aufgerichteten Verträge und der Stadtrechte und Gerechtigkeiten betreffend dem Redmann und Zunftmeister vorzubringen und den Magistrat um schleunige Abhilfe zu ersuchen. Der Bürgerrezeß von 1782 genehmigte darüber hinaus Termine, wenn in Fällen längerer Verzug dem gemeinen Wesen Schaden verursachen würde. Die Regelungen hinsichtlich von Konflikten zwischen den Achtzehnern und dem Magistrat waren zwar recht kompliziert, letztlich jedoch unzureichend. Der Rat war nicht genötigt, die im Zusammenhang mit einer Streitschlichtung herbeigeführten Zunftbeschlüsse, d.h. die Gemeindeentscheide, zu beachten und konnte auf seinem Eigenrecht beharren. 119 ) Im 16. Jahrhundert waren Achtzehner verschiedenen Ämtern als Gemeindevertreter zur Kontrolle beigeordnet, doch verloren sie diese Rolle durch das Schweizerlaudum von 1579 bis auf die Abordnung zur Bruderschaftsrechnung. Im 18. Jahrhundert war der Achtzehnerredmann Mitglied der Rechnungsdeputation. Das ursprüngliche und hauptsächliche Aufgabenfeld der Achtzehner bestand darin, Anregungen, Forderungen und Beschwerden aus der Bürgerschaft entgegenzunehmen, sie in „Puncta" zu fassen und schriftlich beim Magistrat einzureichen. Es kam jedoch auch vor, daß der Magistrat die Achtzehner in Ratssitzungen vortragen und mitberaten, ganz selten sogar mitbeschließen ließ. Die von den Achtzehnern weitergegebenen Mónita betrafen vornehmlich die öffentlichen Abgaben, die Allmendenverteilung, Handwerkssachen, die Marktordnung, die Wachtordnung, die Besetzung städtischer Stellen vor allem hinsichtlich einer nicht zu nahen Verwandtschaft und Verschwägerung der Offizianten, ferner im Sinne des stadtbürgerlichen Egozentrismus die Forderung nach der „Hinausschaffung der Unburger" und das Verlangen, daß die Untertanen des Landgebiets nur Rottweiler Handwerker gebrauchen und ihr Getreide nach 118
) Ebd. 61. ' " ) Ebd. 63 f.
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Rottweil verkaufen sollten. Gegenüber den zur Obrigkeit gewordenen Zunftmeistern im Rat avancierten die Achtzehner zum eigentlichen Repräsentanten der Gemeinde; darüber hinaus spielten sie zunehmend die Rolle einer institutionalisierten Opposition gegen die Ratspolitik, während das Rechtsbuch von 1545/46 noch bestimmt hatte, daß sie den Rat in „seinem regieren, handien, thun und lassen" nicht hindern sollten. Im Streit zwischen Gemeinde und Rat 1578/79 setzten die Achtzehner ohne rechtliche Ermächtigung die Zunftmeister ab und veranstalteten in den Zünften Gemeindeversammlungen. Im Verlauf der inneren Krise von 1709 bis 1713 setzten die Bürgerschaft und ihre Vertreter sogar den Magistrat ab. Wegen ihrer Konfrontation mit dem Magistrat für die Unruhen der Jahre 1579, 1688, 1713, 1752 und 1782 verantwortlich gemacht, gelang es den Achtzehnern doch wiederholt, in Wien Reichs- und Kreisuntersuchungen zu veranlassen und bei den Schiedskommissionen ihre Standpunkte durchzusetzen. 120 ) Die Gemeinde war in Rottweil als Mitgesetzgeberin bei Verfassungsänderungen beteiligt; sie trat ferner in Erscheinung bei anderen wichtigen Anlässen wie bei Bündnissen, beim Erlaß von Strafgesetzen, Gesetzen die ewigen Zinsen, das Gerichtswesen oder das Spital betreffend. Wenn seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Gemeinde immer häufiger in den Eröffnungsformeln städtischer Gesetze genannt wird, erhebt sich die Frage, ob die Gemeinde tatsächlich in einer substantiellen Weise an ihnen mitgewirkt hat. Im Roten Buch findet sich bereits 1440 die legaldefinitorische Bestimmung, daß fortan die Drei, die Fünf und die Zwölf in jeder Zunft, d. h. die Wahlkollegien der Dreier und Fünfer und die zwölf Zunftrichter, „ain gemainde ze Rottwil haissen und sin sollen". 121 ) Nur wenn diesen die Sache zu schwierig erscheine, solle die ganze Zunftgemeinde zusammengerufen werden. Ein Beschluß der gesamten Gemeinde ergab sich einer Urkunde von 1379 zufolge durch die Sammlung der einzelnen Zunftvoten zu den vorgelegten Fragen. Jede Zunft hatte auf ihrer Stube gesondert ihren Beschluß zu fassen; eine Fühlungnahme mit anderen Zünften und eine gegenseitige Verständigung waren während des Beschlußfassungsvorganges ausdrücklich verboten. Nur in besonders wichtigen Angelegenheiten sollte auch die Herrenstube befragt werden. Eine Ratskommission, 12 °) Leist, Reichsstadt Rottweil (wie Anm.30), 82 f. Laufs, Verfassung Rottweil (wie Anm.46), 47 f. m ) Leist, Reichsstadt Rottweil (wie Anm.30), 82.
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später waren es die Zunftmeister, erfragte dann reihum die Zunftschlüsse. In der Spätzeit der Reichsstadt konnten auch Alternativvorschläge gemacht werden. Befragungen nahmen der Magistrat oder die Achtzehner mit Bewilligung des Magistrats vor. Leider gibt es keine Statistik für die Häufigkeit derartiger Gemeindeversammlungen. In der Regel hatte der Magistrat wie andernorts das letzte Wort, doch ging von der Gemeindeversammlung zu einem Teil auch der Widerstand gegen den Magistrat aus, wenn dieser sich über den Willen der Gemeinde hinwegsetzte.122) In Zürich gibt es für die Mitwirkung der Gemeinde an wichtigen Entscheidungen in der Zeit vor der Umwälzung Bruns einige Hinweise.123) Zunächst „Ritter und Burger" umfassend, wuchs die politische Gemeinde mit der politischen Berechtigung der Handwerker stark an und wurde in die Constaffel und in die 13 Zünfte gegliedert. In diesen Verbänden fanden die politischen Verhandlungen statt. Während des 14. Jahrhunderts trat die Gemeinde immer wieder in unruhigen Zeiten in Erscheinung und faßte Beschlüsse, so dann auch später noch 1489 nach dem Sturz des Bürgermeisters Waldmann. Eine gesetzliche Grundlage und zugleich eine Beschränkung erhielt die Befragung der gegliederten Gemeinde anläßlich der Judenverfolgung und der Zunftunruhen 1401, als beschlossen wurde, nur noch Angelegenheiten, die das Reich, die Eidgenossenschaft, Landkriege oder neue Bündnisse betrafen, vor die Gemeinde, „es syen constafel oder zünft", zu bringen, allerdings nur dann, wenn die Mehrheit des Großen Rates dies beschloß. Die Anfrage bei den Zünften, mehr noch bei der Landschaft, wurde jedoch während des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Jahrhunderts selbst bei Kriegen nicht selten unterlassen, so daß bei den Reformverhandlungen von 1713 von einer Deputiertenkommission, die von den Zünften bestellt worden war, die weitreichende Forderung erhoben wurde, die Gemeinde solle das Recht haben, „krieg, friden, bündnisse und gesetz zu machen und die regimentsform abzuändern". 124 ) Auch eine Volkswahl des Bürgermeisters wurde erwogen. I22
) Laufs, Verfassung Rottweil (wie Anm.46), 49. ) Guyer, Verfassungszustände der Stadt Zürich (wie Anm.43), 23-29. Vgl. auch W. Jacob, Politische Führungsschicht und Reformation. Untersuchungen zur Reformation in Zürich 1519-1528. 1970, 73 f. R. Schnyder, Zürcher Staatsaltertümer. Der Zürcher Staat im 17. Jahrhundert. 1975. ,24 ) Guyer, Verfassungszustände Zürich (wie Anm.43), 26. E. Saxer, Die Zürcher Verfassungsreform von 1713. Diss. Zürich 1938. W. Zimmermann, Verm
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Damit wäre die Souveränität in der Gemeinde verankert worden. Statt dessen wurde im geschworenen Brief wohl festgestellt, daß er durch Regiment und Gemeinde aufgesetzt worden sei. Bei Entscheidungen über Krieg und Frieden sollten die Zünfte - wie es verklausuliert heißt - soweit dies möglich war und die zeitlichen Umstände dies zuließen, befragt worden. Eine Mitwirkung an der Gesetzgebung wurde der Gemeinde jedoch nicht zugestanden. Eine Eigenart sowohl Zürichs als auch Basels ist die Einrichtung der Fürträge und Bedenken der Geistlichkeit 125 ), die seit der Reformation üblich waren und dem Regiment auch Auffassungen weiterer Kreise der Bürgerschaft vermittelten. Die Geistlichen äußerten sich nicht nur zu theologischen Fragen, sondern auch zu weiten Feldern staatlichen Handelns und zu den Verfassungszuständen, so wenn sie unter Berufung auf die Ansicht der gemeinen Bürger wiederholt eine Revision der Wahlvorschriften verlangten oder 1654 erfolgreich anregten, zur „Pflanzung mehrer Liebe und Vertraulichkeit" einige Ämter der Bürgerschaft zu überlassen. Die Geistlichkeit hatte auch 1646 darauf gedrungen, daß der „bürgerlichen Teilsame", d.h. dem Anteil aller Stände der Bürgerschaft am Regiment, durch Beschränkung des Einflusses der großen Geschlechter und durch Verbleib in der ererbten Zunft, sofern nicht der Beruf einen Zunftwechsel nahelegte, besser Rechnung getragen werde. In Luzern fanden zweimal jährlich anläßlich der Ratsumsetzung Gemeindeversammlungen statt, deren Besuch obligatorisch war. Freie Rede war jedoch nicht gestattet. Hauptzweck war die Eidesleistung auf die geschworenen Briefe, auf Recht, Verfassung und Regierung. 126 ) Die Untertanen hatten aber die Zustimmung zu erteilen, wenn der Rat beabsichtigte, eine neue Steuer zu erheben, sie waren über wichtige Vorlagen zu unterrichten und nach ihrer Meinung zu fragen, die sich in Murren oder Akklamation äußerte. In seltenen Fällen stellte das Stadtvolk eine Gewaltdrohung dar. 1494 Fortsetzung
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fassung und politische Bewegung, in: H. Wysling (Hrsg.), Zürich im 18. Jahrhundert. 1983, 14ff. Braun, Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz (wie Anm.6), 261 ff. 125 ) Guyer, Verfassungszustände Zürich (wie Anm.43), 27f., 38; vgl. 142. Müller, Die Ratsverfassung der Stadt Basel (wie Anm.38), 25. ,26 ) v. Segesser, Rechtsgeschichte. 2. Bd. (wie Anm. 74), 171 ff. Messmer Hoppe, Luzerner Patriziat (wie Anm. 13), 69 f.
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wurden im Verlauf von Unruhen Beschwerdeartikel formuliert, die das Sold- und Pensionswesen, die Erhebung von Steuern, Kauf und Verkauf von Land und Leuten, Krieg und Friedensschlüsse, Bündnisse und anderes mehr betrafen. Größere und kleinere Unruhen lassen das autokratische Ratsregiment immer wieder als gefährdet erscheinen. 1651/53 erwuchsen aus einer Zusammenkunft von 17 Bürgern innerstädtische Unruhen, als - wie dies auch in Frankfurt und Augsburg vorkam - gefordert wurde, der Rat solle die Privilegien der Burgerschaft im Original vorlegen. 127 ) Ziel war eine „erörterung der freyheiten der obrikeit gegen ihren bürgeren und der fryheit der bürgeren, welche ihnen rächtmäßig und billig wys zugehört". 128 ) Der Forderung schlossen sich insgesamt 107 Burger an, das war etwa ein Viertel der Regimentsfähigen. Dann wurden jedoch Beschwerden vorgebracht, welche die angebliche Überbevölkerung der Stadt, die Mißordnung der Gewerbe und Handwerke, die Konkurrenz von unten durch Fremde, städtische Hintersassen und ländliche Untertanen monierten. Unter dem Druck eines gleichzeitigen Bauernaufstandes kam es 1653 zu einer Vereinbarung zwischen Räten, Hundert und der Bürgerschaft. Die Burgergemeinde wurde an den Wahlen zum Großen Rat und zu den Verwaltungsämtern beteiligt und erhielt Mitbestimmungsrechte in Wirtschaftsfragen, generell zur Beförderung des gemeinen Nutzes, bei der Zulassung neuer Stadtbewohner, der Revision von Stadtrecht und geschworenem Brief. Doch nach der Niederschlagung des Bauernaufstandes und einer Verhaftungswelle in der Stadt mußte die Burgerschaft bereits im Mai 1653 bedingungslos auf die neue Regimentsordnung verzichten. Im übrigen galt für die ganze Eidgenossenschaft, um Unruhen in den Städten und Landgebieten zu begegnen, das Verbot des Stanser Verkommnisses vom 22. Dezember 1481 obrigkeitlich nicht erlaubter „sunderbarer gefarlicher gemeinden, samlungen oder anträg, da von dan jeman schaden, uffrür oder unfuog erstand möchte". 129 ) Zugleich war die Vereinbarung getroffen worden, daß sich die Obrigkeiten gegenseitig gegen Unruhen unterstützen sollten. Vergeblich waren für die Streichung des Verbotsartikels die segensreiche Rolle der „biderben gemeind" zu Zürich beim Sturz des Bürgermeisters Waldmann, die Notwendigkeit, daß sich die Ge127
) Messmer - Hoppe, Luzerner Patriziat (wie Anm. 13), 261 ff. ) Ebd. 262. 129 ) Ebd. 69. 128
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meinden allenthalben versammeln und Mißstände zur Sprache bringen, damit es nicht wie bisher weitergehe, schließlich der nicht geringe bisherige Nutzen „sunderbarer", d.h. autogener Gemeindeversammlungen für die Eidgenossenschaft geltend gemacht worden. Ein Verbot derartiger Gemeindeversammlungen sei gegen Lob, Ehre und Nutzen der Eidgenossen gerichtet. Während die Gemeinde von Schwyz die Streichung des Artikels beantragte, waren es vor allem die fünf einstigen Burgrechtsstädte Bern, Zürich, Luzern, Freiburg und Solothurn, die sich entschieden gegen eine Entfernung des Versammlungsverbots aus dem Verkommnis wandten. 130 ) Es ist für die einzelnen Städte schwer zu sagen, inwieweit die autoritär erscheinende Ratsherrschaft der Regentenfamilien, die mit der guten Polizei, der umfassenden Regierungs- und Fürsorgegewalt, durch zahllose Einzelverordnungen für nahezu alle Lebensbereiche nichts weniger zu unternehmen beanspruchte, als die materielle irdische Wohlfahrt und die ewige Glückseligkeit der Bürger und Untertanen zu befördern, überhaupt über hinreichende Zwangsmittel verfügte, um ihre autoritativen Willensäußerungen durchzusetzen, oder ob die Obrigkeit nicht vielmehr erheblich auf die Bereitschaft der Bürgerschaft angewiesen war, ihr Vertrauen entgegenzubringen und die Polizeiverordnungen zu befolgen, ob nicht die ostentative Strenge des Gesetzes und des Regiments, das sich aber auch gerne „gnädig" gab, durch eine nachgiebige Handhabung in der Praxis gemildert wurde. 131 ) Die kleinen und großen Unruhen lassen das Ratsregiment doch zuzeiten als recht labil und gefährdet ,3 °) E. Walder, Zu den Bestimmungen des Stanser Verkommnisses von 1481 über verbotene Versammlungen und Zusammenschlüsse in der Eidgenossenschaft, in: Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Ulrich Im Hof. 1982, 92 f. Über den Ausschluß der Gesamtbürgerschaft von den politischen Entscheidungen in Solothurn um die Mitte des 16. Jahrhunderts, die letzte Kraftprobe zwischen Großem und Kleinem Rat 1644/45 und die endgültige politische Entmündigung der Bürgerschaft s. B. Amiet H. Sigrist, Solothurnische Geschichte. 2. Bd. 1976, 136, 277, 287 f. m ) Müller, Die Ratsverfassung der Stadt Basel (wie Anm. 38), 69f. Er beruft sieht auch auf die Ansicht A. Gassers, daß sogar die Untertanen der Landschaft die autoritäre Staatsführung der „Gnädigen Herren" im Grunde nur deshalb ohne großen Widerstand hingenommen hätten, weil sie ein Regiment der Schwäche gewesen sei. A. Gasser, Geschichte der Volksfreiheit. 1939, 113. Messmer - Hoppe, Luzerner Patriziat (wie Anm. 13), 69. Walker, German Home Towns (wie Anm. 3), 57. Press, Die Reichsstadt (wie Anm. 3), 13.
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erscheinen. Vielleicht hat die bloße Existenz einer politischen Gemeinde auch ohne klar ausgewiesene Kompetenz doch der Handlungsweise des Regiments unsichtbare Schranken auferlegt und sie in eine bestimmte Richtung gedrängt. Es mag nachdenklich stimmen, daß ausländische Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts „die uns so aristokratisch anmutenden eidgenössischen Obrigkeiten samt Bern als demokratisch, ja tumultuarisch, und ihre Mitglieder eher als der Volksgunst ausgelieferte Gemeindepolitiker denn als aristokratische Regenten empfanden". 132 ) Abschließend sollen noch Streiflichter auf die besondere Verfassungssituation einiger oberdeutscher Reichsstädte geworfen werden. In Ulm wurde die Einführung eines Großen Rates im Schwörbrief von 1397 mit dem Anwachsen des städtischen Verkehrs und der städtischen Angelegenheiten begründet, außerdem wollte man dadurch in der Lage sein, künftigen Aufläufen und Friedensstörungen zu begegnen und sie niederzulegen. Namentlich die Besteuerung des mobilen und immobilen Vermögens sollte dem Kleinen und Großen Rat obliegen.133) Ferner durfte der Kleine Rat ohne den Großen Rat hinsichtlich „der gemaind und der stat güt" keine Verfügungen treffen, die 100 Pfund Heller überstiegen. 134 ) Mit 40 Mitgliedern, 10 Patriziern und 30 Zunftvertretern, war der Große Rat vergleichsweise klein, hinzu kamen 32 Mitglieder des Kleinen Rates. Die Ulmer Schwörbriefe von 1345 und 1397 bestimmen, daß Verfügungen über städtisches Gut, städtische Bürgschaftsübernahmen, Kriegszüge, die Abfertigung von Gesandten und andere „stark, hefftig sachen" jederzeit mit Wissen und Willen der Gemeinde behandelt werden sollen.135) Noch der Zunftbrief von 1558 enthält einen entsprechenden Passus zur Beruhigung des entmachte-
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) H. C. Peyer, Die Anfänge der schweizerischen Aristokratien, in: Messmer - Hoppe, Luzerner Patriziat (wie Anm. 13), 28. R. Feller, Die Schweiz des 17. Jahrhunderts in den Berichten des Auslandes, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 1, 1943, 55-117; 72ff. 133 ) Mollwo (Hrsg.), Das rote Buch (wie Anm. 16), 259. Zur älteren Verfassung Ulms s. K. Hannesschläger, Ulms Verfassung bis zum Schwörbrief von 1397, in: Ulm und Oberschwaben 35, 1959, 7-93. H. E. Specker, Ulm. Stadtgeschichte. 1977, 477 ff., 53 ff. 134 ) Mollwo (Hrsg.), Das rote Buch (wie Anm. 16), Nr. 123, 73. 135 ) Ebd. 109, 260.
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ten Zunftbürgertums, obwohl durch die neue Verfassung die Struktur der politischen Gemeinde zerschlagen war.136) Unter „Gemeinde" wird in Ulm vor 1548 die Gesamtbürgerschaft, häufiger noch die Zunftgemeinde im Unterschied zu den Patriziern („Bürger") verstanden. Das Rote Buch der Stadt, das in der Mehrzahl Statuten der Zeit vor 1376 enthält, kennt ausweislich der Intitulationes verschiedene Urheber von Satzungen, so den Rat; die Bürger; Rat und Bürger gemeinlich; Bürgermeister, Großen und Kleinen Rat; Bürgermeister, Rat und alten Rat; Bürgermeister, Großen und Kleinen Rat mit Wissen, Willen und Gunst der ganzen Gemeinde. Die differenzierten Mitwirkungsformen lassen darauf schließen, daß zumindest Konsultationen des Rates mit Kreisen der Bürgerschaft oder den Zünften stattgefunden haben. Aus der Ordnung über die Barchentweberei von 1403 erfahren wir etwas genauer, daß Großer und Kleiner Rat die Frage, ob Grautucher in die Weberzunft eintreten dürfen, vor die ganze Zunftgemeinde gebracht, die Gemeinde daraufhin die Entscheidung vollständig in die Hand der Räte gelegt hat.137) Der Rat konnte 1416 den Metzgern damit drohen, ihre Ordnungsverstöße vor die ganze Gemeinde zu bringen und deren Rat und Hilfe gegen die Metzger in Anspruch zu nehmen. 138 ) 1418 stellten Großer und Kleiner Rat gegenüber der Kaufleutezunft bereits die obrigkeitliche Befugnis heraus, „aller gesetze und zúnften mächtig" zu sein, die Gesetze „ze mindern, ze meren oder ab ze nemen, also daz wir dis alles und ir iglichs wol mindern, meren, widerrûfen oder verkeren mùgen, wenne und wie wir wôllen äne alle sumnùss und irrung aller menglichs". 139 ) Nach dem Schmalkaldischen Krieg, in den Jahren 1548 bis 1556/58, wurden beginnend mit Augsburg und Ulm in 27 süddeutschen Reichsstädten durch kaiserlichen Oktroi die Zunftverfassungen beseitigt.140) 136
) Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (wie Anm. 10), Nr. 29, 164. Später verlangte ein Teil der Ulmer Bürgerschaft eine authentische Erklärung, was unter den „hochwichtigen [...] Sachen", wie es 1558 hieß, zu verstehen sei. Naujoks, Obrigkeitsgedanke (wie Anm. 3), 161. 137 ) Mollwo (Hrsg.), Das rote Buch, Nr. 245, 130. Vgl. auch Nr. 276, 152 f. ; Nr. 281, 155. 138 ) Ebd. Nr. 296, 169. 13 ') Ebd. Nr. 457, 227 (1418); vgl. Nr. 374, 194f. (1425). 14 °) L. Fürstenwerth, Die Verfassungsänderungen in den oberdeutschen Reichsstädten zur Zeit Karls V. Diss. phil. Göttingen. 1893. Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (wie Anm. 10). Ders., Obrigkeitsge-
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Soweit die Sozialstruktur der kleinen Städte überhaupt Patriziate aufwies, wurden patrizische Regime etabliert, die - teilweise mit einzelnen Modifikationen - bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit Bestand hatten. Zunächst ist nach den sozialgeschichtlichen und ideologischen Grundlagen der Verfassungsänderungen zu fragen. Für die fürstlich-herrenständische Umwelt besaßen die formell gewählten kollektiven Regierungen der Städte - ungeachtet ihres obrikeitlichen Anspruchs ihrer Bürgerschaft gegenüber - keine ebenbürtige Legitimität und Autorität. König Ferdinand lehnte 1555 ein ius reformandi der Städte ab, „weil doch gleich über seinesgleichen keinen gewalt hat", womit er sentenziös ohne Rücksicht auf ihren rechtlichen Sinngehalt auf die römische Rechtsregel par [iudex] in parem non habet imperium zurückgriff. 141 ) Einer der stadtbürgerlichen Propagatoren einer Verfassungsänderung, die er seit 1547 erkennbar betrieb, der Augsburger Patrizier Hans Paumgartner, hatte die geläufige Rechtsregei in der polemischen Version gebraucht, Rinder könnten nicht von Rindern, Ziegen nicht von ihresgleichen regiert werden. Mit der sozialen Differenz zwischen Patriziat und Handwerkerschaft konnte er zugleich auf ständische Ungleichheit als Voraussetzung eines legitimen Herrschaftsanspruchs in der Stadtgesellschaft selbst verweisen und das maßgebliche Beispiel der patrizisch regierten Stadt Nürnberg anführen, wo nicht „Boffel und Büffel", Pöbel und Ochsen, im Rat säßen. 142 ) Dieser Vorstellung folgend rückten sich die Augsburger Geschlechter in die herrenständische Sphäre von „Würde, Ehr und Dignitaet", als sie den Kaiser in einer Eingabe ersuchten, das Regiment von der „Gemeinde" wieder auf die Geschlechter zu übertragen. 143 ) Die GeFortsetzung
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danke (wie Anm. 3), 118 ff. Ders., Obrigkeit und Zunftverfassung in den südwestdeutschen Reichsstädten, in: ZWLG 33, 1974, 53-93. Vgl. jetzt auch B. Roeck, Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität. Bd. 1. 1989, 201-269, 232 ff. 141 ) A. v. Druffel, Beiträge zur Reichsgeschichte 1553-1555. Briefe und Akten zur Geschichte des 16. Jahrhunderts, IV. 1896, 717 f. Schreiben an Kaiser Karl V. vom 10. September 1555. Vgl. Digesten, 36, 1, 13, 4; D. 4, 8, 3, 4; D. 4, 8, 4. '") Naujoks, (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (wie Anm. 10), 41. 143 ) D. Langenmantel, Historie des Regiments in des heiligen römischen
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schlechter setzten sich als die „Herren" und die „Ehrbarkeit" schroff von der Zunftbürgerschaft als der „Gemeinde" und als dem eigentlich regierungsunfähigen, „groben, unverständigen Pöbel" ab. 144 ) Das Zunftregiment bestand für sie aus „knechtischen Leuten", die zu Herren wurden, sich aufblähten, aber „die Obrigkeit gar nicht ordentlich zu gebrauchen" wußten. Der Große Rat mit seinen bis zu 300 Mitgliedern war für sie nichts anderes als ein „Hauff des Gemeinen Pöbels". 145 ) Folgen wir der Argumentation der Augsburger Geschlechter weiter, so vermittelt ihnen ihre offenkundige und objektive „Ehrbarkeit", die sie als ihr ständisches Grundprinzip nicht weniger weitgehend und exklusiv ausdeuten als der Adel seine Ehre, den Anspruch, dem Pöbel „im Regiment und in allen Ehrlichen Sachen" voranzugehen. 146 ) Zu der unvordenklichen, geburtsständischen Qualität der alten Geschlechter und zu ihrem Herrschaftsanspruch nach altem Herkommen fügen sich weitere, erworbene Elemente, die das Patriziat zur Regierung befähigen, nämlich Bildung und „Weltgeschicklichkeit" durch Reisen und das Studium der Rechte und anderer Künste, höfischer Dienst, Verkehr mit der adelig-fürstlichen Umwelt und mit dem Wohlergehen der Stadt unmittelbar verquickter Besitz. Wesensbestimmungen und angebliche historische Erfahrungen werden bemüht, um ein gemeindliches Zunftregiment grundsätzlich, insbesondere gegenüber dem kaiserlichen Stadtherrn, zu diskreditieren. So sei „die Natur der Gemeind mehr und hitziger zu dem Krieg und Ungehorsam geneigt", lehrten die griechische und römische Geschichte, daß bei allen Völkern, „da die Gemeinde ihr Regiment hat, [es] übel zugegangen" sei. Der „Gemeind Regiment" habe „in Geistlichen und Weltlichen Güthern und Sachen allerdings so freventlich und eignes Gewalts gehandlet, als weren sie absolute allein Herren dieser Statt, und were kein Römischer Kâyser mehr in der Welt". 147 ) Das große Gegenbeispiel zur Gemeindeherrschaft für eine „bessere Administration und Bescheidenheit in Fortsetzung
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Reichs Stadt Augsburg. 1725, 6 8 - 8 3 ; 68. Die Chroniken der deutschen Städte. Bd. 32 (7), Nr. IX, 115-149. I44 ) Langenmantel, Historie (wie Anm. 143), 68. ,45 ) Ebd. 6 8 , 7 1 , 7 2 , 77. ,46 ) Ebd. 72, passim. „Ehrlich" = die Ehre betreffend. ,47 ) Ebd. 80, 83.
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Geistlichen Sachen und Weltlichen Policeyn" ist das auch von fremden Nationen gerühmte Regiment der ehrbaren Geschlechter Nürnbergs.148) Der Herrschaftsanspruch und die Herrschaftsideologie des Augsburger Patriziats, die auf die Augsburger Verfassung vor der Zunfterhebung von 1368 und auf das Nürnberger Ideal rekurrieren, gründen auf dem herrschaftsständischen Prinzip des alten Herkommens und der geburtsständischen Qualifikation in Verbindung mit Bildung und Besitz. Das Regiment und die ihm unterworfene Gemeinde sind prinzipiell und ständisch voneinander geschieden, so daß die rein patrizisch-aristokratische Ratsherrschaft trotz der formellen indirekten Wahlelemente keineswegs als Ausschuß der Gemeinde oder deren repräsentatives Organ etwa im Sinne der Korporationslehre zu verstehen ist. Das schließt nicht aus, daß die Geschlechter in früherer Zeit hin und wieder selektiv einen „aufrechten, stattlichen und erfarnen Mann von der Gemeind" berufen und „nach ihrer Notdurft, Gelegenheit und Gutachten zu ehrlichem Befehl gebraucht", d.h. nach ihrem Gutdünken zu Regierungsaufgaben herangezogen haben. 149 ) Das Zunftregiment hingegen beruht auf einer völlig verschiedenen Konzeption, auf einem korporativen Gemeindeprinzip, demzufolge Regiment und Gemeinde der Idee nach nicht prinzipiell geschieden sind, sondern eine Selbstregierung der Gemeinde unter anderem durch den Rat oder durch die Gemeindeversammlung selbst stattfindet, auch wenn sich das Zunftregiment in Wirklichkeit oligarchisch und obrigkeitlich gebärdet. Die Neuordnung des Regiments durch Karl V. beruht auf der herrschaftsständisch-patrizischen, wenngleich mehr negativ von der Regimentsuntauglichkeit der Handwerker her formulierten Herrschaftsideologie sowie auf dem explizit herausgestellten Nürnberger Verfassungsvorbild und der Figur der Stadtpfleger aus der vorzünftigen Augsburger Verfassung. Karl V. machte am 3. August 1548 in Augsburg - durch seinen Hofrat, den Augsburger Dr. Seid - die Handwerker und ihre große Zahl im Rat für die Fraktionierung der Bürgerschaft, Aufruhr, Miß148 ) Vgl. etwa Bodin. Er nennt Nürnberg „la plus grande, la plus illustre, & la mieux ordonnée de toutes les villes imperiales, qui est establie en forme Aristocratique" (mit Verweis auf Conrad Celtis); Jean Bodin, Les six Livres de la République. 1. 2. chap. 6. Ausg. Paris 1583 [Neudruck 1961], 327. 149 ) Langenmantel, Historie (wie Anm. 143), 82. Vgl. Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (wie Anm. 10), Nr. 1, 45 (Nürnberg).
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regierung, Regimentsänderungen, verhängnisvolle Praktiken, Beeinträchtigung des gemeinen Nutzens, unordentliches Regiment, unordentliche Handhabung der Obrigkeit und den Ungehorsam der ganzen Kommune gegenüber dem Kaiser verantwortlich. 150 ) Die Handwerker figurieren zwar nicht wie in der Ausdrucksweise der Augsburger Geschlechter als der gemeine Pöbel, aber sie werden als ungeschickte, unerfahrene, untaugliche und einfältige Leute bezeichnet, die sich viel besser auf ihr Handwerk und ihr tägliches Gewerbe als auf die Regierung und die Besorgung des gemeinen Nutzens zumal einer so ansehnlichen Kommune verstünden. Der Kaiser gesteht zwar einem Teil der Handwerker lautere und ehrenwerte Absichten zu, hält aber ihre Kompetenz und ihren Verstand für zu gering, um hochwichtigen Angelegenheiten gewachsen zu sein. Daraus resultiere, daß die Handwerker in ihren Stellungnahmen („Ratschlägen") von anderen Leuten abhängig seien, sich nach diesen richteten oder aber auf sich gestellt die Sachen schlecht ausrichteten. Es geht nicht nur vordergründig um die wirtschaftliche Unabkömmlichkeit des von seinem Arbeitseinkommen lebenden Handwerkers von seiner Werkstatt, sondern um die noch grundsätzlichere Denkform, daß der Zwang zu täglicher und lebensfüllender Handarbeit den Handwerker daran hindert, sich die intellektuelle Befähigung und die Kenntnisse für eine sachgerechte Regierungstätigkeit zu erwerben. Wenn sie es selbst bedächten, so läßt der Kaiser vortragen, sei es ihnen in höchstem Maße beschwerlich gewesen, daß sie in Rat und Gericht zum Regiment gebraucht wurden, „dem sie alle Tag ires Lebens nie nachgedacht oder nachgewandert, auch aller Ding untauglich, und doch daneben ire aigne Gescheft, Gewerb und Handarbait versäumen, ir tägliche Narung zum guten Tail verlassen und also etwan dadurch in höchste Armut und Not gedrungen wern solten". 151 ) Das neue Regiment hat folgendes Muster 152 ): An der Spitze stehen als Häupter und Vorgeher des Rates zwei „Stadtpfleger", die in Ulm „Ältere (Eltern)" genannt werden. Bei ihnen konzentriert sich der gesamte Arkanbereich („Geheimbnus") der Stadt; insbesondere halten sie die städtischen Gelder, die Einnahmen, die Privilegien und das kleine Siegel (Sekret-) in Händen, ferner bestimmen sie, 15
°) Ebd. Nr. 2, 51-55; vgl. Nr. 3, 56-59. ) Ebd. 52 f. Vgl. Nr. 3, 57. 152 ) Ebd. Nrr. 2, 3, 14; Nr. 5 (Ulm). Zu Verfassung und Verwaltung Augsburgs s. Bátori, Die Reichsstadt Augsburg (wie Anm. 56), 30-75. 151
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wenn die Bürgermeister den Rat versammeln sollen. Den beiden Stadtpflegern werden zur Unterstützung aus dem Rat fünf „Zusätze als Beistände" beigeordnet, zusammen bilden sie den „Geheimen Rat". Insgesamt gibt es pro Jahr sechs Bürgermeister, von denen je zwei jeweils vier Monate lang amtieren. Die kaiserliche Seite unterscheidet grundsätzlich zwischen den regimentsfähigen Geschlechtern und der herrschaftsunterworfenen „Gemeinde", der man nur wenige Ratssitze einräumt. In Augburg kommt als dritte Kategorie noch die spezielle, gewissermaßen patrizoide und quasi-regimentsfähige, im wesentlichen kaufmännische Ehrbarkeit der mit den Geschlechtern versippten Angehörigen der Mehreren Gesellschaft (Gesellschaft der Mehrer - der Geschlechter) hinzu. Der Augsburger Kleine Rat hatte 41 Mitglieder zu umfassen, davon entfielen 31 Sitze auf die Geschlechter, drei auf die ihnen nahestehende Gesellschaft der Mehrer und sieben auf die Gemeinde. Der nichtpatrizische Anteil war völlig marginal, so daß angesichts der mehr als komfortablen Dreiviertel-Mehrheit der Geschlechter von einer substantiellen Partizipation der Gemeinde an der Herrschaft nicht die Rede sein kann. Unter „Gemeinde" sind die Angehörigen der den Geschlechtern gegenüberstehenden Zünfte zu verstehen, doch wurde die politische und gesellschaftliche Zunftorganisation im Zuge der Regimentsänderung aufgelöst. Sozial umfaßte die Gemeinde ein Spektrum, das vom reichen Kaufherren bis zum Tagelöhner mit Bürgerrecht reichte, während die nichtpatrizischen, aber mit dem Patriziat verwandten und verschwägerten Angehörigen der Gesellschaft der Mehrer eine vornehmlich aus Kaufleuten, später noch zusätzlich aus Juristen bestehende Zwischenschicht zwischen Geschlechtern und den übrigen Kaufleuten bildeten. Bereits 1555 gelang es den Kaufleuten, sich aus der Gemeinde zu lösen und als eigener Stand anerkannt zu werden, dem drei neugeschaffene Ratsssitze zugebilligt wurden. Neben der übergroßen Mehrheit im Rat ist für die Geschlechterherrschaft konstitutiv, daß die Ämter der Stadtpfleger, der Geheimen Räte, der Bürgermeister und des Bauamts, das für die Finanzverwaltung zuständig war, alle den Geschlechtern vorbehalten waren. Erst die nachfolgenden Ämter und die Sitze im Stadtgericht waren grundsätzlich allen Ratsmitgliedern zugänglich, letztere durch Quotierung auch der Gemeinde. War nun die politische Bedeutung der wenigen Räte aus der Gemeinde denkbar gering, so kam hinzu, daß die Gemeinde selbst durch die Zerschlagung der Zünfte ihre politisch-organisatorische Struktur und
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Handlungsfähigkeit eingebüßt hatte und mit der Entpolitisierung der Zünfte auch die politische Gemeinde zunächst erloschen war. Für ewige Zeit sollten die Zünfte als Wahlkörper für gemeindlichzünftige Ratsherren, als korporative Zwischengewalten und Selbstverwaltungskörperschaften, ja selbst als gesellschaftlich-gesellige Vereinigungen aufgehoben sein und in Anlehnung an Nürnberger Verhältnisse als rein gewerbliche Verbände der Reglementierung, Kontrolle und Aufsicht des Geschlechterrates unterworfen werden. Karl V. machte unmißverständlich deutlich, daß der Rat auf der Grundlage seiner eidlichen Ratspflicht nur kraft kaiserlichen Auftrags („Befehl") mit einer lediglich delegierten Gewalt regierte, daß der Rat „Regiment und Verwaltung der Oberkait" nur an Statt und im Namen des Kaisers ausübte. 153 ) Das Patriziat wurde zwar mit Rücksicht auf eine innerstädtische politisch-soziale Herrenstellung zum Rat genommen, regierte aber in Anbetracht der kaiserlichen Stadtherrschaft nicht aus eigenem Recht und nicht kraft eines eigenen obrigkeitlichen Herrschaftsanspruches. Es versteht sich, daß für eine Legitimation aus dem genossenschaftlichen Gemeindegedanken kein Raum mehr blieb.154) Im Jahre 1549 wurde ein völlig neuer Großer oder Äußerer Rat als Repräsentation der „Gemeinde" im Sinne der gesamten Bürgerschaft geschaffen. Er ersetzte den rein zünftigen Großen Rat aus der Zeit der Zunftverfassung, aus dem niemand in den neuen Großen Rat übernommen wurde. Dieser bestand aus insgesamt 300 Mitgliedern, davon waren zu entnehmen 44 aus den Geschlechtern, 36 aus den Mehrern, 80 aus der Kaufmannschaft und 140 aus der „Gemeinde" im Sinne der Handwerkerschaft. Der Große Rat sollte die „Gemeinde", d.h. die Gesamtbürgerschaft, „vorstellen und für sie stehen", also repräsentieren. Die Mitglieder mußten aber dem Inneren Rat schwören, sich „aller Rottierungen und heimlicher Zusammenkünften zu enthalten"; Verstöße mußten denunziert werden. Der Große Rat besaß gewisse Funktionen bei der jährlichen Wahl und Vereidigung des Kleinen Rates. Darüber hinaus sollte er „in schweren und unfriedlichen Zeiten bey erforderter Noth" zusammentreten. Hauptsächlich wurde er einberufen, wenn in der Bürgerschaft oppositionelle Regungen zu befürchten waren. Er hatte den 153 ) Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (wie Anm. 10), 58. 154 ) Das Gebot, die Ordnung einzuhalten, ergeht auch an die „Gemeinde" der Stadt. Ebd. 103, 108.
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Vortrag des Magistrats anzuhören und gutzuheißen und zu bestätigen, was zuvor schon im Kleinen Rat beschlossen worden war. Es ist kein Fall bekannt, in dem der Große Rat seine Zustimmung verweigert hätte. Die Wahl der meist jährlich bestellten Beamten und die Kontrolle über die Ämter, die der zünftige Rat noch ausgeübt hatte, kamen ihm nicht mehr zu.155) Das Ulmer Ratsregiment war kleiner dimensioniert, das Übergewicht des Patriziats fiel mit einer Zweidrittel-Mehrheit etwas weniger kraß aus und die Zusammensetzung des Rats fußte auf einer lediglich zweigeteilten ständischen Gliederung der Bürgerschaft. 156 ) Im Unterschied zu Augsburg sollte immerhin eine Person aus der Gemeinde dem Geheimen Rat angehören. Der Rat blieb mit 31 Mitgliedern in etwa zahlenmäßig konstant; 21 Mitglieder entfielen auf das Patriziat und 10 auf die Gemeinde, d.h. die Handwerker und Kaufleute. Hatten die Patrizier in der Zunftverfassung kein aktives Ratswahlrecht besessen, so war nunmehr das aktive Wahlrecht der Räte aus der Gemeinde äußerst eingeschränkt. Während die Wahl der Ratsmitglieder wenigstens grundsätzlich „frey und unverpunden" sein sollte, hatten - die gleichfalls dem Rat zugehörigen - beiden Älteren und die vier patrizischen Geheimen Räte sowie die alternierenden drei Bürgermeister trotz der formellen Wahlvorgänge lebenslang im Amt zu bleiben. Die kaiserliche Neuordnung des Stadtregiments mit ihrer Verengung auf die begrenzte Zahl der patrizischen Geschlechter, mit dem Mißverhältnis von Ämtern und Geschäften und der Zahl der dafür zur Verfügung stehenden Personen, der gesteigerten Arbeitsbelastung für den einzelnen, mehr noch mit der verordneten lebenslangen Innehabung der wichtigsten Ämter hatte die paradoxe Folge, daß die Augsburger Geschlechter das von ihnen zur Begründung der Regimentsunfähigkeit der handwerklichen Gemeinde herangezogene Argument der Unabkömmlichkeit im Sinne der Unverträglichkeit von Erwerbsleben und Ausübung politischer Herrschaft nunmehr für sich reklamierten. Dies galt insbesondere für die „perpetuierten" Ämter und Bürden der beiden Stadtpfleger, der Geheimen Räte und der Bürgermeister. Perpetuierung hieß, daß ohne gewichtige „ehafte" Gründe des „Unvermögens" - der Impossibilität - wie Alter und körperliche Hinfälligkeit eine Resignation vom Amt 155
) Bâton, Die Reichsstadt Augsburg (wie Anm. 56), 54-57. ) Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (wie Anm. 10), Nr. 5, 62-65. 15δ
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nicht zulässig war. Wer ohne derartige Gründe dennoch sein Amt aufgeben wollte, dem blieb nur die vom Kaiser zugestandene Möglichkeit des „freyen Zugs", d.h. der Aufgabe des Bürgerrechts und des Abzugs aus der Stadt als Recht der „freien Bürgerschaft". 157 ) Man befürchtete, daß die Vermögendsten künftig die Stadt, ihr „geliebtes Vaterland", verlassen würden, um der Amtsbürde mit ihrer ,,unaufhörliche[n] Dienstparkheit" zu entgehen, weil sie fast alle „Gewerb und Khaufmanshendl" trieben, also wirtschaftlich aktiv waren und nicht überwiegend von arbeitslosem Einkommen, Renteneinkommen aus Kapital und Grundbesitz lebten, wie es dem Idealfall der Abkömmlichkeit entsprochen hätte. Die Übernahme eines lebenslangen Amtes bedeutete, daß „Khaufmanshandel und Narung" zum Schaden auch der Kinder aufgegeben werden müßten. Die Stadtpfleger und Geheimen Räte Augsburgs ersuchten daher den Kaiser am 21. Mai 1551, bis zu 4000 rheinische Gulden aus den städtischen Einnahmen für die Besoldung der Ratsämter entsprechend der jeweils aufgewendeten Arbeit und Mühe der Amtsträger in Anspruch nehmen zu dürfen. 158 ) Es gelte angesichts des Ausfalles im Erwerbsleben die Angehörigen des Ratsregiments durch die Besoldung in ihrer Wahrnehmung „gemainer Stat Gescheften" stärker zu motivieren und dazuhin Anreize dafür zu geben, daß die Ratsgeschlechter und auch andere ehrbare Bürger im Sinne einer Pflege des politischen und administrativen Nachwuchses künftig ihre Kinder studieren und in anderen Sachen, die zur guten Regierung befähigten, wozu man in Ulm den Auslandsaufenthalt zum Erlernen von Fremdsprachen zählte, unterweisen zu lassen. Karl V. übernahm in seinem Privileg vom 22. Mai 1552159), mit dem er die rechenschaftsfreie Besoldung gewährte, die Augsburger Supplikenmotivation und fügte als einen grundsätzlichen, aus Billigkeit und göttlichem Recht resultierenden Gesichtspunkt hinzu, daß „pillich ain jeder seiner Muehe und Arbait Belonung gewarten möge". 160 ) Herrschaft wird dadurch in die Nähe vergütungsfähiger Arbeit gerückt, wie sie für die städtischen Dienstämter charakteristisch ist. 157
) Ebd. 105, 107; vgl. 119, 127. ) Ebd. Nr. 15, 105 f. 159 ) Ebd. Nr. 16, 107f.; vgl. Nr. 22, 137, 139 (Ulm). Zu Korruption und Besoldungssystem vgl. Bátori, Die Reichsstadt Augsburg (wie Anm. 56), 71 ff. ,6 °) Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (wie Anm. 10), 108. Vgl. Lukas 10,7: dignus est enim operarius mercede sua. 158
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Die Augsburger Regimentsspitze sprach sich d a f ü r aus, d a ß nur die sieben Angehörigen des Geheimen Rates aus dem alten Rat genommen und wegen der Wahrung der städtischen Arkana ohne schwerwiegende G r ü n d e nicht ausgewechselt werden sollten, hinsichtlich der übrigen Räte sollte unter begrenzter Beteiligung des G r o ß e n Rates hingegen die freie Ratswahl gelten, damit niemand sagen könne, die „gantz Regierung und aller Gewalt auch di Besetzung aller Empter wer der Gemain durch di von Hern gentzlich entzogen u n d auf wenig Personen zu irem Vortail villeicht ain tirannisch Regiment anzerichten und zu erhalten angestellt". 161 ) Außerdem wurde der Kaiser gebeten, zunächst noch zu dulden, daß Väter und Söhne, auch Brüder und nahe Verwandte - was an sich ungebührlich sei - gemeinsam im Rat saßen. Die Zahl der Ratsgeschlechter war einfach nicht groß genug, um die patrizischen Ratsstellen unter Ausschluß von Familienmitgliedern u n d Verwandten besetzen zu können. 1 6 2 ) Mit einigem Erfolg drang das Ulmer Regiment auf eine Revision der karolinischen Verfassung. Dazu gehörte eine personelle Aufstockung des Rats, um eine bessere Ämter- u n d Lastenverteilung, eine temporäre Entlastung einzelner zu erreichen und die Beschlußfähigkeit zu sichern, wenn Ratsherren sich in eigenen Geschäften auf Reisen befanden, krank waren oder als Schwäger, Freunde oder Verwandte von Parteien wegen Befangenheit austreten mußten. Zugleich erstrebte - u n d erlangte - das Regiment, womit es einem Druck von unten Rechnung trug, f ü r Rat und Ratsämter eine beträchtlich verstärkte Partizipation der „ehrbaren Gemeinde", die nach den alten „gewesenen" Zünften strukturiert sein sollte. 163 ) 161
) Ebd. 99. ) Zu den Augsburger Geschlechtern s. Bátori, Die Reichsstadt Augsburg (wie Anm. 56), 18-21. Die 31 patrizischen Ratssitze waren aus etwa 45 Familien zu besetzen; im 18. Jahrhundert handelte es sich sogar nur noch um 27-28 Familien, die zudem untereinander verschwägert waren. Einzelaufnahmen ins Patriziat ging zumeist die Erhebung in den Adelsstand voraus, die vom Kaiser mit einer Empfehlung zur Aufnahme in das Patriziat versehen war, doch mußte in einigen Fällen der Reichshofrat die Aufnahme erzwingen. Vgl. noch K. Sieh-Burens, Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger 1518-1618. 1986. '") Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (wie Anm. 10), Nrr. 23f., 141-147; vgl. Nr. 17, 109-111 (Augsburg). 162
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Gegen die strikte Perpetuierung der Spitzenämter verwies der Geheime Rat auf die Vorfahren, die trotz einer faktischen Perpetuierung des Bürgermeisteramtes grundsätzlich an der freien „unverstrickten" Wahl festgehalten hätten, und zwar aus - fast machiavellistisch analysierter - Einsicht in die Natur des menschlichen Gemüts und seiner Affekte. 164 ) Denn Unbeständigkeit, Habgier, Korrumpierbarkeit, Mißbrauch von „Gewalt, Auctoritet und Ansehen" als Folge von Ehrgeiz, ferner Intrigen, Praktiken und vermessene Herrschsucht sowie die daraus resultierende Ausrichtung aller Angelegenheiten am eigenen Nutzen und Vorteil, diese menschlichen Schwächen könnten dazu führen, daß eine ganze Kommune und Einzelpersonen durch beschwerliche Neuerungen oder durch die Aufhebung alter Freiheiten und löblichen Herkommens schwer gedrückt und geschädigt würden. Einen vorbeugenden Schutz dagegen und einen disziplinierenden Zwang für die Amtsführung böten der Grundsatz der freien jährlichen Wahl und die Möglichkeit, auch Ratsherren jederzeit wegen ehrwidriger und dem gemeinen Nutzen schädlicher Handlungen abzusetzen. Bei der jährlichen Neuwahl des Rats sollten im übrigen in gewissem Umfang alte Ratsherren durch andere fähige Personen ersetzt werden, insbesondere damit die Jungen Zutritt zum Regiment und Gelegenheit erhielten, sich in die Erledigung ,,gemeinnutzige[r] Sachen" einzuüben. Nicht erfolgte Wiederwahl, „Erlassung des Raths zur Enderung", sollte ein normaler, nicht durch irgendwelche Verfehlungen oder Gebrechen begründeter Vorgang sein und im Gegensatz zu älteren patrizischen Vorstellungen, wie sie in Nürnberg galten, daher niemandem in irgendeiner Weise an Ehre und Leumund abträglich sein. Das Bestreben, die Perpetuierung der Spitzenämter bis hinunter zu den Bürgermeistern zugunsten einer freien, unpräjudizierten Wahl und einer ,,freye[n] Abwechßlung" zu revidieren, hatte auch den Sinn, die Starrheit der Ämterverteilung aufzuheben. Freie Wahl hieß in diesem Falle nicht willkürliche Wahl neuer Personen, sondern turnusmäßigen Wechsel im Amt und zugleich vielfältige Verwendbarkeit bewährter hoher Amtsträger für andere Aufgaben und Ämter, eine freie, „gleichmessige und billiche Abwechßlung der
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) Ebd. Nr. 18, 113-122.
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Ämpter mit inen". Bis auf die Position der Altern wurde dies 1556 v o n Karl V. konzediert. 165 ) Vorsichtig hatte die Ulmer Regimentsspitze auch den Wunsch nach Einrichtung eines Großen Rates entsprechend dem Nürnberger Vorbild, nach „Geprauch und Ü b u n g " Nürnbergs, aber mit nur 70 Mitgliedern ventilieren lassen. Sie meinte, daß dies dennoch bei dem gemeinen Mann „vil Freuntschaft und guts Willens verursachen möcht". 1 6 6 ) Zur Etablierung eines Großen Rates wie in Augsburg und anderen Städten mit karolinischer Verfassung kam es indessen nicht. 167 ) Es finden sich jedoch im Schwörbrief von 1558 die traditionalen Mitwirkungsrechte der „gantzen erbarn Gemaind v o n Burgern, auch Gewerben und Handtwerckhern" in großen und hochwichtigen Sachen. Allerdings ist gegenüber 1397 eine unbestimmte, aber in obrigkeitlichem Sinne interpretierbare Veränderung vorgenommen. D i e Mitwirkungsrechte der G e m e i n d e erstrekken sich nicht mehr auf wichtige Sachen an sich, sondern auf wichtige Sachen, „die ain erbarer Rath für sich selbst nicht verrichten ' " ) Ebd. Nr. 26, 150-152. 166 ) Ebd. Nr. 20, 128. 167 ) Die meisten der von den Verfassungsänderungen betroffenen Städte mit Ausnahme etwa von Aalen und Bopfingen behielten oder erhielten, wie der großen Relation des kaiserlichen Kommissars Dr. Haß zu entnehmen ist, einen Großen Rat, dessen Mitgliederzahl aber in vielen Fällen beträchtlich herabgesetzt, „moderiert" wurde. Überlingen konnte mit Hinweis auf die prekäre personelle Situation im Herbst während der Weinlese und Rechnungstätigkeit die gewünschte relativ hohe Zahl von 40 Großräten behaupten. (Ebd. 288). Auch die kleinen Städte Buchhorn und Buchau erhielten Große Räte, da bei ihnen Gericht und Rat „ein Ding" waren (279, 301). Zwei institutionelle Merkmale treten durchgängig hervor. Bei einem gemeinsamen Beschluß von Kleinem und beigezogenem Großen Rat wird ein Beschluß der ganzen Gemeinde fingiert. Der Beschluß soll befolgt werden, „als ob es von der gantzen Gemein geschehen wer" (190, passim). Außerdem hat der Große Rat dem Kleinen Rat zu schwören, ihm „jederzeit gehorsam, gewertig, beystendig und beretlich" zu sein (215; Dinkelsbühl). Sonst fehlt in den Formulierungen die explizite Gehorsamspflicht, oder es tritt zur Beistands· und Ratspflicht die Verpflichtung hinzu, den Kleinen Rat „zu schützen, schirmen und zu Hand haben" (242, 249). Gelegentlich wird eingeschärft, daß der Große Rat nur in existentiell wichtigen Sachen, die „der Stat gemeine Wolfahrt oder Verderben" betreffen (225), beizuziehen ist, während Überlingen den Großen Rat ausdrücklich nach „altem Herkommen" gebrauchen darf (290). Ein Überblick über verschiedene Städte mit Großen Räten in der Spätzeit findet sich bei Laufs, Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Rotteil (wie Anm. 46), 57 Anm. 31. Über ihre tatsächliche Rolle ist jedoch nur sehr wenig bekannt.
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künde". 168 ) Wozu er sich in der Lage sah oder nicht, das bestimmte dann der Rat doch wohl selbst. Im Jahre 1802, zwei Monate vor dem Übergang der Stadt an Bayern, analysierte der Ulmer Ratskonsulent Dr. Miller in einem sehr kritischen, trotz gewisser Konsulenteninteressen recht aufschlußreichen Gutachten die nach innen absolutistisch organisierte Ratsherrschaft und ihr Verhältnis zur Bürgerschaft. 169 ) Eine seiner Kernaussagen lautet: „Auf dem Rat oder Magistrat ruht alle und jede Staatsgewalt über Ulm und sein Gebiet ganz allein mit völligem Ausschluß der Bürgerschaft, die als solche nicht einmal eine Repräsentation, geschweige Teilnahme an der Regierung und Verwaltung, ja nicht einmal Einsicht davon zu nehmen hat." 170 ) Zwei Kennzeichen vor allem charakterisieren die - noch mittelalterlich konstruierte - Ratsgewalt nach Auffassung des Juristen: Sie ist zum einen in ihrer verfassungsrechtlichen Konstruktion einheitlich, umfassend und unumschränkt; zum andern wird sie, was die Bindung an das Gesetzesrecht und die Form des Mehrheitsbeschlusses in allen Sachen anlangt, arbiträr gehandhabt, handelt es sich - gewissermaßen herrschaftssoziologisch betrachtet - durch die Herausbildung einer „Oligarchie" wirklich Informierter im Rat, durch die Mitwirkung von Illiterati und durch das Votieren eines erheblichen Teiles ohne zureichende Geschäftskenntnis nach blindem Glauben oder nach Leidenschaft um eine willkürliche und durch Zufallsentscheidungen charakterisierte Herrschaft. „Alle Kollegien und Bedienstete, welche auch alle ohne Unterschied von dem Rat allein ernannt werden, vollziehen nur dessen Aufträge oder handeln nur durch Berichte und Gutachten, die der Magistrat annehmen, abändern, verwerfen kann. Der geheime Rat soll eigentlich nur Geschäfte vorbereiten und bei eilenden Fällen provisorisch verfügen und dann die Sache an den Rat bringen. In neueren Zeiten verfügt er sehr oft, ohne dem Magistrat die mindere Kenntnis von der Sa-
,68 ) Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (wie Anm. 10), Nr. 29, 164. 169 ) „Kurze staatsrechtliche Darstellung der Reichsstadt Ulm und ihres Gebiets mit angehängten Bemerkungen"; gedruckt in: B. Zittel, Die staatsrechtlichen Verhältnisse der Reichsstadt Ulm beim Übergang an Bayern im Jahre 1802/1803, in: Ulm und Oberschwaben 34, 1955, 121-141. Die Darstellung gelangte nach Bayern. "°) Ebd. 122.
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che zu geben oder er gibt sie ihm, wenn alles geschehen, auch wohl schon vollzogen ist."171) Die Ratsgewalt unterliegt wie seit alters keinem Gewaltenteilungsprinzip, umfaßt daher die gesetzgebende, vollziehende und hinsichtlich der Ratsgerichtsbarkeit auch die rechtsprechende Gewalt. Der Rat hat aber, wie der Jurist darlegt, dazuhin die Zivilgerichtsbarkeit des institutionell von der Ratsgewalt gesonderten Stadtgerichts aufgesogen. Rechtsgutachten der Ratskonsulenten, die der Rat nach Gutdünken anfordert, gelten nur als ein „Informativ" oder als unmaßgeblicher Ratschlag. Die Entscheidung im Rat hängt meist von der Willkür des die erste Stimme führenden ersten Ratsältesten ab.172) Unverkennbar möchten die Ratskonsulenten, denen in Ulm die Wählbarkeit in den Rat verwehrt ist, auf Grund ihrer Rechtsgutachten, ihrer Urteilsvorschläge und ihrer prozeßleitenden Rolle im Inquisitionsverfahren gewissermaßen als zweite, rechtsprechende Gewalt neben der des Rats erachtet werden. Auch die personelle Besetzung des Rates, der mit 41 Mitgliedern zu groß für eine ordentliche Behandlung der Geschäfte durch alle Mitglieder erscheint, wird einer grundsätzlichen soziologischen Kritik unterzogen. Die Patrizier „wissen von Kindheit an, daß sie Ratsherren werden und die ersten Stellen erhalten müssen". Allerdings besetzen sie in den ersten 20 Jahren im Rat nur unbedeutende Ämter und gelangen erst im Alter von 60 bis 70 Jahren zu den ersten Stellen im Regiment. Daher regiert auf patrizischer Seite eine Ge'") Ebd. In Rottweil galten die Beschlüsse des „engeren Rates", die dieser in unaufschiebbaren Sachen fassen durfte, nur vorläufig und bedurften der Bestätigung durch den Magistrat. Laufs, Die Verfassung und Verwaltung der Reichsstadt Rottweil (wie Anm. 46), 97. 172 ) Zittel, Verhältnisse Ulm (wie Anm. 169), 129. Bereits 1697 hatte der Kaiser auf eine Klage hin den Rat angewiesen, jeder Ratsherr solle bei der zu treffenden Entscheidung ordentlich um seine Meinung gefragt werden und nicht nur durch Fingeraufheben der Ansicht des erstabstimmenden Oberen folgen. Nach Angabe des klageführenden Freiherrn von Welser konnten einige Ratsherren nur ihre Namen schreiben und lesen. G. Gärtßlen, Die Ratsadvokaten und Ratskonsulenten der Freien Reichsstadt Ulm insbesondere ihr Wirken in den Bürgerprozessen am Ende des 18. Jahrhunderts. 1966, 158 mit Anm. 637. Die kaiserliche Entscheidung wurde von dem Ratskonsulenten Johann Leonhard Holl in einer Schrift von 1797 aufgegriffen. Nach einer Rechtsauskunft Nürnbergs von 1548 wird im Rat zunächst einer der Älteren Herren befragt, „und geet also die Frag durch die Eltern hinauß und so weith, als die Burgermeister nach Gestalt der Sachen und Wichtigkeit des Handels fur N o t achten". Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (wie Anm. 10), Nr. 11, 87.
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rontokratie mit einer traditionalistischen, konservativen Grundeinstellung aus altersbedingter Sehnsucht nach Ruhe. Auf der anderen Seite ist den Ratsherren aus der Gemeinde oder aus den Zünften, die zu Teilen aus dem Handelsstand und der Handwerkerschaft kommen, ihre „Nahrung", die Sicherung des Lebensunterhaltes „die Hauptsache, das Ratsamt die Nebensache. Man kann von ihnen Rechtschaffenheit, gut gebildeten Verstand, patriotischen Sinn, aber doch keine Regierungswissenschaft erwarten, wozu ihnen selbst die ersten Vorkenntnisse von Schulen her ermangeln". 173 ) Das Hauptübel der Verfassung liegt nach Dr. Millers Auffassung indessen darin, daß der Rat „zu unumschränkt" regiert. Seine Machtfülle birgt einerseits auch für Rechtschaffene die Gefahr der Willkür in ihrer Handhabung, auf seiten der Bürger ruft sie ein begründetes Mißtrauen und Mißvergnügen hervor, „weil die Bürger als solche in diesem kleinen Staate eine politische Null sind". 174 ) Daraus resultieren „ewige Prozesse" zwischen Rat und Bürgerschaft, Zerfall des „gemeinen Wesens" und Lähmung der Regierung. Dabei ist das autokratische Ratsregime trotz seiner unumschränkten Gewalt infolge seiner Ämterstruktur nicht einmal in der Lage, eine effektive Herrschaft auszuüben, da die Polizeigewalt unkoordiniert auf viele Ämter verteilt ist. Es gibt zwar viele gute Polizeigesetze, aber es fehlt an Anwendung und Exekution. Vergebens hatten wenig zuvor im Jahre 1798 ein Bürgerausschuß und der ehemalige Ratskonsulent Johann Leonhard Holl 175 ) als Syndikus der Bürgerschaft in Vergleichsverhandlungen mit dem Magistrat eine weiterreichende Umgestaltung der Ulmer Verfassung angestrebt. Dabei waren sie über die bisherigen üblichen Forderungen 176 ) nach Anerkennung eines Beschwerderechts der Bürger, nach institutionalisierter Kontrolle und Mitwirkung hinsichtlich von Fi-
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) Zittel, Verhältnisse Ulm (wie Anm. 169), 131. Zur Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft unter den Ulmer Patriziern und zu den Folgen für die Rats- und Ämterbesetzung, ferner zu den zähen Auseinandersetzungen mit dem Kaiser um Neuaufnahmen ins Patriziat s. Gänßlen, Die Ratsadvokaten (wie Anm. 172), 155 ff. Trotz der Neuaufnahmen gab es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur noch 10-11 Geschlechterfamilien; 17 waren es noch um 1548 gewesen. 174 ) Zittel, Verhältnisse Ulm (wie Anm. 169), 131. 175 ) Zum Lic. Holl s. Gänßlen, Die Ratsadvokaten (wie Anm. 172), bes. 186 ff., 236 f., passim. 176 ) Ebd. 144-174.
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nanzangelegenheiten 177 ), nach Änderungen in der Stellenbesetzung des Patriziats wegen zu naher Verwandtschaftsverhältnisse und nach Wiederherstellung der alten Zuständigkeiten des Stadtgerichts grundsätzlich hinausgegangen. Der bürgerschaftliche Verfassungsentwurf 178 ) zielte auf eine Demokratisierung der Ratswahl, auf die grundsätzliche Anerkennung der politischen Bürgerschaft, auf Ansätze einer Gewaltenteilung, auf mehr Rechtsstaatlichkeit und institutionelle bürgerschaftliche Kontrollrechte, bewahrte aber auch eine Reihe ältester und bisheriger Verfassungstatbestände, d.h. der Zunftverfassung und der karolinischen Verfassung. Die Gesetzgebung nimmt dem Verfassungsentwurf zufolge ein mit 32 Mitgliedern recht kleiner Äußerer Rat unter Mitwirkung eines nur 16 Mitglieder umfassenden Inneren Rates wahr. Die Gesamtbürgerschaft als Kategorie der Verfassung rückt dadurch in eine neue Stellung ein, daß sie zur Sanktionierung der Gesetze heranzuziehen ist, die Landeshoheit bei der Bürgerschaft residiert 179 ) und der Innere Rat der Bürgerschaft verantwortlich ist. Der Innere Rat übt die Exekutive und die Landeshoheit aus und ist allein für die Ämterbesetzungen, Amtshandlungen und die Finanzverwaltung verantwortlich. Allerdings ist zu wichtigen Angelegenheiten wie größeren Ausgaben, neuen Steuern, Kapitalaufnahme, Veräußerungen und zur jährlichen Rechnungslegung der Äußere Rat beizuziehen, dem außerdem jederzeit Einsicht in die Finanzen zu geben ist. Kein Mitglied der Gesetzgebung und der ausführenden Gewalt, man '") Der Ulmer Magistrat fürchtete sich vor der unmittelbaren Mitwirkung einer officio publico eingerichteten und auch bezahlten, ständigen bürgerlichen Deputation. Vgl. die Übersicht über bürgerschaftliche Kollegien und Deputationen bei J. F. Malblank, Abhandlungen aus dem Reichsstädtischen Staatsrechte. 1793, 90 ff. Gänßlen, Die Ratsadvokaten (wie Anm. 172), 152 ff. Dazu und zur Finanzlage der Städte, die häufig Anlaß für bürgerschaftliche Unruhen war, s. zusammenfassend R. Hildebrandt, Rat contra Bürgerschaft. Die Verfassungskonflikte in den Reichsstädten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 1, 1974, 221-241. Ders., Zur Frage der reichsstädtischen Finanzen und Haushaltspolitik seit dem Westfälischen Frieden, in: E. Maschke - J. Sydow (Hrsg.), Städtisches Haushalts- und Rechnungswesen. 1977, 91-107. 178 ) Gänßlen, Die Ratsadvokaten (wie Anm. 172), 177. Holl zitiert in seinen Schriften und in dem ihm zugeschriebenen Verfassungsentwurf aus Werken Montesquieus, Alexander Popes und Adam Fergusons. Ebd. 188. 179 ) S. dazu die Reichshofratsbeschlüsse zu Beginn des 18. Jahrhunderts. T. L. U. Jäger, Juristisches Magazin für die deutschen Reichsstädte. Bd. 3. 1793, 429-446 („Über das Verhältnis zwischen Magistrat und Bürgerschaft in Reichsstädten").
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trennt Regierung und Verwaltung, darf Beamter werden. Die Strafgerichtsbarkeit bleibt jedoch beim Inneren Rat; für die übrigen Rechtssachen sind die vom Rat gesonderten Stadtgerichte wieder zuständig. Dem Inneren und Äußeren Rat steht ein Kollegium von Juristen zur Seite. Bemerkenswert ist das Wahlrecht. Die Mitglieder des Äußeren Rates werden als Abgeordnete von den Bewohnern nicht nur den Bürgern - der verschiedenen Stadtteile und der einzelnen Landgebiete direkt gewählt, die Mitglieder des Inneren Rates hingegen in indirekter Wahl von den Bürgern aller Stände und aus deren Mitte. Eine mit der Zeit immer bedeutungsvollere Differenz zwischen den Schweizer Städten und den deutschen Reichsstädten - auch landesherrlichen Territorialstädten - liegt darin, daß die Reichsstädte dem Kaiser als Stadtherrn und Reichsoberhaupt unterstanden. Stadtherrschaft heißt, daß der Kaiser verändernd in die städtischen Verfassungsstrukturen eingreifen konnte, was er gemäß der Wahlkapitulation von 1790 nicht „willkürlich" tun sollte180), und der Magistrat in seiner Amtsführung der kaiserlichen Oberaufsicht subordiniert war, die der Jurist Julius Friedrich Malblank am Ausgang des 18. Jahrhunderts mit Rücksicht auf die bürgerschaftlichen Rechte „ein wahres Kleinod der deutschen Reichsverfassung" nannte. Tatsächlich haben auch nach dem Westfälischen Frieden und insbesondere in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Kaiser und als sein Regierungskollegium der Reichshofrat - selten das Reichskammergericht - durch Kommissionen, Reskripte und Conclusa auf Berichte oder förmliche Supplikationen der Parteien hin in das innere Gefüge und politische Leben von Reichsstädten eingegriffen und sogar auch Kreistruppen in Bewegung gesetzt, wenn es galt, in Verfassungskrisen, bei Unruhen, Revolten und Kämpfen den Verfassungsfrieden und den bürgerlichen Frieden wiederherzustellen und das Stadtregiment wieder zu stabilisieren. Am ehesten fielen Entscheidungen zugunsten der Rechte einer sich gegen den Magistrat auflehnenden Bürgerschaft aus, wenn es um Fragen der Besteuerung, der Schuldenbewirtschaftung 181 ) und der Finanzverwaltung
180 ) Zusätze zur Wahlkapitulation Leopolds II., Art. I. § 8: „auch besonders die Städte bey ihren wohlhergebrachten Verfassungen und gesetzlichen Regierungsformen handhaben, ohne darinn willkührliche Veränderungen zu machen, noch zu gestatten." Malblank, Abhandlungen (wie Anm. 177), 115. "') Über die Verschuldung der Reichsstädte und ihre Ursachen vgl. schon
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oder um das städtische Gemeingut ging. Hier ordnete die kaiserliche Seite die Mitwirkung und Kontrolle bürgerschaftlicher Kollegien, von Deputationen aus Magistratspersonen und bürgerschaftlichen Vertretern oder bürgerschaftliche Kontrolleure und Gegenschreiber mit eigenen Gegenbüchern und Registern bei den Stadtkassen an. Rechtlich unangefochten freilich blieb die Stellung des Magistrats als Obrigkeit, die das Stadtregiment in Händen hat, die Reichsstandschaft und die Landeshoheit, wie der Ersatzbegriff für die - eingeschränkte - Souveränität lautet, samt allen daraus fließenden Rechten ausübt. Johann Jacob Moser definiert: „Der Magistrat ist der Burgerschafft Obrigkeit, aber nicht ihre Herrschaft; und die Burger seynd des Raths Untergebene, aber nicht seine Unterthanen ; Rath und Burgerschafft zusammen machen die Reichsstatt und dessen politischen Cörper und Landesherrschafft aus." 182 ) Und: „Wann schon der Magistrat Superioritatem territorialem administrirt; so constituiret doch die Burgerschafft das eigentliche Corpus der Reichsstatt, um dessentwillen der Magistrat da ist und es gubernirt." 183 ) Vielfach auf Moser und seinen Materialien fußend hat J. F. Malblank immer wieder darauf insistiert, daß dem reichsstädtischen Magistrat „von allen Hoheits- und obrigkeitlichen Rechten nur die Administration anvertraut" sei184), die Rechte der Reichsstandschaft und sämtliche Regalien auf der „ganzen Gemeinheit" hafteten, die Magistrate diese nur als „Administratoren im Nahmen der Bürgerschaft und Gemeinheit" ausübten 185 ), auch das städtische Eigentum immer auf „der ganzen Gemeinheit und Bürgerschaft" hafte.186) Die Großen Räte und die bürgerlichen Kollegien als Repräsentationen der Bürgerschaft hätten in Steuerangelegenheiten ein decisives Stimmrecht. 187 ) „Sichere Regel" sei, „daß es keine Reichs-
Fortsetzung Fußnote von Seite 259 J.J.Moser, Von der Reichs-Stättischen Regiments-Verfassung. 1772 [Neudruck 1967], 294. ,82 ) Ebd. 534. ,83 ) Ebd. 523. 184 ) Malblank, Abhandlungen (wie Anm. 177), 115. 185 ) Ebd. 184. 186 ) Ebd. 80. 187 ) Ebd. 65.
Städtische Gemeinde im oberdeutsch-schweizerischen
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Stadt ohne bürgerliche Repräsentanten gebe" 188 ), daß selbst in aristokratisch regierten Reichsstädten „bürgerliche Rechte im Zweifel anzunehmen und für heilig zu halten" seien.189) Um seine Rechtsauffassung zu begründen, zieht Malblank immer wieder historische Belege und Beispiele heran; im Interesse der ihm gegenwärtigen Rechtslage interpretiert er sie und folgert er als Jurist freilich normativ und systematisch, im wesentlichen überzeitlich mit Vernunftgründen und mit Hilfe der juristischen Denk- und Argumentationsformen der Analogie - aus der Reichs- und Territorialverfassung - , der Natur der Sache und der zwingenden Rechtsvermutung. Doch als überzeitliche, unanfechtbare Wahrheit und Sollensnorm erscheint schon die lapidare Feststellung, mit der sich 1612 die Bürgerschaft Frankfurts gegen einen patrizischen „Domin â t " wendet, daß nämlich „der Rat um der Bürgerschaft willen und nicht die Bürgerschaft um des Rates willen d a " sei.190)
,88
) Ebd. 54. "') Ebd. 58. Zitiert nach M. Meyn, Die Reichsstadt Frankfurt vor dem Bürgeraufstand von 1612 bis 1614. Struktur und Krise. 1980, 62.
DIE LÄNDLICHE GEMEINDE IM MITTLEREN DEUTSCHLAND (VORNEHMLICH 16.-18. JAHRHUNDERT) VON WERNER TROSSBACH
E s ist politisch so wie geographisch: je mehr man sich zur Mitte bewegen soll, um so undeutlicher werden die Grenzen. Gegenüber „Sachsen" und „Franken" handelt es sich beim „mittleren Deutschland" um ein diffuses, höchstens rückschauend in die Existenz zu versetzendes Gebilde, keinesfalls um eine gewachsene oder sonstwie zu definierende historische Region. Historisch-geographisch ist zwar von Friedrich Lütge mit seiner „mitteldeutschen Grundherrschaft" ein wortverwandter Begriff geprägt worden. Für ihn umfaßt „Mitteldeutschland" allerdings das „spätere Kursachsen" und v.a. Thüringen, „ergänzt durch die Gebiete nördlich des Harzes (bis zur Geltung des nordwestdeutschen Meierrechts) und das Altsiedelland von Anhalt mit einem noch nicht geklärten Grenzverlauf gegenüber dem Herzogtum Magdeburg". 1 ) Es ist evident, wie sehr der historisch-geographische Begriff Lütges mit dem politischen der fünfziger Jahre korrespondiert (inclusive dem „noch nicht geklärten Grenzverlauf"). Diese Region kann im Thema allerdings nicht gemeint sein. Ungeklärt ist aber auch das Nachbarschaftsverhältnis der „mitteldeutschen Grundherrschaft" zu anderen von Lütge konstruierten Typen. Es ist unschwer zu erkennen, daß westlich und südwestlich der „mitteldeutschen Grundherrschaft" ein großes Loch in Lütges Typologie klafft, und es liegt die Versuchung nahe, dieses Loch zum „mittleren Deutschland" neuerer Lesart und damit zum Thema zu erklären.
') F. Lütge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. 1963, 159.
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Der Hinweis auf Lütge kann - bei aller Begrenztheit seiner Arbeiten - aber auch für das Gesamtthema dieser Tagung nützlich sein. Akzeptiert man einmal den - problematischen und fragmentarischen - Begriff der Agrarverfassung, so sind Lütges Typen nicht nur geographisch (oder auch prinzipiell-methodisch als Typen) kritisierbar (oder mindestens ausbaufähig), sondern auch vom Klassifikationsgesichtspunkt her. Akzeptiert man einmal historisch-geographische Typen, so ist es nicht unmittelbar einsichtig, wieso „Herrschaft" und nicht „Gemeinde" den Maßstab abgeben soll. Mindestens nach dem Verhältnis von beiden sollte - auch im Hinblick auf Typisierungen - gefragt werden, wie dies Harnisch für „sein" Revier mit Gewinn getan hat. 2 ) Dies gilt im übrigen auch für das Kriterium „Erbrecht", das in neueren Forschungen wieder in den Vordergrund tritt. 3 ) Die in Lütges Kompendium spürbare Vernachlässigung des „mittleren Deutschland" liegt in der Tradition der landesgeschichtlichen Forschung, die sich anders als „schwäbische" oder „sächsische" Varianten nicht stammesgeschichtlich überhöhen konnte, auch nicht im bezug auf „Herrschaft". Ansätze dazu gab es allein auf dem Territorium der alten Landgrafschaft Hessen, wo sich im 19. Jahrhundert eine territorialstaatliche Ideologie stammesgeschichtlich zu fundieren versuchte (Chattenmythos). Aus dieser Zeit datieren allerdings einige auch für das Thema „Gemeinde" ergiebige Untersuchungen, etwa die von Thudichum über die Wetterau und die von Varrentrapp über die gemeinen Marken (v. a. Oberhessen). 4 ) Eine Erhebung des an die „mitteldeutsche Grundherrschaft" angrenzenden Territoriums der Landgrafschaft Hessen zum Kernland des „mittleren Deutschland" neuerer Lesart würde insofern diesen (ideologischen) Traditionen gerecht. In gewissem Sinne ist das auch nicht ganz so unhistorisch, wie es zunächst klingt. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gibt es tatsächlich Versuche des armierten Reichsstandes Hessen-Kassel, mit Hilfe der „waldecki2
) H. Harnisch, Gemeindeeigentum und Gemeindefinanzen im Spätfeudalismus, in: JbRegG 8, 1981, 126-174. 3 ) D. W. Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit. 1986, 179 ff. 4 ) E. Thudichum, Rechtsgeschichte der Wetterau. 3 Bde. 1867-1885 (Neudruck 1969); F. Varrentrapp, Rechtsgeschichte und Recht der gemeinen Marken in Hessen. 1909.
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sehen Union der westerwäldischen und wetterauischen Stände" 5 ) eine solche Region militärisch zu dominieren; nur Agrargeschichte ist das beileibe nicht. Die Landgrafschaft Hessen als Kerngebiet einer „mittelwestdeutschen Grundherrschaft" - auch der neuere Forschungsstand rechtfertigt ein solches Kunststück. So basieren große Teile dieses Beitrags auf der gründlichen Arbeit von Herbert Reyer6), die sich vornehmlich, aber nicht ausschließlich mit den hessen-kasselischen Ämtern in Ober- und Niederhessen beschäftigt. Andere Territorien, die die Landgrafschaft teils umrahmen oder durchsetzen, sollen allerdings ergänzend und problematisierend herangezogen werden, meist in der Absicht, den von Reyer gesteckten verfassungsgeschichtlichen Rahmen etwas zu erweitern. Es handelt sich v.a. um die Grafschaften Solms, Isenburg und die Ritterherrschaften in Wetterau und Vogelsberg sowie um eher impressionistische Bemerkungen aus der Grafschaft Wittgenstein und dem Westerwald (und damit um das Gebiet der erwähnten waldeckischen Union des 17. Jahrhunderts). Zeitlich geht es für die Landgrafschaft Hessen, an Reyer anknüpfend, v.a. um das 16. Jahrhundert, für das „ U m l a n d " eher um das 17. und 18. Jahrhundert. Landgemeinde ist verfassungsgeschichtlich bekanntlich ein Oberbegriff für verschiedene juristische und reale Gebilde. Für die „hessischen" Verhältnisse (im weitesten Sinne) der frühen Neuzeit sind v. a. drei Ausformungen zu betrachten : die Dorfgemeinde, die Gerichtsgemeinde und die „gemeinen Marken". Aber auch das Verhältnis von kirchlicher zu „politischer" Gemeinde soll zur Sprache kommen. Oberstes Organ der Dorfgemeinde war die Gemeindeversammlung, zu der alle Männer, die „eigen Rauch" hatten, also alle Haushaltsvorstände, zu erscheinen hatten. Es bestand Anwesenheitspflicht, die zuweilen auch kontrolliert wurde. Alle Mitglieder der Gemeinde hatten in der Versammlung gleiches Stimm- und Rederecht, auch wenn Besitz, Abgaben und Anteile an der Allmende
5
) W. Jannen jr., „Das liebe Teutschland" in the Seventeenth Century. Count George Frederick von Waldeck, in: European Studies Review 6, 1986, 165 ff. ' ) H. Reyer, Die Dorfgemeinde im nördlichen Hessen. Untersuchungen zur hessischen Dorfverfassung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. 1983.
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unterschiedlich groß waren. 7 ) Differenzierungen in der Gemeinde werden in den Salbüchern der Landgrafschaft Hessen selbstverständlich nicht verschwiegen. Einige Salbücher unterscheiden nach sozioökonomischen Kriterien, etwa dem Kriterium des Gespannsund Pflugbesitzes, zwischen Bauern und Einläufigen. Andere Unterscheidungen, z. B. Bauern und Hintersiedler, Ackerleute und Kötner oder die Dreiteilung Bauern, Hintersiedler und Hüttner in den fuldischen Ämtern nehmen zwar auch soziale Kriterien auf, sind aber eher ständisch bzw. siedlungsgeschichtlich orientiert. 8 ) Zur Gemeindeversammlung wird in der Regel durch Glockenschlag gerufen, geläutet wird vom Küster bzw. dem Opfermann 9 ), von dem noch später die Rede sein wird. Zwar zeigt sich auch in seinem Amt, wie sehr in der Frühen Neuzeit kirchliche und politische Gemeinde verquickt waren (ohne immer zusammenzufallen), die heutige Gleichsetzung von „Kirche" und „Glocke" bestand für die Bewohner frühneuzeitlicher oder spätmittelalterlicher Dörfer jedoch nicht.10) Die Glocke als wichtigste Möglichkeit, eindeutige und weithin hörbare Signale zu geben, gehörte zu den wichtigsten Streitobjekten zwischen Dorfherrschaft und Gemeinde. Die Obrigkeit betonte immer wieder ihr Recht auf die Glocken"), naturgemäß meist im Falle des Sturmläutens. V.a. der Bauernkrieg, obwohl er Hessen nur streifte, hatte die Obrigkeiten hellhörig gemacht. Auch in den kleineren Aufständen des 17. und 18. Jahrhunderts sind „Zusammenläufe" der Gemeinden meist vom Klang der Sturmglocke untermalt bzw. von ihm veranlaßt. In den Verhören danach ist eine der ersten Fragen immer, wer gestürmt bzw. zum Stürmen Anlaß gegeben habe. Im Busecker Tal bei Gießen waren die Glockentürme verschlossen und der Schlüssel im Besitz des Küsters bzw. des Schulmeisters. Im Ernstfall mußte ihn die Gemeinde, wenn er nicht mit-
') Ebd. 24. 8 ) Ebd. 25. Zu den fuldischen Verhältnissen: H. Hildebrandt, Regelhafte Siedlungsformen im Hünfelder Land. Ein Beitrag zur Erforschung der Genese der Kulturlandschaft im ehemaligen Territorium der Reichsabtei Fulda. 1968. ') Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 27. 10 ) D. Stockmann, Der Kampf um die Glocken im deutschen Bauernkrieg, in: H. Strobach (Hrsg.), Der arm man 1525. Volkskundliche Studien. 1975, 314. ") Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 27.
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tun wollte, erst zur Herausgabe des Schlüssels auffordern. 12 ) Streit um angeblich unbefugtes Glockenläuten gab es auch in verschiedenen landgräflich hessischen Dörfern. 13 ) Nicht nur das Sturmläuten, auch das Versammlungsläuten 14 ) durfte nicht ohne herrschaftliche Zustimmung stattfinden. Die Herren von Löwenstein z.B. bestanden (mit Unterstützung durch die landgräflichen Gerichte) darauf, daß die Glocke selbst in „gemeinen Dorfsachen" nur mit Zustimmung der herrschaftlichen Sachwalter zu läuten sei.15) Dies stellt die allgemeine Frage nach der Befugnis, die Gemeindeversammlung einzuberufen. Im landgräflichen Hessen schließt die Formulierung, daß eine Versammlung nur „mit Vorwissen" des Dorfvorstehers möglich sei, auch die Initiative von seiten der Gemeinde nicht aus, während ein Selbstversammlungsrecht gegen obrigkeitliche Strafen durchgesetzt werden mußte. 16 ) Standen Gemeinden aus dem „mittleren Deutschland" im Prozeß mit ihrem Landesherrn, so war naturgemäß auch das Versammlungsrecht strittig. Die Reichsgerichte räumten in diesen Fällen klagenden Landschaften und Gemeinden meistens ein Selbstversammlungsrecht ein, die Versammlung mußte allerdings dem Dorfvorsteher angezeigt werden, ohne daß dieser ein Teilnahmerecht hatte. Für die prozessierenden Gemeinden waren solche von der Obrigkeit als „Sauf-Conventicula" abgetane Versammlungen elementare Prozeßnotwendigkeit. 17 ) Diese komplizierten Regelungen im Konfliktfall zeigen auf der anderen Seite, daß im 17. und 18. Jahrhundert nichts mehr ohne das Wissen der Obrigkeit in den Gemeindeversammlungen verhandelt werden konnte. 18 ) Die Verhandlungsgegenstände in der Gemeindeversammlung sind nur spärlich überliefert, wenn es sich nicht um herrschaftliche Veranstaltungen zur Abgabenregelung oder Bekanntmachung neuer Ordnungen handelte. Es darf aber davon ausgegangen werden, daß es darum ging, Arbeit und Wirtschaft im Dorf, die vielfach kollektiv ,2 ) W. Troßbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648-1806. 1986, 128 f. ,3 ) Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 27. '") Zum Unterschied: Stockmann, Kampf (wie Anm. 10), 316. ls ) Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 28. 16 ) W. Troßbach, Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet. Fallstudien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. 1985, 440. 17 ) Ebd. ls ) Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 34.
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rückgebunden waren, zu organisieren, Termine festzusetzen, Gemeindearbeiten und -ämter zu verteilen.") Manchmal ist immerhin auch die Rede davon, daß „nachbarliche Gebrechen" zur Sprache kamen. 20 ) Im Konfliktfall mit der Obrigkeit ging es in den Gemeindeversammlungen nicht nur allgemein um Strategie und Taktik, sondern auch konkret um die Bevollmächtigung von Advokaten und Deputierten, auch um die Ausschreibung von Geldern zur Prozeßführung, die von den Reichsgerichten als prozeßnotwendig geduldet, von den beklagten Orbigkeiten jedoch als „Sub- und NebenCollectation" bekämpft wurde. 21 ) Das Verhältnis von Gemeinde und Herrschaft, und zwar im Normal- und nicht im Konfliktfall, der selbst im prozeßfreudigen „mittleren Deutschland" die Ausnahme blieb, ist auch für die Besetzung der dörflichen Ämter und der davon ausgehenden Befugnisse angesprochen. Typisierungen sind hier im „mittleren Deutschland" besonders schwierig. Schon die Benennungen unterscheiden sich von Region zu Region, von Ort zu Ort, und als besondere Schwierigkeit kommt hinzu, daß sich unter gleichen Bezeichnungen von Dorf zu Dorf verschiedene Befugnisse und Tätigkeiten verbergen. Demgemäß ist auch die Herleitung der dörflichen Amtsgewalt in der Forschung umstritten. Dies gilt v. a. für den Dorfvorsteher. In einigen Regionen des „mittleren Deutschland" gibt es ihn im 17. und 18. Jahrhundert nicht (mehr?), so z.B. in den Dörfern der riedeselischen Gerichte Moos und Engelrod. 22 ) Hier hatte die größere Gerichtsgemeinde das Amt des Dorfvorstehers quasi aufgesogen. Wo er vorhanden ist, begegnet uns der Dorfvorsteher im nördlichen Teil des „mittleren Deutschland" als Schultheiß oder Grebe, im Nordosten auch als Richter, während er im Süden (und der Gegend um Gießen) als Heimbürge in Erscheinung tritt. Greben und Schultheißen finden wir allerdings auch in der Wetterau (dem Freigericht Kaichen bzw. dem Amt Hungen). 23 ) ") Als Beispiel aus Mecklenburg: W. Troßbach, Überleben heißt Zusammenleben. Gedanken zu einer dörflichen Quelle aus dem 17. Jahrhundert, in: S. Groeneveld (Hrsg.): Grün kaputt - Warum? Eine Textsammlung. 1988, 235-252. 20 ) Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 34. 21 ) Troßbach, Bauernbewegungen (wie Anm. 16), 440. 22 ) G. Schmidt, Agrarkonflikte im riedeselischen Gericht Moos im 17. Jahrhundert, in: ArchHessG N F 37, 1979, 215ff. 23 ) Troßbach, Bauernbewegungen (wie Anm. 16), 48 ff., 121 ff.
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Im 17. und 18. Jahrhundert war der Dorfvorsteher im „mittleren Deutschland" v.a. von seinen „obrigkeitlichen" Aufgaben in Anspruch genommen. Traditionell für die Sammlung und Weitergabe von Naturalabgaben zuständig, gehörte es z.B. auch zu den Aufgaben des Schultheißen, für den ordnungsgemäßen Ablauf von Fronen zu sorgen, manchmal auch die „Mannschaft" zur Arbeit zu führen. 24 ) Mit der weiteren Durchsetzung des „Steuerstaates" 25 ), v. a. in der Landgrafschaft Hessen, wurde der Vorsteher auch, wenn es keinen besonderen Einnehmer gab, für die Geldabgaben zuständig.26) Gleichfalls als Reflex staatlicher Entwicklung ist eine Zunahme von Funktionen der Vorsteher im Polizeiwesen zu sehen. In den Polizeiordnungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert werden die Vorsteher angewiesen, die Einhaltung christlich-sittlicher Normen zu überwachen. Hinzu kamen Ausführungsbestimmungen in Bettelordnungen, Maßnahmen gegen Straßenräuberei, gegen Übertretung der Sperrstunden 27 ), kurz in allen Bereichen, in die der frühneuzeitliche Polizeistaat mit seinem unstillbaren Regelungsbedürfnis einzugreifen versuchte. Die Frage der Polizeigewalt im weiteren und im engeren Sinne (der Friedewahrung) zielt eigentlich auf den Kern der gemeindlichen Selbstverwaltung. Eindeutig ist, daß die Polizeiordnungen der frühneuzeitlichen Staaten die Gemeinden zu nachgeordneten Organen in einem hierarchischen Staatsaufbau degradieren, lokale Gebräuche auf territorialer Basis zu vereinheitlichen versuchen. Offen bleibt jedoch der Grad der Entmündigung. Daß er von Ort zu Ort je nach der Macht des Herkommens variierte, ist eine triviale Feststellung. Zwar stimmt auch noch für den Absolutismus, daß „Bauern aus der Gemeinde, teils gewählt, teils eingesetzt [...] im Zusammenwirken von Gemeinde und Herrschaft" ζ. B. Aufgaben „baupolizeilicher, feuerpolizeilicher und marktpolizeilicher Art" wahrnehmen 28 ), sie tun dies jedoch nach den Richtlinien des absolutistischen Staates. So bestimmt ζ. B. die wied-runkelische Polizeiordnung von 1769: „Alle viertel Jahr soll jeder Schultheiß mit Zuziehung eines 24
) Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 60. ") G. Oestreich, Ständetum und Staatsbildung in Deutschland, in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. 1969, 277-285. 26 ) Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 84 f. 27 ) Ebd. 65 f. 28 ) P. Blickle, Die Revolution von 1525. 2. Aufl. 1981, 133 f.
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Heimbergers [...] dann eines Zimmer und Maurer Handwerks Zunftmeisters, alle Häuser seines Kirchspiels [...] visitiren und von dem Befunde, oder wo es daran gemangelt und dieser Feuer-Ordnung nicht nachgelebet worden, bey jedem Quartal Rügetag schriftlichen Rapport erstatten." 29 ) Die naive Frage: „Was war vor dieser Feuerordnung?" ist für Wied-Runkel schwer zu beantworten. Gab es Feuerordnungen und -lnspektionen gar nicht, gab es sie im Zusammenwirken von Herrschaft und Gemeinde, oder gab es sie, von der Gemeinde veranlaßt und nach eigenen Kriterien durchgeführt? Da vor den mehr oder weniger absolutistischen Dorf- und Polizeiordnungen Quellen in vergleichbarer Dichte fehlen, ist ein Rückgriff auf die älteren Weistümer nötig. Aber auch sie geben über die Bereiche der „niederen Polizei" nur spärlich Auskunft. Ihre Fixierung auf Herrenrechte, Gerichtsverfahren, Allmendeordnungen und Grenzen läßt uns selten ins Innere der Gemeinden dringen. Daß sich Gemeinden „ohne herrschaftliche Mitwirkung Ordnungen für bestimmte Lebensbereiche" 30 ) gegeben hätten, läßt sich zumindest für den von Willoweit untersuchten südhessischen und mainfränkischen Raum auch aus den Weistümern nur selten entnehmen. Schon von der Quellengattung her sind die Weistümer nicht als „Ordnungen ohne herrschaftliche Mitwirkung" zu qualifizieren. Sie spiegeln vielmehr ein Herkommen ohne Rücksicht auf sein Zustandekommen wider. Ziel der weisenden Gemeinde kann es überhaupt nur sein, ein solches Herkommen gegen Übergriffe zu verteidigen. Dennoch sind die Verhältnisse, die die Weistümer (auf dem von ihnen wenig behandelten Feld der „niederen Polizei") regeln, wesentlich von denen unterschieden, die die Dorf- oder Polizeiordnungen festsetzen. Wenn z.B. im Gericht Altenhaslau bei Hanau 1461 in einem Weistum beschrieben wird, „wo bau im gerichte wehren, die da baufällig sind, die soll man alle Jahr besichtigen, und wann sie nicht ergänzet werden, soll der besitzer geruhet werden" 31 ), dann ist die Annahme nicht auszuschließen, daß die Feststellung der Baufälligkeit allein nach Kriterien der Gemeinde geschieht. Von schriftlichen Rapporten, vierteljährlichen Besichtigungen aller Häuser und den 29
) Fürstlich Wiedisches Archiv Neuwied, Collectanea, Bd. V, Nr. 1. ) F. Conrad, Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft. Zur Rezeption reformatorischer Theologie im Elsaß. 1984, 40. 31 ) Zit. nach D. Willoweit, Gebot und Verbot im Spätmittelalter. Vornehmlich nach südhessischen und mainfränkischen Weistümern, in: HessJbLG 30, 1980, 117, Anm. 98. 30
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Richtlinien einer Feuerordnung, die der Gemeinde wenig Ermessensspielräume läßt, ist nicht die Rede. „Polizeiliche" Aufsicht konnten Gemeinden nach Auskunft einiger Weistümer aus dem „mittleren Deutschland" auch über Maß und Gewicht ausüben, wenngleich in der Regel dies ein Herrenrecht war. 32 ) Die Aufsicht über den Frieden in den Gasthäusern hingegen oblag meist der Gemeinde. 33 ) Ob die Vernachlässigung der „niederen Polizei" in vielen Weistümern des „mittleren Deutschland" für mangelnde Problemwahrnehmung oder ein mangelndes Problemfeld spricht, kann nicht entschieden werden. Vielleicht liegt die nur kursorische Behandlung dieses Bereichs an der Entstehungssituation der Quellen. Jedenfalls scheint mir die „Gemeindepolizei" des Spätmittelalters und des frühen 16. Jahrhunderts noch weiterer Nachforschungen zu bedürfen. Für das 17. und 18. Jahrhundert ist jedenfalls v.a. für die Landgrafschaft Hessen belegt, daß die obrigkeitlichen bzw. obrigkeitlich bestimmten Aufgaben der Ortsvorsteher die „rein" gemeindlichen zurückdrängen. Selbst bei der Einberufung der Gemeindeversammlung kann der Grebe oder Schultheiß als bloßer Vertreter der Obrigkeit erscheinen, ist im Konfliktfall zur Leitung der Versammlung nicht geeignet. Im Normalfall ist sie allerdings seine wichtigste Gemeindeaufgabe. Das Übergewicht der obrigkeitlichen Tätigkeiten des Vorstehers im 17. und 18. Jahrhundert spiegelt sich auch in der Tatsache wider, „daß spätestens seit dem 16. Jahrhundert sowohl die Greben als auch die Schultheißen durchweg von der Herrschaft ,gesetzt' werden". 34 ) Tätigkeit und Ernennung des Schultheißen legen im 17. und 18. Jahrhundert die Frage nahe, ob der Vorsteher überhaupt noch ein Gemeindeamt ausübt. Für Südwestdeutschland und Franken sind dementsprechend von der Forschung zwei Spitzen der Gemeinden angenommen worden, ein herrschaftlicher Schultheiß und ein gemeindlicher Bürgermeister. In der Tat zeigen sich auch in Hessen in vielen Dörfern Schultheißen und (ζ. B.) Heimbürgen, und es liegt die Versuchung nahe, darin einen Dualismus zu erblicken.
") Ebd. 117. 33 ) K. Hoyer, Das ländliche Gastwirtsgewerbe im deutschen Mittelalter nach den Weistümern. Diss. Freiburg 1910, 54 f. 34
) Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 52.
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Für die Landgrafschaft Hessen hat Reyer dies jedoch ausgeschlossen.35) In einigen Kleinterritorien des „mittleren Deutschland" ist ein solcher Dualismus allerdings nachweisbar. So gibt es in Wittgenstein neben den Schultheißen sog. Gemeindsmänner, die z.B. die Gemeindeversammlung leiten, eine wichtige Aufgabe des Schultheißen also an sich gezogen haben. 36 ) Im riedeselischen Gericht Engelrod und im isenburgischen Gericht Reichenbach, wo Dorfschultheißen fehlen, treten in einige ihrer Aufgaben, z.B. die Leitung der Gemeindeversammlung, die Berechnung des Schulmeisterlohnes, die Verteilung der Fronen, Bürgermeister ein.37) Sie werden (wie die Gemeindsmänner in Wittgenstein) weder von der Herrschaft gesetzt noch von der Gemeinde gewählt, das Amt geht vielmehr reihum. Demgemäß ist es mit weniger Prestige ausgestattet als das Schöffenamt, von dem später die Rede sein wird. Im Konfliktfall mit der Obrigkeit kann aber auch das Bürgermeisteramt als Sprungbrett für ein außerordentliches, höher bewertetes dienen. Da der Bürgermeister auch „ G ä n g e " für die Gemeinde besorgt und auswärtigen Rat einholt, kann es passieren, daß der Bürgermeister des ersten Konfliktjahres dann als Deputierter im gesamten Konfliktverlauf „weiterbeschäftigt" wird. 38 ) Es wäre interessant, mehr über die Geschichte dieser in einigen Kleinterritorien im 17. und 18. Jahrhundert auftretenden Dualität zu erfahren. So ist z. B. von mir die Frage nicht zu klären, ob es sich um eine gewachsene Funktionsteilung oder um eine Reaktion der Gemeinden auf die absolutistische Vereinnahmung des Schultheißenamtes handelt. In der Landgrafschaft Hessen, wo noch im frühen 16. Jahrhundert die Gemeindeaufgaben des Schultheißen überwiegen 39 ), fehlt eine solche denkbare Reaktion jedenfalls. Der Verstaatlichung bzw. Verherrschaftlichung des Vorsteheramtes in der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert voraus ging im Spätmittelalter eine Funktionsveränderung in der jurisdiktioneilen Tätigkeit des Schultheißen. Dies hängt mit der Ausdehnung der Gerichtsgemeinde zusammen, wie sie Reyer v. a. für Niederhessen ") Ebd. 77. ") E. Klein, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Grafschaft Sayn-Wittgenstein-Hohenstein vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. 1935, 48. ") Troßbach, Bauernbewegungen (wie Anm. 16), 352 f. 38 ) Troßbach, Soziale Bewegung (wie Anm. 1-2), 207 f. ") Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 76.
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annimmt. Reyers Untersuchung legt nahe, die Schultheißen und Greben vom 13. bis zum 15. Jahrhundert wenigstens in Niederhessen als Vorsitzende von dörflich organisierten Niedergerichten anzusprechen. Vom 16. Jahrhundert an war ihnen von dieser Tätigkeit nicht mehr viel geblieben. Manchmal ist von einer Bagatellgerichtsbarkeit, „und zwar in Sachen, die unter 5 gulden werth sind" 40 ), die Rede. Ob sie sich allein auf den Vorsteher bezieht oder ob er die Gemeindeversammlung zur Regelung solcher Fälle einberufen mußte, ist allerdings nicht dargestellt. Mit der von Reyer angenommenen Zurückdrängung der früher „auf eine einzelne Dorfgemeinde bezogene(n) Grebengerichte [...] zugunsten größerer Rügegerichte" 41 ) wurden die Schultheißen von Gerichtsvorsitzenden zu „Rügemeistern" der Gemeinden. „Sie sind es, die an den Rüge- oder Landgerichten für ihre Dorfschaften die Rügen vorzubringen haben. Die Dorfvorsteher [...] sind verpflichtet, alle Übertretungen und Frevel, die sich zwischen den Gerichtszeiten in ihren Gemeinden ereignet haben, schriftlich festzuhalten und beim nächsten Gerichtstag vorzubringen." 42 ) Gegenüber einem Dorfgericht, bei dem der Geschädigte zu rügen bzw. zu klagen hatte, bedeutete dies eine erhebliche Entfremdung der Justiz, wie die Schriftlichkeit nicht nur die Anforderungen an das Schulzenamt erhöhte, sondern auch die Absetzung von der Gemeinde förderte. Wie ein klassisches Rügegericht noch Mitte des 18. Jahrhunderts im landgräflichen Hessen ablaufen konnte, hat Kopp idealtypisch beschrieben: „Wenn das Gericht eingeläutet ist, versammeln sich alle Gerichtsgenossen aus den zum Gericht gehörigen Dorfgemeinden im Hauptort des Gerichts auf der Tagungsstätte bzw. vor dem Haus des Greben, in dem sich die Gerichtsstube befindet. Zunächst wird die Mannschaft eines jeden Dorfes auf Vollzähligkeit überprüft, dann wird eine Gemeinde nach der andren in die Gerichtsstube gerufen, wo der jeweilige Dorfgrebe [...] das von ihm geführte Rügenverzeichnis und eine Liste der Veränderungen wie Einzug, Abzug oder Todesfälle innerhalb seiner Dorfgemeinde übergibt." 43 ) Diese aufwendige und öffentliche Form hat sich im 18. Jahrhundert nicht überall gehalten. Die wied-runkelische Polizeiordnung ζ. B. zitiert allein die Heimbürgen (mit den Delinquenten) 40
) Ebd. ) Ebd. " ) Ebd. 43 ) Ebd. 41
63 f. 148. 61. 114.
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zu vier Terminen vor Amt, wo sie ihre Listen präsentieren und der Amtmann die Urteile spricht. 44 ) Im landgräfiichen Hessen und den Kleinterritorien in Wetterau und Vogelsberg saß zwar auch der Amtmann dem Gericht vor, die eigentlichen Urteiler waren jedoch Schöffen aus den einzelnen Gemeinden. In den Gerichten in Wetterau und Vogelsberg, wo eigentliche Dorfvorsteher fehlen, haben die Schöffen das mit dem meisten Prestige ausgestattete Amt im Dorf inne. 45 ) Anders als die Schultheißen können die Schöffen noch im 18. Jahrhundert auf verschiedene Weise in ihr Amt gelangen. Feigl zählt für Niederösterreich auf: „Ernennung durch den Gerichtsherrn, die Wahl durch die versammelte Gemeinde, die Bestellung auf Vorschlag des Gemeindevorstehers oder die Ergänzung durch das Schöffenkollegium". 46 ) Für das „mittlere Deutschland" sind bis auf die Wahl durch die versammelte Gemeinde alle Möglichkeiten nachweisbar, in einigen Kleinterritorien Oberhessens dominiert die letzte Bestimmungsweise, freilich mit obrigkeitlicher Absegnung. Es konnte sich auf diese Weise ein dörfliches Amtspatriziat bzw. eine mit Ämtern abgesicherte Honoratiorenschicht bilden, wie dies etwa im Busecker Tal mit seiner eigenartigen Gerichtsverfassung der Fall war. Dort gab es besondere Versammlungen der Schöffen, zu denen der „gemeine M a n n " keinen Zutritt hatte, und im täglichen Umgang legten die Schöffen Wert auf die Anrede „Herr". 4 7 ) In Aufständen waren oft die Schöffen „geborene" Sprecher ihrer Gemeinden, was die Obrigkeit bewog, „rebellische" Schöffen ab- und loyale Familien, die dann regelrechte Dynastien bilden konnten, einzusetzen. Aber auch auf der Gegenseite zeigte sich in den bisweilen mehr als 100 Jahre dauernden Auseinandersetzungen die Tendenz zu Dynastiebildungen, etwa bei den Deputierten des Gerichts Reichenbach, die ihren Ursprung z.T. auf zu Beginn des Konflikts abgesetzte Schöffen zurückführen konnten. 48 )
44
) Wie Anm. 29. ) Troßbach, Soziale Bewegung (wie Anm. 12), 206. 4é ) H. Feigl, Von der mündlichen Rechtsweisung zur Aufzeichnung: Die Entstehung der Weistümer und verwandter Quellen in: P. Ciasen (Hrsg.), Recht und Schrift im Mittelalter. 1977, 432, zitiert nach Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 123. 47 ) Troßbach, Bauernbewegungen (wie Anm. 16), 436. 48 ) Ebd. 372 f. 45
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Die Gerichtsgemeinde als mehrere Dörfer umfassender Verband trat jedoch nicht nur zu den Gerichtsterminen in Erscheinung. In den Kleinterritorien von Wetterau und Vogelsberg war „das Gericht" auch Abgabengemeinde, unterschied sich von andern Gerichten im gleichen Land durch die Art und Anzahl der Frondienste, war - von der Verwaltung her gesehen - auch Steuer- und Matrikulargemeinde, was nicht nur mit Obrigkeiten, sondern auch mit benachbarten Gemeinden zu Auseinandersetzungen führen konnte. Das isenburgische Gericht Spielberg und das Busecker Tal waren zudem Eigentümer von Gerichtswaldungen, die neben die einzelnen Gemeindewälder treten konnten. 49 ) In Wetterau und Vogelsberg haben die Gerichtsorganisationen der Frühen Neuzeit offenbar an ältere Vorläufer angeknüpft, waren demzufolge keine schematischen Neugründungen wie die Wittgensteiner Landesviertel im 18. Jahrhundert. 50 ) Reyers ζ. T. für Niederhessen belegte These vom Zusammenwachsen von Dorf- zu Gerichtsgemeinden erweist sich damit als nicht übertragbar. Für Oberhessen trifft sie sicher nicht zu.51) Wichtiger als diese Diskussion scheint mir an dieser Stelle die Beleuchtung der materiellen Grundlagen der Gemeinden überhaupt zu sein. Eine exemplarische Untersuchung, wie sie Harnisch u. a. für Thüringen vorgelegt hat, fehlt für das „mittlere Deutschland". Z.T. mag dies an der Überlieferung liegen. Gemeinderechnungen sind für das landgräfliche Hessen erst seit dem 18. Jahrhundert, und dann nur spärlich, erhalten. Für die Kleinterritorien ist die Quellenlage, soweit ich sie überblicke, noch schlechter. Für die Grafschaft Solms-Rödelheim ζ. B. entpuppten sich die vielversprechend „Bürgermeister-Rechnungen" genannten Hefte als Aufzeichnungen der Abgaben an die Herrschaft. Das Wort „Bürgermeister-Rechnung" ist jedoch auch für die „wirklichen" Gemeinderechnungen durchaus treffend. Im 16. und 17. Jahrhundert war es in der Regel nicht der Vorsteher, der die Rechnung führte, sondern der Heimbürge oder Bürgermeister als „zweiter M a n n " der Gemeinde. Dies gilt für die Landgrafschaft Hessen ebenso wie für die isenburgischen Grafschaften oder das mainzische Amt Amöneburg bei Marburg. 52 ) Reyer beobachtet aller4
") Ebd. 260, 419. ) Klein, Sayn-Wittgenstein (wie Anm. 36), 48. 51 ) U. Weiss, Die Gerichtsverfassung in Oberhessen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. 1978, 95 f. ") Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 85 ; Troßbach, Bauernbewegungen 50
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dings, daß in einigen Gerichten der Landgrafschaft seit der Mitte des 17. Jahrhunderts der Grebe auch die Rechnungsführung der Gemeinde an sich zieht, weil er ohnehin schon über die wachsenden herrschaftlichen Geldabgaben Buch zu führen hat. 53 ) Heimbürgen und Bürgermeister müssen im übrigen immer der Gemeinde Rechnung legen, und dies bedeutete dann auch die Anwesenheit des Greben. In manchen Fällen sichern sich Ortsherrschaften schon im 16. Jahrhundert die Kontrolle darüber, „ob auch alles treulich verrechnet und an gemeinen nutz gewendet" sei.54) Die damit angesprochenen Gemeind^ausgaben (insbesondere die Besoldung der „niederen" Gemeindebedienten) sollen hier (u. a. wegen des Fehlens entsprechender Forschungen) ausgelassen werden, um wenigstens einige Angaben zum (gleichfalls aus den Rechnungen erkennbaren) Gemeindeeigentum zu präsentieren. Auch zu diesem Komplex kann ich mich v.a. auf einzelne Hinweise in Lokalstudien stützen. Vom 16. Jahrhundert an sind in Hessen in zahlreichen Dörfern Rathäuser anzutreffen, der früheste Beleg stammt für 1461 aus Waldkappel, zu dieser Zeit noch ein Dorf. 55 ) Das isenburgische Gericht Reichenbach will 1652 sein Rathaus wieder in Besitz nehmen, das zu dieser Zeit vom Gemeindehirten mit seiner Familie bewohnt wurde. 56 ) Das benachbarte Gericht Wolferborn hingegen versucht das ganze 17. Jahrhundert hindurch, von der Herrschaft die Erlaubnis zur Errichtung eines Rathauses zu erwirken, erreicht schließlich 1696 nur die Genehmigung zum Anschlagen des Halseisens an die Gerichtslinde sowie die Errichtung eines „Careers oder Narrenhauses". 57 ) Auch ein Brauhaus wollten die Grafen von Isenburg dem Gericht Wolferborn nicht zugestehen, beanspruchten vielmehr die Braugerechtigkeit für sich. Als die Wolferborner nach dem 30jährigen Krieg dennoch einen Braukessel anschafften und ein „Brau-
Fortsetzung Fußnote von Seite 275 (wie Anm. 16), 352; A. Schneider, Siedlung und Flur im Amöneburger Bekken. 1979, 146. ") Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 85. 54 ) Ebd. 55 ) Ebd. 33. 56 ) Troßbach, Bauernbewegungen (wie Anm. 16), 301 f. 57 ) Ebd. 293.
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haus" errichteten, machten dauernde Pfändungen und Übergriffe der Obrigkeit den Betrieb unmöglich. 58 ) Der Bier- und Weinschank der mainzischen Gemeinde Mardorf bei Amöneburg erscheint dagegen bereits 1553 als „Altes Recht". Wie in der Nachbargemeinde Roßdorf waren beide Berechtigungen mit dem Gemeinde- und Wirtshaus verbunden ; der jeweilige Pächter besaß das Recht der „Herbergierung". Neben dem Wirt konnte aber auch jedes Gemeindemitglied gegen eine geringfügige „Brau-Gebühr" das Brauhaus benutzen. Von diesem Recht wurde in Mardorf, wie die Gemeinderechnungen ausweisen, jedenfalls im 18. Jahrhundert reger Gebrauch gemacht. Auch eine Ziegelhütte stand im Eigentum der Gemeinde und wurde verpachtet, während zwei Backhäuser zwar von der Gemeinde unterhalten wurden, aber ohne Gebühr benutzt werden konnten. 59 ) Die mainzischen Gemeinden des Stifts Amöneburg zeichneten sich damit durch einen Besitzstand aus, der sie den reichsten fränkischen oder thüringischen Gemeinden vergleichbar macht. 60 ) Den entscheidenden Rückhalt der Gemeinden machte jedoch auch im „mittleren Deutschland" der Allmendebesitz aus. Da sich ein Großteil agrargeschichtlicher Forschung bisher zwischen den eigentlich irrealen - Polen „der Bauer" und „die Herrschaft" bewegt, sind quantitative Angaben über den Allmendebesitz nur ausnahmsweise möglich. Das Beispiel der schon erwähnten reichen Gemeinden bei Amöneburg legt jedoch nahe, daß eine positive Korrelation zwischen dem Umfang des Allmendebesitzes und sonstigem Reichtum einer Gemeinde besteht. So verfügte die Gemeinde Roßdorf bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts über 31 ha Gemeindewiese, 80 ha Hutungen, Driesche und Wege, 435 ha Gemeindewald und 2% ha Gemeindegärten. Ähnlich war auch die schon erwähnte Nachbargemeinde Mardorf ausgestattet. 61 ) Allmendebesitz gab den Gemeinden auch Rückhalt in den Prozessen mit feudalen Obrigkeiten. Das Busecker Tal ζ. B. finanzierte einen Teil seiner Prozeßkosten durch Holz aus dem schon erwähnten Gerichtswald, Gemeinden des benachbarten Amts Hungen versetzten Gemeindewiesen und -äcker und wurden dadurch bei be58
) ") 60 ) ")
Ebd. 288. Schneider, Siedlung (wie Anm. 52), 299. Harnisch, Gemeindeeigentum (wie Anm. 2), 143 f. Schneider, Siedlung (wie Anm. 52), 139.
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nachbarten Pfarrern, Beamten und Offizieren kreditwürdig. 62 ) Dennoch war in den prozessierenden Ämtern und Gerichten der Allmendeanteil (oder die Bereitschaft, ihn zu verpfänden), nie so groß, daß er allein zur Finanzierung eines Prozesses ausgereicht hätte. Die schon erwähnten Sub- und Neben-Collectationes, die nicht selten zusammen mit der Erhebung herrschaftlicher Gelder vonstatten gingen, sind hier die Regel. Allmende garantierte in solchen Fällen vielfach die Einheit der Gemeinde, in anderen Fällen konnte sie zum Gegenstand erbitterter Auseinandersetzung werden. Waren auch alle haushäbigen Einwohner auf der Gemeindeversammlung formal gleichberechtigt, so waren die Allmendeberechtigungen ständisch gegliedert, etwa zwischen Bauern und Hintersiedlern. V.a. im Zuge des frühneuzeitlichen Landesausbaus, als neue dörfliche Randschichten (im geographischen Sinne des Wortes) angesiedelt wurden 63 ), kam es zu solchen Konflikten. Die reichen Gemeinden des Stifts Amöneburg z.B., die nicht von ungefähr in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine hohe Zuwanderungsrate aus benachbarten Orten aufzuweisen hatten, schlossen die neuen Schichten von einem Teil ihres Gemeindeeigentums aus. In einem Vertrag zwischen Bauern und Beisassen aus dem Jahre 1660 wurde zwar die politische Gleichberechtigung der Beisassen auf der Gemeindeversammlung ausdrücklich anerkannt, ihnen wurde sogar das Amt eines zweiten Bürgermeisters eingeräumt, von den Gemeindewiesen hatten sie ihr Vieh jedoch fernzuhalten. Immerhin war ihnen Mast und Hute im Wald gestattet, und ihre Holzportionen waren mit denen der Bauern gleich bemessen. 64 ) Daß die Allmende nicht nur innerhalb der Dörfer zum Streitgegenstand wurde, versteht sich einerseits angesichts des wirtschaftlichen Ausgreifens seitens des frühneuzeitlichen Polizeistaates und andererseits angesichts der v.a. im 18. Jahrhundert stetig zunehmenden Bevölkerungszahlen beinahe von selbst. Konflikte zwischen Gemeinden und Obrigkeiten um beinahe jeden Aspekt des Allmendebesitzes sind nicht nur für die Kleinterritorien des „mittleren
62 ) Troßbach, Bauernbewegungen (wie Anm. 16), 457. ") Hildebrandt (wie Anm. 8), 127. M. Born, Wandlung und Beharrung ländlicher Siedlung und bäuerlicher Wirtschaft. Untersuchungen zur frühneuzeitlichen Kulturlandschaftsgenese im Schwalmgebiet. 1961, 25. M ) Schneider, Siedlung (wie Anm. 52), 301.
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Deutschland", sondern auch für Teile der Landgrafschaft Hessen typisch. 65 ) Dies gilt auch für eine weitere Erscheinung des „mittleren Deutschland", die sich v.a. in Oberhessen und - modern gesprochen - im Rhein-Main-Gebiet häuft, die Markgenossenschaften. Ihnen gehörten meist mehrere Gemeinden, ζ. T. unterschiedlicher Landesherrschaften an, aber auch Niederadel und kleinere Landesfürsten waren daran beteiligt. Ihre jeweiligen Verfassungen griffen auf verschiedene Organisationsmöglichkeiten zurück. Oft waren einer oder mehrere Niederadlige geborene Obermärker, manchmal stand dieses Recht einem Landesfürsten zu oder einem Landesfürsten im Verein mit Niederadligen, in einigen Fällen konnten die „gemeinen Märker" aus den adligen Märkern einen Obermärker wählen. 66 ) Den Obermärkern, meist auch den Adligen insgesamt, standen besondere Holzrechte zu, die sich nur quantitativ von den Nutzrechten der Bauern unterschieden. In erster Linie profitierten von diesen Verfassungen die Bauern, boten ihnen die Markgenossenschaften nicht nur ein beträchtliches ökonomisches Hinterland, sondern auch eine Tradition von Selbstverwaltung, die in krassem Gegensatz zu den Entmündigungsvorgängen im Zuge des Absolutismus stand. Es kam daher nicht von ungefähr, daß die sich konstituierenden Staaten schon vom 16. Jahrhundert an in den Marken Anachronismen sahen, ein Blickwinkel, der im 18. Jahrhundert durch das rationalistische Forstrecht noch verschärft wurde. 67 ) Weniger diese Marken, die nicht überall im „mittleren Deutschland" anzutreffen sind und eine eigene neuere Abhandlung verdienen, als die Kirchengemeinde soll jedoch eingehender thematisiert werden. Die enge Verzahnung von Dorf- und Kirchengemeinde wurde schon bei der Erörterung des Glockenschlags angesprochen. Sie ist wenigstens im 17. Jahrhundert in den Territorien aller drei Konfessionen gegeben. Dies zeigt sich ζ. B. an den Gegenständen, die vor den geistlichen Niedergerichten verhandelt wur") Born, Wandlung (wie Anm. 63), 39f., 72f.; Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 35. ") Varrentrapp, Rechtsgeschichte (wie Anm. 4). Für die Karber Mark in der Wetterau: Troßbach, Bauernbewegungen (wie Anm. 16), 32f. S. auch einzelne Markstudien, z. B. : W. Schnorr, Die Markgenossenschaft Wißmar an der Lahn, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins 43, 1959, 27ff. Zur Prozedur in der Karber Mark: Troßbach, Bauernbewegungen (wie Anm. 16), 136. 67 ) Ebd. 129 ff. S. auch Schnorr, Wißmar (wie Anm. 66).
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den. Dazu gehörte nicht nur der engere Bereich der Kirchenzucht (Verhalten im Gottesdienst etc.), sondern bekanntlich auch Unzucht, Schwängerung, der Streit um Kirchenstühle, aber auch Fälle von übler Nachrede konnten dort verhandelt werden. Im 17. Jahrhundert war dafür nicht allein das kalvinistische Presbyterium zuständig, auch der lutherische Kirchenkonvent und die katholische Synode hatten sich mit solchen Fällen zu beschäftigen. Exekutiv war die Kirchengemeinde letztlich allerdings auf den weltlichen Arm, den Schultheiß oder den Büttel, angewiesen. Neben dem Pfarrer war der schon erwähnte Glöckner der wichtigste Mann in der kirchlichen Gemeinde. Im kalvinistischen Hessen· Kassel war der Glöckner gleichzeitig Opfermann bzw. Kastenmeister, d.h. Rechnungsführer und Verwalter des Kirchenvermögens. Es ist einleuchtend, daß für diesen Posten (wenigstens theoretisch) nur moralisch und materiell gesicherte Existenzen in Frage kamen. In Hessen-Kassel wurde der Opfermann von der gesamten Gemeinde gewählt.68) In der Regel war der Opfermann auch Küster und nicht selten Lehrer. Zumindest vor dem 30jährigen Krieg ist der Lehrer in Hessen-Kassel noch nicht der sozial diskriminierte Schulmeister, den wir aus dem 18. Jahrhundert kennen. Die „Besoldung" des Opfermannes war nicht besonders hoch, beschränkte sich aber auch nicht auf symbolische Gaben. In Wendershausen bei Witzenhausen erhielt er im späten 16. Jahrhundert zwei Gulden im Jahr und aus jedem Haus zwei Brote (52 insgesamt), konnte auch einen zusätzlichen Acker nutzen. 69 ) Auch in den katholischen Gemeinden des Amtes Amöneburg finden wir die Personalunion von Opfermann, Küster und Lehrer bis in das 17. Jahrhundert hinein vor. Ein Nachteil war die zwangsläufige Vernachlässigung seines Schulamtes durch den vielbeschäftigten Opfermann, was dann auch im 17. Jahrhundert zur Anstellung von Schulmeistern in den amöneburgischen Gemeinden führte. 70 ) Der Opfermann und der Pfarrer waren auch im Presbyterium, dem Kirchenkonvent oder der Kirchensynode vertreten. Die Gleichsetzung der Konfessionen in bezug auf diese Einrichtung scheint im mittleren Deutschland durchaus möglich zu sein, wenn der Kalvinismus mit der Einrichtung des Kirchenseniorats als eines 68
) Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 21. ) Ebd. 22. 70 ) Schneider, Siedlung (wie Anm. 52), 156.
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moralischen Wächteramtes auch den Anfang machte. Aber selbst in den katholischen Gemeinden des Stifts Amöneburg wurde nach einer Visitation durch Mainzer Jesuiten im Jahre 1694 die Ältestenverfassung eingeführt. So hatten z.B. zwei „Kirchenbürger", dem kalvinistischen Vorbild getreu, während des Gottesdienstes für Ordnung zu sorgen, die Fehlenden aufzuschreiben und vor der monatlich tagenden Synode zu rügen. 71 ) Wie Paul Münch für das kalvinistische Nassau-Dillenburg in der Frühzeit festgestellt hat, war ein solches moralisierendes Amt für die Gemeindemitglieder nicht attraktiv 72 ); ähnliches läßt sich für das lutherische Großen-Linden im späten 17. Jahrhundert feststellen, wo es den Kirchensenioren nur unter großer Mühe gelang, ihre Reihen nach dem Tode eines Mannes zu ergänzen. 73 ) Der Bericht eines Kaplans aus dem Jahre 1827 schließlich, daß in den katholischen Dörfern des Stifts Amöneburg „die vortreffliche Anstalt der Kirchensynode mehrere Jahrzehnte ausgesetzt" gewesen sei74), deutet auf ähnliche Schwierigkeiten. Daß die politische Gemeindeversammlung, zu der nun zurückgekehrt werden soll, nicht real von der „ganzen Gemeinde" besucht wurde, verdeutlichen schon zeitgenössische Bezeichnungen. In Elben bei Wolfhagen werden die Teilnehmer 1440 schlicht „die Menner" genannt, in Germerode bei Eschwege 1482 „die Menner gemeynlich". Der Versammlungsort heißt demgemäß zuweilen auch „Männerstatt" (z.B. in den nordhessischen Dörfern Wehrda und Niedenstein). 75 ) „Frauen können nur dann in Erscheinung treten, wenn sie als Witwen den Platz des verstorbenen Ehegatten einnehmen." 76 ) Dies bestätigt sich auch in der schriftlichen Realisation der Gemeindeversammlung. Prozeßvollmachten von Gemeinden im Rechtsstreit mit Grund- und Landesherrn werden von Frauen nur in ihrer Eigenschaft als Witwen unterzeichnet.
71
) Ebd. 155. ) P. Münch, Kirchenzucht und Nachbarschaft. Zur sozialen Problematik des calvinistischen Seniorats um 1600. In: E. W. Zeeden/P. Th. Lang (Hrsg.), Kirche und Visitation. 1984, 216 ff. 73 ) Zentralarchiv der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt, Pfarrarchiv Großen-Linden, Kirchenkonventsprotokolle 17. Jahrhundert. 74 ) Schneider, Siedlung (wie Anm. 52), 156. 75 ) Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 6), 23, Anm. 4. u ) Ebd. 24. 72
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Der Ausschluß von Frauen von der formellen Herbeiführung und Beurkundung von Gemeindebeschlüssen steht in auffälligem Kontrast zu ihrer Teilnahme an deren Ausführung. Augenfällig wird dies zunächst wieder am Thema „Die Gemeinde im Aufstand". Wenn in Berichten über Konfrontationen zwischen Bauern und Soldatentrupps in den Dörfern von Kleinterritorien des „mittleren Deutschland" von der „gantzen Gemeyne" die Rede ist, so muß dieser Begriff weiter verstanden werden als im Kontext der Gemeindeversammlungen. Die „gantze Gemeind" im Aufstand besteht oft „in Männer, Söhnen, Knechten, Weibern, Mägden und halberwachsenen Kindern". 77 ) Bei Pfändungen kleineren Ausmaßes, v. a. wenn es darum geht, den Wegtrieb von Vieh aus der dörflichen Herde oder den individuellen Ställen zu verhindern, halten sich die im Zitat zuerst genannten „Männer, Söhne und Knechte" auffällig im Hintergrund. Zur Illustration mögen einige Vorfälle aus der Grafschaft Wied-Neuwied im Westerwald dienen, die sich zwischen 1719 und 1722 abspielten. 78 ) Als Soldaten am 24. August 1719 in Nordhofen pfänden wollten, opponierten sich „gerne 300 Seelen mit Weiber und Kinder unter solchen", und als man die Viehherde zusammentreiben ließ, „so seind gleich die Weiber und Kinder mit unglaublichem Ungestüm an die Karren und Vieh gefallen und haben mit vielen Schlägen und Schmeißen das Vieh unter großem Ruffen und Gekreisch ab- und vortgetrieben und sich dabey allesamt so frech und unbändig aufgeführet, alß von dem seditiosesten und rebellischen Volcke kaum erdacht kan werden." Schon am 5. Juli 1715, als in Rengsdorf Vieh gepfändet worden war, waren die „Weiber von Rengsdorf mit s. v. Mistgabeln, Zaunstecken und dergleichen ihrem Schultheiß in Altenwied nachgefolget." Auch am 14. Juli 1722, als Soldaten in Ehlscheid die Herden von der Weide nehmen wollten, „seint" auf die Hilferufe des Hirten hin „die Weiber hauffenweise hinzugekommen, Gewalt über Gewalt geschryen und Hülff Hülff gerufen [...], daß dadurch im Dorff Selters alles allert worden, und die Weiber fast alle mit ihrem Ge77
) So am 11. Oktober 1725 in der wittgensteinischen Vogtei Elsoff (zit. nach: W. Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit. 1980, 268). Zum Zusammenhang s.u. Anm. 80. 78 ) Fürstlich Wiedisches Archiv 1 0 3 - 5 - 4 und 1 0 3 - 1 - 7 . Zum Zusammenhang s.: W. Troßbach, Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger und Illuminaten in der Grafschaft Wied-Neuwied. 1990.
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sindt und erwachsenen Kindern zugelauffen kommen, ist das Vieh denen Executanten nicht allein abgejaget, sondern mit grosem Geschrey in den Busch getrieben worden." Die Männer aber - so der Bericht der Soldaten weiter - „seint mit 20 und mehrere aus Selters sowohl als denen vier Dörffern nachgefolget", ohne sich allerdings direkt an den Aktionen zu beteiligen. Ähnlich war es am 16. Februar 1716 in Melsbach und Datzeroth. Die Bauern hatten bei einer Pfändung die „Ställe theils verklaustert, theils sonst hart inwendig versperrt gehabt", und die Soldaten hatten „allen gütlichen Zuredens ohngeachtet, von denen Weibern, weilen die Männer sich absentiret, die Eröffnung obgedachter Stallungen nicht erlangen können." Auch am 5. Juli 1723, als die Soldaten in Anhausen Holzfuhren verhindern wollten, traten die Männer zunächst nicht in Erscheinung. Zwar waren „Weiber, Kinder, Männer, jung und alt mit Stangen, Gabeln, Äxten und dergleichen Gewehr zugelaufen kommen", der Soldat Reuter wurde jedoch zuerst „von denen Weibsleuthen auf den Kopff geschlagen", „darum er sich umgedrehet und gewehret [...] sich aus den Weibsleuthen retiriret, darüber die Männer kommen [...]" Ähnliche Auftritte sind aus den Grafschaften Solms-Braunfels79), Wittgenstein-Wittgenstein 80 ) und verschiedenen Herrschaften des Vogelsbergs überliefert, um nur einen „mitteldeutschen" Ausschnitt aus einem größeren Mosaik zu bieten. Ohne in diese Problematik näher einzudringen, sei darauf hingewiesen, daß für dieses nur in Unkenntnis der westeuropäischen Protestforschung erstaunliche Phänomen verschiedene Erklärungen angeboten worden sind. 81 ) So wird dargelegt, daß Frauen v.a. dann gefordert waren, wenn es um die Verteidigung derjenigen Lebens- und Arbeitsbereiche ging, die ihnen anvertraut waren. In einigen Regionen war dies die Versorgung des Viehs, was den besonderen Einsatz der Frauen gegen Viehpfändungen verständlich macht. Eine andere Variante geht davon aus, daß Männer Frauen bei Aktionen gegen Soldaten regelrecht vorschickten, z.B. um die Angreifer zu verspotten. Auch dafür gibt es im Westerwald Beispiele. ") Troßbach, Soziale Bewegung (wie Anm. 12), 149. 80 ) W. Troßbach, Widerstand als Normalfall. Bauernunruhen in der Grafschaft Sayn-Wittgenstein-Wittgenstein 1696-1806, in: WestfZ 135, 1985, 69f. 81 ) A. Suter, „Troublen" im Fürstbistum Basel (1726-1740). Eine Fallstudie zum bäuerlichen Widerstand im 18. Jahrhundert. 1985, 349 ff.
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Als Soldaten am 16. Februar 1716 in Oberbieber Vieh pfänden wollten, „haben sich" - so der Bericht - „die Weiber hauffenweise zusammen rottiret, ihre (!) Stallungen versperret, die Eröffnung derselben absolute widersprochen, den Sergeanten von den Thüren abund Hinterwerts gestoßen, die Männer aber haben sich retiriret." So bot sich also das gleiche Bild wie in den schon dargestellten Fällen. Gleichzeitig seien die Männer jedoch - so der Bericht weiter - „ahn Ort und Enden nachgefolget, und ihre Weiber sich gegen die Pfändung opponiren lassen." Ähnliches wurde am 15. Juli 1722 in Rengsdorf bemerkt. Die Männer hatten dort „den Weibern zugeruffen, kehret das Vieh um und jaget solches ins Feit". 82 ) In der Grafschaft Wittgenstein beruhten solche Praktiken angeblich auf einer „Unterredung des ganzen Landes". 83 ) Wie solche, auf einer „Unterredung" beruhende Anweisungen vor sich gehen konnten, zeigt wieder ein Vorfall aus dem Westerwald einprägsam, als am 21. April 1728 beim Anhäuser Bauern Jung ein Pferd gepfändet werden sollte.84) Zuerst habe der Bauer „den großen Jungen seiner Mutter (die sich auch opponierte, W. T.) zur Hilfe gerufen und da beyde ihm (dem pfändenden Grenadier, W. T.) nicht Mans genug gewesen, hätte der Junge „Weiberrecht" geruffen, worauf im Augenblick die Weiber zusammen kommen, daß er genöthiget worden, sein Pferd fahren zu lassen." Es genügte also schon ein in Signalform kurz gefaßter „Befehl" eines Mannes, selbst eines „Burschen", um die Frauen augenblicklich zum Handeln zu veranlassen. Dieser Vorfall offenbart freilich außer der Richtung der „Anweisung", die sich in andern Fällen auch umkehren konnte, noch etwas anderes. „Weiberrecht" war eine leicht verständliche, zündende Parole, die in Anhausen eine Frau unmittelbar zum Handeln motivierte. Wir wissen allerdings nicht, was sich in der Grafschaft Wied im einzelnen hinter dieser Formulierung verbarg. Für das hessische Dorf Breitenbach (nicht weit von der Grenze zur Grafschaft Wittgenstein entfernt) hat Christina Vanja das „Weiberrecht" näher umreißen können. Dort rügten im Jahre 1653 die versammelten Frauen ein Ehepaar, das sich geschlagen hatte. Die (Männer-)Gemeinde und die Ortsherrschaft sanktionierten dieses Vorgehen, das im Versuch des Dachabdeckens und dann in einem gemeinsamen Zechge82
) Fürstliches Archiv Neuwied 103 - 1-7. ") Troßbach, Widerstand (wie Anm. 80), 70. M ) Wie Anm. 82.
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läge endete, ausdrücklich. Allein die Regierung in Kassel bezeichnete es als widerrechtlich und als „Exzeß". 85 ) Nebenbei bemerkt, solche symbolträchtigen Rügeformen wie Dachabdecken finden sich gegen konfliktscheue Gemeindemitglieder auch im Kontext von Auseinandersetzungen zwischen Gemeinden und Obrigkeiten, nicht allein von Frauen angewandt. 86 ) Sie offenbaren in ihrer vielschichtigen Ausdeutbarkeit die Realität von Gemeinde im bäuerlichen Alltag, ihre Sanktionsgewalt auch jenseits verfassungsrechtlicher Verdichtungen. Solche Rügen gegen „moralische" und „politische" Abweichler offenbaren ein Geflecht von Erwartungen und Bewertungen, die als ungeschriebene dörfliche Normen immer wieder durchgesetzt werden müssen und im „Geschwätz", im „Geschrei" und im „Gerücht" wachgehalten werden. 87 ) Daß Frauen in diesem Geflecht eine bedeutende Rolle wahrnahmen, kann nicht als diskriminierend gedeutet werden. Das „Weiberrecht" im Dorf Breitenbach ist nur insofern etwas besonderes, da es beinahe Verfassungscharakter annimmt, als Teilrecht für eine bestimmte Gruppe - die verheirateten Frauen - und gleichzeitig als Karikatur des „Männerrechts" auf der Männerstatt. Das Breitenbacher Beispiel und die Berichte von rebellischen „Weiberrotten" im Westerwald, im Rothaargebirge, in Wetterau und Vogelsberg zeigen jedenfalls, daß das im 17. und 18. Jahrhundert mehr und mehr als Gemeinde Verfassung verklärte Männerrecht nicht die ganze Wahrheit auch nur auf dem Gebiet der gemeindlichen Rechts- und Friedensfindung offenbart. Im Schatten (oder besser als Schatten) des Männerrechts existiert offenbar ein (allerdings nur schwer faßbares) Weiberrecht, das den Männern in bestimmten Situationen (ζ. B. Aufständen) nicht einmal ungelegen kam. Vielleicht ließe sich fruchtbarer mit dem Öffentlichkeits- statt dem Verfassungsbegriff arbeiten, wie dies für das 19. Jahrhundert demonstriert worden ist.88) Auch der Begriff der Frauen- und der Männerräume steht dazu bereit. Diese begrifflichen Auswege reflek85
) Chr. Vanja, „Verkehrte Welt". Das Weibergericht zu Breitenbach, einem hessischen Dorf des 17. Jahrhunderts, in: Journal für Geschichte 1986, H. 5, 22 ff. ") Troßbach, Soziale Bewegung (wie Anm. 12), 86 ff. 87 ) Zu den Unterschieden : D. W. Sabean, Gute Haushaltung und schlechtes Gewissen: Ein ländlicher Tatort (1733-43), in: Ders., Das zweischneidige Schwert (wie Anm. 3), 194. ") R. Schulte, Bevor das Gerede zum Tratsch wird, in: Journal für Geschichte 1985, H. 2, 16 ff.
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tieren allerdings in ihrer unhistorischen Gleichwertigkeit nicht die von der Obrigkeit und dem „männlichen Verstand" ausgehende Diskriminierung der weiblichen „Schattenverfassung", die sich in Kriminalisierung (Breitenbach) oder Geringschätzung (Aufstände) äußern konnte. Gleichwohl gab es auch im 18. Jahrhundert eine (wenn auch bescheidene) respektierte weibliche Teilnahme an der offiziellen Gemeindeverfassung, die damit nicht total als Männerrecht zu charakterisieren ist. Harnisch hat für thüringische Dörfer eine „Kindermuhme" als Gemeindeamt nachweisen können 89 ),was allerdings für das „mittlere Deutschland" noch nicht bestätigt werden kann. Relativ häufig treffen wir jedoch Weh-Mütter bzw. Hebammen als Gemeindebediente auch in Dörfern dieser Region an. In manchen Dörfern wurden die Hebammen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von der Versammlung der verheirateten Frauen gewählt; die Frauenversammlung war hier also regelrechtes Verfassungsorgan. Im Presbyterialprotokoll des Westerwalddorfes Breitscheid hieß es für den 10. September 1769: Es „erschienen alle Weiber der Gemeine Breitscheid vor dem presbyt. auf der Schule und schritten nach vorhergegangenem Gebet zur Wahl einer neuen Amme. Es kamen zwo in die Wahl. Durch 37 gegen 6, folglich durch Mehrheit der Stimmen, viel die Wahl auf Anna Elisabetha [...]. Von den sämtlichen Weibern wurde ihr eine Zulage von 3 Albus, mithin statt 12 Albus 15 zugestanden". 90 ) Neben dem Mut zu einer der in der Frühen Neuzeit selten dokumentierten Mehrheitsentscheidungen verfügt die Weiberversammlung auch über eine gewisse Finanzhoheit, während das Presbyterium in diesem Fall offenbar nur pro forma die Oberaufsicht führte (was vom ursprünglich kirchlichen Charakter dieses Amtes zeugt). Ganz anders ging die Hebammen„wahl" 1679 in GroßenLinden bei Gießen vor sich, wo zwar auch mit Mehrheit entschieden wurde, allerdings im mit Männern besetzten Presbyterium selbst.91) Eine Frauenversammlung wurde nicht einberufen, allein die ehemalige Amtsinhaberin wurde um Rat gefragt. Dieses Procedere wird dann verständlich, wenn man bedenkt, daß Hebammen ") Harnisch, Gemeindeeigentum (wie Anm. 2), 166. ) Zit. nach: M. Metz-Becker, „Hab aber auch gar nichts gehabt auf der Welt." Zur Lebenssituation von Frauen in einem Westerwälder Dorf. 1987, 239 f., Anm. 92. ") Wie Anm. 73.
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auch exekutive, obrigkeitliche Aufgaben zu übernehmen hatten. Bei unehelichen Schwangerschaften z.B. hatte sie, wenn die Frau die Aussage verweigert hatte, durch eine besondere Art von Folter die Vaterschaft festzustellen. Sie leistete erst Geburtshilfe, wenn die Gebärende den Namen des Vaters preisgegeben hatte. Dies ist keine Legende. Diese Praktik ist im Protokollbuch der Kirchenkonvents von Großen-Linden für das Jahr 1681 verzeichnet.' 2 ) Die dargebotene Übersicht konnte naturgemäß die meisten Komplexe nur streifen. Sie sollte aber deutlich machen, daß das „mittlere Deutschland" auch im Hinblick auf „Gemeinde" keine Einheit darstellte. Die wohlhäbigen Gemeinden des Stifts Amöneburg unterscheiden sich ζ. B. erheblich von den bedrängten Gemeinden der isenburgischen Grafschaften, in denen hinsichtlich Fron, Wirtshaus und Brauereigerechtigkeit im 17. Jahrhundert vorübergehend Verhältnisse herrschten, wie sie eher im östlichen Deutschland vermutet werden. Wenn ein gemeinsames Kriterium herausgefunden werden sollte, dann wäre es keines, das nur für die Region „mittleres Deutschland" spezifisch sein könnte. Das Vordringen des Absolutismus zeigt sich seit dem späten 16. Jahrhundert in der Landgrafschaft Hessen-Kassel allenthalben in den Gemeindeverfassungen. Ziemlich verbreitet, wenngleich nicht allerorten spürbar, ist aber auch die Bereitschaft der Gemeinden, sich gegen unerträgliche Übergriffe zur Wehr zu setzen. Vielleicht liegt hier ein die Region (mitsamt der Landgrafschaft) einendes Band. Aus diesem Kontext stammen auch Formulierungen von Betroffenen, die zeigen, wie sehr „Gemeinde" weniger als Verfassungsorgan denn als Lebensform auch in den Gefühlen ihrer Mitglieder verankert sein konnte. Ein Schöffe aus Nonnenrod im Amt Hungen, der 1705 am Aufstand der Gemeinden nicht teilnehmen wollte, fühlte sich, da niemand in der Gemeinde mehr mit ihm sprach, „ganz verachtet, vernichtet und verworfen". 93 ) Positiv, ja programmatisch drückte es der rebellische Schöffe Jäger aus Bellersheim im gleichen Amt aus, der auf die Frage, ob er nicht eher den Anweisungen der Herrschaft als der Gemeinde zu folgen habe, entgegnete: „Die Herrschaft aber und die Gemeinde seye baldt oder fast eines." 94 ) n ) Ebd. ") Troßbach, Soziale Bewegung (wie Anm. 12), 86. M ) Ebd. 93.
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Die Übersicht sollte aber auch zeigen, daß die Forschung im „mittleren Deutschland" noch weiße Flecken belassen hat. Gut erforscht ist die Dorfverfassung im nördlichen Hessen, auch die Geschichte einzelner Markgenossenschaften ist erhellt worden. Beides gilt allerdings für die Frühe Neuzeit, während für das Spät- und v. a. das Hochmittelalter noch empfindliche Lücken klaffen. Dies kann auch über die materiellen Grundlagen der Gemeinden gesagt werden. Auch konzeptionell ist noch Arbeit zu leisten. So wäre die materielle und kulturelle Fundierung von „Gemeinde" in der gemeinschaftlichen bäuerlichen Arbeit genauer zu erweisen, verfassungsgeschichtliche Ansätze wären also sozial- und mentalitätshistorisch zu vertiefen oder zu erschüttern: der Blick auf die gemeindlich-gemeinsame Arbeit, die z.T. in den Auseinandersetzungen mit feudaler Herrschaft auch in ihrer „politischen" Bedeutung wahrnehmbar ist, könnte dann offenbaren, daß Verfassungen oft höchstens die „Hälfte der Gemeinde" sichtbar werden lassen. Der Weg dahin würde über niedergerichtliche und kirchliche Quellen führen, wenn es dafür wegen der fahrlässigen Quellenvernichtung, die v.a. im kirchlichen Bereich betrieben wurde, nicht schon zu spät ist.
DIE STÄDTISCHE GEMEINDE IM MITTLEREN DEUTSCHLAND (1300-1800) BEMERKUNGEN ZUR KOMMUNALISMUSTHESE PETER BLICKLES VON OLAF MÖRKE I. D I E Präzisierung des Untersuchungsfeldes stößt auf verschiedenerlei Probleme, die eingangs zu umreißen sind. Zunächst zu der empirischen Basis als erstem Problemfeld : Das mittlere Deutschland, das ich vor dem Hintergrund des geographischen Rasters, wie es das Tagungsprogramm präsentiert, als das Gebiet zwischen Rhein und Elbe im Westen und Osten, zwischen Main und Mittelgebirgssaum im Süden und Norden eingrenze, stellt keine „konsistente politische Landschaft" 1 ) dar, wie Peter Blickle dies bezüglich des süddeutsch-alpenländischen Raumes konstatiert, wie dies in mehrerlei Beziehung auch für den norddeutsch-hansischen Raum Geltung beanspruchen mag. Kategorien zur Klassifizierung der politisch-sozialen Gestalt eines Raumes, wie z.B. die von Königsnähe und Königsferne, vom Ausgestaltungsgrad territorialer Herrschaft 2 ), als Merkmale der politischen Grobstruktur innerhalb des spätmittelalterlichen Reichsverbandes, die durchaus auch für die Qualifizierung der Stadtentwicklung von Bedeutung sind, überschneiden sich hier. Evident wird dies in dem Aufeinandertreffen zweier charakteristischer Städtetypen, die nicht nur die Verortung der Stadtgemeinde im politischen Raum widerspiegeln, sondern auch spezifische Formen innerstädtischer Verfaßtheit konturieren, die in ihrer fortgeschrittenen Abgrenzung gegenüber dem ') So Peter Blickle in seinem die Tagung einleitenden Beitrag „Kommunalismus - Begriffsbildung in heuristischer Absicht". 2 ) In Anlehnung an P. Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter (1250 bis 1450). 1985.
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nichtstädtischen Umfeld prototypisch die entfaltete gemeindliche Organisation repräsentieren: die Reichsstadt zum einen, die autonome Landstadt des ausgehenden Mittelalters und der ersten Phase der Frühneuzeit zum anderen. 3 ) Beide Typen sind zwar anzutreffen, dürfen gleichwohl keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben. Bedeutende Großkommunen finden sich lediglich an den Rändern meines Untersuchungsgebietes - etwa Köln im Westen, Frankfurt im Süden, Erfurt im Osten oder Braunschweig im Norden. Quantitativ wie typologisch gilt Repräsentativität vielmehr für die kleine bis mittlere Landstadt, der die Lösung aus dem politischen Umfeld einer reich differenzierten, von relativ großer Nähe zur Herrschaft gekennzeichneten Territoriallandschaft in weit geringerem Maße gelang als den autonomen Stadtgemeinden süddeutsch-reichsstädtischen oder norddeutschhansestädtischen Typs. Bedenkt man, daß ein wichtiges Kriterium gemeindlicher Eigendefinition, die Freiheit von aus lehensrechtlicher Tradition herrührenden Bindungen 4 ), in der Qualität der Abgrenzungsmöglichkeiten gegenüber dem nichtstädtischen politischen Umfeld begründet liegt, so eröffnet sich die Frage, ob solch typologische Abgrenzungen wie Reichs-, Landstadt oder autonome Landstadt, die zu einem Gutteil aus der politisch-herrschaftlichen Beziehung von Stadt und territorialem Umfeld resultieren, Einfluß besitzen auf die Qualität gemeindlicher Strukturen. Gerade in dieser Beziehung zeichnen sich in der Spanne zwischen 1300 und 1800 Veränderungen ab, die mich zum zweiten Problemfeld führen. In bezug auf das Verhältnis von Stadt und politischem Umfeld kann nur sehr begrenzt von einer Kontinuität ausgegangen werden, die ein Forschungskonzept „Alteuropa" anbietet, in dem die Stabilität der politisch-sozialen Existenz von einer die Wandlungsimpulse überdeckenden Qualität ist. Blickte stellt sich mit seiner These von der Beständigkeit der Grundstrukturen kommunaler Verfaßtheit von 1300 bis 1800, vom „Kommunalismus" als politisch-sozialem Gestaltungsprinzip, einem mithin notwendigen Element, in die Tradition des von Dietrich Gerhard am deutlichsten 3
) Die Aktivierung gemeindlicher Selbstorganisation wird etwa für die Durchsetzungsphase der Reformation in beiden Stadttypen hervorgehoben von B. Moeller, Reichsstadt und Reformation. Bearbeitete Neuausgabe. 1987, und H. Schilling, The Reformation in the Hanseatic Cities, in: The Sixteenth Century Journal 14, 1983, 443-456. 4 ) Einleitungsreferat von Blickle (wie Anm. 1).
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formulierten Alteuropakonzeptes. In seiner Einführung zu Gerhards großem programmatischen Essay „Das Abendland" bringt er den Gehalt jenes Konzeptes auf den Punkt: „Zwar sind Kaiser, Könige, Fürsten, Adlige bestimmende und prägende Kräfte der europäischen Geschichte, aber sie sind es nicht allein, und sie sind es nicht ohne den immer existierenden und geschichtsmächtigen Widerspruch der assoziativen Formationen, der Stände, der Städte, der Dörfer. Was in der Wissenschaft herkömmlicherweise als genossenschaftlich' bezeichnet wird, nennt Gerhard assoziativ. Seine neue Bewertung liegt darin, daß er nicht den Dualismus von herrschaftlich-genossenschaftlich betont, sondern den komplementären Charakter von autoritativ-assoziativ." 5 ) Das vorderhand eingängige Modell der politisch-sozialen Konstellation Alteuropas leidet meines Erachtens an mangelnder Präzision des Begriffs „Komplementarität". Er sagt nämlich nichts aus über den Anteil der komplementären Elemente am Ganzen, das sie ergeben sollen - in diesem Fall der politisch-sozialen Gestalt Alteuropas. Auch wenn es sich asymptotisch einer quantitativen oder qualitativen Null nähert, kann ein Element in logischem Sinn seine Komplementaritätsfunktion wahren. In der historischen Analyse freilich besagt dies nicht mehr viel, weil grundlegende Wandlungsschübe aus dem Blickfeld geraten. Zu diesen Wandlungsschüben gehört die Einordnung der spezifischen Sozialform Stadt, wie sie sich zu Beginn des Beobachtungszeitraumes im 14., 15., mancherorts noch im 16. Jahrhundert profilierte und gegenüber dem feudalen Umfeld abgrenzte, in ein neues, seit dem 16./17. Jahrhundert vom frühmodernen Territorialstaat geprägtes politisch-soziales Umfeld. Dies zeitigte essentielle Veränderungen nicht nur in der politischen Verfaßtheit der Stadt, wie sie am Beispiel Göttingens mit der griffigen Formel des „Übergangs von der autonomen zur beauftragten Selbstverwaltung" auf den Begriff gebracht worden ist.6) Auch bezüglich der Wert- und Normstruktur, der politischen, sozialen und ökonomischen Orientierung städtischer Eliten zeichnen sich Veränderungsprozesse ab, die als der Wandel vom Stadt- zum Terri5
) P. Blickte, Einführung zu D. Gerhard, Das Abendland: 800-1800. Ursprung und Gegenbild unserer Zeit. 1985, 6. 6 ) L. Wiese-Schorn, Von der autonomen zur beauftragten Selbstverwaltung. Die Integration der deutschen Stadt in den Territorialstaat am Beispiel der Verwaltungsgeschichte von Osnabrück und Göttingen in der frühen Neuzeit, in: Osnabrücker Mitteilungen 82, 1976, 29-59.
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torialbürger beschrieben worden sind. 7 ) Es sind nicht so sehr die ökonomischen Prozesse, die zu diesem Wandel führten, welche hier interessieren, vielmehr ist für unseren Kontext der Wechsel der politisch-sozialen Identifikationsebene von der Stadt als autozentristischem Kosmos zur Stadt als Bestandteil eines übergeordneten politisch-sozialen Kosmos, eben des Territorialstaates, von ausschlaggebender Bedeutung. 8 ) An jenem Wechsel läßt sich die Problematik der Eigendefinition der Bürgerschaft als assoziativem Verbund, als .Gemeinde', zeigen. Gemeinde wird sich in diesem Kontext als ein Begriff erweisen, dessen konkrete Inhalte eine Variationsbreite besitzen, welche die These von der strukturellen Kontinuität des gemeindlichen Organisationsprinzips in Alteuropa kaum haltbar erscheinen läßt, es sei denn, man überhöhte jenes Prinzip zu einer für den historischen Erkenntnisprozeß nicht operationalisierbaren quasi-anthropologischen Konstante. Wenn ich nun dieses Entwicklungsraster auch hier als argumentative Leitlinie benutze, bin ich mir bewußt, daß meine Fragestellung nicht vollends deckungsgleich mit der von Blickle entwikkelten ist, da sein Kommunalismusbegriff in eine soziale Tiefendimension eindringt, die nicht vorrangig mit dem Begriff politischsozialer Eliten arbeitet, sondern mit .Gemeinde' die Gesamtheit der politisch-sozialen Organisation der Gemeindemitglieder meint. Gleichwohl denke ich, daß die Beziehung zwischen städtischen Eliten und Stadtherrschaft konstitutiv ist für die Ausgestaltung innerstädtischer Sozialformen. Die konkrete Gestalt dieser Elite, ihr Rekrutierungsmuster wie die Definition ihres Aufgabenbereiches, widerspiegelt den Spielraum, der für die Ausgestaltung gemeindlicher 7 ) H. Schilling, Wandlungs- und Differenzierungsprozesse innerhalb der bürgerlichen Oberschichten West- und Nordwestdeutschlands im 16. und 17. Jahrhundert, in: M. Biskup und K. Zernack (Hrsg.), Schichtung und Entwicklung der Gesellschaft in Polen und Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. 1983, 121-173. 8 ) Zu dieser Problematik O. Mörke, Der gewollte Weg in Richtung .Untertan'. Ökonomische und politische Eliten in Braunschweig, Lüneburg und Göttingen vom 15. bis ins 17. Jahrhundert, in: H. Schilling und H. Diederiks (Hrsg.), Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland. 1985, 111-133. Zur Stadt als .autozentristischem' Kosmos, als eigenbestimmtem geschlossenem System, vgl. ders., Integration und Desintegration. Kirche und Stadtentwicklung in Deutschland vom 14. bis ins 17. Jahrhundert, in: N. Bulst, J.-Ph. Genet (Hrsg.), La Ville, la Bourgeoisie et la Genèse de l'État Moderne. 1988, 297-321.
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- assoziativer - Sozial- und Politikformen in der Stadt selbst besteht. Entwicklungsbrüche, die sich da und dort in dieser Beziehung ausmachen lassen, sind daher auf ihre Wirkung auf kommunale Strukturen zu untersuchen. Es wird deutlich werden, daß es mit fortschreitender Entwicklung zunehmend schwieriger wird, die ich will es einmal so nennen - städtischen auf der einen und territorialen Funktionskreise von Politik auf der anderen Seite gegeneinander abzugrenzen. Meine These lautet, daß es zu einer immer dichter werdenden Verflechtung zwischen diesen Funktionskreisen kommt, die es fortschreitend problematischer werden läßt, das genuin Gemeindliche als horizontale Form der Politikorganisation abgegrenzt gegenüber der vertikal-herrschaftlichen - zu isolieren, und daß sich die den Taglingsteilnehmern im Frageraster für den ,regional vergleichenden Teil' vorgegebenen Komplexe gemeindlicher Verfaßtheit (1. Gemeindeversammlung, 2. kommunale Administration und 3. Gericht) nur vor dem Hintergrund dieser Verflechtung auf die ihnen eigene Funktionalität hin untersuchen lassen. II.
Einschränkend sei zum Beginn der konkreten Fallstudien bemerkt, daß es angesichts der Vielfalt der im mitteldeutschen Raum vertretenen Stadttypen schwerfällt, diese unter dem Dach einer umfassenden These zu vereinen. Die wenigen Reichsstädte, Frankfurt an der Spitze, fallen aus ihr heraus, da bei ihnen die institutionalisiert herrschaftliche Komponente der funktionalen Beziehung zwischen Stadt und politischem Umfeld naturgemäß völlig andere Gestalt annehmen mußte als bei den Landstädten. Im folgenden beschränke ich mich auf die Analyse der Entwicklung von Gemeinde in vier Landstädten des Raumes, die in unterschiedlichen territorialen Bezügen stehen und auch in der innerstädtischen Organisation erheblich voneinander abweichen: Hanau, Göttingen, Osnabrück und Marburg. Vor allem sind es die Sondertypen der frühneuzeitlichen Neugründungen, an denen sich die Verflechtung der Funktionskreise städtischer und territorialer Politik als Leitmotiv städtischer Verfassungspraxis in nahezu idealtypischer Reinheit demonstrieren läßt. Sie standen von vornherein in engster Verbindung zum jeweiligen Landesherrn. In ihrem politischen Regiment profilierte sich der lan-
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desherrschaftliche Auftragscharakter besonders deutlich. Es ist zu fragen, ob sich ihr politisch-soziales Profil mit der der Kommunalismusthese eigenen Begrifflichkeit fassen läßt. An vorderster Stelle sind hier die Exulantenstädte, wie ζ. B. Neu-Hanau oder das nordhessische Karlshafen, und die Residenzstädte, wie das waldeckische Arolsen, zu nennen. Die politische Verfaßtheit Hanaus, der Altstadt als Residenzort der Grafen von Hanau, wie der um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert gegründeten calvinistischen Exulantensiedlung der Neustadt, zeigt die deutliche Handschrift der landesherrlichen Planung, die auf,Gemeinde' als politisch-soziales Prinzip nur noch insofern setzte, als sie sich in diese Planung integrieren ließ. 9 ) Und das in der Neustadt bei einer Gründungsgemeinde, deren Mitglieder aus der besonders stark von mächtigen autonomen Stadtgemeinden geprägten politischen Landschaft der südlichen Niederlanden stammten. Als sie sich zunächst in Frankfurt niedergelassen hatten, stießen die wirtschaftlich agilen Neuankömmlinge auf den Widerstand der um ihre ökonomische Position fürchtenden eingesessenen lutherischen Elite. In Hanau bot der Graf ihnen eine neue Bleibe, wo sie zudem mit umfangreichen wirtschaftlichen Privilegien ausgestattet wurden. Die politische Kontrolle der Bürgergemeinde gab der Landesherr jedoch nicht aus der Hand. „Schutz und Schirm" 10 ), in die er die Neustadtbürger aufnahm, bedeuteten keine lediglich aus Tradition beibehaltene Floskel. Vielmehr manifestierte sich in dieser Formel eindeutig die Intention des gräflichen Stadtherrn, selbst den Spielraum gemeindlicher Selbstverwaltung zu bestimmen. Bei der Bestellung der „Kirchen- und Schuldiener" 11 ) behielt er sich das Bestätigungsrecht der von der Gemeinde präsentierten Kandidaten vor. Ebenso verhielt es sich bei den Mitgliedern des Stadtrates, die für „tuglich und gnugsamb qualifiziert" befunden werden mußten. 12 ) Die Selbstverwaltung der Bürgergemeinde entfaltete sich nicht in Auseinandersetzung mit dem Landesherrn, in bewußter Ab') Zur Gründungsgeschichte Neu-Hanaus: H. Bott, Gründung und Anfänge der Neustadt Hanau 1596-1620. 2 Bde. 1970/71. Weitere wichtige Informationen zur Sozialstruktur in einer Rezension dieses Werkes von K. Krüger, in: Hanauer Geschichtsblätter 24, 1973, 317-326. Zur Herkunft der Exulanten und ihrem Aufenthalt in Frankfurt H. Schilling, Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. 1972, passim. 10 ) Bott, Gründung. Bd. 1 (wie Anm. 9), 432, 553. ") Ebd. 433. 12 ) Ebd. 434.
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grenzung von ihm, sondern in Anlehnung an ihn. In der Regelung der Ratsbesetzung von 1601 wird dies deutlich. Aus 32 von den Bürgern vorgeschlagenen Personen wählte der Graf vier Bürgermeister und zwölf Ratsherren aus. 13 ) Es entwickelte sich ein Verhältnis des Do-ut-des, das durch die direkte Präsenz des Landesherrn in seinem Stadtschloß über das Maß der Symbiose ökonomischer Interessen hinaus intensiviert wurde. Den Vorsitz des Neustädter wie des Altstädter Rates hatte der gräfliche Schultheiß inne, dessen Amt nicht unter die Kontrolle der beiden Bürgergemeinden geriet. Der Schultheiß war und blieb landesherrlicher Funktionsträger. Als Vorsitzender des Stadtgerichts stand er zwölf Schöffen vor, die ebenfalls der Bestätigung des Grafen bedurften. Aus ihrem Kreis wurden als Verwaltungsorgan der Altstadt zwei Bürgermeister gewählt. 14 ) Rats- und Gerichtsfunktion waren so in der Altstadt personell aufs engste verflochten. Da die gräfliche Kanzlei oberste Gerichtsbehörde blieb, dominierte, wie in der Neustadt, auch in der Altstadt die landesherrliche Kompetenz. Die Gründungsurkunde der Neustadt setzte hier in unumwundener Direktheit in Kriminal- und Zivilsachen die gräfliche Entscheidungsgewalt fest, ohne auch nur den Anschein gemeindlicher Autonomie zu wahren. Ausgenommen wurde bezeichnenderweise der Bereich der Handelsgerichtbarkeit. Ein consulatus mercatorum in Selbstverwaltung der Neustadtbürger überließ die Lösung von Wirtschaftskonflikten gemeindlicher Eigenregulierung. 15 ) Bemerkenswert ist die Arbeitsteilung zwischen landesherrlicher und bürgerlicher Einflußsphäre, die eindeutig einem funktionalen Interessenmuster folgt. Privilegiert und selbstbestimmter Organisation überlassen wurde die Gemeinde dort, wo sie lediglich Gemeinschaft der Wirtschaftsbürger gewesen ist, die politische Kontrolle unterlag der Landes- und Stadtherrschaft. Bürgerliche Autonomie auf dem Sektor der Wirtschaftsverfassung war freilich auch nur eine Funktion des Primats landesherrlicher Politik, welche die Bürger dort schalten und walten ließ, wo sie sich kraft eigener Fähigkeit in denjenigen Bereichen entfalten konnten, in welchen sich das herrschaftliche Interesse des Landesausbaus und die wirtschaftlichen Interessen der neuen Gemeinde trafen. 13
) E. Revier (Hrsg.), Deutsches Städtebuch. Bd. IV/1 (Land Hessen). Artikel Hanau. 1957, 221. 14 ) Ebd. 15 ) Bott, Gründung. Bd. 1 (wie Anm. 9), 437.
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Der Grenzbereich zwischen Gemeinde und Herrschaft/Obrigkeit in der Stadt selbst wies bezeichnende Randunschärfen auf. Es ist nicht möglich, die Funktion des Rates auf die ausschließlich obrigkeitlich-herrschaftliche Komponente zu beschränken. Einerseits war er gewiß nicht ausführendes Organ einer von der Gemeinde konturierten Politik, sondern verlängerter Arm der Herrschaft, dessen Amtsführung andererseits aber durchaus im Konsens mit der Bürgerschaft erfolgte - eine Deckungsgleichheit von stadtherrlichem und gemeindlichem Interesse. Die Abkommen über die Modalitäten der Gründung Neu-Hanaus und der politisch-sozialen Gestalt der Stadt erfolgten zwischen dem Grafen auf der einen, dem Kollektiv der Exulantengemeinde auf der anderen Seite. Die Funktionalisierung der Gemeinde im Rahmen eines landesherrschaftlichen Konzeptes bedurfte nicht der Beseitigung gemeindlicher Autonomie - sie begab sich freiwillig in diesen Funktionalitätsrahmen. Dies geschah umso bereitwilliger, als die Autonomie der Gemeinde dort nicht angetastet worden war, wo ihr ureigenstes Interesse zu liegen schien, in der Organisation der städtischen Ökonomie. Bedeutete dies nun eine Umwertung der gemeindlichen Tradition oder lediglich eine modifizierende Anpassung an ein gewandeltes Konzept der Realisierung des städtisch-gemeindlichen Grundwertes des „Gemeinen Nutzes"? 16 ) Dieser setzte sich unter gewandelten politisch-sozialen Umweltbedingungen nunmehr im Verein mit jener Umwelt in Gestalt des Territorialstaates durch, wie er sich noch im 15. und auch im 16. Jahrhundert in Abgrenzung zu ihr durchzusetzen trachtete. Der objektive Stellenwert des Gemeindeprinzipes für die politisch-soziale Organisation Stadt konnte sich fundamental wandeln, hin zu einem herrschaftlich-territorial orientierten Konzept, ohne daß dieser Wandel subjektiv als solcher präsent gewesen wäre. „Gemeiner Nutz" konnte weiterhin als normative Grundlage städtischer Gemeinschaft erlebt werden,,Gemeinde' wurde aus dem alltäglichen Erfahrungshorizont nicht ausgeblendet - und doch stellte sie sich in der sich hier präsentierenden Konstellation lediglich als Element eines Politiksystems dar, das nicht nur herrschaftlich-vertikal dominiert wurde, sondern in dem obendrein ") In seinem einleitenden Referat charakterisiert Blickte den ,Gemeinen Nutz' als eine der normativen Grundlagen kommunaler Ordnung. Dazu wesentlich H. C. Rublack, Grundwerte in der Reichsstadt im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: H. Brunner (Hrsg.), Literatur in der Stadt. 1982, 9-36, besonders 29 f.
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die Bewegungsrichtung politischer Gestaltung von einer außerstädtischen Autorität, dem Grafen, ausging und in die Stadt hinein verlief. Der auch in den Gründungsdokumenten Neu-Hanaus strapazierte „Gemeine Nutz" zeigt sich als Wert, der sich nicht an die gemeindliche Sozial- und Politikorganisation band, sondern auch seinen Platz im herrschaftlich-territorialen Konzept fand. Der Fall Neu-Hanau steht nicht allein, hier profiliert sich ein Muster im Verhältnis von Bürgergemeinde und Stadtherrschaft in besonders deutlicher Form, das mit modifizierten Akzentsetzungen auch in anderen Neugründungen zu finden ist.17) Ich habe einen solchen ,Sondertypus' an den Beginn der Falldarstellungen gestellt, weil er gerade nicht .Sondertypus' im Sinn einer von der der anderen Städte isolierten Entwicklung ist, sondern ein Konzept von funktionaler Einbindung gemeindlicher Organisation in eine gesamtterritoriale Planung widerspiegelt, der in der Tendenz auch die anderen Territorialstädte unterworfen gewesen sind. Wenn es sich jedoch so verhielt, wie ich eben kurz umrissen habe, daß nämlich die Neugründungen gewissermaßen ohne traditionsbedingte Verunreinigungen die Lupenreinheit politischer Intention zum Vorschein bringen, so indiziert dies zum einen einen wichtigen Bruch in der kommunalen Tradition, nämlich die Funktionalisierung von Gemeinde im Rahmen des herrschaftlich-territorialen Konzeptes. Zum anderen führt es zu einer für die Qualifizierung gemeindlicher Elemente im politisch-sozialen Leben der Städte bedeutenden Fragestellung, die ich hier freilich nur anschneiden kann. Die Frage nämlich, ob es sich bei diesen Elementen seit dem späten 16. Jahrhundert um ungleichzeitige Reste einer überkommenen politischen Kultur - zur rituellen Hülse verkommen - , oder um eine strukturelle Notwendigkeit zur Bewältigung der Probleme von sich sozial immer weiter differenzierenden Stadtgesellschaften handelte. 18 ) Auch hier habe ich eher Material zur Untermauerung der Frage als die schlüssige Antwort anzubieten. Unter anderem am Beispiel Göttingens habe ich den Prozeß der Integration einer autonomen Landstadt in den Territorialstaat als „gewollten Weg zum Unterta") Vgl. z. B. G. Köhn, Die Bevölkerung der Residenz, Festung und Exulantenstadt Glückstadt von der Gründung 1616 bis zum Endausbau 1652. 1974. O. Sonne, Geschichte der Stadt Karlshafen. 1949. ls ) Vgl. dazu auch den Beitrag von W. Kaschuba in diesem Band.
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nen" bezeichnet. 19 ) Ich modifiziere meine in diesem Zusammenhang formulierten Aussagen insofern, als deutlich zu machen ist, daß es sich bei diesem Prozeß nicht um einen Bruch des bis dahin die politisch-soziale Organisation bestimmenden Gemeindeprinzips handelte. Dieses existierte hier und auch in vergleichbaren Kommunen nur in ständigem Konflikt mit einem konkurrierenden Konzept oligarchischer Herrschaft. So rekrutierte sich der Rat kooptativ aus einem winzigen Segment der Bürgerschaft, der Kaufmannsgilde. 20 ) Schon im frühen 15. Jahrhundert ist von einer Mitwirkung der Gemeindekorporationen bei der Ratswahl nichts bekannt. Auch die Stadtämter, voran das der Kämmerer, wurden zu jener Zeit aus dem Rat heraus besetzt, so daß von gemeindlicher Kontrolle etwa bei der Rechnungslegung keine Rede sein konnte. Von einer Gemeindeversammlung, gegenüber der Rechenschaftspflicht des Rates bestanden hätte, hören wir vor der Reformation nichts. Vertreter der Gilden finden wir vor 1510 lediglich vereinzelt unter den Hospitalsvormündern sowie unter den Feldgeschworenen, den Aufsehern über die Grenzen der städtischen Feldflur. 21 ) Ebenso war bis zur Wende auf das 16. Jahrhundert der landesherrliche Einfluß auf die Stadt auf ein Minimum geschrumpft. Zwar konkurrierten auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit Ratsgericht und landesherrliches Schultheißengericht. Pfandnahmen des Schultheißenamtes durch die Stadt sicherten jedoch bis 1664 den Einfluß des Rates auch im Schulzengericht, in dem überdies Ratsherren als Beisitzer fungierten. Einschränkungen der städtischen Gerichtshoheit gelangen der Landesherrschaft lediglich im Umland. 22 ) Sehr viel später als in anderen Städten des Raumes regte sich gegen das ausgeprägt herrschaftliche Konzept Göttinger Stadtpolitik Widerspruch, der an der Diskussion der Vereinbarkeit dieses Konzeptes mit dem „Gemeinen Nutzen" ansetzte 23 ) und für eine ") Mörke, Untertan (wie Anm. 8). ) Zur Göttinger Ratsverfassung W. Mohnhaupt, Die Göttinger Ratsverfassung vom 16. bis 19. Jahrhundert. 1965. Ders., Stadtverfassung und Verfassungsentwicklung, in: D. Denecke u.a. (Hrsg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt. Bd. 1. 1987, 228-259. 21 ) Mohnhaupt, Stadtverfassung (wie Anm. 20), 234. 22 ) Zur Göttinger Gerichtsverfassung Mohnhaupt, Stadtverfassung (wie Anm. 20). ") Wesentliches Motiv für den innerstädtischen Konflikt von 1513 ist die Kritik an der eigennützigen Verwaltung und der Mißwirtschaft des Rates. Dazu O. Mörke, Rat und Bürger in der Reformation. Soziale Gruppen und 20
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Ausbreitung der sozialen Basis der Ratsherrschaft sorgte. In einem mehrstufigen Prozeß zwischen 1513 und 1543, in denen die Reformationsjahre 1529/30 eine beschleunigende Funktion einnahmen 24 ), gewannen die Gilden die Ratsfähigkeit. Das Kooptationsverfahren wurde zugunsten einer Wahl aus den Gilden aufgegeben. Indiz für den Wandel vom dezidiert herrschaftlich-obrigkeitlichen zu einem in Ansätzen gemeindlich kontrollierten Politikkonzept ist die Trennung der Finanzverwaltung, des Kämmereramtes, von der Ratsfunktion seit 1531. Für die Qualifizierung dieser Veränderungen ist jedoch wichtig, daß durch sie eine hochdifferenzierte Staffelung von Einflußringen geschaffen wurde, die zwischen die einfachen Gildebrüder und den Rat einen Filter in Form der Gildevorstände schob, welche allein für die Bestimmung der Ratskandidaten zuständig waren. Gemeindliche Urversammlungen mit eigener Entscheidungsgewalt sah das Göttinger System zu keiner Zeit vor; sie traten lediglich als informelles und dann entsprechend vom Rat als friedensstörend empfundenes Element in Zeiten gesteigerter Konfliktanfälligkeit auf, so vor allem in den Reformationsjahren. 25 ) Die Bürgerschaft trat außerhalb dieser Perioden nur zusammen, um vom Bürgermeister des abgehenden Rates das Ergebnis der Wahl von Gildevorständen und Rat entgegenzunehmen, außerdem wurde der Rat in ihrer Gegenwart vereidigt. 26 ) In der Verfassungsidee spiegelt sich also durchaus die Gesamtheit der Bürgerschaft als Schwurgemeinschaft wider. Die Praxis zog jedoch hier dem gemeindlichen Einfluß enge Grenzen. Daß die Göttinger Historiographie für die Zeit zwischen 1543 und dem Beginn des 17. Jahrhunderts von einem „Gildenregiment" spricht, suggeriert dem flüchtigen Beobachter die Identität dieses Regiments mit einer gemeindlichen Politikorganisation. Dieser Eindruck ist insofern zu modifizieren, als zwar die Existenz gemeindlicher Elemente gesehen werden muß, jedoch letztendlich besser von einer Ausweitung der sozialen Basis des obrigkeitlich-herrschaftlichen Konzeptes zu reden ist, in dessen Rahmen sich die gemeindliche Fortsetzung
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kirchlicher Wandel in den weifischen Hansestädten schweig und Göttingen. 1983, 88. 24 ) Dazu ausführlich Mörke, Rat (wie Anm. 23). 25 ) Mörke, Rat (wie Anm. 23), 157. ") Mohnhaupt, Ratsverfassung (wie Anm. 20), 53.
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Dominanz auf kurze Intermezzi beschränkte. Der Widerspruch zwischen einem Regiment, das sehr bald wieder von einer um das Gildenhonoratiorentum erweiterten Ratsoligarchie beherrscht wurde, und der Erfahrung der konkreten Möglichkeit gemeindlichen Einflusses in den späten 1520ern und den 1530ern führte zu einem Nebeneinander gemeindlicher Idee und herrschaftlicher Praxis, das auf die Dauer unvereinbar war. Daraus erklärt sich auch der relativ reibungslose Übergang zu einem landesherrlich kontrollierten Stadtregiment seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts. 27 ) Einem sich wiederum als Obrigkeit verstehenden Rat, der seine Verpflichtung auf das Wohl der ihm anvertrauten Bürgerschaft durchaus ernst nehmen konnte, stand das obrigkeitliche Politikkonzept der Landesherrschaft näher als das genossenschaftlich-gemeindliche, wie es sich unter dem Eindruck der städtischen Reformation um 1530 profilierte. Die Vitalisierung der Bürgergemeinde als Sakralgemeinschaft 28 ) unterbreitete das Angebot einer sich über soziale Differenzierungen hinwegsetzenden Einungsidee. Diese war als Legitimation für eine Ausweitung der sozialen Basis des Regiments willkommen gewesen, ihre Wirkkraft ging jedoch dann verloren, als die praktische Füllung des ideologisch-normativen Rahmens im politischen Alltagsgeschäft auf der Tagesordnung stand, in dem der ideelle Hintergrund nicht ständig reflektiert werden konnte und in dem sich die Stadt mit den Anforderungen zunehmender politischer und ökonomischer Verflechtung mit einem nichtsstädtischen Umfeld konfrontiert sah.29) Für eine erneute Vitalisierung des auf die Stadt als abgeschlossenem ideellen Kosmos konzentrierten Gemeindeideals bestand um 1600 keine Möglichkeit mehr. Das Gemeindeprinzip mußte der Konkurrenz des obrigkeitlichen Konzeptes unterliegen. Es mag nur noch unterhalb der Ebene des administrativen Vollzuges von Stadtpolitik in den Organen des Rates eine Überlebenschance gehabt haben, im ,heimlichen Kodex' des Alltagshandelns der Stadtbewohner, als zur Vermeidung unüberbrückbarer Konflikte notwendiger ,common sense', wie Wolfgang Kaschuba in seinem Beitrag zu diesem Band betont. 27
) Mörke, Untertan (wie Anm. 8), 127-131. ) So die hinreichend bekannte These von Moeller, Reichsstadt (wie Anm. 3). ") Der Austritt Göttingens aus der Hanse 1572 und die wirtschaftliche Stagnation der traditionellen ökonomischen Elite der Kaufgilde indizieren diesen Wandel. 28
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In der Ratsordnung von 1611 wurde dem amtierenden Rat lediglich ein Vorschlagsrecht für die Ratsbesetzung belassen, die Entscheidung lag beim Landesherren. Ein großer Teil der Ratsherren zählte im 17. Jahrhundert wieder zur Kaufgilde. Ab 1690 wurde der Rat vollends zu einem ausführenden Organ des Fürsten, nachdem die Familien der Kaufgilde weiter an wirtschaftlichem Gewicht eingebüßt hatten. An die Spitzenposition des Vermögensspektrums und der ökonomischen Aktivität waren zu Beginn des 18. Jahrhunderts Manufakturunternehmer getreten, die an einer Mitwirkung im Stadtgemeinderat keinerlei Interesse zeigten. Ein ökonomischer Differenzierungsschub, der über die traditionelle Stadtökonomie der Zünfte und Gilden hinauswies, löste die neue ökonomische Elite jener Manufakturunternehmer aus dem korporativen Rahmen der Gemeinde heraus. Die Trennung von ökonomischer und politischer Elite war vollzogen worden. Und nicht nur das. Die Stadtgemeinde hatte als Identifikationsobjekt sowohl für ökonomische wie für politische Eliten aufgehört zu existieren, sie konnte nicht länger als ein auf sich selbst zentrierter Kosmos gesehen werden, dessen Wertund Normsystem nicht zuletzt auf Abgrenzung gegenüber ihrem politisch-sozialen Umfeld beruhte. Das gemeindlich-autonome Prinzip als Möglichkeit der Organisation des städtischen Lebens hatte keinen Bestand. Verschieden von der Göttinger ist die Ausgangsposition in der Bischofsstadt Osnabrück im 14. Jahrhundert, und anders gestaltet sich dann auch die Entwicklung bis ins 18. Jahrhundert. 30 ) Seit 1306 ging der Rat aus einem Wahlakt der Bürgerversammlung hervor. Nach der Sate über die Ratswahl von 1348 bestimmte der alte Rat angesichts der Bürgerversammlung in einem komplizierten Verfahren ein Wahlmännergremium, das wiederum die Ratsherren wählte. Eidlich versicherten alter Rat und Wahlmänner, sich bei der Wahl von der ,stad nutte" leiten zu lassen. Schon 1370 wurde die Wählbarkeit strikt eingeschränkt: Ein Ratsherr durfte während seiner Amtszeit kein Handwerk ausüben. Bis 1802 blieb die Sate von 1348 in Kraft. Spechter charakterisiert die Situation so: „ R u n d 450 Jahre erwies sich die damit getroffene Regel als flexibel genug, um Forderungen der Bürger, von welcher Seite sie auch kamen, nach Beteili30
) Die Darstellung der Entwicklung folgt O. Spechter, Die Osnabrücker Oberschicht im 17. und 18. Jahrhundert. Eine sozial- und verfassungsgeschichtliche Untersuchung. 1975, sowie Wiese-Schorn, Selbstverwaltung (wie Anm. 6).
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gung an der Macht mit dem Hinweis auf die demokratischen' Statuten der Sate begegnen zu können." 31 ) Man argumentierte also ganz deutlich mit der gemeindlichen Orientierung der Stadtverfassung, und dies unbeschadet einer politischen Praxis, die dem Abschluß einer relativ geschlossenen Elite Vorschub leistete, welche sich in Osnabrück vornehmlich aus bischöflichen Ministerialenfamilien sowie Vertretern der Tuchmacher- und Goldschmiedegilde rekrutierte. Die Entwicklung im 15. Jahrhundert legt die Unlösbarkeit des Widerspruchs zwischen gemeindlicher Verfassungsorganisation und einer Praxis offen, die diese Organisation in Frage stellte. In einem sich neben dem eigentlichen Rat mit seinen 16 Mitgliedern etablierenden achtunddreißigköpfigen Ausschuß gewannen die Gilden und die in der Wehr organisierten nichtgildegebundenen Handwerker vorübergehende politische Dominanz, die die Oligarchietendenzen zugunsten erneuter gemeindlicher Vitalisierung brach. Noch im 15. Jahrhundert bildete sich aber ein innerer Rat heraus, dem neben den zwölf Ratsherren nur zwei Vertreter der Wehr, zwei Gildemeister sowie ebenfalls zwei Angehörige der .Weisheit', ehemalige Ratsmitglieder, angehörten. „Eine Stadtrechnung von 1444 läßt den Sinn dieser Maßnahme erkennen. Sie besagt, daß bestimmte Ausgaben nur dem Bürgermeister und den Obersten Gildemeistern bekannt seien. Neben dem Wunsch, wichtige geheime Sachen nicht zu vielen Leuten zugänglich zu machen, wird auch der Wunsch nach schnellerer Erledigung der gestellten Aufgaben maßgeblich gewesen sein." 32 ) Eine erneute Einengung der maßgeblichen politischen Geschäftsführung brachte die Etablierung eines Ausschusses des inneren Rates, bestehend aus drei Bürgermeistern, den zwei großen Gildemeistern und einem Vertreter der ,Weisheit', des alten Rates. Die mit der Bekleidung der zahlreicher werdenden Ratsämter betrauten Ratsherren waren diesem Ausschuß verantwortlich. Es fand also in Osnabrück schon sehr früh, zu einem Zeitpunkt, als in Göttingen sich gerade die Gilden die Beteiligung am entscheidungsführenden Rat erfochten und damit zu einer quantitativen Expansion wie zu einer weitgehenden sozialen Differenzierung des Regiments beitrugen, die Konzentration der politischen Entscheidungsgewalt auf ein weitgehend eigenverantwortlich handelndes kleines Gremium statt, 31
) Spechter, Oberschicht (wie Anm. 30), 21. ) Ebd. 19 f.
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das die durch den Landesherrn in Göttingen im 17. Jahrhundert vorgenommene effektivitätssteigernde Straffung des Rates zu einem obrigkeitlich-herrschaftlichem Instrument um ein Jahrhundert vorwegnahm. Diese Verobrigkeitlichung aus eigener Kraft und die relativ schwache territorialherrliche Position des Bischofs bewahrten Osnabrück ein wesentlich höheres M a ß an A u t o n o m i e bis zum E n d e des Alten Reiches. Das Beispiel Osnabrücks zeigt sehr deutlich, daß die Beteiligung der Bürgerkorporationen am Regiment ein allenfalls notwendiges aber keineswegs hinreichendes Kriterium für die Qualifikation eines städtischen Sozial- und Politiksystems als eines gemeindlich dominierten darstellt. Einerseits bedurfte es in einem Gemeinwesen, das von Kollektivwerten wie dem ,Gemeinen Nutzen' bestimmt wurde und das diese nur als Interessenkonsens der Bürger und Verpflichtung zu städtischem Frieden im Sinne der Konfliktvermeidung interpretieren konnte, der Idee gemeindlich orientierter Politikorganisation - nicht zuletzt wurde diese deshalb immer wieder zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert in Wandlungsschüben reaktiviert. 33 ) Andererseits kollidierte dieses Konzept mit den prak") E. Maschke, Deutsche Städte am Ausgang des Mittelalters, in: W. Rausch (Hrsg.), Die Stadt am Ausgang des Mittelalters. 1967, 20, 40, Anm. 206, betont, daß sich in den Stadtunruhen im Verlauf des 15. Jahrhunderts das soziale gegenüber dem politischen Motiv des Verlangens nach Teilhabe am Stadtregiment verstärkte. Auch wenn ich mit E. Pitz, Wirtschaftliche und soziale Probleme der gewerblichen Entwicklung im 15./16. Jahrhundert nach hansisch-niederdeutschen Quellen, in: C. Haase (Hrsg.), Die Stadt des Mittelalters. Bd. 3. 1973, 145, 147, entgegen Maschke der Meinung bin, daß noch im 16. Jahrhundert die städtischen Konflikte vornehmlich um politische, verfassungsrechtliche Probleme, während der Reformation gerade auch um deren ideelle Grundlage, geführt wurden, sehe ich in der Differenzierung zwischen „politischer" und „sozialer", um das tägliche Brot geführter Auseinandersetzung ein Kriterium zur Klassifikation stadtgemeindlicher Lebensform. Der soziale Konflikt, geführt um die Verteilung ökonomischer Ressourcen, mitunter um den Erhalt der Subsistenz, wie er mir sehr viel typischer für die Krise des 17. Jahrhunderts zu sein scheint, hat in allen vier von mir vorgestellten Beispielen, wenn er denn überhaupt virulent wird, nicht mehr primär die ideellen Grundlagen von Stadtpolitik, den Streit um gemeindliches und obrigkeitliches Konzept, zum Gegenstand. Möglicherweise stellt sich dies in den Reichsstädten, die ihren Charakter als eigenständige autozentristische - politische Einheit bis zum Ende des Alten Reiches wahren konnten, anders dar. So betont für diesen Städtetyp C. R. Friedrichs, Citizens or Subjects? Urban Conflict in Early Modern Germany, in: M. U. Chrisman und O. Gründler (Hrsg.), Social Groups and Religious Ideas in
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tischen Anforderungen an die Bewältigung der Probleme eines in vielerlei Beziehung immer komplexer werdenden politischen und sozialen Systems so lange, wie an einem Wert- und Normsystem festgehalten wurde, dem die - faktisch vorhandene - Interessensegmentierung der Stadtgesellschaft fremd geblieben war. In einem abschließenden Beispiel möchte ich die Entwicklung in einer der zahlreichen kleineren und mittleren Landstädte des mitteldeutschen Raumes skizzieren, die sich traditionell in einer räumlich wie politisch engen Beziehung zum Stadtherrn befanden, dem oberhessischen Marburg, einer Stadt, die den Typ der ,Gemeinde unter der Burg' nahezu ideal verkörpert. 34 ) 1247 wurden Stadt und Burg zur Residenz der hessischen Landgrafen. In der Spannung zwischen der territorialpolitischen Funktion der Stadt und den politischen Ansprüchen der sich differenzierenden Stadtgesellschaft entwickelte sich das Selbstverständnis der die politischen Geschicke Marburgs lenkenden Gruppen, der Schöffen bzw. des Rats auf der einen und der Zünfte wie der Gemeinde auf der anderen Seite. Es kennzeichnet die Marburger Entwicklung als eine dominant obrigkeitlich strukturierte, in der das gemeindliche Element eine zwar immer wieder auftretende Herausforderung darstellte, aber letztlich nur kurz - im frühen 16. Jahrhundert - eine wesentliche Komponente der Stadtverfassung werden konnte, daß das ursprünglich mit iurisdiktionellen Aufgaben im Auftrag des Stadtherrn betraute Schöffenkollegium, aus dem sich im 14. Jahrhundert der Rat entwickelte, ein geschlossener, sich von der übrigen Bürgergemeinde strikt abgrenzender Sozialkreis blieb. Das Prinzip der Rekrutierung des Schöffenkollegiums durch Selbstergänzung, seit der Mitte des 14. Jahrhunderts die Wahl des Rates wiederum durch die Schöffen, diese Elemente betonen die Ausbildung einer politisch-sozialen Elite, die ihre Legitimation nicht durch einen gemeindlichen Wahlakt empfing. Gleichwohl intendierte die Einrichtung des Rates neben dem Schöffenkollegium die Verankerung einer gemeindlichen Komponente, sollten in ihm doch die Vertreter der Stadtquartiere und Zünfte vertreten sein. „Die Wahl der RatsFortsetzung
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the Sixteenth Century. 1978, 46-58, die Kontinuität politischer Konflikte zwischen Rat und Bürgerschaft bis zum Ende des Alten Reiches, ohne freilich deren Qualität und legitimatorische Grundlage näher zu qualifizieren. 34 ) Die Darstellung folgt F.-J. Verscharen, Gesellschaft und Verfassung der Stadt Marburg beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. 1985.
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männer durch die Schöffen und das eingeschränkte Zeugenrecht der Ratsmänner (die Stimme eines Schöffen zählte doppelt) bewirkten jedoch, daß sich der politische Einfluß der Gemeinde nicht vergrößerte." 35 ) Die Idee gemeindlicher Beteiligung am Stadtregiment kollidierte auch in Marburg mit einer Praxis, die letztendlich diese Beteiligung negierte. Einmal geboren, ließ sie sich jedoch nicht mehr unterdrücken. Als Folge eines länger andauernden Konfliktes wurde 1428 der Rat durch aus Zünften und Gemeinde jährlich zu wählende Vierer ersetzt, „die in jedem der wichtigen Ratsämter vertreten waren und dort eine wirksame Kontrolle über die Amtsführung der Schöffen ausüben konnten". 36 ) Es formte sich ein deutlicher Dualismus von obrigkeitlichem Schöffenorgan, das sich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts aus einer kleinen Gruppe ,patrizischer' Familien rekrutierte, und dem gemeindlich legitimierten Kontrollorgan der Vierer heraus, der bis zum Ende des Alten Reiches im Prinzip bestehen blieb. Die weitere Entwicklung im 16. Jahrhundert zeigt allerdings sehr deutlich die Tendenz, die sich schon in den Konflikten des 15. andeutete: Der Landesherr benutzte die Rivalität zwischen den beiden innerstädtischen Politikkonzepten - vertreten von den Schöffen auf der einen, den Vierern auf der anderen Seite - , um seinen eigenen Einfluß auf die Stadtpolitik zu verstärken und sich schließlich als Obrigkeit zu etablieren. So unterstützte er zunächst die gemeindlichen Ansprüche gegen das sich zunehmend seiner Kontrolle entziehende Schöffen-,Patriziat'. Mit dem Aussterben bedeutender Familien dieser Gruppe bot sich die Möglichkeit, das Schöffenkollegium mehr und mehr mit landesherrlichen Funktionsträgern zu besetzen. 1523 wurde die dadurch ermöglichte informelle Kontrolle der Stadtpolitik durch eine auch formell abgesicherte ersetzt: Das Wahlrecht für Schöffen und Vierer reduzierte sich fortan auf ein bürgerliches Vorschlagsrecht; der Rat unterstand nunmehr der Kontrolle durch landesherrliche Ortsbeamte.
") Ebd. 115. 36 ) Ebd. 183.
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III. Es scheint auch in Marburg ein durch den Wandel der Elitestruktur von dem alteingesessenen .Stadtpatriziat' zu einer auf den Fürsten orientierten Gruppe von Funktionsträgern aus der landesherrlichen Verwaltung und Universitätsangehörigen hervorgerufener Wechsel im sozialen Identifikationsmuster dieser Eliten gewesen zu sein, der die Abwendung vom Konflikt um das Gemeindeprinzip ermöglichte und die Bürger das Ende städtischer Autonomie akzeptieren ließ. Die Akzeptanz von Herrschaft als politischem Prinzip, das zeigten neben der hanauischen Neugründung besonders deutlich die Beispiele Göttingens und Marburgs, wuchs in dem Maß, in dem städtische Eliten ihre Fixierung auf die Stadt als Identifikationsrahmen für ihre soziale und politische Existenz aufgaben und sie nurmehr als untergeordneten Bestandteil des neuen Rahmens ansahen, den sie im Territorialstaat gefunden hatten. Wenn dies jedoch ein Muster ist, das sich in vielen anderen kleinen und mittleren Landstädten finden läßt, die ich als repräsentativ für den Raum „mittleres Deutschland" apostrophiert habe, dann ist der Erkenntniswert der Kommunalismusthese zu überdenken. Ihr eignete dann der Erkenntniswert eines Idealtypus im Sinn einer gedanklichen Systematisation, „welche als Handhabe für die verschiedenartigsten Interpretationen konkreten Erfahrungsmaterials dienen" kann, ohne daß ihr Realitätscharakter zukäme. 37 ) Gleiches gälte für das Begriffspaar vom herrschaftlichen und gemeindlichen Politikkonzept. In der konkret historischen Analyse kristallisiert sich in den vorgestellten Fällen eine Gemeinsamkeit heraus: Über den gesamten Beobachtungszeitraum konkurrierten gemeindliches und obrigkeitliches Politikkonzept. Es bestand ein Übergewicht der gemeindlichen Komponente allerdings im Bereich des ideellen Gestaltungsprinzipes von Stadtpolitik, während die langfristige Tendenz politisch-administrativer Praxis auf das herrschaftlich-obrigkeitliche Konzept ausgerichtet blieb. Ich frage mich, ob sich darin lediglich regionale Zufälligkeit zeigt oder ob sich nicht vielmehr hier strukturelle Notwendigkeiten offenbaren, die aus den sozialen und ökono-
") W. J. Mommsen, Universalgeschichtliches und politisches Denken bei Max Weber, in: D. Käsler (Hrsg.), Max Weber. Sein Werk und seine Wirkung. 1972, 248.
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mischen Differenzierungsprozessen resultieren, die der Stadt als Sozialform generell eigen gewesen sind. Konkret bedeutet dies, daß dem gemeindlichen Konzept Erfolgschancen in der politisch-administrativen Praxis nur dort beschieden gewesen sind, wo es sich um kleine, sozial wenig differenzierte Kommunen handelte, in denen die persönliche Kommunikation zwischen ihren Mitgliedern möglich war und in denen die Verflechtung mit außerhalb dieser Gemeinschaft stehenden politisch-sozialen Einheiten, die anderen Organisationsmustern folgten - ζ. B. eben dem Territorialstaat - , wenig entwickelt gewesen ist. Da, wie gezeigt worden ist, die Konsolidierung frühmoderner Staatlichkeit für das Ausmaß dieser Verflechtung von entscheidender Bedeutung war, ist mit jenem Territorialisierungsprozeß ein neues Stadium in der Beziehung der beiden Politikkonzepte erreicht worden. Das herrschaftlich-obrigkeitliche Konzept gewann im Konflikt um die politisch-administrative Praxis eine Dominanz, die dem gemeindlich-genossenschaftlichen in den größeren und mittelgroßen Kommunen nunmehr vor allem noch den ideologisch-normativen und mentalitären Sektor überließ. Das Überdauern gemeindlich genossenschaftlicher Elemente im alltäglichen Lebensvollzug etwa städtischer Nachbarschaften 3 8 ) bei deren gleichzeitigem Verschwinden aus der politisch-administrativen Praxis der Stadtregimenter erklärt sich aus der Spaltung von politischer und sozial-mentalitärer Sphäre. Die höhere Komplexität einer Stadtpolitik, die eingebunden gewesen ist in den übergeordneten Zusammenhang eines territorialpolitischen Konzeptes, sonderte jenen alltäglichen Lebensvollzug aus in den Bereich der mehr oder minder informellen sozialen Zusammenhänge, in denen diejenigen standen, die fortan kaum noch Anteil an der praktischen Gestaltung des obrigkeitlichen Politikkonzeptes hatten. Gleichsam im Windschatten dieses Konzeptes überlebte die Gemeinde als soziales Gestaltungsprinzip. ,Gemeinde' als Bestandteil der Mentalität, des Kollektiven Nicht-Bewußten' der französischen Sozialgeschichtsschreibung, äußerte sich in diesem Kontext und blieb integraler Bestandteil innerstädtischer Wirklichkeitsbewältigung. Dies erklärt auch, warum sie im Bereich der ideellen Gestaltung städtischer Politik so lange Bedeutung zu halten wußte. Da sich solche mentalitären 38 ) Mit dieser Frage befaßt sich u. a. M. Walker in seinem anregenden Buch German Home Towns, Community, State, and General Estate 1648-1871. 1971.
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Elemente wesentlich langsamer als die Anforderungen an die politisch-administrative Praxis wandelten, mußten sich die Argumentationsmuster in den Konflikten um diese Praxis folgerichtig von seiten der Kritiker an der gemeindlichen Interpretation orientieren.
DIE LANDGEMEINDE IM OSTELBISCHEN GEBIET (MIT SCHWERPUNKT BRANDENBURG) VON
HARTMUT HARNISCH
I. Rahmen eines Kolloquiums unter dem Thema „Kommunalismus in Mitteleuropa 1300 bis 1800" die Landgemeinde in der Region östlich von mittlerer und unterer Elbe zum Gegenstand zu haben, ist eine ziemlich undankbare Aufgabe. Seit längerem habe ich Archivstudien zur Geschichte der Landgemeinde in einem Gebiet betrieben, das Thüringen, Sachsen, Mansfeld, Anhalt, die Gebiete von Halberstadt und Magdeburg sowie die Kurmark Brandenburg umfaßt. Der Vergleich stellt sich dabei von selbst ein, und immer wieder wurde das geringere Entwicklungsniveau an gemeindlicher Eigenständigkeit bei den Landgemeinden deutlich, die im großen und ganzen ostwärts der alten Saale/Elbe-Linie liegen. Westlich der Elbe war in flächenmäßig geschlossener Verbreitung nur in der Altmark eine ähnlich schwach entwickelte Gemeinde anzutreffen. Sie entsprach in der Grundstruktur vollkommen dem Typ der ostelbischen Gemeinde. Auch wenn man sich dazu entschließt, unser Rahmenthema sehr weit aufzufassen und die Stellung der Gemeinde in der Feudalgesellschaft als Diskussionsgegenstand oder sogar als das eigentliche Erkenntnisziel ansieht, bleibt bei der Landgemeinde ostwärts von Saale und Elbe gegenüber dem deutschen Altsiedelland ein gewaltiges Defizit an ländlicher Kommunalität, d. h. an eigenständig gestaltetem Gemeindeleben und an eigenverantwortlich verwalteten Betätigungsbereichen, der beherrschende Eindruck. Zunächst muß dargelegt werden, daß unter den seit dem 16. Jahrhundert von der Gutsherrschaft geprägten Bedingungen die
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Mehrzahl der ländlichen Siedlungen doch noch den Charakter einer Landgemeinde hatte. Nach der immer wieder anzutreffenden Meinung waren hier die Bauerndörfer mehr oder weniger zu bloßen gutsherrlichen Untertanenverbänden degradiert worden, die kaum noch Züge einer eigenständigen communitas aufwiesen. 1 ) Selbstverständlich bildete nicht jede ländliche Siedlung zugleich auch eine Gemeinde. Bei den Gutssiedlungen in Mecklenburg, Pommern und in der Uckermark, in denen Häusler, Einlieger und Gesinde die ganz überwiegende Mehrheit der Bewohner ausmachte, wird niemand auf die Idee kommen, dort eine Gemeinde zu vermuten. Karl S. Kramer, der verdienstvolle Erforscher des ländlichen Volkslebens, konstatierte bei seinen Untersuchungen über den gutsherrschaftlich geprägten Distrikt des östlichen Holsteins sogar in den Bauerndörfern das Fehlen „ . . . einer auch nur reagierenden Gemeindeversammlung". 2 ) Selbst die im Rahmen der Regelungen des landwirtschaftlichen Arbeitsjahres notwendigen Absprachen, sonst auf dem Lande eines der ersten und wichtigsten Betätigungsgebiete einer funktionierenden Gemeindeversammlung unter ihrem Leiter, gab es dort nicht, sondern auch diese Dinge wurden durch einen Beauftragten der Gutsherrschaft angeordnet. Diese Bauerndörfer hatten zweifellos den Charakter einer Landgemeinde verloren. In den während des 17. und 18. Jahrhunderts an BrandenburgPreußen gelangten ostelbischen deutschen Territorien blieb dagegen auch unter den Bedingungen der Gutsherrschaft eine funktionsfähige Landgemeinde erhalten, so schwach entwickelt diese im überregionalen Vergleich auch immer erscheinen muß. Um diese Behauptung zu unterbauen, stelle ich zunächst die Landgemeinde nach dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 vor und versuche dann, rückschreitend einige für unser Gespräch wesentliche Aspekte der Landgemeindeentwicklung in dieser Region herauszuarbeiten resp. zur Diskussion zu stellen. Zunächst ist dabei die Landgemeinde im Gesamtgebiet der preußischen Monarchie angesprochen; die Verhältnisse in deren ostelbischen Provinzen werden aber von vornherein speziell anvisiert. ') F. Keil, Die Landgemeinde in den östlichen Provinzen Preußens und die Versuche, eine Landgemeindeordnung zu schaffen. 1890, 41 ; 61. Als Beispiel für diese Auffassung in der politischen Geschichte: M. Lehmann, Freiherr vom Stein. Bd. 2. 1903, 21. 2 ) K. S. Kramer und U. Wilkens, Volksleben in einem holsteinischen Gutsbezirk. 1979, 133.
Die Landgemeinde
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II. Nach jahrelangen Vorarbeiten wurde in Preußen am l.Juni 1794 das „Allgemeine Landrecht für die Königlich preußischen Staaten" (künftig ALR) in Kraft gesetzt. Im zweiten Teil desselben wurden unter dem siebenten Titel, Abschnitt zwei „Von Dorfgemein e n " ausführlich Funktionen und Kompetenzen der Landgemeinden abgehandelt. 3 ) Das ALR hatte bekanntlich gegenüber den regionalen Observanzen, den Provinzial- und Statutarrechten, lediglich subsidiäre Geltung. Diese Festlegung hatte insbesondere für das Recht der ländlichen Gesellschaft insgesamt und damit auch für das Landgemeinderecht grundsätzliche Bedeutung. Das ALR hat im Grunde genommen kein neues Landgemeinderecht geschaffen. Vielmehr wurden die älteren Observanzen sowie die einschlägigen Bestimmungen aus einer Reihe älterer Landesordnungen zusammengefaßt und in eine für die Gesamtmonarchie praktikable Fassung gebracht, die aber gleichzeitig die weitere Anwendbarkeit der regional bisher gültigen Landgemeinderechte gewährleistete. Der so außerordentlich reglementierungsfreudige preußische Staat des Spätfeudalismus hatte nämlich keinen Versuch unternommen, in seinem Staatsgebiet eine einheitliche Landgemeindeverfassung einzuführen, auch nicht nach der Etablierung des Absolutismus. Das ALR wurde von einem bereits weitgehend bürokratisch durchorganisierten absolutistischen Staat erlassen. Im großen und ganzen waren die Feudalverhältnisse noch vollkommen intakt, insbesondere, was die ländliche Gesellschaft anbelangt. Das Landgemeinderecht des ALR zeigt das auch ganz deutlich. Insgesamt erscheinen aber die einschlägigen Bestimmungen durchaus geeignet, die Entfaltung eines selbständigen Gemeindelebens bis zu einem gewissen Grade zu ermöglichen, wenngleich unmißverständlich die dominierende Rolle sowohl der lokalen Feudalgewalten als auch des Feudalstaates festgelegt wurde. Die Landgemeinde nach dem ALR ist die vollständig in den Verwaltungsaufbau einer Feudalmonarchie integrierte Gemeinde, zu deren unterster und wirksamster Durchsetzungsinstanz sie auf der lokalen Ebene geworden war, und
3
) Ich folge hier der Ausgabe: Allgemeines Landrecht für die preussischen Staaten. 2. Auflage. 1794.
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zwar sowohl in den landesherrlichen Amtsdörfern als auch in den Dörfern unter privater Grundherrschaft. 4 ) Das ALR hat also die Rahmenbedingungen abgesteckt, die nicht nur die überlieferten Formen von Gemeindeverfassungen bestehen ließen, sondern auch ein gewisses Maß von Entwicklungsmöglichkeiten boten. Diejenigen Grundvoraussetzungen, ohne die eine ländliche Siedlung kaum als Landgemeinde angesprochen werden kann, ein gewisses Minimum an Gemeinderechten, wurde im ALR fixiert. Sie wurde als Gemeinde konstituiert durch eine Gemeindeversammlung unter ihrem Leiter, und sie war rechts- und vermögensfähig. Die Gemeinde des ALR war nach § 18 eine Genossenschaft der Besitzer aller in der Feldmark gelegenen bäuerlichen Grundstücke. Damit war sie nach juristischem Verständnis eine Realgemeinde, und zwar de facto der zur Nutzung der Dorfgemarkung berechtigten Hauswirte. Die unterbäuerlichen Schichten gehörten nicht zur Gemeinde, wobei es lokale bzw. regionale Unterschiede gab. Während die Einlieger wohl nirgends dazu gehörten, hatten mancherorts Büdner und sogar Häusler eine gesicherte Berechtigung zur Mitbenutzung der Gemeindehütungen. Allerdings brauchten sie deswegen noch keine vollberechtigten Gemeindeglieder zu sein. Unverkennbar hatten die Verfasser des ALR bei ihrer Arbeit vornehmlich die Schulzengemeinde der ostelbischen Provinzen vor Augen, aber selbstverständlich mußten die einschlägigen Bestimmungen auf sämtliche innerhalb des preußischen Staatsgebietes vorkommenden Formen von Landgemeindeverfassung anwendbar sein. Unter §46 wird der Gemeindevorsteher mit der östlich der Elbe allgemein üblichen Amtsbezeichnung Schulze benannt. Dieser wurde laut § 47 von der Gutsherrschaft ernannt, übrigens auch das eine vorwiegend im Osteibischen gängige Bezeichnung. Die Anwendbarkeit dieser Bestimmung auf die sonstigen im preußischen Staatsgebiet vorkommenden Typen von Gemeindeverfassung ergibt 4
) Dieses muß hier gegenüber der verbreiteten Behauptung betont werden, der preußische Staat würde, gesehen von der Zentrale her, beim Landrat enden. Bereits E. v. Meier, Die Reform der Verwaltungs-Organisation unter Stein und Hardenberg. 1881 stellte fest: „Der preussische Staat, so hat man es treffend bezeichnet, endete noch immer im Landrath, unter dem es ein weiteres rein staatliches Organ nicht gab [...]" (116). Selbstverständlich hat der halb-staatliche/halb-ständische Landrat die landesherrliche Verwaltung auch in den Adelsdörfern durchgesetzt.
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sich aus §48. Dort wird nämlich für den Fall, daß das Amt des Schulzen mit dem Besitz eines bestimmten Gutes verbunden war also dem für die ostelbische Gemeindeverfassung charakteristischen Schulzengut -, festgelegt, daß der Inhaber die für die Ausübung des Amtes erforderliche Mindestqualifikation (Lesen und Schreiben) hatte. Konnte er das nicht nachweisen, so mußte auf seine Kosten ein Vertreter amtieren. Praktisch konnte das bei Amtsunfähigkeit des Inhabers eines der noch existierenden Lehnsschulzenhöfe eintreten. Stillschweigend wurde hier der Normalfall in den westelbischen Gebieten (mit Ausnahme der Altmark) mit angesprochen, wo zum Amt des obrigkeitlich bestellten Dorfvorstehers kein amtsgebundenes Bauerngut gehörte und die Gemeinde für dessen Besoldung aufzukommen hatte. Ähnlich flexibel anwendbar waren die Bestimmungen zum Gemeindehaushaltswesen. Laut § 56 oblag dem Schulzen unter Zuziehung der Schöffen die Verwaltung des Gemeindevermögens. In § 57 wurde jedoch sodann bestimmt, daß dort, wo besondere Verwalter des Gemeindevermögens üblich waren, der Schulze lediglich die Aufsicht darüber auszuüben hatte. Die Verfasser des ALR hatten dabei natürlich die Bauermeister im Fürstentum Halberstadt und in den westelbischen Teilen des Herzogtums Magdeburg vor Augen, die dort als die eigentlich Verantwortlichen für das Gemeindevermögen und das Gemeinderechnungswesen amtierten. Die Gemeinde hatte im Schulzen ihren Vorsteher, der, wie erwähnt, allein durch den Willen der Obrigkeit und ohne jede Mitwirkung der Gemeinde in sein Amt berufen wurde. Ebenso verhielt es sich mit den Dorfschöffen, die dem Schulzen als Amtsgehilfen beigeordnet waren. Schulze und Schöffen bildeten zusammen die Dorfgerichte (§79 ff.). Diese hatten die „innere Dorf-Polizei-Ordnung" zu überwachen und waren befugt, Übertretungen mit Bußen bis zu einem Reichstaler zu ahnden. Außerdem waren sie bei der freiwilligen Gerichtsbarkeit beteiligt, was vornehmlich in der Aufnahme von Vermögenstaxationen in Erbfällen bestand. Der Schulze berief die Gemeindeversammlungen ein und leitete dieselben. Gemeindebeschlüsse wurden nach dem Mehrheitsprinzip gefaßt (§ 52). Der Schulze hatte also sowohl die Angelegenheiten der Gemeinde als Genossenschaft selbständiger Agrarproduzenten wahrzunehmen, er fungierte als unterste Polizeiinstanz auf dem Lande, und er war für die prompte Erledigung alles dessen verantwortlich, was der Feudalstaat vom 16. bis 18. Jahrhundert in immer größerem
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Umfang an Leistungen und Verwaltungsaufgaben ihr auferlegte (§§53, 54, 55, 59). Die Gemeinde war als Korporation rechts- und vermögensfähig, was sich in § 19 zeigte, durch den ihr die Rechte einer öffentlichen Korporation beigelegt wurden. 5 ) Aber die Vermögensfähigkeit wurde sogleich wieder eingeschränkt, indem (§35) den Gemeinden untersagt wurde, ohne Genehmigung der ,,Gerichtsobrigkeiten", was sowohl der Staat als Grundherr über die zahlreichen Amtsdörfer als auch adlige Gutsherren sein konnten, weder Teile des Gemeindelandes zu verkaufen noch hypothekarisch zu belasten. Damit wurde der mögliche Handlungsspielraum der Gemeinden sehr eingeschränkt, was sich beispielsweise bei der Finanzierung von Rechtsstreitigkeiten, aber auch bei allen Bemühungen zum Ausbau der Gemeindegüter6) sehr nachteilig auswirken mußte. Dagegen wurde den Gemeinden ausdrücklich das Recht der selbständigen Vermögensverwaltung und eines eigenen Gemeinderechnungswesens zugestanden (§56). Mit ihren Aufgaben in der Friedens- und Rechtssicherung innerhalb der Gemarkungsgrenzen hatte die Gemeinde von jeher ganz selbstverständlich auch der Erhaltung der Feudalordnung gedient. Das ALR hat diese Aufgabe in verschiedenen §§ ausdrücklich unterstrichen (§§53, 59, 61). Vor allem aber wurde sie im spätfeudalen Staat zur untersten Durchsetzungs- und Kontrollinstanz aller Verwaltungstätigkeit. Der absolutistische Staat brauchte geradezu die Gemeinde, um sein Herrschaftsprogramm in die Tat umzusetzen. 7 ) Für das Funktionieren der Dorfgemeinde in der Herrschaftsund Verwaltungsstruktur des Feudalstaates war die Tatsache, daß eine Genossenschaft der vollberechtigten angemessenen Hauswirte die Gemeinde bildete, von größter Wichtigkeit. Der Feudalstaat hat seine vielfältigen Leistungsanforderungen und seine gesellschaftspolitischen Zielsetzungen unter dem Leitbild der guten Polizei über die Gemeinden realisiert. Die Gemeindeorgane waren auf eine prompte Ableistung der Steuern, Naturallieferungen, Arbeitslei5
) Allgemeines Landrecht für die preussischen Staaten (wie Anm. 3), Zweyter Theil, sechster Titel, Von Gesellschaften überhaupt, und von Corporationen und Gemeinen insonderheit. 6 ) S. unten 319. 7 ) Dazu H. Harnisch, Die Landgemeinde in der Herrschaftsstruktur des feudalabsolutistischen Staates, vornehmlich am Beispiel Brandenburg-Preußens, in: JbGFeud 13, 1989, 201-245.
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stungen etc. verpflichtet (§55 ζ. B.), und die Genossenschaft der Gemeindeglieder hat nach einem derartigen Korporationen immanenten Wirkungsmechanismus, den man als Prinzip der wechselseitigen Kontrolle bezeichnen könnte, das ihre dazu beigetragen, daß jeder Belastete auch tatsächlich seinen Anteil erbrachte. Kompetenzen und Funktionen, die über die Aufgaben in der Gemarkungsnutzung, in der Friedens- und Rechtssicherung, in der Verwaltung des Gemeindevermögens und in der Herrschaftsordnung der Feudalgesellschaft bzw. des Feudalstaates hinausgingen, kannte das ALR nicht. Allerdings hatte in sämtlichen zu Preußen gehörenden Territorien, abgesehen von einigen Zwerggebilden, die Gemeinde von jeher keinen Zugang zu ständischen Korporationen gehabt. 8 ) Zweifellos haben wir also im ALR eine Landgemeinde vor uns, nicht nur einen zum Zwecke effektiverer Befehlsübermittlung und -durchführung organisierten Verband der zu Leistungen verpflichteten Untertanen. Die Realität des Gemeindelebens sah allerdings in den einzelnen Teilen der preußischen Monarchie recht unterschiedlich aus. Die bemerkenswertesten Unterschiede zeigen sich zwischen den Regionen, die ursprüngliches deutsches Altsiedeiland waren, und denen, die zu den Gebieten der feudalen deutschen Ostsiedlung gehören. Die Landgemeinde im Kammerdistrikt Halberstadt sowie den westelbischen Teilen von Magdeburg hatte immer das Recht zur Wahl ihrer Bauermeister, also der Funktionsträger aller Belange der Gemeinde als ländliche Genossenschaft, behaupten können, auch wenn die Obrigkeit spätestens seit dem 17. Jahrhundert ein Bestätigungsrecht durchsetzte. 9 ) Aber der fortschreitende Verwaltungsausbau des Feudalstaates bei gleichzeitig stark zunehmender Integration der Gemeinde in die Verwaltungstätigkeit - vor allem dann unter dem Absolutismus - hatte die ganz selbstverständliche Folge, daß der Richter, wie hier der von der zuständigen Obrigkeit eingesetzte Gemeindevorsteher hieß, in allen Gemeindeangelegenheiten 8
) Ich verweise hier auf den wichtigen Hinweis von Otto Hintze, daß in den Staaten der Feudalzeit, in denen die „Selbstverwaltung in größeren Kommunalverbänden in Blüte steht", die bäuerliche Gemeinde vielfach verkümmert war. O. Hintze, Staatenbildung und Kommunalverwaltung, in: Ders., Staat und Verfassung (Gesammelte Abhandlungen, 1). 2. Aufl. 1962, 217. ®) H. Harnisch, Gemeindeeigentum und Gemeindefinanzen im Spätfeudalismus, in: JbRegG 8, 1981, 134ff.
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immer mehr an Einfluß gewann. Die jährlich wechselnden Bauermeister waren einfach nicht in der Lage, sich die notwendige Sachkenntnis zur Erledigung der kontinuierlich anfallenden Aufgaben von seiten des Staates anzueignen. 10 ) Die Entwicklung zeigt also prinzipiell in Preußen überall eine Stärkung der feudalstaatlichobrigkeitlichen Komponente in der Landgemeindeentwicklung. Der große und auch im Spätfeudalismus bleibende wichtigste Unterschied ist vielleicht die Tatsache, daß westlich der Elbe (ausgenommen die Altmark) ein Gemeinderechnungswesen vorhanden war, östlich der Elbe jedoch nicht. Darauf ist noch einmal zurückzukommen. III. Nachdem bislang die Gemeinde nach dem ALR in seiner Gültigkeit für den Gesamtumfang der preußischen Monarchie im Mittelpunkt stand, ist nunmehr die ostelbische Landgemeinde, speziell in der Kurmark, das weitere Thema, wobei aber der vergleichende Aspekt nicht völlig ausgeklammert werden kann. Die Wirklichkeit des Gemeindelebens in dieser Region zu untersuchen ist angesichts einer geradezu drückenden Quellenarmut ziemlich schwierig. Gemeinderechnungen, m. E. für diese Zwecke die beste aller nur möglichen Quellen, gibt es nicht; die Amtshandelsbücher der Patrimonialgerichte, in der Masse ebenfalls eine ergiebige Quelle, fielen bis auf Reste dem letzten Krieg zum Opfer. Die Landgemeinde der Kurmark Brandenburg, die hier stellvertretend für die ostelbischen Gebiete der Brandenburg-Preußischen Monarchie genommen werden soll, zeigte seit Einsetzen einer breiteren Quellenüberlieferung von der Mitte des 16. Jahrhunderts an keine prinzipiellen Veränderungen. Der Grundtypus der Gemeindeverfassung stammt bekanntlich aus der Zeit der feudalen deutschen Ostsiedlung des Hochmittelalters. Bereits in dieser Zeit muß die Mehrzahl der ländlichen Siedlungen östlich der mittleren und unteren Elbe als Schulzengemeinden organisiert worden sein.11)
10 ) Beispiele: H. Harnisch, Beiträge zur Geschichte der Dorfgemeinde im Gebiet des Kreises Haldensleben, in: Jahresschrift des Kreismuseums Haldensleben 26, 1985, 38 ff. ") Keil, Die Landgemeinde in den östlichen Provinzen Preußens (wie Anm. 1), 3 f f . ; B. Schwineköper, Die mittelalterliche Dorfgemeinde in Elbost-
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Das charakteristische Merkmal besteht darin, daß herrschaftliche und genossenschaftliche Belange der Gemeinde in Personalunion von dem Schulzen als Leiter der Gemeinde wahrgenommen werden. Der Schulze hatte die zweifellos dornenvolle Funktion, die Interessen der Herrschaft in der Gemeinde zu vertreten wie auch deren Weisungen an die Gemeinde durchzusetzen und gleichzeitig die Gemeinde als Genossenschaft selbständiger Agrarproduzenten zu leiten sowie gegenüber der Herrschaft oder auch gegenüber Nachbargemeinden für diese einzustehen. Als zweites Hauptcharakteristikum dieses Typs feudaler Gemeindeverfassung muß das zum Amt als solchem gehörende Schulzengut angesehen werden. Ursprünglich dürfte die Rechtsform des Lehnschulzengutes vorherrschend gewesen sein. Der Lehnschulze nahm damit gegenüber den anderen Gemeindegliedern eine herausragende Position ein und stand deutlich zwischen Herrschaft und Gemeinde, prinzipiell beiden Seiten verpflichtet. Im Laufe der Jahrhunderte sind zahlreiche Lehnschulzengüter durch Aussterben der Lehnsanwärter oder durch Auskaufen an die Herrschaft gelangt, die fortan die Leitung der Gemeinde einem in jedem Falle bequemeren Setzschulzen übertrug. Nach einer Zählung aus dem Jahre 1804 waren unter den insgesamt 2078 Schulzenämtern in der Kurmark noch 731 ( = 35,2 Prozent) Lehnschulzenhöfe. 12 ) Die Schulzengemeinde vereinigte in einer für die Herrschaft optimalen Weise das Zusammenwirken von herrschaftlichen und genossenschaftlichen Komponenten in der Regelung und Steuerung des ökonomischen und sozialen Lebens auf dem Lande. Sie kann als eine besonders effektive Form feudaler Herrschaft über selbständige ländliche Agrarproduzenten angesehen werden. Herrschaft und Genossenschaft, diese beiden in der gesellschaftlichen Realität so häufig widerstreitenden Elemente in der Feudalgesellschaft, sollten bei diesem Typ der Landgemeindeorganisation im Amt bzw. in der Person des Schulzen gewissermaßen neutralisiert werden. Insgesamt muß die Fundierung des Schulzenamtes mit einem der Hufenausstattung nach regelmäßig über dem Durchschnitt der Fortsetzung Fußnote von Seite 316 falen und in den angrenzenden Markengebieten, in: Th. Mayer (Hrsg.), Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen. 1964, 146 f. ,2 ) M. F. v. Bassewitz, Die Kurmark Brandenburg, ihr Zustand und ihre Verwaltung unmittelbar vor dem Ausbruch des französischen Krieges. 1847, Anhang.
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übrigen Bauernwirtschaften liegenden Schulzengut sowie dessen rechtliche Privilegierung zu der Annahme führen, daß von vornherein der Schulze als Stellvertreter der Feudalobrigkeit gedacht war, dessen Inhaber normalerweise immer auf seiten der Herrschaft stehen würde. Das hat auf lange Sicht jedoch nicht so reibungslos funktioniert. Die stattliche Reihe der Sentenzenbücher des kurmärkischen Kammergerichts, des höchsten landesherrlichen Gerichts in Brandenburg 13 ), überliefert Hunderte von Gerichtsabschieden vom 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, in denen „Schulze und ganze Gemeinde", wie es formelhaft immer wieder heißt, als Partei im Rechtsstreit auftraten. Auch unter den Bedingungen der Gutsherrschaft war hier also, um an Karl S. Kramerzu erinnern, offenkundig eine „reagierende Gemeindeversammlung" erhalten geblieben. 14 ) Als eine reagierende Gemeindeversammlung wird man beispielsweise die „gemeine Bauernschaft" des Dorfes Fredenwalde in der Uckermark ansehen, die 1609 vor dem Kammergericht gegen ihren Junker Bernt von Arnim eine Klage anstrengte, der den Schulzenhof des Dorfes zum Gut gezogen hatte und nunmehr die Bauern durch seinen Vogt kommandieren ließ.15) Eindeutig wollte die klagende Gemeindeversammlung - denn um diese handelte es sich hier offenkundig - wieder einen Schulzen zu Nachbarrecht als ihren Leiter haben. Aber ebenso war die Landesherrschaft bestrebt, die Gemeinde funktionsfähig zu erhalten. Vom Kammergericht erging unter dem 18. Juni 1617 ein Abschied an den Junker von Flans auf Wittbriet zen bei Potsdam, dem Grundsatzcharakter beizumessen ist. Flans hatte das Schulzengut ausgekauft und wurde nun verpflichtet, „ . . . das Schulzenambt durch eine andere tugliche Person bestellen [zu] lassen". 16 ) Ganz eindeutig waren und blieben die Gemeinden rechtsfähig. Im überregionalen Vergleich kann also für die Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts im ostelbischen Gebiet zweifelsfrei von der Existenz einer bäuerlichen Gemeinde ausgegangen werden. u
) Staatsarchiv Potsdam, Pr. Br. Rep. 4 A Kurmärkisches Kammergericht. ) Kramer und Wilkens, Volksleben in einem holsteinischen Gutsbezirk (wie Anm.2). 15 ) Staatsarchiv Potsdam, Pr. Br. R e p . 4 A , Nr. 49. ") Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg, Rep.94 II Κ 5 Märkisches Provinzial-(= hauptsächlich) Bauernrecht. 14
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Im Gebiet der Schulzengemeinde hat sich allerdings kein besonderes Gemeindevermögen ausbilden können, was gegenüber dem Altsiedelland als das eine der beiden Defizite an ländlicher Kommunalität von grundsätzlicher Bedeutung angesehen werden muß. Das andere sehe ich im Fehlen von Weistümern oder, genauer, in den Ursachenzusammenhängen für deren Fehlen. Darauf ist zurückzukommen. 17 ) Die Gemeinden des Altsiedellandes - beispielsweise in Thüringen - haben, beginnend etwa um 1400, vor allem dann aber seit dem 16. Jahrhundert, das herausgebildet, was in den Quellen als Gemeindegüter bezeichnet wurde. Gemeint war damit ein Gemeindevermögen, bestehend aus meist nur kleinen Parzellen an Wiesenund Weideland sowie an Wald innerhalb der Dorfgemarkung sowie vor allem dann aus Gewerbebetrieben, wie Schenken, Brauhäusern, Bäckereien, Darren, Badestuben etc. Überwiegend verpachtet, zeitweise aber auch in Gemeinderegie bewirtschaftet, erzielten die Gemeinden daraus regelmäßige Einnahmen. 18 ) Die Auswertung zahlreicher Gemeinderechnungen ergab, daß viele Gemeinden während des 16. bis 18. Jahrhunderts zielstrebig und mit Erfolg ihre Gemeindegüter ausgebaut haben. Auf diese Dinge ist hier nicht weiter einzugehen. In unserem Gebiet fehlen Gemeindegüter im Prinzip vollständig. Die Gemeinden hatten deshalb hier auch keinen eigenen Haushalt. Die Bußen, die der Schulze in seiner Funktion als unterste Polizeiinstanz verhängte, waren so geringfügig, daß sie gerade zu einem Umtrunk in der Gemeindeversammlung ausreichten. Die Universität Frankfurt an der Oder, um diese Verhältnisse noch an einem Beispiel zu verdeutlichen, hatte in der Mitte des 18. Jahrhunderts für ihre Dörfer in der Altmark Dorfartikel erlassen. Unter anderem wurde da verfügt, daß die bei den Steuereinnahmen häufiger anfallenden Überschüsse nicht „verschwendet und versoffen", sondern vielmehr gespart und zum Besten der Gemeinde verwendet werden sollten. Als Grundlage dazu wurden Schulzen und Schöffen angewiesen, künftig regelmäßige Gemeinderechnungen zu führen. Dazu ist es aber offenkundig nicht gekommen. 19 )
") S. unten 328 f. 18 ) Harnisch, Gemeindeeigentum (wie Anm. 9). ") Staatsarchiv Potsdam, Pr. Br. Rep. 86, Nr. 63. Die Dorfartikel sind undatiert.
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Eine plausible Erklärung für dieses auffallende Defizit an ländlicher Kommunalität kann ich vorerst nicht bieten, und die Darlegung einer, wie ich hoffe, begründeten Hypothese würde zu weit führen. Auf jeden Fall aber wäre es falsch, hier pauschal auf die Gutsherrschaft und ihre Auswirkungen auf diese Minderentwicklung der Gemeinde verweisen zu wollen. Auch in den kursächsischen Gebieten zwischen Saale und Elbe, die doch unstreitig zu den Bereichen der hochmittelalterlichen deutschen Ostsiedlung gehören, aber eine Entwicklung zur Gutsherrschaft nicht durchmachten, haben die Gemeinden ebenfalls kein besonderes Vermögen in Gestalt der Gemeindegüter entwickeln können. 20 ) Die Ursachen lagen also woanders, und sie liegen vermutlich tiefer. Sofern sich für die ostelbische Gemeinde ein größerer Geldbedarf ergab, blieb nur der Ausweg des Collectirens, also die Umlage unter den Gemeindegliedern. Das ist offenbar ziemlich häufig praktiziert worden, namentlich dann, wenn es darum ging, langwierige Rechtsstreitigkeiten finanzieren zu müssen. Der absolutistische preußische Staat hat das durch Edikte von 1702 und 1738 zu verhindern oder doch wenigstens an bestimmte Normen zu binden versucht. 21 ) Gemeinden, die im Besitz größerer Waldflächen waren, haben gelegentlich auch versucht, durch Verkauf von Holz zu Geld zu kommen. Das war jedoch nur bei Dörfern mit Erbzinsrecht möglich - von denen es aber in der Kurmark zwischen Elbe und Oder nicht allzu viele gab - , nicht jedoch bei Lassitengemeinden. Übrigens haben die Gutsherrschaften das auch bei Gemeinden mit Erbzinsrecht zu unterbinden versucht. 22 ) Die Bedeutung der Gemeindegüter und, darauf basierend, eines regelmäßigen Gemeindehaushaltes kann für die Stellung der Landgemeinde in der Feudalgesellschaft kaum überschätzt werden. Der Gemeindehaushalt scheint, der Eindruck ergibt sich immer wieder
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) Harnisch, Gemeindeeigentum (wie Anm.9), 137. ) C. O. Mylius, Corporis Constitutionum Marchicarum, Theil 5, Abt. III, Kap. II, Nr. XV, Edict, worinnen denen Unterthanen das eigenmächtige Collectiren und Zusammenkünfte wider ihre Gerichts-Obrigkeiten verbothen ist, vom 6.Juli 1702; ders., Corporis Constitutionum Marchicarum, 1737-1740, Nr. XL, Edict, welchergestalt die Collecten in denen Städten und auf dem Lande, so weit sie zugelassen sind, eingerichtet, und was dabey beobachtet werden soll, 4. Sept. 1738. 22 ) Harnisch, Gemeindeeigentum (wie Anm.9), 154. 21
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aus den Gemeinderechnungen, geradezu das Rückgrat des Gemeindelebens ausgemacht zu haben. Allein aus der Tatsache, daß die für das Gemeinderechnungswesen verantwortlichen Bauermeister jährlich wechselten, brachte die Wahrscheinlichkeit mit sich, daß jedes Gemeindemitglied im Laufe seines Lebens mehrfach Verantwortung für sein Dorf übernehmen mußte, gleichzeitig aber auch das Bewußtsein, an der Gestaltung des Gemeindelebens aktiv beteiligt zu sein. Als einen Ausdruck dieses Gefühls der Mitverantwortung wird man beispielsweise die tatsächlich Jahr für Jahr in den Rechnungen erscheinenden Ausgaben für Reparaturen an den gemeindeeigenen Baulichkeiten ansehen dürfen. Der äußere Zustand der Gemeindehäuser war Ausweis des Zustandes der Gemeinde schlechthin. Auch das jährliche Verlesen der geschlossenen Gemeinderechnung vor der versammelten Gemeinde mit Umtrunk und anschließender Bestätigung dürfte das Gefühl der Identifikation mit der eigenen Gemeinde gestärkt haben. Nicht zuletzt aber boten die regelmäßigen Einnahmen den Gemeinden einen gewissen Rückhalt in allen Rechtsstreitigkeiten, sei es mit Nachbargemeinden, sei es mit der eigenen Feudalobrigkeit. Die Gemeinden haben zur Finanzierung langwieriger Prozesse sogar Hypotheken auf ihre Gemeindegüter aufgenommen. In der ostelbischen Schulzengemeinde konnte sich diese aus dem Gemeindehaushaltswesen entspringende elementare Interessiertheit der Gemeindeglieder an den Angelegenheiten des eigenen Dorfes, das Gefühl, doch irgendwie an der Gestaltung der Gemeindedinge direkt beteiligt zu sein, so nicht entwickeln. Der Wirkungskreis von Gemeindeversammlung und Gemeindeorganen war wesentlich beschränkter. Die genossenschaftliche Komponente im Gemeindealltag war offenkundig viel schwächer entwickelt; um so stärker tritt dagegen die herrschaftliche in Erscheinung. Das Fehlen eines Gemeindehaushaltswesens ist zweifellos einer der entscheidenden Gründe für das geringere Entwicklungsniveau der Landgemeinde im Bereich der Gutsherrschaft, wenngleich, wie bereits betont, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Herausbildung dieses speziellen Typs spätfeudaler Agrarverfassung und dem Fehlen von Gemeindegütern nicht angenommen werden kann. Dennoch hat die Gutsherrschaft für die Gemeindeentwicklung eine sehr wesentliche Bedeutung erlangt. Von der Grundherrschaft ist diese am prägnantesten durch das absolute Vorherrschen der Arbeitsrente unter den möglichen Formen der feudalen Abschöpfung zu
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unterscheiden. 23 ) Die Mehrzahl der ländlichen Siedlungen im ostelbischen Gebiet - Adelsdörfer wie landesherrliche Amtsdörfer - waren im Spätfeudalismus einer Gutsherrschaft unterworfen. Dörfer, die von Arbeitsrenten ganz oder doch weitgehend frei blieben und vorwiegend Geld- oder Naturairenten leisteten, grundherrschaftliche Inseln also, waren ausgesprochen selten. Das sozialökonomische System der Gutsherrschaft griff viel tiefer, d.h. viel grundsätzlicher und vor allem auch viel permanenter in die Gemeindeangelegenheiten ein, als das bei einer Grundherrschaft üblich oder auch erforderlich war. Bis zur ersten Welle an Separationen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 2 4 ) war in vielen Dörfern der Gutsherr selbst durch seine Gutswirtschaft Teilhaber der Gemeinde, und ohne den Willen der Gutsherrschaft konnte in solchen Fällen auch im Wirtschaftsablauf von der Gemeindeversammlung nichts beschlossen werden. Die besondere Rolle der Gemeinde unter der Gutsherrschaft ergab sich aus deren sozialökonomischem System. Die Herrschaft hat ihre Frondienstanforderungen über die Gemeinde realisiert, und zwar mit kollektiver Haftung. Beispielsweise enthalten die Pachtverträge für die Zeitpachtbauern in der Herrschaft Boitzenburg in der Uckermark aus dem 18. Jahrhundert den Passus 25 ), daß im Falle des Wüstwerdens eines Hofes die Gemeinde entweder für eine Wiederbesetzung zu sorgen hat oder aber die ausfallenden Frondienste mit übernimmt. Schulzen und Schöffen waren verpflichtet, der Herrschaft zur Kenntnis zu bringen, wenn ein Bauer in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet, weil dann die Ableistung der Dienste nicht gesichert war. Taten sie das nicht, so mußte die Gemeinde damit rechnen, daß sie die Dienste dieses wirtschaftsschwachen Bauern zusätzlich abzuleisten hatte. Die Gemeinde konnte so unter der Bürde der schwer lastenden Frondienste, jedenfalls partiell, sogar zu einem Unterdrückungsin23
) H. Harnisch, Die Gutsherrschaft. Forschungsgeschichte, Entwicklungszusammenhänge und Strukturelemente, in: JbGFeud 9, 1985, 189ff.; so aber bereits W. Wittich, Gutsherrschaft (Grundherrschaft, Leibeigenschaft, Eigenbehörigkeit und Erbunterthänigkeit), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Bd. 4. 1892, 229-236. 24 ) H. H. Müller, Märkische Landwirtschaft vor den Agrarreformen von 1807. 1967. 25 ) H. Harnisch, Zu den Problemen der bäuerlichen Ökonomie und der bäuerlichen Mentalität unter den Bedingungen der ostelbischen Gutsherrschaft in den letzten Jahrzehnten vor Beginn der Agrarreformen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1989, 87-108.
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strument der Herrschaft werden. Diese griff sogar in die Familienstrategien der einzelnen Bauernfamilien ein und setzte den ihr genehmen Sohn zum Nachfolger auf dem Hof ein, wobei sie unter Umständen vorher noch die Meinung der Dorfgerichte einholte. 26 ) Auch hier ging es nicht zuletzt um die prompte Frondienstleistung, eventuell aber auch darum, einen fügsamen Untertanen auf den Hof zu bekommen. Schulze und Schöffen konnten damit für das Wohl und Wehe des einzelnen wie der Familien eine entscheidende Bedeutung erlangen. Sie waren aber auch ihrerseits vom Wohlverhalten der Gemeinde abhängig. Herrschaft und Ökonomie waren im System der Gutsherrschaft untrennbar ineinander verflochten, und die Gemeinde hatte dabei die Aufgabe, für ein möglichst reibungsloses Funktionieren des Ganzen zu sorgen. Sie war für die prompte Ableistung der Arbeitsrenten zu den gutsherrlichen Eigenwirtschaften verantwortlich, aus denen bekanntlich der weitaus größte Teil der Herreneinkommen stammte. Gleichzeitig war die Gemeinde die unterste Ebene in der Friedenswahrung im Dorf, und dazu gehörte selbstverständlich auch die Aufrechterhaltung der gegebenen Ordnung. Die kollektive Haftung für die Dienste machte die Gemeinde zum wichtigsten Instrument bei der Sicherung der feudalherrlichen Abschöpfung. Es wird einleuchten, daß sich unter diesen Bedingungen ein eigenständiges Gemeindeleben kaum oder nur ansatzweise entwikkeln konnte. Die Gemeinde blieb weitgehend von der Herrschaft abhängig, die die Bauern vollständig im Griff hatte. Wie sehr die Realität des Gemeindelebens tatsächlich durch die Gutsherrschaft depraviert worden ist, zeigt eine kürzlich abgeschlossene Untersuchung über das Dorf Neuholland (nördlich von Berlin).27) Es handelt sich um eine erst im 17. Jahrhundert im landesherrlichen Domanialbereich entstandene Streusiedlung. Die Bauern hatten ihre vergleichsweise großen Höfe zu Erbpacht bzw. Erbzins und waren vollständig frei von Arbeitsrenten. Sämtliche Abgaben wurden in Geld entrichtet. Von vornherein hatten die auf Milchviehwirtschaft spezialisierten Bauern intensive Marktbeziehungen nach Berlin.
") Ebd. 27 ) S. J. Peters/L. Enders/H. Harnisch, Märkische Bauerntagebücher des 18. und 19. Jahrhunderts. 1989, 246 ff.
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Die Gemeinde war als Schulzengemeinde etabliert worden, und Gemeindegüter entwickelten sich auch hier nicht. Aber seit etwa 1765 existierte eine auf Gemeindebasis organisierte umfassende Feuer- und Viehversicherung, die vorzüglich funktionierte. Im Bedarfsfall wurde auf der Grundlage der Landanteile eine Umlage veranstaltet, was übrigens nicht nur im Falle von Ersatzleistungen praktiziert wurde, sondern auch bei sonstigem Geldbedarf der Gemeinde. Geradezu wohltuend berührt das Selbstbewußtsein gegenüber der Obrigkeit, und bewundernswert erscheinen die Energie und die Umsicht, mit der ein jahrzehntelanger Konflikt mit der Obrigkeit beigelegt wurde. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts gab es nämlich Unsicherheiten über die Rechtsqualität der Höfe, d. h., ob diese tatsächlich zu Erbpacht vergeben worden waren - und das hieße juristisch zu einer Form von Eigentumsrecht - oder nur als erbliche Lassitenhöfe. 1766 nahm sich der zuständige Amtmann des Amtes Oranienburg der Sache an. Wohl um sich bei der bevorstehenden Neuverpachtung des Amtes bei der vorgesetzten Behörde einen guten Namen zu machen, schlug er vor, die Neuholländer sollten sich am Aufbau einer neu zu etablierenden Siedlung mit Geld und Arbeitsleistungen beteiligen, in Altpreußen immer eine verdienstvolle Sache. Umgehend griff die Gemeinde den Vorschlag auf und erbaute auf dem ihr zugewiesenen Gelände in etwa 10 km Entfernung mit ihren Mitteln die Kolonistenhäuser. Damit kauften sich die Bauern endgültig in die Erbzinsqualität ein. Auch so etwas war im ostelbischen Preußen möglich, aber eben nicht unter den Bedingungen einer gutsherrschaftlichen Struktur. Der Übergang zur Patrimonialgerichtsbarkeit, der sich im Laufe des 16. Jahrhunderts vollzog, muß parallel zur Herausbildung der Gutsherrschaft - jedoch ursächlich nicht davon abhängend - die Stellung der Gemeinde, auf jeden Fall aber der Schulzen, nicht unerheblich geschwächt haben. 1516 wurde das kurmärkische Kammergericht auf das römische Recht als Landesrecht verbindlich festgelegt. Das bildet den juristischen Hintergrund für die Verdrängung der hergebrachten Schöffengerichte nach Sachsenrecht durch das römisch-rechtliche Gerichtsverfahren ohne direkte Mitwirkung der Gerichtsgemeinde. Noch im Jahre 1497 hatten beispielsweise die verschiedenen Zweige der in der Altmark weit verbreiteten Familie von Alvensleben einen Vertrag über die Abhaltung des Vogedingk, also des Niedergerichts, in ihren verschiedenen Besitzkomplexen abge-
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schlossen. Danach fungierten die Schulzen der Dörfer als Schöffen, fanden also auch das Urteil. 28 ) Nach dem Übergang zum Patrimonialgericht auf römisch-rechtlicher Grundlage blieben Schulzen nur noch als Beisitzer im Gericht. Vor dem Hintergrund der geschilderten Verhältnisse der Landgemeinde unter der Gutsherrschaft erscheint mir die Argumentation von P. Blickte sehr einleuchtend, wenn er für Oberdeutschland darlegen kann, daß der Rückzug von Adel und Klerus aus der Wirtschaft im Spätmittelalter geradezu eine notwendige Voraussetzung für die Herausbildung einer gemeindlichen Satzungsgewalt gewesen ist.29) Unter dem System der Gutsherrschaft konnte es keine Gemeindeautonomie geben. Ein eigenständiges Satzungsrecht der Gemeinde in ihren eigenen Angelegenheiten war neben den Ansprüchen der Gutsherrschaft undenkbar. Wenn ich an dieser Stelle versuche, die Situation der Landgemeinde ostwärts der mittleren und unteren Elbe von etwa 1500/1550 bis etwa 1800 unter dem Generalthema unseres Kolloquiums zusammenzufassen, so führt kein Weg an der nüchternen Feststellung vorbei, daß von dem, was P. Blickte unter Kommunalismus versteht, hier nichts zu finden ist. Das Modell des Kommunalismus ist hier schlechterdings nicht anwendbar. Es gibt keine gemeindliche Satzungshoheit, keine autochthonen Gemeinderechte, keine Gemeindegerichtsbarkeit.i0) Aber es gibt immerhin die Rechte und Pflichten in der Friedenswahrung, und es gibt ein bescheidenes Maß an eigenverantwortlicher Regelung des alltäglichen Lebens, das allerdings nach dem subjektiven Rollenverhalten des jeweiligen Gutsherrn starken Schwankungen unterlegen haben dürfte. Insgesamt hatte ganz zweifellos innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung die herrschaftliche Komponente gegenüber der genossenschaftlichen ein überragendes, letztlich sogar entscheidendes Übergewicht. Immerhin blieb, um das noch einmal in Rückerinnerung an Karl S. Kramet21) zu unterstreichen, doch während des gesamten Zeitraumes eine reagierende Gemeindeversammlung, also eine Ge28
) Staatsarchiv Magdeburg, Rep. H Calbe/Milde, Nr. 1725, fol. 392 ff. ") P. Blickle, Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus, in: HZ 242, 1986, 535. 30 ) Ebd. 31 ) Kramer und Wilkens, Volksleben in einem holsteinischen Gutsbezirk (wie Anm. 2).
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meinde, erhalten, und daher ist auch die Frage nach ihrer Stellung und ihrer Rolle in der Gesellschaft notwendig. Die Gemeinde war hier zunächst und vor allem dienendes Glied der Feudalordnung. Ihr weiteres Schicksal ist mit dem fortschreitenden Ausbau des Feudalstaates verbunden, was aber, mindestens im mitteleuropäischen Vergleich, doch wohl der Normalfall sein dürfte. Die Territorialstaaten des 16. bis 18. Jahrhunderts hatten gar keine andere Möglichkeit, als für die Zwecke ihrer rationalisierten und intensivierten Verwaltung sich der Gemeinde zu bedienen. P. Blickte hat vollkommen recht, wenn er 1981 schrieb, daß die Versuche zur Periodisierung einer Geschichte der Gemeinde vom Ausbau des Staates ausgehen müssen. 32 ) Die Entwicklung in Brandenburg-Preußen belegt das deutlich. Wenn man an die weitgehende Vernichtung der Gemeinde als Folge des Bauernlegens in Mecklenburg oder in Schwedisch-Pommern oder an ihre vollständige Entfunktionalisierung im östlichen Holstein denkt, dann ist doch nicht zu übersehen, daß die gegenüber dem ständischen Adel eine stärkere Position behauptenden Kurfürsten von Brandenburg, denen schließlich auch der Übergang zum Absolutismus gelang, die Konservierung der Bauernschaft und - zunächst möglicherweise sogar ohne gezielte Absicht - auch der Gemeinde besser glückte, als das in den nördlich angrenzenden Territorialstaaten der Fall war. Im 16. und 17. Jahrhundert blieb die Integration der Landgemeinde in die Staatsverwaltung noch recht gering. Das gilt auch noch für die ersten Jahrzehnte des Absolutismus in BrandenburgPreußen. Eine deutlich erkennbare Wende zeichnete sich seit den großen Verwaltungsreformen unter Friedrich Wilhelm I. ab. 33 ) Das kann im einzelnen hier nicht nachgezeichnet werden. Es geht lediglich darum, die dem Kommunalismus-Modell doch gewissermaßen diametral entgegengesetzte Entwicklung der vollständigen Integration der Gemeinde in die Staatsverwaltung als den im Spätfeudalismus typischen Weg wenigstens anzudeuten. Die Gemeindeorgane als unterste Polizeiinstanz waren schon seit dem 16. Jahrhundert die Adressaten der landesherrlichen Edikte, Mandate, Patente etc. zur allgemeinen Reglementierung und Disziplinierung der Untertanen sowie zur Stärkung der Kirchen") P. Blickte, Deutsche Untertanen. 1981, 38.
") Harnisch, Die Landgemeinde (wie Anm. 7).
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zucht, der Normierungen des Alltagslebens und auch schon handelspolitischer Verordnungen, da es faktisch gar keine andere Möglichkeit einer auch nur einigermaßen kontrollierbaren Durchsetzung gab. Das alles blieb natürlich auch unter dem Absolutismus und nahm sogar noch ganz bedeutend zu. Im Laufe des 18. Jahrhunderts kamen wesentliche neue Aufgaben hinzu. Seit 1718 bzw. 1722 lassen sich die Anfänge systematischer Erhebungen für die entstehende Verwaltungsstatistik erkennen, die dann im Laufe des 18. Jahrhunderts ständig ausgebaut wurde. Der größte Teil des statistischen Materials über ländliche Gesellschaft und Landwirtschaft Preußens im 18. Jahrhundert ist sowohl in den Amts- als auch in den Adelsdörfern über die Dorforgane erhoben worden. Seit 1733 sind diese auch in die Rekrutenaushebung für das stehende Heer im Rahmen des Kantonssystems eingeschaltet, und zwar auf eine derartig wirkungsvolle Weise, wie es auch durch schärfste bürokratische Kontrolle nicht möglich gewesen wäre. 34 ) In der zweiten Jahrhunderthälfte begannen die zielstrebigen Bemühungen zu einer Modernisierung der Landwirtschaft und einer verstärkten Entwicklung des ländlichen Wirtschaftspotentials allgemein. Im Jahre 1766 erging die „Instruction für die Landräthe der Churmark". 3 5 ) Diese zielte unter vielem anderen der Sache nach auf eine umfassende und zweifellos vorausschauende Modernisierung der Landwirtschaft ab. So wurde eine Separation von Gutsland und Bauernland angestrebt. Die Aufhütungsberechtigungen auf dem Akkerland sollten aufgehoben, der Anbau von Futterkräutern und Kartoffeln befördert, die Anpflanzung von Korbweiden und Obstbäumen längs der Straßen betrieben, die Aufforstung ertragsarmen Acker- und Weidelandes vorgenommen werden und vieles andere mehr. Ausdrücklich wurde angewiesen, daß in alle diese Maßnahmen die Schulzen, d.h. also faktisch die Gemeinden, einbezogen werden müssen. Die Erfolge entsprachen keineswegs den hochgespannten Erwartungen, und erst gegen Ende des Jahrhunderts begannen sich allmählich greifbare Ergebnisse einzustellen, und auch dann nicht auf der ganzen Breite des Modernisierungsansatzes. Erfolge wurden übrigens vornehmlich in den landesherrlichen Amtsdörfern, also 34
) Ebd. ) Druck: F. Gelpke, Die geschichtliche Entwickelung des Landrathsamtes der Preußischen Monarchie unter besonderer Berücksichtigung der Provinzen Brandenburg, Pommern und Sachsen. 1902, 91-102. 35
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dort, wo der Staat eher Durchsetzungsmöglichkeiten hatte, erzielt und weitaus weniger in den Adelsdörfern. Am Ende des Jahrhunderts hören wir von mehr oder weniger umfangreichen Aufforstungen auf geringwertigem Gemeindeland, entstehen also verstärkt Gemeindewaldungen. In einer Reihe von Fällen bemühen sich Gemeinden um den Kauf von Gutsvorwerken; wir hören von Gemeinden, die sich eine eigene Ziegelei eingerichtet haben und kommerziell betreiben oder auf ihrer Gemarkung einen Torfstich gewinnbringend nutzen. Insgesamt blieben das sicher Einzelfälle. Aber immerhin steht dahinter doch auch, und deswegen müssen diese Dinge hier erwähnt werden, daß den Gemeinden von der Obrigkeit mehr Handlungsspielraum eingeräumt oder sogar zugewiesen wurde, und in der Gemeindeversammlung entstand mehr als früher die Notwendigkeit zu Entscheidungen in Gemeindesachen. Man wird also eine gewisse Belebung des Gemeindelebens vermuten können. Die Gemeinde wächst also in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert allmählich aus der Rolle eines bloßen dienenden Gliedes der feudalen Ordnung in eine für die gesamte Staats- und Gesellschaftsordnung unentbehrliche Basisfunktion hinein. Allerdings darf hier doch auch nicht völlig übergangen werden, daß bäuerlicher Protest und Widerstand gegen die Feudalgewalten in der Gemeinde ihren eigentlichen Kristallisationspunkt hatten. Charakteristisch war und blieb für den Gesamtzeitraum von 1500 bis 1800 jedoch, daß die Gemeinde vom Staat übertragene staatliche Aufgaben zu erfüllen hatte; staatliche Funktionen kraft eigenen Rechts hatte sie jedoch nicht.
IV. Wie sah nun die Gemeinde in dem Zeitraum zwischen 1300 und 1500 aus? Gab es in dieser Zeit Ansätze zu einer Entwicklung, die sich dem Modell des Kommunalismus zuordnen ließen? Wie war es in dieser Zeit mit der Stellung der Gemeinde in der Gesellschaft beschaffen? Völlig zuzustimmen ist der knappen Feststellung von P. Blickte in der Erläuterung zu dem uns vorgelegten Frageraster, daß „... die Grundstrukturen kommunaler Verfaßtheit von einer großen Beständigkeit sind". Das trifft voll und ganz auf die ostelbische Schulzengemeinde zu. Aber natürlich ist damit noch nichts über das
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kommunale Leben innerhalb einer gegebenen Grundstruktur ausgesagt. Nach der verbreiteten Auffassung soll der historische Entwicklungsweg der ostelbischen Schulzengemeinde ausgehend von einer insgesamt zunächst sehr günstigen Situation aus der Zeit ihrer Begründung im Zuge der feudalen deutschen Siedlung des Hochmittelalters zw einer immer stärkeren Herabdrückung im 14. und 15. Jahrhundert bis zu ihrer weitgehenden Entfunktionalisierung als eigenständige gesellschaftliche Kraft unter der Gutsherrschaft geführt haben. 36 ) Diese Auffassung halte ich für prinzipiell falsch, und zwar aus den folgenden Gründen: 1. Der Organisation des Gemeindevorstandes einer Schulzengemeinde ist von vornherein ein viel stärkeres Übergewicht der Feudalgewalten immanent, als das bei der dualistischen Gemeinde des Altsiedeilandes möglich war. Von vornherein hat die Dorfobrigkeit sehr viel direktere Einflußmöglichkeiten auf die dörfliche Genossenschaft. 2. Die Vereinigung von herrschaftlichen und gemeindlichen Funktionen in der Person des Schulzen dürfte die eigentliche Ursache für das vollständige Fehlen ländlicher Rechtsquellen sein, was neben dem Ausbleiben einer Herausbildung von Gemeindegütern m. E. als das zweite grundsätzlich wichtige Defizit an ländlicher Kommunalität gegenüber dem Altsiedelland angesehen werden muß. Was auch immer bei Weistümern und sonstigen ländlichen Rechtsquellen als wesensbestimmend angesehen werden mag: die Weisung des Gemeinderechts gegenüber Herrschaft und Gemeindeversammlung oder die Fixierung der Herrenrechte in der Gemeinde oder nur die Weisung des Gemeinderechts gegenüber der Gemeindeversammlung, so handelt es sich doch immer entweder um das Recht der Gemeinde im Sinne einer Gemeindeautonomie oder aber um die Abgrenzung von Rechten zwischen Herrschaft und Gemeinde. Da der Schulze sowohl die Gemeinde als auch die Herrschaft zu vertreten hatte, war weder Veranlassung gegeben noch überhaupt rein institutionell die Gelegenheit vorhanden, gegenüber der Herrschaft das Recht der Gemeinde zu weisen. Es gab nicht die Polarität von Herrschaft bzw. herrschaftlichem Funktionsträger gegenüber der Gemeinde als Genossenschaft un") H. Wunder, Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland. 1986, 44ff., 108ff.; Blickte, Deutsche Untertanen (wie Anm. 32), 43 f.
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ter selbstgewählten Vertretern, deren Rechte und Pflichten gegeneinander zu weisen waren. 3. Eine regelmäßige Weisung des Gemeinderechts gegenüber der Herrschaft konnte sich hier allerdings schon deswegen nicht herausbilden, weil in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Dörfer die Bauern von vornherein ihre Höfe zu einem Nutzungsrecht erhalten hatten, das keine Eigentumsqualität beinhaltete. Auch damit dürfte ich im Widerspruch zur herrschenden Lehrmeinung stehen. 37 ) Aufgrund von Massendaten über die kurmärkischen Amtsbauern aus der Mitte des 18. Jahrhunderts sowie der offiziellen Statistik über die gutsherrlich-bäuerlichen Auseinandersetzungen in den preußischen Ostprovinzen seit 1811 bis zur Kreisebene bin ich retrospektiv unter Berücksichtigung der Siedlungsgeschichte sowie der Territorialentwicklung zu der Überzeugung gekommen, daß in den Gebieten östlich von mittlerer und unterer Elbe die Bauern im Zuge der deutschen Ostsiedlung zu einer Rechtsform angesetzt worden sind, die im Kern dem späteren lassitischen Besitzrecht entsprach. Wir finden in dem später im wesentlichen zu Kursachsen gehörenden Territorium ostwärts der Saale sowie auch in Mittel- und Niederschlesien, aber auch in der zur Kurmark gehörigen westelbischen Altmark als bäuerliches Besitzrecht das Eigentumsqualität beinhaltende Erbzinsrecht vorherrschend. In der Kurmark Brandenburg zwischen Elbe und Oder, in der Neumark nördlich der Warthe, in Pommern sowie teilweise auch in Ostpreußen war von vornherein flächenhaft ein bäuerliches Nutzungsrecht verbreitet, das ohne Eigentumsqualität war. In einigen eng begrenzten Gebieten finden sich auch dort im 18. Jahrhundert Dörfer mit Erbzinsbauern. Aber gerade diese Inselvorkommen sind im Zusammenhang mit der Siedlungs- und Territorialgeschichte wichtige Stützen für meine Argumentation. Diese grundsätzliche Rechtssituation spiegelt sich in der Gemeindebildung wider. Die Bauern mußten zwar allein aufgrund der aus der Dreifelderwirtschaft sich ergebenden Sachzwänge eine Genossenschaft, also eine Realgemeinde bilden, aber die Fortentwicklung zu einer Gemeinde mit autonomer Satzungsgewalt in Gemeindedingen konnte unter der geschilderten Rechtslage von Bauernund Gemeindeland nicht erfolgen. P. Blickte hat für Oberdeutsch37
) H. Harnisch, Rechtsqualität des Bauernlandes und Gutsherrschaft, in: JbGFeud 3, 1979, 31 Iff.
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land überzeugend den Zusammenhang zwischen der Herausbildung eines gefestigten bäuerlichen Erbzinseigentums und dem Übergang wichtiger gesellschaftlicher Ordnungsfunktionen, wie Rechtssicherung und Friedewahrung, an die an Eigenständigkeit gewinnende Gemeinde gezeigt.38) Eine derartige Entwicklung war im ostelbischen Gebiet nicht möglich. Das beliebte Bild des Ritters, der ursprünglich mehr Nachbar als Herr des Bauern war, ist nicht mehr als eine Legende. Ich sehe in der Tatsache des seit der deutschen Eroberung und Besiedlung vorherrschenden'bäuerlichen Besitzrechts ohne Eigentumsqualität eine der wesentlichsten Gründe dafür, daß sich hier seit dem Einsetzen der Absatzkonjunktur für Getreide im 16. Jahrhundert die Gutsherrschaft durchsetzen konnte und nicht umgekehrt, wie meistens angenommen, die Gutsherrschaft das bäuerliche Erbzinsrecht zu Lassitenrecht umfunktioniert hat. Die ostelbische Gemeinde war also seit ihrer Begründung in der Zeit der deutschen Ostsiedlung schwach ausgebildet. Sie wuchs nicht zu einer eigenständigen gesellschaftlichen Kraft heran; sie konnte kaum ein „... kompensierendes Gegengewicht zur Herrschaft" 39 ) werden. Immerhin gab es dennoch eine Gemeinde, die insgesamt wohl der des Sachsenspiegels entsprochen haben wird. Demnach gab es eine Gemeindeversammlung unter einem Leiter, die nach dem Mehrheitsprinzip beschloß. Über die rein agrarwirtschaftlichen Aufgaben hinaus hatte sie durch die niederen Polizeibefugnisse eine wichtige Aufgabe in der Friedewahrung, und die Schulzen wirkten, wie erwähnt, zunächst im Vogtding als Schöffen mit. Die Gemeinde war unentbehrlich als agrarwirtschaftliche Realgemeinde, und darüber hinaus war ihr die Rolle einer tragenden Säule der feudalen Herrschaftsordnung zugewiesen. Ich stimme daher Droege völlig zu, wenn er 1983 schrieb, daß im Gebiet der deutschen Ostsiedlung des Mittelalters „... den Gemeinden ein von der Herrschaft fest zugewiesener und umrissener Bereich eingeräumt war". 40 ) 38
) Blickte, Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus (wie Anm. 29), 533. 39 ) P. Blickle, Untertanen der Frühneuzeit. Zur Rekonstruktion der politischen Kultur und der sozialen Wirklichkeit Deutschlands im 17. Jahrhundert, in: VSWG 70, 1983, 515. 40 ) G. Droege, Gemeindliche Selbstverwaltung und Grundherrschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. 1. 1983, 195. Auch Schwineköper, Die
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Wir haben im Bereich der feudalen deutschen Siedlung östlich v o n Saale u n d Elbe eine Entwicklung, die m a n vielleicht als das untere E n d e der Skala möglicher k o m m u n a l e r Entfaltung auf d e m Lande im Feudalismus ansehen muß. Mehr war u n d wurde es nicht.
Fortsetzung Fußnote von Seite 331 mittelalterliche Dorfgemeinde in Elbostfalen (wie Anm. 11), 147 geht von einer von vornherein schwächeren Stellung der Schulzengemeinde aus, wenn er schreibt: „Das gleiche Übergewicht der herrschaftlichen Seite dieser Dorfverfassung zeigt sich in der starken Auftragstätigkeit, welche der Schulze sonst noch auszuüben hatte."
DIE STADTGEMEINDE IM BRANDENBURGISCHEN GEBIET VON EVAMARIA ENGEL
D E R wissenschaftliche Ertrag des 750jährigen Stadtjubiläums von Berlin 1987 legt es nahe, diese mittlere landesherrliche Handelsund Gewerbestadt der Mark Brandenburg zum Ausgangspunkt für die Darlegung gemeindlicher städtischer Strukturen im ostelbischen Raum zu wählen. Der Vergleich mit Kleinstädten erscheint mir aber unerläßlich, machte doch erst die Masse der Klein- und Kleinststädte, Flecken und Märkte das Städtewesen eines Gebietes aus. Das landesherrliche Strausberg und die Mediatstadt Freienwalde mit ihrem gewerblich-agrarischen Gepräge sollen uns den Vergleich ermöglichen. Erschwert wird der Versuch für Berlin durch die nicht gerade überfließende Quellenfülle für innere Strukturen der Berliner Stadtgemeinde im Mittelalter. So verringert es unsere Chancen, Antwort auf alle vom Veranstalter empfohlenen Fragen für den regional-vergleichenden Teil zu geben, daß 1275 zwar ein ius Berlinense, also ein besonderes lokales Berliner Stadtrecht, der kleinen Stadt Müllrose bestätigt wurde 1 ), wir den Inhalt dieses Stadtrechts aber nicht kennen. Hilfe zu seiner Rekonstruktion liefert uns das Wissen um die Abhängigkeit des Berliner Rechts von dem der Stadt Brandenburg/ Havel, welches wiederum den Freiheiten des Magdeburger Rechts entsprach. Denn 1253 oder kurz danach teilten die Berliner Ratsherren den Bürgern von Frankfurt/Oder Bestimmungen ihres Rechts mit, wie sie selbst diese „von den Brandenburgern" erhalten hätten. 2 ) In den Jahren 1399 und 1431 geschlossene mittelmärkische Städtebünde dienten auch dem Ziel, das brandenburgische Recht ') F. Voigt (Hrsg.), Urkundenbuch zur Berlinischen Chronik (künftig: BUB). 1869, Nr. 18, 12 f. 2 ) Ebd. Nr. 10, 8 f.
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der Verbündeten gegen Angriffe zu schützen: daß „wy alle [···] by Brandenborgeschen rechte willen bliuen". 3 ) Als Rechtsvorort und Appellationsinstanz für Streitfragen der Städte magdeburgischbrandenburgischen Rechts wurde das Schöffenkollegium der Stadt Brandenburg auch von Berliner Konsulenten zur Schlichtung, Vermittlung und Rechtsauskunft bis ins 18. Jahrhundert hinein angerufen. 4 ) Kern dieses Magdeburg-Brandenburger Rechts war das Recht eines Marktortes mit der Gewährleistung freien Handels und Gewerbes, der Zollbefreiung, der persönlichen Freiheit seiner Bewohner, ihrem erblichen Grundbesitzrecht, der Zuweisung in Hufen liegenden Ackerlandes, der kommunalen Selbstverwaltung und Ratsverfassung. 5 ) Sind wir über Herausbildung und Funktion des Rates als des entscheidenden kommunalen Organs und Funktionsträgers der Stadtgemeinde recht zuverlässig informiert, so bleiben Mitspracherecht und Einfluß einer auf Gemeindeversammlungen oder in Vertreterorganisationen sich artikulierenden, nicht ratsfähigen Bürgerund Einwohnerschaft sowie andere Formen gemeindlichen Mitwirkens verborgen oder unklar. Der Begriff Stadtgemeinde begegnet schon in den mittelalterlichen Quellen in zweifacher Bedeutung, und auch die Stadtgeschichtsforschung benutzt ihn differenziert. In einem weiteren Sinne war Stadtgemeinde der genossenschaftlich organisierte, von Anfang an in sich differenzierte, aber nach außen etwa gegenüber dem Land und dem feudalen Stadtherrn - relativ geschlossen auftretende Verband der Bürger- und Einwohnerschaft. Im engeren Sinne stellte die Stadtgemeinde, die „Meinheit" oder „Gemeine" der Quellen, die dem Rat gegenüberstehende nicht ratsfähige Bürgerschaft dar. Der früheste Nachweis für cónsules in der Mark Brandenburg liegt für das um 1160 städtischen Charakter zeigende westelbische 3
) Ebd. Nr. 51, 349. ) Ebd. Nr.30, 208f. (1386); vgl. auch A. Stölzel (Hrsg.), Urkundliches Material aus den Brandenburger Schöppenstuhlsakten. 2 Bde. 1901; H. K. Schulze, Die brandenburgischen Stadtrechte im Mittelalter, in: JbGMOD 13/14, 1965, 365 ff. 5 ) Vgl. W. Schlesinger, Forum, villa fori, ius fori. Einige Bemerkungen zu Marktgründungsurkunden des 12. Jh. aus Mitteldeutschland, in: Ders., Mitteldeutsche Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters. 1961, 275ff.; W. Schich, Das mittelalterliche Berlin (1237-1411), in: W. Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins. Bd. 1. 2. Aufl. 1988, 177 f. 4
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Stendal aus dem Jahre 1215 vor 6 ), also nicht lange nach den ältesten Zeugnissen einer Ratsverfassung in deutschen Städten überhaupt. Berliner cónsules begegnen erstmals 1253 in der Rechtsmitteilung für Frankfurt/Oder, deren Inhalt aber ihre schon längere Existenz in der sich seit dem Ende des 12. Jahrhunderts entwickelnden Siedlung städtischen Charakters voraussetzt. Dieser Rat nahm wichtige Rechte der mit der wirtschaftlichen Stärke der Stadt wachsenden kommunalen Selbstverwaltung wahr. Er leitete und verwaltete die Stadt, zunehmend unabhängiger vom feudalen Stadtherrn, dem brandenburgischen Markgrafen und späteren Kurfürsten. Der Rat Berlins erteilte Rechtsbelehrungen und -Übertragungen an andere Städte und schloß Bündnisse mit ihnen ab, was Ausdruck seiner auch politische Belange erfassenden Satzungshoheit war. Im wirtschaftlichen Bereich äußerte sich dieses Willkürrecht vor allem im Erlaß von Zunftstatuten, der bis zum Ende des Mittelalters ausschließlich durch die cónsules erfolgte, und in der Regelung vieler innerer Angelegenheiten der Zünfte durch den Rat. Die Berliner Rechtsmitteilung an die Oderstadt Frankfurt enthielt die Festlegung, daß Handwerker nur mit Genehmigung des Rates Zünfte bilden dürfen. Zunftstatuten des Berliner Rates für Bäcker, Knochenhauer, Kürschner, Schuster, Schuhflicker, Tuch- und Wollweber, Schneider und Leineweber zwischen 1272 und 1452 belegen die Wahrnehmung dieser Satzungshoheit des Rates, der - wie es in einer Urkunde für die Schuster von 1284 heißt 7 ) - die plenitudo potestatis über die Zunft hat. Polizeiordnungen - so die des Berliner Rates vom 22. April 1335 und von 13708) - waren ebenfalls Ausdruck für das Recht des Rates, Gesetze, Verordnungen, Willküren und Statuten zu erlassen. Dieses kulminierte darin, daß der Rat zu Berlin Ende des 14. Jahrhunderts geltendes Stadtrecht aufzeichnen und ein Stadtbuch anlegen ließ9), wodurch er das lokale Stadtrecht zugleich weiterentwickelte. Mit dem Verlust dieses Satzungsrechtes wurden Stendal und Salzwedel nach dem Bierzieseaufstand von ') A. F. Riedel (Hrsg.), Codex diplomaticus Brandenburgensis. 4 Hauptteile. 1838ff. (künftig: R mit großem Buchstaben für Teil und römischer Ziffer für Band), hier: R A XV, Nr. 5, 7. 7 ) B U B (wie Anm. 1), Nr. 22, 15. 8 ) Ebd. Nr.21, 62f. (mit falscher Datierung) und Nr. 165, 172f. 9 ) P. Clauswitz (Hrsg.), Berlinisches Stadtbuch. Neue Ausgabe. 1883; vgl. E. Engel, Zur Autonomie brandenburgischer Hansestädte im Mittelalter, in: K.Fritze - E. Müller-Mertens - W. Stark (Hrsg.), Autonomie, Wirtschaft und Kultur der Hansestädte. 1984, 61 ff.
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1488 durch den Landesherrn bestraft. Beider Stadtrat mußte geloben, in Zukunft „keine [...] wilkor oder gesetz" zu machen. 10 ) Den Berliner cónsules oblag die Aufsicht über das gesamte Wirtschaftsleben in der Stadt, vor allem über Maß und Gewicht, über die Qualität der handwerklichen Produktion und über Kauf und Verkauf auf dem Markt und in den Verkaufsläden, wofür die Voraussetzung die Erwerbung des städtischen Grundbesitzes durch die Stadtgemeinde war. Mit Geldbußen und anderen Strafen ahndete der Rat Wirtschaftsvergehen, worin sich eine außerhalb der städtischen Gerichtsbarkeit liegende Polizeigewalt des Rates äußerte. Er selbst war in seiner Stellung gegenüber den Bürgern dadurch geschützt, daß der bei der Aufnahme in das Bürgerrecht zu leistende Eid den Bürger zum Gehorsam gegenüber den Ratsherren verpflichtete, was diese vor Beleidigungen und Tätlichkeiten schützte. 11 ) Als 1307 ein gemeinsamer Rat für die Doppelstadt BerlinCölln - auf deren Problematik kann hier nicht eingegangen werden - zu zwei Dritteln aus Berliner und zu einem Drittel aus Cöllner Bürgern gebildet wurde, sollten jeweils die cives der anderen Stadt diese Ratsherren „kisen". 12 ) Nach einem Jahr Amtsdauer wählten die amtierenden Ratsherren selbst ihre Nachfolger. Dieses Wahlverfahren enthielt bereits die Rechtsweisung an Frankfurt/Oder von 1253, so daß es als das mit der Berliner Rats Verfassung entstandene und bis zum Ende des Mittelalters herrschende gelten kann. Das Selbstergänzungsrecht des Rates Schloß eine ständige Rotation zwischen alten und neuen, zwischen beratenden und regierenden Ratsherren ein. Weder der feudale Stadtherr noch die nicht ratsfähigen Bürger hatten bis 1442 bzw. 1448 Einfluß auf die Ratsbildung, von einem kurzen landesherrlichen Bestätigungsrecht 1346 abgesehen. Analog den Verhältnissen in anderen brandenburgischen Städten, die nach Madgdeburg-Brandenburger Stadtrecht strukturiert waren, ist auch für die Berliner Ratsherren soziale Herkunft aus den Kreisen der Fernhändler nachgewiesen worden. Immer nur zeitweilige Ausnahmen bestätigen diese Regel. Im Zusammenhang mit innerl0
) R (wie Anm.6), A XV, Nr. 452, 410. ") Berlinisches Stadtbuch (wie Anm.9), 1; P. v. Gebhardt (Hrsg.), Das älteste Berliner Bürgerbuch 1453-1700. 1927, 2. n ) BUB (wie Anm. 1), Nr.37, 24f.; mit Kaeber ist bei diesen cives wohl nur an Ratsherren zu denken, vgl. E. Kaeber, Der „Berliner Unwille" und seine Vorgeschichte, in: Ders., Beiträge zur Berliner Geschichte. Ausgewählte Aufsätze. Bearb. von W. Vogel. 1964, 62 f.
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städtischen Auseinandersetzungen 1346 half Markgraf Ludwig der Ältere den Zünften, künftig ein Drittel der Ratssitze von Berlin und Cölln zu besetzen. Diese „Demokratisierung" des Berliner Stadtregiments währte wohl nur bis 1348.13) Erst wieder 1442 bestimmte Kurfürst Friedrich II. für die nunmehr getrennten Stadträte von Berlin und Cölln, Vertreter „sunderliken vt den vierwerken voran vnd vt den gemeynen bürgeren" aufzunehmen 14 ), was zunächst auch geschah. 15 ) Die Verbreiterung der Ratsherrschaft von 1442 erfolgte - wie die von 1346 - im Ergebnis innerstädtischer Auseinandersetzungen, überdauerte diese aber jeweils nur für kurze Zeit, was für die feste Verankerung der politischen Führung in den kaufmännisch-patrizischen Kreisen und für ihre fast uneingeschränkte Rolle als Funktionsträger der Stadtgemeinde spricht. Die aus wirtschaftlichem Reichtum resultierende Abkömmlichkeit für das Amt - die Erich Maschke im Anschluß an Max Weber für bürgerliche Ratsherrschaft in den deutschen Städten erkannt hat 16 ) - wird auch die Berliner Ratsherren zur Übernahme von Funktionen bevorteilt haben. Wir kennen Berliner Ratsfamilien, deren Mitglieder zugleich im Fernhandel und als Lehnbürger, als landesherrliche Finanzleute und Amtsträger nachweisbar sind. 17 ) Bei ihnen vereinten sich in der Person - nicht nur in der Familie - Fernhandelstätigkeit und Ratsmitgliedschaft. Fernhandel schloß interkommunale Beziehungen und aus ihnen erwachsendes' soziales Prestige ein. Als Berlins Mitgliedschaft in der Hanse seit 135918) aktenkundig wurde, war es vor allem auf Hansetagen vertreten oder doch zu solchen eingeladen, die sich mit Behinderungen des hansischen Handels Richtung Flandern und Dänemark sowie seit dem 15. Jahrhundert mit der Abwehr der Fürstenmacht befaßten: Handels- und politische Interessen der Berliner Fernkaufleute und Ratsherren müssen berührt worden sein. Wer die Spreestädte in Lübeck oder an anderen Tagungsorten ver") Vgl. E. Müller-Mertens, Die Unterwerfung Berlins 1346 und die Haltung der Städte im wittelsbachisch-luxemburgischen Thronstreit, in: Z f G 8, 1960, 78 ff. 14 ) BUB (wie Anm. 1), Nr.95, 379. ") Vgl. ebd. Nr. 109, 387. 16 ) Vgl. E. Maschke, Verfassung und soziale Kräfte in der deutschen Stadt des späten Mittelalters, vornehmlich in Oberdeutschland, in: Ders., Städte und Menschen. 1980, 210 ff. ") Vgl. E. Müller-Mertens, Berlin und die Hanse, in: HansGBll 80, 1962, 2ff. ") Die Recesse und andere Akten der Hansetage von 1256-1430. Bd. 1. 1870, Nr. 225, 152 f.
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trat, ist lediglich in zwei Fällen überliefert. Es war 1430 der Berliner Clawes Alerd") und im Jahre 1434 der „ r a d m a n " Johan Glineke. 20 ) Die immer nur an den Rat der Stadt gerichteten hansischen Einladungsschreiben und andere Quellen über die hansischen Beziehungen Berlins bestätigen die aus anderen deutschen und auch brandenburgischen Städten bekannten Erfahrungen, daß Ratsherren, meist die Bürgermeister, in diplomatischen Aufträgen - so Bürgermeister Albert Rathenow 1376 zu Kaiser Karl IV. nach Tangermünde 21 ) - , auf Städte- und Hansetagen sowie auf ständischen Versammlungen die Stadt vertraten. Auf einem märkischen Hoftag des Markgrafen Sigmund in Posen Ende September 1382 war Berlin durch seinen Bürgermeister Henning Dobbler präsent. 22 ) Die eine Rangfolge der Städte zum Ausdruck bringende Sitzordnung Kurfürst Joachims I. von 1521 regelte die Plätze der Bürgermeister auf den Landtagen. 23 ) Das Quellenmaterial über Mitbestimmung, Einfluß, Befragung und Aktivität einer über den Rat hinausgehenden Anzahl von Städtebürgern, etwa der nicht ratsfähigen Bürger insgesamt oder einer Bürgervertretung, ermöglicht lediglich, einige Beobachtungen mitzuteilen. Zunächst lassen die Quellen eine Zweigliederung der städtischen Verfassung insofern erkennen, als neben den Rat - der 1253 noch allein handelt - seit 1272 eine unterschiedlich bezeichnete „Gemeinheit" tritt, als Urkundenaussteller und -empfänger, als Urheber von Satzungen, als Verhandlungspartner mit Landesherren und Städten. Die Bennennungen als „gemeynheit", universitas, communitas civium, „borger", „gemeine borgere", „borger meinlik", „ganze meynheit" lassen diesen Kreis als die nicht ratsfähigen Vollbürger verstehen. Sie umfaßten Kaufleute und Handwerker, unabhängig davon, ob diese in Gilden oder Zünften zusammengeschlossen waren oder nicht. „Gemeinheit der Bürger" schloß in diesem Verständnis die Nicht-Bürger, das waren die der sozialen ") Ebd. Bd. 8. 1897, Nr. 712, 457. ) Hanserecesse von 1431-1476. Bearb. von G. Frh. v. d. Ropp. B d . l . 1876, Nr. 321, 201. 21 ) F. Pusthius, Chronicon Berolinense, in: Schriften des Vereins für die Geschichte der Stadt Berlin 4, 1870, 9. 22 ) Vgl. E. Müller-Mertens, Tile Wardenberg - Schlüsselfigur der Berliner Geschichte 1363-1382. Porträt, politische Szene, historisches Verhältnis, in: JbG 35, 1987, 82f. 23 ) K. Schulz, Vom Herrschaftsantritt der Hohenzollern bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, in: Geschichte Berlins (wie Anm.5), 252. 20
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Unterschicht oder den plebejischen Schichten zuzurechnenden städtischen Einwohner, von einer - wie auch immer gearteten und sich vollziehenden - Mitwirkung an den Angelegenheiten der Stadt aus. Daß „gemeine Bürger" so viel wie „alle Bürger" bedeutete, erhellt aus einer Magdeburger Urkunde zum Schutz des Handels der „bürgere von Berlin vnd Coin gemeine vnd jowelike borgere besundern" 24 ) oder aus einem Privileg über die Zollfreiheit von Berliner Kaufmannsware in Saarmund für „alle ire borger gemeyne [...], armen vnd riken". 25 ) Es berechtigt m. E. nichts, an der tatsächlichen Mitwirkung dieser „Gemeinheit" an städtischer Politik zu zweifeln, wenn z.B. Zunftstatuten der 70er und 80er Jahre des 13.Jahrhunderts „met vulbord unser gemeynheit", cum communi Consilio civitatis nostre, „met enygen Rade vnd met vulbord vnser borger" erlassen wurden. 26 ) Auch die 1335 von den alten und neuen Ratsherren „met eynen gemeynen rade" verkündete Kleider- und Festordnung ist in diesem Sinne und wohl nicht als Beleg für die Existenz eines „Gemeinderates" 27 ) zu interpretieren. Wenn die Hinzuziehung von über die Ratskreise hinausgehenden Teilen der Stadtgemeinde oder dieser selbst auch nicht konsequent und ständig erfolgte, so war sie sporadisch auch nach 1311 eine politische Größe. Auf einer weiteren Stufe städtischer Entwicklung Berlins, deren Kennzeichen stärkere soziale Differenzierung und Polarisierung sowie das Anwachsen innerer Unruhen waren, wich die Zweigliederung der städtischen Verfassungs- und Machtstruktur einer Dreigliederung in Rat - Gewerke - Gemeinheit. In Berlin taucht sie gelegentlich um die Mitte des 14. Jahrhunderts auf, als innerstädtische Spannungen ihren Niederschlag in den Quellen fanden. In einer Urkunde vom 27. Oktober 1346 machten „ratman vnd die gemeind vnd die gewerken" Markgraf Ludwig dem Älteren Zugeständnisse.28) Dieser und Markgraf Ludwig der Römer versöhnten sich 1351 und 1352 mit der Doppelstadt - nach den inneren und äußeren Spannungen der Jahre 1346 bis 1351 - und vergaben jedem, er sei Ratsherr, Schöffe, Schulze, „vt den werken oder gemeinen". 29 ) Die 24
) BUB (wie Anm. 1), Nr.40, 76. ) Ebd. Nr. 146, 155. 26 ) Ebd. Nr. 16, 11 ; Nr. 32, 21 ; Nr. 42, 27. ") Ebd. Nr. 21, 62, so die deutsche Übersetzung ebd. 28 ) Vgl. den Abdruck der Urkunde im Anhang zu Müller-Mertens, Die Unterwerfung (wie Anm. 13), 102 f. 2 ') BUB (wie Anm. 1), Nr. 92, 117 und Nr. 94, 119; vgl. auch Nr. 132, 143. 25
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Gliederung in Rat - Gewerke - Gemeinde setzte sich seit dieser Zeit kontinuierlich fort, ohne allerdings in den Quellen zu überwiegen. Sie entsprach dem Entwicklungsstand in anderen brandenburgischen Städten, in denen der Markgraf 1369 „Ratmannen, Gildemeistern, Werken und Gemeine" die Münze überließ. 30 ) Als 1392 und 1404 erstmals die sog. Viergewerke31) neben Rat und gemeinen Bürgern hervortraten, galt diese Formulierung der besonderen Hervorhebung der vier für die Versorgung der Bevölkerung wichtigsten Gewerbe der Fleischer, Bäcker, Schuster und Tuchmacher, und ihrem besonderen politischen Gewicht in der Verfassungsstruktur der Stadt. Auch diese Entwicklung hatte Berlin mit anderen brandenburgischen Städten seit dem Ende des 14. Jahrhunderts gemeinsam.32) Die übrigen Gewerbe bzw. Zünfte konnten sich weiterhin in dem Begriff „Meinheit" mitvertreten sehen. Eine prononcierte Verwendung der Dreiteilung Rat - Gewerke (bzw. Viergewerke) - Gemeinheit in den Quellen fällt in besonderen Situationen auf. Das waren einmal die Ereignisse der sog. Quitzowwirren, als Berlin teils mit der adligen Familie der Quitzows in Fehde lag, teils sich ihrer im Kampf gegen auswärtige Feinde bediente. Ferner waren das Jahre Berliner Stadtgeschichte, in denen Bürgerkämpfe und Auseinandersetzungen mit den feudalen Stadt- und Landesherren an die Existenz der relativ autonomen Stadtgemeinde rührten. In solchen zugespitzten Situationen suchten Freunde und Feinde der Stadt die Koalition mit bestimmten Teilen der Stadtgemeinde gegen andere Teile, was sich dann auch in einer differenzierteren Sprache der Quellen niederschlug. In den Wirren um 1410 versuchte z.B. Dietrich von Quitzow, die „virwerke der guide", die „virwerken vnd ghulden" bzw. die „Meynen vnd Werken" gegen die Bürgermeister und Ratsherren auszuspielen 33 ), nachdem sein Bündnis mit den „reichen" und „namhafftigsten" - wie Engelbert Wusterwitz sie nennt 34 ) - nicht lange gehalten hatte. Politischer Einfluß muß den Gewerken zugeschrieben worden sein, wenn z. B. der Rat von Neuruppin sich an die Bäckerzunft von Berlin mit der Bitte wandte, 30
) R (wie Anm.6), A XII, Nr.27 und 28, 501 ff. ) BUB (wie Anm. 1), Nr.44, 217 und Nr.96, 245. 32 ) Vgl. H. Heibig, Gesellschaft und Wirtschaft der Mark Brandenburg im Mittelalter. 1973, 25. 33 ) BUB (wie Anm. 1), Nr. 65 und 70, 293 und 296; vgl. auch Nr. 85, 304f. ") W. Ribbe, Die Aufzeichnungen des Engelbert Wusterwitz. Überlieferung, Edition und Interpretation einer spätmittelalterlichen Quelle zur Geschichte der Mark Brandenburg. 1973, 120. 31
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diese möge die Berliner Ratsherren dazu bewegen, arrestierte Neuruppiner Bürger mit ihrem Gut wieder freizulassen. 35 ) Davon zeugen auch städtische Urkunden von 1425, nach denen jeweils Bürgermeister und Ratsherren „mit fulbort vnd weten" bzw. „met willen vnd fulbort" der „werk vnd vnser gemeyn" bzw. der „vir werken vnd gemeyn" Jahresrenten verkauften. 36 ) Es ist nicht klar zu erkennen, ob „werken" in den entsprechenden Formeln einfach für „Viergewerke" stand und die übrigen wirtschaftlich und politisch schwächeren Zünfte und nicht zünftigen Bürger unter dem Begriff „Gemeinheit" zu fassen sind. Diese Interpretation erlauben die zeitlich und inhaltlich zusammengehörigen Verkaufsurkunden von Jahresrenten aus dem Januar und April 1425.37) „Werken" könnte aber auch die in Zünften und Gilden zusammengeschlossenen Handwerker und Kaufleute einschließlich der Viergewerke bedeuten, während die gemeinen Bürger dann die nicht zünftischen Inhaber des Bürgerrechts umfaßten. Eindeutig ist die Sachlage, wenn in einer Urkundenformel neben den Viergewerken ausdrücklich alle (übrigen) Innungen und Innungsmeister genannt werden. 38 ) Die Differenzierung der bürgerlichen Opposition in den Ereignissen der 70er und 80er Jahre des 14. Jahrhunderts hat jüngst Eckhard Müller-Mertens untersucht. 39 ) Quellen aus den 30er und 40er Jahren des 15. Jahrhunderts lassen erneut innerstädtische soziale und politische Spannungen zwischen Bürgermeistern und Ratsherren einerseits sowie Viergewerken und gemeinen Bürgern andererseits erkennen, in die Rivalitäten zwischen den beiden Städten Berlin und Cölln hineinspielten. 40 ) Bekanntlich erleichterten es diese sich überschneidenden Konflikte dem feudalen Stadt- und Landesherrn, die Autonomie Berlins einzuschränken und die Spannungen im Interesse der Disziplinierung der Bürger und des sozialen Friedens in der Stadt zu lösen: Kurfürst Friedrich II. befahl 1442 „den gewerken, gemeynen bürgeren vnd allen Inwonern" beider Städte 3S
) BUB (wie Anm. 1), Nr. 101, 313. ") Ebd. Nr. 33, 344; Nr. 35, 345. 37 ) Ähnlich wären auch ebd. Nr. 54, 353 und Nr. 182, 420 zu lesen. 3S ) Ebd. Nr. 135, 397. 39 ) Müller-Mertens, Tile Wardenberg (wie Anm.22), 85ff.; vgl. auch ders.. Die Entstehung Berlins. D i e mittelalterliche Stadt, in: Geschichte Berlins von den Anfängen bis 1945. 1987, 56f. 40 )Vgl. z.B. BUB (wie Anm. 1), Nr.54, 352f.; Nr.88, 376f.; Nr.95, 378ff.; Nr. 98, 381 ff.
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Gehorsam gegenüber dem Rat. 41 ) Hier wurden nicht nur die Vollbürger angesprochen, sondern auch die nicht das Bürgerrecht besitzenden, aus den unteren sozialen Schichten kommenden Stadtbewohner. 42 ) Die Letzteren sind das „gesinde", das niedere Volk, des im Berliner Stadtbuch enthaltenen Urfehdeeides, in dem dieser Teil der Stadtbevölkerung von „radmanne" und „borger" abgehoben wird. 43 ) Nach den Berliner Ereignissen zwischen 1432 und 1447/1448 begegnet die Dreigliederung von Rat (einschließlich Bürgermeistern) - Werke bzw. Viergewerke - gemeine Bürger in den verschiedensten, durch Urkunden rechtsverbindlich gemachten Handlungen der Stadtgemeinde und als Adressat in Urkunden des Stadtherrn, besonders bei Dorf- und Landverkäufen an die Stadt und in anderen finanziellen Fragen. Die Entwicklung von einer Zweigliederung Rat - Gemeinde zu einer Dreiteilung Rat - Gewerke - Gemeinde im mittelalterlichen Berlin teilt die Spreestadt mit Vorgängen, wie sie für den rheinischwestfälischen Raum, z. B. für Münster, aus den Quellen herausgearbeitet wurden. Für Münster erscheint etwa seit 1410 die Formel Bürgermeister, Rat, Gilde (im Sinne einer Gesamtgilde als Interessenvertretung der Gemeinheit) und ganze Gemeinde zu Münster. 44 ) Diese Änderungen in der Verfassung Münsters und anderer Städte werden mit zunehmenden innerstädtischen Unruhen begründet. 45 ) In welcher Form sich gemeindliche Beratung und Zustimmung von nicht ratsfähigen Kaufleuten und Handwerkern vollzogen, ist für die meisten mittelalterlichen Städte unklar und auch für Berlin nur aus wenigen Anhaltspunkten zu vermuten. Zu denken wäre etwa an solche Formen, wie die aus dem Magdeburger Recht bekannte Bürgerversammlung. In conventu civium war es nach einer 1188 von Erzbischof Wichmann für Magdeburg erlassenen Urkunde „keinem Törichten erlaubt, durch ungeordnete Worte zu stö41
) Ebd. Nr. 95, 379. ) Vgl. ebd. Nr. 135, 397; Nr. 138, 398; Nr. 145, 400f. 43 ) Berlinisches Stadtbuch (wie Anm.9), 1. 44 )Vgl. K.-H. Kirchhoff, Die Unruhen in Münster/W. 1450-1457, in: W. Ehbrecht (Hrsg.), Städtische Führungsgruppen und Gemeinde in der werdenden Neuzeit. 1980, 157ff.; K.-H. Kirchhoff, Gesamtgilde und Gemeinheit in Münster (Westf.) 1410 bis 1661, in: Ders., Forschungen zur Geschichte von Stadt und Stift Münster. Ausgewählte Aufsätze und Schriftenverzeichnis. 1988, 235 ff. 45 ) Für Hamburg vgl. R. Postel, Bürgerausschüsse und Reformation in Hamburg, in: Ehbrecht (Hrsg.), Städtische Führungsgruppen (wie Anm.44), 370. 42
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ren und in irgendeiner Weise dem Willen der meliores entgegenzutreten". 46 ) Die Bezeichnung meliores für die Vorläufer von Ratsherren läßt bei den stulti vielleicht an die „Meinheit" oder „gemeinen Bürger" in anderen Quellen denken. Im Stadtrecht von Münster aus der Zeit vor 1214 - um bei diesem Vergleich mit Berlin zu bleiben ist die Versammlungspflicht für die Gemeinheit verankert, deren Zusammenkünfte 1447 als „borger dage" bezeichnet werden. 47 ) Für Berlin liegt ein interessantes Zeugnis aus dem Jahre 1431 vor. Zur Führung eines Prozesses vor dem kaiserlichen Hofgericht gegen die Bürger Losen aus Magdeburg haben Bürgermeister, Ratsherren, Werke, Gildemeister und alle gemeinen Bürger „met lude eyner clocken tosamene geheyschet vnd to hope komen" und „hebben vor vns allen vnd igliken besundern van vnser Stad wegin gegeuen vnd geuen [...] vnse ganze vullemacht vnd gewalt" ihrem Bevollmächtigten Tileman Berbom. 48 ) 1440 legten Rat, Gewerke und gemeine Bürger Wert auf die grundsätzliche Feststellung, daß zukünftig die Huldigung für einen neuen Landes- und Stadtherrn erst nach Bestätigung der Privilegien erfolgen werde, und zwar wollte man diese „vorlesen laten in gegenwordicheit des Radis vnd aller Borger" 49 ), was - wie 1431 - die tatsächliche Hinzuziehung aller Bürger zu wichtigen, die Stadt betreffenden Angelegenheiten nahelegt. Wenn der kurfürstliche Hofrichter 1448 nicht nur Bürgermeistern, Ratsherren, Vierwerken und den anderen Zünften, sondern auch allen Bürgern und Einwohnern gebot, nach Spandau zum Hofgericht zu kommen und sich wegen der gegen sie erhobenen Beschuldigungen zu verantworten 50 ), so unterstreicht dieses Vorgehen des feudalen Stadt- und Landesherrn das Anliegen, in der besonderen Situation nach dem Berliner Unwillen von 1447/1448 die ganze, sozial differenzierte Bürger- und Einwohnerschaft zum Gehorsam gegenüber dem Herrn zu verpflichten. Es sollte das Verhältnis zwischen Stadt46
) Urkundenbuch des Erzstifts Magdeburg. Teil 1. Bearb. von F. Israel. 1937, Nr.421, 555; vgl. auch R. Schranil, Stadtverfassung nach Magdeburger Recht. Magdeburg und Halle. 1915, 191 f., 205 ff. 47 ) B. Vollmer (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt und des Stiftes Bielefeld. 1937, Nr. 4, 4, §41 : Qui non venerit ad indicium colloquium, vadiabit 5 denarios; E. Keyser (Hrsg.), Westfälisches Städtebuch. 1954, 258. 4S ) BUB (wie Anm. 1), Nr. 50, 349. 4 ') Ebd. Nr. 86, 375. 50 ) Ebd. Nr. 135, 397. Nach Pusthius, Chronicon Berolinense (wie Anm. 21) wurden Rat, Viergewerke, alte Innungsmeister und Bürger nach Spandau zitiert (12).
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herrn und Stadtgemeinde wiederhergestellt werden, auf das sich 1442 neben Rat, Vierwerken und Innungsmeistern auch „gantze gemeynheit aller und iglicker gemeinen borger arm und rike" verpflichten mußten, nämlich „willige underdenige und gehorsam borger und undersaten" dem Kurfürsten zu sein.51) Betrafen die bisher genannten Beispiele einer Mitbeteiligung breiterer Bürger- und Einwohnerkreise meist das Verhältnis zwischen Stadtgemeinde und landesherrlicher Gewalt, so führten auch innerstädtische Konflikte eine Einbeziehung breiterer Bürgerkreise in städtische Politik, insbesondere bei finanziellen Fragen, herbei. So beorderte der Rat in einer Situation, als in den 60er bis 80er Jahren des 14. Jahrhunderts innerstädtische Kämpfe zwischen Rat und bürgerlicher Opposition sowie Konflikte zwischen Berlin und Cölln bzw. zwischen deren patrizischen Stadträten wegen der Lastenverteilung sich vermischten und verbanden 52 ), die „gemeynen borgere" zu sich und „hadden met den tu redende umme unser heren nud und fromen und der stede nod". Im Berlinder Stadtbuch, das diese wichtige Notiz festhält, heißt es weiter: „so volgeden dy gemeynen borgere den radmannen ores rades gerne und scheiden sik eyndrechtliken von den radmannen". Diese Einmütigkeit zerstörte der Cöllner Bürgermeister Tile Wardenberg durch sein Verhalten. Ihm wurde vorgeworfen, daß er nun seinerseits „di gemeynen borgere weder tusamen" rief, sich mit ihnen gegen die übrigen Ratsherren verbündete, einen Keil zwischen Rat und gemeine Bürger trieb und dadurch Frieden und Eintracht gefährdete. 53 ) In der Situation erneuter innerstädtischer Konflikte 1442 wurde festgelegt, daß die Rechnungslegung des Rates über Einnahmen und Ausgaben vor einer breiteren Öffentlichkeit erfolgen sollte: jeder neu gewählte Rat soll dem ihm folgenden Rat und „den vierwerckmeistern dy darto geschickt werden, redelike rekenunge don vnd plegen". 54 ) Zugleich verkündete man die Abschaffung eines 16er Ausschusses (die „sesteyn"), dessen Existenz für Berlin im Mittelalter allein durch diese Notiz bekannt ist. Analog den Verhältnissen in anderen brandenburgischen Städten könnte es sich bei dieser 1442 abgeschafften Einrichtung, die „met dem olden Rade der stede saken in Rades-
51
) ") ") 54 )
BUB (wie Anm. 1), Nr.98, 381 f. Vgl. Müller-Mertens, Tile Wardenberg (wie Anm. 22), 59 ff. Zitiert nach Quellenhang ebd. 91, besonders 9. Beschwerde. BUB (wie Anm. 1), Nr. 95, 380.
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zwiße bewust vnd gehandelt hebben" 55 ), um eine Art Gemeindevertretung oder Gemeindeausschuß gehandelt haben. So bekräftigte Kurfürst Friedrich I. nach innerstädtischen Auseinandersetzungen in Frankfurt/Oder „von Einnemens vnd ussgebens wegen" im Jahre 1420 die Einsetzung eines Kontrollorgans, das hier wie folgt zustandekam: Die gemeinen Bürger sollten aus den Gewerken zwölf, aus der Gemeine sechs Personen vorschlagen, und aus diesem Gremium hatten die Ratsherren vier aus den Gewerken (aus jedem Gewerk einen) und zwei aus der Gemeine zu wählen. Vor dem alten und neuen Rat sowie vor diesem Sechser-Ausschuß hatten die Kämmerer jährlich vollständige Rechenschaft über ihre Einnahmen und Ausgaben abzulegen. 56 ) Nach innerstädtischen Kämpfen in Neustadt Brandenburg erfolgte 1427 die Installation eines 16er Ausschusses aus Gewerken, Gilden und Gemeinen, vor dem Bürgermeister und Rat jährlich „ein vulkommen redlich rechnung von allem iren jnnemen vnd auszgeben" zu geben hatten. 57 ) Wenn auch für Berlin ein Zusammenhang zwischen innerstädtischen Auseinandersetzungen und der Einrichtung solcher Bürgervertretungen angenommen wird, könnte der Berliner 16er Ausschuß seit 1432 bestanden haben; zu beweisen ist das nicht. Die seit dem 16.Jahrhundert üblichen „Verordneten" 58 ) der Gewerke und Gemeinde von Berlin und Cölln könnten in solchen Bürgervertretungen wie dem 16er Ausschuß ihren mittelalterlichen Vorläufer haben. Die Einrichtung von Bürgerausschüssen oder -Vertretungen mußte nicht zu einer „Demokratisierung" der städtischen Machtverhältnisse führen. Im Gegenteil. Solche Ausschüsse konnten - wie auf der Ebene von Landtagen 59 ) - die Bedeutung der Gemeinde schwächen und die Stellung des Rates festigen. Zum Beleg sollen aus dem brandenburgischen Raum wiederum Vorgänge in Neustadt Brandenburg und Frankfurt/Oder angeführt werden. Um Aufruhr vorzubeugen, ordnete Kurfürst Joachim I. 1502 für Frankfurt an, daß „12 verstendige von den gewercken und 12 verstendige von der gemein erwelet vnd gekoren werden"; diese 24 sollen „neben vnd mit sampt dem Rath 55 ) Ebd. " ) R (wie Anm.6), A X X , Nr. 96, 256 f. 5 ') R (wie Anm.6), A IX, Nr. 164, 129f. 5S ) Verordnete der Gewerke und Gemeinde werden zu 1518, 1537 und 1539 genannt, vgl. BUB (wie Anm. 1), Nr.338, 470; Nr.401, 485f.; Nr.410, 488. 59 ) Vgl. P. Blickte, Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus, in: HZ 242, 1986, 538f.
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volle gewalt vnd macht haben", „alle vnd igliche sachen gemeiner Stadt nutz vnd fromen zu handeln vnd zu besliessen". Was Rat und Ausschuß beschließen, „sollen gewerck vnd gemein" gehorsamst vollbringen und „zukunftiglich gewerck vnd gemein nicht versameli werden, es geschee dann vff gefallen des Rats vnd der 24 geordenten von werck vnd gemein". 60 ) Nach Auseinandersetzungen zwischen Rat und bürgerlicher Opposition in Neustadt Brandenburg im gleichen Jahr kam hier ein 32er Ausschuß (16 aus den Gewerken, 16 aus der Gemeinheit) zustande. Was dieser und der Rat vereinbarten, das sollten „die andern auss den vier Wercken und gantzer Gemein auch volborten". Die „vier Werke und Gemeine" sollen zur Vermeidung von Irrungen und Zwietracht „keine Borgersprach noch gemeine Versammlunge hinder dem Rathe machen, heimlich oder offenbar". 61 ) Mit der Ausbildung der bürgerlichen Ratsverfassung, der Ausübung innerer Verwaltungsaufgaben und Wahrnehmung äußerer Belange der Stadt durch den Rat als Organ und Funktionsträger der Gemeinde, mit der Übernahme des Eigentums am Grund und Boden in der Stadt, der Erwerbung weiterer ehemals Stadt- und landesherrlicher Rechte sowie der Ausübung der Satzungshoheit durch den Rat bei Beteiligung breiterer Teile der bürgerlichen Gemeinde ist in den brandenburgischen Städten eine erste bedeutende Stufe städtischer Autonomie zu fassen. 62 ) Ihre Erweiterung erfolgte, als die Stadt in den Besitz der oberen Gerichtsbarkeit kam. In den brandenburgischen Städten stand der Schultheiß, zunächst lokaler Vertreter des markgräflichen Stadtherrn, an der Spitze des herrschaftlichen Stadtgerichts, dem Fälle der niederen Gerichtsbarkeit oblagen. Ihm waren Schöffen aus denReihen der Bürger als Urteilsfinder beigegeben, und auch der Schulze selbst entwickelte sich immer mehr zu einem Vertreter der Bürger. Das Schöffenkolleg setzte sich im 14. Jahrhundert aus vier Berliner und drei Cöllner Schöffen zusammen, die jeweils für drei Jahre durch den Rat der anderen Stadt ins Amt gewählt wurden. Mit der Herauslösung der Stadt aus der von einem markgräflichen Vogt wahrgenommenen hohen landesherrlichen Gerichtsbarkeit übernahm der Stadtschulze auch diesen Bereich. 1345 war es der Ratsherr Thilo Brügge; 1391 kaufte der Rat die niedere und obere Gerichtsbarkeit und ließ sie durch seinen 60 ) R (wie Anm.6), A XXIII, Nr. 371, 314. ") R (wie Anm.6), A IX, Nr.334, 255. ") Vgl. Engel, Zur Autonomie (wie Anm. 9), 55 f.
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Richter ausüben. Schon 1317 erhielt Berlin das ius de non evocando: kein Bürger durfte mehr vor ein auswärtiges, d.h. nichtbürgerliches Gericht zitiert werden. 63 ) Zugleich erstreckte sich die Gewalt des städtischen Richters (Schulzen) auf Adlige und landesherrliche Amtsträger, sofern diese Straftaten in der Stadt begangen und dabei ertappt wurden. Die Verteidigung dieses Rechts setzte sich der 1431 mit Frankfurt/Oder und Stadt Brandenburg geschlossene Städtebund zum Ziel, wenn er forderte, daß Bürger nicht vor das Gericht einer weltlichen oder geistlichen Herrschaft geladen werden dürfen. 64 ) Solche Städtebünde dienten sowohl der Friedenswahrung in der Stadt, wenn sie den Schutz der Ratsherrschaft auf ihr Panier schrieben, als auch dem Schutz der Bürger, ihres Gutes und ihrer Interessen im durch die Landesherrschaft gezogenen regionalen Rahmen. Der Friedenswahrung nach außen kam zugute, wenn verbündete Städte gegen adlige Friedensbrecher, gegen Straßenraub und Landfriedensbruch, gegen im Lande errichtete landesherrliche Schlösser und adlige Burgen selbständig vorgehen durften. Die Markt- und Gewerbegerichtsbarkeit sowie eine Art Polizeigewalt standen von Anfang an den Ratsherren als dem für das Wirtschaftsleben in der Stadt zuständigen Organ der Stadtgemeinde zu. Sie benutzten sie zur Sicherung der wirtschaftlichen Interessen der Gemeinde insgesamt, zur Friedenswahrung in den städtischen Mauern und zugleich zur Durchsetzung ihrer eigenen Herrschaft und Autorität. Geldstrafen für falsches Maß und Gewicht fielen an die Ratsherren, ebenso Strafgelder für beanstandetes Brot oder Tuch, worüber das Urteil dem Rat zustand. In seine Kompetenz als Polizei fiel die Überwachung der vom Rat erlassenen Kleider- und Festordnungen. Das Verbot, mit verhülltem Antlitz durch die Stadt zu reiten oder zu gehen 65 ), konnte auch dem inneren sozialen Frieden dienen, brachen soziale Unruhen in deutschen Städten doch häufig zur Fastnachtszeit aus.66) In Innungsstatuten verankerte der Rat den Gehorsam der Zunftmitglieder gegenüber den Ratsherren. Der Bürgereid sollte sie vor Beleidigungen, Ungehorsam und Tätlichkeiten schützen. Das im Berliner Stadtbuch enthaltene Buch der Übertre") BUB (wie Anm. 1), Nr. 44, 29 f. und Nr. 50, 35 ff. ) Ebd. Nr. 51, 349 f. " ) R (wie Anm. 6), A XXIV, Nr. 96, 393 f. 66 ) Vgl. H. Kiihnel, Die städtische Fasnacht im 15. Jh., in: P. Dinzelbacher H.-D. Mück (Hrsg.), Volkskultur des europäischen Spätmittelalters. 1987, 109 ff. 64
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tungen belegt die Strafverfolgung bei Friedensbruch, Beleidigung des Rates und Widerstand gegen seine Polizeigewalt. 67 ) Die mittelalterliche Berliner Stadtgemeinde verfügte über Satzungshoheit, Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit, ihre Aufgabe war die Friedenssicherung nach innen und außen, sie entwickelte eigene Rechtsnormen, erwarb Bündnisfähigkeit und war in Ständeversammlungen vertreten. Wahrgenommen wurden diese Rechte und Aufgaben vor allem durch den Stadtrat und seine Organe als Funktionsträger der Stadtgemeinde, der sich dabei auf die als „Gemeinheit" oder als „Gewerke und Gemeinheit" bezeichnete nicht ratsfähige, aber das Bürgerrecht besitzende Bürgerschaft stützte. Ob diese in ihrer Gesamtheit oder in Gestalt einer Bürgervertretung an den kommunalen Belangen mitwirkte 68 ), ist nicht eindeutig zu entscheiden. Der Stadtrat, der zumeist ohne Einfluß des feudalen Stadtherrn und ohne Mitwirkung der Bürgerschaft gebildet wurde, hatte die Tendenz, eine vom feudalen Stadtherrn weitgehend unabhängige Stellung mit Herrschaft über die Stadtgemeinde zu verbinden. Auseinandersetzungen und Konflikte darüber führten zur Bildung von Bürgervertretungen und zur Mitsprache von Gewerken u n d / o d e r Gemeinheit besonders im finanziellen Bereich. Seit dem 15. Jahrhundert sah sich auch Berlin - wie alle brandenburgischen Städte - mit dem verstärkten landesherrlichen Druck auf die städtische Autonomie konfrontiert. Sein Erfolg zeigte sich in dem 1448 bekräftigten Recht des Markgrafgen oder seines Hauptmanns, die Ratsherren künftig zu bestätigen oder ablehnen zu können, ferner in der Aufhebung des Bündnisrechts und im Verzicht auf die hohe Gerichtsbarkeit, was das kommunale Recht der Friedenssicherung in und außerhalb der Stadt schmälerte. Die Durchsetzung dieser Maßnahmen erfolgte aber nur allmählich und zunächst durchaus zwiespältig. Seit dem 15. Jahrhundert überwiegende kurfürstliche Innungsprivilegien und Polizeiordnungen wechselten mit solchen vom Rat erlassenen ab und demonstrieren das Ringen um die Satzungshoheit des Rates. Je länger je mehr, regierte der Kurfürst mit Verordnungen, Reglements und Edikten in die Stadt hinein. Der Rat nahm in einigen Fällen weiterhin die hohe Gerichts6?
) Müller-Mertens, Die Entstehung Berlins (wie Anm.39), 132. ) Für Hamburg z. B. rechnet man durchaus mit der Einberufung der Gesamtbürgerschaft, an deren Stelle „in wichtigen, geheimen oder eiligen Sachen" vom Rat auch kleinere Gremien berufen wurden; vgl. Postel, Bürgerausschüsse (wie Anm.45), 370. 68
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barkeit wahr, die die Stadt 1508 sogar vom Kurfürsten zurückkaufte. 69 ) Die städtische Gerichtsbarkeit erfuhr in der Residenzstadt Berlin aber viele Einschränkungen, so durch das 1515 errichtete Kammergericht als oberste Justizbehörde. Bis 1518 war Berlin auch noch - trotz Verlust des Bündnisrechts - im hansischen Bündnissystem verankert. In Grundzügen jedoch blieb bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts die mittelalterliche Ratsverfassung erhalten, gegen die wiederholt die Bürger der Stadt auch nach 1500 opponierten. Der Kurfürst solidarisierte sich bei solcher Gelegenheit mit dem Stadtrat, indem er 1618 eine Ordnung über das Verhalten bei Feuer, Aufstand, Tumult und Auflauf erließ, falls es - wie beim sog. Kalvinistentumult 1615 - „vom gemeinem Pöfell oder aber von etlichen Zunfften oder auch ganzen Viertheilen der Stadt" dazu käme.70) Der Wortlaut der Verordnung macht die Tendenz der weiteren Entwicklung deutlich: jedem in der Stadt wird im Namen der hohen landesfürstlichen Obrigkeit und der unteren Obrigkeit, nämlich der Räte in Berlin und Cölln, befohlen, diese Stadtordnung gehorsam zu befolgen. 71 ) Die Räte übten ihre Herrschaft bald nur noch im Auftrage des Kurfürsten aus72), der in ihnen bloße Untermagistrate sah. „Die Räte der Residenz sanken zu Behörden herab." 73 ) Vom Kurfürsten eingesetzte studierte Beamte wurden Ratsherren. Daß sich die Hinzuziehung der Bürger zu den Angelegenheiten der Stadt seit 1500 zunächst noch in den bekannten mittelalterlichen Formen bewegte, sei an Beispielen gezeigt. So befahl der Kurfürst 1524 den Stadträten, die Einwohner und Untertanen „in ein gemein versammlen laszen anzeigen und gebieten", daß das Lesen lutherischer Schriften verboten und solche auszuliefern seien, weil aus Besitz und Lektüre dieser Schriften Aufruhr entstehen könne. 74 ) 15 3 6 erging an Bürgermeister und Ratsherren die Aufforderung, „allen vnsern Einwohnern beyder ewer Stete [...] sich anheischig zu halten vnd [...] hier oben (auf dem Schloß zu Cölln - Ε. E.) zu erscheinen" 6
') Pusthius, Chronicon Berolinense (wie Anm.21), 14. ) E. Fidicin (Hrsg.), Historisch-diplomatische Beiträge zur Geschichte der Stadt Berlin. Teil 4. 1842, Nr. 262, 359. 71 ) Ebd. 361. 72 ) Schulz, Vom Herrschaftsantritt (wie Anm.23), 338. 73 ) H. Schultz, Residenzstadt im Spätfeudalismus, in: Geschichte Berlins (wie Anm. 39), 190. 74 ) Fidicin (Hrsg.), Historisch-diplomatische Beiträge (wie Anm. 70), Nr. 215, 234 f. 70
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zur Huldigung. 75 ) 1539, in der Zeit der Auseinandersetzung um die Einführung der Reformation in Brandenburg, ließen Bürgermeister und Ratsherren die Stadtbewohner sich versammeln: „vnsere gemeine burger [...] vff vnsere Ratheuser haben vorbotten vnd vorsammelln lassen", um ihnen eine kurfürstliche Verordnung mitzuteilen; danach baten „die gemeinen" noch um eine besondere Beratung („gesprech"), die ihnen nicht verweigert wurde, und trugen über den Stadtrat an den Kurfürsten die Bitte um Einführung der Reformation heran. 76 ) Hatten in diesen Fällen die zu Versammlungen aufgebotenen Bürger meist nur kurfürstliche Anordnungen zur Kenntnis zu nehmen, so trat seit dem 16. Jahrhundert in Gestalt der Verordneten eine Bürgervertretung in Erscheinung, die zunächst bei Landverkäufen, Steuerfragen und in wirtschaftlichen Angelegenheiten (z. B. Marktaufsicht) mit Bürgermeistern und Rat zusammenwirkten. Ihre Zahl schwankte im Laufe der Zeit. 1515 waren es 24.77) So urkundeten im Jahre 1539 die Ratsherren „mit wissen, willen vnd vulbort vnser geordenten von gewercken vnd gemeinheit" über den Verkauf eines Sees.78) Sie wurden vom Rat aus den Stadtvierteln Berlins und Cöllns ernannt und vom Kurfürsten bestätigt. Zunächst vor allem aus Handwerkern bestehend, lösten sie sich seit dem 17. Jahrhundert immer mehr von ihrer ursprünglichen Funktion, Vertreter der Gewerke und der Gemeinheit in der Stadtverwaltung, zumindest bei der Beratung und Durchführung bestimmter Aufgaben, zu sein. Wohlhabende Zunfthandwerker und Kaufleute kamen in dieses Gremium, etliche rückten selbst in den Rat auf. 79 ) Wenn sie sich einmal, wie z.B. 1624, durch die Einführung einer Vermögenssteuer für die Belange der ärmeren Bürger und Einwohner einsetzen wollten, gab ihnen der kurfürstliche Kanzler zu verstehen, sie seien eingesetzt, „daß sie mehr als der andere Haufen reichlich erwägen sollen, ob das nutz und gut ist, was der Rat anzuordnen im Vorhaben; und nicht dabei auf das zu sehen, was einem
") Ebd. Nr. 222, 254. ™) BUB (wie Anm. 1), Nr. 408, 487 f. 77 ) Pusthius, Chronicon Berolinense (wie Anm. 21), 15. 78 ) Fidicin (Hrsg.), Historisch-diplomatische Beiträge (wie Anm. 70), Nr. 223, 255 f. ") Schulz, Vom Herrschaftsantritt (wie Anm. 23), 339 f. Zu ähnlichen Entwicklungen in Hamburg vgl. Postel, Bürgerausschüsse (wie Anm. 45), 370.
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jeden unter dem Haufen wohlgefällt, denn solches pfleget öfters das Schädlichste zu sein". 80 ) Im Jahre 1726 setzte der preußische König einen Stadtpräsidenten für den Vorsitz im Magistrat ein. Die vom König ernannten Ratsbeamten verloren mit der Etablierung von Zentralbehörden in Berlin immer mehr den Einfluß auf Stadtverwaltung, Gericht, Wirtschaftsleben, Finanzwesen und Polizei. Die Verordneten gerieten in Vergessenheit und wurden unter Friedrich II. ausgeschaltet. Damit war die Einordnung der Stadtverwaltung in den absolutistischen Staatsapparat vollendet 81 ), die in Berlin noch durch den Residenzund Hauptstadtcharakter der Stadt forciert wurde. Für gemeindliche Strukturen war darin kein Platz mehr. Die kleine landesherrliche Stadt Strausberg 82 ) - östlich von Berlin gelegen und im ausgehenden Mittelalter nicht mehr als 1200 Bürger und Einwohner zählend - war ein Handels- und Gewerbezentrum von nur lokaler Bedeutung. Die Stadt hatte in ihren kommunalen Strukturen aber vieles mit der mittleren Fernhandelsstadt Berlin-Cölln gemeinsam. Recht und Verfassung folgten den Bestimmungen des Brandenburger Rechts. Die Erteilung von Rechtsauskünften an weiter östlich gelegene Städte läßt zumindest zeitweilig die Entwicklung eines lokalen Strausberger Rechts vermuten. Die Verwaltung lag in den Händen eines Rates, der sich selbst ergänzte. Ein vom Markgrafen eingesetzter Schulze hatte anfangs die meist acht, aus Bürgern und Adligen bestehenden cónsules zu bestätigen und zu vereidigen. Die bürgerlichen Ratsherren waren zugleich Händler, Brauer und Lehnbürger, auf alle Fälle gehörten sie zu den führenden Wirtschaftskräften der Stadt. Seit der Existenz einer eigenen bürgerlichen Verwaltungsbehörde in Gestalt des Rates, wohl kurz nach 1300, übte der Schulze nur noch die niedere Gerichtsbarkeit aus. Zunächst Adliger, kam er später aus der Schicht der Bürger. Fälle der höheren Gerichtsbarkeit wurden vor dem markgräflichen Vogtgericht verhandelt. Im Jahre 1354 wurde Strausberg bestätigt, daß seine Bürger nur in der Stadt vor Gericht zu erscheinen 80
)Zitiert nach: Berlin. 800 Jahre Geschichte in Wort und Bild. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von R. Bauer und E. Hühns. 1980, 65. ") Schultz, Residenzstadt (wie Anm.73), 233ff.; Schulz, Vom Herrschaftsantritt (wie Anm.23), 375 f. 82 ) Die Ausführungen zu Strausberg stützen sich - mit Dank für den Verfasser - auf : R. Barthel, Geschichte der Stadt Strausberg. Monographische Gesamtdarstellung. 1987, wo sich die Quellenbelege finden.
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brauchten, 1418 erwarb die Stadt die hohe und niedere Gerichtsbarkeit vom Landesherrn. Dem Rat oblag die Aufsicht über das Wirtschaftsleben, er hatte die Verfügung über den städtischen Grundbesitz, seit 1369 das Münzrecht und verwaltete die Stadtkasse. Das Recht, Handwerkerzünfte zu genehmigen, war Ausdruck seiner Satzungshoheit. Teilnahme am mittelmärkischen Städtebund seit 1321 weist Strausberg im Besitz des Bündnisrechts aus, das es zur Sicherung des Friedens nach außen und innen benutzte. Als nämlich 1436 wieder einmal Auseinandersetzungen zwischen Rat und Gemeinheit ausbrachen - letztere forderte einen Kämmerer, Baumeister und Richter aus ihren Reihen - , schickte Berlin-Cölln als Bündnispartner Strausbergs im Städtebund Ratsherren zur Vermittlung. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts urkundete der Rat wiederholt mit der universitas, der Gemeine oder den gemeinen Bürgern. Finanzielle Schwierigkeiten der Stadt führten anscheinend auch hier, wie in anderen brandenburgischen Städten um die gleiche Zeit, zu innerstädtischen Auseinandersetzungen, in deren Gefolge der Rat erweitert und in seiner ausschließlichen Herrschaft beschränkt wurde. Im Jahre 1367 nämlich urkundeten die Ratsherren erstmals mit „vulbort", „eyndrechtycheit" und „willen vnser vyr werke vund vnser gancze gemeynheit vnser burger". 83 ) Die Zustimmung der Viergewerke, der „werke" oder Gildemeister in wichtigen städtischen Angelegenheiten wurde bis ins 17. Jahrhundert eingeholt. In welchen Formen sie sich vollzog, ist nicht überliefert. Seit dem 16. Jahrhundert sind auch in Strausberg „Verordnete" nachweisbar, zunächst 24 an der Zahl, seit 1591 zwölf, jeweils vier aus den drei Stadtteilen gewählte Vertreter der Gemeinde. Die mittelalterliche Ratsverfassung hatte formal bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts Gültigkeit. Im Jahre 1602 und - da Strausberg auf sein Privileg der uneingeschränkten Ratswahl pochte noch einmal 1623 wurde, wie für andere brandenburgische Kleinstädte, bei jeder Ratsversetzung die Bestätigung der neugewählten Ratsherren durch die kurfürstliche Kanzlei angeordnet. 84 ) Die Bürger mußten den namentlich bestätigten Ratsherren als der vom Kurfürsten eingesetzten Obrigkeit Gehorsam leisten. Dieses Schicksal hatte die Ratsherren von Berlin und anderen größeren märkischen Städten bereits früher ereilt. Real sank der Strausberger Rat schon 83 84
) R (wie Anm.6), A XII, Nr. 16, 76 f. ) Vgl. Engel, Zur Autonomie (wie Anm.9), 72 f.
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seit dem 15. Jahrhundert mehr und mehr zu einem ausführenden Organ des Landesherrn herab. Dieser erließ 1515 - im gleichen Jahr wie für Berlin - nach einem Aufruhr der Bürger - auch wie in Berlin - eine Polizeiordnung. Nach ihren Anordnungen hatten Gewerke, Gemeine und alle Einwohner dem Rat gehorsam zu sein, Frieden zu wahren, keine Versammlungen oder Absprachen wider den Rat zu halten und sich mit seinen Entscheidungen abzufinden. 85 ) Bei Widersetzlichkeiten durfte der Rat die Bürger bestrafen und zum Gehorsam zwingen, notfalls mit landesherrlicher Unterstützung. Klageschriften und Beschwerden des Rates seit dem 16. Jahrhundert belegen, daß die finanzielle Belastung der Stadt durch Steuern und Abgaben an den Kurfürsten immer schwerer wurde und weitere Lasten und Dienste die Bürger und Einwohner bedrückten. Verschuldung und wirtschaftlicher Rückgang waren die Folge. Als 1566 erneut die Strausberger mit „Meuterei" und „Aufruhr" gegen neue Steuerbelastungen aufbegehrten, indem sie die Zahlung verweigerten, sich zusammentaten, die Sturmglocke läuteten, vor das Rathaus zogen und die Prüfung der Rechnungsbücher verlangten, forderte der Kurfürst vom Rat, die Aufrührer sollten „gefänglich eingezogen" oder „insgeheim in Schriften vermeldet" werden. 86 ) Über den Ausgang ist nichts bekannt. Sicher wurden die ungehorsamen Bürger mit Geldstrafen belegt, wie sie die Stadtrechnungen im 16. Jahrhundert wiederholt für Ungehorsam, unnütze Rede wider den Rat, Aufruhr, Verachtung des Rates, Aufwiegelung gegen den ehrbaren Rat u.ä. auswiesen. Belegen diese Beispiele und weitere aus dem 17. Jahrhundert die zwischen Rat und Bürgern vor allem in finanziellen Angelegenheiten und wegen Cliquenwirtschaft des Rates ständig auftretenden Differenzen, in die kurfürstliche Räte schlichtend oder auch erfolglos eingriffen, so spielten die Stadtverordneten als ursprüngliche Interessenvertretung der Stadtgemeinde keine Rolle. Sie waren völlig vom Rat abhängig geworden und auch von ihm berufen, wozu die Gemeinde Vorschläge machen durfte. 1719 ordnete der preußische König die Abschaffung des jährlichen Ratswechsels in Strausberg an und band die städtischen Beamten durch Gehaltserhöhung noch fester an den feudal-absolutistischen Staat. Die kommunalen Strukturen in Berlin-Cölln einerseits und Strausberg andererseits entsprachen einander, vielleicht nur quanti85
) Inhaltliche Anm. 82), 39. "